337 65 4MB
German Pages 580 [597] Year 2019
Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie Herausgegeben von
Pierre Bühler (Zürich) · Christof Landmesser (Tübingen) Margaret M. Mitchell (Chicago) · Philipp Stoellger (Heidelberg)
76
Günter Bader
Lesekunst Eine Theologie des Lesens
Mohr Siebeck
Günter Bader, geboren 1943; 1973 Dr. theol.; 1979 Habilitation für Systematische Theologie; 1986 Titularprofessor in Zürich; seit 1995 Professor für Systematische Theologie in Bonn; seit 2008 Professor em., Pfarrer i. R. orcid.org/0000-0002-8851-8706
ISBN 978-3-16-156857-2 / eISBN 978-3-16-156858-9 DOI 10.1628/978-3-16-156858-9 ISSN 0440-7180 / eISSN 2569-4065 (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer aus der Bembo Antiqua gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.
Ἀνοίξω ἐν ψαλτηρίῳ τὸ πρόβλημά μου. Psalm 49(48),5
Vorwort Theologie des Lesens, das ist ein asymmetrischer Argumentationsgang, der zwar nicht zwingend behauptet, die Behauptung des Gegenteils aber zwingend ausschließt und es mithin für unausbleiblich erklärt, dass einer, der mit Lesen beginnt, in dessen Verlauf zu einem Theologen wird. Theologie entsteht durch Lesen. Dieser Gedankengang hat mich seit meiner Professorenzeit beschäftigt. Indem er nun unter den Titel Lesekunst gefasst wird, tritt seine Spannung zwischen Plausibilität und Fragilität, zwischen simpler Technizität und gefährlich ans Preziöse streifender Artifizialität erst recht ans Licht. Es muss im Spätsommer 2001 gewesen sein, als mir die Gestalt von dreien meiner Buchprojekte, der Theologie des Lesens, des Psalters und des Namens, plötzlich im Bild gleichförmiger, aber selbständig in die Höhe geführter triplet towers vor Augen stand, deren Spitzen sich zwar zuneigen, aber nicht berühren. Sie konstituieren ein im Wesentlichen nicht zu konstituierendes Spannungsfeld. Hätte ich die so angeordneten Bücher, die nun in umgekehrter zeitlicher Reihe als Die Emergenz des Namens, Psalterspiel und Lesekunst zum Erscheinen gelangen, schon damals zur Gänze überblickt, würde wohl das erste unter dem Titel Namensrühmung hinausgegangen sein. Da aber sein Wortlaut schon feststand, war ich der Versuchung enthoben, eine Silbe zu viel zu machen. Lesekunst, Psalterspiel, Namensrühmung, diese lapidaren Themen, nach denen man in der Agenda der Theologie lange sucht, waren es, denen ich mich zuwenden musste, um meinen ersten Beruf, Gottesdienst halten zu sollen, nicht nur zu tragen, sondern auch zu wagen. Nachdem nun – spät, hoffentlich nicht zu spät – auch die Lesetheologie vollends ans Ende gelangt ist, denke ich mit Freude an die Kollegialität der Anglisten Verena und Eckhard Lobsien, der Romanistin Maria Moog-Grünewald und der Slawisten Erika Greber und Holt Meyer, die mir unterwegs, jede und jeder in seiner Weise, die schönsten Schätze und Reichtümer auftaten. Und dankbar denke ich daran, dass auf der gemeinsam gegangenen Gedächtnisstrecke der zurückliegenden drei Jahre, die durch öde und dürre, doch wohlschwingende Täler regelmäßig bis zur Gestalt des Propheten Ezechiel führte, der in wildester Ekstase weissagt und seine Hand über die disiecta membra des Totenfelds reckt, kein Stück des nachfolgenden Textes ohne begleitendes Gehör blieb – cui nisi tibi. Gomadingen, Herbst 2018
G. B.
VIII
Vorwort
Notiz: Im langwierigen Prozess der Korrekturen war die freundliche Mithilfe von Professor Dr. Bernd Harbeck-Pingel eine Ermutigung; ihm sei vielmals gedankt. Riga, Frühjahr 2019
G. B.
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII § 1 Theologie des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 a. Theologie – theologia – θεολογία . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 b. Drei Quellen, drei Bedeutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 c. Eine Zweideutigkeit: Schrift und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 d. Sacra pagina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2. Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
a. Vacare deo, vacare lectioni . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 b. Lectio divina und die Regula Benedicti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Lesestoff, Lesestil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Textgemeinschaft und Texteinsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 c. Monastische und scholastische Theologie, monastisches und scholastisches Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 d. De studio legendi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 e. De sacra doctrina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
3. Theologie des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 a. Engführung des Lesens, Engführung der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . 25 b. Theologie des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 c. Fragen der Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Lesekunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Buchstabe, Schrift, Text, Literatur, Buch, Heilige Schrift . . . . . . . . . . . . 32 Lesen und Nicht-Lesen, Lesen und Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Asymmetrien des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Laut, Sprache, Rede, Liturgie, Leben, Psalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
§ 2 Buchstabe und Laut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 1. Beginn mit dem Buchstaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 a. Zuviel Bandbreite des Buchstabens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 b. Zuwenig Bandbreite des Buchstabens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 c. Buchstabe und Buchstäblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 d. Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
2. Der heilige Buchstabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 a. Das delphische E . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Sortierungen der Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Vielstimmigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Heiligung des E . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
X
Inhaltsverzeichnis
b. Das patmische ΑΩ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Formel und Klang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Interjektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 c. Der heilige Buchstabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Synkrisis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Ontotheologie und Worttheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Semantisierung und Symbolisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Zwei Ordnungen des Buchstabens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Buchstabe und Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
3. Der buchstäbliche Buchstabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 a. Buchstabe und Laut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 De voce/περὶ φωνῆς: Aristotelische Widerspruchsfreiheit und platonisches Paradox . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 De littera/περὶ στοιχείου: Minima pars vocis articulatae und Letter . . . . . . . 63 b. Buchstabe und Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Friedrich Schleiermacher und der Neuprotestantismus . . . . . . . . . . . . . 68 Friedrich Schlegel und die Frühromantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 c. Der buchstäbliche Buchstabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
§ 3 Schrift und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 1. Das Schriftprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 a. Das theologische Schriftprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Beginn des Altprotestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Ende des Altprotestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Martin Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 b. Das philosophische Schriftprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Wort und Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Zwei Quellen: Dekonstruktion und Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 c. Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
2. Die Schrift – Das Zeichen und die Wörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 a. Primäre Oralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Ideographie und Phonographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Bildlichkeit und Nichtbildlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Bedeutung und Unbedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b. Primäre Literalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Kalligraphie und Orthographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Schriftprinzip Lesbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 c. Zeichen des Zeichens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Wilhelm von Humboldt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
3. Die Sprache – Stimme, die Worte und das Wort . . . . . . . . . . . . . . . 111 a. Die Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Phonologische Engführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Inhaltsverzeichnis
XI
Ästhetische Fülle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Stimmbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 b. Die Worte und das Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
§ 4 Text und Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1. Die Sichtbarkeit des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 a. Materialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Schwarz auf Weiß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Schwarzes Feuer auf weißem Feuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Rubrum und Nigrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Papyrus und Pergament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 b. Medialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 c. Metaphorizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Text als Textil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Text als Figur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
2. Was ist ein Text? – Die Antinomien des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . 146 a. Geschlossenheit und Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 b. Wiederholbarkeit und Unwiederholbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 c. Syntagmatik und Paradigmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 d. Begrifflichkeit und Unbegrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
3. Die Texttheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 a. Der theologische Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 b. Der poetische Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 c. Der theologisch-poetische Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
4. Die Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 § 5 Lesen und Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 1. Die Etymologien des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
a. Das deutsche Lesen (Das lateinische legere) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 b. Das griechische ἀναγιγνώσκειν, ἐντυγχάνειν . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 c. Das hebräische ָק ָרא, ִמ ְק ָרא. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 d. Doppelsinne des Lesens: Archaisch/Rezent, Anwesend/Abwesend . . . . 193
2. Die Empirie des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 a. Die Psychologie des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Sakkade und Fixation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Bewegung und Ruhepause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 b. Die Neurologie des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Lesen als Objekt der Neurologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Lesen als Prozessor der Neurologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 c. Zur Kritik des Empirismus des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
3. Die Literalität des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 a. Die Pole des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Das Buchstabenquadrat und der melancholische Blick . . . . . . . . . . . . . 213
XII
Inhaltsverzeichnis
Die Buchstabenlinie und der manische Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Zwischen den Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 b. Der Fokus des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Die Anagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Der explizite und der implizite Leser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Der Lesevorgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Literalität und Literarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
4. Die Metaphorisierungen des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 a. Die Lesbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 b. Die Erfahrbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Lesen und die Metapher der Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Erfahren und die Metapher des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Lesen und Lesen, Erfahren und Erfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 c. Die Unlesbarkeit oder die Allegorien des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
§ 6 Literatur und Liturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 1. Drei Übergänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 a. Vom Text zur Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 b. Vom Lesen zur Wiederholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 c. Von der Rede zur Liturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
2. Was ist Literatur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 a. Die definitive Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Die Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Poesie, Drama, Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 b. Die problematische Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Die Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Hybridität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Narrativität und Figuralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Und die Lyrik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 c. Der literarische Kanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Kanon als Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Kanon als Ritus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
3. Was ist Wiederholung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 a. Die Antwort der Literaturtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Der prosaisch-literarische Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Der poetisch-literarische Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Die Unterscheidung von Poesie und Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Projektion und Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Dieser Gott dieses Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 b. Die Antwort der Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Die Mystik der reinen Wiederholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Der Mythos des Fremden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Die Epiphanien des Unwiederholbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
Inhaltsverzeichnis
XIII
c. Die Antwort der Lesetheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Kritik der Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Kritik des Rituals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
4. Was ist Liturgie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 a. Die Liturgie als das jeweils Größere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 b. Die Liturgie als das jeweils Größere als sie selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 c. Die Wiederholung zwischen Literatur und Liturgie . . . . . . . . . . . . . . . 306
§ 7 Buch und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 1. Was ist ein Buch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 a. Der Anfang des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Buch als Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Buch als Gebrauchsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Buch als Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 b. Das Buch als Medium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Schwache und starke Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Alte und neue Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 c. Das Ende des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Galaktisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Ende des Buches als Anfang der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Codifizierung und Codierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 d. Die Buchmetapher, schwach und stark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
2. Das Buch der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 a. Die Anfänge des Buchs der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Der liber naturae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Die Sprache der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 b. Die Enden des Buchs der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Der Mundus symbolicus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Der Emblematum liber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Die Signaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Buchstabe, Punkt, Komma, Strich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
3. Das Buch der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 a. Allegorie und Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Buch der Geschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Symmetrie zwischen Allegorie und Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Typologie eng und weit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Ende der Typologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 b. Chronik und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Die Chronik und das Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Die Geschichte und das Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
4. Das Buch des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 a. Das Buch als Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Der liber vitae, liber viventium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Das himmlische und das irdische Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Einzigartigkeit und Einzigkeit des Lebensbuches . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
XIV
Inhaltsverzeichnis
b. Das Leben als Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Der Code des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 c. Schöpfung und Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
§ 8 Heilige Schrift und Psalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 1. Die Verdopplung des Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 a. Das Buch unter Büchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 b. Das Buch der Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 c. Das Buch im Buche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
2. Was ist Heilige Schrift? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 a. Bibel und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Kanonisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 Entkanonisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Deuterosis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 b. Bibel als Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Bibelwissenschaften und Literaturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 Bible as literature . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 c. Bibel in der Bibel, Literatur in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Der Psalter und der Rest der Heiligen Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Die Poesie und der Rest der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
3. Was ist Poesie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 a. Poesie und Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Mythologie, Etymologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 Sprache, Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Mise en abîme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 b. Inversionen des Platonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 Platons zwiespältige Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Inversion der platonischen Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Inversion der modernen Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 c. Poetizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 Die phänomenologische Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Die strukturalistische Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 Durch und In . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
4. Was ist Psalter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 a. Die Namen des Psalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 Buch der Psalmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Psalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Die doppelte Determiniertheit des Psalters und die Differenz von Prosa und Poesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 b. Die Poesie des Psalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 Rhythmus, nicht Metrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Linie, nicht Parallelismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 Lyrik, nicht Epik und Dramatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Oralität, nicht Textualität und Literarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
Inhaltsverzeichnis
XV
c. Die Theologie des Psalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 Rekapitulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 Achse und Parallelismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Lyrik und Rhythmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Schrift und Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 Name und Unendlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
§ 9 Lesen und Nicht-Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 1. Nichtlesendes Nicht-Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 2. Lesendes Nicht-Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 a. Noch-nicht-Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 b. Nicht-mehr-Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480
3. Lesen und Nicht-Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 § 10 Lesekunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 1. Was ist Lesekunst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 a. Verbergen und Ausstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 b. Der Terminus Lesekunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 c. Zwischen memoria und meditatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 d. Vierfache Lesekunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495
2. Das sich selbst verbergende Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496 a. Lesen auf Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 b. Die prinzipielle Zweidimensionalität des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 Blinder Fleck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 Diskontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 Parallelismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 c. Der sich verbergende Name . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505
3. Das sich selbst ausstellende Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 a. Lesen mit (allen) Sinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 b. Die prinzipielle Eindimensionalität der Lesung und die Vieldimensionalität der Liturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Lesung als Zitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 Lesung als Rezitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Lesung als Psalmodie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 c. Der sich ausstellende Name . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520
4. Lectio facit theologum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572
§ 1 Theologie des Lesens Von dieser Vermutung gehen wir aus: Die Theologie in dem Sinne, in welchem das Wort hier immer genommen wird, sei eine Wissenschaft, zu der es vor allen Dingen des Lesens bedarf, und zwar nicht nur so, dass deren schon bestehende Teile zu einem Ganzen verbunden werden durch Lesen, sondern auch so, dass sie als ganze, als Theologie, im Lesen allererst entsteht. Ob eine solche Theologie mit der bekannten Vorlage dieses ersten Satzes1 positiv genannt werden darf oder gerade nicht, ist eine der Fragen, die bei einem so bestimmten Anfang nicht ausbleiben. Es gibt offenbar Lesen. Es gibt auch Theologie. Von außen betrachtet scheint die Verknüpfung beider nachträglich zu sein. Also könnte man sie unterlassen. Denn es ist nicht sinnvoll, die Reihe der Theologien, die durch nachträgliche Verknüpfung zustande kommen, durch eine weitere zu verlängern. Aber die Thematisierung des Lesens greift ein Medium auf, das Theologien immer schon zugrundeliegt, wiewohl mehr oder weniger. Es werden sich wenige Theologien finden, in denen Lesen überhaupt keine Rolle spielt. Jedoch dass es allen zugrundeliege, wäre zu viel behauptet. Handelt es sich doch beim Lesen um eine Kulturleistung, die dazu neigt, später zu kommen. Das hat zur Folge, dass auch die Theologie des Lesens, statt Ursprünglichkeit zu beanspruchen, damit vorlieb nehmen muss, dass sie spät kommt. Ihre Anfänge liegen später als die der Theologie. Der Ausdruck Theologie des Lesens findet sich nicht vor Ende des vergangenen Jahrhunderts und danach nur am Rand. Benennt also Theologie des Lesens einen Sachverhalt, der später ist als ursprünglich, stehen zwei Fragen im Raum. Was bringt Lesen zur Theologie hinzu? Und umgekehrt: Was soll es sein, was die Theologie zum Lesen hinzu bringt? Kein Mensch liest von Geburt, lernt es, wenn überhaupt, später. Genauso wenig ist Theologie von Geburt eine solche des Lesens. Der älteste Beleg zählt θεολογία zu den Ammenmärchen.2 Fließt aber Theologie wie Milch der frommen Denkungsart, dann ist ihr Medium das Mündliche. Was soll es also sein, was Lesen zur Theologie hinzu bringt? Droht nicht, das Lesen könnte sie der oralen Unmittelbarkeit berauben? Solche Fragen sind der Theologie des Lesens eingeschrieben. Man kann Theologie des Lesens nicht hören, ohne mitzuhören, dass wir mit ihr ständig zu spät kommen. Kann vom Ursprung der Theologie im Lesen definitiv nicht die Rede sein, dann auch nicht davon, dass Theologie 1 2
S. Anm. 120. Platon, Rep. II 379a; cf. 378cd.
§ 1 Theologie des Lesens
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im Lesen entstehe. Platons erster Beleg von θεολογία hat die griechische Welt so sehr geprägt, dass er die Theologie auf Dauer der Schrift und dem Lesen entzog. Es bedurfte der Verschiebung des Akzents von θεολογία zu theológia, bis die Schriftlichkeit der Theologie nicht nur faktisch geübt, sondern auch reflexiv mitvollzogen wurde. Lesende Theologie ist in der lateinischen Welt möglich geworden. Ist also θεολογία früh, Reflexion auf Lesen spät, dürfte deren Zusammensetzung erst recht spät sein. Vielleicht sogar so spät, dass sie als Aufgabe erst jetzt richtig bevorsteht. Und dies in dem Augenblick, in dem die Stimmen sich überschlagen, in unserer medialen Welt befinde sich das Lesen auf unaufhaltsamem Rückzug. Einerlei, ob Lesen der Theologie etwas hinzufügt oder wegnimmt, in jedem Fall ist deutlich, dass die Theologie des Lesens nichts zusammenbringt, was sich an sich schon hätte fügen wollen oder gefügt wäre von vornherein. Der Grund, weshalb Theologie auf Lesen rekurriert, liegt tiefer. Es geht nicht darum, ob einer an sich bereits bestehenden Theologie durch Lesen etwas hinzugefügt oder fortgenommen wird, sondern die Theologie sieht sich auf Lesen verwiesen, weil sie darin allererst entsteht. Dass jedoch die Theologie imstande sei, dem Lesen etwas Gutes zu tun, dürfte auszuschließen sein. Bekanntlich befindet sich Lesen im Gang auch ohne sie. Und besser ohne sie. Die Psychologie des Lesens, die weiß, wie Lesen wirklich geht, bemisst ihren Erkenntnisgrad am Grad der Entfernung von so etwas wie Theologie. Nach der Drei-Stadien-Lehre des Positivismus sind nur allerälteste Lesepraktiken theologisch infiziert gewesen; nun aber bricht mit der unvoreingenommenen Betrachtung das positive Stadium an.3 Von einer Theologie des Lesens ist daher von vornherein nichts zu erwarten. Soll etwa, wie das Lesen zur Theologie etwas hinzubringt, was nicht schon in ihr liegt, auch die Theologie etwas zum Lesen hinzubringen, was diesem nicht schon beigelegt war? Was soll es in Hinsicht auf Lesen befördern, wenn Theologisches gelesen wird? Es kann nicht darum gehen, dass ein auf seine Weise bereits fix und fertig formiertes Lesen auf eine Theologie stößt, die auf ihre Weise bereits formiert ist. Vielmehr wird danach gefragt, was Theologie allenfalls zur Formierung von Lesen beitragen kann. Kennt Lesen so etwas wie eine implizite Theologie? Nicht dem fertigen Lesen will die Theologie begegnen, sondern dem unfertigen. Das gibt der Begegnung von Lesen und Theologie eine Wendung, die alles Bisherige übertrifft. Somit ist klar: Der Punkt der Berührung von Theologie und Lesen ist nicht gegeben, um nur abgerufen zu werden. Weder allgegenwärtig noch zeitunabhängig, muss er erst herauspräpariert werden unter ständiger Beobachtung, was Lesen der Theologie zufügt und umgekehrt. Dabei wäre eine akzidentelle Berührung der leichtere Fall. Womöglich sind Theologie und Lesen tiefer verbunden. Ist nämlich die Theologie abhängig vom Lesen und umgekehrt, sodass 3
Aebli, Zur Einführung 1980, 7.
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von keinem etwas gewusst werden kann ohne das andere, dürfte es erst recht schwierig werden, den Punkt der Berührung bloßzulegen. Offenbar gibt es ganz verschiedene Intensitäten der Berührung. Beginnen wir mit der niedrigsten Schwelle. Herkömmlich sind Lesen und Theologie selbständige Themen unterschiedlicher Herkunft und Geschichte. Nicht gefügt von vornherein, fordert jedes gesonderte Betrachtung. Allerdings wird die Betrachtung von außen zunehmend in eine solche von innen übergehen. Das wirkt zurück auf uns, die Betrachter der Theologie des Lesens. Aus solchen, die immer schon wissen, was Theologie auf der einen und Lesen auf der anderen Seite ist, werden wir zu solchen, denen das sichere Bewusstsein zweier Seiten sosehr vergeht, dass sie weder das eine noch das andere wissen. Langsam wird es spannend, von Theologie des Lesens zu sprechen.
1. Theologie Die Theologie zu ergreifen, kann weder Anspruch noch Ziel sein. Es wird weiterhin Theologien außerhalb der Theologie des Lesens geben. Aber mit dieser wenigstens eine zu ergreifen, und diese ganz: das ist allerdings das Ziel. Es wird deshalb auch nur ein okkasioneller Sinn von Theologie sein, auf den wir zielen. Im Kontrast zum weiten Bedeutungsschweif, mit dem dieses schöne Wort zu uns kommt, wird es nur ein bestimmter Ort und eine bestimmte Zeit sein, an denen sich die Spur der Theologie des Lesens präzis aufnehmen lässt. Theologie des Lesens ist eine erhebliche Engführung. Sie wird nur gut gehen, wenn durch einen weiten Horizont gegengesteuert wird. Die Vielsprachigkeit bringt eine gewisse Weite. Für unseren Zweck begnügen wir uns mit drei Sprachen: Theologie, theologia und θεολογία. a. Theologie – theologia – θεολογία
Zur Antwort auf die elementare Frage: Was ist Theologie? wäre es gut, nur ein Wort zu haben. Nun haben wir drei. Entsprechend vielfach ist die Antwort. Unser Augenmerk haftet an theologia, dem lateinischen Wort, besonders. Das griechische Äquivalent weist in andere Richtung. Obgleich unser Weg durch theologia bestimmt sein wird, geht θεολογία nicht verloren. Nichts hätte näher gelegen als sie; der griechischen θεολογία gilt unsere Liebe seit langem. Von ihr kommt ja die Theologie. Vielleicht muss man der Verlockung des Ursprungs einmal gefolgt sein, um ihr nicht mehr zu folgen. Die Differenz zwischen θεολογία und theologia ist eine der großen Gabelungen. Man kann nicht beiden folgen, ohne am Ende keiner von beiden gefolgt zu sein. Gewiss wüssten wir von theologia nichts ohne θεολογία. Gewiss ist θεολογία ursprünglicher als theologia. Aber nur für Griechen ist sie kein Fremdwort; Nachgeborene streben
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vergeblich danach, es sich zu eigen zu machen. Wir müssen auf die Weihen des Ursprungs verzichten. Fangen wir an, mittendrin. Das Wort Theologie war schon anderthalb Jahrtausende im Kurs, bevor es die Bedeutung gewann, in der es hier aufgenommen wird. Und seither ist es schon wieder Jahrhunderte gelaufen. Wir ergreifen theologia auf der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert in dem Moment, als sie die Bedeutung annahm, die mit ihr noch heute verbunden wird. Aus westeuropäischer Sicht ist Theologie die Zusammenführung gemischter Wissensbestände, die teils zur Kirche, teils zur Universität gehören. Ulrich Köpf gibt einen breiten Konsens wieder: „In der 2. Hälfte des 12. Jh. wandelt sich die Bedeutung von theologia zu dem einheitlichen Sinn von ‚Theologie‘, d. h. von ,theologischer Wissenschaft als Ganzem‘.“4 Der Bedeutungswandel vollzieht sich in zweifacher Hinsicht. Erstens durch Erweiterung des Umfangs: θεολογία, bisher Gotteslehre im engeren Sinn, wird auf Gegenstände ausgedehnt, die zur οἰκονομία gehörten. Dass allerdings θεολογία zunächst nicht Gottes-, sondern Götterlehre ist und mit μυθολογία durchaus zu vertauschen,5 blieb ein unangenehmer Nachgeschmack, der erst wich, als sie zu theologia mutierte. Zweitens durch Eingrenzung des Sinns: fortan wird nicht jede Rede von Gott und göttlichen Dingen so genannt, sondern nur eine solche von argumentativem Anspruch und Zuschnitt. Ihre Sprachform ist doctrina. Nun wird theologia zu einer Wissenschaft, die sich im Kontext anderer Wissens‑ und Lehrformen zu bewähren hat. Von diesem zweifach, durch Ausweitung wie Eingrenzung geprägten Terminus gilt: „Zu Beginn des 13. Jh. hat sich der Begriff theologia allgemein durchgesetzt.“6 Gerade wenn der Theologiebegriff der frühen Scholastik einen Rationalisierungssprung vollzogen hat, der bis heute nachwirkt, wird deutlich, wie breit die Streuung andersgearteter Theologieverständnisse gewesen sein muss. Durchgesetzt hat er sich in erster Linie gegen θεολογία. Jedoch wird man über der Dominanz scholastischer theologia nicht vergessen, dass es sich nur um einen okkasionellen Theologiebegriff handelt, dessen Kommen zu einer bestimmten Zeit wahrscheinlich macht, dass er zu einer bestimmten Zeit auch wieder geht.
4 Köpf, Die Anfänge der theologischen Wissenschaftstheorie 1974, 15. Ebeling, Art. Theologie I. 1962, 762 f: „Der steile Aufstieg, der die Th[eologie] im MA […] im allgemeinen Prozeß der geistigen Differenzierung […] auf eine vorher und nachher nicht erreichte Höhe systematischer Perfektion führte, wurde terminologisch besiegelt durch Prägung des Th[eologie]begriffs, in dessen weiterer Geschichte sich nun die Grundbewegung der Th[eologie]geschichte seither abzeichnet.“ Evans, Old arts and new theology 1980, 27–46; Zimmermann, Die Theologie und die Wissenschaften 1981; Luscombe, Philosophy and philosophers 1992, 80–83. 5 Platon, Rep. II 379a: θεολογίας, v.l. μυθολογίας. Goldschmidt, Théologia 1950. 6 Köpf, ebd. 20.
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b. Drei Quellen, drei Bedeutungen
Theologia ist eine scholastische Engführung, die sich rasch durchsetzt. Gegen welchen älteren, weiteren Sinn? Und gegen welche zeitgenössischen Mitkonkurrenten? Von letzteren wird sogleich die Rede sein; zunächst geht es um ältere Gebrauchsweisen, von denen drei auszumachen sind. Der erste Brennpunkt ist Augustins in De civitate dei vorgetragene Kritik an Varros theologia tripertita. Sie hatte für die nachaugustinische Rede von Theologie eine kaum zu überschätzende Bedeutung.7 Unter der Varro und Augustin gemeinsamen Voraussetzung, θεολογία bedeute „ratio quae de diis explicatur“8 oder „de divinitate ratio sive sermo“,9 werden drei Arten der Rede von Gott oder den Göttern unterschieden, die mythopoetische (genus mythicon/fabulosum),10 die politische (genus politicon/civile)11 und die physische (genus physicon/ naturale).12 Die Zweisprachigkeit der dreifachen Theologie dient weniger der Übersetzung in die Ziel-, als der Rückführung in die Ausgangssprache. Mitnichten will Augustin griechische Theologien ins Lateinische übersetzen, vielmehr will er sie bei ihrem paganen Hintergrund behaften, der griechisch ist. Die Fernwirkung von Augustins Theologiekritik war beachtlich, wenn auch verschieden von Art zu Art. Was die theologia naturalis anlangt, benötigte sie ein Jahrtausend, um aus der Latenz hervorzutreten, in die sie durch Augustin gebannt war. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts kursierte das von Raimundus Sabundus verfasste Werk dieses Titels, eine Novität am Rande des kirchlichen Spektrums, alsbald indiziert.13 Ebenfalls ein Jahrtausend benötigte die theologia poetica, um sich von Augustins Verdikt zu erholen. Erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurde sie durch Giovanni Pico della Mirandola zwar nicht ausgeführt, aber als Programm revitalisiert.14 Und die theologia politica unterlag einer sogar bis ins 20. Jahrhundert andauernden Latenz, um Augustins Verweis zu überwinden und mit Carl Schmitts gleichnamiger Monographie erstmals wieder ans Licht zu treten.15 Was von den drei Arten der Theologie gilt, gilt erst recht von der Theologie selbst. Als paganer Versuch, von Gott oder Göttern zu sprechen, taugt sie nicht zur kirchlichen Lehre; Augustin zieht doctrina christiana vor. Auch 7 Lieberg, Die ‚theologia tripertita‘ 1973; ders., Die theologia tripertita als Formprinzip 1982. Dihle, Die Theologia tripertita bei Augustin 1996. 8 Augustin, De civ. dei VI 5,2; XVIII 14,2: theologi[, qui] de diis carmina faciebant. 9 Augustin, De civ. dei VIII 1,20. 10 Augustin, De civ. dei VI 5,3, entfaltet VI 6; Tertullian, Ad nat. II 3,2: mythicum. 11 Augustin, De civ. dei VI 5,2, entfaltet VI 7–VII 35. 12 Augustin, De civ. dei VI 5,2, entfaltet VIII–X; Tertullian, Ad nat. II 2,14: physicum theologiae genus. 13 Raimundus Sabundus, Theologia naturalis seu liber creaturarum 1966 (vor 1436, seit 1485 Theologia naturalis). Philipp, Das Werden der Aufklärung 1957, 47 f, 53. 14 Zu Pico della Mirandolas Plan einer theologia poetica 1486/87: Vf., ‚Theologia poetica‘ 1986, 190 f; zu deren Renaissance: Wind, Heidnische Mysterien 1981. 15 Schmitt, Politische Theologie 1922, 21934.
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hier haben seine terminologischen Direktiven restriktiv gewirkt.16 Dass wir gewohnt sind, Theologie als Selbstbezeichnung christlicher Lehre zu gebrauchen, geschieht eindeutig gegen Augustin. Der zweite Fokus liegt bei Boethius.17 In De trinitate referiert er ohne Herkunftsangabe aus Buch X der aristotelischen Metaphysik.18 So wahrt er ein Lehrschema in Abwesenheit seiner Quelle; der Wortlaut der Metaphysik wird erst im Lauf des 12. Jahrhunderts bekannt. Hier unterscheidet Aristoteles drei theoretische Wissenschaften, die natürliche (ϕυσική/naturalis), bezogen auf das Bewegte und Nicht-Abstrakte, die mathematische (μαθηματική/mathematica), bezogen auf das Nicht-Bewegte und Nicht-Abstrakte, und die theologische (θεολογική/theologica), bezogen auf das Nicht-Bewegte und Abstrakte. Die korrekte Bezeichnung der philosophischen Theologie wäre Theologik; sie ist von der vorphilosophischen θεολογία der Mythologen und Poeten so weit entfernt wie das zehnte Buch der Metaphysik vom ersten. Ging es in diesem um älteste θεολόγοι, deren θεολογία und θεολογεῖν,19 so in jenem um die höchste Theorie, mit der Aristoteles die Metaphysik beschließt. Wenn Thomas von Aquin theologica ungenau mit theologia zitiert,20 handelt er sich die Umständlichkeit ein, jedes Mal erklären zu müssen, welche von beiden er meint, theologia oder theologica.21 Den dritten großen Brennpunkt der Rede von Theologie bildet das Corpus Dionysiacum, dessen Kenntnis seit dem frühen Mittelalter im Westen in stetigem Steigen war. Meist bleibt sein Einfluss unterbelichtet. Aber es ist Dionysius Areopagita, durch den das ausgedörrte Wort theologia, das von Augustin der Amnesie überantwortet und von Boethius in Theologik überführt wurde, nicht nur gewässert, sondern geradezu geflutet wird. Ohne θεολογία und seinen buntschillernden Schweif an Parallelbildungen fehlt dem Corpus Areopagiticum die Kohärenz. – Inspiriert vom Neuplatonismus ist θεολογία einerseits die Bezeichnung dessen, was in den Texten des Dionysius unmittelbar geschieht, wie es geschieht und wie es geordnet ist. Seine Rede von Gott steht im Schnittpunkt zweier sich überkreuzender Gegensätze, von denen jeder durch zwei polare Formen von Theologie gebildet wird. Theologie, das ist der Quadrupel der Theologien, die Dionysius im neunten Brief zur Darstellung bringt.22 Theologie sei zweifach, heißt es einleitend. Genauer, sie bestehe aus zwei Gegensatzpaaren, deren eines die Form, das andere den Inhalt betrifft. Der Gegensatz der Form besteht aus Bejahung und Verneinung; er generiert die Formen 16 Gewiss ist Augustin, De civ. dei XI ff, der Versuch, etwas zur vera theologia (VI 8,12) auszuführen; diese aber läuft darauf hinaus, ungesäumt keine theologia mehr zu sein. 17 Boethius, De trin. 2. 18 Aristoteles, Met. K 7, 1064a30-b3. 19 S. Anm. 28. 20 Thomas von Aquin, Exp. Boethii De trin. 2 (Decker 157,11). 21 Thomas von Aquin, STh I q 1 a 1 ad 2: Unde theologia quae ad sacram doctrinam pertinet, differt secundum genus ab illa theologia quae pars philosophiae ponitur. 22 Dionysius Areopagita, EP IX 1, PG 3, 1105D.
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der kataphatischen und apophatischen Theologie.23 Der Gegensatz des Inhalts unterscheidet Ästhetisches und Noetisches und erzeugt die Ebenen der symbolischen und noetischen Theologie. Beide Gegensätze überkreuzen sich. Was in der noetischen Theologie durch Bejahung und Verneinung geschieht, geschieht in der symbolischen durch Ähnlichkeit und Unähnlichkeit. Man fragt, wo die fünfte bleibt, die mystische Theologie, der als einziger ein so betiteltes Werk gewidmet ist, das diesen Begriff in alle Welt trug. Antwort: Mystische Theologie ist der perspektivische Punkt, auf den die vierfache Sprachbewegung mit ihrem gekreuzten Für und Wider, Auf und Nieder zuläuft. Keine fünfte Theologie, ist sie vielmehr Theologie der Theologien, in deren Quadruplizität sie immer schon am Werk ist und die sie in Gang hält. – Andererseits bezeichnet θεολογία nicht nur, was in actu in den Texten des Dionysius geschieht, sondern auch, was ihnen de facto an Überlieferung vorausgeht. Einst waren θεολόγοι inspirierte Träger des göttlichen Wortes, deren Mund Staunenswertes vortrug. Zwar unterscheidet sich das Sagen Gottes (θεολογία) vom Singen (θεῳδία), Schauen (θεοπτία) und Verwirklichen (θεουργία). Aber dionysische Medien kennen keine scharfen Kanten und gegenseitige Ausschlüsse; allseits herrscht fließender, spielerischer Übergang, Übergänglichkeit.24 So ist begreiflich, dass die Heilige Schrift, wiewohl als Medium nichts als γραϕή, als θεολογία bezeichnet wird. Unter den Bedeutungen von θεολογία ist heilige Schrift sogar die prominenteste; im Corpus Dionysiacum ist die Synonymie von θεολογία und γραϕή breit belegt.25 Es bedarf der medialen Atmosphäre leichtester Übergänglichkeit, damit θεολογία überhaupt entstehen kann. Wort, λόγος: das ist mit Hans Urs von Balthasars glücklicher Metapher ein ganzer „Fächer“26 von medialen Sprachen. Vielleicht hätte man Dionysius Areopagita gern für einen Neuplatoniker gehalten; nun ist er aber, gerade als ein solcher, Schrifttheologe, und nichts als das.27 Biblische Theologie, diese Parole forcierter Rechtgläubigkeit, kommt hier durchaus zu spät. Neuplatonische Medialität vermag zu lehren: Die Bibel ist bereits Theologie. Die Skizze dreier Brennpunkte von Theologie ist zu knapp, um alle Bedürfnisse der Differenzierung zu befriedigen. So ist, was Augustin als Theologie abweist, durchaus nicht das, was Dionysius als solche begrüßt. Und was Boethius und Dionysius mit demselben Adjektiv θεολογικός/theologicus benennen, liegt weit auseinander. Aber so viel haben sie gemeinsam: Selbst wenn zwei Autoren sich des Lateinischen bedienen, bewegen wir uns bei allen dreien im Umkreis griechischer θεολογία, wie ein Blick auf die Inhalte zeigt. – Auf der einen Seite 23 Dionysius Areopagita, MT III, PG 3, 1032D; die sekundäre Überschrift enthält das Hapaxlegomenon ἀποϕατικὴ θεολογία. 24 Vf., Ästhetik als symbolische Theologie 2000, 100 f. 25 Z. B. Dionysius Areopagita, EH I 2, PG 3, 372C: ἡ θεολογία τῶν ἱερωτάτων γραϕῶν. Roques, Note sur la notion de theologia 1949, 200: „le terme Θεολογία peut être synonyme de Γραϕή ou de Λόγιον et s’appliquer aux livres inspirés.“ 26 v. Balthasar, Herrlichkeit 2, 31984. 27 Rorem, Biblical and liturgical symbols 1984, 17.
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steht die mythisch-poetische Theologie, die sich auf Orpheus und andere als ἥρωες κτισταί beruft. Das ist θεολογία in ursprünglichstem Sinn. Hiervon spricht Platon, und Aristoteles ruft aus archaischer Vorzeit die πρῶτοι θεολογήσαντες herbei,28 von denen er seine Bestrebungen in Sachen Theologik strikt abgrenzt. Das ist die theologia poetica/fabulosa,29 von der Augustin sich absetzt. Es erstaunt, dass das schmale Rinnsal dieses Theologiesinns ins Neue Testament gelangt ist; die Apokalypse sei die Schrift Ἰωάννου τοῦ θεολόγου, heißt es in einer varia lectio des Titels, die Johannes als Sänger von Kulthymnen preist. Und wie sehr sich die hymnisch-poetische Bedeutung trotz Augustinismus in der Kirche verbreitet, macht Dionsysius Areopagita deutlich, der die θεολογία in einem Atemzug mit ὑμνολογία nennt.30 Nun bedarf es zum Singen von Theologien nicht mehr mythischer Gestalten wie Orpheus, Musäus und Linus, sondern die Seraphim stehen dafür, dass das Trishagion erklingt in nimmer schweigenden Theologien.31 – Auf der anderen Seite steht die philosophische Theologie, von Aristoteles entwickelt und von Boethius aufgenommen. Ihr Merkmal, Theologik, nicht Theologie, sollte festgehalten werden, wenn es um philosophische Theologie geht. Es indiziert erhöhten Reflexionsbedarf. – Während die bisherigen Bedeutungen in der griechischen Antike fest verwurzelt sind, gilt dies von der dritten, durch Dionysius vermittelten Bedeutung nicht im gleichen Maß. Zwar bleibt das Corpus Dionysiacum mit beiden verbunden, mit Platon durch den poetisch-hymnischen Subtext seiner Schriften, mit Aristoteles durch die noetische Strenge seiner Aussagen. Dass aber allen medialen Differenzen zum Trotz die Heilige Schrift θεολογία heißen soll, schürzt den Knoten, der, wie wenig Notiz von ihm auch genommen wird, nur wartet, entwickelt zu werden.
c. Eine Zweideutigkeit: Schrift und Theologie Vor der Scholastik gab es drei Fokussierungen von Theologie: Dichtung und Mythos, Philosophie und Metaphysik, und die Heilige Schrift. Die ersten zwei sind geläufig, die dritte schlägt aus der Art. An sich verheißt Theologie λόγος; so geschieht es in Dichtung und Mythos, Philosophie und Metaphysik. Aber Theologie als Heilige Schrift? θεολογία als γράμματα, γραϕή und βίβλος? Dass der Schrift das Prädikat heilig zugesprochen wird, ist zudem nicht 28 Aristoteles, Met. A 3, 983b29: τοὺς παμπαλαίους […] καὶ πρώτους θεολογήσαντες; Met. B 4, 1000a9–12; Meterol. B, 353a35. Jaeger, Die Theologie der frühen griechischen Denker 1953, 12 ff. 29 Augustin, De civ. dei VI 10,66 f; cf. XVIII 14,1 f. Dronke, Theologia veluti quaedam poetria 1984. 30 Dionysius Areopagita, DN I 4, PG 3, 589D. 31 Jes 6,3; Apk 4,8. Dionysius Areopagita, EH IV Θ 5, PG 3, 480BC: ἡ […] τῶν Σεραϕὶμ τάξις […] τὴν πολυύμνητον αἰσθητῶς εἰπεῖν ἀσιγήτοις στόμασιν ἀνακράζουσα θεολογίαν. Ebenso in der Basilius-Anaphora (Liturgie [Kallis 31997], 208 f): κέκραγεν ἕτερον πρὸς ἕτερον ἀκαταπαύστοις στόμασιν, ἀσιγήτοις δοξολογίαις (v.l. Cod. Barb. gr. 336 θεολογίαις). Vf., Die Emergenz des Namens 2006, 225 f, 327.
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dazu angetan, Vertrauen zu bilden. Zwar mag das Befremdende zurücktreten; durchaus umfasst die Schrift Stücke mythisch-poetischer Theologie: kleine oder größere Narrative, die dem Mythos nahestehen, hymnische Mikroprädikationen oder Makrotexte, die als Poesie aufgefasst werden, Benennungen Gottes oder der trinitarischen Personen, mit denen die elementarste Aufgabe mythopoetischer Theologie, das Nennen Gottes, praktiziert wird; ebenso enthält die Schrift Stücke, die zur rationalen Theologie gehören: sapientiale oder paränetische Texte von belehrend-argumentierender Schreibart, seien es einzelne Aussagen oder ganze Gattungen, was die Nähe zur philosophischen Theologie ohne Zweifel fördert. Noch versteckt sich die dritte Bedeutung, Theologie als Heilige Schrift, hinter den beiden ersten und treibt Camouflage. Aber anders, wenn sie sich als Schrift zu erkennen gibt. Dann steht die von Dionysius insinuierte Gleichung in ihrer ganzen Fremdheit vor uns. Nicht nur kennt die Heilige Schrift, soweit sie sich des Griechischen bedient, den Terminus θεολογία nicht, was der voreilig-biblizistischen Option: Schrift ja, Theologie nein zu einem Schein des Rechts verhilft. Sondern die in beiden Testamenten griechisch gewordene Schrift verleugnet ihren hebraisierenden Unterton nicht, und je mehr sich dieser Respekt verschafft, wird θεολογία abgestoßen. Hebräische Theologie wäre ein Unding. Die im Hebräischen ungleich widersetzlichere Schriftlichkeit bewirkt zudem, dass θεολογία abblitzt. Dionysius, sonst nicht verlegen an Neologismen, hätte θεογραϕία hinzuerfinden müssen, um der Befremdung Ausdruck zu geben, die von Schrift und Theologie ausgeht. So schlägt sich die Spannung zwischen Schrift und θεολογία nieder als unauflösliche Zweideutigkeit.32 Schrift, heißt es bei Dionysius einerseits, ist Theologie. Aber niemals ist sie das, nicht einmal bei Dionysius. Wo immer er sich theologisch äußert, tut er es auf den Ebenen der symbolischen oder noetischen und in den Formen der kataphatischen oder apophatischen Theologie. Von Reflexion auf Schriftlichkeit keine Spur. Und die knappe Handvoll Seiten De mystica theologia, auf die alles hinausläuft, wirkt wie eine gezielte Kontrafaktur zum Wortreichtum der Heiligen Schrift. Sie trifft ins Schwarze. Theologie ist etwas ganz anderes als Schrift. Deshalb muss es andererseits heißen: Schrift ist nicht Theologie. Damit ist der Punkt zugespitzt, der in der lateinischen Welt fortan die Ausformulierung von Theologie stimuliert. Vor zwei Kurzschlüssen ist zu warnen. Es genügt nicht, für die erstaunliche Konjunktur, die Theologie seit der Scholastik erfahren hat, den antiken mythopoetischen Sinn verantwortlich zu machen. Und es genügt ebenso nicht, mit dem Mainstream zu behaupten, die wiederentdeckte philosophische Theologie sei es gewesen, woran die kirchliche Theologie Maß nimmt, um als Wissenschaft aufzutreten. Sowenig die Erstarkung des Theologiebegriffs auf den poetischen, sowenig geht sie auf den 32
Köpf, Die Anfänge, 23: „zweideutig“.
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philosophischen Sinn zurück.33 Es bleibt die dritte Möglichkeit. Der Theologiebegriff, der unserem Gebrauch zugrundeliegt, muss aus der Konfrontation von Heiliger Schrift und Theologie hervorgegangen sein. Von Dionysius Areopagita auf den Punkt gebracht, erweist sie sich als die Grundlage westlicher Theologiebildung.
d. Sacra pagina
Im Lauf des 13. Jahrhunderts hat sich der Terminus theologia aus einer Reihe von Synonymen gelöst und die Konkurrenz für sich entschieden. Es sind drei Gruppen, die konkurrieren. Die erste bedient sich der Vokabel theologia, sei es als Substantiv wie in cognitio theologiae, doctrina theologiae, oder als Adjektiv, so doctrina theologica, theologica scientia. Die zweite Gruppe fällt gerade umgekehrt auf durch die Vermeidung von theologia; in augustinischer Manier bevorzugt sie sacra oder divina doctrina. Weder das eine noch das andere tut die dritte. Anstelle von theologia gebraucht sie eine Bezeichnung, die sonst nur der Heiligen Schrift zukommt: sacra oder divina scriptura, sacra pagina. Während die beiden ersten Gruppen den Übergang zur Theologie leicht machen, die erste, indem der Genitiv zum Nominativ und das Adjektiv zum Substantiv vorrückt, die zweite, indem sie theologia ersetzt, erweist sich die dritte als sperrig. Gilt sacra scriptura oder sacra pagina als Theologie, so wäre die Frage der Theologie beantwortet, bevor sie gestellt wurde. Bereits die Identifizierung von Theologie mit sacra scriptura klingt plump, und erst recht, wenn an die Stelle von sacra scriptura – als pars pro toto – sacra pagina tritt. In den Seiten des Kodex kann man blättern, Bewegung findet statt; hingegen die Einzelseite bleibt stehen. Sie fixiert den Blick auf Rubrum, Nigrum, Textspiegel. Lesen ist Beweglichkeit; hier kommt sie zum Stehen. Der Grund hierfür liegt in der sinnlichen Materialität. Die sacra pagina spricht nicht nur die Augen an; es scheint, als ob ihre Stimme an die Ohren dränge; die Hand unterscheidet, wenn sie das Pergament berührt, Ober‑ und Unterseite; und wenn die Begegnung mit der sacra pagina Züge geistlichen Käuens (manducatio spiritalis) annimmt, treten Riechen und Schmecken hinzu. Die von der sacra pagina ausgehende Dichtigkeit sinnlicher Erfahrung hat die Theologie lange begleitet.34 So bleibt die Verbindung, die Dionysius Areopagita zwischen θεολογία und γραϕή stiftete, im Westen nicht im Abstrakten, sondern erfährt als Innehalten vor der sacra pagina ihre Konkretion. Schrift als sacra pagina verdichtet sich zu einer Erfahrung, die alle Sinne beansprucht und das Gedächtnis prägt.35 Obgleich nur metonymisch: Theologie studieren und sacrae paginae studere werden Köpf, Die Anfänge, 78. Spitz, Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns 1972. Pagina ist der Acker, der beim Schreiben mit der Feder gepflügt und dessen Frucht durch Lesen geerntet wird. 35 de Ghellinck, ‚Pagina‘ et ‚Sacra Pagina‘ 1947. 33 34
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ein und dasselbe. Gewiss handelt es sich nur um eine temporäre Koalition; nicht sacra pagina, sondern theologia ist der Terminus, der „in die Zukunft weist“, sacra pagina klingt nach „Rückschritt“.36 Zur Stellung als Inbegriff von Glaubenswissen gelangt die Theologie nur, wenn sie sich aus den Fesseln löst, in die sie durch Synonyme aus dem Bereich der Heiligen Schrift geschlagen war. Die Differenz ist unübersehbar: Das heilige Buch ist schon gegeben; das Buch der Theologie muss erst hervorgebracht werden. Die Schrift erzählt, mahnt, tröstet, malt, lobt, preist, singt; die Theologie argumentiert. Jene ergeht sich in Formen von Rhetorik und Poetik; diese hält sich an Dialektik und Logik. Dort Aggregation; hier Artikulation. Ist Schrift, wie ihre Nähte zeigen, ein Cento, geflickt aus Lumpen und Lappen, so will Theologie den Text aus einem Stück generieren, gewoben von oben an bis unten aus. Also kann die Berührung von Schrift und Theologie nur von ephemerer Dauer sein; die Fügung reißt, die durch Dionysius initiiert und durch die Vorscholastik zur vollen Sinnlichkeit intensiviert war. Schrift und Theologie, divergent von vornherein, gehen auf Abstand. Jede folgt ihrer eigenen Ratio. An dieser Stelle führe ich den Begriff des Lesens ein. Er ist der Schrift wie der Theologie bekannt. Mögen im Zug der Scholastik Schrift und Theologie zu Textsorten von eigener Rationalität geworden sein, das Lesen bleibt und verbindet beide. Nicht nur gelesen, vorgelesen werden sie. Es ist lectura, die beide verbindet, lectura biblica hier und lectura sententiarum dort. Soll das Nebeneinander von Schrift und Theologie nicht im Auseinander enden, ist Lesen angezeigt. Wir begannen mit Theologie; nun müssen wir mit dem Lesen noch einmal beginnen. Theologie für sich genommen hat in die Diastase geführt. Wird das Lesen Elastizität genug bringen, um Schrift und Theologie ins Verhältnis zu setzen?
2. Lesen An sich ist die Geschichte des Lesens so alt wie die Geschichte der Schrift. Soweit ist jetzt nicht zurückzugehen. Es genügt, den Faden aufzunehmen, wo er sich im Zusammenspiel von Schrift und Theologie zum ersten Mal zeigt. Kehren wir zurück zu Dionysius. Als stehendes Element liturgischer Versammlung erwähnt er die Zweiheit von Gesang und Lesung.37 Deren Bedeutung wird im Lauf der Lesetheologie zunehmen. Nur so viel: Zwar geschehen beide als Vortrag aus heiligen Schriften, wobei sich Gesang auf Psalmen und Oden, Lesung auf alle anderen biblischen Texte bezieht. Für Köpf, Die Anfänge, 24. Dionysius Areopagita, EH III M, PG 3, 425BC; Θ 1, 428B; Θ 5, 432AB; Θ 6, 432C; IV M, 473A; Θ 3, 476D; VII Θ 2, 557B. 36 37
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die Lesung sind zwei Termini im Gebrauch, ἀνάγνωσις und ἀνάρρησις, mehr Lesung im ersten, mehr Rezitation im zweiten Fall. Verschwistert durch die gleiche Präposition, teilen sie die Auffassung von Lesen als Wiedergabe, teils mehr durch Sehen, teils mehr durch Hören. Ein logisches Problem fällt auf. Der gelesene Teil ist nur Teil des Lesens; auch der gesungene wird gelesen. Was der Terminus der Lesung ausschließt, schließt er hinterrücks wieder ein. Der Lesebegriff ist unscharf, blockiert sich selbst. Oder umgekehrt: Lesen ist faktisch größer als sein Begriff. Der Grund dürfte darin liegen, dass Dionysius das Lesen durch Bindung an ein Lesepensum definiert. Einen Lesebegriff, der Gesang und Lesung verbindet, kennt er nicht. Wiederum ein solcher, der durch Inhalte gebunden ist, blockiert die Aufmerksamkeit auf Lesen überhaupt und als Form. Soll Lesen Konsequenz gewinnen, müssen wir seine Formalisierung betreiben. a. Vacare deo, vacare lectioni Weder in der mythopoetischen θεολογία noch in der philosophischen θεολογική sind Lesen und Schreiben auffällig geworden; bis in die Spätantike haben die griechischen Gebrauchsweisen nichts damit zu tun. Auch wenn Dionysius θεολογία und γραϕή in Bewandtnis setzt, geschieht dies ohne dass Schreib‑ und Lesetechniken auffällig werden. So unbefriedigend das in lesetheoretischer Hinsicht ist: hier schürzt sich der Knoten, der für das Verständnis von Theologie entscheidend wird. Zwei Schritte sind es, die über Dionysius hinausführen. Der erste geschieht durch den Übergang ins Lateinische. Gewiss dürfen ἀναγιγνώσκειν und ἐντυγχάνειν, die griechischen Lesetermini, nicht verloren gehen; sie kehren wieder und behaupten ihren Platz. Aber die Überraschung, dass das Wortfeld von legere sich ästhetisch wie noetisch mit lesen geradezu deckt, markiert den Beginn der Lesetheorie. Wie wir schon übergegangen waren von θεολογία zu theologia, so setzen wir jetzt zum Sprung an von ἀναγιγνώσκειν zu legere. Der zweite Schritt führt zum monastischen Lesen. Es scheint zwar, als könne monastisches Lesen die vorauszusetzende generelle Lesefähigkeit nur beeinträchtigen. Das Gegenteil ist der Fall. Trotz, nein: dank seiner monastischen Bindung gewinnt das Lesen seine Allgemeinheit. Schon in quantitativem Sinn: Lektüre gibt es nicht nur in der Liturgie mit stets demselben Pensum, sondern es gibt auch nichtliturgische Texte, und dementsprechend erweitert sich die Lektüre. Aber auch qualitativ: Sobald im Zug rationaler Durchdringung mönchischen Lebens das Lesen auffällt als weder zur Arbeit noch zum Gebet gehörig, entsteht die Frage nach seinem Sitz. Und indem es auf verschiedenen Ebenen, liturgischen wie nichtliturgischen stattfindet, müssen Qualitäten von Lesen unterschieden werden. So führt speziell das monastische Lesen in generelle Reflexionen zur Lesetheorie und reicht, wie zu zeigen sein wird, bis an die Schwelle der Selbstreflexion.
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Zwei Elemente monastischen Lesens sind geeignet, Lesen an sich und um seiner selbst willen zur Sichtbarkeit zu bringen, vacare deo und vacare lectioni. Verschieden in der Freiheit wofür, sind sie eins in der Freiheit wovon. Mit ein und derselben Negation fordern sie Vakanz von der alltäglichen Lebenssorge. Und beide Freiheiten überschneiden sich bei Augustin. Dieser spricht vom Frei‑ oder Leer-Sein für Gott, und im selben Moment spricht er vom Frei‑ oder Leer-Sein für die Lektüre.38 Die ältesten westlichen Mönchsregeln bestimmen eine Anzahl von Stunden, die frei von Arbeit dem vacare lectioni39 oder vacare Deo40 zu widmen sind. Gemeint sind lectio und oratio.41 Lektüre an Werktagen provoziert die Nachfrage, ob Lesen Arbeit sei. Die Metapher ist schnell zur Hand: Wie im tätigen Leben die Handarbeit (opus, labor), so im betrachtenden die von Lippen, Zunge und Gedanken (lectio, meditatio). Aber wie? Sich begleitend, wie Johannes Cassian zu verstehen gibt: „operi ac meditationi studium impendentes?“42 Oder sich ausschließend, wie die Regula Eugippii fordert: „aut operi aut meditationi studium pariter inpendentes?“43 Nur freie Meditation wäre mit Handarbeit verträglich. Je mehr die sacra pagina die Aufmerksamkeit aller Sinne absorbiert, desto mehr bedarf Lesen eigener, von Lebenssorge freigestellter Räume und Zeiten. Versteht man mit Psalm 46(45),11 „vacate et videte quoniam ego sum Deus“44 die Vakanz zum Lesen als funktional identisch mit der Vakanz zu Gott,45 dann zeigt sich: Leseakt und Akt der Erkenntnis Gottes stehen in direktester Korrespondenz. Das Zusammen beider Akte – Lesetheologie – entsteht erstmals im Mönchtum. Jean Leclercqs L’amour des lettres et le désir de Dieu hat sie bereits im Titel verbunden. Nicht nur darf das mönchische Lesen beanspruchen, etwas zum Lesen überhaupt beizutragen, 38 Augustin, zu vacare deo: Ep. 10, 2 an Nebridius, CSEL 34/1, 24,4 f: deificari […] in otio; dazu Folliet, ‚Deificari in otio‘ 1966; zu vacare lectioni: De op. mon. XVII 20, CSEL 41, 565,8. 39 Ordo monasterii, 3: Operentur a mane usque ad sextam, et a sexta usque ad nonam uacent lectioni, et ad nonam reddant codices. 40 RIVP 3,6, SC 297, 194 (sonntags): Die autem dominica non nisi Deo uacetur; 3,10 (werktags): A prima hora usque ad tertiam Deo uacetur. Rufin, Hist. mon. I 1,5, PTS 34, 248,16 f: solus soli deo vacans. 41 Cyprian, Ad Donatum 15, CChr.SL 3A, 12: Sit tibi uel oratio assidua uel lectio. Nunc cum Deo loquere, nunc Deus tecum. Pelagius, Ep. ad Dem. 23, PL 30, 37AB: Et quamquam omne vitae tuae tempus divino debeas operi consecrare: et nullam prorsus horam a spirituali profectu vacuam esse conveniat, cum tibi in lege Domini die ac nocte meditandum sit [Ps 1,2]: debeat tamen aliquis esse determinatus et constitutus horarum numerus, quo plenius Deo vaces, et qui te ad summam animi intentionem, velut quadam lege contineat. Vf., Psalterium affectuum palaestra 1996, 65, 100–104. 42 Johannes Cassian, Inst. IV 12, CSEL 17, 54,23 f. 43 REug 36,1, CSEL 87, 77. 44 Augustin, Conf. IX 2,4, CChr.SL 27, 134: uoluntas uacandi et uidendi, quoniam tu es dominus [ps 45,11]. De ver. rel. 35,65, CChr.SL 32, 229: Agite otium, inquit [ps 45,11], et agnoscetis, quia ego sum dominus. Non otium desidiae, sed otium cogitationis, ut a locis ac temporibus vacetis. 45 An die Stelle von RIVP 3,10, SC 297, 194: A prima hora usque ad tertiam Deo uacetur, setzt 2RP 23, SC 297, 278: Ita meditem habeant fratres ut usque ad horam tertiam legant.
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sondern hier kommt auch die von Dionysius pointierte Bewandtnis von Schrift und Theologie erst recht zum Zuge. Lesen avanciert zum ausgezeichneten Ort von Gotteserkenntnis; Lektüre zeitigt Theologie.46 Niedere Dinge wie Buchstabe, Schrift, Grammatik und hohe Theologie treffen sich.
b. Lectio divina und die Regula Benedicti
Es war zu zeigen, wie lectio sich in der Arbeitswelt durchsetzt und gegen sie. Aber was ist lectio divina?47 Natürlich die Fortsetzung der θεία ἀνάγνωσις, die sich durch besondere Beziehung auf die Heilige Schrift auszeichnet. Damit wäre unsere Frage, kaum gestellt, bereits beantwortet. Ist es der Lesestoff, der lectio zu lectio divina macht? Zur Vorbereitung der Antwort auf diese Frage erlaubt die Regula Benedicti zwei Beobachtungen, die in systematischer Hinsicht ein ähnliches Gefälle zu erkennen geben. – Die erste: Wie wird gelesen? Dass die Erläuterungen zu vacare lectioni im 48. Kapitel der Benediktsregel unter der Rubrik der täglichen Handarbeit vorgetragen werden, überrascht nicht.48 Es zeigt: Der lectio divina, die als Hapaxlegomenon in dieses Kapitel gelangt,49 gebührt ein Ort im Lebenskontext. Gegenstück zur Arbeit, ist Lesen Vakanz. Obwohl vacare lectioni mit vacare otio aut fabulis nichts zu tun hat,50 ist daran zu erinnern, dass das Mönchtum als dominici scola servitii51 den ursprünglichen Sinn von σχολή (Muße) nicht verwirft. Lesen ist Muße, und ist es nicht. Gelesen wird primär gemeinschaftlich und laut in und außerhalb der Liturgie; gelesen wird aber auch einzeln, privat und auf Betten liegend, dann leise. Allerdings steht das singuläre „legere sibi“, das hier auftaucht,52 nicht in Opposition zum lauten Lesen; es ist selbst laut, jedoch nur so laut, dass es nicht stört. In keinem Moment geschieht Lesen anders als durch Vorlesen. Befindet sich aber das Vorlesen in der Regula Benedicti auf dem Weg vom lauten zum leisen, dann liest, wer nicht anderen vorliest, sich selber vor. So beschreitet das als Vorlesen praktizierte Lesen den Weg zunehmender Selbstbeziehung. 46 Cronica Reinhardsbrunnensis 1212, MGH.SS 30/1, 582,22–24: Lectioni vacabat intentissime, unde ex paradiso ayographi[a]e velud apis negociosissima in alvearium sui pectoris ubertim flores melliflu[a]e recondiderat theologi[a]e. 47 Leclercq, Les caractères traditionnels de la ,lectio divina‘ 1963. Mundó, Las reglas monásticas latinas del siglo VI y la ,lectio divina‘ 1967. Meyer, Lectio divina in Palladius 1970. Rousse, Lectio divina et lecture spirituelle, I. La lectio divina 1976. Wathen, Monastic lectio 1976. Spahr, Die lectio divina bei den alten Cisterciensern 1978. Sandor, Lectio divina and the monastic spirituality of reading 1989. de Vogüé, La lecture quotidienne dans les monastères 1989. Hauke, Der Stellenwert des nichtliturgischen Lesens 1997. 48 RB 48, 4.10.13 f.17.23; cf. RM 50,10. Van Assche, ‚Divinae vacare lectioni‘ 1948. de Vogüé, Les deux fonctions de la méditation dans les Règles monastiques anciennes 1975. Calati, La ,lectio divina‘ nella tradizione monastica Benedettina 1981. 49 RB 48, 1. 50 RB 48, 18. 51 RB prol. 45. v.d. Nahmer, ‚Dominici scola servitii‘ 1985. 52 RB 48, 5, different zu RB 58, 9.12 legere ei, parallel zu RB 52,4 orare sibi.
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Sich-selbst-Vorlesen, selbstreflexiv werdendes Lesen, ist die Pointe der Benediktsregel. – Die zweite vorbereitende Beobachtung: Was wird gelesen? Dass im Monasterium „singuli codices de bibliotheca“ zur Verfügung stehen,53 führt in die Irre; es handelt sich um Bücher der Heiligen Schrift. Allerdings bleibt der Lesestoff nicht auf die Schrift beschränkt; katholische Väter, Johannes Cassian, Viten, die Basiliusregel treten hinzu.54 Am Ende kommt die Benediktsregel selbst, auch sie ein Text, zum Lesepensum hinzu. Wie der blinde Fleck, der alles sieht und selbst nicht gesehen wird, präsentiert sie sich nicht als ein Lesestoff neben anderen, sondern beansprucht, Lesen allererst in Gang zu setzen, indem sie sich selbst zur Lektüre empfiehlt.55 Zwar behalten externe Lesestoffe ihr reguliertes Recht, aber erst die Regel, die sich selbst als zu lesende anordnet und zumisst, erklimmt eine unerreichte Stufe interner Reflexivität. Anhand der Regel lernt das Lesen den Bezug auf sich selbst. Es wird selbstreflexiv. – Beide Beobachtungen bereiten das Verständnis von lectio divina vor. Wird diese durch Merkmale des Inhalts und Stoffes definiert? Oder durch solche der Form und des Stils? Lesestoff, Lesestil
Was lectio zur lectio divina macht, könnte der Lesestoff sein; der Lesestoff, so wird behauptet, authentifiziere die Lektüre. Richtig liest, wer Richtiges liest. Gehen wir die von der Benediktsregel zugemessenen Pensen durch. Die liturgische Lesung steht an erster Stelle, und der umfangreiche Regelteil, der das divinum officium ordnet,56 bestimmt sie detailliert. Ist es die Kanonizität der Quellen, die eine Lesung zur lectio divina macht? Hinzu kommt der liturgische Ort. Es seien, wird des weiteren behauptet, die Orte der liturgia horarum: Nokturn, Vigil, Laudes, Vesper, Komplet, die die lectio zur lectio divina machen; der Ort heilige die Lesung. Würden wir in diesem Modus fortfahren und behaupten, lectio werde durch den Lektionston zur lectio divina, käme die Hypothese bald zum Scheitern. Darin unterscheiden sich Lektionen von anderen musikalischen Gattungen wie Psalmen, Cantica, Antiphonen, Responsionen, Hymnen und Hallelujaversen, dass sie sich auf ein Minimum musikalischen Aufwands beschränken. Also ist die lectio divina weder an liturgische Orte noch an liturgische Stoffe gebunden. Lesen ist mehr als liturgische Lektion. Auch jenseits von ihr, selbst bei der Paraliturgie der Tischlesung, findet lectio divina statt.57 Noch weiter von der Kernliturgie entfernen sich die Lesezeiten, halböffentliche oder halbprivate.58 Lässt der Charakter der divina lectio 53 RB
48, 15. 42, 3.5; 73, 2–6. 55 RB 66, 8; 73,1.8–9: die Regelschlüsse. 56 RB 8–18(20): libellus officii. 57 RB 38. 58 RB 48. 54 RB
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mit zunehmender Entfernung von der Liturgie nach? Keineswegs. Einerseits war diese nie mit lectio divina identisch, andererseits war lectio divina nie auf Liturgie beschränkt. Die Heilige Schrift wird innerhalb wie außerhalb der Liturgie gelesen, öffentlich, halböffentlich, privat. Es gibt zu denken, dass lectio divina in der Benediktsregel nur ein Mal weit entfernt von der Liturgie erwähnt wird.59 Alles sind Signale dafür, dass die Divinität der Lektüre weder von der Kanonizität der Stoffe, noch von liturgischen Orten oder musikalischen Formen abhängt. Hängt divina lectio dann ab von einer bestimmten Form des Lesens, die wir Stil nennen? Die Regel gibt Fingerzeige von einigem Gewicht.60 Lesen ist nicht Arbeit (labor, opus), vielmehr Vakanz. Lesen ist auch nicht Müßiggang (otium, otiositas, desidia). Ist Lesen weder Arbeit noch Nicht-Arbeit, dann ist es offenbar nichtarbeitende Arbeit. Zu Recht. Denn es hat die Aufgabe, ein doppeltes Nicht-Lesen-Können zu vermeiden. Auf der einen Seite vermeidet es Nicht-Lesen-Können aus Gründen von Arbeit, die zum Lesen weder Zeit noch Raum lässt; als Arbeitender ist der Mensch ein homo non legens. Auf der anderen Seite vermeidet es Nicht-Lesen-Können aus Gründen von Nicht-Arbeit und des Müßiggangs. Hier taucht die singuläre Gestalt des frater acediosus et desidiosus auf,61 jedem Leser vertraut als der melancholische Schatten.62 Als Nichtarbeitender ist der Mensch ein homo neglegens.63 Offenbar muss ein Leser, um zum Lesen imstande zu sein, zwischen dem Typus des non legens und dem Typus des neglegens, zwischen Negation und Privation mittenhindurch. Der Stil des Lesens, dem wir die Unterscheidbarkeit von lectio divina anvertrauen, liegt nicht beim Lesen, sondern beim Lesen-Können. Was ist lectio divina? Nachdem sich auf der kategorialen Ebene kanonische und liturgische Definitionen als kurzschlüssig erwiesen haben, gilt es, auf die transzendentale Ebene voranzugehen. Lectio divina ist lesenkönnendes Lesen. In den Blick kommt die innere Transzendentaliät des Lesens. Textgemeinschaft und Texteinsamkeit Die Regel, die, während sie extrinsisch auf zu lesende Texte verweist, zugleich intrinsisch auf sich selbst zeigt,64 springt von der Ebene des Lesens und der Pensen des Lesens auf die des Lesen-Könnens. Lectio ist nicht nur eins ihrer vielerlei Themen, sondern eins, das sie selber generiert. Daher ist Lesen nicht nur ein Thema in der Regel, sondern auch an ihrem Rande. Mehr oder we59 RB
48, 1. RB 48. 61 RB 48, 18.23. 62 Johannes Cassian, Inst. X 2,1, CSEL 17, 174,12: [acedia] non operam sinit inpendere lectioni. Vf., Melancholie und Metapher 1990, 4–18; ders., ‚Selig ist, der da liest‘ 1999. 63 RB 48, 23; 73, 7. 64 RB 58, 9.12. 60
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niger unthematisch drängt es sich an deren Anfang und Ende. Ans Ende so, dass die Regel nicht nur sich selbst als zu lesende imponiert, sondern sogleich darüber hinausweist. Sie sei nur initium,65 sagt sie zum Schluss, nur „minima inchoationis regula“, die auf Mehr (maiora) verweist.66 Also tritt ein, dass das Lesen, das alles Wesentliche in sich trug, sich in ein solches verkehrt, das das Wesentliche außer sich hat. Mit derselben unendlichen Hyperbel, mit der die Regel auf sich verwiesen hatte, verweist sie nun, am Ende, von sich weg auf anderes, sei es das Leben, die Vollkommenheit oder was immer. Aber nicht nur das Ende zieht lesetheoretische Aufmerksamkeit auf sich, sondern auch und viel mehr der Anfang. Und dies, obgleich hier vom Lesen mit keinem Wort die Rede ist. Drei Beobachtungen sind zu machen. – Die erste nimmt auf, was zu Lesen als nichtarbeitender Arbeit schon entwickelt wurde. Der Prolog beginnt mit dem Imperativ Obsculta (Höre!) und fordert, mit minutiösem Wortanschluss, oboedientia (Hören), damit der Leser aus der desidia inoboedientiae (fauler Ungehorsam) zum nichtarbeitenden labor oboedientiae (Arbeit des Hörens) gelange.67 – Eine zweite Beobachtung tritt erläuternd hinzu. Was immer gelesen wird, wird mit mehr oder weniger lauter Stimme gelesen. Wie die Heilige Schrift, als scriptura dicens, lautredend und rufend agiert,68 agiert die Regel, auch sie eine Quasi-Persönlichkeit, als die Stimme des Abts. Ist die Regel magistra,69 so der Abt der magister,70 dessen Stimme anstelle der Stimme Christi erschallt. Das Zönobium ist mit dem glücklichen Ausdruck Heinrich Fichtenaus eine „Textgemeinschaft“,71 als solche zugleich eine Lesegesellschaft, und wenn Lesen überwiegend als lautes Vorlesen geschieht, dann ist sie auch eine Hörgemeinschaft.72 Bisher war nur von einer von vier Arten des Mönchtums die Rede, der koinobitischen. Bereits die Friktion, dass der monachus, an sich der Alleinlebende, bisher nur als in Gemeinschaft Lebender in Erscheinung trat, treibt über die erste Art des Mönchtums hinaus. – Hierher gehört die dritte Beobachtung. Die Absicht der Benediktsregel ist nicht, über die koinobitische Lebensweise hinauszuführen,73 und selbst wenn sie am Ende über sich hinausweist,74 will sie nur das gemeinsame Leben intensivieren. Auch die Vierzahl der Mönchsarten zielt nur auf die erste Art, das genus coenobitarum; sie ist die einzig angemessene. Gleichwohl schlägt die Ungesättigt65 RB
73, 1; cf. prol. 48. 73, 8–9. 67 RB prol. 1–2. 68 RB prol. 8. 69 RB 3, 7. 70 RB prol. 1; 2, 24; 3, 6; 5, 9; 6, 6. 71 Fichtenau, Monastisches und scholastisches Lesen 1993, 332; dort R. Hanslik zugeordnet. 72 RB, Titel, v.l.: Incipit textus Regulae. Regula appellatur ab hoc, quod oboedientum dirigat mores. 73 RB prol. 50. 74 RB 73, 8–9. 66 RB
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heit des Begriffs monachus durch. Zwar gilt die Lebensweise von Sarabaiten und Gyrovagen, der dritten und vierten Art, von vornherein als indiskutabel; aus Sicht des Leseverhaltens wäre ihnen vorzuhalten, dass sie nicht sammeln, sondern zerstreuen. Jedoch dem zweiten Genus der Anachoreten und Eremiten lässt sich der Respekt nicht versagen, auch wenn sie der Gemeinschaft den Rücken kehren und sich zum einsamen Kampf in die Wüste aufmachen. Gilt für Koinobiten, dass sie durch die Regel als magistra geleitet werden, so für Anachoreten und Eremiten, dass sie, was prekär ist, mit Erfahrung als ihrer Regel leben: experientia magistra.75 Wenn den vier Arten des Mönchtums vier Weisen von Lesen entsprechen, welche gehört dann zum eremitischen Leben? Und wenn die Textgemeinschaft sich auf einen Text bezieht, auf welchen bezieht sich dann die Texteinsamkeit? Es gilt, die Linien vollends auszuziehen, mit der Regel bis an den Rand der Regel.76 Kein vollklingenderes Lesen als das der liturgischen, mitunter solennen Lesung, die durch feierliche Lektionstöne ans Gehör der Gemeinschaft dringt. Mit ihr beginnt die benediktinische Lesetheorie. Sie beginnt im vollen Klang. Anders, da geringeren Ranges, die Tischlesung, auch sie gemeinschaftlich konsumiert. Noch einmal anders die Vorlesung, die Schulcharakter hat und Disputation nach sich zieht; auch sie partizipiert am Prinzip des Vorlesens innerhalb von Gemeinschaft. Und noch einmal anders das einsame Lesen. Das legere sibi steht auf der Kippe. Zwar innerhalb der Regel und des koinobitischen Lebens, reduziert es das laute Vorlesen akustisch soweit, bis es andere nicht mehr stört. Entfällt diese Rücksicht mangels Anwesenheit anderer, so ist das legere sibi aus dem Zönobium herausgetreten. Das erste Genus des Mönchtums implodiert und entlässt aus sich das zweite. Mag sich der einsame Leser noch eine Weile in der regulierten Welt des Buches und der Bücher halten: sie verblasst und schwindet. Kippt aber das leise Lesen vollends ins stille, das leer zu drehen scheint, so kippt damit das Lesen im Text des Buches in ein solches im Text der Erfahrung. An die Stelle von regula magistra tritt experientia magistra. Der Choret wird zum Anachoreten. Er wendet sich in Abwendung vom Kodex dem Kodex der Welt zu.77 Semantik schrumpft zu Mantik; die Binnenwelt der Hermeneutik trifft auf die Außenwelt der Anti-Hermeneutik. Was im erwärmenden Lesegesang gemeinschaftlicher Liturgie begann, fällt ins eisige Schweigen des solitären Lesens. Damit sind Kräfte entfesselt, die aus der Lesewelt der Benediktsregel hinausdrängen. Und doch vermochte erst die Regel präzis an den Punkt zu führen, an dem aufblitzt, was lectio divina ist. Was lectio zur lectio divina macht, ist nicht das regulierte Quantum des Lesestoffs, nicht die regulierte Qualität des heiligen Texts im liturgischen Display. Soviel Respekt auch diesen 75
RB 1, 3. Dubois, Comment les moines du Moyen Âge chantaient et goûtaient les Saints Écritures 1984. 77 Evagrius Ponticus, Praktikos, 92, SC 171, 694. Vf., Melancholie und Metapher, 14. 76
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Gesichtspunkten gebührt: lectio divina steht quer zu ihnen. Sie reißt im regulierten Lesen die unregulierte Frage nach dem Lesen-Können auf. Daher treibt sie das Lesen im gemeinschaftlichen Text bis an den Rand, wo es zum Lesen im Text singulärer Erfahrung kippt. In dieser Exposition hat die lectio divina ihren Ort. Ist nichts sichtbar, was die benediktinische Lesetheorie einschränken könnte, so ist ihre Universalität am Tag.
c. Monastische und scholastische Theologie, monastisches und scholastisches Lesen Zwar bleibt richtig: „Als im Laufe des 12. Jh. das Phänomen der Theologie als Ganzes in den Blick der Theologen tritt, erhält es sogleich den Namen, mit dem es bis heute bezeichnet wird.“78 Aber um Urzeugung handelte es sich nicht. Das 12. Jahrhundert vollzog nur die Ausdifferenzierung von Theologie in monastische und scholastische. Jean Leclercq, der „monastische Theologie“ in die Wissenschaftsterminologie eingeführt hat, wollte das Verhältnis beider nicht verstanden wissen, als löste eine die andere ab.79 Die monastische Theologie stellt einen Typus eigenen Rechts dar, der durch die scholastische nicht ausgehebelt wird. Differenzierung findet statt. Was Institutionen anlangt: Hier Kloster; dort Kathedralschule, Universität. Was Ort und Architektur anlangt: Hier aufwendigste Baukunst am abgeschiedenen Ort, abgeschlossen nach außen; dort anspruchslose Zweitnutzung von Bauten, die sich im Stadtquartier ausbreiten wie ein Myzel. Was Personen und Studium anlangt: Hier claustrales unter Bedingungen von stabilitas loci und in kontemplativem Leben; dort scholares vagantes, die durch Übung in quaestio und responsio zu effizientem Problemlösungsverhalten angehalten werden. Und was endlich die Theologie anlangt: Hier der monachus, als Kontemplativer philosophus und theologus zugleich, mit Verlangen nach dem Wort, das Gott ist, sermo oder verbum dei;80 dort der studiosus, der sich auf den sermo de deo beschränkt. Kurz: Hier monastische, dort scholastische Theologie. Wie es zu dieser Ausdifferenzierung kam, hätte eine komplexere Antwort verdient. Nur so viel ist jetzt zu fragen: Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Auseinandertreten von monastischer und scholastischer Theologie und dem von monastischem und scholastischem Lesen? Wieder fällt zuerst der Blick auf das Pensum. Die Regula Benedicti enthält ein im Kern stabiles, an den Rändern variables Lesepensum. In der Frühscholastik überlagert zunehmende Ausfransung den Kern. Hugo von St. Viktor erweitert Köpf, Die Anfänge, 11. Leclercq, Wissenschaft und Gottverlangen 1963, 213 ff, 302 f. Ehlers, Monastische Theologie, historischer Sinn und Dialektik 1974. Härdelin, Monastische Theologie 1987. Köpf, Monastische und scholastische Theologie 1996. 80 Leclercq, Études sur le vocabulaire monastique 1961, 70–79. 78 79
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den Schriftkanon um nicht weniger als die gesamte Patrologie. Seine Seufzer – „[scripta] tam infinita sunt, ut numerari non possint, [i]nfinitus est librorum numerus“81 – tönen zwar konventionell. Aber inzwischen sind neue Textwelten aufgegangen, das Corpus Aristotelicum, jüdische und arabische Aristoteliker treten hinzu. Soll der Infarkt vermieden werden, muss die Lesetechnik über die der Regula Benedicti hinausgehen. Deren lesetheoretische Universalität verblasst. Darauf reagiert die scholastische Methode. Wenn sich die Textseiten exzessiv vermehren, kann die Gangart des Lesens nicht die der sacra pagina bleiben. Die Unmenge der auctoritates verlangt rationes; ein Rationalisierungsschub wird fällig. Monastisches Lesen, das beim Incipit beginnt und der Tonspur folgend bis zum Explicit gelangt, erscheint dem scholastischen Lesen naiv. Dies verfährt mit höherer Geschwindigkeit. So schieben sich über die Textseiten verkürzende und beschleunigende Ordnungsmerkmale, die große Textmengen erfassen und übersichtlich machen. Der Textstoff wird der Gliederung, Schichtung, Systematisierung unterworfen. Vor diesem Hintergrund hat Ivan Illich die Differenz von monastischem und scholastischem Lesen pointiert und überpointiert. Er erklärt die „Aufkunft des scholastischen Lesens“ als Folge eines „Um-“ und „Durchbruchs“ der Lesekultur. Wenn wir seiner Diagnose zufolge heute am Ende der Epoche stehen, die einmal aus dem Übergang vom monastischen zum scholastischen Lesen hervorgegangen ist, und wenn scholastisches Lesen nichts anderes ist als das moderne, das nunmehr selbst in postmodernen Verfall gerät, lässt dieser erneute, in unseren Tagen stattfindende „Umbruch“ zugleich mit dem Vergangenen das Vorvergangene desto schöner aufleuchten. Nun darf das monastische Lesen noch einmal erblühen in einer sinnlich-sinnhaften, tonfarbig-synästhetischen und ein wenig zur Nostalgie neigenden Liebenswürdigkeit.82
d. De studio legendi
Auf doppelte Weise steht das Didascalicon Hugos von St. Viktor auf der Schwelle – um ein vorsichtiges Bild zu wählen für Beobachtungen, die auch als Ambivalenz, Diskrepanz, Inkongruenz und Inkompatibilität apostrophiert werden.83 Es steht auf der Schwelle von der monastischen zur scholastischen Theologie; ohne sich der Rationalität Abaelards zu verschreiben, hat sich die reformierte Augustinerabtei des 12. Jahrhunderts von der benediktinischen Spiritualität gelöst. Es steht aber auch auf der Schwelle vom monastischen zum scholastischen Lesen; hier hat das Studienbuch seinen Sitz, dessen gräzisierender Trendtitel durch De studio legendi erläutert wird. Weder handelt es 81 Hugo v. St. Viktor, Didascalicon IV 2, FChr 27, 274,25 f; V 7, 344,15. Berndt, Gehören die Kirchenväter zur Heiligen Schrift? 1988. 82 Illich, Im Weinberg des Textes 1991, 7, 10 f. 83 Offergeld, Einleitung, 49, 59 f, 68–72.
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sich um eine bei Studienführern immer schon gängige Thematik, noch um eine solche, die zur Regel werden sollte. Sie kommt dem Didascalicon allein zu. Nicht dass Werke wie Augustins De doctrina christiana, Cassiodors Institutiones divinarum et saecularium litterarum oder Hrabanus’ De institutione clericorum nichts mit Lesen zu tun hätten, im Gegenteil: sie üben es stillschweigend wie Augustin, widmen ihm einzelne Abschnitte wie Hrabanus Maurus oder richten das Werk als ganzes darauf aus wie Cassiodor. Aber keiner von ihnen geht soweit, das Lesen an und für sich zum Leitfaden von Theologie zu machen. Darin ist Hugo von St. Viktor singulär. Hier kommt an, was das Mönchtum zu Theorie und Praxis des Lesens gesammelt hatte. Und gleichzeitig kündigt sich der Bruch mit dem monastischen Lesen an. Zwar schließt Hugo an lectio als Summe mönchischer Erfahrung an. Aber das Substantiv lectio, das das Pensum bezeichnet, wird vom Verb legere verdrängt, das den Akt vorzieht. Unter Verkehrung von Cassiodor gliedert sich das Didascalicon in Buch I–III, das die weltlichen, und IV–VI, das die göttlichen Wissenschaften umfasst. Und was bedeutsamer ist: beide Wissenschaften bestehen aus scripturae, beide brauchen lectores.84 Bei aller Differenz von Gott und Welt – es gibt keine größere – kommen geistliches und weltliches Wissen überein, weil der erkennende Mensch in ihnen gleichermaßen als Leser agiert. De studio legendi umfasst beide Gebiete, und sein Verfasser, „vir […] in utraque litteratura adprime desertus“,85 beansprucht, am Zauberfaden des Lesens fortlaufend durch beide zu führen. Ungleichmäßigkeiten fallen desto schärfer ins Gewicht. Es fällt auf, dass in den ersten zwei Büchern ausgerechnet vom Lesen gar nicht die Rede ist, und umgekehrt, dass der Begriff ars, der in den ersten drei Büchern dominant ist, im zweiten Teil nie wiederkehrt. Zwei Bildungswelten stoßen aufeinander; es scheint, das Lesen sei den göttlichen Dingen nah, den weltlichen fern. Die Unausgeglichenheit läuft zur Unvereinbarkeit auf, wenn man die beiden Teile als Schauplatz versteht, auf dem Epochen aufeinanderstoßen. Während der zweite Teil das alte monastische Lesen fortführt, öffnet sich der erste der neuen Welt der Scholastik. Obwohl De studio legendi Lesen als Verbindungsmittel beider propagiert, widersetzt sich das scholastische Wissen dem monastischen Lesen und seiner Theologie. Die Zurückhaltung des ersten Teils in Sachen Schrift und Literatur signalisiert, dass, anders als im Titel verheißen, das herkömmlich monastische Lesen für Aufgaben der kommenden Wissenschaft insuffizient ist. Ist das Didascalicon ein Dokument des Scheiterns von Lesetheologie beim ersten Versuch der Durchführung? Nachdem die Gefährdung des Titels von De studio legendi am Tag liegt, gilt es, dem Proömium folgend den Leitfaden des Lesens bloßzulegen, von dem behauptet wurde, er werde gesponnen wie sonst nie. „Duae praecipue res sunt,“ 84 85
Hugo v. St. Viktor, Didasc., praef., FChr 27, 106,20–108,3. Offergeld, Einleitung, 37 Anm. 58.
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heißt es, „quibus quisque ad scientiam instruitur, videlicet lectio et meditatio.“86 An sich schon Verkürzung der fünfteiligen Skala lectio, meditatio, oratio, operatio und contemplatio,87 wird die Verkürzung zu lectio und meditatio noch einmal verkürzt: De studio legendi handelt ausschließlich von lectio. Die meditatio, als Nachbereitung, Verinnerlichung, Speicherung, Wiederkäuen und Verleiblichung einst aufs engste mit lectio verbunden,88 befindet sich auf dem Wege der Versachlichung zur bloßen Abrufbarkeit aus dem Gedächtnis; sie wird ausgegliedert und auf später verschoben.89 Es ist erstaunlich: Obgleich Lesen in einzigartiger Weise zum einzigen Fokus avanciert, erfährt man sehr wenig darüber.90 Dass es einmal durch die Elemente des Lehrens, Lernens und Leise-Lesens konkretisiert wird,91 bleibt im Gesamtwerk isoliert.92 Allerdings fällt auf, dass es durch eine Institution gestützt wird: Lesen ist Studium.93 Immerhin nennt das Vorwort drei Gesichtspunkte, die den Übergang von lectio zu legere Punkt für Punkt abbilden. Es geht erstens um das Was (quid), die bekannte Frage nach dem Pensum, sodann darum, in welcher Reihenfolge (quo ordine) zu lesen sei, schließlich um das Wie (quomodo), das Verstehen, und dies ist das allegorische.94 Der Anspruch, nichts als der Akt des Lesens solle als Leitseil durch die Hauptteile des Wissens, durch weltliche95 und heilige Schriften hindurchführen,96 ist evident. In der Tat wiederholen die drei Punkte, die Buch IV–VI Struktur geben, die drei Punkte, die in Buch III entwickelt wurden.97 Ein Blick auf den Gesamtaufriss mag das Bild festigen, das wir von Hugos Studienbuch weitertragen. Er wird es zugleich in Frage stellen. Dass Hugo die Anordnung Cassiodors, der zuerst von göttlichen, dann von weltlichen Wissensbeständen handelte, umkehrt, wurde bereits erwähnt. Jetzt mag die Umkehrung der Umkehrung die Auseinandersetzung mit dem Studienbuch fördern. Dieses will das Erkenntnis‑ und Lebensziel der geistlichen Wissenschaft auf dem Weg über die weltlichen Wissenschaften erreichen, die in der Frühscholastik neue Maßstäbe der Rationalität setzen. Also muss Hugo von St. Viktor das frühscholastisch formierte Weltwissen durchstoßen, um das monastische Ziel ewiger Kontemplation zu erreichen. Er tut dies mittels des klassischen Spiritualsinns. Heilige Schriften unterscheiden sich von Schriften überhaupt, weil bei 86
Didasc. praef., FChr 27, 106,13 f. 9. 88 Didasc. III 7, FChr 27, 240,15; cf. RB 48, 23. 89 Didasc. praef., FChr 27, 106,14–16; ebenso III 10.17; VI 13; De meditatione 1969. 90 Petrucci, Lire au Moyen Age 1984. 91 Didasc. III 7, FChr 27, 240,17–242,1: Trimodum est lectionis genus. 92 Didasc. V 10 De tribus generibus lectorum gehört zur Allegorie. 93 Stierle, Studium. Perspectives on institutionalized modes of reading 1991. 94 Didasc. praef., FChr 27, 106,16–19. 95 Didasc. III 4. 96 Didasc. IV 1 ff; V 1–3; VI 1 ff. 97 Das Was (III 1–4/IV 1–16), die Ordnung und Reihenfolge (III 8/VI 2–11), das Wie (III 9/V 1.7; VI 1.12), jeweils weltlich/geistlich. 87 Didasc. V
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diesen allein die Worte Bedeutung tragen, bei jenen aber auch die Dinge, die durch Worte bezeichnet werden, und während diese die konventionelle Wortbedeutung nicht überschreiten, kommt jenen göttliche Wortbedeutung jenseits menschlicher Konvention zu. Hier bloß die Stimme der Menschen, dort Gottes Stimme an Menschen.98 Mutiert aber das Lesen in Schriften zum Lesen in Dingen der Schöpfung, dann kehrt das unter dem Innovationsschub scholastischen Lesens unterdrückte monastische Lesen zurück. Noch einmal winkt die lectio divina99 und verschafft sich Platz in der abstrakten Leiblosigkeit scholastischen Lesens. Trotz Vorwärtsschreitens verfolgt Hugo ein im Grunde rückwärtsgewandtes Programm. Mit Cassiodor möchte man fragen: Was wäre, wenn sich Hugo unter Umkehrung seiner Hauptteile der frühscholastischen Evolution des Lesens überlassen hätte? Dann hätte er nichts unversucht lassen dürfen, selbst im scholastischen Lesen Theologie zu finden.
e. De sacra doctrina
De studio legendi erhält sein Profil nicht nur durch den rückwärtsgewandten Blick auf divina lectio und das monastische Lesen, sondern auch durch Vorblick auf die Hervorbringungen des scholastischen Lesens, hier exemplarisch auf die Summa theologiae des Thomas von Aquin. An die Stelle von De studio legendi tritt die erste Quaestio De sacra doctrina,100 das Vorwort zur Summe als ganzer. Der Themenwechsel signalisiert die Verschiebung, die sich von der Früh‑ zur Hochscholastik zuträgt. Einerseits sind die Berührungen beider Texte eklatant; bei Thomas intensiviert sich im Verlauf der ersten Quaestio die Nähe so weit, dass am Ende Hugo von St. Viktor sogar namentlich auftritt. Dazu passt, dass der Duktus von De sacra doctrina bis in den Wortlaut mit dem Duktus von De studio legendi übereinstimmt. Beide laufen hinaus auf die Erkenntnis der einzigartigen Fruchtbarkeit des allegorischen Schriftsinns, dessen Drei-, Vier‑ oder Vielfachheit die sacra scriptura von allen weltlichen scripturae unterscheidet.101 Andererseits verläuft bei Thomas alles anders als bei Hugo; selbst die Konsonanz von Begriffen darf nicht ohne schwebende Dissonanz genommen werden. Die fundamentalste Differenz liegt darin: Thomas beginnt seine Summa genau an der Stelle, an der bei Hugo mit Buch IV der zweite Teil beginnt, aber während Thomas die gesamte Argumentationsstrecke von Didascalicon IV–VI in die erste Quaestio der Summa packt, ragt der ganze Rest, das heißt nicht weniger als die gesamte Summe, über das im Didascalicon Vorgetragene kühn hinaus. Beschränkt sich damit die direkte Vergleichbarkeit auf die systematisch parallelen, aber in ihrer Ausdehnung 98 Didasc. V
3, FChr 27, 322,3–10. Didasc. V 6. 100 Thomas von Aquin, STh I q 1 De sacra doctrina, qualis sit, et ad quae se extendat. 101 Didasc. V 2; VI 3–5/STh I q 1 a 10 resp. 99
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divergenten Textstücke Didascalicon lb. IV–VI und Summa Theologiae I q 1, so ergeben sich zwei weitere entscheidende Differenzen, sobald man die Stücke synoptisch liest. Die erste Differenz kommt vom Ende her. Offensichtlich gelangt Hugo am Schluss von De studio legendi an die Schwelle, an der Thomas die Sacharbeit erst beginnt. Also überragt der Erwerb scholastischen Lesens den des monastischen um nicht weniger als eine ganze Summa. Es scheint, als ob monastisches Lesen eine zwar liebenswürdige, aber unzweckmäßige Behinderung der Leseweise wäre, die Thomas und die Scholastiker in der Hochscholastik übten. Gelesen wird mit solcher Rasanz, dass die Absicht, das Lesen zu reflektieren, als unnötige Selbstbehinderung erscheint. Soll ein Opus wie die Summa entstehen, muss Lesen laufen und darf sich nicht in Selbstreflexion verzetteln. – Die zweite Differenz ergibt sich vom Anfang her. War es der Kern von Hugos Theorie, Lesen von Schrift überhaupt zu überführen in Lesen heiliger Schriften, das heißt Lesen von Sprachbedeutung zu überführen in Lesen von Dingbedeutung, so wiederholt Thomas zwar, wie erwähnt, den Komplex des vielfachen Schriftsinns genau in Hugos Worten, aber dessen Wertigkeit wird gründlich versetzt. Bei aller Schätzung geistlicher Schriftsinne ist es für Thomas der sensus litteralis allein, der vom auctor sacrae scripturae intendiert war. Dank seiner Klarheit taugt er zur Argumentation,102 und Argumentation ist die Disziplin, die zur sacra doctrina erfordert wird.103 Ferner kann davon ausgegangen werden, dass der Literalsinn alles Heilsnotwendige enthält.104 Die geistlichen Schriftsinne dürfen für die sacra doctrina vernachlässigt und der Erbauung anheimgestellt werden. Damit ist nicht weniger als der Grund entfallen, der Hugo von St. Viktor bewogen hatte, auf dem Wege des Lesens den Übergang vom ersten buchstäblichen Schriftsinn zum zweiten allegorischen zu betreiben. Thomas dokumentiert dies, indem er in der ersten Quaestio der Summa, also in dem Textstück, das der zweiten Hälfte von De studio legendi entspricht, das Lesen auch nicht mit einem Wort erwähnt. Er braucht es nicht, weil er es schon viel effizienter übt als Hugo es reflektiert hatte. So kommt es, dass Hugos Studienbuch mit seiner wie immer ge‑ oder missglückten Aufmerksamkeit auf das Lesen Solitär blieb. Und es liegt auf der Hand, dass Versuche in Sachen Lesetheologie wie der jetzige sich mit diesem Solitär ins Benehmen setzen und Anregung aus ihm zu schöpfen suchen.
102 STh I q 1 a 10 ad 1: ex quo [sc. sensu litterali] solo potest trahi argumentum, non autem ex his quae secundum allegoriam dicuntur. 103 STh I q 1 a 8. 104 STh I q 1 a 10 ad 1: nihil sub spirituali sensu continetur fidei necessarium, quod Scriptura per litteralem sensum alicubi manifeste non tradat.
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3. Theologie des Lesens Alle, fast alle Theologien lesen, nicht alle thematisieren es. Hugo von St. Viktor thematisierte es, Thomas von Aquin nicht. Dessen Lesen war zu effizient, um auf Thematisierung zu warten. Zwar will das scholastische Lesen das monastische nicht ablösen, aber es etabliert sich so erfolgreich, dass retardierende Elemente wie Meditation und Rumination außer Funktion geraten, ohne jemals negiert worden zu sein. Was vordem der Wortsinnlichkeit gedient hatte, erweist sich als zu träge, um der Effizienz scholastischen Lesens standzuhalten. In diesem Evolutionssprung des Lesens gewinnt Theologie die uns vertraute Bedeutung. Während Theologie in Hugos Didascalicon floriert in Buch I–III, wo nach Mathematik und Physik zuoberst die Theologik auftritt,105 in Buch IV–VI aber aus dem Blick gerät, weil sie an den aus den divinae scripturae zu ziehenden Wissensschatz nicht heranreicht, stellt Thomas sie in De sacra doctrina von Anfang an ins helle Licht. Am Leitseil der sacra doctrina soll sie sich fortbilden vom philosophischen zum theologischen Sinn, der von Theologik verschieden ist der Art nach.106 Die sacra doctrina schafft Übergang: einerseits weist sie zurück auf frühere Formationen des Lesens, in der sie mit sacra scriptura und sacra pagina identisch war: „sacra Scriptura seu doctrina“,107 andererseits weist sie voraus auf die kommende Sprechweise, in der theologia genügt, um den Ertrag scholastischen Lesens, die Summa, zu benennen. Die Ambiguität ist perfekt: Wird im Fortgang von Hugos Buch das Lesen stark, die Theologie schwach, so verhält sich bei Thomas umgekehrt die Theologie stark, das Lesen schwach. Die Theologie des Lesens wird an dem historischen Ort, an dem sie erstmals greifbar ist, zerrieben. Eines ist die historische Konstellation, in der die Theologie des Lesens erstmals auftaucht, ein anderes ihre Durchführung. a. Engführung des Lesens, Engführung der Theologie Mit Beginn der Scholastik geraten Theologie wie Lesen in außerordentliche Engführung. Das ist gut so. Je enger die Begriffe werden, desto deutlicher werden sie. Enggeführte Theologie und enggeführtes Lesen begegnen sich und legen den Grund zur Theologie des Lesens. Was zuerst das Lesen anlangt, ist klar: Lesen ist durchaus nicht immer dasselbe, es hat eine Geschichte. Wir werden sehen: Lesen kennt Unterschiede. Allein schon der Unterschied zwischen monastischem und scholastischem Lesen hat Ivan Illich zu Thesen von epochaler Reichweite veranlasst, vorgetragen nicht ohne aktualisierendes Interesse. Vom Rückzug des Lesens seit Ausbreitung der 105
Didasc. II 2.18. STh I q 1 a 1 ad 2: Unde theologia quae ad sacram doctrinam pertinet, differt secundum genus ab illa theologia quae pars philosophiae ponitur. 107 STh I q 1 a 2 ad 2. 106
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Neuen Medien wird geredet; angesichts des möglichen Endes stellt sich die Frage nach dem Beginn.108 Von welcher Art war das Lesen, das mit dem so gearteten Beginn zu Ende gebracht wird? Es war das monastische Lesen, das bei Hugo von St. Viktor im Moment seines Vergehens noch einmal alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Seine Thematisierung ist Symptom einer Krise. Schon ihrer Farbigkeit wegen darf man an Einzelzüge erinnern, die Illich vorträgt. Monastisches Lesen ist ein solches mit allen Sinnen. Laut geschehend, erstreckt es sich vom öffentlichen oder halböffentlichen Lesen clara voce bis zum privaten depressa voce, stets unterfangen von einem institutionellen Rahmen, der marginales Lesen tendenziell ausschließt. Selbst im Fall leisesten Lesens handelt es sich um immer noch hörbares Verfolgen einer Tonspur, die beim Incipit beginnt und beim Explicit endet. Dem nie völlig stillen Leser begegnet die Schrift, als ob sie von selbst erklänge. Dem Gehör folgen andere Sinne. Das fromme Murmeln des Lesers zieht Metaphern des Schmeckens und Riechens an sich; Worte entfalten im Mund Süße und in der Nase Duft. Mit dem Gefühl werden sie im Text ertastet. Und indem das Gelesene meditiert, ruminiert und memoriert wird, befindet es sich auf dem Weg zur Verleiblichung, wird leibhafter Sinn. Bewegungen des Leibes sind es, Figuren und Rhythmen, in denen Sinn abgelegt und aus denen er wieder abgerufen wird, und je ritualisierter die Formen, desto stärker die Fassungskraft. Sobald am Ende die Textseite nicht nur als beleuchtet wahrgenommen wird, sondern als von sich selbst her leuchtend, empfängt das Gesicht des Lesers sein Licht. Einmal ist die Seite das Fenster zur Welt, das andere Mal der Spiegel der Selbsterkenntnis. Monastisches Lesen – so Illich – ist ein solches, das mit dem Übergang vom Sinn zur Sinnlichkeit spielt und macht, dass der Laut immer schon den Ton, das Schriftzeichen schon das Bild, das Gedächtnis schon die Nähe zu Liturgie und Ritus, das Mündliche schon die Nähe zu Mund und Gesicht ahnen lässt. Text und Welt sind kaum geschieden; der Text ist beinahe die Welt, die Welt beinah der Text. Nur dass sie identisch sind, will Illich nicht behaupten. Sollte etwas von Illichs Schilderung zutreffen, dann ist die „Aufkunft“ des scholastischen Lesens in der Tat ein „Durch-“ oder „Umbruch“ von außerordentlicher Wucht. Das scholastische Lesen verkehrt die Züge des monastischen ins Gegenteil. Der Text beginnt sich von der Welt zu lösen, wird selbständiger Gegenstand, der sich im Buchformat durch die Welt tragen lässt. Der Leser wird erlöst von der Tonspur, in die er gebannt war; das scholastische Buch ist Träger einer optisch planmäßigen, mit Abschnitten und Zwischentiteln überschaubar gemachten Textpräsentation; Blättern wird möglich; Indizes erleichtern den Zugriff. Der Text separiert sich von der sinnlich-materialen Basis, und seine Sinnlichkeit wird reduziert auf ein Sehen, das auf die Transparenz der 108 Illich, Im Weinberg, 7, 101, 122: scholastisches Lesen als eine durch „Beginn“ und „Ende“ abgeschlossene „Ära“ oder „Epoche“.
3. Theologie des Lesens
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illuminierten Seite verzichtet und Durchsichtigkeit auf perspicuitas beschränkt. Was lectio divina war, wird unter Bedingungen scholastischer Rationalität zur bloßen lectio spiritualis.109 Worin besteht die Engführung des Lesens? Darin, dass der Überschwang fruchtbarer Vielsinnigkeit auf den kärglichen Einsinn literalen Lesens reduziert wird. Nun geht es um Lesen in buchstäblichem Sinn. Darauf ist schwerlich zu verzichten, will man den Grund nicht verlieren. Engführung des Lesens ist erstrebenswert. Was sodann die Theologie anlangt, widerfährt ihr entsprechende Engführung. Sie muss Abschied nehmen von der großartigen Vielsinnigkeit ihrer Vergangenheit. Das heißt zuerst Abschied von der so ansprechenden griechischen Gestalt. Wie aus Lesen Lesen werden muss, und wie der ältere, weitere, vollere, ursprünglichere Sinn des Lesens notwendig dem neueren, engeren, schmaleren weicht, so ist in Hinsicht auf Theologie zu fordern: Aus Theologie muss Theologie, aus θεολογία muss theologia werden. Mit diesem Schritt wird alle vorherige Theologie zur bloßen Vorgeschichte. Der Transfer von θεολογία in theologia steht im Zeichen von Entsinnlichung, Entseelung, Verschriftlichung, Entmusikalisierung, Verwestlichung. „Holdes Blüthenalter“!110 War θεολογία nicht Hervorbringung von Musen? War sie nicht, wie Musik, Gabe der Mnemosyne, aus der alle Kulturleistungen hervorgehen, die Hesiod zur dreifachen Dreizahl der Musen mythologisiert? Und wie die Musen die einzige antike Gottheit sind, deren Name noch heute in einer Kunst fortlebt, sollte so nicht auch θεολογία ihren ruhmreichen Namen der theologia aufprägen? In Wahrheit sind die drei großen Gebiete der Theologie, die Augustin nach Varro unterscheidet, bis zum Nicht-Wiedererkennen der Rationalisierung unterworfen und gingen des musischen Sinnes verlustig. Am stärksten widerfuhr dies der natürlichen Theologie; einst Ausdruck dafür, dass die Natur als belebt und beseelt, auch als sprechend erfahren wurde – natürliche Theologie war nichts als Sprache der Natur: jetzt ist sie ein Tummelplatz von Aussagen, deren Banalität unübertrefflich ist. Ebenso die politische Theologie; einstmals Legitimation der großen und kleinen gesellschaftlichen Ordnungen: jetzt liegt ihre menschengefertigte Fiktionalität unverdeckt am Tage. Und was endlich die mythische oder poetische Theologie anlangt, einst der Ort, an dem – mit Walter F. Otto – das musische Wunder des Singens und Sagens die menschliche Sprache durchsichtig machte auf ihren göttlichen Ursprung:111 jetzt bleibt von ihr nichts als die aufsässige Geschwätzigkeit von Dichtern und Rednern. Das ist es, was die älteste literarische Kunde von θεολογία und θεολογεῖν bei Platon und Aristoteles von ihrem vorliterarischen Zustand in Erinnerung ruft.
109
Rousse/Sieben, Art. Lectio divina et lecture spirituelle 1976. Schiller, Die Götter Griechenlands 1788, Z. 90. 111 Otto, Die Musen 21956. 110
§ 1 Theologie des Lesens
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Wenn diese Schilderung griechischer θεολογία zutrifft, dann vollzieht theologia im hier bevorzugten Sinn die Wendung ins direkte Gegenteil. Die Blüte mythischen Singens und Sagens ist dahin. Was θεολογία war, verblasst, vergilbt, verduftet, verklingt. Von ihrer vollen Sinnlichkeit bleibt nur der Sinn und das dürre Wort als sein fortdauernder Träger: Und uns blieb nur das entseelte Wort.112
Zuverlässig entseelt dürfte noch mehr das geschriebene Wort sein. Ausgerechnet dieses bildet fortan das Medium und Element, in dem theologia geschieht. Im Eingang von Peri hermeneias hat Aristoteles den Logos zuerst auf den Weg von der Sinnlichkeit zum Sinn und von der Mantik zur Semantik geschickt, dann aber auch auf den Weg vom Semantischen zum Apophantischen. Nicht jedes semantisch belangvolle Wort ist apophantisch; apophantisch ist es erst als ein solches, das wahr oder falsch sein kann, das heißt als Aussage. Dies ist die Stelle, an der theologia einsetzt. Thomas von Aquin bindet Theologie an die Argumentationskraft und schließt alle weiteren Parameter aus.113 Und die Entseelung des Wortes gewinnt noch einmal eine neue Qualität, wenn die Verschriftlichung hinzukommt. Es ist also die Reminiszenz an die Mündlichkeit, die die aristotelische Engführung auf die Aussage stören könnte. Erst Schriftlichkeit verschafft Klarheit, indem sie selbst des Atems und der Stimme nicht mehr bedarf. Aber genau die enggeführte Theologie, die im Vergleich zur mündlichen als Verlust erfahren wird, ist es, die wir suchen. Sie führt dermaßen in die Enge, dass man fragen muss: Wäre nicht Theographie das angemessenere Wort? Nun ist zu ermessen, was es heißt, aus θεολογία sei theologia geworden. Wie aus vielsinnigem, metaphorischem Lesen buchstäbliches wird, so muss aus vielsinnig beseelter, zwischen Poesie und Musik schwebender und den Anhauch musischen Geistes mit sich tragender Theologie buchstäbliche Theologie werden, und zwar in doppeltem Sinn. Während sie auf der einen Seite, um dem Literalsinn zu genügen, einsinnig werden muss, muss sie auf der anderen, um dem buchstäblichen Sinn zu genügen, buchstäblich werden. In der Tat: Theologie besteht aus nichts als Buchstaben. Das ist die Engführung, auf die nicht verzichtet werden kann, wenn man in der Theologie Fuß fassen will. b. Theologie des Lesens Spannungsfrei ist die Fügung jedenfalls nicht, die nun als Titel und Losung vor uns steht. Wie allein schon Theologie schwankt zwischen Theologie und Theographie, so schwankt Lesen zwischen buchstäblichem und übertragenem Sinn. Erst recht die Zusammenfügung beider signalisiert Uneingelöstes. Soviel 112 113
Schiller, Die Götter Griechenlands, Z. 124. Aristoteles, De int. 4, 16b26–17a7.
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ist sicher: Die Theologie des Lesens darf nicht dem Boom der Genitiv-Theologien überlassen bleiben. Sie hat andere Qualität als die Theologie der Hoffnung, der Revolution, des Symbols usw. Prinzipiell kann Theologie sich auf alles beziehen. Bezieht sie sich also auf nichts nicht, bezieht sie sich stets auf anderes als sich selbst. Aber Theologie bezieht sich auch auf sich selbst; Wendungen wie Theologie des Wortes oder der Sprache Gottes belegen dies, und auch bei der Theologie des Namens Gottes nimmt das Genitivattribut nur auf, was der Nominativ schon enthält. Vergleicht man die Theologie des Lesens damit, so liegt sie zwar nicht weit entfernt von selbstbezüglichen Wendungen dieser Art, ist aber auch nicht identisch mit ihnen; sie liegt, wenn man so will, knapp daneben. Zwischen Theologie und Lesen bleibt Reibung. Darin steht sie der Theologie des Buches nahe,114 die sich ebenso auf das Buch bezieht, wie sie an sich schon Buch ist und in einem Extra-Schuber steckt. Entsprechend die Theologie des Lesens.115 Auf der einen Seite steht das Lesen der Theologie gegenüber und reiht sich den Genitivtheologien ein, auf der anderen Seite ist Lesen das, was sie selbst bereits ist und tut. Zwischen Theologie und Lesen herrscht Gleichheit und Ungleichheit. Gleichheit, sofern beide zur Engführung gebracht werden müssen, um sich zur Theologie des Lesens zu fügen. Beide kommen aus der Vorgeschichte weiträumigen Gebrauchs und beklagen dessen Verlust: Theologie reduziert auf die Sprachform der Aussage und der Argumentation, Lesen reduziert auf den Umgang mit Buchstaben und deren Verflechtung. Hier treffen sie sich. Aber treffen sie sich? Genauer: Trafen sie sich in der Wende zur Scholastik? Hier beginnt schon ihre Ungleichheit. Fakt ist: Sobald das Lesen thematisch wird bei Hugo von St. Viktor, drängt es die Rede von Theologie zurück. Wiederum sobald bei Thomas von Aquin die Theologie stark wird in Gestalt von sacra doctrina, verdrängt sie das Lesen. Und dies mit solcher Heftigkeit, dass die Theologie bis heute ohne Rücksicht auf Lesen definiert wird. Einerlei ob Thomas von Aquin,116 oder in Jahrhundertschritten Martin Luther,117 Johann Gerhard,118 Rahner, Zur Theologie des Buches 1962. Huizing, Wächserne Nase. Kleine Apologie einer Theologie des Lesens 1992; ders., Homo legens. Vom Ursprung der Theologie im Lesen 1996; ders./Körtner/Müller, Lesen und Leben. Drei Essays zur Grundlegung einer Lesetheologie 1997. Webster, Reading theology 1997. McEvenue, ‚Reading theology‘ 1997. 116 Thomas von Aquin, STh I q 1 a 7 c: theologia, quasi sermo de Deo. 117 Luther, En. ps. LI 1532, WA 40/2, 327,11–328,2: Cognitio dei et hominis est sapientia divina et proprie theologica, Et ita cognitio dei et hominis, ut referatur tandem ad deum iustificantem et hominem peccatorem, ut proprie sit subiectum Theologiae homo reus et perditus et deus iustificans vel salvator. 118 Gerhard, Loci theologici, proœm. 1625, § 31: Theologia (systematice et abstractive considerata) est doctrina ex verbo Dei exstructa, qua homines in fide vera et vita pia erudiuntur ad vitam aeternam. Theologia (habitualiter et concretive considerata) est habitus θεόσδοτος per verbum a Spiritu sancto homini collatus […]. 114 115
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§ 1 Theologie des Lesens
David Hollatz119 oder Friedrich Schleiermacher:120 die klassischen Definitionen der Theologie nehmen auf Lesen, auch wenn sie es noch so extensiv üben, nicht den geringsten Bezug. Also ergibt sich in Hinsicht auf die Beziehung von Theologie und Lesen: Obwohl darin gleich, dass beide in äußerster Engführung auf uns kommen, sind sie darin ungleich, dass sie zu innerer Berührung bisher unfähig waren. Sie schneiden sich, statt sich zu überschneiden. Theologiegeschichtlich war die Bearbeitung des Themas des Lesens durch Hugo von St. Viktor die letzte. Sie betraf monastisches Lesen. Eine entsprechende Besinnung unter Bedingungen scholastischer Engführung steht aus. Damit ist klar: Erstens, Theologie, als theologia, ist deutlich jünger als θεολογία; lassen wir die Theologie wie hier mit theologia beginnen, wird die ältere Geschichte der θεολογία zur bloßen Vorgeschichte. Jetzt haben wir es mit Theologie im engeren Sinn zu tun, die mit der Entstehung von Scholastik und Universität unlösbar verknüpft ist. Zweitens, Theologie in diesem Sinn entsteht in dem Moment, wo ein Rationalisierungssprung die Geschichte des Lesens von seiner Vorgeschichte scheidet. Gehören dazu Vorbegriffe wie lectio divina, sacra scriptura, sacra pagina, so haben wir es ausschließlich mit Lesen in engerem Sinn zu tun, das seit der Scholastik im Vormarsch ist. Und drittens, Theologie des Lesens, die Verbindung beider Punkte, fragt nach der Entstehung von Theologie unter den veränderten Bedingungen von Lesen. Dabei ist die Vermutung leitend, Theologie sei eine Hervorbringung des Lesens. Eine nachgehende Reflexion lässt sich nicht unterdrücken. Sie ist weniger historischer als prophetischer Art. In jedem historischen Urteil schlummert ein in Zukunft weisendes Element. „Wie gewonnen, so zerronnen“ oder: „Quod cito fit, cito et perit.“ Die enge Bindung von Theologie und Lesen droht sich gegen die Theologie zu kehren, sobald die Kulturtechnik des Lesens in die Krise gerät. Mit der Schwäche des Lesens schwächelt auch die Theologie, mit seiner Krise kriselt auch sie. Dass eine Kulturtechnik abhandenkommt, ist nicht unwahrscheinlich. Selbst wenn es sich in Hinsicht auf das Lesen so verhalten sollte, bleibt unbenommen, nach dem Vorbild von Hugo von St. Viktor, jetzt unter gegenwärtigen Bedingungen, zu entfalten, welchen Fortgang das Lesen nehmen müsste, das Theologie hervorzubringen in der Lage ist. Vielleicht gelingt es sogar, es zwar nicht unvergesslich, aber für den Moment unvergessen zu machen. Dazu ist die Engführung von Lesen wie Theologie unabdingbar. 119 Hollatz, Exam. theol. acroam. 11707, prol. 1 q 1: Qvid est THEOLOGIA? [in marg. Definitio theologiæ:] THEOLOGIA est sapientia eminens practica è verbo Dei revelato docens omnia, qvæ ad veram in Christum fidem cognitu, & ad sanctimoniam vitæ factu necessaria sunt homini peccatori æternam salutem adepturo. 120 Schleiermacher, Kurze Darstellung 21830, § 1, KGA I/6, 325, § 1: „Die Theologie in dem Sinne, in welchem das Wort hier immer genommen wird, ist eine positive Wissenschaft, deren Theile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch ihre gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise, d. h. eine bestimmte Gestaltung des Gottesbewußtseins; die der christlichen also durch die Beziehung auf das Christenthum.“
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Nur die Geduldsprobe dieses Nadelöhrs kann den Faden des Lesens aufgreifen und fortspinnen. Regressives Schwadronieren in ältere Formationen ist nicht gestattet. Die geforderte Enge findet ihren Ausdruck in Form einer Definition. Sie lautet: Die Theologie in dem Sinne, in welchem das Wort hier immer genommen wird, ist eine Wissenschaft, die nicht bloß besteht, sondern nur entsteht durch Beziehung auf die fortgesetzte Tätigkeit des Lesens. Die Hypothese steht im Raum, Lesen führe unausbleiblich zur Theologie.
c. Fragen der Durchführung
Wenn also Theologie, seitdem sie zu theologia wurde, nicht unabhängig ist vom Lesen und seinen jeweiligen Arten, wenn sogar behauptet werden darf, Theologie sei eine Hervorbringung des Lesens, zwar keine notwendige, aber doch eine solche von einem gewissen Grad der Wahrscheinlichkeit, so liegt sie offenbar in der Konsequenz des Lesens. Es ist zu vermuten: Jemand, der zu lesen beginnt, wird wohl nicht nicht auf Theologie stoßen. Aus einem Leser muss ganz von selbst ein Theologe werden.121 Ganz von selbst? Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen? Soll solche Anmut und Anmutung nicht im Prekären stecken bleiben, muss sie dem Leseprozess ausgesetzt werden. Lesen geschieht auf Zukunft. Zwar gibt es zu Lesendes nur als Geschriebenes, und hinter dem Geschriebenen gähnen weitere Archive vom Selben. Aber satt und übersatt vom Vergangenen wendet sich jedes aktuelle Lesen in ungeschriebene Zukunft. So schwach diese auch im Vergleich zur Überstärke der Vergangenheit scheinen mag, faktisch findet der Leseakt nur statt, wenn er, je bestimmter er sich der Vergangenheit hingibt, desto kräftiger auf unbestimmte Zukunft hin entwirft. Nicht dass man um der Zukunft willen läse; diese kann nicht vorweggenommen werden. Aber dass Lesen, obgleich bezogen auf Vergangenes, zugleich „ahndet“,122 lässt sich mit Schleiermacher wohl behaupten. Wenn wir daher vermuten, dass ein Leser im Verlauf seines Tuns ganz von selbst zum Theologen werde, so ist dies nicht mehr als eine auf Zukunft gerichtete Ahndung. Und mehr als eine Anregung war es nicht, was die denkwürdige Berührung, de facto aber Nicht-Berührung von scholastischem Lesen und scholastischer Theologie geboten hat; sie liefert kein sicheres Rezept für den Ausgang von Lesetheologie. Und doch ist sie es, die uns hinausschiebt ins Offene. Unfähig, das Resultat vorwegzunehmen, müssen wir uns dem Leseprozess überlassen, soweit er sich erschließt. Lesen, einmal begonnen und sich selbst überlassen, möge seinen Lauf entfalten. Zur Ausfaltung der Theologie des Lesens steht zweierlei in Aussicht, einmal soweit absehbar das Ziel, dann und näherliegend der Beginn. 121
Vf., Über die Verfertigung von Theologie im Vorgang des Lesens 2006. Schleiermacher, Hermeneutik 1819, KGA II/4, 128,26; ders., Über den Begriff der Hermeneutik, 2. Abh. 1829, KGA I/11, 627–629. 122
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§ 1 Theologie des Lesens
Lesekunst Was das Ziel anlangt, so liegt dieses in der Zukunft. Und doch liegt es nicht einfach in Zukunft schlechthin, sondern in derjenigen, die durch die Konsequenz des Lesens erschlossen wird. Am Ende wird eine Neubeschreibung von Theologie stehen. Damit ist nicht der Anspruch verbunden, dies sei Theologie schlechthin, sonst wüssten wir schon, woraufhin Lesen zu instrumentalisieren ist. Nicht einmal geht es um Theologie des Lesens schlechthin; wir sprechen nur von einer solchen und nennen sie Lesekunst. Nachdem der erste Paragraph programmatisch der Theologie des Lesens gewidmet war, könnte der letzte schlicht Theologie heißen. Wir werden es bei Lesekunst belassen. Sie ist die Theologie, die sich in der Konsequenz des Lesens formiert. Buchstabe, Schrift, Text, Literatur, Buch, Heilige Schrift
Womit beginnt Lesen? Mit Buchstaben. Er ist elementum (στοιχεῖον) schlechthin. Daher wird der zweite Paragraph mit dem Buchstaben zu tun haben. Wie voraussetzungsvoll das ist, sahen wir bereits. Selbst wenn er sich auf die Suche nach dem Elementarsten macht, ist der bevorstehende wirkliche Beginn nur Beginn im Beginn, voraussetzungsreicher Beginn also. Lesen, definiert durch den Bezug auf Buchstaben, vollzieht eine künstlich herbeigeführte Engführung. Enggeführtes Lesen ist Lesen im buchstäblichen Sinn des Lesens in Buchstaben. Um dahin zu gelangen, hat das Lesen bereits eine lange Geschichte durchlaufen, die wir Vorgeschichte nannten. Dem entspricht, dass auch der Buchstabe bereits eine lange Geschichte durchlaufen hat, die Vorgeschichte des Buchstabens. Also beginnen wir nicht im Anfang, geschweige denn im Ursprung, sondern mittendrin. Dem enggeführten Lesen treten Buchstaben als das entgegen, was am meisten konveniert. Der naheliegende Einwand: Lesen begnügt sich doch nicht mit Buchstaben! stört nicht. Im Gegenteil. Er bekräftigt nur, dass mit dem zweiten, dem Buchstaben gewidmeten Paragraphen das Thema des Lesens keineswegs schon abgedient ist. Es hat angefangen. Zum ersten Mal wird sichtbar: Lesen hat Konsequenz. Um des Lesens willen kann man beim Buchstaben nicht stehen bleiben. In der Tat: Obgleich Theologie nur aus Buchstaben besteht, ist es von den Buchstaben zur Theologie, die unter der Überschrift Lesekunst der letzte Paragraph sein soll, ein weiter Weg. Vor allem muss vermieden werden, zur Unzeit in theologische Klischees zu verfallen, sozusagen einzuschnappen. Wird etwa Ungenügen am bloßen Buchstaben zum Ausdruck gebracht, dann ist die Antithese von Buchstabe und Geist schnell zur Hand, die verheißt, wer in Opposition zum Buchstaben den Geist aufruft, befinde sich schon auf dem besten Weg zu richtiger Theologie. Darum kann es in einer Lesetheologie nicht gehen. Ihre Parole heißt Lesen und nichts als das, und also Fortgang, Konsequenz des Lesens. Ohne Zweifel können Buchstaben in Richtung Elementarisierung nicht über-, besser: untertroffen werden;
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es gibt keine Teile von Buchstaben, die gelesen werden könnten. Also sind sie zwar in Hinsicht auf Simplizität ein Nonplusultra, nicht aber in Hinsicht auf Komplexität. Niemand liest, wenn er nicht Buchstaben liest. Aber niemand, der nur Buchstaben liest, liest wirklich. Suchen wir einen Begriff höherer Komplexion, der gleichwohl nichts als Buchstaben umfasst, dann legt sich Schrift nahe. Sie ist die Markierung, an die wir uns nach dem Buchstaben halten können. Auch hier stellt sich die Figur ein, die bereits beim Buchstaben zu beobachten war. Wie dort galt: Alle Buchstaben beziehen sich auf Lesen, aber Lesen bezieht sich nicht nur auf Buchstaben, so gilt mutatis mutandis dasselbe auch von der Schrift. Wir bekommen es mit der Figur der Asymmetrie zu tun. Asymmetrie, das ist eine knapp verfehlte Symmetrie. Symmetrien verfangen in sich; Asymmetrien hinken, dadurch weisen sie über sich hinaus.123 Niemand, der sich ausschließlich der Schrift hingibt, liest wirklich, so sehr Schrift gelesen und nichts als gelesen wird. Wir sollten also in der Komplexität fortschreiten und, Buchstaben und Schrift im Rücken, das Stichwort Satz oder Text ausrufen. Damit werden Gebilde bezeichnet, die zwar notwendig aus Buchstaben und Schrift bestehen, aber weder durch Buchstäblichkeit noch durch Schriftlichkeit hinreichend qualifiziert sind. Alle Texte sind Buchstaben und Schrift, aber nicht alle Buchstaben und Schriften sind Texte. Und schon setzt sich auch hier das hinkende Verfahren fort. Vielleicht neigt man zu der Vermutung, mit Sätzen und Texten komme das Lesen zur Ruhe und sei saturiert. Das Gegenteil ist der Fall. Eine weitere Asymmetrie tut sich auf. Ruft man etwa, Buchstaben, Schrift und Text im Rücken, das Stichwort Literatur auf, dessen Etymologie sich vom bloßen Buchstabenwesen so wenig unterscheidet, wird man entdecken: Zwar ist alle Literatur Text und – überflüssig zu sagen – Schrift, Buchstabe, aber nicht alle Texte sind Literatur. Eine zusätzliche Markierung muss eingeführt werden, die die Literatur vom Text unterscheidet, das Merkmal von Literatur. So können wir fortfahren. Einerseits den Buchstaben nie verlassend und andererseits bei hinreichender Entfernung von ihm begegnet das Buch. Seiner Etymologie zufolge will das Buch sogar, obgleich es später kommt, früher sein als der Buchstabe. Es führt in eine weitere Asymmetrie. Zwar überblicken wir im Moment nicht, ob das Buch eine Parallelüberlegung zur Literatur ist oder eine Folgeüberlegung. Aber einerlei ob Buch oder Literatur: Sobald man sie ihrerseits in Asymmetrie versetzt und konstatiert: Nicht jedes Buch ist das Buch der Bücher, oder: Nicht jeder Literaturkanon ist kanonisch, taucht in Konsequenz des Leseprozesses regelmäßig das Stichwort Heilige Schrift auf. Die naheliegende Frage, ob wir uns damit noch auf gutem, das heißt in Konsequenz des Lesens verlaufendem Wege befinden, erhält, fast zu schnell, die Antwort, dass heilige Schrift, falls ihr Name auch nur ein wenig ernst genommen wird, bereits auf der Ebene der Schrift thematisch gewesen sein muss, ja schon auf der Ebene der Buch123
Vf., Asymmetrien des Lesens 2009.
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staben, sofern diese die heiligen Buchstaben berücksichtigt. Denn ἱερὰ γράμματα ist nur ein Synonym zur heiligen Schrift. So nahe liegen Dinge beieinander, die in Wirklichkeit so fern sind.
Lesen und Nicht-Lesen, Lesen und Lesen Buchstabe, Schrift, Text, Literatur, Buch, Heilige Schrift: so könnte die Reihe wohl aussehen, die zu durchlaufen ist, um auf dem Weg des Lesens vom enggeführten scholastischen Begriff zu einer Neubeschreibung von Theologie zu gelangen. Und Konsequenz des Lesens: das ist der Gang durch die Asymmetrien des Lesens. Asymmetrien halten auf Trab durch ihr ungebärdiges Hinken. Wir sprechen von Verfolg, Konsequenz, Asymmetrie des Lesens, wobei vorausgesetzt wird, das Lesen befinde sich schon im Gange und funktioniere insoweit. Aber was ist es? Offenbar kommt Lesen in unserem Zusammenhang auf zweierlei Weise vor. Einerseits unthematisch und so, dass wir zufrieden sein können, solange es sich im Gang befindet. Andererseits thematisch und dann so, dass die Frage aufgeworfen wird: Was ist Lesen? Tausendfüßler gehen, aber reflektieren nicht über ihr Gehen. So auch das tausendfüßige Lesen. Die Differenz zwischen Hugo von St. Viktor und Thomas von Aquin ist paradigmatisch. Statt zu lesen über das Lesen zu reflektieren, dürfte in Selbstbehinderung enden. Lesen ist kein Thema, allenfalls Thema der Themen, das alle genannten, Buchstabe, Schrift, Satz/Text, Literatur, Buch, Heilige Schrift mitumfasst. Ohne Platz in der Reihe der Themen, ist es in gewisser Weise alles. Fängt aber ein Begriff an, irgendwie alles zu werden, widerfährt ihm der schlimmste anzunehmende Unfall. Dann zerfließt er und tut alles, was man will. Natürlich kann man mit dem biblischen Spruch Matthäus 12,30/Lukas 11,23 „Wer nicht […] sammelt, der zerstreut“ darauf pochen, dass es zum Lesen keine Alternative gibt. Aber selbst wenn Lesen geradezu ein und alles sein soll, bedarf es eines Gegenbegriffs, der es in Schranken hält, damit es seine Kontur nicht verliert. Wollen wir weiterhin mit Belang von Lesen sprechen, ist Nicht-Lesen ins Auge zu fassen. Wenn es sich so verhält, dass das Lesen einerseits, sofern es den Leseprozess begleitet, kein Thema in der Reihe der anderen Themen ist und also unthematisch bleibt, dass es andererseits, um begriffliche Kontur zu gewinnen, der Entgegensetzung zum Nicht-Lesen und also der Thematisierung bedarf, dann gehen davon zwei antagonistische Kräfte auf unseren Gedankengang aus. Auf der einen, nennen wir sie die transzendentale Seite, ist Lesen quodammodo alles, tut alles, vollbringt alles, ist also, um eine Wendung Hegels zu Hilfe zu nehmen, „sich vollbringendes“ Lesen.124 Lesen wird unthematisch praktiziert, und dieser Reihe folgen wir von Paragraph zu Paragraph. Auf der anderen, der kategorialen Seite muss mit dem Fortgang unthematisch praktizierten Lesens 124
Hegel, Phänomenologie des Geistes 1807, GW 9, 56,12 f.
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auch die Bestimmtheit dessen, was Lesen ist, zunehmen. Keine thematische Bestimmung des Lesens ohne Opposition zum Nicht-Lesen. Die Intensität des Lesens kann durch Entgegensetzung des Nicht-Lesens nur gewinnen. Deshalb ist es angezeigt, den fortlaufenden Kurs des Lesens durch zwei Zwischentitel zu unterbrechen, die mit der Folge der Reihentitel nicht zu verwechseln sind. Sie liegen auf einer anderen Ebene als Buchstabe, Schrift, Text, Literatur, Buch, Heilige Schrift. Ein erster Zwischentitel zeichnet sich schon ab; er läuft auf die Unterscheidung von Lesen und Nicht-Lesen hinaus. Nur so wird Konfusion vermieden. Um eine klassische, wenn nicht die Antithese aufzugreifen: Lesen ist nicht Leben. Lesen ist auch nicht Lieben, nicht Loben usw. usf. Es ist vielmehr genau das, was durch Nicht-Lesen in Schranken gewiesen wird. Aber was soll Lesen sein, wenn nicht Loben, Lieben, Leben? Es ist daher ein zweiter, entgegengesetzter Zwischentitel erforderlich, der dem Sachverhalt Anerkenntnis verschafft, dass Lesen nicht bloß die halbe Welt ist, sondern die ganze. Alternativlos ist es in gewisser Weise alles. Ist Lesen alles, dann ähnelt die Rede von ihm ein wenig dem Einmachwesen, das am Ende Unterschiede nicht mehr kennt. In dieser Situation hilft nur, die Dihärese, deren Schnitt zwischen Begriff und Gegenbegriff verläuft, mitten durch den Begriff Lesen hindurch schneiden zu lassen. Lesen und Lesen muss unterschieden werden. Womit der zweite Zwischentitel gefunden ist. Verläuft die Trennschärfe nicht mehr durch Lesen und Nicht-Lesen, sondern durch das Lesen selbst, dann ist Lesen in der Tat irgendwie alles, zu fassen nur, wenn es zur Selbstunterscheidung fähig ist. Während Lesen und Nicht-Lesen als begriffliches Ziel der ganzen Untersuchung an deren Ende gehört, wird Lesen und Lesen dem Kurs der Lesethemen auf halbem Wege eingefügt, dann nämlich, wenn Lesen und Lesen in Äquivalenz oder Äquidistanz treten.
Asymmetrien des Lesens Nun lässt sich noch deutlicher sagen, was Asymmetrie ist. An der gängigen Definition: „Asymmetrie heißt einfach, dass als verschieden Unterschiedenes nicht gleich sein kann“125 wirkt nichts aufreizender als die Vokabel „einfach“. Sie will wohl besagen: Eine Differenz ist nicht nur different, sondern auch asymmetrisch. So befindet sie sich von vornherein in Schieflage, weil ich als derjenige, der die Differenz vollzieht, ihr nicht bloß als Dritter gegenüberstehe, um sie aequa lance zu erwägen, sondern bereits verstrickt bin in sie durch die Präferenz einer der beiden Seiten. So im Falle des Lesens. Beim Gang der Lesetheologie impliziert die Unterscheidung von Lesen und Nicht-Lesen, dass ich vorzüglich auf der Seite des Lesens stehe. Die Asymmetrie des Unterschiedenen tritt klar hervor, sobald nicht einfach ε und ε’, sondern 1 und 0 gegenüberstehen. Um auf die Seite des Lesens zu stehen zu kommen, muss 125
Krause, Luhmann-Lexikon 2005, 125.
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eine Unterscheidung im Stil von „Draw a distinction!“ immer schon vollzogen sein. Sie schließt Nicht-Lesen als bloße Umwelt vom System des Lesens aus. Alsbald entsteht Ausblick auf eine ganze Konkatenation fortlaufender Asymmetrien; jede spätere ist das Re-entry der Unterscheidung in die frühere. Dies ist offenbar die Form, die der Reihenfolge der Paragraphen der Theologie des Lesens zugrundeliegt. Laut, Sprache, Rede, Liturgie, Leben, Psalter Daraus ergeben sich Folgen, die tief in die Struktur jedes Paragraphen und seiner Überschrift eingreifen. Ist der Vorgang insgesamt der einer zunehmenden Ausdifferenzierung und läuft sie als ganze auf die Differenz von Lesen und Nicht-Lesen hinaus, muss die Differenz auch schon in jedem einzelnen Paragraphen am Werk gewesen sein, und sei es noch so gering. Aus der Zweipoligkeit der Zwischenstücke Lesen und Lesen und Lesen und Nicht-Lesen folgt, dass auch die bisher einpolig gebliebene Reihe von Buchstabe, Schrift, Text, Literatur, Buch, Heilige Schrift Zweipoligkeit annimmt. Es kann nicht einseitig bei der den Lesefortgang markierenden ersten Reihe bleiben; jede Stufe verlangt die Ausfällung eines Nicht-Lesens in der zu je dieser Stufe gehörigen Gestalt. Fortschreitende Ausdifferenzierung des Lesens geschieht durch fortschreitende Ausfällung dessen, was vom buchstäblich verstandenen Lesen als Nicht-Lesen strikt auszuschließen ist. Übernehmen wir also aus den paradigmatischen Zwischenstücken Lesen und Lesen und Lesen und Nicht-Lesen die Konjunktion „und“ in die restlichen Paragraphen, dann geschieht dies in doppeltem Sinn, teils im verbindenden: das Nicht-Lesen bleibt mit Lesen verbunden wie der Schatten mit Licht, teils und noch viel mehr im unterscheidenden, ausschließenden Sinn. Was ist es, das der Buchstabe ausschließt? Sagen wir: Der Buchstabe schließt den Laut aus, dann markiert der Laut die Gestalt, die auf der Ebene des Buchstabens als zugehöriges Nicht-Lesen ausgefällt wird. Damit ist die Überschrift des zweiten Paragraphen erstmals komplett: Buchstabe und Laut. Nun ist das weitere Prozedere klar. Was schließt die Schrift aus? Ohne Zweifel die Sprache, die sich aufgrund der Verbundenheit mit der Schrift in die Formulierung Schrift und Sprache fügt. Unschwer zu vermuten, dass es auf der Ebene des Texts die Rede sein wird, die ausgeschlossen wird, womit die dritte Überschrift in Reichweite kommt: Text und Rede. Und so wird weiter zu konjizieren sein. Das zur Literatur gehörige Nicht-Lesen ist nicht auf Anhieb eindeutig zu benennen; vielleicht ist es die Wiederholung, vielleicht das Ritual, und um wenigstens einen klingenden Namen zu nennen, der beide umfasst, kann man vorschlagen: Literatur und Liturgie. Wiederum vom Buch, das hierauf folgt, wollen wir annehmen, es sei nach der klassischen Antithese dem Leben direkt entgegengesetzt. Beide sind in der Weise miteinander verbunden, dass das Leben vom Buch ausgesondert werden muss.
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Daher die Überschrift Buch und Leben. Nun liegen schon etliche Zweiheiten hinter uns, durch „und“ so verbunden wie unterschieden, alles Vorformen und Varianten der fundamentalen Asymmetrie Lesen und Nicht-Lesen. Nur eine Frage steht noch aus. Was wäre das auf der Ebene der Heiligen Schrift auszufällende Nicht-Lesen? An dieser Stelle kommt der Psalter ins Spiel; er ist die vermutlich gewaltigste Ausfällung der Heiligen Schrift. Obgleich nur Teil von ihr, führt er sich ihr gegenüber auf, als wäre er das Ganze. So empfiehlt sich für den letzten Arbeitsschritt die Zweiheit Heilige Schrift und Psalter. Neben die Reihe zur Linken, die nun schon mehrmals aufgezählt wurde, tritt die durch „und“ unterschiedene Reihe zur Rechten: Laut, Sprache, Rede, Liturgie, Leben, Psalter. Zugegeben, auf den ersten Blick erscheint ihre Abfolge nicht gleich kohärent wie die der Reihe zur Linken. Die Probe auf Kohärenz bleibt der Durchführung vorbehalten; hier waren nur erste Umrisse vorzustellen.
§ 2 Buchstabe und Laut Die Arbeit der Theologie des Lesens beginnt mit dem Buchstaben. Hervorgehend aus einer bestimmten historischen Konstellation enggeführter Theologie und enggeführten Lesens beginnt sie mit möglichst buchstäblichem Lesen. Buchstäbliches Lesen ist ohne Umschweife ein solches von Buchstaben. Enger kann Lesen nicht geführt werden, buchstäblicher kann es nicht sein.
1. Beginn mit dem Buchstaben Billige Evidenz trügt. Kaum am Tage, zerfällt sie schon vor unseren Augen. Womit beginnen, wenn wir mit Buchstaben beginnen? Mit dem oder den Buchstaben? Mit Singular oder Plural? Oder beginnen wir gar – in antiquiertem Deutsch – zu „buchstaben“1 und in diesem Sinne mit Buchstaben? Mit Infinitiv oder substantiviertem Infinitiv? Anders als bei den griechischen und lateinischen Äquivalenten muss der äquivoke Sinn der deutschen Vokabel erst gefiltert werden. Der Beginn mit dem Buchstaben ist vieldeutig von vornherein. Nicht nur dies. Mit dem Buchstaben zu beginnen, ist nicht dasselbe wie buchstäbliches Lesen. „Buchstaben“ – um das altertümliche Verb noch einmal zu bemühen – ist nicht Lesen. So sehr Lesen sich auf Buchstaben bezieht und im enggeführten Sinn nie ohne Bezug auf diese vonstattengeht, ist es der Art nach etwas anderes als zu buchstaben. Dieses verläuft stockend, verfängt sich im Einzelnen, jenes dagegen verflüssigt das Einzelne. Zwar wollten wir mit möglichst buchstäblichem Lesen beginnen, also mit einem solchen von Buchstaben. Aber kaum ist diese Absicht deklariert, erweist sie sich als tragfähig nur, soweit die Äquivozität von „buchstaben“ mitspielt. Denn ist es buchstäblich, dann ist es nicht Lesen, ist es Lesen, dann nicht buchstäblich. Dass Lesen sich auf Buchstaben bezieht, ist eine zwar notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Statt dass es vor unseren Augen sogleich zerfällt, erhalten wir es lieber für einen Moment in seiner Vieldeutigkeit. Buchstäbliches Lesen ist vieldeutig bis zur contradictio in adiecto. Statt engzuführen, eröffnet es eine erstaunliche Bandbreite, sodass es auf der einen Seite zu viel ist, auf der anderen zu wenig.
1 DWb
2, 1860, 481 f.
1. Beginn mit dem Buchstaben
a. Zuviel Bandbreite des Buchstabens
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Es ist zu viel, denn mit einem Buchstaben kommen gleich alle. Einzelne Buchstaben fungieren nur innerhalb eines bestimmten Sets, das wir Alphabet nennen. Den Buchstaben gibt es überhaupt nur in Zusammenhang mit und in Unterscheidung von den Buchstaben. Ist aber bei den Buchstaben der Plural das erste und der Singular das zweite, beginnt niemand mit dem, allenfalls mit den Buchstaben. Den deutschen Buchstaben ergeht es rasch wie den griechischen γράμματα und den lateinischen litterae. Mit γράμματα kommt nicht nur das Alphabet, es kommen gleich ganze Texte, Bücher. Mit ihnen kommt, wofür das lettische grāmata steht, das Buch. Das Pluraletantum wird Singular. Sinnen wir der Reihe von den Buchstaben über Texte zu Büchern und Buch, zum Buch schlechthin nach, und fügen wir noch hinzu, dass Theologie mit γραϕή und βίβλος, scriptura und liber in engstem Zusammenhang steht, ja dass βίβλος und liber sogar die Zielmarken von Lesetheologie sind, dann ist die Überraschung perfekt: zu früh, allzu früh steht, was nach Plan erst gegen Ende der Lesetheologie hätte erreicht sein sollen, bereits an deren Beginn. Ebenso kommen mit litterae nicht nur die Buchstaben, sondern alles, was aus ihnen gemacht wird; die romanischen Sprachen umfassen mit lèttres, lettere, letras nicht weniger als die Gesamtheit von Literatur und Wissenschaft, soweit sie sich darauf bezieht. Als hätte man sich im Deutschen vor der Anerkenntnis der Buchstaben gescheut, wurde der Sonderweg der Geisteswissenschaften beschritten. Neuerdings breiten sich hier die Buchwissenschaften aus. Kommen aber mit den Buchstaben sogleich γράμματα und litterae, kommt viel zu früh viel zu viel. Kaum beginnt die Theologie des Lesens, wo sie am elementarsten ist, scheint sie schon am Ende zu sein. Mit Buchstaben im Plural stürzen unsortiert und unzeitig ganze Wissenswelten auf uns ein. Nicht nur mit dem Plural. Was γράμμα anlangt, so genügt schon der Singular, um ins Schleudern zu geraten. Nicht nur umfasst es den Einzelbuchstaben genauso wie Geschriebenes überhaupt, sondern reißt außerdem zwei Grenzen nieder, die beachtet sein wollten. Auf der einen Seite kann das Resultativum von γράϕειν, γράμμα, nicht nur das Geschriebene, sondern auch das Gezeichnete sein. Die Grenze zwischen Schrift und Bild ist unscharf. Auf der anderen Seite ist γράμμα als Hervorbringung des Griffels alles, was geritzt ist. Die Grenze zwischen Geschriebenem und Geritztem ist flüssig. An der Klarheit beider Grenzlinien hängt aber, ob hinreichend zwischen archaischer und rezenter, zwischen Schrift weit und Schrift eng unterschieden werden kann. Ist an Engführung des Lesens gelegen, dann auch an einer solchen der Schrift. Unsere Absicht, mit dem Buchstaben als dem Elementarsten zu beginnen, bekommt mit keinen geringen Schwierigkeiten zu tun. Einerlei ob Beginn mit dem oder den Buchstaben, mit buchstäblichem Lesen oder Lesen von Buchstaben, es kommt zu früh zu viel. Mit dem Beginn stehen sogleich schon Ziel
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und Ende der Lesetheologie ins Haus. Bisher zeigt die Theologie des Lesens keinerlei zeitliche Erstreckung, keinen Weg, kein Vor‑ und Nachher. Sie begegnet vielmehr als ungeschiedenes Alleszugleich.
b. Zuwenig Bandbreite des Buchstabens Zuwenig erscheint der Beginn mit dem Buchstaben auf der anderen Seite. Wer so beginnt, beginnt nicht mit Buch oder Büchern, nicht mit Literatur, Text, Schrift, nicht einmal mit den, sondern lediglich mit dem Buchstaben. Wie den Buchstaben herausziehen aus den Buchstaben? Wie ihn herausziehen aus dem kulturellen Zusammenhang, der ihn auf der einen Seite bedingt und auf der anderen durch ihn bedingt ist? Ist immer schon mehr da als der Buchstabe, so haftet dem Beginn mit ihm die Gewaltsamkeit der Abstraktion an. Vielleicht möchte man sie hingehen lassen, wenn es sich nur um die Herauslösung des Buchstabens aus den Buchstaben handelt, also aus seinesgleichen. Eine solche findet statt, wenn zwischen Ganzem und Teil, Maximum und Minimum unterschieden wird. Die Absicht, mit dem Buchstaben zu beginnen, hört sich an, als solle mit dem Kleinstmöglichen begonnen werden. Doch steht der Buchstabe nicht nur im Zusammenhang mit seinesgleichen, sondern auch mit anderem. Um uns auf die oberen Sinnestätigkeiten des Sehens und Hörens zu beschränken: Zur Konkretion des Buchstabens in der Lebenswelt gehört Graphisches und Phonisches. Innerhalb des Graphischen hängt er zusammen mit Bild, Zeichnung, Ritzung und unterscheidet sich davon. Dabei steht er nicht für sich. Als Ereignis des Sehens steht er für etwas, was nicht noch einmal Ereignis des Sehens ist. Er steht für den Laut. Wie der Buchstabe ein Element in der weitläufigen Welt des Sehens ist, so der Laut in der Welt des Hörens. Hierzu gehören Sprache, Stimme, Rede, Ton, Gesang, Geist. Daher ist die Herauslösung des Buchstabens nicht nur gewaltsam in Hinsicht auf seinesgleichen, sondern auch und erst recht in Hinsicht auf das, wofür Buchstaben stehen. Geht es bei der Herauslösung des Buchstabens aus seinesgleichen um Vorgänge von Kontrarietät, so bei seiner Herauslösung aus den Bezügen, wofür Buchstaben stehen, um solche der Kontradiktion. Das Graphische, für sich genommen, schließt das Phonische aus, auf das es in alltäglichen Verhältnissen gleichwohl bezogen ist. So ist die Absicht, die Theologie des Lesens mit dem Buchstaben beginnen zu lassen, nicht nur bedroht durch ein Zuviel, sondern auch durch ein Zuwenig. Es ist zu wenig, mit dem Buchstaben zu beginnen. Die Gewaltsamkeit einer solchen Abstraktion liegt am Tag. c. Buchstabe und Buchstäblichkeit Noch sind wir mit dem Herauspräparieren des Buchstabens aus den lebensweltlichen Zusammenhängen nicht am Ende. Selbst wenn herausgelöst aus dem Zusammenhang mit Schrift, Text, Literatur, Buch, Heiliger Schrift, also
1. Beginn mit dem Buchstaben
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mit seinesgleichen, und selbst wenn herausgelöst aus dem Graphischen, das heißt aus Ritzung, Zeichnung, Bild, und aus dem Phonischen, aus Laut, Stimme, Sprache, Rede und Gesang, bleibt der Buchstabe von unsicherem Zuschnitt. Ist das erstrebte Lesen in engerem Sinn buchstäblich und somit dem in übertragenem Sinn entgegengesetzt, so bedarf es nicht nur des Lesens von Buchstaben, sondern auch des buchstäblichen Lesens von Buchstaben. Zwei Schichten überlagern sich bereits im Startpunkt, Buchstabe und buchstäblich. Substantiv und Adjektiv vom Selben sind nicht das Selbe. Eines ist der Dingname, der die Substanz, das andere der Eigenschaftsname, der die hinzukommende Qualität bezeichnet. Buchstabe ist er, buchstäblich kann er sein oder nicht. Wie soll unter solchen Bedingungen die Isolierung des Buchstabens vonstattengehen? Sie geschieht zwischen Zentrum und Peripherie, Fokus und Radialität, Sammlung und Zerstreuung in ein und demselben Wort. Fokal will der Buchstabe hinaus auf die Buchstäblichkeit des Buchstabens, dagegen radial zerstreut er sich in vielerlei. Der Gebrauch derselben Wortwurzel ist nicht notwendig fokal. So etwa hat Grammatik mit dem Buchstaben und der Kunst, ihn zu schreiben, nicht viel zu tun, Grammatologie scheint näher am Buchstäblichen zu bleiben. Der Buchstabe neigt dazu, sich mehr oder weniger buchstäblich zu verhalten, sich mehr oder weniger von sich zu entfernen oder an sich anzunähern. Er ist mehr oder weniger buchstäblich. Noch bevor Kontrarietätsbegriffe wie Schrift, Text, Lesen, oder Kontradiktionsbegriffe wie Ritzung, Zeichnung, Bild auf der graphischen, Laut, Stimme, Sprache, Rede, Geist auf der phonischen Seite hinzutreten, löst sich der Buchstabe vom Buchstaben, wird frei von sich selbst, verfügbar und verschiebbar. Er tritt in Verschiedenheit zu sich selbst, bezeichnet keine Identität, sondern Differenz von vornherein. Schon für sich kann er je nach Grad seiner Buchstäblichkeit Konträres bezeichnen. Von Anfang an befinden wir uns auf der unaufhaltsamen Schiene zum Metaphorischen. Und plötzlich steigert sich die Kontrarietät zur Kontradiktion. In dem zum Allerweltswort gewordenen Spruch 2. Korinther 3,6 „der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“ ist „Buchstabe“ durchaus nicht buchstäblich. Er ist metaphorisch geworden, vielleicht sogar personifizierende Allegorie. Wie in der Mythologie ϕόβος (Furcht) hypostasiert wird zu Φόβος als göttliche Person, so γράμμα zu Γράμμα. Das Unbelebte wird belebt, Handlungsmacht kommt ihm zu. Der simple Buchstabe wird so lebendig, dass er tötet. Verhält es sich so, dann hat der Buchstabe, der Gegenbegriff zu Geist sein sollte, selbst schon geistliche Bedeutung. Aber sein Spiritualsinn steht in direkter Kontradiktion zum Literalsinn. Es hat sich gezeigt: Ohne dass dem Buchstaben etwas von außen entgegentritt, sei es von seinesgleichen oder von anderem, kann sich seine Bandbreite bis zum ironischen contrarium-Grad steigern. Bereits in sich ist er Schauplatz von Differenz, Kontrarietät, Kontradiktion, die ihm sonst erst von außen entgegentreten.
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d. Ausgangspunkt Der Ausgangspunkt ist damit sowohl in seiner Unerlässlichkeit wie in seiner Fragwürdigkeit bestimmt. Jene kommt vom Zuviel, diese vom Zuwenig. Unsere Aufgabe ist es, den Buchstaben geradezu mit aller Gewalt zu isolieren. An ihm haben sich weite Teile der kulturellen Welt festgemacht. Während er ständig dorthin zurückgravitiert, fordern wir ihn heraus, stören, irritieren ihn. Wir ziehen ihn heraus nicht nur aus seinesgleichen und aus anderem als seinesgleichen, sondern auch aus seinen nichtbuchstäblichen Übertragungen. Wie der Bogen, damit der Pfeil von der Sehne schnellt, von außen gespannt wird gegen sein inneres Ruhebedürfnis, so muss der Buchstabe von außen aus seiner inneren Gravitation herausgezogen werden. Nur auf diese Weise entsteht die Dynamik, die dann durch die gesamte Theologie des Lesens hindurchträgt. Warum Ausübung abstrahierender, isolierender Gewalt? Weil wir den ungünstigen Fall vermeiden müssen, dass mit dem Beginn beim Buchstaben alles schon zu Ende ist. Es scheint, als sei mit dem Buchstaben alles präsent. Soweit unsere Reihe Buchstabe, Schrift, Text, Literatur, Buch, Heilige Schrift führt: der Buchstabe ist schon irgendwie alles. Gewiss werden wir am Ende der Lesetheologie immer noch beim Buchstaben sein, wenn auch in einem von Mal zu Mal weitergeschobenen Sinn. Daher die Einsicht, dass einerseits in der Theologie des Lesens der Buchstabe in der Tat alles ist, andererseits nicht alles. Dass er in seiner Identität einzuschnappen droht, erschwert den Anfang. Uns obliegt es, seine Differenz mit aller Kraft offenzuhalten. Seine Differenz besteht darin, dass er sowohl heilig wie profan ist. Wir folgen seiner inneren Spannung, indem wir vom heiligen zum buchstäblichen Buchstaben vorstoßen.
2. Der heilige Buchstabe Wir sahen: Das Abstrahieren des Buchstabens beginnt dabei, dass dieser gewissermaßen alles ist, nicht bloßer, sondern immer schon heiliger Buchstabe. Kaum will man mit dem Buchstaben beginnen, steht statt seiner der heilige Buchstabe da. Obgleich nur Buchstabe, also Element einer medialen Technik, deren man sich zum Zweck von Speicherung, Übermittlung oder Wiederholung bedient, liegt er bereits im Schlagschatten eines ursprünglicheren, heiligeren Zustands. Der Buchstabe, der irgendwie alles ist, ist der heilige Buchstabe, war es zumindest. Einst als Hieroglyphen oder in hieratischer Schrift geschrieben, seien die Buchstaben inzwischen demotisch geworden, entsakralisiert, technifiziert, heißt es. Wo überhaupt γράμματα begegnen, stehen sie alsbald unter der Gloriole gewesener ἱερὰ γράμματα. Dabei bleibt offen, ob ein bestimmter Inhalt sie heiligmacht, oder eine bestimmte, vom Gewöhnlichen abweichende Schriftform, oder beides.
2. Der heilige Buchstabe
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Um mit dem Steilsten zu beginnen: Dass der göttliche Name, das Tetragramm, nur in ἱερὰ γράμματα geschrieben wird, wundert nicht; sein Inhalt ist unter allen sprachlichen Elementen der exzeptionellste, wird daher nicht bloß geschrieben, sondern gegraben und graviert in die Krone des Hohepriesters auf goldenen Grund.2 Zumal nach seinem Rückzug aus der akustischen Sphäre stellt er vor spezielle Probleme; nun ist Geschriebensein sein einziger Anhalt an der Weltwirklichkeit. Seine Schriftzeichen nehmen besondere Heiligkeit an, sei es durch außergewöhnliche, archaische Schrifttechnik, etwa die Ritzung, sei es durch Hochwertigkeit des Schreibgrunds oder Schreibmittels, oder durch die Konvertibilität der vier Konsonanten in vier Vokale (ϕωνήεντα), die sie als selbsttönend erweisen.3 Plötzlich erscheinen Buchstaben als etwas, was sie gewöhnlich nicht sind: heilig. Aber die Heiligkeit bleibt nicht den drei tetragrammatischen Buchstaben reserviert, sondern breitet sich über den gesamten Bestand aus. Auch die Namen der Jakobssöhne sind eingegraben in den hohepriesterlichen Brustschild, auch deren Buchstaben heißen ἱερὰ oder θεῖα γράμματα.4 Am Ende sind nicht nur einzelne Teile der hebräischen Bibel, hervorragende Namen wie der Gottes oder der Stämme Israels, nicht nur einzelne Sätze wie das Erste der Zehn Gebote göttlich und heilig,5 sondern die Bibel als ganze wird für ἱερὰ γράμματα geachtet.6 Selbst kaiserliche Edikte gelten als solche. Schließen heilige Buchstaben immer weniger Inhalte aus, nähern wir uns der Vermutung, es genüge die bloße Form der Buchstaben, um sie für heilig zu halten. Formaler und inhaltlicher Aspekt überschneiden sich und schaukeln sich in ihrer Heiligkeit gegenseitig hoch. Was als Inhalt für heilige Schrift gilt, sucht Gestalt in der Heiligkeit der Schriftform, und umgekehrt. Ist aber der Buchstabe heilig, ist er an sich schon irgendwie alles, bevor wir ihn dazu gebracht haben, Träger von allem zu werden. Ist er aber schon, was er erst hätte werden sollen, nämlich heilig, und konterkariert unser Beginnen durch vorzeitige Vorspiegelung des Endes, gilt es, die Blockade aufzulösen und den bloßen Buchstaben aus seiner Heiligkeit herauszuziehen. Wir sprachen von ἱερὰ γράμματα im Plural; sie boten das Schauspiel der Zirkularität von Form und Inhalt. Jetzt ziehen wir den Einzelbuchstaben aus dem Set aller heraus und setzen ihn der Belastung aus, er solle alle denkbare Heiligkeit tragen. Wohl kaum wurde davon paradigmatischer gehandelt als beim delphischen E und patmischen ΑΩ, das erste in Plutarchs gleichnamigem Dialog, das zweite in der Apokalypse des Johannes.
3, 91. McDonough, YHWH at Patmos 1999, 84. Bell. 5, 235. 4 Philo von Alexandrien, Quis rer. div. her. 176, OQS 3, 33,31. Josephus, Ant. 3, 178. 5 Philo, De spec. leg. III, 8, OQS 5, 130,28. 6 Philo, Vit. Mos. 2, 292, OQS 4, 221,11. Josephus, Ant. 19, 210. Cf. 2. Tim 3,15. 2 Josephus, Ant. 3 Josephus,
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a. Das delphische E Alles lässt sich nicht sagen. Aber alles, was sich sagen lässt, lässt sich in Aspekt und Detail sagen. In der Absicht, den Buchstaben E alles sagen zu lassen, fügt Plutarch Aspekt an Aspekt, Detail an Detail. Sortierungen der Vielfalt
De E apud Delphos ist dem Buchstaben E gewidmet, der den Pronaos des Apollotempels ziert. Fünf Redner tragen Aspekt um Aspekt vor. Das delphische E gewährt Raum für vielfältige Interpretationen. Einfalt wird nicht erstrebt; Vielfalt steht für den je größeren Bedeutungsreichtum. Weshalb zieht gerade E besondere Aufmerksamkeit auf sich? Eine erste Sortierung zeigt: Weil es nicht durch Zufall (τύχη), nicht durch Los (κλῆρος), sondern durch Bedeutung (δύναμις) und Sinnbildlichkeit (σύμβολον) hervorsticht.7 Ein Aspekt hebt den andern nicht auf. Trotz hervorragender Bedeutung und Symbolkraft wird an der Konventionalität von E nicht gezweifelt. Wenn der erste Redner argumentiert, die Stellung (τάξις) von E als fünfter Buchstabe im Alphabet generiere das Zahlzeichen E',8 wenn der chaldäische Fremde einwendet, in der Reihe der Vokale stehe E an zweiter Stelle (τάξις), und wenn beide jeweils ihre Deutungen daran anschließen, so ist der Schritt von der zufälligen zur überzufälligen Bedeutung nur kurz. Schon die zweite Sortierung der Aspekte ist nicht mehr an der Stellung (τάξις) des E interessiert, berücksichtigt weder Aussehen (ὄψις) noch Klang (ϕθόγγος), blickt vielmehr auf den Namen des Buchstabens (τοὔνομα μόνον τοῦ γράμματος) und seinen Symbolgehalt (σύμβολον).9 Der Buchstabenname Epsilon ist noch unbekannt, E heißt EI. Wenn nun der zweite und dritte Redner nach der Symbolkraft des Namens fragen, beeinträchtigt dies die früheren Gesichtspunkte nicht, stellt sie nur zurück. EI (εἰ) enthüllt die Bedeutung von E, einmal als Frage‑ oder Wunschpartikel, wie in Orakelanfragen üblich,10 das andere Mal als konditionale Konjunktion, wie aus Dialektik und Mantik bekannt.11 Der vierte Redner kümmert sich weder um Bedeutung (δύναμις) noch Gestalt (μορϕή) oder Wortsinn (ῥῆμα), sondern beschäftigt sich mit E als Zahlzeichen (ἀριθμός) für 5.12 Auch hierzu werden frühere Aspekte nicht beseitigt, nur hintangestellt. Endlich entschließt sich der fünfte Redner, weder die Zahlbedeutung (ἀριθμός), noch die Stellung in der Buchstaben‑ oder Vokalreihe (τάξις), noch die Funktion als Konjunktion (σύνδεσμος) oder Redepartikel (μόριον) zu berücksichtigen. Vielmehr hat der 7 Plutarch,
De E ap. Delph. 1, 384F–385A. E 3, 385F. 9 De E 4, 386B. 10 De E 4, 386B–D. 11 De E 6, 386D–387D. 12 De E 7, 387E. 8 De
2. Der heilige Buchstabe
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Name EI, gelesen als εἶ (du bist), über die erwähnten unselbständigen Funktionen hinaus den Charakter eines selbständigen Satzes, und als solcher enthält er die eigenständige Anrede und Begrüßung (αὐτοτελὴς προσαγόρευσις καὶ προσϕώνησις) des Gottes, dessen Tempel er ziert. Bestehend aus einem einzigen Wort, formuliert er einen Grundsatz apollinischer Theologie.13 Auch hier geht es nicht darum, dieser Aspekt solle, obwohl unstreitig der Höhepunkt des Dialogs, frühere Gesichtspunkte ausschließen. Es ist gerade der Bedeutungsreichtum des delphischen E, der die Vielfalt der Aspekte trägt. Er ist Ursache der besonderen Heiligkeit dieses Buchstabens. Vielstimmigkeit Die Überfrachtung durch Vieldeutigkeit findet ihre Entsprechung in der Komposition des Dialogs. Die Folge von fünf Reden will die Rätselhaftigkeit von E nicht auflösen, sondern steigern. Die Tatsache, dass mit dem äußeren Umfang der Reden von Mal zu Mal14 auch deren innerer Gehalt zunimmt, wurde so verstanden, als solle aus auktorialer Perspektive alles auf die letzte Rede hinauslaufen, die des Ammonius, der von Anfang an als Moderator auftritt und am Ende mit Schlussreden dominiert. Dann verliefe De E apud Delphos so, dass die anfängliche Vieldeutigkeit in Eindeutigkeit endet. Dagegen hat Tobias Thum bei diesem wie anderen Dialogen die „konstitutive Vielstimmigkeit“15 hervorgehoben. Zwar ist es die auktoriale Stimme Plutarchs, die den Dialog inszeniert, daraus folgt aber keineswegs, dass der vierte Redner „Plutarch“ etwa Plutarch wäre. Vielmehr lässt Plutarch sich auftreten mit früher von ihm gehegten Ansichten. Wie er also sich selbst in „Mehrstimmigkeit“16 in Szene setzt, so dient auch die Einführung weiterer sprechender Personen nur dem Zweck, die Mehrstimmigkeit zu steigern. Plutarchs Dialog ist angelegt auf „Multivalenz“17 und „Multiperspektivität“.18 Thum dürfte etwas Richtiges erkannt haben; das E am Apollotempel, von Anfang an Ausdruck einer Aporie,19 lädt nicht zur Auflösung ein, sondern will seine Betrachter am Suchen halten.20 Die Reden sind nicht darauf angelegt, sich zu überrunden. Sondern was Lamprias aus Hörensagen,21 Nikandros aus priesterlicher Tradition weiß22 – beide reden aus delphischem Kontext: einer fasst E als Zahl, 13
De E 17, 391F–392A. Die vorletzte Rede ist die umfangreichste. 15 Thum, Plutarchs Dialog 2013, 39. 16 Thum, ebd. 17, 22 u. ö. 17 Thum, ebd. 21. 18 Thum, ebd. 363. 19 Plutarch, De E 1, 385B. 20 De E 2, 385C: ζητεῖν, θαυμάζειν, ἀπορεῖν. 21 Lamprias, 1. Rede: De E 3, 385D–386A. 22 Nikandros, 2. Rede: De E 5, 386B–D. 14
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§ 2 Buchstabe und Laut
der andere als Fragepartikel –, was Theon aus stoischer Dialektik zum Verständnis apollinischer Mantik,23 „Plutarch“ aus pythagoreischer Mathematik zur Enträtselung von E beiträgt24 – beide sprechen aus freien, von Delphi unabhängigen philosophischen Kontexten: einer begreift E als konditionale Konjunktion, der zweite als Zahl –, und was schließlich Ammonios aus platonisch-platonistischer Theologie zu E vorlegt25 – er fasst E weder als Zahl noch als Satzteil, sondern als Satz: das alles häuft Beitrag auf Beitrag, Schatz auf Schatz, Darbringung auf Darbringung. Ein Kumulus entsteht. Auch die letzte Rede, an deren ontotheologischer These philosophische wie theologische, jüdisch-hellenistische wie christliche Interpreten mit Blick auf Exodus 3,14 besonderes Interesse zeigten,26 verfährt in diesem Modus. So ist auch dieser Beitrag wie die vorangehenden geeignet, die Heiligkeit von E zu steigern.27 Heiligung des E Nicht an sich ist E heilig; die Bezeichnung als ἱερὸν γράμμα sucht man vergeblich. Vielmehr geht es um die Heiligung des E ([ἡ] περὶ τοῦ εἶ καθιέρωσις).28 Wie der Buchstabe E schon eine Gabe ist, nämlich Weihegeschenk (ἀνάθημα) für den delphischen Gott, so sind die Reden über E nichts als Beiträge, Beigaben zur Gabe und auf diese Weise ihrerseits heiligend. Und wie über der Menge von Gaben, Beigaben und Darbringungen mit dem Opferhügel der Ruhm des Gottes wächst, wird durch die Vielzahl der Lobreden die Heiligkeit des E erhöht: Vermehrung der Bedeutsamkeit als Erhöhung der Heiligkeit. Dank seiner Unergründlichkeit zieht das delphische E nicht weniger auf sich als das gesamte Repertoire griechischen Wissens,29 sei es mantischer, philosophischer, pythagoräischer, platonischer oder stoischer Herkunft, freilich nie ohne dass ein Hauch akademischer Skepsis und Ironie den Behauptungseifer temperiert. Teils handelt es sich um delphisches Insiderwissen, in museumspädagogischer Absicht aufbereitet,30 teils um Beiträge auswärtiger Touristen, die ihr Wissen herzutragen. So erfährt E auf der einen Seite eine Semantisierung ohnegleichen, sei es als Zahlzeichen ε´, das zu pythagoreischen Zahlenspekulationen und zu Exkursen in Theologie, Musik, Kosmologie einlädt,31 sei es als Buchstabe ε, der als Buchstabenname EI, nie aber als Lautzeichen, Be23 Theon,
3. Rede: De E 6, 386D–387D. 4. Rede: De E 8–16, 387F–391E. 25 Ammonios, 5. Rede: De E 17–21, 391E–394C. 26 Gombocz, Über E! 1974. 27 Einzigartige Stellung des Vokals E als totius linguae simplicissima radix und quattuor […] vocalium mater: Rückert, Diss. philol.-philos. de idea philologiae 1811, §§ 12–15. 28 De E 1, 384F, cf. 15, 391C, 17, 391F; De def. orac. 31, 426E: [ἡ ] τοῦ Ε καθιέρωσις. 29 So die These von Thum. 30 De E 4, 386B. 31 De E 8–16. 24 ‚Plutarch‘,
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E
E
achtung findet, sei es als unselbständiger Satzteil,32 Fragepartikel33 oder Konjunktion.34 Wenn am Ende E, gelesen als εἶ, den Rang eines Satzes erreicht, gewiss eines Ein-Wort-Satzes, aber eines selbständigen immerhin, dann ist die Semantisierung an ihr Nonplusultra gelangt. Auf der anderen Seite darf Desemantisierung schon deshalb nicht ausbleiben, weil einseitige Semantisierung der Multiperspektivität des Dialogs widerspricht. Also gilt es im Text zurückzugehen, bis auch nach dieser Seite das Nonplusultra erreicht ist. Desemantisierung ist es, wenn E sich in seiner Materialität vordrängt, sichtbar als Gold, Bronze oder Holz.35 Jedoch Spekulationen, von welcher Art das Gebilde gewesen sei, das als Buchstabe gedeutet wird, ob die Hasten wie bei E nach rechts oder wie bei E, , in andere Richtungen zeigten, gehen über den Wortlaut des Textes hinaus. Manche wollen in E die Frontseite eines Tempels erkennen, andere tippen auf Ἑστία und das Opferfeuer,36 wieder andere erkennen darin einen dreizackigen Opferbratspieß (ὀβελός), der am Eingang des Apollotempels zurückgeblieben sei und für E gehalten wurde.37 Nach der Seite der Desemantisierung verliert sich der Buchstabe in Bildern und Dingen. Wodurch geschieht die Heiligung von E? Sie geschieht, indem beide, Semantisierung wie Desemantisierung, bis ans Nonplusultra getrieben werden. Semantisierung geschieht im Aufstieg zur Bedeutung (δύναμις), Desemantisierung durch Abstieg zum Ding. Heiligung des E umfasst zwischen bloßem Ding und Ein-Wort-Satz geradezu alles. Unter den Buchstaben ist nur E zu solchen Exzessen fähig, also kann auch nur E in diesem Ausmaß geheiligt werden. Dem delphischen Gott dargebracht, zieht E als Weihegabe Beigabe um Beigabe, Lobpreisung um Lobpreisung auf sich.38 Auch ohne dass wir ihn einzeln herauspräparieren, ist er schon einzig.
b. Das patmische ΑΩ
Plutarchs De E apud Delphos und die Apokalypse des Johannes sind unvergleichlich. Dennoch, beide gehören an Orte menschheitlichen Gedächtnisses, dort Delphi, hier Patmos. Beide gehören in dieselbe Epoche und berühren sich in der Exposition von Einzelbuchstaben, dort E, hier ΑΩ. Doch dürfte die Differenz überwiegen. Der eine Text gehört der Mantik an, der andere der Prophetie, über deren Verwandtschaft zu streiten ist. Und anders als die vielfach im Fluss befindlichen Gebrauchsweisen von E oder EI begegnet ΑΩ nur De E 5, 386C; 17, 391F–392A: μόριον. E 5, 386C, cf. De Pyth. orac. 28, 408C. 34 De E 6, 387AC. 35 De E 3, 385F–386A. 36 Platon, Crat. 401b: ἀϕ᾽ Ἑστίας ἀρχώμεθα. Comoth, Rekonstruktionen zum delphischen E 1995; dies., Hestia 1998. 37 Flacelière, Plutarque. Sur l’E de Delphes 1941, 12 f. 38 De E 17, 391E. 32
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dreimal in der starren Formel Ἐγώ εἰμι τὸ Ἄλϕα καὶ τὸ Ὦ (Ich bin das Alpha und das O[mega]).39 Differenz Wie verhält sich das patmische ΑΩ zu den inversen Bewegungen von Semantisierung und Desemantisierung, die das delphische E zu denken gab? Finden sich deren Elemente: Ding, bildliche Vorstellung, Symbol, Buchstabe, Buchstabenname, Zahl, Partikel, Konjunktion, Satz bei ΑΩ wieder? Keineswegs. Hier meldet sich die erste Differenz, dass ΑΩ durch seine Zweiheit des Monogrammatischen von E entbehrt. Auch wird E nicht ΑΩ ähnlich, indem es zu EI mutiert. Hinzu kommt: Zwar gehören E und ΑΩ ins Alphabet, aber ΑΩ ist speziell mit der Vokalreihe AE HI OYΩ verbunden, deren Ecklaute es zu ΑΩ kontrahiert. In dieser ist EI beliebig, wie ΑEΗIΟΥΩ zeigt. Während EI, als Diphthong gelesen, zu Satzteil und Satz voranschreitet, verharrt ΑΩ auf dem Niveau der Buchstabenmontage, die der semantischen Zuspitzung entbehrt, mit der Plutarch seinen Gedanken krönt. Ohne Satzwert bleibt ΑΩ auf die Buchstaben‑ und Vokalreihe bezogen und erinnert daran, dass das griechische Alpha-bet im Grunde ein Alpha-o ist. Selbst dass es auch bei ΑΩ weniger um den Laut als den Lautnamen geht, schafft nur vorübergehend Berührung. Gewiss operiert Plutarch anstelle von E alsbald mit EI, und die Apokalypse anstelle von A mit Ἄλϕα. Nur bei Ὦ fallen – der Buchstabenname Omega war noch ungebräuchlich – Laut und Lautname in eins. Aber während EI die Semantisierung vollends ins Ziel führt, bleibt ΑΩ erst recht in der Buchstäblichkeit stecken. ΑΩ fällt hinter die Leistung von De E apud Delphos zurück. Dasselbe gilt vom Zahlaspekt; er spielt keine Rolle. Und wie Ὦ als ἔσχατος die Zahlreihe konterkariert, die hätte ins Unendliche fortlaufen können, so schiebt Ἄλϕα als πρῶτος den Sinn der Eins aus der Serialität hinaus. Blickt man umgekehrt auf das untere Ende von E, an dem die Desemantisierung ans Nonplusultra gelangt, dann bleibt auch diese Pointe bei ΑΩ aus. Von Materialität und Herkunft aus einer vorliteralen Vorgeschichte ist nirgends die Rede. Kennt ΑΩ überhaupt die Linien von Semantisierung und Desemantisierung? Oder folgen E und ΑΩ verschiedenen Ordnungen? Eine zweite Differenz sticht besonders hervor. E und ΑΩ gehören ins theologische Milieu. Doch zeigt sich der Unterschied, dass E/EI dem delphischen Apoll zwar attribuiert wird als Begrüßung, Darbringung und Heiligung, den Rang einer Selbstoffenbarungsformel aber keineswegs beansprucht. Anders in der Apokalypse: 1,8 und 21,5–6 sind dort die einzigen direkten Gottesreden; Anfang und Ende werden markiert, indem Gott selbst spricht. Kann also, im Unterschied zu E, ΑΩ nur lautwerden im Munde Gottes, also ausschließlich in Form der Selbstoffenbarung Ἐγώ εἰμι τὸ Ἄλϕα καὶ τὸ Ὦ, die sich an Exodus 3,14 39
Apk 1,8; 21,6; 22,13, letzte Stelle im Munde Christi.
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anlehnt, dann kommt ΑΩ nicht nur der Rang eines, sondern des Eigennamens zu. Aufgabe des Textes ist es, Exodus 3,14 zu übersetzen, einerlei ob dort präzis אהיהgelesen oder mit dem Kontext יהוהgedacht wird. Offenbar begnügt sich der Autor der Apokalpyse nicht mit Ἐγώ εἰμι ὁ ὤν aus der Septuaginta. Er meidet den ontotheologischen Gedankenkreis, der in De E apud Delphos solenn entfaltet wurde,40 und geht eigene Wege. Hier liegt die tiefste Differenz zwischen Plutarch und der Apokalypse. Zwar begegnet ὁ ὤν auch jetzt, entfaltet zur Dreizeitenformel ὁ ὢν καὶ ὁ ἦν καὶ ὁ ἐρχόμενος; aber diese Formel, enthalten im selben Vers 1,8, gehört nicht zur theologia prima im Sinn von Gottesrede und Selbstoffenbarung, die mit dem Zitationsvermerk λέγει κύριος ὁ θεός endet, sondern fällt der beschreibenden theologia secunda anheim, in die der Vers nach Zitatende ausgeht. Damit spitzt sich die Erwartung in Hinsicht auf ΑΩ noch einmal zu. Enthält die Apodosis von 1,8, bestehend aus κύριος ὁ θεός, Dreizeitenformel ὁ ὢν καὶ ὁ ἦν καὶ ὁ ἐρχόμενος und ὁ παντοκράτωρ, Benennungen, so muss die Protasis, die Gottesrede, den Namen selbst enthalten haben. Erblickt man diesen aber in seinem Wortlaut, dann ist er kein Name, sondern die versachlichte, objektivierte Beschreibung des Namens: τὸ Ἄλϕα καὶ τὸ Ὦ. Obgleich an der Stelle des Namens, unterscheidet sie sich von einer Benennung in nichts. Zwar meint man wahrnehmen zu können, dass das selbstvorstellende ΑΩ in nachfolgenden Benennungen, insbesondere in παντοκράτωρ zweimal,41 als Echo und Resonanz nachklingt; aber kaum hat man sich daran erfreut, erscheint τὸ Ἄλϕα καὶ τὸ Ὦ selbst als ein bloßer Nachklang, in seinem auffälligen Gebrauch von Artikeln sogar als Nachklang des Nachklangs des Namens, keinesfalls aber als dessen Klang. Was wäre dieser gewesen? Spätestens jetzt wird deutlich, dass ΑΩ zwar an der Logik inverser Semantisierung und Desemantisierung teilhaben mag, im Kern aber einer anderen Logik folgt. Desinteressiert an der Überführung in eine Satzpartikel, desinteressiert auch an der Pointe der Satzwerdung dieser Partikel, schwankt ΑΩ zwischen Formel und Klang.
Formel und Klang Als Formel steht ΑΩ für anderes, dagegen als Klang für nichts als sich selbst. Wir sahen: Die Selbstbenennung Gottes bedient sich in der Apokalypse der Buchstabennamen, nicht der Buchstaben, setzt also auf Benennung der Auslautung, nicht auf die Auslautung selbst. So trägt sie von vornherein ein Signal von Abstraktion an sich. Deshalb sprechen wir von einer Formel. Die Abstraktion steigert sich noch, wenn wir sie durch die Apokalypse hindurch verfolgen. In Apokalypse 1,8 steht Ἐγώ εἰμι τὸ Ἄλϕα καὶ τὸ Ὦ für sich allein, obgleich die Apposition αρχη και τελος als varia lectio bereits in den Text drängt. McDonough, YHWH, 37–41. Zudem kann auf das Buchstabenspiel in Beginn 1,1 Ἀ und Schluss 22,19 ῳ, sowie auf die Vokale des Segensschlusses 22,21 πάντων verwiesen werden. 40 41
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§ 2 Buchstabe und Laut
Formeln sind hungrig und wollen gefüllt werden. Dies geschieht in 21,6 und 22,13 durch Hinzufügung von ἡ ἀρχὴ καὶ τὸ τέλος, in 22,13 durch Zwischenschaltung von ὁ πρῶτος καὶ ὁ ἔσχατος, was bereits aus 1,17 und 2,8 bekannt ist. Α und Ω kommen zum Zug wegen ihrer extremen Stellung in der Reihe der Buchstaben und Vokale. Man darf sie Symbole einer Polaritätsfigur nennen, sofern am Terminus Symbol die Seite stark gemacht wird, welche Abstraktion, Dissimilarität und Konventionalität befördert. So erklärt sich, dass nicht der Laut, sondern der Lautname an vorderster Front steht. Als gälte es, die zugrundeliegenden Laute nicht aus dem Schlummer zu wecken, schafft das Symbol Beziehung auf sie wie mit Samthandschuhen. Symbolische Abstraktion und Konventionalität benötigt keinen Klang, nur die Form. Von dieser Seite des Symbols her kann man sagen: ΑΩ steht am Anfang einer Reihe zunehmend abstrakter Benennungen und Nachbenennungen; τὸ Ἄλϕα καὶ τὸ Ὦ ist nur die erste; ihnen folgen in zunehmender Abstraktion ἡ ἀρχὴ καὶ τὸ τέλος und ὁ πρῶτος καὶ ὁ ἔσχατος. Erst wenn größere Abstraktion nicht mehr zu denken ist, ist die Reihe erschöpft. Würde es soweit kommen, dass Polaritäten wie Anfang/Ende, Erster/Letzter zusammenfallen und also – was beim gedankenlosen Genuss ihrer Plerophorie selten mitbedacht wird – die Logik der Bivalenz überhaupt ans Ende gelangt,42 dann ist das Nonplusultra der Abstraktion erreicht. Der Zusammenfall ist Koinzidenz, und auf diese steuern die Ausdrücke der Apokalypse von Mal zu Mal direkter zu. Anstelle von τὸ Ἄλϕα καὶ τὸ Ὦ könnte man sich in Analogie zum π der Geometrie auf die Symbole α und ω beschränken, um die Formel zur Niederschrift zu bringen, die einem solchen Abstraktionsprozess zugrundeliegt. Wird somit ΑΩ zu αω, dann ist vorausgesetzt, das Symbolische des Symbols sei seine abstrahierende Kraft, die zur Ablösung befähigt und in größere Freiheit führt. Dass Gott sich in geometrischen Symbolen vorstellt, kann nur fremd sein, wenn der deus mathematicus in Vergessenheit geraten sein sollte. Dum deus calculat, fit mundus. Nun gilt es, die andere Seite des Symbolisierungsprozesses zu beachten. Als Formel steht ΑΩ für anderes, als Klang dagegen für sich selbst. ΑΩ ist dann, was es bedeutet. Der zweite Weg führt nicht der Textoberfläche entlang, sondern hinter sie zurück. Davon gibt die varia lectio zu 1,11 εγω ειμι το Α και το Ω eine erste Nachricht. Eines ist es, Buchstaben mit Namen zu benennen, ein anderes, sie als Laute zum Erklingen zu bringen. Dort geht es um Buchstabieren, hier um Lautieren. Diese Differenz, im Deutschen unauffällig, schert im Griechischen voll aus. Indem aus Alpha A wird, ist auch aus Omega zuverlässig O geworden. Hier liegt der Startpunkt für eine dem bisherigen Symbolisierungsprozess entgegengesetzte Bewegung. Immerhin wird in το Α και το Ω der Laut noch durch den Artikel gebremst; entfällt dieser aber, entsteht ungehemmt Ἄ und Ὦ. Gehemmt sind sie allenfalls dadurch, dass die Weise, in der sie begegnen, 42
Cusanus, De vis. dei X, h 6, nr. 42,8 f.
2. Der heilige Buchstabe
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die Schrift und ihre Hilfszeichen ist. Wir erblicken sie. Ziehen wir jedoch die Schriftlichkeit ab, werden Ἄ und Ὦ zu Α und Ω. Sie werden aus Lauten, die wir sehen, zu Lauten, die wir hören. Laut oder leise? Zum Laut, sofern Sprachlaut, gehört paradoxerweise, dass er leise ist, und je leiser, desto leichter können seine Differenzen wahrgenommen werden. Halten wir uns vor Augen, die Zweiheit ΑΩ stehe als Abbreviatur und Kontraktion für die Vokalität ΑΕΗΙΟΥΩ,43 deren Siebenzahl die beim Sprechen tatsächlich lautwerdenden Vokalfärbungen nur notdürftig schematisiert, dann muss der Laut sogar überaus leise sein, um unendliche Differenzen hören zu lassen. Oder wenigstens so leise, dass er nicht laut wird. Laut in terminologischer Strenge ist der Laut nur, wenn er leise ist. Stellen wir uns aber vor, A und Ω würden tatsächlich laut, dann könnte der Fall eintreten, dass nicht die unendliche, auch nicht die siebenfache, sondern allein schon die Differenz zweier Vokale viel zu viel ist. A ist größtmögliche Öffnung des Mundes; sollte sein Klang ungehemmt laut werden, dann muss die weniger große Öffnung O unterschiedslos darin aufgehen. Nun kann dem Symbolisierungsweg der Abstraktion die entsprechende Gegenbewegung entgegengesetzt werden. War jene eine Bewegung der Loslösung und Freiheit, die feinere Differenzierung ermöglicht, so ist diese ein Vorgang zunehmender Bindung und Unfreiheit, in deren Verlauf eine Differenz nach der anderen zum Verschwinden gebracht wird, und schließlich die letzte.
Interjektionen Texte und Reden dienen der Silentiierung von Lauten, sofern diese laut werden wollen. Selbst der Text der Apokalypse tut das, indem er stellvertretend für sieben Vokallaute nur deren zwei exponiert, pazifiziert und silentiiert. Und er tut dies, indem er die Vokale lediglich benennt, nicht aber laut werden lässt, weder als Sprachlaute noch als Laute schlechthin. Er tut dies, obgleich die Apokalypse wie selten ein Text durchdrungen ist von Klang, der jederzeit ausbrechen will. Was würde sein, wenn die so domestizierten Laute aus ihrer Hegung in Texten und Reden ausbrächen? Dann würde A zu Ah oder Ach, und O zu Oh. Sie würden laut, exklamatorisch. Mit der Folge, dass der Zusammenhang, sei es der optische des Texts oder der akustische der Rede, zerstört wird. Nichts vermag Texte oder Reden so zu löchern wie Interjektionen.44 Wenn etwa der Passus der Apophthegmata patrum, der die Ruhe (ἡσυχία) des anachoretischen Ortes preist, in bald 30 Exklamationen ausbricht, alle beginnend mit ὦ, entsteht sowohl optisch wie akustisch die Besorgnis, die Interjektion müsse, wenn sie an Wiederholung auch nur ein klein wenig zulegt, den Text vollends aufsaugen, absorbieren wie ein schwarzes Loch. Gewiss will der Wüstenvater zum Ausdruck bringen: Ἑτοίμη ἡ καρδία μου, ὁ θεός, und 43 44
Aune, Revelation 1–5 1997, 57. Vf., Das A und das O 2001, 24 f.
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zum wiederholten Male: ἑτοίμη ἡ καρδία μου (Bereit ist mein Herz, o Gott, bereit ist mein Herz).45 Aber bereit wozu? Vieldeutiger als Oh ist nichts. Nicht die anachoretische, die schöne Landschaft sucht Jean-Jacques Rousseau, und an die Stelle des Eremiten tritt die „alte Frau […], die statt allen Gebets nur ‚O!‘ zu sagen wußte“: das „beste Gebet“.46 Seit jeher sorgen Interjektionen für Streit. Gehören sie zur Sprache, oder gerade nicht? Ja und Nein. Die Grenze geht mitten durch sie hindurch. Sie wird verschieden beschrieben. Etwa durch Unterscheidung von innerer und äußerer Empfindung: diese, da reaktiv, ist benenn‑ und beschreibbar durch verständliche Rufe, jene dagegen, da endogen, bleibt verfangen in sich und in Nachbarschaft zum Schrei. Oder durch Unterscheidung von primären und sekundären Interjektionen: diese sind zugänglich als Vokative, die in Nominative überführt wurden, jene dagegen unzugänglich, weil von Naturlauten nicht zu unterscheiden. Ebenso fragte die alte Grammatik, ob Interjektionen als Teil der Rede (pars orationis) zu betrachten sind. Ihre Antwort, sie seien Seufzadverbien (ἐπιρρήματα σχετλιαστικά), versucht auf halbem Wege zu besänftigen, indem sie von jeder Seite etwas zum Zuge bringt. Kehren wir vor dem Hintergrund der Interjektionen zur Apokalypse zurück. Sobald wir den Sprachlauten A und Ω gestatten, aus ihrer Hegung als Sprachlaute herauszutreten und de facto laut zu werden, geht so etwas wie Apokalypse in der Apokalypse los. Zwar ist die Konjunktion καί (und) dankenswerterweise noch zugegen, die beide Laute verbindet und trennt. Solange Trennung von Α und Ω möglich ist, besteht wenigstens prinzipiell Hoffnung auf Trennung der sieben Vokale samt deren weiteren, potentiell unendlichen Differenzen. Fällt aber καί dahin, wird der Zustand der Vokale kritisch. Eine Art Kernfusion tritt ein, die dem Laut die letzte Distanz, Differenz, Dimension, Perspektivität und Relativität raubt. Ein Nonplusultra von Lautstrom hebt an, das jeder Beschreibung spottet. Zwei Sprechweisen konkurrieren. Der Klang des ungeschiedenen Lautes ist einerseits ausströmend und überlaufend, andererseits einsaugend und verschlingend. Er ist ebenso präzipitierend wie absorbierend, explodierend wie implodierend. Und in ebendieser Ambiguität muss man sich die Apokalypse denken, die auf der einen Seite mit der Gottesrede 1,8 beginnt und auf der andern mit der Gottesrede 21,5–6 endet. Selbst wenn man mit Ernst Cassirer – „Aber Anfang und Ende gleichen sich nicht“47 – Hoffnung zu schöpfen beginnt, ist zu erinnern: Ἐγώ εἰμι τὸ Ἄλϕα καὶ τὸ Ὦ vom Anfang der Apokalypse dürfte weniger Hegung als vielmehr Hervorrufung einer Selbstoffenbarung sein, die ursprünglich gelautet haben muss: „Ich bin Lautstrom, ungebremst, ungehemmt, ungeschieden.“ Ps 57(56),8. Les apophtegmes des pères II 35, SC 387, 142–146. Rousseau, Bekenntnisse 1961, 517. 47 Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs 1956, 136. 45 46
2. Der heilige Buchstabe
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c. Der heilige Buchstabe Wir wollen die unvergleichlichen Texte in Form einer Synkrisis nebeneinanderstellen. Es geht nicht um die Differenz der Vokale, nicht darum, dass der eine von E, der andere von ΑΩ handelt; es geht vielmehr um die Differenz der Ordnung, in der von Vokalen gehandelt wird. Synkrisis Der dem E gewidmete Dialog verspricht einen solchen περὶ τοῦ εἶ (Über EI).48 Dagegen erweist sich die von ΑΩ herkommende Schrift als eine solche aus ΑΩ. Dort ein Text in direkter, hier ein solcher in indirekter, obliquer Intention. Dementsprechend handelt es sich dort um die schriftliche Reportation eines Gesprächsverlaufs, der Mündlichkeit nahe und ohne Reflexion auf Schriftform, hier dagegen um einen von Beginn schrift‑ und buchreflexiven Text. Daher die Seligpreisung des Vorlesers und seiner Hörerschaft 1,3.49 Unterscheiden sich also Ε‑ und ΑΩ-Texte wie sekundäre und primäre Schriftlichkeit, gehören sie auch verschiedenen Ordnungen an: E vollzieht inverse Bewegungen der Semantisierung und Desemantisierung, ΑΩ entgegengesetzte Richtungen der Symbolisierung. Auf der einen Seite steht ein literarischer Text, auf der andern ein liturgischer. Jener zielt zuhöchst auf eine Ontotheologie, die Hellenismus und Judentum im platonisierenden Geist und im Hinblick auf die LXX-Fassung der Selbstoffenbarung Ἐγώ εἰμι ὁ ὤν vereint. Dieser entwickelt eine zutiefst an Buchstabe und Laut gebundene Wort‑ und Klangtheologie, ersteres durch die an der Textoberfläche liegende Selbstoffenbarungsformel Ἐγώ εἰμι τὸ Ἄλϕα καὶ τὸ Ὦ, letzteres durch die dahinter zu erschließende Selbstkundgabe Ἐγώ εἰμι ΑΕΗΙΟΥΩ, mehr: „Ich bin reiner Lautstrom.“ Die Verschiedenheit geht über die Oberfläche von E und ΑΩ hinaus. Zwar heilig, sind sie heilig in verschiedener Weise, denn sie stehen in verschiedenen Aufgaben und Ordnungen. Ontotheologie und Worttheologie Wie verschieden sie sind, mag man sich an der Spannweite der klassischen Übersetzung von Jeremia 1,6 verdeutlichen.50 Der griechische Übersetzer 48 De
E 1, 384F. Vf., ‚Selig ist, der da liest …‘ 1999. 50 Jer 1,6 ( ואמר אהה אדני יהוה הנה לא־ידעתי דבר כי־נער אנכיDa sprach ich: Ach, Herr jhwh, ich weiß nicht zu reden, denn ich bin jung) wird von der LXX in Anspielung an Ex 3,14 wiedergegeben: καὶ εἶπα Ὁ ὢν δέσποτα κύριε, ἰδοὺ οὐκ ἐπίσταμαι λαλεῖν, ὅτι νεώτερος ἐγώ εἰμι (ebenso Jer 14,13; 32[39],17), eine Anredeform, die von der Liturgie aufgenommen wurde: Const. Apost. VIII 5,1 f (Lagarde 237,18 f); Basilius-Liturgie, Eucharistisches Gebet, in: Liturgie (Kallis 207); dazu McDonough, YHWH, 137 f, 217. Dagegen Hieronymus verstand אהה als onomatopoetische Interjektion: et dixi a a a Domine Deus ecce nescio loqui quia puer ego 49
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§ 2 Buchstabe und Laut
nimmt im hebräischen Text die ihm unverständliche Buchstabenkombination אההwahr und verfährt mit ihr wie Plutarch mit E. Er semantisiert sie zum Verbum אהיהund erkennt darin den Gottesnamen Exodus 3,14. Indem er mit ὁ ὤν übersetzt, überträgt er das Hauptelement der Ontotheologie – mit Étienne Gilson der Exodusmetaphysik – in den Jeremia der Septuaginta. Anders die lateinische Übersetzung. Hieronymus setzt für אההdie Vokale a a a. Durch Elementarisierung in Einzellaute und ‑buchstaben lässt er zu, dass sich der Sprach‑ und Schriftzusammenhang für einen Moment auflöst. Eine Interjektion fällt ein, mehr: eine Stotterung von Interjektionen. Mit exklamatorischer Gewalt führt sie an die Grenze von Sprache und Schrift. Während die griechische Übersetzung Ἐγώ εἰμι ὁ ὤν aktiviert, erinnert die lateinische an Ἐγώ εἰμι τὸ Ἄλϕα καὶ τὸ Ὦ. Dementsprechend verschieden fällt die Heiligung des Buchstabens aus. Wie zu sehen war: Heiligung von E geschieht durch Darbringung ebendieses Buchstabens. Worum es Plutarch geht, ist die Steigerung der Heiligkeit durch Erhöhung der Bedeutungsvielfalt; jede weitere Bedeutung und Lobrede bringt die Heiligkeit voran. Je heiliger, desto bedeutender. Klar, das ist der Weg der Semantisierung. Anders bei ΑΩ. Hier geht es nicht um Heiligkeitsvermehrung durch Bedeutungsgewinn. Vielmehr ist der reine Lautstrom, für den die Buchstaben stehen, in einer Weise heilig, die jedem Versuch der Heiligung zuvorkommt. ΑΩ vermehrt die Heiligkeit nicht, sondern hält sie auf Abstand. Der reine Lautstrom müsste den Zusammenhang von Sprache und Schrift in Plötzlichkeit zerstören. Erst der in bedeutungsfähige Laute differenzierte und, sobald Stille herrscht, in bedeutungstragende Sprachlaute differenzierte Laut, ja allererst der an die Stelle von Sprachlauten tretende stumme Buchstabe und dessen Vertretung durch Buchstabennamen bringen die der Apokalypse eigentümliche Art der Heiligkeit von Buchstaben zutage. Hier gilt: Je heiliger, desto unbedeutender. Paradoxerweise besteht Heiligkeit darin, die übermächtige Heiligkeit dessen, was Nietzsche „Urklang“ nennt,51 auf Distanz zu halten. So besteht die Heiligkeit der apokalyptischen Buchstaben darin, dass sie an sich gerade nicht heilig sind. Semantisierung und Symbolisierung Wir sprachen von Semantisierung/Desemantisierung und Symbolisierung als verschiedenen Ordnungen, der delphischen dort, der patmischen hier. Semantisierung und Desemantisierung sind, bei steter Präferenz der Semantisiesum (Jer 1,6; 14,13 a a a; 32,17 heu heu heu). Wie kommt es, dass Meister Eckhart, obgleich der Dominikanerorden in der I. Nokturn zu Johannis (24.6.) Jer 1 in der Vg-Fassung liest (Breviarium Praedicatorum 1655, 833), als ob er von der LXX-Fassung Kenntnis hätte, zu Jer 1,9 eine magistrale Predigt über den Namen Gottes hält (Q 53, DW 2, 528–538)? 51 Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge 1873, KGW III/2, 377,18.
2. Der heilige Buchstabe
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rung, tief eingelassen in die Theologie des delphischen Orakels. Ihm obliegt, das Mantische ins Semantische zu überführen. Im anfänglichen Stammeln der Pythia melden sich sowohl Dringlichkeit wie Sprachlosigkeit: das ist mantisch. Orakelpropheten überführen das Gestammelte in erste Elemente des Semantischen: das ist prophetisch. Schließlich bringen Poeten die ausgestoßenen Sprüche, deren Ausbleiben in De Pythiae oraculis und De defectu oraculorum beklagt wird, in Form und Gestalt: das ist hermeneutisch. Dieser unumkehrbar dreistufige Prozess des delphischen Orakels liegt dem E zugrunde. Ist einmal der Buchstabe da, dann ist auch schon das Mantische elementar ins Semantische übersetzt; der ungeschlachte pythische Laut ist zu einem solchen der Sprach‑ und Schriftordnung geworden, die Orakelpriester haben ihr Werk getan. Nunmehr können Poeten und Hermeneuten zu Werke schreiten. So ist das Prozedere von De E apud Delphos tief eingelassen ins delphische Orakel; es ist selbst ein Stück Orakel unter nachmantischen, nachorakulösen Bedingungen. Das delphische Orakel überlebt sein Ende, indem es sich zum Paradigma von Semantisierungsprozessen verstetigt, wie Wolfram Hogrebe dargelegt hat.52 Anders die Symbolisierung im apokalyptischen Prozess. Von der Semantisierung/Desemantisierung unterscheidet sie sich, weil sie für ihre inversen Bewegungen nur einen Terminus benötigt. Während Delphi eindeutig der Richtung der Semantisierung folgt und Desemantisierung nichts anderes bedeutet, als unsinnigerweise das Orakel dorthin zurückzuschicken, woher es kam, beschreibt Symbolisierung beide Richtungen. Die Ambiguität des Symbolbegriffs geht darauf zurück, dass er sowohl eine kontinentale wie eine angelsächsische Lesart kennt, wovon keine auf die andere reduziert werden kann. Führt letztere in immer größere Konventionalität und Loslösung des Bezeichnenden vom Bezeichneten, so erstere in immer größere Natürlichkeit und Bindung des Bezeichnenden an das Bezeichnete. Am einen Ende ist das Symbol gerade nicht, was es bedeutet; am andern ist es das, sodass es fast nicht bedeutet, sondern schlicht ist. Beiden Richtungen sind wir gefolgt; der Loslösung so, dass der Laut A zwar immer noch etwas mit ἀρχή zu tun hat, aber Ω nicht mehr viel mit τέλος, und beide Laute haben definitiv nichts zu tun mit πρῶτος und ἔσχατος: das war der Symbolisierungsprozess in Richtung größerer Konventionalität. Die Bindung hingegen verlief so, dass der Buchstabenname zum Buchstaben, der Buchstabe zum Sprachlaut, der Sprachlaut zum lauten Laut wurde, bis schließlich die Differenz zwischen A und Ω dahinschmolz: Symbolisierungsprozess in Richtung größerer Natürlichkeit. Zwei Ordnungen des Buchstabens Beide Prozessmodelle, delphisches wie patmisches, mögen sich wohl in Einzelheiten berühren, aber als ganze folgen sie verschiedenen Ordnungen. Diese 52
Hogrebe, Metaphysik und Mantik 1992.
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§ 2 Buchstabe und Laut
manifestieren sich in verschiedenen Gottesnamen, ὁ ὢν auf der einen und τὸ Ἄλϕα καὶ τὸ Ὦ auf der anderen Seite, die sich gleichwohl in Apokalypse 1,8 begegnen. Halten wir sie nebeneinander, gilt einerseits: Wenn ΑΩ erläutert wird durch Anfang/Ende, Erster/Letzter, dann fügt ὁ ὢν den dritten, mittleren Gesichtspunkt hinzu, und so betrachtet ist die Dreizeitenformel „mehr“ als die Zweigliedrigkeit von ΑΩ, indem sie zu Vergangenheit und Zukunft die Gegenwart hinzufügt.53 Andererseits ist zu fragen: Sind die ΑΩ erläuternden Doppelformeln nicht „mehr“ als die Dreizeitenformel? Die Antwort lautet: Während die klassische Dreizeitenformel mit den Orakeln von Dodona, Eleusis, Delphi so konform ist wie das ΕΙ, das sich in ihr entfaltet,54 gewinnt umgekehrt die Doppelformel Übermacht über die Dreizeitenformel, sobald die Variante ὁ ἐρχόμενος statt ὁ ἐσόμενος die Ausrichtung auf die Zukunft sicherstellt. So wird die Dreizeitenformel versetzt in die Flucht vom Ersten zum Letzten, vom Anfang zum Ende. Aber Anfang und Ende gleichen sich nicht. Ausgespannt zwischen Α und Ω liegen sie zwischen Symbol′ und Symbol″. Damit geht die Differenz einher, dass es zwar beim delphischen E darum gegangen sein mag, den Buchstaben mit Bedeutung aufzuladen bis zur Heiligkeit; beim patmischen ΑΩ geht es aber darum, die Buchstaben fernzuhalten von Bedeutung, paradoxerweise ebenfalls zur Steigerung der Heiligkeit, jedoch so, dass diese auf Abstand gehalten und eben dadurch verehrt wird. Es sind verschiedene Ordnungen: Während die erste verlangt, Buchstabe und Laut zu verbinden, fordert die zweite, den Buchstaben vom Laut zu sondern, soweit es nur geht. In der Apokalypse hat der Buchstabe die Aufgabe, den Laut zuverlässig auszuschließen. Der buchstäblichere Buchstabe ist der heiligere. Im Unterschied zu Plutarch entfällt in der Apokalypse die Differenz zwischen heiligem und buchstäblichem Buchstaben. Buchstabe und Lesen Wir sprachen des Weiteren von Theologie in beiden Texten. Warum? Bei Plutarch wie in der Apokalypse ging es um göttliche Namen, dort um Beinamen Apolls, zu denen nun EI hinzukommt, hier um den göttlichen Eigennamen oder was an seine Stelle tritt. Folglich sind die Ordnungen Semantisierung/ Desemantisierung auf der einen und reziproke Symbolisierung auf der anderen Seite durchsetzt von verschiedenen Logiken des Namens: dort aufsteigend, was evident ist, weil E nur durch Aufstieg die Region des Namenhaften überhaupt erreicht, hier absteigend, weil ΑΩ als Gottesname desto evidenter wird, je mehr er sich den lauten Lauten nähert. Am äußersten Pol taucht wohl Namenhaftes auf, aber in doppeltem Sinn, ein oberes und unteres, ein sublimes McDonough, YHWH, 230. De E 6, 387B; 19, 392E; die Dreizeitenformel verschluckt die Doppelformel: De E 6, 387B: ἀπ᾽ ἀρχῆς εἰς τέλος. 53 54
3. Der buchstäbliche Buchstabe
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und – wenn man so will – humiles. Dagegen ist der Name gerichtet, der zwischen den Polen steht. Er steht zwischen zwei Namenlosigkeiten, Anonymien oder Aphasien, zwischen denen sich das Feld der Sprache erstreckt.55 Wir begannen in diesem Paragraphen mit dem Buchstaben; er war angekündigt als erster Schritt des Weges, der mit Theologie als Lesekunst enden soll. Aber schon mit dem Buchstaben ist Theologie da. Wir müssen nicht auf sie warten. Und schon vom ersten Moment ist Lesen zugegen. In der Apokalypse wird gelesen von Anfang an. Zwar ist nicht zu leugnen, dass Buchstaben allein das Lesen noch nicht in Schwung bringen, aber ohne sie geht es nicht. Und ebenso ist nicht zu leugnen, dass mit den Buchstaben allein Theologie noch nicht richtig in Schwung kommt, aber ohne sie gibt es keine. Es zeigt sich: Die Theologie des Lesens beginnt nicht später, sie beginnt jetzt.
3. Der buchstäbliche Buchstabe Unser Weg geht vom heiligen zum buchstäblichen Buchstaben. Zu Beginn erschien der heilige Buchstabe als Gegenbild des buchstäblichen, weil er unentmischt, undifferenziert geradezu alles auf sich lädt. Nun hat die Differenz von Delphi und Patmos den buchstäblichen Buchstaben freigegeben, ohne dass die Beziehung zum Heiligen nachließe. Wir ahnen den buchstäblichen Buchstaben als dezidierte Weise des Umgangs mit dem Heiligen. Ist etwa der Buchstabe dazu da, den losgelassenen, sich selbst überlassenen Laut in Schranken zu weisen und seine Übermacht zu dämpfen? Der Laut als das Andere des Buchstabens? Mehr als eine Vermutung ist das nicht. Wir müssen der Frage nach dem generellen Verhältnis von Buchstabe und Laut nähertreten. Mit der Absicht, den Buchstaben herauszulösen aus dem kulturellen Geflecht, wird als erstes das Verhältnis von Buchstabe und Laut kritisch. Es wird wohl in erster Linie der Laut sein, von dem wir den Buchstaben zu lösen haben, soweit es geht. Ist, dem tiefen Wunsch nach Stillwerden der Welt folgend, der Buchstabe gegen den Laut erbaut, dann fordert die Gewalt des Lauts dazu heraus, selbst Gewalt, Gegengewalt anzuwenden, um den Buchstaben zu isolieren. Die Theologie des Lesens beginnt mit dieser antagonistischen Dynamik. Dem Paar Buchstabe und Laut tritt Buchstabe und Geist zur Seite. Ebenso, wie meist versucht wird, die Differenz von Buchstabe und Laut kleinzuhalten und auf die Seite des Lautes zu treten und ihn zu fördern, nicht den Buchstaben, der nur sekundäres Zeichen des Zeichens ist, wird auch gefordert, die Differenz von Buchstabe und Geist kleinzuhalten, und wenn sie schon nicht übersehen werden kann, dann mit Entschiedenheit auf die Seite des Geistes (πνεῦμα) zu treten, der wie der Laut den Lungen (πνεύμονες) entströmt. Dass der Buchstabe 55
Vf., Die Emergenz des Namens 2006.
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§ 2 Buchstabe und Laut
tötet, der Geist aber lebendig macht, gehört so sehr zur Koine der christlichen Welt, dass besondere Aufmerksamkeit auf den Buchstaben geradezu abwegig wirken muss. Ist Geist das lebendige Wort, lebendig aber nur als mündliches, das laut wird und erklingt, dann ist unser Vorgehen von vornherein mit dem Odium der Selbstexkommunizierung behaftet. Und dennoch verfahren wir auch hier so, dass die Herauslösung des Buchstabens aus dem Geist die einzige, wiewohl paradoxe Möglichkeit ist, die Wahrheit der paulinischen Antithese ins Werk zu setzen: indirekt.
a. Buchstabe und Laut Was Plutarch und der Autor der Apokalypse vorlegten, war die Exposition singulärer Buchstaben und Laute ohne verallgemeinernde Absicht. Dagegen spätantike Grammatiken, griechische wie römische, widmen sich Buchstaben und Lauten überhaupt, unverstellt von steilen Thesen philosophierender oder theologisierender Art. Stattdessen entwickeln sie die klassische Lehre von den acht grammatischen Wortarten, nomen, verbum, adiectivum, pronomen, adverbium, praepositio, coniunctio, articulus, wobei der Grenzfall der Interjektion von den römischen Autoren mehr ein-, von den griechischen mehr ausgeschlossen wird. In der dreigliedrigen Disposition der Ars grammatica widmet sich das mittlere, explizit De partibus orationis überschriebene Buch den Wortarten. Aber auch die rahmenden Bücher handeln de partibus orationis, nur implizit und auf anderer Ebene. Nach vorwärts gelesen gehen die Grammatiken über in Rhetorik, Metrik, Poetik, nach rückwärts gelesen verstricken sie sich in elementare philosophische Voraussetzungen. So thematisiert das dritte Buch die partes orationis nicht als Wort-, sondern als Redeteile und handelt im Sinn der Rhetorik von exordium, narratio, peroratio usw. Vorwärts schreitet die Ars grammatica zum Größeren, rückwärts zum immer Kleineren. Das erste Buch handelt von Einheiten, die kleiner als Wörter sind. Waren es im dritten Buch Redeteile, im zweiten Wortteile, so sind es im ersten die Sprachteile, vox, littera, syllaba, dictio, oratio, die vorgestellt werden. Die Ars grammatica beginnt beim nicht weiter teilbaren Teil (elementum, στοιχεῖον) und führt zum Ganzen (oratio, λόγος). Was die Elemente anlangt, darf man gar von einem vorgrammatischen Sinn der partes orationis sprechen. Hier ist es, wo das Thema des Lesens (lectio, ἀνάγνωσις) erstmals auftaucht. Was ist Lesen? Offenbar die Zusammenführung von Elementen und Teilen mit dem Ziel des Aufstiegs zum Ganzen. Wir sprachen von Buchstabe und Laut, vorschnell, wie sich zeigt. Der alten Grammatik zufolge gehört die erste Begegnung mit Lesen in die Ordnung Laut und Buchstabe, vox und littera. Sogleich zieht das Begriffspaar Buchstabe und Geist mit, es will in seine frühere Ordnung Geist und Buchstabe zurück. Wie Wolfram Ax gezeigt hat, liegt im Doppelbeginn mit De voce und De littera kein geringer Konflikt. Grammatik, an sich Kunst des Schreibens und
3. Der buchstäbliche Buchstabe
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Lesens, setzt elementare Kenntnis des Buchstabens voraus. Also wäre der Beginn mit littera/γράμμα ratsam. Aber die Elementarlehre beginnt mit vox.56 Dem Buchstaben als letztem unteilbarem Element noch einmal ein Element vorauszustellen, ist widersinnig. Es ist nur historisch zu erklären. Es dürfte der Konglomeratcharakter der spätantiken Grammatik sein, der ursprünglich getrennte Lehrtraditionen zusammengeführt hat, littera als grammatisches und vox als philosophisches Stück. Beim Abklopfen des Gesteins muss sich zeigen, was das angekündigte Herausziehen des Buchstabens und die Ausschließung des Lauts sein mag. Nach dem Vorgang der Grammatik beginnen wir mit De voce und fahren mit De littera fort.
De voce/περὶ ϕωνῆς: Aristotelische Widerspruchsfreiheit und platonisches Paradox
Was ist vox? Geräusch, Schall, Laut, Ton, Stimme, Sprache? Das Initium der Grammatik enthält einen standardisierten Passus mit Definition und Dihärese der vox, in Donats Ars grammatica in knappster Version: „Vox est aer ictus.“57 An sich und als Substanz ist vox Luft, durch Schläge in Hörbarkeit versetzt. Sie ist ferner „sensibilis auditu“, sofern sie zur sinnlichen Wahrnehmung des Hörens in Relation tritt. Die gegebene Definition ist weit, umfasst alles Hörbare, „alle Luft“, das Medium des Hörens. Sie ist nicht nur weit, sondern tendiert zum Weitestmöglichen. Was wäre jenseits von vox? Nichts als silentium. Gilt mit 1. Korinther 14,10 οὐδὲν ἄϕωνον/nihil sine voce (nichts lautlos), dann dürfte alles, was ist, ein solches sein, das hörbar ist. Eine derart weite, infinit zu nennende Definition ruft nach Einschränkung. Sie erfordert Dihärese. Donat liefert eine: „omnis vox aut articulata est aut confusa.“ Damit kommt, obgleich erst der folgende Abschnitt De littera handelt, schon der Buchstabe ins Spiel. Vorgrammatisches Schreiben und Lesen werden von der Grammatik vorausgesetzt, um die primordiale Konfusion der vox in Schranken zu halten: „articulata est, quae litteris comprehendi potest, confusa, quae scribi non potest.“ Donats Dihärese ist einfach, außerdem zweigliedrig; einfach, weil sie mit dem Kriterium der Schreibbarkeit, zweigliedrig, weil sie mit der Unterscheidung von Sprachlaut und sonstigen Lauten arbeitet. Mit Blick auf den Laut von Musikinstrumenten fügt Diomedes in Donats Dihärese die „vox modulata“ ein. Nun ist „vox“ dreigliedrig: als „sonus“ bloßes Geräusch, gehört sie als „tinnitus“ zur Musik und als „eloquium“ zur Sprache, um welche es der Grammatik geht.58 Das ist das Ziel von De voce: die „Ausgliederung der Sprache aus den Schallphänomenen“.59 Laut, Stimme und Sprache 1986, 15. Donat, Ars gramm. I 1, GrLat 4, 367,5; Ax, Laut, 15. 58 Diomedes, Ars gramm. II, GrLat 1, 420,8–23; Ax, ebd. 18 f. 59 Ax, ebd. 59, 267 u. ö. 56 Ax, 57
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§ 2 Buchstabe und Laut
Zwei Verfahren treffen in De voce und De littera aufeinander, aufseiten der vox das analytische durch die Definition nach genus und differentia specifica, das vom Großen zum Kleineren führt, eben zur Ausgliederung der Sprache; aufseiten der littera das synthetische Verfahren des Zusammenlesens von Elementen, Buchstaben, Silben, das vom Kleinen zum Größeren führt, zur Konstitution der Rede. Beide Bewegungen laufen entgegengesetzt und treffen sich gleichwohl im Selben. Es handelt sich um antagonistische Modelle, das eine aristotelisch, das andere platonisch. Weil das aristotelische unter Vermittlung stoischer Sprachtheorie in den spätantiken Grammatiken nachgewirkt hat, beginnen wir mit diesem. Es ist die Unterscheidung von Laut, Stimme und Sprache, die Aristoteles erstmals im Gebiet der ϕωνή durchgeführt hat; sie ist zur stehenden Figur der Sprachtheorie geworden. Aristoteles rückt der Überfülle der ϕωνή durch Differenzierung von zwei Seiten zuleibe. Nicht nur unterscheidet er wie Donat zwischen Laut und Sprachlaut, sondern auch zwischen Laut und Stimmlaut. Zugleich festigt er diese Unterscheidung, indem er eigene Termini einführt: ϕωνή, vormals tendenziell alles was laut ist, wird auf das Zwischengebiet eingeschränkt, das einerseits an den Schall (ψόϕος), andererseits an den artikulierten Sprachlaut (διάλεκτος) grenzt. Jetzt bezeichnet ϕωνή speziell diejenige Lautproduktion, die Lebewesen mit Atmungs‑ und Artikulationsorganen eigentümlich ist, ohne auf Menschen beschränkt zu sein. So ergibt sich die Dreiheit Laut (ψόϕος), Stimme (ϕωνή) und Sprache (διάλεκτος), die nach Aristoteles die Gesamtheit des Hörbaren strukturiert. Jedoch mit verschiedenen Akzenten in verschiedenen Werken. So gelangt zwar in De anima II 8, der ersten Bearbeitung dieser Begriffstrias, durchaus das Hörbare insgesamt (ἀκοή) in den Blick, aber im Kontext von Psychologie und Ästhesiologie nur soweit, als es das Atmen des Schallproduzenten voraussetzt: „Die Stimme ist etwas wie der Schall eines beseelten Wesens“ (ἡ δὲ ϕωνὴ ψόϕος τίς ἐστιν ἐμψύχου).60 Während sich die Schrift über die Seele auf die Differenz von ψόϕος und ϕωνή konzentriert, fügt De historia animalium IV 9 durch διάλεκτος die Differenz zur Sprache hinzu: „Stimme und Laut sind etwas verschiedenes, und das dritte zu diesen ist die artikulierte Sprache“ (ϕωνὴ καὶ ψόϕος ἕτερόν ἐστι, καὶ τρίτον τούτων διάλεκτος).61 Wie schon die Stimme ein εἶδος ψόϕου, so ist die artikulierte Sprache εἶδος ϕωνῆς. Die Ausgliederung der Sprache geschieht durch das Kriterium der Artikulation: „Sprache ist die Artikulierung der Stimme mittels der Zunge“ (διάλεκτος δ᾽ ἡ τῆς ϕωνῆς ἐστὶ τῇ γλώττῃ διάρθρωσις). Zu den zum Atmen gehörenden Organen Lunge, Luftröhre und Kehlkopf kommt mit Zunge und Lippen ein zweiter Organkomplex hinzu, der die Artikulation leistet.62 Es erstaunt, wie wenig der 60
Aristoteles, De an. II 8, 420b5 f; Ax, ebd. 122–126. Aristoteles, De hist. an. IV 9, 535a27 f; cf. I 1, 488a31–33. 62 De hist. an. IV 9, 535a30–536a4. 61
3. Der buchstäbliche Buchstabe
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Gesichtspunkt des Semantischen zum Zuge kommt. Auch die ϕωνή der Tiere hat kommunikative Kraft,63 und die zum διάλεκτος nötigen Artikulationswerkszeuge finden sich auch bei ihnen.64 Von Alleinstellung der menschlichen Sprache kann insoweit keine Rede sein. Wolfram Ax nimmt dies auf, indem er zwei Formen aristotelischer Sprachtheorie unterscheidet, das „physikalisch-physiologische Prinzip“, das er in Anlehnung an die soeben dargestellten naturbezogenen Werke das „dihäretische Prinzip“ nennt, und das „semiotische Prinzip“, das in den sprachbezogenen Werken entwickelt wird.65 De interpretatione 1–5 zielt auf den λόγος ἀποϕαντικός als den λόγος, der den Aussagen zugrundeliegt. Alle zur Ausdifferenzierung der Aussage erforderlichen Elemente, ὄνομα und ῥῆμα, ἀπόϕασις und κατάϕασις, λόγος und ἀπόϕανσις, gehören zur ϕωνὴ σημαντική, der Bedeutsamkeit zukommt. Bedeutsamkeit besitzen zwar auch die kleinsten Teile, ὄνομα und ῥῆμα, aber nur sofern sie nicht weiter geteilt werden. Die ϕωνὴ σημαντική ist von ϕωνή überhaupt unterschieden durch das Kriterium der Konventionalität der Lautzeichen; ϕωνή schlechthin enthält nichtschreibbare, nichtartikulierte Laute wie die der Tiere. Auch die Dihärese der Sprachteile (μέρη τῆς λέξεως) in De arte poetica 20 bewegt sich im Bereich der ϕωνὴ σημαντική, um deren Ausgliederung sie nicht mehr besorgt sein muss. Wie in der Schrift über die Aussage einmal beim ὄνομα daran erinnert wird, dass der Rückfall hinter die Konvention der Bedeutung den Rückfall zum tierischen Laut zur Folge hätte,66 so erinnert die Poetik ein einziges Mal daran, dass beim elementaren Laut oder Buchstaben, dem στοιχεῖον, die Verwechslung mit dem Tierlaut droht. Auch der Tierlaut ist unteilbar, unterscheidet sich aber vom menschlichen, weil er mit nichts verbunden werden kann. Gerade dies kennzeichnet das στοιχεῖον.67 Synthesis ist denn auch der Gesichtspunkt, dem die μέρη τῆς λέξεως (Redeteile) folgen. Beginnend beim στοιχεῖον als nicht segmentierbarem Laut oder Buchstaben steigern sie sich zur segmentierbaren, aber bedeutungslosen συλλαβή, verbindend im σύνδεσμος und trennend im ἄρθρος, sodann zum segmentierbaren und bedeutsamen, aber nicht teilbedeutsamen ὄνομα und ῥῆμα und endlich zum sowohl bedeutsamen wie teilbedeutsamen λόγος, das heißt zur Phrase, zum vollständigen Satz oder zur Verbindung vollständiger Sätze in einem umfassenden Text. Die Grundzüge der Ars grammatica folgen dem in der Poetik vorgezeichneten Aufbau der Sprachteile. Hält man die Reihen der Dihäresen, physiologische und semiotische, nebeneinander, wird deutlich: Indem einerseits die physiologische Reihe die Ausgliederung der menschlichen Sprachlaute zwar erstrebt, aber nicht zuverlässig erreicht, und andererseits die semiotische sie als bereits erbracht einfach voraus63 De
hist. an. IV 9, 536a4 ff.32 ff. hist. an. IV 9, 536a20 ff. 65 Ax, ebd. 11, 129 f. 66 Aristoteles, De int. 2, 16a26–29. 67 Aristoteles, De art. poet. 20, 1456b22–25; Ax, ebd. 133–136. 64 De
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§ 2 Buchstabe und Laut
setzt, entsteht eine Argumentationslücke. Die bekannte Formulierung der Politik: „Sprache hat als einziges Lebewesen der Mensch“ (λόγον […] μόνον ἄνθρωπος ἔχει τῶν ζῴων),68 ist weniger Argumentation als Ausdruck dieser Lücke. Aristoteles hält die Grunddistinktion der Lautphänomene in Laut, Stimme und Sprache für durchführbar. Anders Platon.69 Sein akustisches Vokabular ist nicht minder reich ausgeprägt. Durchaus könnte man wie bei Aristoteles ψόϕος, ergänzt durch ϕθόγγος, auf die Seite von Laut und Geräusch überhaupt ziehen, und die ϕωνή speziell als Stimme davon abgrenzen, sei es menschliche oder tierische. Aber es fällt auf: ψόϕος findet sich bei Platon ausgesprochen selten, und ϕωνή, statt sich in den Grenzen zu halten, die ihr durch ψόϕος und ϕθόγγος gesetzt sind, wird übergriffig. Nicht nur bezeichnet sie die menschliche Sprechstimme, sei es physiologisch im Blick auf das Sprachorgan, sei es semiotisch im Blick auf die Bedeutung der Laute, sondern sie bezeichnet genauso, wenn auch seltener, die Singstimme des Menschen und in übertragenem Sinn auch die der Instrumente. Und nicht genug damit. Ebenso, wenn auch noch seltener, wird ϕωνή von Stimmen der Tiere ausgesagt. Soweit ist ihr Umfang durch Aristoteles gedeckt, und man könnte die Frequenz von ϕωνή so deuten, dass Platon den Schwerpunkt von der animalischen auf die menschliche Seite zu verlegen wünscht. Eines jedoch widersteht dem aristotelischen Unterscheidungseifer diametral. Platon dehnt ϕωνή auf den Bereich des Akustischen insgesamt aus und kümmert sich nicht um die Distinktion, die Aristoteles zwischen ψόϕος und ϕωνή zog.70 Man könnte dies für Nachlässigkeit halten, wenn nicht die einzige Dihärese von ϕωνή, die Platon bietet und die dem Passus De voce der Ars grammatica ähnelt, so kühn wäre, die Reichweite von ϕωνή ebenfalls auf alles Akustische auszuweiten. Im Timaios heißt es: „Generell setzen wir als Laut den Schlag, der von der Luft durch die Ohren […] weitergegeben wird“ (Ὅλως μὲν οὖν ϕωνὴν θῶμεν τὴν δι᾽ ὤτων ὑπ᾽ ἀέρος […] πληγὴν διαδιδομένην). Nun reicht ϕωνή, soweit die ἀκοή reicht.71 Damit hat Platon alle Grenzlinien, die Aristoteles eigens gezogen hatte, überrannt. Dass Aristoteles auf Platon folgen muss, um elementare Ordnung einzuführen, mag man sich vorstellen. Aber welchen Sinn soll es haben, die platonische Konfusion noch einmal ernst zu nehmen, wenn sie auf Aristoteles folgt? Wie sehr wir, um den Laut auszuschließen, der aristotelischen Dihärese bedürfen, liegt auf der Hand. Wir würden überschwemmt, wenn nicht weggespült vom Chaos der Geräusche und der Konfusion des Lärms – Geräusch wie von großen Wassern, um mit der Apokalypse, oder vom Dröhnen der Luft, um mit 68
Aristoteles, De part. an. II 16, 660a1 ff; De gen. an. V 7, 786b7 ff; Pol. I 2, 1253a9 f.16. Ax, ebd. 102–113. 70 Platon, Charm. 167d4, 168d4.6; Prot. 356c7; Rep. VI, 507c10; Theait. 156c2, 185a8; Tim 29, 67b2. 71 Definition, bestehend aus einem substantiellen und einem ästhesiologischen Teil Tim 29, 67b2–6; Dihärese 67b6-c2. 69
3. Der buchstäbliche Buchstabe
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Paul Celan zu sprechen –, wenn nicht die Distinktion Distanz zu verschaffen vermöchte. Die Ausgliederung des Sprachlauts wird herbeigeführt durch Ja/ Nein-Klippen: Artikulation, Synthetisierbarkeit: ja oder nein? Schreibbarkeit: ja oder nein? Bedeutsamkeit: ja oder nein? Ja/Nein-Differenzen zielen darauf, das Entgegengesetzte definitiv auszuschließen. Nichts in der Welt kommt einer solchen Differenz an ausschließender Kraft gleich. An die Stelle von ψόϕος καὶ ϕωνή tritt ἢ ψόϕος ἢ ϕωνή, an die Stelle von sonus sive vox tritt sonus aut vox.72 Ausschließung wird wirksam, soweit in der Kette der Distinktionen das Widerspruchsprinzip zur Anwendung kommt. Ein Gebiet von Widerspruchsfreiheit ist konstituiert. Geht es nach Aristoteles, dann hat sich am Ende die menschliche Sprechstimme von ihrer lautlichen Bedingtheit gelöst. Eine menschliche Welt ist entstanden, mitten im Lärm. Aber Aristoteles hat die Ambivalenz Platons hinsichtlich der ϕωνή nur dann ein für allemal stillgestellt, wenn das Ausgeschlossene nicht wiederkehrt. Platon war auf dem besten Weg dazu, ϕωνή als Sprechstimme zu definieren, hätten ihn nicht metonymische und metaphorische Überschreitungen gehindert. Am Ende bricht der ψόϕος, der definitiv ausgeschlossen sein sollte, wieder in die ϕωνή ein und stiftet uralte Verwirrung. Konfusion entsteht, wenn ein Widerspruch nicht definitiv auszuschließen ist. Aber nicht jeder Fall dieser Art bringt Konfusion. Im aristotelischen Kontext wäre die Wiederkehr des Ausgeschlossenen allerdings konfus, im platonischen ist sie paradox. Kein Paradox ohne Form. Beweist das Paradox Form, dann entsteht so etwas wie kontrollierte Konfusion. Das Paradox ist eine Form, die den Wiedereintritt des Ausgeschlossenen nicht hinnimmt, sondern verlangt. So vor allem, wenn wir in dem, was auszuschließen ist, immer schon sind. Jeder weitere ausschließende Akt kann dann den Wiedereintritt nur wiederholen. So folgt Aristoteles zwar auf Platon und antwortet auf dessen hinterlassenes Paradox, aber kaum ist die aristotelische Antwort erfolgt und Widerspruchsfreiheit hergestellt, meldet sich das Paradox zurück. Es besteht darin, dass selbst die geglückteste Ausgliederung der ϕωνὴ σημαντική aus den Schallphänomenen das οὐδὲν ἄϕωνον nicht aus der Welt zu schaffen vermag. Platon ist der philosophische Platzhalter dieser paulinischen Phrase. So wird der singuläre Vorgang des apokalyptischen ΑΩ durch die Wiederkehr von Platons Paradox durchsichtig in seiner Allgemeinheit. Der platonisch-aristotelische Konflikt reicht soweit, wie der Laut oder die ϕωνή reicht.
De littera/περὶ στοιχείου: Minima pars vocis articulatae und Letter Unser Ziel ist nicht der Laut, sondern die Ausschließung des Lautes auf möglichst zuverlässige Weise; daher die Empfindlichkeit bei dessen Wiederkehr. Auf De voce folgt De littera. „Die Summe des antiken Buchstabenbegriffs bie72
Ax, ebd. 45–51, zu Vergil, Aen. III 556.
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§ 2 Buchstabe und Laut
tet das Kapitel ‚De littera‘ der spätrömischen Ars grammatica.“73 Aber De littera hat, wie zu sehen war, stillschweigend schon in De voce begonnen. Diodors Definition lautete: „[vox] articulata est quae litteris conprehendi potest, confusa quae scribi non potest.“74 Ebenso Diomedes: „[vox articulata] litteralis vel scriptilis appellatur, quia litteris conprehendi potest.“75 Hier tritt der Gesichtspunkt des Lesens, der zu den Anfängen der Grammatik gehört, auch operativ auf: „quidquid legitur articulatae vocis est.“76 Für „vox articulata“ wählt Cledonius die einfache Beschreibung: „quae legi et scribi potest.“77 Noch einmal: Das Kapitel De littera beginnt im Grund bereits in De voce. Das zieht Aufmerksamkeit auf sich. Der Übergang von De voce zu De littera sollte im Zeichen von Kontinuität stehen; nur dann ist Grammatik Kunst, wenn sie auf ihren Elementen fugenlos aufbaut. Nun beginnt sie schon vor De littera; sie beginnt, bevor sie beginnt. Also muss ihr Bestreben sein, diesen holprigen Beginn unter das Zeichen der Kontinuität zu stellen. Sie will behaupten, „vox enim facit litteram, litterae faciunt syllabam, syllabae faciunt partes orationis,“78 beansprucht also, ihr Hauptarbeitsfeld, die partes orationis, in einem einzigen Schwung zu erreichen. Aber was als Kontinuität ausgegeben wird, verdeckt die tektonische Verwerfung, die durch das Aufeinanderstoßen zweier Lehrformationen mit eigenen Binnenkräften entsteht. Die Formation De voce folgt, wie wir sahen, dem Verfahren der Dihärese, operiert mit Gattung, Art und artbildender Differenz, geht vom Weiten ins Enge, vom Großen ins Kleine und verfolgt, was Wolfram Ax „Ausgliederung“ genannt hat. Dagegen die Formation, die mit De littera beginnt, verfährt vom Kleinsten, der littera, zum Größten, der oratio, die für Formationen wie Satz und Text steht. Ist jenes Verfahren „absteigend“, so dieses „aufsteigend“; geschieht jenes durch „Ausgliederung“, so dieses durch „Eingliederung“.79 Natürlich lässt sich der in De littera beginnende Aufbau des Texts auch rückwärts lesen. Das geschieht durch Segmentierung und Teilung bis zum Kleinstmöglichen. Segmentierung und Dihärese sind nicht dasselbe. Diese verfährt nach der klassischen Arbor porphyriana, jene hat es zu tun mit Gesichtspunkten des Teils und des Ganzen, die der Mengenlehre unterstehen. Die littera, in der sich beide Formationen begegnen, wird von beiden in Anspruch genommen. Auf der einen Seite ist sie die differentia specifica, die die Definition der menschlichen Stimme gestattet,
73
Vogt-Spira, Vox und Littera 1991, 296. gramm. I 1, GrLat 4, 367,6 f; Ax, ebd. 15. 75 Diomedes, Ars gramm. II, GrLat 1, 420,12 f; Ax, ebd. 18. 76 Explan. in Don., GrLat 4, 519,19; Ax, ebd. 39 Anm. 70. 77 Cledonius, Ars gramm., GrLat 5, 26,32; Ax, ebd. 42. 78 Explan. in Don., GrLat 4, 487,2 f; Vogt-Spira, ebd. 296 f. 79 Ax, ebd. 39 f. 74 Donat, Ars
3. Der buchstäbliche Buchstabe
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auf der andern Seite ist sie pars minima vocis articulatae.80 Das ist die Verwerfung, die unter dem Anschein der Kontinuität verborgen liegt. Es ist nicht einerlei, ob man mit De voce oder De littera beginnt. Die Begründung der vorliegenden Gestalt: „litteris praeponenda vox est ideo, quia non littera elementum tribuit voci, sed vox litteris,“81 verrät ihre Unstimmigkeit, indem sie littera vom elementierenden zum elementierten Element macht. Hier stoßen Mündlichkeit und Schriftlichkeit aufeinander. Es fällt auf, dass für den Buchstaben im Griechischen wie im Lateinischen zwei Termini gebräuchlich sind, γράμμα/littera auf der einen, στοιχεῖον/elementum auf der andern Seite. In der Tat bewirkt die Etymologie von γράμμα, die auf das Eingeritzte weist,82 starke Bindung an die Schriftlichkeit, während die Etymologien von littera: linea, legitura, litura oder lineatura anderswohin führen.83 Die uns selbstverständliche Verbindung von littera und Letter ist späteren Datums und setzt schon den Buchdruck voraus. Schlägt sich στοιχεῖον/elementum mit derselben Deutlichkeit auf die Seite des Mündlichen? Hier gibt es zwei Ansätze. Der eine, formuliert von Dionysios von Halikarnass, tendiert zur Synonymie von γράμμα und στοιχεῖον, der andere betont deren Opposition. Was das Griechische anlangt, setzt das sog. Ammonios-Lexikon fest: γράμμα στοιχείου διαϕέρει. στοιχεῖον […] γάρ ἐστιν αὐτὴ ἡ ἐκϕώνησις καὶ ὁ ϕθόγγος, οὗ τὸ γράμμα σημεῖον ἢ τύπος ἢ σχῆμα.84
Zwischen gramma und stoicheion besteht ein Unterschied: stoicheion ist nämlich die Verlautbarung selbst und der Laut, dessen Zeichen, Abdruck oder Gestalt das g ramma ist.
Für die lateinische Tradition hat Priscian festgehalten: Litera […] est nota elementi et velut imago quaedam vocis literatae, quae cognoscitur ex qualitate et quantitate figurae linearum. Hoc autem interest inter elementa et literas, quod elementa proprie dicuntur ipsae pronuntiationes, notae autem earum literae.85
Ein Buchstabe ist die Notierung des Lautes und gleichsam eine Art Bild der artikulierten Stimme, erkennbar aus Qualität und Quantität der figürlichen Linien. Der Unterschied zwischen elementa und literae ist der, dass die Verlautbarungen in eigentlichem Sinn Elemente genannt werden, ihre Notierungen dagegen Buchstaben.
Während der erste Ansatz die Differenz zwischen Graphischem und Phonischem übergeht, findet eine solche beim zweiten sehr wohl statt. In diesem
80 Donat, Ars gramm. I 1, GrLat 4, 367,9; weitere Nachweise Vogt-Spira, ebd. 297, Anm. 10. Synonym: Vox explanata, scriptilis ebd. Anm. 16; vox litterata ebd. 298, Anm. 19. 81 Explan. in Don., GrLat 4, 487,9 f; Ax, ebd. 37. 82 Vogt-Spira, ebd. 302, 311. 83 Vogt-Spira, ebd. 311 f, 322. 84 Ammonii De adfinium vocabulorum differentia 1966, Nr. 122; Vogt-Spira, ebd. 303, 307. 85 Priscian, Inst. II 4, GrLat 2, 6,23–7,1; Vogt-Spira, ebd. 298.
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§ 2 Buchstabe und Laut
Fall ist die Gleichsetzung von Buchstabe und Laut nur möglich unter erklärter Abweichung vom eigentlichen Sinn. So das Ammonios-Lexikon: λέγεται μέντοι καταχρηστικῶς καὶ τὰ στοιχεῖα γράμματα.86
Gewiss werden stoicheia auch uneigentlich grammata genannt.
Ebenso Priscian:
[…] abusive tamen et elementa pro literis et literae pro elementis vocantur.87
Uneigentlich werden dennoch auch Buchstaben elementa und Elemente literae genannt.
Nach Vogt-Spira gehört dem zweiten Ansatz die Zukunft, wenn auch in minimalen, fast unmerklichen Schritten. Man muss die Wende vom lauten zum leisen Lesen zu Hilfe nehmen, um den schleichenden Übergang zur Deutlichkeit eines epochalen Kontrastes zu bringen. Während die antike Praxis lauten Lesens zur Synonymie von Buchstaben und Laut neigt, führt leises Lesen, die „unmittelbare[.] Perzeption vom Geschriebenen her ohne phonischen Umweg“,88 zu Veränderungen, die ihre Spuren seit der Wende zur Frühscholastik hinterlassen haben. Der Wandel der Lese‑ und Schreibgewohnheiten stärkt Kräfte, die auf mediale Ausdifferenzierung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit drängen; er bewirkt „Scheidung“89 und „Trennung“.90 Hugo von St. Viktor belegt in De grammatica, wie er sich von der Herleitung des Buchstabens aus der Gesamtheit des Hörbaren abwendet. Er geht auf Distanz zum klassischen Eingangskapitel De voce und bestimmt littera zum Oberbegriff dessen, was in lautlicher Hinsicht als elementum und in schriftlicher als fi gura bezeichnet wird.91 Tritt aber littera selbst in den Gegensatz von Buchstabe und Laut ein, bezeichnet sie die schriftliche, nicht die mündliche Seite.92 Im Didascalicon geht Hugo sogar soweit, die littera strikt an Schrift zu binden: „Littera proprie est figura quae scribitur; elementum, sonus qui pronuntiatur.“ Die Grammatik ist, wie ihr Name sagt, eine „litteralis scientia“ (Buchstabenlehre).93 Am Ende hat Julius Caesar Scaliger die Wende, die sich bei Hugo von St. Viktor ankündigt, präzisiert, indem er der antiken Definition von littera als „pars minima vocis articulatae“ direkt widerspricht: „Litera non rectè definitur per Pars vocis.“94 Die traditionelle Bestimmung des Buchstabens aus der Lautartikulation wird verabschiedet. Der bloße Buchstabe, das bloße Buchstabenzeichen bewirkt, 86 Ammonius,
ebd.; Vogt-Spira, ebd. 304 Anm. 47. Inst. II 4, GrLat 2, 7,1 f; Vogt-Spira, ebd. 298. 88 Vogt-Spira, ebd. 313, cf. 295, 327. 89 Vogt-Spira, ebd. 317. 90 Vogt-Spira, ebd. 313, 327. 91 Hugo v. St. Victor, De gramm. 77,40 f: quod in sono elementum est et in membrano figura, utrumque littera una significatione complectitur. Vogt-Spira, ebd. 317, Anm. 99. 92 Hugo v. St. Victor, De gramm. 77,44–46. Vogt-Spira, ebd. 318, Anm. 103. 93 Hugo v. St. Viktor, Didasc. II 28, FChr 27, 206. 94 Scaliger, De causis linguae Latinae 1597, Index errorum IV/6. 87 Priscian,
3. Der buchstäbliche Buchstabe
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dass ein von Abwesenden gesprochenes Wort sine voce, ohne Umweg über das Phonische, spricht.95 Das führt zur „Ablösung des alten Buchstabenbegriffs im umfassenden Sinne“.96 Lautete die Reihe der alten Grammatiktraktate Laut und Buchstabe, so stehen wir nun vor dem „Umbruch“97 zu Buchstabe und Laut. Die Theologie des Lesens beginnt mit den Vorboten dieses Umbruchs in der Frühscholastik und folgt ihnen, bis sie als Scheidung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, von γράμμα und στοιχεῖον, littera und elementum wirksam werden. Das ist die Situation, in der sich der Buchstabe vom Laut löst. b. Buchstabe und Geist Der Schritt vom Laut zum Geist ist so weit wie der von πνοή/πνεύμονες zu πνεῦμα. So wird Buchstabe und Laut zu Buchstabe und Geist. Während man seit Augustins De spiritu et littera gewohnt ist, die beiden Elemente als Zweiheit von Geist und Buchstabe zu fassen, beginnen wir mit der Umkehrung zu Buchstabe und Geist.98 Auch hier ist die Richtung nicht beliebig. Wenn Simon Gerber seine Schleiermacher-Studie zu Geist und Buchstabe mit „Geist und Buchstabe, Buchstabe und Geist“ beginnt,99 wird das Gefälle der Dyade aufgehoben, aufgestaut bis zur Ambivalenz. Aber nur in Gerbers erstem Satz. Was folgt, fällt sogleich in die herkömmliche Ordnung zurück. Mögen noch Paulus und Luther die Ordnung Geist und Buchstabe gegen Widerstand durchgefochten haben, Schleiermacher verfügt über sie unangefochten. Einerlei ob philosophisch, hermeneutisch, theologisch, liturgisch oder homiletisch: überall muss er die Parole vom lebendigen Geist gegen den toten Buchstaben nur einsammeln, um das Unisono zu erzeugen, das alle Phasen und Teile seines Werkes durchschallt. Bei Schleiermacher ist das paulinische ἐν πνεύματι οὐ γράμματι Römer 2,29, erweitert durch ἐν καινότητι πνεύματος καὶ οὐ παλαιότητι γράμματος 7,6 mit überbordender Evidenz zum Selbstläufer geworden, wenn auch um den Preis von Monotonie. Wie angesichts solcher Evidenz jemand auf die Idee verfallen sollte, Geist und Buchstabe in Buchstabe und Geist zu verkehren, ist unerfindlich.100 Zwar hatten die Alexandriner, die Origenes’ allegorischer Schriftdeutung folgten, stets Antiochener zur Seite, die vom Buchstaben nicht lassen wollten und mit Blick auf Paulus darauf insistierten, es handle sich nicht bloß um einen hermeneutischen Gemeinplatz, der parat steht, wann immer das Signifikat gegenüber dem Signifikanten gestärkt werden soll, sondern um eine soteriologische, Gesetz 95 Isidor von Sevilla, Etym. I 3,1: Litterae autem sunt indices rerum, signa verborum, quibus tanta vis est, ut nobis dicta absentium sine voce loquuntur. 96 Vogt-Spira, ebd. 324. 97 Vogt-Spira, ebd. 315, 322, 324. 98 Ausnahme: Wischmeyer (Hg.), Lexikon der Bibelhermeneutik 2012. 99 Gerber, Geist, Buchstabe und Buchstäblichkeit 2013, 105. 100 Vf., Geist und Buchstabe – Buchstabe und Geist 2006, 96 f.
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§ 2 Buchstabe und Laut
und Evangelium betreffende Wendung, und dies sei es, was sich in der Sentenz 2. Korinther 3,6 niederschlägt, dass der Buchstabe tötet, aber der Geist lebendig macht. Die theologische Zuspitzung wiederholt die Ordnung Geist und Buchstabe. Also wird niemand bei noch so starker Berücksichtigung des paulinischen Buchstabens auf die Idee kommen, die Gewichte umzukehren und den Vorrang des Buchstabens vor dem Geist zu behaupten. Aber genau dies spielt sich in der Postmoderne ab. Sie gelangt, Schleiermacher entgegengesetzt, ihrerseits zu einem überraschenden Unisono. Ist es zunächst nur der Buchstabe, der, befreit vom Odium des Totseins oder Tötens, sich erkühnt, nicht nur lebendig sein,101 sondern auch lebendig machen zu wollen,102 folgt die Umpolung des Geistes auf dem Fuße. Er muss, statt mit Paulus und dem Symbolum Constantinopolitanum als τὸ πνεῦμα […] τὸ ζῳοποιόν besungen zu werden,103 in einen solchen mutieren, der tötet.104 Und dies nicht nur aus Gründen der Konsequenz, sondern aus freier Einsicht über sich selbst. Er wird mit Ereignissen konfrontiert, in denen der Geist den Buchstaben tatsächlich tötet und dessen materiellen Träger mit Feuer und Flamme verbrennt.105
Friedrich Schleiermacher und der Neuprotestantismus
In der Sprache der Schule gehören Buchstabe und Laut in die Grammatik, Buchstabe und Geist in die Theologie. Das bleibt nicht ohne Folge für die Höhenlage des Wortes Buchstabe. Während die Grammatik bestrebt ist, dem buchstäblichen Sinn des Buchstabens so nahe wie möglich zu kommen, geht sein Transfer in die Theologie nicht ohne Übertragung ab. Jetzt steht der Buchstabe für mehr als Buchstabe; er steht für eine bestimmte Deutungsmacht, sogar Deutungsgewalt. Der Fall tritt ein, dass Grammatik und Theologie nicht mehr vom selben Buchstaben sprechen; die Grammatik beschreibt den Buchstaben, der dasteht, wie er dastehen soll, die Theologie betrachtet den dastehenden Buchstaben, wie wenn er nicht dastünde, verbrennt ihn also in ihren eigenen Schriften mit der Flamme des Geistes. So beklagt sich Schleiermacher über die „beschränkte Ansicht des heiligen Buchstabens“, die von allem, was in der Theologie gelten soll, verlangt, „daß es überhaupt ja buchstäblich in den heiligen Büchern stehe“.106 Dieselbe Klage ertönt gegen Textkorpora minde101 Hartman, Easy pieces 1985, 194: „The roles of letter and spirit are reversed: the letter in the text lives on […].“ 102 Goodman-Thau/Schulte, Vorwort 1993, vii: „Hatte es bei Paulus geheißen, daß der Buchstabe tötet, der Geist aber lebendig macht (…), so sehen wir hier ganz früh schon die Umkehrung […]: Im Sefer Jezira […] macht der Buchstabe lebendig […].“ 103 DH 150; 1. Kor 15,45; 2. Kor 3,6; Joh 6,63. 104 Kamper, ‚Der Geist tötet, aber der Buchstabe macht lebendig‘ 1993. Marks, Schrift und Mikra 1997, 121: „In Hamlet tötet der Geist, aber der Buchstabe macht lebendig.“ 105 Derrida, Vom Geist 1988, 40. 106 Schleiermacher, Ueber den sog. ersten Brief […] an den Timotheus 1807, KGA I/5, 159,4.10.
3. Der buchstäbliche Buchstabe
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ren Rangs. Auch symbolische Bücher und gottesdienstliche Agenden sollten nicht buchstäblich exekutiert werden, erstere nicht, weil sie nur „ein todter Buchstabe mehr noch zu vielen Andern“ sind,107 letztere nicht, weil jeder „ausdrükliche[.] Anspruch auf Buchstäblichkeit“ nur „einer knechtischen Buchstäblichkeit“ zuarbeitet.108 Dieser von Schleiermacher bis zum letzten Atemzug109 festgehaltene neuprotestantische Tenor reicht bis in die frühesten Äußerungen zurück. Die „Reden“ Über die Religion stoßen ins selbe Horn. Sie widmen sich einem Thema, das die Animosität gegen Buchstaben und buchstäbliche Dinge auf die Spitze treibt. An sich wäre der hohe Gegenstand der Religion wohl in der Lage, nicht nur das Schreiben, sondern auch das Reden zu bedrohen; Religion, wenn ernstgenommen, ist nicht nur ein ἄγραπτον,110 sondern auch und viel mehr ein ἄρρητον.111 Die religiös motivierte Polemik gegen Buchstabe und Schrift lässt den Ausweg, zwar gegen Schrift zu polemisieren, Sprache aber durchgehen zu lassen. Nur schreibt Schleiermacher die Reden, aller Schriftkritik zum Trotz, und überliefert das Geschriebene zum Druck. Der Buchstabenschelte liegt ein blinder Fleck zugrunde, einmal mehr, einmal weniger. Weniger, wenn die der Buchstabenkritik zugrundliegende Negation sich auf Buchstaben in übertragenem Sinn oder auf Buchstäblichkeit als enge, ängstliche, knechtische, gewalttätige Geisteshaltung bezieht, gegen die sich zu wenden einem aus Buchstaben gestrickten Text ohne weiteres möglich ist. In diesem Fall haben Negierender und Negiertes das Wort Buchstaben gemeinsam, nicht aber den damit verbundenen Sinn. Mehr, wenn die Bedeutungsebenen des Negierenden und des Negierten nicht zu trennen sind. Gelangen sie gar zur Deckung, dann negiert der Schreibende den Buchstaben in genau dem Sinn, in dem er ihn für sein Negieren in Anspruch nimmt. Das ist die Spannung, in der sich Schleiermachers Reden bewegen. Sie hat verschiedene Grade, die von bloßer Paradoxalität bis zum Paradox reichen. Aber nie ist sie von Paradoxie frei. Die neuprotestantische Attitüde gegen den toten Buchstaben in Agenden, Bekenntnisschriften und in der Heiligen Schrift ist eine Wendung gegen das Genus Schrift insgesamt. Ist Schrift das „Mausoleum der Religion“,112 dann erfasst die Attitüde nicht nur die Theologie des Lesens, sondern Theologie überhaupt. Die Religion löst die Bindung an die Schrift, weil sie „keiner bedarf, und wohl selbst eine machen könnte.“113 Daher die Abneigung gegen 107 Schleiermacher, Ueber den eigenthümlichen Wert […] symbolischer Bücher 1819, KGA I/10, 126,31 f, cf. 132,33. 108 Schleiermacher, Erklärung […] wegen der Agende 1825, KGA I/9, 293,14 f.18. 109 Schleiermachers letzte Worte, ASL 2, 512: „Ich habe nie am todten Buchstaben gehangen“. 110 Schleiermacher, Über die Religion 1799, KGA I/2, 221,24: „unbeschreiblich“. 111 Schleiermacher, ebd., KGA I/2, 220,33–35, 221,26 f: unaussprechlich. 112 Schleiermacher, ebd., KGA I/2, 242,12. 113 Schleiermacher, ebd., KGA I/2, 242,16 f.
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§ 2 Buchstabe und Laut
das Lesen. Religion und Theologie vertauschen im Neuprotestantismus ihre Positionen; nicht folgt die Religion der zuvor konstituierten Theologie wie im Altprotestantismus, sondern umgekehrt. Daher die Abneigung gegen die Theologie. Aber während der Geist so frontal weht, dass er den „Buchstabentheologen“114 das Handwerk legt, verbindet sich hinter seinem Rücken Theologie des Lesens mit Theologie schlechthin. Selbst unter Bedingungen der Abwesenheit von Theologie des Lesens verrät der Terminus „Buchstabentheologie“, dass bereits Theologie schlechthin ihre konstitutive Bezogenheit auf Buchstaben niemals verleugnen kann. Schleiermachers Polemik plaudert aus, dass Theologie an sich schon Theologie des Lesens gewesen sein muss. Unter der Decke der Polemik reproduziert er korrekt den ganz unpolemischen Sachverhalt, der seit der Wende von der monastischen zur scholastischen Theologie deutlich ist. So erweist sich seine Religionsschrift auch in dieser Hinsicht als Text von einzigartigem Rang. Während sie auf ihrer Schauseite, der Autorintention entsprechend, dem Programm Geist und Buchstabe mehr als genug gehorcht, verrät sie auf ihrer Rückseite das Muster Buchstabe und Geist überdeutlich. Es ist ein und derselbe Akt, der mit der rechten zugleich die linke Seite des Textes hervorbringt und nicht aufhört, mit dem Intendierten dem Nicht-Intendierten zu Stand und Wesen zu verhelfen. Um es präzis zu formulieren: Nicht darum geht es, in sophistischer Manier das schwächere Argument stärker zu machen,115 sondern darum, nach der skeptischen Devise durch Stärkung des einen Logos zugleich den entgegengesetzten, statt ihn zu schwächen, zu stärken.116 Hier kommt ein Konflikt zum Austrag, der theologiegeschichtlich zumindest bis Luther zurückgeht, dessen überliefertes Werk im Zeichen der Differenz von spiritus und littera buchstäblich beginnt. „In Scripturis Sanctis“, heißt es am Beginn der ersten Psalmenvorlesung, „optimum est Spiritum a litera discernere, hoc enim facit vero theologum.“117 Dass die geforderte Unterscheidung keine Trennung ist, liegt am Tag. Sie schließt die Konzentration auf den Buchstaben nicht aus, verlangt sie vielmehr. „[P]rimo grammatica videamus“, so zu Beginn der zweiten Psalmenvorlesung, „verum ea theologica.“118 Wenn aber das Buchstäbliche das Theologische ist, wird nicht nur das Vorhaben der „Grammatica theologica“ evident,119 sondern auch das umgekehrte einer theologia grammatica muss seine Anstößigkeit verlieren. Ist dies zutreffend, dann muss Schleiermacher, der überlaut eine der beiden Seiten präferiert, auch die nichtpräferierte Seite genauso laut herbeirufen. 114 Schleiermacher,
ebd., KGA I/2, 201,17. Platon, Apol. 19bc; 23d: τὸν ἥττω λόγον κρείττω ποιεῖν. 116 Sextus Empiricus, Pyrrh. Hyp. I 6,12: τὸ παντὶ λόγῳ λόγον ἴσον ἀντικεῖσθαι. 117 Luther, Erste Psalmenvorlesung 1513, WA 55/1, 4,25 f. 118 Luther, Op. in ps. 1519, WA 5, 27,8/AWA 2, 29,4; im Unterschied zu WA 5, 29,18/ AWA 2, 34,8 ist grammatica hier nicht fem. sing. (‚Grammatik‘), sondern unzweideutig neutr. plur. (‚Grammatisches‘). 119 Luther, Op. in ps., WA 5, 32,19/AWA 2, 38,19; Raeder, Grammatica Theologica 1977. 115
3. Der buchstäbliche Buchstabe
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Friedrich Schlegel und die Frühromantik Im Unterschied zum allgemeinen Begriff der Frühromantik, der mit dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts eine bestimmte Epoche, mit Berlin und Jena bestimmte Orte, mit den Namen Wackenroder, Tieck und den Brüdern Schlegel eine bestimmte personelle Konstellation und deren Art des geselligen συμϕιλοσοϕεῖν umfasst, wird der Begriff in unserem Zusammenhang enger gebraucht, kantiger, vertrackter. Dass Friedrich Schlegel nur in der frühen Phase das Merkmal des Frühromantikers zugesprochen wird, dass der späte Schlegel sich daraus entfernt bis zur Negation des einstmals Gesagten, ist Gemeingut. Dass aber Friedrich Schleiermacher, der in der Epoche seiner Kooperation mit Schlegel ebenfalls zur Frühromantik gezählt wird, genau betrachtet nur auf der linken Seite seines Textes mit ihr zu tun habe, auf der rechten aber nicht, ist ein ungewohnter Akzent.120 Er setzt selbst für die Reden die Kippenergie der Ironie voraus, obgleich diese mit Ironie wirklich nichts zu tun haben. Der kritische Rezensent, als der Schlegel ihnen gegenübertritt, hat nicht die Aufgabe, die Ironie, die an sich schon zwischen Schlegel und Schleiermacher121 ungleich verteilt war, zu den Reden hinzuzufügen, sondern sie im Text bereits am Werk zu finden, sobald sich dessen Ernstintention in Spiel verkehrt.122 Nur gegen ihre Intention, unwillig, aber notwendig, werden die Reden zu einem Ereignis der Frühromantik. Ist ihre erste Intention neuprotestantisch, so deren ironische Verkehrung frühromantisch, und diese gilt es zu fassen, bevor sie im Fortgang von Schlegels Werk katholisch wird, was in Hinsicht auf Konfessionalität von protestantisch nicht weit entfernt ist. Die Quartette in Schlegels Sonett über die Reden123 sind der Ernstintention des Autors gewidmet und geben den Initiationscharakter seiner Mysterienrede korrekt wieder. Aber mit den Terzetten kippt das Sonett. „Doch plötzlich scheints“; „Der Vorhang reißt“: Ein ἐξαίϕνης tritt ein, das sich von dem Platons gänzlich unterscheidet. Statt im Augenblick bei der Sache selbst zu sein, die sich als anwesend offenbart, entzieht diese sich ins Unendliche; die Weihe verlangt nach Weihe der Weihe, und das Reißen des Vorhangs, das nun beginnt, zerreißt alle in den Reden bereits geöffneten Vorhänge. Am Ende wird wohl die Religion der Reden eine Religion ohne Religion gewesen sein, und in dem Maß, in dem das verheißene Wesen der Religion entschwindet, „[z]eigt sich die alte Sphinx in Riesengröße.“ So weist Schlegels Kritik den Leser der Reden über deren Ernstintention hinaus ins Spiel ironischer Verkehrung. Sie entzieht, was Schleiermacher als gegeben erachtete. Für und Wider bei Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik 1986. Schleiermacher, ebd., KGA I/2, 268,30–33. 122 F. Schlegel, Notiz, in: Athenaeum 2, 1799, 288–300, KFSA 2, 275–281; Ideen, Nr. 8, 112, 125, 150, in: Athenaeum 3, 1800, 524, 26, 32, KFSA 2, 257, 267, 269, 271; Sonette, Nr. 1, in: Athenaeum 3, 1800, 234, KFSA 5, 301 f. 123 Athenaeum 3, 1800, 224, KFSA 5, 301 f. 120 121
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§ 2 Buchstabe und Laut
Die Differenz zwischen Schleiermacher und Schlegel tritt nicht nur in Auseinandersetzung mit Religion, sondern auch in der mit Platon zutage, und die Form der Auseinandersetzung zeigt hier wie dort dieselbe Figur, undeutlich dort, deutlicher hier.124 Das Spektrum von Platon-Interpretationen dürfte so weit sein wie das Spektrum des Paradoxes der Buchstaben‑ und Schriftkritik,125 von dem in Hinsicht auf die Reden soeben die Rede war. Der neuralgische Punkt ist die Schriftkritik, die Platon am Ende des Phaidros wie im Siebten Brief vorträgt, wobei Platons Werk nach Schleiermachers Gesamtprospekt mit jenem beginnt und mit diesem endet. Also beherrscht Schriftkritik Platons Werk im Ganzen. Paradox ist sie, weil sie im einen wie im andern Fall nur schriftlich überliefert wird, somit negiert, was sie tut, indem sie es tut. Autoreferenz und Negation sind untrügliche Kennzeichen des Paradoxes, und wenn die Werke, an denen es zutage tritt, das Gesamtwerk rahmen, handelt es sich um Schlüsselwerke der Platon-Interpretation. Ein Paradox hat verschiedene Intensitäten. Die strengste, am meisten zwingende Form des Paradoxes, die in der Schriftlichkeit der Schriftkritik vorliegt, wird schon bei Platon gelockert, indem Ernst (σπουδή) und Spiel (παιδιά) unterschieden werden.126 Über das in jeder Hinsicht Ernste gibt es nichts, was sich schreiben ließe, und selbst das noch so ernst Geschriebene ist nicht möglich ohne Spiel. Von einer Lockerung weiteren Grades macht die Tübinger Platon-Interpretation Gebrauch. Sie zielt auf die ungeschriebene Lehre, ungeschrieben zwar bei Platon und zu erkennen nur indirekt an einigen Aussparungsstellen seiner Texte, dafür geschrieben anderswo bei anderen Autoren. Also ist Platons ungeschriebene Lehre überliefert wie Platons geschriebene auch, nur durch Schriften anderer. Auf diese Weise entschärft sich der charakteristisch frühromantische Stimulus, Ungeschriebenes zu lesen, ganz von selbst; ungeschrieben am einen Ort erweist es sich als geschrieben am anderen.127 Schleiermacher geht in der Entspannung des Paradoxes noch einen Schritt weiter. Die Schriftkritik sei nicht im Prosopon Platons, sondern in dem des Sokrates gesprochen, dessen Abstinenz in Sachen Schrift keinem Zweifel unterliegt, und diese Freiheit vom Paradox habe Platon veranlasst, dem Ideal sokratischer Mündlichkeit im Medium des Literarischen nachzustreben.128 Am Ende entsteht dem lebendigen Geist des platonischen Dialogs aus der Kritik am toten Buchstaben keine Anklage mehr, und es ist deshalb, dass der Schleiermacher der Reden es dem „göttliche[n] Plato“129 gleichzutun versucht. Nun 124 Zu Schlegels Platoninterpretation vorläufig: Krämer, Fichte, Schlegel und der Infinitismus der Platondeutung 1988; kritisch: Frischmann, Friedrich Schlegels Platoninterpretation 2001. 125 Schefer, Platons unsagbare Erfahrung 2011, Kap. 1. 126 Platon, Phaidr. 276b-e; Ep. VII, 344c. 127 Wieland, Platons Schriftkritik 1987; ders., Ungeschriebenes lesen 1994. 128 Schleiermacher, Einleitung [zum Gesamtwerk], in: Platons Werke I/1, 1804, 19; Einleitung [zum Phädrus], 75. 129 Schleiermacher, Über die Religion, KGA I/2, 262,37.
3. Der buchstäbliche Buchstabe
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darf die Rede über die Religion mit der Mündlichkeit auch ihre Schriftlichkeit vergessen und entschuldigen. Jedoch in dem Augenblick, in dem sich Schlegel der Entspannung des Paradoxes durch Schleiermacher widersetzt, wendet er die neuprotestantische Schauseite des Textes und kehrt die abgewandte frühromantische Seite hervor. Diese muss sich in dem Gebrauch niederschlagen, den Schlegel von Geist und Buchstabe macht. Zwei große Kräfte und zwei große Namen sind es, die sich in der Buchstabenkritik begegnen, Platon und Paulus, wobei Platon eher wirksam ist bei Buchstabe und Laut, Paulus eher bei Buchstabe und Geist. Platonische Schrift‑ und paulinische Buchstabenkritik entwickeln Synergien und verschmelzen bis zur Ununterscheidbarkeit, zum Schaden des paulinischen Profils. Die zum Selbstläufer gewordene Formel Geist und Buchstabe würde, wie Schleiermacher zeigt,130 durch Schärfung des paulinischen Sinns nur behindert. Deshalb bedarf es außergewöhnlicher Kraft, um Geist und Buchstabe in Buchstabe und Geist zu verkehren. Solche Gegenkraft sprechen wir der Frühromantik zu und setzen sie mit Schlegel Schleiermacher direkt ins Haus. Sein Eigenes soll ihm fremd werden. Theologien aus Geist und Buchstabe sind geläufig, da zu erwarten. Während sie erblinden, rufen wir die Theologie aus Buchstabe und Geist herbei, die in Nachwirkung der Frühromantik steht. Man müsste die Frühromantik erfinden, wenn es sie nicht gäbe. Aus ihr bezieht die Theologie des Lesens ihre Motivation. Daher ist zu beachten, was mit Geist und Buchstabe bei Schlegel geschieht. Bereits in der epidemischen Debatte der Kantianer, die auf dem Weg zum Idealismus Kants Geist vor Kants Buchstaben bevorzugten, reißt Schlegel das Ruder auf die entgegengesetzte Seite und will Kants Buchstaben mehr geschätzt wissen als seinen Geist.131 Und schon früher hatte er sich als Aufgabe notiert: „Apologie d[es] Buchstabens, d.[er] als einziges ächtes Vehikel d[er] Mittheilung sehr ehrwürdig ist.“132 Nicht sich wie Schleiermacher der Religion selbst, sondern „der Religion, der geschriebnen,“133 zuwendend, erblickt er seine Aufgabe nicht darin, diese zu schauen oder zu fühlen, sondern darin, sie mit dem Buch „vor der Hand“ zu „lesen“.134 Mangels Religion auf das Lesen von Religion gesetzt, gewinnen deren Materialität und Medialität als Buchstabe und Schrift Vorrang gegenüber der Unmittelbarkeit des Geistes. „Ohne Buchstabe kein Geist; der Buchst.[abe ist] nur dadurch zu überwinden, daß er fließend gemacht wird.“135 Starr wie er ist, wird er flüssig nur durch Lesen. 130
Schleiermacher, ebd., KGA I/2, 200,33 f, 242,13 f, 363,36–38. Philosophische Fragmente I/2, Nr. 233, 1797, KFSA 18, 40; I/2, Nr. 431, 1797, KFSA 18, 63. 132 Schlegel, Philosophische Fragmente I/1, Nr. 15, 1796, KFSA 18,5; durch J. G. Hamann inspiriert? 133 Schlegel an Schleiermacher, wohl Anfang 1799, KGA V/3, Brief Nr. 579,49. 134 Schlegel, Ideen, Nr. 125, in: Athenaeum 3, 1800, 26, KFSA 2, 269; Ideen, Nr. 150, in: Athenaeum 3, 32; KFSA 2, 271. 135 Schlegel, Philosophische Fragmente II/2, Nr. 274, 1799, KFSA 18, 344. 131 F. Schlegel,
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§ 2 Buchstabe und Laut
Auf der einen Seite ist es Lesen, das den Buchstaben fließend macht: „Buchstabe ist fixirter Geist. Lesen heißt, gebundnen Geist frei machen, also eine magische Handlung.“136 Ebenso, einerlei ob kabbalistisch oder alchemistisch: Buchstaben werden erkannt wie ein „Basrelief […] mit goldnen Lettern auf silbernen Tafeln.“137 Auf der andern Seite tritt die Verflüssigung durch Lesen zum Buchstaben nicht von außen hinzu, sondern wird von ihm selbst ausgelöst, weil er schon „thätig“ ist.138 Seiner Tätigkeit kommt „Allmacht“ zu.139 Der Buchstabe ist „d[er] wahre Zauberstab.“140 Anders als der tote Buchstabe des Neuprotestantismus will der Buchstabe der Frühromantik als „lebendig“ wahrgenommen werden.141 Er ist es, mit dem die Theologie des Lesens beginnt.
c. Der buchstäbliche Buchstabe Auf zwei Wegen näherten wir uns dem buchstäblichen Buchstaben, um die Theologie des Lesens zu beginnen, zuerst via Buchstabe und Laut, dann via Buchstabe und Geist. Dabei bemühten wir einmal Grammatik, Linguistik und Philologie, das andere Mal Theologie, Hermeneutik und Philosophie. Beide Wege haben dasselbe Ziel, beide führen nach Argumentation und Gefälle zum buchstäblichen Buchstaben. Was dieser sein soll, ist nach wie vor rätselhaft. Die Prädikation des Buchstabens als buchstäblich klingt auf der einen Seite flach, auf der andern prätentiös und steil. Flach, weil das Prädikat das Subjekt wiederholt; die Verdopplung hinterlässt hier einen schalen Geschmack. No risk no fun. Steil, weil die Buchstäblichkeit des Buchstabens nicht leicht zu erzielen war. Der Buchstabe neigt rasch dazu, mehr als buchstäblich zu sein. Also wird bei Annäherung an den buchstäblichen Buchstaben die Spannung nicht erschlaffen; sie steigert sich. Ankunft ist der unwahrscheinlichere Fall. Die Auseinandersetzung mit Buchstabe und Laut machte klar, dass der alten Grammatik der Primat des Lauts gegenüber dem sekundären Buchstaben selbstverständlich war, sodass es eigenwillig erscheint, den erst zögerlichen, dann sich häufenden Signalen der Ablösung des Buchstabens vom Laut zu folgen und dem Umbruch stattzugeben. Ebenso führte die Auseinandersetzung mit Geist und Buchstabe zu der Einsicht, dass der Primat des Geistes die theologische Tradition mit so großer Selbstverständlichkeit prägt, dass es befremdend erscheinen muss, den verstreuten, sich neuerdings mehrenden 136
Schlegel, Philosophische Fragmente II/1, Nr. 1229, 1799, KFSA 18, 297. Ueber die Unverständlichkeit, in: Athenaeum 3, 1800, 341, KFSA 2, 365; zur Herkunft des Bildes: Schumacher, Die Ironie der Unverständlichkeit 2000, 203 f, 213 f. 138 Schlegel, Philosophische Fragmente II/2, Nr. 510, 1800/01, KFSA 18, 364. 139 Schlegel, Ideen, Nr. 61, in: Athenaeum 3, 1800, 15, KFSA 2, 262. 140 Schlegel, Philosophische Fragmente II/1, Nr. 846, 1798, KFSA 18, 265; cf. Brief an Novalis, 2. 12. 1798, NS 4, 510; Lucinde 1799, KFSA 5, 20; Ideen, Nr. 61, in: Athenaeum 3, 1800, 15, KFSA 2, 262. 141 Schlegel, Philosophische Fragmente II/2, Nr. 510, 1800/01, KFSA 18, 364. 137 Schlegel,
3. Der buchstäbliche Buchstabe
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Zeichen zu folgen, die auf Umkehrung des Verhältnisses pochen. Dass Theologie aus Geist und Buchstaben gemacht wird, dokumentierte die Geschichte des Neuprotestantismus hinlänglich. Dagegen blieb die Theologie aus Buchstabe und Geist genauso wie die Frühromantik in einem schwindsüchtigen Serbeln, dem gute Besserung zu wünschen gewesen wäre. Wir verbinden mit dem buchstäblichen Buchstaben nichts Saturiertes, eher etwas Spektrisches, in dem sich der Unruhegeist kundtut, der die Lesetheologie in Gang setzt. Ermessen wir die Wegstrecke, die vom heiligen zum buchstäblichen Buchstaben führt, so ist sie von nicht geringer Länge. Das delphische E: Ein einziger Buchstabe, der als Zahl und Buchstabe genügt, um Bedeutung auf sich zu ziehen wie kein anderer, und am Ende von der Partikel bis zum Satz alle grammatischen partes orationis umfasst und in sich ballt. Kein Buchstabe vermöchte heiliger zu sein als dieser, der an Allbedeutsamkeit streift. Das delphische E ist ein Zuviel an Bedeutung. Dagegen das patmische ΑΩ: Kombination eines Buchstabenpaars, das wie kein anderes die Eckpunkte des Alphabets wie der Vokalreihe markiert und alle erdenklichen Laute umfasst, sie sowohl im innersten Kern zur Fusion bringt, als auch durch Diffusion wieder unterscheidet. Nicht leicht vermöchten Buchstaben heiliger zu sein als diese, die an den Alllaut rühren. Das patmische ΑΩ ist ein Zuviel an Laut. Welche Paradoxien eintreten, sobald der Laut (ϕωνή, vox) nicht der Definition, sondern umgekehrt der Infinition unterliegt, war beim οὐδὲν ἄϕωνον des Paulus ebenso wie bei der Entgrenzung der ϕωνή durch Platon zu sehen. Heiliger Buchstabe, sei es als einzelner, sei es als Verschmelzung zweier: die Heiligung geschieht als Aufladung des Einen mit Bedeutung oder Laut, bis das Eine fast Alles ist, Allbedeutung oder Alllaut. In der Tat beginnt die Theologie des Lesens mit dem Buchstaben; beginnt sie aber mit ihm als heiligem, dann ist sie im Moment des Beginns schon beendet. Dagegen legten die Untersuchungen zu Buchstabe und Laut, was die Grammatik, und zu Buchstabe und Geist, was die Theologie anlangt, trotz übermächtigen Vordrängens des heiligen Buchstabens die Umrisse des buchstäblichen Buchstabens frei, der jenem so entgegengesetzt ist wie nur möglich. Wie das Phonem nach seiner linguistischen, strikt phonologischen Definition das Element der Sprache ist, dem nicht Bedeutung, sondern nur Fähigkeit zur Bedeutung zukommt,142 dessen Bedeutungslosigkeit mithin nicht schlechthin unbedeutend ist im Sinn des nihil negativum, sondern im Sinn des nihil privativum nicht unbedeutend schlechthin, sodass ebendieses Element, weit entfernt davon, Alles oder Nichts zu sein, sich so präzis wie prägnant als fast Nichts oder nicht Nichts zu erkennen gibt: so folgt das Graphem dem Phonem auf dem Weg ins 142 Jakobson, Zur Struktur des Phonems 1939, SW 1, 290, 299, 304, 310: Phonem hat keine positive Bedeutung; SW 1, 292: bedeutet nichts. Trubetzkoy, Grundzüge der Phonologie 1987: Phonem einerseits als „die Gesamtheit der phonologisch relevanten Eigenschaften eines Lautgebildes“ (35, gesperrt), andererseits als „ein in noch kleinere distinktive (‚phonologische‘) Einheiten nicht weiter zerlegbares Glied“ (39).
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§ 2 Buchstabe und Laut
Unendlichkleine. Es löst sich aus seiner hieratischen Starre und verflüssigt sich überallhin. Abstrahiert man von dem fast unhörbaren Geräusch, das die Feder auf Papier, oder der „Griffel eines guten Schreibers“143 auf festem Schreibgrund hervorruft, bildet das Graphem bei Ausschließung alles Phonischen ein akustisches Beinahe-Vakuum, das in seiner Widerspannung so präzis wie prägnant Lärm der Stille genannt werden kann.144 Das beschreibt den rasenden Zustand, in dem nichts, was den Augen begegnet, nicht so begegnet, als ließe es sich beinahe lesen.145 Nicht dass er gelesen werden kann, sondern gelesen werden will: das ist die Definition des buchstäblichen Buchstabens. Der buchstäbliche Buchstabe zieht eine Art von Aufmerksamkeit auf sich, die als Andacht zum Unbedeutenden charakterisiert worden ist.146 Hier tritt sie so auf, dass sie in nichts nicht Buchstaben erkennen will. Das Graphem hat nicht nur keinen Laut, sondern auch keine Bedeutung. Aber nicht dass es deshalb unbedeutend wäre schlechthin oder lautlos und schlechthin still. Während die Andacht zum Kleinen und selbst die zum Kleinsten, wie von der klassischen Definition des Buchstabens als „pars minima vocis articulatae“ gefordert, immerhin etwas hat, womit sie beginnt, beginnt die Andacht zum Unbedeutenden, die wir zu Beginn der Lesetheologie voraussetzen, mit dem Unendlichkleinen eines NichtNichts, das im Graphem am Rande des Sichtbaren gerade noch vor Augen tritt und in der rasenden Stille des verschwindenden Schreibgeräuschs gerade noch an die Ohren dringt. Beginnt die Theologie des Lesens mit dem Buchstaben? Das ist die Frage, die auf den ersten Anhieb bejahend nur für den heiligen Buchstaben beantwortet werden konnte, wenn auch mit der Folge, dass dann der Beginn das Ende ist. Beginnen wir dagegen mit dem buchstäblichen Buchstaben, so ist, was beginnt, nicht schon Theologie des Lesens. Mehr: Es ist noch nicht einmal Lesen, was wir in Beziehung auf den buchstäblichen Buchstaben tun. Buchstaben werden nicht gelesen. Sie werden buchstabiert. Und dennoch, wenn überhaupt etwas gelesen wird, dann Buchstaben. Wir befinden uns in der fundamentalen Asymmetrie: Lesen bezieht sich auf nichts als auf Buchstaben, aber kein Buchstabe wird als einzelner gelesen. Das ist die Unruhe, die vom buchstäblichen Buchstaben ausgeht. Der Buchstabe wird gelesen und nicht gelesen. Und ebenso: Der Buchstabe ist schon alle Theologie und ist es nicht. Wer liest, buchstabiert nicht. Der buchstabierte Buchstabe – das ist der buchstäbliche – ist nur die Kehrseite des gelesenen. Mit ihm spannen wir die Sehne des Bogens in die falsche Richtung soweit es nur geht, damit der Pfeil in die richtige schnelle. Nur deshalb ziehen 143
Ps 45,2. Nietzsche, Dionysos-Dithyramben 1888, KGW VI/3, 402,21: „oh todtenstiller Lärm!“ 145 NZZ, FA 58, 12. 3. 1993, 28, über Bundesrätin Ruth Dreifuss: „Sie las alles, was ihr in die Hände kam […]. Auch heute könne sie ‚kein Zeichen auf einem weissen Blatt‘ ungelesen lassen.“ 146 Vf., Die Andacht zum Unbedeutenden 2008. 144
3. Der buchstäbliche Buchstabe
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wir den Buchstaben aus der Verbindung mit Laut und Geist heraus, soweit es geht. Im Rückblick auf die Überschrift Buchstabe und Laut ist zu betonen, dass „und“ durchaus nicht Verbindung bezeichnet, sondern Abstoßung, Entgegensetzung. Hier beherrscht der als buchstäblich definierte Buchstabe die Szene so weit, dass er den Laut nahezu verdrängt. Nahezu, nicht ganz. So beginnt die Lesetheologie an dem Punkt, der ihrem Ziel am weitesten entgegengesetzt ist. Nicht dass der Bogen bis zum Anschlag gespannt wäre. Es gibt keinen Anschlag. Es gibt nur den extrem gespannten Punkt der Lautstille und der Buchstabenvermutung, an dem Unbedeutsamkeit und Alllaut sich berühren.
§ 3 Schrift und Sprache Das Verfahren der Theologie des Lesens wird ein solches ständiger Selbstkorrektur sein. Nicht dass frühere Annahmen abwegig gewesen wären. Doch selbst wenn sie notwendig waren, sind sie nicht hinreichend. Der Buchstabe wird auch künftig im Blick bleiben, und trägt gleichwohl das Element schon in sich, das über die ersten Annahmen hinaustreibt. Und was das Treibende ist, wird erst auf dem Umweg über den Buchstaben erkennbar, sofern dieser bis zum Äußersten isoliert wird. Die Erfahrung mit dem Buchstaben im Rücken, erkennen wir: Ein Buchstabe ist nie allein, empfängt vielmehr seinen Status aus dem Zusammenhang mit anderen. Wenn aber mit den Buchstaben, dann mit der Schrift. Die Schrift fordert, ermöglicht aber auch, einen Buchstaben weiteren Buchstaben zuzuordnen. Was ist Schrift? Sie ist das endliche Set von Buchstaben, dessen der Einzelbuchstabe bedarf, um in der Vielfalt der Zeichen sicher erkannt zu werden. Die Selbstkorrektur, die beim Übergang von Buchstabe und Laut zu Schrift und Sprache vollzogen wird, ist auf der linken Seite der Überschrift die Anerkenntnis, dass, um vom Buchstaben deutlich zu reden, ein Wissen von Schrift impliziert gewesen sein muss, das nun zu explizieren ist. Es verhält sich wohl so, dass wir uns selbst hinterherrennen. Diese nicht ganz alltägliche Figur, die hier erstmals in Erscheinung tritt, wird sich fortsetzen, und erst wenn sie zum Verschwinden kommt, wird der Kurs, der im Zeichen von Lesetheologie steht, zu Ende gekommen sein. Ich rede von Kurs, weil hierzu die Bewegungsweise des Laufens gehört. Lesekunst ist der Versuch, den Parcours explizit zu machen, den das Lesen uns abnötigt, in dem es sich aber auch erschöpft. Lesen ist viel, aber nicht alles. Die Schrift ist auf dieser zweiten Etappe nur der eine Teil dessen, was uns beschäftigt, wenngleich der den Lesern nächstliegende, hauptsächlichste. Wie in Buchstabe und Laut der Buchstabe großgemacht, der Laut zurückgedrängt wurde, wiewohl mit dem Resultat, dass er sich nicht verdrängen ließ, sondern widersetzlich blieb, so kann die zu eröffnende Sicht auf Schrift nicht stattfinden, ohne dass ein Wissen von der Sprache im Rücken liegt. Es wäre unsinnig, die Schrift von der Sprache zu isolieren, auf die sie doch jeden Moment bezogen ist. Aber es ist klar, dass wir nicht die Reihenfolge Sprache und Schrift vorschlagen können, sondern nur umgekehrt. Daraus folgt, dass die Sicht auf Mündlichkeit und Schriftlichkeit, dieses große Thema der Medientheorie der letzten Jahrzehnte, über die bloße Entgegensetzung beider von vornherein hinaus ist. An keiner Stelle wird die Ursprünglichkeit des mündlichen Wortes vorausgesetzt, der durch die Verschriftlichung ein Unglück zugestoßen wäre, etwa der Ab-
§ 3 Schrift und Sprache
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fall von der Seelenwärme der Oralität in die technische Kälte der Literalität: ein Temperatursturz, der in protestantischen Äußerungen zum Evangelium als dem „fröhlichen Geschrei“ unbedacht beklagt wird. Derselbe Protestantismus, der für sich besondere Nähe zum gesprochenen Wort in Anspruch nimmt, beansprucht im nächsten Moment exklusive Berufung auf die Schrift, und diesen Widerspruch hat er vielfach nur fortgesetzt, nicht zur Lösung gebracht. Will er nicht in der in Philosophie, Medientheorie, Linguistik und Literaturwissenschaft im Gang befindlichen Diskussion über Schrift und Sprache in die Rolle des Dogmatisten verfallen, der nur den Finger hebt, wenn es ihm passt, muss er sich der Argumentation aussetzen. Christian Stetter setzt sich Schrift und Sprache, nicht Sprache und Schrift zum Thema, weil er es nicht mit dem Primat der Oralität und nicht mit der Sekundarität der Literalität zu tun hat, und von der Ursprünglichkeit der Oralität schon deshalb nichts weiß, weil er vom Ursprung nichts weiß, wohl aber von der nichtursprünglichen Schrift. Auf dem langen Weg der „Kohabitation“ mit der Sprache habe die Schriftlichkeit die Mündlichkeit längst durchdrungen und zu einer anderen gemacht. Es geht zwar, wie Stetter sagt, „um das Verhältnis von Sprache und Schrift bzw. von Schrift und Sprache – was nicht dasselbe ist.“1 Das heißt: Es geht um das Verhältnis von Schrift und Sprache, wie denn sein Buch heißt. Entscheidend ist, dass sich „das Verhältnis von Sprache und Schrift, bis dahin immer gedacht als Subordination“, umkehrt. Anstelle von Subordination wäre richtiger von Interaktion zu sprechen, „was eine relative Autonomie beider ‚Repertoires‘ voneinander implizierte“ und den Blick für Rückkopplungen öffnete.2 Warum also Schrift und Sprache statt Sprache und Schrift? Einzig um den alten Fehler der Subordination der Schrift unter die Sprache zu unterbinden, nicht aber um dem neuen Fehler des umgekehrten Dogmatismus zu verfallen, der noch einmal Subordination fordert, nur diejenige der Sprache unter die Schrift. Dieser wird oft mit dem Werk Jacques Derridas in Verbindung gebracht. Zu Unrecht. Mit der Schrift, erst mit ihr, treten wir dem Lesen näher. Dass der Buchstabe gelesen wird, ist zwar notwendig, aber keineswegs hinreichend. Einerseits gilt: Nur der Buchstabe kann in strengem Sinn gelesen werden; und doch hat niemand gelesen, der allein Buchstaben gelesen hat. Andererseits gilt also: Der Buchstabe allein wird nicht gelesen stricto sensu. Und selbst wenn der Buchstabe pluralisiert wird zu den Buchstaben, ist die Ebene, die zum Lesen erfordert wird, noch nicht zuverlässig erreicht. Viele Buchstaben: das ist Buchstabensalat. Erst wenn sie sich qualifizieren als Elemente von Schrift, werden Lesen und Buchstabieren unterscheidbar. Was beim Übergang vom Buchstabieren zum Lesen stattfindet, entspricht der Form der Selbstkorrektur. Nicht dass mit dem Lesen der Buchstabe vergeht, nicht dass er beiseite gesetzt wird zugunsten eines An1 2
Stetter, Schrift und Sprache 1997, 9. Stetter, ebd. 139 f.
§ 3 Schrift und Sprache
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deren, etwa des Geistes. Das wäre Korrektur. Selbstkorrektur findet statt, wenn dasselbe anders wird, mehr: wenn es – ebenderselbe Buchstabe – anders zu werden genötigt wird. Dann kann er die Funktion übernehmen, der er als isolierter Buchstabe nicht gewachsen ist. Offenbar verfolgt Lesen seine eigene Teleologie, es gibt besseres und schlechteres, gelingendes und misslingendes. Und es gibt vor allem den Zustand vor dem Lesen, das Noch-nicht-einmal-Lesen-Können. Die in Kurs befindlichen Urteile über die Fähigkeit des Lesens, deren Steigerung oder Minderung und deren Bedingungen deuten darauf hin, dass Lesen ein Prozess ist, der von Selbstkorrektur zu Selbstkorrektur führt. Selbstkorrektur äußert sich im Wunsch, mehr zu lesen. Allein, Mehr-Lesen heißt nicht, mehr zu lesen; der Wunsch bezieht sich vielmehr darauf, das Wenige, was gelesen wird, mehr zu lesen. Der Wunsch nach mehr schlägt um von Quantität in Qualität. Das stimmt mit der Figur überein, die durch die Schrift zum Buchstaben und zu den Buchstaben hinzukommt. Wäre der Buchstabe einer, müssten die Buchstaben ins Unendliche gehen. Jedoch als ins Unendliche gehende Anzahl von Buchstaben würden sie ihre Funktion sofort verlieren. Die Schrift macht, dass ein endliches Set von Zeichen – bei der Alphabetschrift sogar ein höchst endliches, schnell überschaubares – unendliche Aufgaben übernimmt. Um den Begriff vorwegzunehmen: Die Schrift ist der Kanon der Buchstaben. Sie bewirkt, dass die Buchstaben sich nicht in schlechte Unendlichkeit verlieren. Durch die Kanonisierung ihrer quantitativen Endlichkeit erlangen sie die Chance qualifizierter Unendlichkeit. Es steht außer Zweifel, dass die Kanonisierung der Buchstaben durch Schrift die Figur der Selbstkorrektur erstmals ad oculos demonstriert, aber es ist ebenso klar, dass das Pensum von Selbstkorrekturen aus der inneren Teleologie des Lesens damit keineswegs erschöpft ist. Vor diesem Hintergrund empfiehlt sich folgendes Vorgehen. Da der Fortgang der Lesetheologie nur in Abstimmung mit der linguistischen und philosophischen Debatte über die Schrift erfolgen kann, sticht als erstes der Terminus „Schriftprinzip“ ins Auge, den Stetter neu einführt, um der Schriftvergessenheit entgegenzuwirken, die er beklagt.3 Schriftprinzip ist aber nicht nur ein Terminus der Linguistik, für den Stetter wirbt, sondern auch ein längst eingeführter Terminus der Theologie, vornehmlich der protestantischen. Dadurch entsteht die Situation, dass auf der einen Seite das protestantische Schriftprinzip, das die versprochene Klarheit des Von-sich-selbst-her-Einleuchtens des Schriftsinns entweder nie erreicht oder im Lauf seiner Überlieferung mehr und mehr verliert, zu seinem Erstaunen darauf stößt, dass anderswo, in Linguistik und Philosophie, das nichttheologische Schriftprinzip am Erstarken ist, während auf der anderen Seite die Inanspruchnahme des Schriftprinzips durch eine nichttheologische Wissenschaft daran erinnert werden darf, dass dieser Terminus bereits ein Gedächtnis hat und trotz manifesten Schwächelns nicht zur freien Verfügung steht. 3
Stetter, ebd. 43 f, 63, 471.
1. Das Schriftprinzip
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Daher erstens: Das Schriftprinzip. Damit ist die Sicht auf Schrift und Schriften eröffnet, und es gilt, das Feld zu ermessen, das sich in der Spannung zwischen Schrift überhaupt, also der Schriftlichkeit, und dieser ganz bestimmten Schrift, um die es gerade geht, also nicht nur Schrift überhaupt, ergibt. In jedem Fall ist deutlich, dass man das Eine nicht ins Auge fassen kann ohne das Andere. Denn so klar es ist, dass die Theologie des Lesens darauf hinzielt, eine ganz bestimmte Schrift, nämlich die heilige, und mit ihr ganz bestimmte Schriften, die hebräische, griechische und lateinische ins Werk zu setzen, wird dies nicht möglich sein, ohne mit der Stärkung dieses besonderen Aspekts zugleich den Aspekt von Schrift überhaupt und also von Schriftlichkeit im allgemeinen zu stärken. Wie es umgekehrt als selbstverständlich betrachtet werden muss, dass die Generalisierung von Schrift zur Schriftlichkeit nicht möglich ist, ohne dass die Spezialisierung zu bestimmten Schriften gleiche Stärke gewinnt. Daher zweitens: Schrift, Schriften und Schriftlichkeit. Allerdings schieben solche Erwägungen, indem sie sich allein auf Schrift konzentrieren und ausschließenden Charakter annehmen, die Mündlichkeit als Ausgeschlossenes ständig vor sich her. Die hier anzutreffenden Kräfteverhältnisse gleichen denen am Ende des vorigen Paragraphen. Dort ging es darum, den Laut in seiner herzzerreißenden Übermacht zurückzudrängen, einzudämmen – zu koërzieren – so gut es nur geht. Er kommt sowieso. Aber es gilt, sein Kommen und Nicht-nicht-Kommen so einzurichten und zu kanalisieren, dass es nicht bloß überwältigt, sondern vernehmlich wird. Genauso wird am Ende dieses Paragraphen deutlich: Gesichtspunkte der Mündlichkeit, der Sprache und des Wortes werden durch die Konzentration auf das Schriftprinzip nur hingehalten, nicht aufgehoben. Sie kehren mit der ihnen eigenen Gewalt wieder; das Mündliche ist nur eine bestimmte Gestalt des Lautes, von dem die Rede war. Gerade indem sich die Lesekunst als Umgang mit Buchstaben und Schrift streng auf das Ihre fokussiert, erscheint an ihren Rändern ein Anderes als Lesen, und dieses Andere heißt auf der Ebene dieses Paragraphen Sprache. Daher drittens: Schrift und Sprache.
1. Das Schriftprinzip Schriftprinzip ist, wie wir sahen, äquivok. Es gibt ein theologisches und ein philosophisches, ersteres im älteren Protestantismus, letzteres in der neueren Linguistik. Nun droht es zur Äquivokationsfalle zu werden. Bevor wir darauf zugehen, ist eine Frage zu stellen, die beide Seiten gleich betrifft. Was ist Prinzip am Schriftprinzip? Dass es möglichst streng gefasst werden sollte, versteht sich von selbst. Aber wie streng ist es in diesem Fall zu fassen? Es genügt nicht, darunter lediglich einen Satz zu verstehen, der anderen an Gewicht und Geltung vorangeht, wie ja ἀρχή, das griechische Äquivalent, beides heißt: Anfang und Herrschaft. Gefragt wird nicht nach Sätzen, die als Folge übergeordneter
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§ 3 Schrift und Sprache
Prinzipien erklärt werden können, sodass das Prinzip einen relativen, weil fließenden Sinn annimmt. Gefragt wird vielmehr nach einem Prinzip, das keines anderen Satzes Folgesatz ist. Dazu genügt nicht, dass es mit Aristoteles komparativ „einsichtiger“ (γνωριμώτερον) als der Folgesatz genannt wird.4 Sondern gefordert wird, dass es mit demselben Aristoteles superlativisch als „einsichtigstes“ (γνωριμωτάτη) und „festestes Prinzip von allen“ (βεβαιωτάτη […] ἀρχὴ πασῶν) zu bezeichnen ist.5 Löst der Begriff des Prinzips ein Gefälle aus, das erst zur Ruhe kommt, wenn Letztbegründung in Reichweite kommt? Bei der obersten und letzten ἀρχή zeigt sich, dass diese, um die schlechthinnige Stellung zu gewinnen, die kein weiteres Warum und Woher zulässt, den Rang einer ἄναρχος ἀρχή beansprucht. Wenn aber ἄναρχος ἀρχή, dann ist, was Anfang bietet für anderes, ohne Anfang für sich selbst. Das lässt den Riss der Negation erkennen, die aus dem ersten Satz, selbst wenn er in Gestalt einer Affirmation gefasst ist, nie weichen wird. Ebender Satz, der zur Lösung von Aporien der Folgesätze dienen soll, ist aporetisch in sich selbst, und dieses systemische Problem macht aus dem ersten Prinzip eine oberste Aporie. Damaskios, letztes Schulhaupt der Akademie, hat sie in die Frage gefasst: „Ist das, was man das einzige Prinzip des Ganzen nennt, jenseits des Ganzen oder ist es ein Teil des Ganzen, wie der Gipfel dessen, was aus ihm hervorgeht?“6 Das Entweder/Oder dieser Frage verweist auf ein hintergründiges Weder/ Noch, jedoch ein solches, in dem zu verharren in jedem faktischen Moment unmöglich ist. Steht das Prinzip jenseits des Ganzen, dann ist das Ganze nicht das Ganze gewesen; ist es aber Teil des Ganzen, kann es nicht dessen Prinzip gewesen sein. Damit wird deutlich, dass dem Prinzip, je prinzipieller es mit dem ihm eigenen Gefälle gedacht wird, durchaus nicht die Ruhe zukommt, die erwartet wurde. Es oszilliert in der Unruhe eines Paradoxes. Mit dem Schriftprinzip wird es nicht anders sein. Prinzipien gewinnen an Prinzipialität, je formaler sie sind. In Hinsicht auf das Schriftprinzip ist zu fragen: Handelt es sich um ein auf Schrift – was immer diese ist – angewandtes, also materiales Prinzip neben möglichen anderen, oder hat das Prinzip an sich schon etwas mit Schrift zu tun, sodass diese nicht wieder von ihm abgezogen werden kann? Womöglich liegt die Antwort darin, dass die Prinzipien, von denen wir hier sprechen, die Gestalt von Sätzen haben und das aus ihnen Folgende die von Folgesätzen. Satzhaftigkeit ohne Schriftlichkeit ist schwer denkbar. Schrift und Prinzip stoßen nicht aufeinander wie Inhalt und Form, sondern sind in früherer Weise miteinander verbunden.
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Aristoteles, Anal. post. I 2, 72b1. Aristoteles, Met. Γ 3, 1005b11 f. 6 Damaskios, De princ. I 1; zit. nach Aubenque, Art. Prinzip 1989, 1343. 5
1. Das Schriftprinzip
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a. Das theologische Schriftprinzip Der aristotelisch gefasste Begriff des Prinzips (ἀρχή) war nur eine von mehreren Formen des altprotestantischen Schriftprinzips. Mit ihr konkurrierten in der Frühen Neuzeit die rhetorische, lullistische und ramistische.7 Doch früher als alle Schulfassungen war die Rede von der Heiligen Schrift als primum principium der Theologie, mit der Luther begonnen hat. Sie ist die erste Fassung des theologischen Schriftprinzips. Beginn des Altprotestantismus
Während Philipp Melanchthon es bis zur letzten Fassung der Loci praecipui theologici vermeidet, den Terminus Prinzip, der seinen herkömmlichen Ort in der naturalis notitia hat, in den Kontext der doctrina ecclesiae zu überführen, daher auch keinen Grund sieht, der Reihe seiner Loci einen solchen de scriptura sacra vorauszuschicken,8 beginnt Jacob Heerbrand damit, eben einen solchen an den Anfang zu setzen; er begründet dies damit, die Schrift sei „commune […] et irrefragabile principium, origo et fundamentum totius theologiae, de quo a nemine dubitatur.“9 In Konkurrenz mit der philosophischen Theologie der Metaphysik, die den Prinzipien der naturalis notitia dei folgt, postuliert sodann Johann Gerhard für die theologische Theologie, sie beruhe auf der Heiligen Schrift als ihrem einzigen Prinzip. Er beginnt mit dem Locus primus de scriptura sacra, und diesen mit dem Satz: „Cum Scriptura Sacra sit unicum et proprium theologiae principium, ideo ab ea meritum initium faciamus.“10 Allerdings unicum theologiae principium ist die Schrift nur, wenn sie als principium cognoscendi mit Gott, dem der zweite Locus gewidmet ist, als principium essendi zur Einheit verbunden wird. Nur wenn die Heilige Schrift ist und wirkt, was Gott ist und wirkt, vermag sie unicum principium zu sein. An dieser Stelle wird der Druck spürbar, der, scharf betrachtet, die Heilige Schrift der Verschiebung unterwirft. Gott ist Wort, und indem er redet, wirkt er sein Wort. Dieser biblische Sachverhalt wäre angemessener mit verbum zu verbinden. Wenn daher die Zweiheit von Schrift als principium cognoscendi und Gott als principium essendi tatsächlich in die Form eines einzigen Prinzips gezwungen werden soll, empfiehlt es sich, von scriptura sacra zu verbum dei überzuwechseln. So Gerhard: „Principium Theologiae μόνον καὶ οἰκεῖον est Dei Verbum.“11 Oder: „Unicum theologiae principium est verbum Dei.“12 Aber indem nun beide PrinTopica universalis 1983. Melanchthon, Loci praecipui theologici 1559, WW II/1, 168 f, in: Ratschow, Lutherische Dogmatik 1, 1964, 23 Anm. 1; ders., Liber de anima 1553, WW III, 340 f. 9 Heerbrand, Compendium theologiae 11573, in: Ratschow, ebd. 24 Anm. 4; 73 Anm. 2. 10 Gerhard, Loci theologici (11610) 1, 1885, 13a , in: Ratschow, ebd. 73 Anm. 4. 11 Gerhard, Aphorismi succincti 1611, A1r. 12 Gerhard, Loci theologici 2, 1864, 1a, in: Ratschow, ebd. 73 Anm. 4. 7 Schmidt-Biggemann, 8
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§ 3 Schrift und Sprache
zipien der Theologie in eines koinzidieren,13 wird die Zweiheit der Schrift angelastet, von der man nicht mehr weiß, ob sie Schrift oder Wort ist. Und in jedem Moment, in dem die behauptete Koinzidenz argumentativ belastet wird, droht sie in Zweiheit von Schrift und Wort zu zerfallen. Nicht nur die Differenz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit bleibt unreflekiert, nicht nur bleibt ungeklärt, ob die Externität des göttlichen Wortes definiert wird durch Schriftlichkeit oder dadurch, dass bereits das gesprochene und nach außen getragene Wort die externe Seite eines verbum internum darstellt, sondern es zeigt sich auch, dass Inneres und Äußeres, Internes und Externes sich nicht nur als Entsprechung zueinander verhalten, sondern bis zum Widerspruch auseinandertreten. Ende des Altprotestantismus Tritt somit der Fall ein, dass zwar Inhalte der schriftlichen Schrift entnommen werden können, aber die Form ihrer Wirksamkeit erst zur Geltung kommt, wenn sie als mündlich gesprochenes verbum dei erfahren wird, folgt daraus eine Lockerung des Schriftprinzips, die auf dessen Auflösung hinwirkt. Die Geschichte des protestantischen Schriftprinzips zeigt dies. Schon Johann Friedrich König konnte die ursprüngliche Fassung des Schriftprinzips nicht mehr aufrechterhalten. Nur insoweit scheint ihm Schrift als principium cognoscendi, wie sich diese, was immer sie lehrt, als inspiriert erweist; nur dann ist sie unfehlbar. „Quidquid scriptura sacra docet, divinitus inspiratum adeoque infallibiliter verum est.“ Erst durch Vermittlung dieser These, die mittels Inspiration dem Buchstaben Geist zuspricht, erlangt die Schrift den Rang eines Erkenntnisprinzips der Theologie. Sie hat ihn nur noch vermittelt inne. Muss aber, damit die Schrift Prinzip sei, diese erst in den Zustand versetzt werden, ein solches zu sein, dann hat die Prinzipialität des Prinzips Schaden genommen.14 Was Prinzip war, kommt bereits irgendwoher. David Hollatz spricht denn auch davon, Prinzipien bedürften eines fons principiorum apodicticorum; das Prinzip der Schrift braucht Beglaubigungsgründe, um in seine frühere Funktion gehievt zu werden.15 Nun ist sie nicht mehr bedingungslos erstes Prinzip: „non tamen absolutè & simpliciter primum est principium.“ Sie wird dies erst vermittels eines Syllogismus. Prinzip ist die Schrift nur als zum Prinzip gemachte: „Sacra Scriptura est principiata, ejusqve infallibilis veritas ex alio medio Termino est educta.“16 Das Schriftprinzip ist zum prinzipiierten Prinzip geworden. Wenn gegen Ende der altprotestantischen Epoche 13
Musaeus, Introductio in theologiam 1678, in: Ratschow, ebd. 73 f Anm. 6: coincidunt. König, Theologia positiva acroamatica 11664, in: Ratschow, ebd. 71. 15 Hollatz, Examen theologicum acroamaticum 11707, Prol. III q. 1 obs. 2., 1, 85, in: Ratschow, ebd. 75 Anm. 9. 16 Hollatz, ebd., Prol. III q. 2 prob. c, 1, 89, in: Ratschow, ebd. 75 Anm. 9. 14
1. Das Schriftprinzip
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Johann Franz Buddeus Gründe anhäuft, die aus der Schrift ein Erkenntnisprinzip der Theologie machen,17 wird allein durch die Länge des Weges, auf dem das altprotestantische Schriftprinzip noch einmal ins Werk gesetzt werden soll, dessen Unerreichbarkeit besiegelt. Oder, wie Carl Heinz Ratschow festhält, der Sinn des Schriftprinzips ist „genau in sein Gegenteil verkehrt. Grund und Folge sind vertauscht.“18 Nicht nur der Ansatz des Neuprotestantismus, der durch Schleiermacher so solenn wie monoton vorgetragen wird, sondern auch die Restaurationsversuche des 19. Jahrhunderts, die dem zum Formalprinzip degradierten alten Schriftprinzip durch Materialprinzipien konfessionellen Inhalts zu Hilfe eilen, wird so erst möglich. Im zurückliegenden Paragraphen wurde gegen Schleiermachers Ansatz bei Geist und Buchstabe die frühromantische Opposition Buchstabe und Geist stark gemacht. Nachdem der neuprotestantische Ansatz im jetzigen Paragraphen durch seine Herkunft aus dem Debakel des altprotestantischen Schriftprinzips vertieft wurde, stellen sich erst recht Fragen, die durch die Option der Frühromantik zwar angestoßen, aber nicht beantwortet wurden. Vermag fortgesetztes Interesse am Schriftprinzip sich aus der protestantischen Verfallsgeschichte auszuklinken? Haben Friedrich Schlegel und die Frühromantik in der ihnen eigenen Nonchalance etwas erkannt, was nach Ende des Schriftprinzips dem Schriftprinzip zugutekommt? Gibt es ein philologisches, philosophisches Schriftprinzip? Martin Luther Zuvor scheint es angezeigt, in der Entwicklung des protestantischen Schriftprinzips noch hinter die ältesten altprotestantischen Fassungen zurückzugehen. Die Spur von principium, angewandt auf die Heilige Schrift, weist auf Luthers Vorwort zur Assertio omnium articulorum zurück.19 In diesem Gründungstext des Schriftprinzips wird nicht nur principium, sondern auch principium primum geradezu hervorgebracht. So gegenwärtig sein aristotelischer Hintergrund ist: seine Hervorbringung steht unter allen Anzeichen des heftigsten Antiaristotelismus. Ein und derselbe Begriff ist Gegenstand von Abstoßung und Anziehung: Abstoßung, sofern aristotelischen, Anziehung, sofern biblischen und, wie sich zeigen wird, insbesondere psalmischen Ursprungs. Der Nachweis von Prinzipien gehört zu den Grunderfordernissen aristotelischer Wissenschaftslehre. Dem suchen die Scholastiker zu entsprechen, indem sie aus Aristoteles die Form des „principium (quod dicunt) primum“ entlehnen.20 Luther zitiert und markiert ausdrücklich den Zitatcharakter. Nicht er, Luther, 17 Buddeus, Institutiones theologiae dogmaticae 11724, 155 f: sequitur, in: Ratschow, ebd. 76 Anm. 10. 18 Ratschow, ebd. 76. 19 Luther, Assertio omnium articulorum 1520, Praemonita, WA 7, 95,10–101,9. 20 Luther, ebd., WA 7, 97,28.
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spricht so. Statt dass die scholastische Theologie die göttliche Schrift richtig zum Glanz bringt, stößt sie diese durch aristotelische Wissensformen tiefer ins Dunkle. Ist somit klar, dass die Rede vom Prinzip eine aristotelische Eigendynamik an sich trägt, die aus Luthers Sicht in die Irre führt, dann ist ebenso klar, dass die protestantische Rede vom Schriftprinzip, ebenfalls aus Luthers Sicht, Widersinniges zusammenspannt. Sie ist eine kalkulierte Provokation. Nur wenn sich der aristotelische Sinn in einen theologischen überführen lässt, sitzt der Terminus Schriftprinzip richtig. Und nur mit diesem Doppelsinn, der Nein und Ja umfasst, wird er von Luther dem Protestantismus übergeben. Das Nein, das der aristotelischen Wissenschaftslehre das erste Wort zu entwinden sucht, ist nur Kehrseite eines psaltertheologischen Ja, das sich auf Psalm 1 Beatus vir und Psalm 119(118) Beati inmaculati in via stützt. Wie Psalm 1 den Anfang des Lesens der Heiligen Schrift nicht nur beschreibt, sondern Tag und Nacht vollzieht, und wie als beatus vir nur derjenige gilt, dessen Angesicht gleich dem des Moses (facies Mosis) im Glanz erstrahlt,21 solange er von Angesicht zu Angesicht in das Gesicht der Schrift (facies scripturae) blickt, die ihrerseits in Glanz und Klarheit erstrahlt,22 so trägt Psalm 119 diesen Anfang in seiner jedesmaligen Wiederholung in die Lektüre der Schrift hinein. Dank seiner Wiederholungsstruktur ist Psalm 119, der Octonarius,23 nicht nur Schriftprinzip in anhebender, sondern auch in andauernder Aktion. Daher spielt er in Widmungsbrief 24 und Vorwort25 eine hervorragende Rolle. „Declaratio verborum tuorum“ – so der Wortlaut des Psalterium Gallicanum 119,130 – „illuminat.“ Sogleich korrigiert Luther das Missverständnis, als bedürfe Gottes Wort der Erklärung. Die Fassung des Psalterium iuxta Hebraeos „apertum seu ostium verborum tuorum“ zeigt: Es ist die in Gottes Wort geschehende Öffnung und Erschließung, die ihrerseits alles erklärt. „Declaratio verborum tuorum“ ist kein objektiver, sondern ein subjektiver Genitiv; er bereitet die claritas scripturae vor, die Luther später entwickeln wird.26 Nur wenn im Sinn des Psalms das Wort Gottes als „apertum seu ostium“ feststeht, darf angefügt werden: „seu princpium (quod dicunt) primum“. Der Psalm regiert Aristoteles, nicht umgekehrt. Und der Terminus Prinzip wird nicht nachträglich mit dem Psalm verbunden, sondern ist dessen originales Element: „Principium verborum tuorum veritas“ PsGall 119,160.27 Der Psalm selbst reklamiert den aristotelischen Begriff für seine antiaristotelische Sache. Hier geschieht nicht weniger als das genaue Schriftprinzip des Schriftprinzips, und es voll21
Luther, ebd., WA 7, 97,13 f; Ex 34,29, cf. 2. Kor 3,7.13 f. Praef. Opera Latina 1545, WA 54, 186,8–10; cf. WA 3, 73,32 ff; WA 4, 474,28; 475,1 ff.11. 23 Ps 119: WA 7, 97,32–35. 24 Ps 119,137: WA 7, 94,19. 25 Ps 119,130: WA 7, 97,24–29; Ps 119,160: WA 7, 97,29–32. 26 Luther, De servo arbitrio 1525, WA 18, 609,4–14. 27 PsHebr: Caput verborum tuorum veritas. 22 Luther,
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zieht sich, was als Hypothese vorausging, die Schrift sei „per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans.“28 Aber handelt der Psalm, auf den Luther alles zurückschiebt, tatsächlich vom Schriftprinzip? Handelt er nicht vielmehr vom sprechenden und gesprochenen Wort Gottes? Man wird sich darauf berufen, dass Psalm 1, konzipiert als Vorwort zum Korpus der Psalmen, und Psalm 119, konzipiert als abecedarisches Akrostichon, Schriftlichkeit allenthalben voraussetzt. Nur wird unsere Frage dadurch eher verstärkt als besänftigt. Woher das unbekümmerte, reichlich vorreflektiert wirkende Changieren zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, das uns als Differenz von Schrift und Sprache entgegentritt? Es kann nachvollzogen werden, wenn man sich auf eine minutiöse Betrachtung des Satzes „[n]on esse scripturas sanctas proprio spiritu interpretandas“ einlässt.29 Ihm misst Luther kanonische Geltung bei, und so wird er zum Schauplatz eines unausweichlichen Konflikts. Der Konflikt entsteht schlicht dadurch, dass der kanonische Satz Recht hat. Ist Lesen mit Jorge Luis Borges an sich bereits Denken mit fremdem Gehirn,30 dann lässt sich diese Bewusstseinserweiterung wohl auch dem Lesen von heiligen Schriften nicht versagen. Ein erster Sinn von proprius ist damit am Tag, der nächstliegende; Lesen der heiligen Schriften geschieht wie alles Lesen mit der eigenen, aber nicht nach der eigenen Nase, sonst würde aus dem Text eine wächserne Nase (nasus cereus),31 zu drehen und zu wenden, wohin man will. Man darf die Schrift nicht proprio spiritu, nach eigener Lust und Laune interpretieren. Doch kaum sind der kanonische Satz und die nichteigene Auffassung gegen die eigene akzeptiert, erweist sich, dass die nichteigene Auffassung des Textes auch nur die Qualität einer eigenen hat, nur einer anderen, sei es die eigene etwa Augustins oder Thomas von Aquins. Mit einer in dieser Schärfe nur aus der pyrrhonischen Skepsis bekannten Ruhe wird hier der Verkehrung zugeschaut, die im Verfolg des kanonischen Satzes gerade dessen Misserfolg provoziert. Das erforderte Nicht-Eigene erweist sich seinerseits als Eigenes. Wenn aber die Befolgung der Negation „Scripturas non esse spiritu proprio interpretandas“ ungesäumt zur Negation der Negation führt, „Scripturas non nisi proprio spiritu esse interpretandas“, dann verkehrt sich der erste Sinn von proprius, und es entsteht der zweite. Der Vokabel proprius ist die „perversissima intelligentia“ inhärent.32 Daraus ergibt sich ein Prozess „usque in infinitum“,33 der nicht zu beklagen wäre, würde nicht die Unendlichkeit als Endlosigkeit (sine 28 Luther, Assertio, WA
7, 97,23 f. Luther, ebd., WA 7, 96,10 f; cf. 96,35 f; 98,37; 100,34; römische Lehrtradition DH 1507, 3007, 4219. 30 Borges/Ferrari, Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn 1990. 31 Huizing, Wächserne Nase 1992. Rusterholz, Die wächserne Nase 2005. 32 Luther, ebd., WA 7, 96,11–13; cf. 100,34 f. 33 Luther, ebd., WA 7, 96,30. 29
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fine)34 missverstanden. Dagegen ist zu denken, wie Unendlichkeit, unbeschadet ihrer Unendlichkeit, zu Ende kommen wird (finietur).35 Dies geschieht, sobald die Schrift sich in unendlicher Schleife auf sich selbst bezieht: „scripturas non nisi eo spiritu intelligendas esse, quo scriptae sunt.“36 Der Geist der Schrift ist ein anderer als der eigene Geist, sei es in eigener oder in nichteigener Gestalt; er findet sich nur in den heiligen Buchstaben, die er geschrieben hat, „in sacris suis, quas scripsit, literis.“37 Also ist der spiritus scripturae, um den es hier geht, die Beziehung von Schrift auf Schrift, Selbstbeziehung, wie wiederholt deutlich gemacht wird.38 Nun kommt nach eingetretener Selbstblockade der beiden Erstsinne ein dritter Sinn von proprius ans Licht. Hat die Schrift, gerade als heilige, ein Selbst, so hat sie auch selbsteigenen Geist, und indem proprius beginnt, sich vom eigenen wie nichteigenen Geist zu entfernen und fortzuweisen auf den der Schrift eigenen, werden Negation (non) und Negation der Negation (non nisi) beiseitegelegt und die Einsicht stellt sich ein, heilige Schriften seien ausschließlich durch sich selbst, durch deren eigenen Geist zu interpretieren: „per seipsas et illarum proprium spiritum.“39 Gewinnt die Schrift durch die unendlich-endliche Selbstbeziehung Selbst und Geist, dann bedarf es zu ihrem Verständnis keines weiteren Geistes; sie ist schon aller Geist. Das führt endlich zum vierten Sinn von proprius. Ist die geistliche Bedeutung der Schrift deren Selbstbeziehung, das heißt die Beziehung auf ihre eigenen Buchstaben, dann ist auch die buchstäbliche Bedeutung bereits die geistliche, über die hinaus es eine geistlichere nicht gibt. Die buchstäbliche ist die proprie-Bedeutung.40 Sind mit den vier Sinnebenen von proprius vier – kanonische – Veränderungen des Satzes „non esse scripturas sanctas proprio spiritu interpretandas“ durchlaufen, dann wird deutlich: Die Veränderungen sind nichts anderes als das auffällige Changieren Luthers zwischen heiliger Schrift und göttlichem Wort. Wenn die Selbstbeziehung von Schrift auf Schrift bewirkt, dass diese einen ihr eigenen Geist hat, und wenn es dem Geist eigentümlich ist, dass er spricht, dann liegt hier der reflektierte Sachgrund für das unreflektiert wirkende Hin‑ und Herwechseln zwischen Schrift und Wort.
b. Das philosophische Schriftprinzip Anders als das theologische hat das philosophische Schriftprinzip, das Christian Stetter entfaltet, seinen Sitz nicht in der Identität, sondern in der Differenz. Dies ist der Hauptunterschied, der allen sonst zu nennenden Unter34
Luther, ebd., WA 7, 96,33. ebd., WA 7, 97,20. 36 Luther, ebd., WA 7, 97,1 f. 37 Luther, ebd., WA 7, 97,2 f. 38 Luther, ebd., WA 7, 97,23: per sese; 98,18: per seipsas; 99,2: per seipsam. 39 Luther, ebd., WA 7, 98,18. 40 Luther, ebd., WA 7, 97,25. 35 Luther,
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schieden den Stempel aufdrückt. Identität war die stillschweigende Parole des theologischen Schriftprinzips, dem es letztlich um die Selbigkeit von schriftlichem und mündlichem Wort ging. Sacra scriptura est verbum dei: diese Annahme geistert durch alle protestantischen Äußerungen hindurch. Man hat die Lehre vom protestantischen Schriftprinzip, einerlei ob die altprotestantische, starke wie schwächelnde, oder die Luthers, erst richtig verstanden, wenn man sie als Versuch der Herstellung von Identität versteht, und sei diese noch so schwierig. Hier verhält sich das philosophische Schriftprinzip, das sich sprachphilosophischen Einsichten des 20. Jahrhunderts verdankt, gelassener. Die Philosophie geht davon aus, dass das Schriftprinzip an sich bereits Ausdruck von Differenz ist. Alles, was sie zum Schriftprinzip zu sagen hat, selbst etwaige Aussagen zu einer dahinten liegenden, verlorenen Identität, kann nur in Form einer voranschreitenden Ausdifferenzierung vonstattengehen. Entscheidend ist: Theologisches wie philosophisches Schriftprinzip sprechen nicht von verschiedenem, sondern haben dasselbe im Auge, von dem sie verschieden sprechen, das eine mit Akzent auf Identität, das andere auf Differenz. Unser Ziel ist das theologische Schriftprinzip. Nur hat sich gezeigt, dass wir es verlieren, wenn wir den ausgetretenen Bahnen folgen. Wir müssen den philosophischen Umweg, der weit vom theologischen Schriftprinzip abführt, auf uns nehmen, weil ohne ihn in der Sache nichts geht. Wort und Zeichen Beginnt das philosophische Schriftprinzip mit Anerkenntnis der Differenz, verändert sich dessen Charakter als primum principium. Nicht dass es ihn verliert, aber es gewinnt ihn nur in Form von Negation. Primum principium ist das philosophische Schriftprinzip, wenn es von sich behauptet: Ich bin das erste nicht. Erst mit diesem seltsamen Bekenntnis blitzt auf, was das erste wäre, von dem nur so viel zu sagen ist, dass es gewesen ist. Wenn Stetter als erste Differenz – eine Fundamentaldifferenz, mit der alles Weitere losgetreten wird – formuliert: „Wort und Zeichen“,41 so hat „und“ erstens keinerlei konnektive Funktion, und erhebt zweitens keinen Anspruch darauf, etwas ausgeglichen auf die Waage zu bringen. Wer so formuliert, steht bereits auf der Seite der Zeichen, und die Waage hat sich zur rechten Seite geneigt. Das Wort bleibt in der Luft und muss, um die Sprache des Kinderspiels aufzunehmen, verhungern. Das philosophische Schriftprinzip beginnt nach Eintritt der Differenz von Wort und Zeichen, und es beginnt aufseiten der Zeichen, nicht des Wortes, wie von Psalm 119,160 insinuiert. Wer jetzt zurückblickt auf das Wort, das nach Johannes 1,1 ein Beginn ganz anderen Kalibers gewesen wäre, tut es in Anerkenntnis seiner Uneinholbarkeit, gerade so aber der fortdauernden Bezogenheit darauf. Er beginnt mit dem, was Stetter das Zeichen nennt. 41
Stetter, ebd. 21.
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Die Grunddifferenz lautet: Worte sind keine Zeichen. Zur Bekräftigung werden Autoritätszitate angeführt. Wilhelm von Humboldts stereotype These lautet: Worte sind weder Zeichen noch Symbol. Zwar ist unbestritten: „Das Wort, als Bezeichnung des Begriffs, ist verwandt mit dem Zeichen und dem Symbol.“ Aber die Verwandtschaft beschränkt sich auf die Gemeinsamkeit von Eigenschaften, während das Wort, „seiner innersten Natur nach, von beiden verschieden ist.“42 Humboldts Stimme mag im Verdacht humanistischer, gar theologischer Präokkupation stehen, doch auch der in dieser Hinsicht unverdächtige Paul Grice erklärt: „words are not signs“43 und meint: Worte stehen auf der Grenze zwischen zwei Klassen des Bedeutens, natürlichem und nichtnatürlichem; danach unterscheidet er zwischen „bedeutenn“ und „bedeutennn“. Genauso Walter J. Ong: „words are not signs“.44 Doch stimmt die anstehende Unterscheidung nicht einfach mit der von natürlich und konventionell/arbiträr überein. Vielmehr gilt nach Grice: „nicht alle Dinge, die etwas bedeutennn, sind Zeichen“. Hier fällt der entscheidende, nur als Nebenbemerkung und in Klammern erlaubte Satz: „Worte z. B. sind keine [Zeichen]“.45 Es wäre ganz falsch, Worte im Unterschied zu Zeichen auf die Seite der natürlichen Bedeutung zu stellen. Was ihnen allenfalls über Nicht-Natürlichkeit hinaus zukommt, kann nicht Restitution von Natürlichkeit sein. Anstelle von Affirmation ist ihre Bedeutung zugänglich nur auf dem Weg der doppelten Negation. Nicht alle Dinge, die auf nichtnatürliche Weise bedeuten, sind Zeichen; sie sind vielmehr Worte. Wort und Worte werden nicht gedacht als Ereignisse von Identität, sondern als solche von Differenz, wenn auch einer negierten. Daran schließt Christian Stetter an. „Wort und Zeichen gehören verschiedenen Ordnungen an.“46 Bereits der alltägliche Sprachgebrauch weiß davon, wenn auch nicht mit letzter Trennschärfe. Gewiss kommen Worte von innen, Zeichen von außen. Jedoch auch Worte werden, unbeschadet der Innerlichkeit, geäußert. Des weiteren: Zeichen gibt man. Daraus folgt aber nicht, dass Worte nicht gegeben werden oder dass ein Wort nicht sich selbst gibt. Immerhin soweit möchte man der Alltagssprache zustimmen: Zeichen kann man malen, erkennen, entziffern oder verabreden – alles Handlungen, die man mit Worten kaum oder gar nicht vollziehen würde. Worte dagegen sagt man, man kann sie aussprechen und vernehmen. Worte können anrühren, treffen, verletzen, sie können aufrichtig oder gelogen, liebevoll oder haßerfüllt sein. Nichts davon würde man im Deutschen von Zeichen sagen.47 42 W.v. Humboldt, Grundzüge des allgemeinen Sprachentypus 1824/26, GS 5, 427 f. Trabant, Apeliotes 1986, 75 ff. 43 Grice, Meaning 1957, 379. 44 Ong, Orality and literacy 22002, 73–75. 45 Grice, Intendieren, Meinen, Bedeuten 1979, 2; im dt. Text statt ‚Worte‘: „Wörter“. 46 Stetter, ebd. 21. 47 Stetter, ebd. 21.
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Man mag sich mit Hilfe von Autoritätszitaten oder mit der Autorität des normalen Sprachgebrauchs in das von Zeichen zu unterscheidende Wort hineindenken, soweit man will: „Dies alles ändert sich grundsätzlich mit der Schrift.“48 Schrift macht das Wort unwiderruflich zum Zeichen. Zwar gehören auch Worte in eine Situation mündlichen „Sich-äußern[s]“, aber schriftliche Worte werden „ge‑ und veräußert“, lösen sich von der sprechenden Person, ihrem Ethos und Pathos. Die Schrift verrät davon wenig, der Druck nichts mehr. Objektivierung und Verdinglichung treten ein und verändern deren Kondition „grundlegend“. Und nicht nur dies. Geschriebene Worte zeigen eine Art „Doppelcharakter“. Zwar Hervorbringungen von Auge und Hand, sind sie gleichwohl nicht völlig getrennt von den gesprochenen und ihrer Hervorbringung aus Laut und Ohr. Die Oralität ist jetzt sekundären Charakters. Gesprochenes und geschriebenes Wort verhalten sich zueinander weder parallel noch analog. Wie das gesprochene „kein Modell“ des geschriebenen ist, so das geschriebene „kein Analogon“ des gesprochenen.49 Schrift zielt darauf ab, dass am Ende das Geschriebene ohne Umweg über lautes Lesen oder Verlautlichung unmittelbar abgelesen werden kann.50 Ist aber jede Schrift auch ein eigenständiges Schriftsystem, also System elementarer Zeichen, die trotz endlicher Zahl unendlich kombiniert werden können, dann ist eben dies das „Schriftprinzip“ dieser Schrift.51 Prinzipiell, eigenständig ist es, weil es in der mündlichen Kommunikation kein Analogon hat, sich aber gleichwohl auf diese bezieht und die Worte, in denen sie geschieht, zu Zeichen macht. Zwei Quellen: Dekonstruktion und Linguistik Während wir auf der einen Seite Stetter auf dem Weg bis zur Hervorbringung des Begriffs Schriftprinzip folgen, steht auf der anderen Seite ungleich öffentlichkeitswirksamer Derrida; er ist, ohne jemals vom Begriff des Schriftprinzips Gebrauch zu machen, der Philosoph, der die Schrift in Szene gesetzt hat. Sodass zwei Ansätze des Schriftprinzips heranzuziehen sind, unterminologisch das philosophische Werk Jacques Derridas, das mit den drei großen Entwürfen von 1967 beginnt, terminologisch das zwischen Philosophie und Linguistik angesiedelte Werk Christian Stetters, das mit Einzelstudien Mitte der 70er Jahre beginnt und 1997 in Schrift und Sprache die große Synthese erreicht. Stetters Werk präsentiert sich, um mit einer Formel Derridas zu sprechen, als Derrida ohne Derrida, und diese reizvolle Sibilanz aller Begriffe sei vorneweg festgehalten, bevor sie uns durch die weiteren Ab48 Stetter,
ebd. 40. Stetter, ebd. 41. 50 Stetter, ebd. 42. 51 Stetter, ebd. 44. 49
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schnitte begleitet. Was Stetter zur Derrida-Kritik vorzutragen hat,52 kündigt sich bereits in seiner Fundamentalunterscheidung von Wort und Zeichen an. Beruht diese darauf, dass auf der einen Seite das Zeichen immer mehr Zeichen wird, auf der entgegengesetzten das Wort und die Wörter immer mehr Wort, so ist dieser Vollzug von Differenz in Komplementarität zur Identität53 dem Urheber der différance völlig fremd. Die Differenz zwischen Differenz und différance ist das Paradigma für die Sibilanz, die zwischen beinah identischen Begriffen entsteht. Was Derrida treibt, ist „eine Phänomenologie der Schrift bzw. des Zeichens“, die er sowohl gegen die Metaphysik des Logos und die sie tragende Alphabetschrift wie gegen die Theologie des Buches ins Feld führt. Dagegen verfolgt Stetter auf der von Austin und Grice gelegten Spur „eine Phänomenologie des Meinens“, die unmittelbares Sich-Verständigen nicht nur nicht für unmöglich hält, sondern fordert.54 Während jene zurückgeht auf die zugrundeliegende Dissemination der Zeichen, die herkömmliche Ordnungen, Systeme, Geschlossenheiten mit Kritik wie Präsenzmetaphysik, Logo‑ und Phonozentrismus überzieht – was dem Derridaschen Schriftprinzip contre cœur einen dogmatistischen Anstrich verleiht –, vermag diese ihre von der différance abweichende Differenz so zur Wirksamkeit zu bringen, dass mit der Veräußerung des Zeichens zugleich die Verinnerlichung des Wortes befördert wird, nicht zur Repetition von Logosmetaphysik und Buchtheologie, in deren Kritik Stetter mit Derrida aufs Haar übereinstimmt, sondern um Worten und Wort den Platz zu verschaffen, dessen die Phänomenologie des Meinens bedarf. Dies führt zum Kern der Derrida-Kritik. Wie kein anderer hat Derrida die „Differenz von Sprache und Schrift“ ins Zentrum gestellt. Zu Recht deckt er die „Schriftvergessenheit“ der abendländischen Tradition auf, die er durch die Alphabetschrift ermöglicht und gefördert sieht. Ebenso erobert er zur Stärkung des Gesichtspunkts der Schrift nichtalphabetische Schriften und Graphismen jeglicher Art hinzu. Doch sieht er nicht und kann nicht sehen, dass die abendländische Alphabetschrift nicht deshalb vergessen ist, weil sie von vornherein darauf angelegt war, sich zum Vergessen zu bringen, sondern weil sie im Lauf von drei Jahrtausenden so wirksam geworden ist, dass man sie ebenso stillschweigend voraussetzt wie vergisst. Was Derrida an der Logosmetaphysik denunziert, „verdankt sich“ „geradezu der Reflexion auf die Schrift.“55 So Stetters Hypothese. Sie läuft, bei aller Anerkenntnis, auf einen Derridismus inversus hinaus, der anstelle der Differenz von Sprache und Schrift, die unterkomplex zu bleiben droht, mit der von Schrift und Sprache beginnt, also dem Schriftprinzip Rechnung trägt und daher ganz selbstverständlich mit der Schrift beginnt. 52 Stetter,
ebd., Index s. v. Derrida. Stetter, ebd. 44: „Identität und Differenz sind korrelative Begriffe“. 54 Stetter, ebd. 34. 55 Stetter, ebd. 43. 53
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c. Vergleich Ist gänzlich verschiedenen Dingen nur das Wort gemeinsam, handelt es sich um eine Homonymie. Erleidet das Schriftprinzip deren Schicksal? Haben wir in Theologie und Philosophie von ganz verschiedenen Dingen gesprochen? Verhält es sich so, dann sind wir auf der einen Seite Zuschauer einer definitiv zu Ende gekommenen Epoche des Protestantismus und auf der anderen Teilhaber einer philosophisch-linguistischen Auseinandersetzung, die außer Aperçus für Theologie nichts abwirft. Die Fremdheit des unter dem Wort Schriftprinzip Versammelten ist Anreiz und Aufgabe. In diesem Paragraphen soll trotz noch so großer Verschiedenheit der Punkt noch so geringer Berührung deutlich werden, damit er im weiteren Paragraph zur Entfaltung gebracht werden kann. Im Punkt des Schriftprinzips berühren sich Theologie und Philosophie. Die Theologie, paradigmatisch die protestantische, hat sich das Schriftprinzip zu eigen gemacht, um ihre Schrift, die heilige, nicht die Schrift überhaupt, allem zugrundezulegen, was als Theologie daraus folgt. Die Anlehnung an Aristoteles war ein Versuch der so konstituierten Theologie, in der nachreformatorischen Universitätslandschaft Fuß zu fassen. Aber weder waren die europäischen Universitäten durchweg im aristotelischen Geist verfasst (vielmehr meldeten sich andere Einschläge: lullistische, ramistische, melanchthonische), noch war der aristotelische Begriff ἀρχή/principium solid genug, um nicht den Paradoxien von Teil und Ganzem, der Selbstbezüglichkeit und inneren Negativität zu erliegen. Also tritt, wie bei Luther zu sehen, das Schriftprinzip aus seinem aristotelischen Gewand heraus, tritt aus Schriftlichkeit überhaupt heraus und will sich im Sinn von Psalm 119(118),160 „principium verborum tuorum veritas“ als Prinzip des unmittelbar sprechenden Gotteswortes behaupten. So werden Evidenz, Klarheit, Selbstevidenz, Selbstklärung vom schriftlichen aufs mündliche Prinzip zurückgeschoben. Und kaum dort angelangt, werden sie, wie das Zitat zeigt, wieder zurückgedrängt aufs schriftliche. In diese Zirkelstruktur greift die Philosophie ein, indem sie den Terminus Schriftprinzip rettet, aber um den Preis des veränderten Sinns. Nicht mehr ist Schrift ein Korpus bestimmter Schriften, das von einer bestimmten Lesegesellschaft für kanonisch gehalten wird. Sondern der allgemeinste Sinn, Schrift überhaupt, wird stark. Und da es Schrift überhaupt nur gibt in der Pluralität von mindestens zwei, ideographischer und phonographischer, treten wir aus der durch Kanon konstituierten Gesellschaft heraus in die weitere Dimension, die Menschheit genannt wird. Die Philosophie macht der Theologie unmissverständlich klar, dass sie es nicht beim provinziellen Sinn ihrer Begriffe belassen kann. Sie muss sie der Universalität öffnen. Das ist das erste, worin theologisches und philosophisches Schriftprinzip sich treffen. Eine zweite Beobachtung: Für das theologische Schriftprinzip in protestantischer Version war charakteristisch, dass die Mündlichkeit des gepredigten
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§ 3 Schrift und Sprache
Gotteswortes und die Schriftlichkeit der Heiligen Schrift zwar schon unterschieden werden, aber nicht soweit, dass sie in Opposition treten könnten. Eine Ausnahme findet nur statt, wenn Schrift zur Metapher von Gesetz, und Wort zur Metapher von Evangelium wird. In nichtübertragenem Sinn verlassen Mündlichkeit und Schriftlichkeit die Analogie nie; sie sind wie zwei Räder auf starrer Achse. Beim philosophischen Schriftprinzip verhält sich dies grundsätzlich anders. Hier ist zwischen Sprache und Schrift eine tiefe Differenz gesetzt. Sie gibt die Fundamentaldifferenz von Wort und Zeichen wieder, mit der Stetter begann. Von einer Fundamentaldifferenz gilt, dass sie zwar weiter ausdifferenziert, nie aber aufhoben werden kann. Daher wird sie von Stetter so zugespitzt, dass sie nicht nur als Differenz zwischen Wort und Zeichen auftritt, was hingehen mag, schon weil die Vokabeln hinreichend different sind, sondern zwischen Worten und Wörtern gezogen werden will,56 was den Unterschied bereits im Wortklang auf Messers Schneide bringt. Hier wird das primordiale „Draw a distinction!“ der Systemtheorie vernehmlich. In der nur im Deutschen vollziehbaren Differenz von Worten und Wörtern treten Worte und Zeichen, gesprochenes und geschriebenes Wort auseinander. Und wenn bei penibelster Betrachtung selbst das gesprochene Wort noch einmal den Zeichen verfiele, müsste das sprechende Wort als letztes Residuum des Wortes selbst angenommen werden: αὐτὸς ὁ λόγος, nicht ohne johanneischen Klang. Nun gehört zur Seite des philosophischen Schriftprinzips, dass es in zwei differenten Fassungen vorliegt, Derridas und Stetters. Hier kann nur in schematischer Abkürzung angezeigt werden: Während Derrida auf der einfachen Differenz zwischen Sprache und Schrift beharrt, die dazu führt, die Epoche des abendländischen Logozentrismus in Klammern zu setzen und sie mit der grammatologischen Wende für beendet zu erklären, teilt Stetter zwar den Gesichtspunkt der Metaphysikkritik, unterscheidet sich aber, indem er sich nicht in eine Lage drängen lässt, die ihn zwingt, die abendländische Entwicklung unter ausschließlich negative Vorzeichen zu setzen, als ob das Wort, das dem Zeichen opponiert, von vornherein als Logozentrismus zu denunzieren sei. Vielmehr wechselt er von der Ebene primärer Oralität auf die Ebene der sekundären und beobachtet eine abendländische Geschichte lang, was die gesprochene Sprache der geschriebenen verdankt. Sein Entwurf gilt nicht der Repräsentation der Sprache durch Schrift, sondern der „Kohabitation“ von Schrift und Sprache.57 Das heißt, dass die Fundamentaldifferenz von Sprache und Schrift sich in eine solche von Schrift und Sprache verkehrt und die Rückwirkung der Schrift auf die Sprache in Einzelschritten von zunehmender Ausdifferenzierung beobachtet wird.
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Stetter, ebd. 27, 156. Stetter, ebd., Index s. v. Kohabitation.
2. Die Schrift – Das Zeichen und die Wörter
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2. Die Schrift – Das Zeichen und die Wörter Dass wir als solche, die schon in der Schrift sind, die Aussicht auf die Sprache genauso vor uns hertreiben, wie wir im vorigen Paragraphen als solche, die primär und mit einer gewissen Gewaltsamkeit der Abstraktion schon mit dem Buchstaben befasst waren, die Aussicht auf den Laut vor uns hertrieben: das dürfte einleuchten. Denn Schrift und Sprache differieren als Zeichen und Wort und überschneiden sich gleichwohl auf Messers Schneide als Sammlung von Wörtern hier und Worten da. Dem entsprechen die Überschriften der Abschnitte, die nun folgen. Ihre Anordnung widerspricht der gewohnten Annahme, Sprache sei älter als Schrift. Während die im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts massierten Arbeiten zum Ursprung der Sprache58 in die vorgeschichtliche Phase der Menschheit hineinreichen, können sich Theorien zum Ursprung der Schrift wenigstens an Zeugnisse aus vorgeschichtlicher und geschichtlicher Zeit halten, die durch Schrift hervorgebracht wurden und erhalten geblieben sind. Dass also die Sprache älter sei als Schrift, erscheint so selbstverständlich, dass die Annahme des Gegenteils unerklärlich ist. Die Annahme, dass „die Schrift älter sey als die Sprache“, mit der sich Friedrich Schlegel gegen den Mainstream zu Wort meldet,59 kann nur als Provokation gedacht gewesen sein. Es bedarf außergewöhnlicher Reflexivität, um diese so unwahrscheinliche Umkehrung durchzufechten. Der Grund ist einfach: „Zwar bleibt die Sprache immer das ‚ältere‘ Medium, aber sie wird nun von dem jüngeren mehr und mehr durchformt, je länger ihre Kohabitation andauert.“60 Also ist es mit der Behauptung einer im Vergleich zur Sprache älteren Schrift nicht getan. Wiederum ist der Seitenblick auf Derrida nützlich. Auf der einen Seite darf von der Strenge seiner These, Schrift sei älter als Sprache, nicht etwa so abgewichen werden, dass man sie zwar in Hinsicht auf vorschriftliche Notationssysteme in Wirtschaft, Herrschaft/Kult und Tradition zugibt, nicht aber in Hinsicht auf Schrift als sichtbar gemachte Sprache.61 Das setzt auf der anderen Seite voraus, dass trotz Derridas Suggestion die Epoche des abendländischen Logos durch die Schrift nicht bloß ein-, vielmehr ausgeklammert wird, sondern daraufhin befragt, welche Entwicklung sie genommen hat, indem die Schrift ihr vorausging und auf sie einwirkte. Das ist Stetters Akzent. So kommt Derridas Impuls auf doppelte Weise zum Zuge; einerseits unreseziert und streng, die Provokation der Umkehrung von Sprache und Schrift in Schrift und Sprache soll uneingeschränkt wirken, andererseits kritisch, damit es nicht bei der leeren Opposition bleibt. Rahden (Hg.), Theorien zum Ursprung der Sprache 1989. F. Schlegel an A. W. Schlegel, 26. 4. 1823, FSKA 30, 414. 60 Stetter, ebd. 9. 61 Assmann/Assmann, Art. Sprache 1992, 1417 f. 58 Gessinger/v. 59
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§ 3 Schrift und Sprache
a. Primäre Oralität Der Commonsense hat die Differenz von Sprache und Schrift so beschrieben: Kaum ist das mündliche Wort gesprochen, schon wird es vom Wind weggetragen und ist flüchtig; ohne Hilfsmittel ist seine Reichweite knapp; deren Erstreckung geht auf Kosten der semantischen Differenzierung, diese nimmt zu, je näher sich die Hörer befinden, und nimmt mit deren Entfernung ab. Doch obwohl flüchtig, ist das mündliche Wort lebendig, vom Atem getragen und der leiblichen Wärme nah. Dagegen das schriftliche Wort löst sich von der lebendigen Person, zirkuliert unabhängig, gewinnt Weiträumigkeit, Langzeitdauer und übertrifft an Beständigkeit das mündliche, zwar unterschiedlich nach Schreibart und Schreibgrund, aber beständiger als bloße Atemschrift. Damit einher geht eine Umschichtung in der Hierarchie der Sinne; das mündliche Wort wendet sich an das Vestibül des Ohres, das schriftliche an die Oberfläche des Auges; die jeweilige Präferenz schlägt sich im Aufbau des Gesamtsensoriums nieder. Von hier beginnt sich die Differenz von Oralität und Literalität in konzentrischen Kreisen auszubreiten. Sie greift vom Psychischen ins Soziale und schlägt auf die Organisationsformen des gesellschaftlichen Lebens durch. Während das gesprochene Wort sich ausbreitet in Gemeinden und Gemeinschaften (κοινωνίαι), bilden sich auf der Basis des geschriebenen Wortes komplexe Gebilde wie Städte und Staaten (πόλεις) mit abstrakteren Strukturen. So erweist sich die Differenz von Sprache und Schrift als Puls, spürbar am Ort seiner Entstehung, spürbar aber auch fern davon in den Segmenten der Kultur. Der Pulsschlag breitet sich in analogischen Bahnen aus. Walter J. Ong hat den Katalog zusammengestellt.62 Aleida und Jan Assmann fahren darin fort; fokussiert auf den Gesichtspunkt der Bewahrung des Wortes fragen sie nach Techniken des Gedächtnisses, in Hinsicht auf Oralität nach dem kommunikativen Kurzzeitgedächtnis, in Hinsicht auf Literalität nach dem kulturellen Langzeitgedächtnis. Assmann und Assmann entwickeln eine nach beiden Gedächtnisarten aufgespreizte Tabelle von Technologien des bewahrungswürdigen Wortes, die ihrerseits gekreuzt werden durch Ebenen wie Wissensorganisation, Medialität, Stilistik/Noetik und Partizipation. Trotz bunter Verschiedenheit vermittelt die Tabelle immer dasselbe. Der von der Kerndifferenz Sprache/Schrift ausgehende Impuls schlägt durch.63 So gewinnt, was zunächst bloß als Commonsense in Hinsicht auf die Unterscheidung von Oralität und Literalität eingeführt wurde, via Katalog und Tabelle eine um sich greifende, schließlich welterschließende Kraft. Ongscher 62 Ong, Orality and literacy 22002, 36–56: 1. Additive rather than subordinate, 2. Aggregative rather than analytic, 3. Redundant or ‚copious‘, 4. Conservative or traditionalist, 5. Close to the human lifeworld, 6. Agonalistically toned, 7. Empathetic and participatory rather than objectively distanced, 8. Homeostatic, 9. Situational rather than abstract. 63 Assmann/Assmann, Einleitung 1990, 16–20.
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Katalog und Assmannsche Tabelle führen die Kanäle auf, in denen die Differenz Sprache/Schrift weitergegeben wird, psychologisch, soziologisch, medial, institutionell, kulturell. Hier dürfte es sinnvoll sein, sich von den kulturellen Weiterungen zu lösen; was als Heuristik gedacht war, verkommt rasch zum bloßen Schematismus; Katalog und Tabelle sind keine Formen, denen wir die Enzyklopädie anvertrauen. Wir wollen uns auf den Kernimpuls konzentrieren und in der Beschreibung der Verschriftlichung der Sprache durch den Commonsense fortfahren. Ideographie und Phonographie Auch hier können wir fürs erste dem Commonsense folgen. Wie überhaupt zwei Elemente zur Diskussion stehen, Sprache und Schrift, so bei der Schrift zwei Schriften, ideographische und phonographische. Und wie wir in Hinsicht auf die erste Zweiheit als solche, die bereits mit und in Schrift leben, auf primäre Oralität nur versuchsweise zurückschließen können, so auch in Hinsicht auf die zweite Zweiheit nur versuchsweise auf die Ideographie; faktisch leben wir in der Phonographie, die unsere Weltsicht prägt. Soviel Sprachschriften es gibt, weltweit haben sich zwei Schrifttechniken herausgebildet, Alphabetschrift und Han ze, die chinesische Schrift. Gibt es zwei Schrifttechniken, dann gibt es auch zwei Schriftprinzipe. Aber zwei Schriftprinzipe sind zu viel, eines hätte genügt. Daher kann die Darstellung des ideographischen und phonographischen Schriftprinzips nicht nach‑ oder nebeneinander erfolgen; es muss sich Über‑ und Unterordnung einschleichen. Auf der einen Seite blicken wir aus unserer phonographischen Bedingtheit auf die Ideographie und versuchen sie zu erschließen, auf der anderen verfahren wir umgekehrt und schildern eine Evolution von der Ideographie zur Phonographie, die vonstattengegangen sein soll. Dabei verhält es sich so, dass weltgeschichtlich betrachtet nicht eine Evolution stattgefunden hat, und diese einseitig von der chinesischen Schrift zur Alphabetschrift, sondern zwei, und ihr Resultat ist, dass zwei Schriftarten sich behauptet haben, die einander polar gegenüberliegen. Obwohl der Commonsense dazu neigt, das Nacheinander von Ideographie und Phonographie als Subordination zu verstehen, ist von vornherein klar: wir können beide Schriftprinzipien nur so zur Darstellung bringen, dass mit der Stärkung des einen – aus unserer Sicht der Alphabetschrift – zugleich die Stärkung des anderen angestrebt wird, selbst wenn unsere Ausstattung hierzu aus Gründen, die auf der Hand liegen, zu schwach ist. Beide, Ideographie und Phonographie, stehen jenseits der archaischen Nota tionssysteme, die als Inhaltsschriften bezeichnet werden. Diese beziehen sich ohne Umweg über die Sprache direkt auf Dinge. Einerlei ob es sich um Zählsteine oder Kaurimuscheln handelt, in deren Funktion sich Schrift und Geld begegnen, oder um Knochenschriften, die der Wiedergabe herrschafts-
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begründender Ereignisse dienen, oder um Notationssysteme wie die Songlines der australischen Ureinwohner oder die Knotenschnüre der Inka, in die kulturelles Gedächtnis ausgelagert wurde:64 stets handelt es sich um Schrift vor der Beziehung auf Sprache. Inhaltsschriften sind Vor-Schriften. Von Ideographie und Phonographie gilt aber, dass sie den Wortlaut verschriften. Inhaltsschriften sind keine ideographischen Schriften. Gewiss entscheidet sich die Differenz von Ideographie und Phonographie am Verhältnis von Schrift und Bild, doch nicht so, dass Ideographie mit Piktographie verwechselt werden dürfte. Trotz bilderschriftlicher Elemente sind die Han ze im jahrtausendelangen Gebrauch zur Wortschrift geworden. Es ist das Wort, das bilderschriftlich wiedergegeben wird, nicht der Inhalt des Wortes. Nur in diesem speziellen Sinn ist Ideographie Bilderschrift; ein zweibeiniges Gebilde steht für die Vokabel Mensch, ein dreispitziges für die Vokabel Gebirge usw. Die Differenzierung von Ideographie und Phonographie findet auf der gemeinsamen Basis von Sprachschrift statt. Sie erfolgt durch eine Reihe von Reduktionen. Im ersten Schritt werden Wortzeichen zu Wortlautzeichen reduziert, was zur Folge hat, dass nun auch nichtabbildbare Wortbedeutungen geschrieben werden können. Unsinnlich für das Auge sind sie als Laute gleichwohl sinnlich für das Ohr, das heißt, sie sind nicht unsinnlich schlechthin. Was als Reduktion vonstattengeht auf der einen Seite, Wort reduziert auf Wortlaut, funktioniert als Erweiterung des Schreibbaren auf der anderen. Erstmals wird das Gesetz der Inversion der Proportionalität sichtbar, das bei jedem weiteren Reduktionsschritt zum Zug kommt. Der zweite Schritt führt zur Sinnreduktion der Wörter, was zur Folge hat, dass dieselben Schriftzeichen frei werden zur Schreibung abweichender oder ähnlich lautender Wörter. So entstehen Silbenschriften; das Prinzip der Keilschrift ist Silbenschrift. Der dritte Schritt reduziert die Silbe noch einmal, die bisher als sinnreduziert, aber nicht als sinnlos zu bezeichnen war. Er zerlegt die Silbe in lautliche Elemente und legt sie bloß. Diese sind nun nicht nur keine Wort‑ und Wortlautzeichen, sondern auch keine Sinnzeichen mehr. Von der semantischen wird die phonetische Ebene geschieden, ohne von ihr getrennt zu sein; das Semantische geschieht durch phonologische Vorgänge, wenn diese in einem Schritt äußerster Abstraktion noch einmal davon unterschieden, das heißt: freigesetzt werden. Damit ist im Prinzip die Alphabetschrift möglich geworden, und sie „ist auf der Welt nur ein einziges Mal erfunden worden.“65 Die Han ze sind die Schriftzeichen einer einzigen Sprache, der chinesischen, und selbst die Übernahme ins Japanische verändert die Isomorphie nicht, die zwischen Schrift und kultureller Identität besteht. Dass eine Sprache nur in einer Schrift wiedergegeben werden kann, ist die strengste Form dieser Isomorphie. 64 65
Assmann/Assmann, Art. Sprache, 1417 f. Assmann/Assmann, ebd. 1418.
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Anders die Alphabetschrift. Aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrads schickt sie sich an, jede Sprache zu schreiben, und dringt als Umschrift selbst in das Reich der Han ze ein. Umgekehrt ist das Chinesische mit seinem Bestand von einigen 10 000 Zeichen zur Schreibung anderer Sprachen kaum geeignet. Mit den genannten Reduktionsschritten reduziert sich zwar die Zahl der Zeichen, aber auch die ägyptische Hieroglyphenschrift, die an die 1 000 Zeichen enthält, taugt nicht zur Schreibung anderer Sprachen. Die Keilschrift vermag als Silbenschrift die Zeichenzahl noch einmal zu reduzieren.66 Aber nirgends fällt die Reduktion so drastisch aus wie in der Alphabetschrift, deren Zeichenbestand bei zwei Dutzend schwankt. In einer Reduktion sondergleichen erzielt sie nach dem Gesetz der Inversion der Proportionalität durch Minimierung der Schriftelemente Maximierung des Schreibbaren.
Bildlichkeit und Nichtbildlichkeit Die ungeheure Raffung der Schriftgeschichte auf zwei Typen von Schriften, die sich als Opponenten gegenüberstehen, ruft begriffliche Oppositionspaare hervor, die die Resultate des Rationalisierungs‑ und Ausdifferenzierungsprozesses der Schrift mit mehr oder weniger Treffsicherheit bezeichnen. Wenn richtig ist, dass die Alphabetschrift nur einmal erfunden wurde, dann fordert die Opposition zur Ideographie der Han ze, sie könne, unbeschadet ihrer Einmaligkeit und ihres höheren Alters, im Prinzip jederzeit neu erfunden werden. Neben Einmaligkeit und Wiederholbarkeit treten andere Oppositionspaare: Ausdruck/Inhalt, Transzendenz/Immanenz, Abstraktheit/Konkretheit.67 Nie tritt die Opposition stärker hervor, als wenn sie durch die Affirmation/Negation ein und desselben Begriffes gebildet wird. So wenn die Differenz der beiden Schrifttypen in Hinsicht auf das Verhältnis von Schrift und Bild beschrieben wird. Dann empfiehlt sich „Bildlichkeit“ und „Nichtbildlichkeit“ als geeignete Opposition.68 Während das Schriftzeichen der Han ze für den Sachverhalt des Nordens, bei, die Vorstellung zweier Personen erweckt, die Rücken an Rücken sitzen und sich wärmen, ist alphabetschriftliches Norden frei von jeder Empfindung; nichts lenkt vom intelligiblen Sinn des Wortes ab. Man hat vermutet, das alttestamentliche Bilderverbot habe seinen Ort nicht von ungefähr im Bereich der Entstehung der Alphabetschrift. Erstaunlich, dass dieser Ort sogar einen bestimmten geographischen Namen trägt. Was den biblischen Diskurs anlangt, hat das sog. Bilderverbot als Teil des Dekalogs seinen Ort am Berg Sinai. Aber der Sinai rangiert im historischen Diskus auch als die Stelle, an der die Alphabetschrift – wie erwähnt ein für allemal – erfunden wurde. Den erhaltenen Denkmälern 66
Assmann/Assmann, ebd. 1419. Stetter, ebd. 51. 68 Stetter, ebd. 50 f. 67
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und Inschriften zufolge muss es sich hier zugetragen haben, dass in einem außergewöhnlichen Reduktions‑ und Abstraktionsschritt, dem genannten dritten, das Zeichen für ’alef (Rind) sich von der Gänze der Vokabel nicht bloß auf einen Teil, auf eine Silbe zurückzog, sondern – die protosinaitische Schrift ist als reine Konsonantenschrift konzipiert – auf denjenigen Teil der Silbe, der konsonantischer Natur ist, und hier auch nicht auf einen beliebigen unter den drei Radikalen von ’alef, sondern im Sinn der Akrophonie auf den ersten. Wird dieser Reduktionsschritt vollzogen, dann trägt künftig der erste Konsonant, in diesem Fall der Knacklaut ’, allein den Namen ’alef, jetzt א, vormals אלף. Und ebenso, wiewohl anschaulicher, bet (Haus), jetzt ב, vormals בית, usw. usf.69 Unter allen Buchstaben sticht א, mit dem das Alphabet beginnt, in der Inversion der Proportionalität unter anderen Buchstaben, die unter demselben Gesetz stehen, durch maximalen Sinngewinn bei maximaler Entsinnlichung hervor: reiner Lufthauch, jedoch mit Inzise. Dass sowohl Theologie‑ wie Schriftgeschichte, jede auf ihre Weise, kontingent und unabhängig, auf den Sinai weisen, bringt eine Isotopie ans Licht, die nicht nur der Annäherung von theologischem und philosophischem Schriftprinzip in diesem Paragraphen zugrundeliegt, sondern der gesamten Theologie des Lesens.
Bedeutung und Unbedeutung Zu den Gegensätzen, die geeignet sind, das Verhältnis von ideographischen Han ze und phonographischer Alphabetschrift zu beleuchten, gehört auch der von Bedeutung und Unbedeutung. Während ideographische Schriften „für sich bedeutende Zeichen“ schreiben, setzt ihr die phonographische „für sich nichts bedeutende Partikel“ entgegen.70 Diese Opposition übertrifft die vorangehende an Grundsätzlichkeit; um wirksam zu werden, bedarf sie nicht des Verhältnisses zweier Elemente, Schrift und Bild; ihr genügt ein einziges, das Zeichen, das in entgegengesetzten Varianten, Bedeutung und Unbedeutung, zum Zuge kommt. Weshalb Bedeutung nicht wie es naheliegt durch Bedeutung, sondern durch Unbedeutung gefördert werden soll, hat dieselbe Widersinnigkeit an sich wie die Inversion der Proportionalität, die schon bei der Entstehung von Alphabetschrift am Werk war. Susanne K. Langer hat nicht von der Schrift, doch von der Sprache, als ob sie derselben Logik des Symbols folgte, dieselbe Inversion zur Darstellung gebracht.71 Zwar sei der Inhalt einer Erkenntnis „für uns von Interesse, aber 69 Földes-Papp, Vom Felsbild zum Alphabet 1987, 106 f. Haarmann, Universalgeschichte der Schrift 1991, 275 ff. 70 Stetter, ebd. 47; ders., Buchstabe und Zeichen 2014, 87: „für sich nichts bedeutende Elemente“. Ebenso W. v. Humboldt, Ueber die Buchstabenschrift 1824, WW 3, 89: „an sich bedeutungslose[.] Züge“. Derrida, De la grammatologie, 423: „signifiants insignifiants“; Grammatologie, 513: „in-signifikante Signifikanten“. 71 Langer, Philosophie auf neuem Wege 1965.
2. Die Schrift – Das Zeichen und die Wörter
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schwer zu fixieren,“ „wohingegen das Symbol leicht zu erfassen, wiewohl an sich vielleicht ganz unwichtig ist.“72 Langer zählt drei Vorzüge des Symbols, von denen jeder dieselbe Inversion variiert. Der erste Vorzug von Symbolen als bloß sprachlicher Zeichen besteht darin, dass sie von allen Lebensvollzügen die aufwandslosesten sind; unter allem Handeln bedarf Sprechen der geringsten Anstrengung. Ein zweiter Vorzug liegt darin, dass Symbole an und für sich völlig belanglos sind; Bedeutung haben sie nur als unbedeutende Zeichen. „Je karger und gleichgültiger das Symbol, um so größer seine semantische Kraft.“73 Kleinste Geräusche, in ihrer Klangsubstanz zu unbedeutend, um viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sind am ehesten geeignet, Bedeutung zu transportieren. Der dritte Vorzug der Symbole ist, dass sie, in Ausnützung ihrer Freiheit und Losgelöstheit von Inhalten, in unvorhersehbarer Weise zu Kombinationen fähig sind. Was Langer entfaltet, ist auf Sprache bezogen und in einer Terminologie vorgetragen, die das Symbol nicht mit der deutschen Tradition dem konventionellen Zeichen entgegensetzt, sondern es mit der angelsächsischen gerade damit verbindet. Aber es scheint, als ob die gewonnenen Inversionsformen auf Schrift übertragen werden können. Mag auch das Symbol, sofern in Opposition zum Zeichen, Anlass zur Rekonstruktion von Bilder‑ und Inhaltsschriften werden, wie in Emblematik und Symbolik der Renaissance vielfach der Fall, folgt die Gleichsetzung von Symbol und Zeichen der Logik und der Ökonomie der Alphabetschrift: Je unbedeutender das Zeichen, desto mehr Bedeutung vermag es auf sich zu ziehen. So auch in den drei Vorzügen, wenn sie der Schrift entsprechend umformuliert werden.
b. Primäre Literalität Davon ist auszugehen, dass wir uns immer schon in der Situation der Literalität befinden und also nie nicht. Aber eines ist es, aus dieser Situation zurückzuschließen, wie die primary orality ausgesehen haben mag, die Walter J. Ong als Unberührtsein von jeder Kenntnis des Schreibens und Druckens beschrieb.74 So will am Ende des Phaidros Platon den Ursprung der Schrift zwar schildern unter dem Schein einer göttlichen Gabe, in Wahrheit aber als großen menschlichen Verlust.75 Die Geschichten vom Verlust primärer Oralität teilen mit Platon den mythischen Charakter; sie erzählen von einem Zustand vor dem Fall. Etwas anderes ist es, die Blickrichtung umzukehren und danach zu fragen, wie sich die Oralität unter der Einwirkung der Literalität fortgebildet hat, einerlei wie sie ursprünglich gewesen sein mag. Ohne Zwei72
Langer, ebd. 82. Langer, ebd. 83. 74 Ong, Orality and literacy, 6: „primary orality […], totally unfamiliar with writing.“ Ebenso 10: „a culture totally untouched by any knowledge of writing or print“‚ das ist „‚primary orality‘“. 75 Platon, Phaidr. 274c–275b. 73
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fel sind der Theologie des Lesens beide Blickrichtungen eigen, aber nicht in gleicher Weise und nicht so, dass man sich nur umwenden müsste, um Gespiegeltes zu erkennen. Hier muss vielmehr die zweite Richtung vorwalten, die jetzt zu eröffnen ist. Es geht um eine Art zweiter Sozialisation, das heißt um die Beobachtung, was aus der Mündlichkeit im Lauf ihrer Auseinandersetzung mit Schrift geworden ist und noch wird. Es geht um Erlernen einer Schriftsprache. Der Rückblick in unberührte Oralität mythischen Stils müsste als bloßes Ressentiment verblassen, wenn ihm nicht eine Fragestellung innewohnte, die so grundsätzlich ist, dass sie nicht vergeht. Selbst wenn wir uns auf primäre Literalität einlassen, ist die Konkurrenz durch primäre Oralität nicht beseitigt. Wir schieben sie vor uns her. Damit verkehrt sich der mit ihr verbundene archäologische Aspekt und wendet sich in den teleologischen, um nicht zu sagen eschatologischen. Das Pensum, das unter dem klassischem Titel Ursprung der Sprache bearbeitet wurde, erscheint nun als ein solches, das aussteht. Marcus 16,17: „Linguis loquentur novis.“ Nun gilt es, die Umkehrung auf Zukunft mit kräftigen Strichen in das nostalgische Bild von der primären Oralität einzuzeichnen. Dessen Sentimentalität wird durch ein paar Paradoxe aufgeschreckt, in die sie sich verstrickt. Kalligraphie und Orthographie Wie Alphabetschrift nicht denkbar ist, ohne sich dem Zensus der Orthographie zu stellen, so keine ideographische Schrift ohne Kalligraphie. Kalligraphie ist nichts, was zu ihr hinzukommt. Kalligraphie ist für ideographische Schriften, was Orthographie für die alphabetische ist: das Ziel, zu dem zu streben sie nicht unterlassen können. Wenn aber der Gesichtspunkt der primären Literalität stark gemacht werden soll, dann dadurch, dass sie in ihrem Kulturkreis jeweils Sozialisation in Kalligraphie oder Orthographie verlangt, also Maßstäbe setzt, die nur durch Begegnung mit Schrift in die Welt kommen. Allerdings sind nicht allein die reinen Fälle, Kalligraphie dort und Orthographie hier, von Interesse, sondern besonders die verschränkten. Daher beginnen wir mit dem Blick auf die Kalligraphie, sofern sie nicht unter deren eigenen Bedingungen, sondern unter denen von Alphabetschrift begegnet, das heißt unter solchen, die ihr entgegengesetzt sind. Dass Schrift schön werde – Schönschrift –, war ein Lernziel älterer Generationen. Aber Kalligraphie bedient sich über Schönschrift hinaus des ornatus, der Zier, fügt also der Schrift etwas hinzu. Bereits in der Rhetorik ist der ornatus eine Gratwanderung zwischen Zuwenig und Zuviel. Es handelt sich um eine Sache des Maßes, die in der Lehre von den Tugenden des ornatus ihren Niederschlag findet.76 Aber die Kalligraphie repetiert nicht einfach Rhetorik in einem anderen Medium, sondern neigt von vornherein dazu, das rhetorische Maß in Richtung des Zuviel 76
Quintilian, Inst. or. VIII 3,49.
2. Die Schrift – Das Zeichen und die Wörter
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zu übertreiben. Seien es Initialen, wenn diese aus dem Textblock hervortreten und an Größe so zunehmen, dass sie eine ganze Seite für sich, etwa die Seite gegenüber okkupieren, oder sei es eine Textseite, die ganz oder teilweise kalligraphischer Auszierung unterworfen wird: jedes Mal verhält es sich so, dass die Kalligraphie vom Schreiben ins Malen übergeht und damit die Tätigkeit reaktiviert, die zu unterlassen war, um zum Schreiben von Alphabetschrift zu gelangen. Also provoziert das Zuviel der Kalligraphie die Basis des Schreibens, und das ist es, was sie interessant macht. Wie der rhetorische ornatus dahin tendiert, die perspicuitas zu verletzen, so läuft die Verzierung durch Kalligraphie darauf hinaus, die Durchsichtigkeit des Textes in Frage zu stellen. Die Lesbarkeit ist in Gefahr. Im Gebiet des phonographischen Schrifttyps zielt Kalligraphie darauf, den Evolutionsgewinn der Alphabetschrift herauszufordern auf deren eigenem Terrain. So macht sie ex negativo deutlich, worum es der Schrift geht. Produziert die Kalligraphie Unlesbarkeit, dann war die Aufgabe der Schrift offenbar die Lesbarkeit.77 Kalligraphie ist der Ideographie „intrinsisch“.78 Wird sie ins Gebiet des opponierenden Schrifttyps übertragen, fördert sie zutage, was dessen intrinsischer Zensus gewesen wäre: Orthographie. Umschlagplatz orthographischen Wissens war etwa Cassiodors Vivarium; dort verfügte man nicht nur über umfassendste Kenntnis der Orthographen der Alten Welt,79 sondern transformierte auch das griechische Regelwerk in lateinische Handschriften.80 Dazu gehört die Einführung des Interpunktionssystems bzw. dessen Überführung aus dem Griechischen ins Lateinische, besonders in die Heiligen Schriften, bei Hieronymus das zweifache von cola et commata,81 bei Cassiodor das dreifache, das plena, media distinctio und subdistinctio unterscheidet.82 Ferner gehört dazu die Einhaltung der richtigen Buchstabenfolge.83 Weitere orthographische Maßgaben wie Ablösung der scriptio continua und Einführung des sinnentscheidenden Unterschieds von Majuskeln und Minuskeln kommen erst im Mittelalter hinzu. Stetter zählt vier orthographische „Register“: Interpunktion, Buchstabenfolge, Getrennt‑ und Zusammenschreibung, Groß‑ und Kleinschreibung.84 Wozu orthographische Regeln? Die Antwort lautet mit Cassiodor: Um das Lesen zu vereinfachen.85 Ebenso mit Stetter: „Legitimiert werden orthographische Normen in der Regel 77
Vf., Protestantismus und Arabeske 2003. Stetter, Schrift und Sprache 51. 79 Übersicht in Cassiodor, Inst., FChr 39, 496 f. 80 Cassiodor, Inst. I, praef. 9, FChr 39, 108 f; I 15,9–10, 200 f; I 30, 266–274; Beda Venerabilis und Alcuin haben die Tradition De orthographia fortgesetzt. 81 Hieronymus, Prol. in Is., in: Biblia sacra 2, 1096,3 f; Prol. in Ez., ebd. 1266,12: per cola et commata. 82 Cassiodor, Inst. I 15,12, FChr 39, 206. 83 Cassiodor, Inst. I 15,9 f, FChr 39, 200 f; 30,2, 270 f. 84 Stetter, ebd. 52. 85 Cassiodor, Inst. I praef. 9, FChr 39, 108: sufficiant simplicissimae lectioni. 78
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mit der Notwendigkeit einer Vereinheitlichung des Schriftgebrauchs. Ohne diese sei eine eindeutige Lesbarkeit des Geschriebenen nicht gewährleistet.“86 Also treffen wir nicht nur bei der Kalligraphie, sondern auch bei der Orthographie auf Lesbarkeit als oberste Norm, wiewohl mit umgekehrter Stoßrichtung: die Kalligraphie darf die Lesbarkeit stören, verlangsamen, fast zum Erliegen bringen, die Orthographie dient der Erleichterung, Beschleunigung. Zwei Prinzipien werden zur Entscheidung von orthographischen Einzelfragen angeführt, das arbiträre und das phonematische. Was das erste anlangt: Ist Rechtschreibung arbiträr, bedarf sie der arbiträren Lösung, etwa durch Mehrheit oder oberrichterliches Urteil. Was das zweite anlangt, Regelung von orthographischen Fragen dadurch, dass die Buchstaben des geschriebenen den Lauten des gesprochenen Wortes entsprechen, indem sie diese abbilden, dann fällt auf, dass dieses Prinzip nicht kompatibel ist mit dem ersten. Eines hebelt das andere aus. Das phonematische Prinzip dringt auf Nicht-Arbitrarität der Schreibung, das arbiträre Prinzip erklärt den phonematischen Charakter der Buchstaben für illusorisch. Stetter benutzt die Diaphonie der Prinzipien, um alle zwei aus den Angeln zu heben.87 Im gleichen Zug wird auch die herrschende Grundannahme der Linguistik, Sprachtheorie sei eine Sache des signifiant, nicht des signifié, betreffe also nur die technische Seite der Zeichen, die Form-, nicht die Inhaltsseite, zur Disposition gestellt. Sie erscheint als Abstraktion, die nicht einmal ausreicht, so einfache Dinge wie Orthographie zu erklären. Verhält es sich aber so, dann ist nicht weniger als das Prinzip der Alphabetschrift, das wir aus der Opposition zur Ideographie hinreichend erkannt meinten, ungeklärt.
Schriftprinzip Lesbarkeit Beide Prinzipien, sowohl das phonematische wie das arbiträre, legen Stetter zufolge ihre Unvereinbarkeit erst ab, wenn sie der Lesbarkeit zugeordnet werden, die sich im Lauf der Geschichte der Schrift zunehmend herausgestellt hat als das Prinzip. Zwar ist die Alphabetschrift nur einmal erfunden worden, aber sie war nicht im selben Moment schon zum Optimum an Lesbarkeit gelangt. Die Ausrationalisierung der alphabetischen Schrift folgte dem Kriterium der Lesbarkeit. Was zuerst die Phonematik anlangt, so widerspricht bereits die älteste Konsonantenschrift der semitischen Sprachen der phonematischen These. Sie erfüllt kein lautschriftliches Bedürfnis, das sie zu anderem Umgang mit Vokalen verpflichtet hätte, sondern allein dies, sie müsse unter den Gegebenheiten semitischer Sprachen hinreichend lesbar sein. Und der Übergang zur griechischen Schrift, die phönizische Konsonantenschrift mit kyprischen Vokalbuchstaben kombiniert, will keinen lautschriftlichen Mangel ausgleichen, sondern folgt al86 87
Stetter, ebd. 53. Stetter, ebd. 55.
2. Die Schrift – Das Zeichen und die Wörter
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lein dem Bedürfnis, unter Gegebenheiten der griechischen Morphologie möglichst eindeutige Lesbarkeit zu erzielen. Das heißt aber nicht, dass die Schrift damit bereits ausrationalisiert wäre. Vielmehr beginnt die Geschichte ihrer Rationalisierung erst. Hieraus folgt der „Grundsatz: Buchstaben werden und wurden erst recht nicht bei der Entwicklung des Alphabets dazu verwendet, Laute zu bezeichnen, sondern ausschließlich dazu, lesbare Wörter oder Texte zu schreiben.“88 Phonematik, verstanden als Binnendifferenzierung der Sprache bis hin zu den Phonemen als den kleinsten bedeutungsdifferenzierenden Einheiten, muss nur getrieben werden, soweit zum Zweck der Lesbarkeit erforderlich. Sie ist keine Funktion von Lautschriftlichkeit – Lautschrift wäre ein anderes, sekundäres Kapitel von Schrift –, sondern eine solche von Lesbarkeit. Und wie Lesen dadurch geschieht, dass etwas, was sinnlich wahrnehmbar ist, gerade nicht sinnlich wahrgenommen, sondern als unsinnlicher Sinn verstanden wird, so muss die Analyse der Sprache, soll sie als Schrift lesbar sein, nur soweit, soweit aber unbedingt, getrieben werden, bis hinter den bedeutenden Einheiten wie Lexemen und Morphemen an sich unbedeutende bloßgelegt werden: die Phoneme, die nicht als Identitäten, sondern als Differenzen bedeutungsentscheidend, das heißt für die Lesbarkeit entscheidend sind. Was sodann die Arbitrarität anlangt, muss auch dieses vermeintliche Prinzip dem Kriterium der Lesbarkeit untergeordnet werden. Wie dem phonematischen Prinzip das Urteil widerfährt: „Das Gegenteil ist der Fall“,89 so auch der Hypothese der Arbitrarität. Wie die These der Phonographie „Schreib, wie du sprichst“ die Verkehrung ins Gegenteil erfährt, so auch die These der Konventionalität „Schreib, wie du schreibst“. An ihre Stelle tritt die Verkehrung der Arbitrarität in „Schreib, wie man schreibt“.90 Die Schrift wird zur Norm des Schreibens. Was ist Schrift? Sie ist nichts als Schottel, Adelung, Duden: ein umständliches, immer umständlicher werdendes Regelwerk des Schreibens. Dass die erneut sichtbar werdende Arbitrarität keine Arbitrarität im ersten Sinn ist, liegt auf der Hand. Die konventionalistische Deutung der Schreibschrift verkennt den Normierungsgrad der Schreibregeln. Mögen diese auch Ausdruck von Konvention sein, so doch einer allgemeinen. Gerade darin erweist sich die Konvention als der Lesbarkeit untergeordnet. Wir nennen die Lesbarkeit das Schriftprinzip, weil sie die beiden rivalisierenden Prinzipien der Phonematik und der Arbitrarität über ihren Widerspruch untereinander und je in sich ins Bild setzt und dabei selbst die Rolle des Prinzips einnimmt. Nun lässt sich noch deutlicher sagen, was Schriftprinzip heißt. Es heißt, „daß Schrift überhaupt durch Schrift geregelt“ wird.91 Damit hat das philosophische Schriftprinzip die Struktur erreicht, die bereits das theologische Schriftprinzip mit seinem „scrip88 Stetter,
ebd. 59. Stetter, ebd. 60. 90 Stetter, ebd. 68. 91 Stetter, ebd. 73. 89
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tura sui ipsius interpres“ erreicht hatte, die tautologische Beziehung der Schrift auf sich selbst als hinreichende Bedingung dafür, dass Lesen beginnt.
c. Zeichen des Zeichens So entgegengesetzt die Blickrichtungen der beiden zurückliegenden Abschnitte waren, einmal primäre Oralität, dann primäre Literalität, stimmten sie darin überein, dass die Schrift insoweit zum Thema wurde, als sie Worte zur Wörtern macht und also zu Zeichen. Ist dies so, dann stehen zwei Dinge aus. Auf der einen Seite die Einlösung des Satzes, mit dem wir begannen: Worte sind nicht Zeichen. Einerlei ob primäre Oralität oder primäre Literalität: das Wort und die Worte stehen aus. Sie stehen bevor; wir schieben sie vor uns her. Auf der anderen Seite findet die Behauptung, die Schrift sei nicht nur Zeichen, sondern Zeichen des Zeichens, breite, frontenübergreifende Zustimmung. Die Reduplikation des Zeichens bringt aber auch die Behauptung der Sekundarität der Schrift mit sich, die anders als die erste Behauptung Gegenstand heftigster Kritik ist. „Mit einer Notwendigkeit, die kaum wahrzunehmen ist“ – formuliert Derrida als Zeitansage und „Programm“ –, hört der Begriff der Schrift auf, „eine besondere und abgeleitete, eine Hilfsform der Sprache im allgemeinen (…), die Hülle, das inkonsistente Doppel eines höheren Signifikanten, den Signifikanten des Signifikanten zu bezeichnen.“92 Hier wird der Epoche des Logophonozentrismus, die in Aristoteles ihre wirkmächtigste Ausformulierung gefunden hatte, das Ende diktiert. Will man Logozentrismuskritik üben, muss man sich zuerst gegen Aristoteles’ Festlegung der Schrift als Zeichen des Zeichens wenden. Und zweitens ist angezeigt, Wilhelm von Humboldts Äußerungen zur Schrift als Zeichen des Zeichens aufzurufen, die von Derridas Kritik ganz unberührt bleiben. Aristoteles
Für Derrida ist die Einleitungspassage von De interpretatione, der Schrift, die mit anderen zum Organon vereint als Einleitung ins Corpus Aristotelicum als ganzes verstanden werden will, das Tor, das den Logozentrismus eröffnet und eine angemessene Theorie der Schrift versperrt. Hier muss die Kritik ansetzen, um eine Fehlentwicklung zu Ende zu bringen. Nicht weniger als das Zeitalter der metaphysischen Onto-Theologie soll wieder dorthin geschickt werden, woher es kam. Die Ordnung, genauer das Gefälle, das Aristoteles zwischen Sein, Seele, Stimme und Schrift herstellt, geht unverkennbar mit Wertungen einher. Demzufolge, was Derrida bei ihm zu lesen glaubt, bestünde – wie er mit dem Irrealis des Zitats sagt – „[z]wischen dem Sein und der Seele, den Dingen und den Affektionen [der Dinge …] ein Verhält92
Derrida, Grammatologie, 17.
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nis natürlicher Übersetzung oder Bedeutung; zwischen der Seele und dem Logos ein Verhältnis konventioneller Zeichengebung.“ Während hier die gesprochene Sprache ihren Ort hat, fällt die Schrift mit ihrer Konventionalität weit ab. „Die geschriebene Sprache hielte Konventionen fest, die miteinander weitere Konventionen eingingen.“93 Weitere Konventionen, das sind solche zweiten Grades. Was Derrida an Aristoteles oder dem geläufigen Aristotelismus wahrzunehmen meint, ist eine Hierarchie von vier Signifikanten, von denen drei sich auf den je vorangehenden Signifikanten als ihr Signifikat beziehen, während den obersten Rang Seele und Stimme einnehmen, die unter dem Terminus Logos zusammengehören wie Gedanke und Wort. Hier entsteht die Kollusion, die Derrida „Selbstpräsenz“ nennt und als „Phonie, durch die das Subjekt vermöge des unauflöslichen Systems des Sich-im-Sprechen-Vernehmens sich selbst affiziert“, denunziert.94 Bezeichnet nun Aristoteles sowohl das gesprochene (τὰ ἐν τῇ ϕωνῇ) wie das geschriebene Wort (τὰ γραϕόμενα) als Zeichen (σύμβολα) der jeweils vorgeordneten Stufe, dann wird unter der Voraussetzung, es handle sich um eine Kette von Signifikanten, der Schrift nur der sekundäre Status eines Zeichens des Zeichens zugebilligt. In Wahrheit ist diese Auffassung weder zwingend, noch auch nur wahrscheinlich. Der erste strittige materiale Satz aus De interpretatione95 dient der Einleitung in eine Schrift, ja eine Schrift, zudem in eine solche, die das Gebiet der Logik eröffnet. Es wäre daher kontraproduktiv, diesem ersten Satz eine schriftkritische Absicht beizulegen. Wenn Aristoteles sowohl gesprochene wie geschriebene Wörter als σύμβολα bezeichnet,96 ist seine Absicht nicht die der Nach‑ oder Unterordnung, sondern beide Arten von Wörtern werden unter ein und dieselbe Kategorie befasst, heiße sie σύμβολον oder σημεῖον.97 Ausschlaggebend für die Fehlinterpretation, die Derrida mit Recht moniert, ist die Fehlübersetzung von τὰ ἐν τῇ ϕωνῇ mit „die Laute, zu denen die Stimme gebildet wird“.98 Zufällig ist diese falsche Übersetzung freilich nicht; sie gibt einen breiten Strom der Aristotelesinterpretation wieder.99 Die Übersetzung ist ebenso falsch wie die verbreitete Auffassung, die Alphabetschrift sei eine Lautschrift. Kann diese These zwar für die Entstehung der phonographischen Schrift ein gewisses Recht beanspruchen, so nicht für ihre fortdauernde Funktion.100 Hierzu ist im zweiten Kapitel von De interpretatione das Entscheidende gesagt. Bereits zur Bestimmung des mündlichen Wortes, das ein σύμβολον ist, weil es seine Bedeutung κατὰ συνθήκην und nicht ϕύσει gewinnt, muss die Hilfe der Schriftlichkeit herbei 93
Derrida, ebd. 24. Derrida, ebd. 26. 95 Aristoteles, De int. 1, 16a3–4. 96 Aristoteles, De int. 1, 16a6; 2, 16a28. 97 Aristoteles, De int. 1, 16a6; Weidemann, Peri hermeneias, AWD I/2, 146. 98 Stetter, Schrift und Sprache, 37 Anm. 37; ders., Buchstabe und Zeichen 2014, 87. 99 Maas, ‚Die Schrift ist ein Zeichen für das, was in dem Gesprochenen ist‘ 1986. 100 Stetter, Schrift und Sprache, 62; ders., Buchstabe und Zeichen, 87. 94
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§ 3 Schrift und Sprache
gerufen werden. Worte sind keine ἀγράμματοι ψόϕοι.101 Das schriftliche Wort ist dem mündlichen nicht nachgeordnet, sondern hängt ursprünglich mit ihm zusammen. Gehört aber die Schriftlichkeit gleichursprünglich zur Bestimmung des mündlichen Wortes hinzu, kann der erste Satz nicht deren Nachordnung intendiert haben. Übersetzt man hingegen τὰ ἐν τῇ ϕωνῇ korrekt mit gesprochenem, τὰ γραϕόμενα mit geschriebenem Wort, so wird die Unterordnung des Buchstabens unter den Laut vermieden, was schon deshalb angemessen ist, weil zur Bestimmung des Lautes der Buchstabe genauso am Werk gewesen sein muss wie die Schrift zur Bestimmung der Sprache. Nun wird deutlich, wie im mikrologischen Problem der Übersetzung des Einleitungssatzes von De interpretatione sich nicht weniger abspielt als der Streit um Primarität von Oralität oder Literalität, wobei die erste für die Fehlübersetzung verantwortlich ist, die zweite dagegen sich als mit Aristoteles kompatibel erweist. Aristoteles zeichnet keine hierarchische Reihe, sondern „zwei ineinander verschachtelte semiotische Dreiecke“,102 das erste bestehend aus Sein, Seele und Stimme, das zweite ins erste hinein gezeichnet und bestehend aus Sein, Seele und Schrift, wobei die Schrift nicht etwa das Symbol symbolisiert, sondern genauso Gedanken symbolisiert, wie die Sprache Gedanken. Beschreibt aber das Verhältnis der beiden Dreiecke kein Nach-, sondern ein Ineinander, dann wird auch die Bezeichnung der Schrift als Zeichen des Zeichens, wenigstens was Aristoteles anlangt, hinfällig. Das geschriebene Wort ist ebenso Zeichen wie das gesprochene.
Wilhelm von Humboldt Obgleich interessiert an der Buchstabenschrift und ihrem Verhältnis zum Sprachbau, nimmt Humboldt an der traditionellen Kennzeichnung von Schrift als Zeichen des Zeichens keinen Anstoß. Er gebraucht sie selber. Schrift, sagt er, darf nicht „Zeichen des Gegenstandes“, sondern „nur Zeichen des Zeichens seyn“,103 und dies wird durch Buchstabenschrift vortrefflich erfüllt. Aber Humboldts Ausführungen signalisieren alles andere als den Rückfall in den Aristotelismus, der Derridas Kritik nicht standhält. Er artikuliert ein selbständiges Interesse an Schrift und besonders an Buchstabenschrift, weil sie etwas lehrt, was die Sprache allein nicht hätte lehren können. Da der Begriff der Schrift viele Schriften umfasst, belässt er es nicht beim Versuch Ueber den Zusammenhang der Schrift mit der Sprache,104 sondern spezifiziert ihn zu einem solchen Ueber die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau;105 er erblickt in der Buchstabenschrift eine ausgezeichnete, im Prin101 Aristoteles,
De int. 2, 16a24–29. zit. nach Weidemann, Peri hermeneias, AWD I/2, 148 f. 103 Humboldt, Ueber die Buchstabenschrift 1824, WW 3, 86 f. 104 Humboldt, Ueber den Zusammenhang, GS 5, 31–78. 105 Humboldt, Ueber die Buchstabenschrift, WW 3, 82–112. 102 H.-H. Lieb,
2. Die Schrift – Das Zeichen und die Wörter
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zip nicht zu übertreffende Art von Schrift. Unerachtet ihrer Verschiedenheit kommen beide Themen des Jahres 1824 darin überein, dass sie einen Zusammenhang zwischen Schrift und Sprache – nicht umgekehrt – postulieren, der dem nahekommt, was oben als primäre Literalität charakterisiert wurde. Zwar ist die Umkehrung des Zusammenhangs nicht ausgeschlossen, dringt sogar unversehens vor, wenn etwa das „genaue“ Verhältnis zwischen beiden als ein solches der Abhängigkeit der Schrift von der Sprache gekennzeichnet wird.106 Und ebenso bleibt zwar unbenommen, das Verhältnis zwischen Sprache und Schrift als ein solches der Gegenseitigkeit zu denken, was dem wahren Sachverhalt schon näher kommt: „Buchstabenschrift und Sprachanlage stehen […] in dem engsten Zusammenhange, und in durchgängiger Beziehung auf einander.“107 Aber der Akzent, den Humboldt zu setzen gedenkt, ist durchaus einseitig. Es geht um Buchstabenschrift und „den inneren Einfluss derselben auf die Sprache“;108 die Frage ist, „[w]odurch […] die Buchstabenschrift […] auf die Sprache wirkt“.109 Kommt der Schrift in Hinsicht auf Sprache Wirksamkeit zu, kann selbst deren fortwährende Bestimmung als Zeichen des Zeichens nicht den Sinn von Sekundarität implizieren, der sich im Aristotelismus damit verband. Als wirksame und Einfluss nehmende ist sie vielmehr auf ihre Weise primär. Allerdings besitzt der Begriff der Schrift eine außerordentliche Bandbreite, sobald man die Schriften der Völker in Augenschein nimmt.110 In weitester Betrachtung geht es um den „Unterscheidungspunkt in dem Zustande mit und ohne Schrift“,111 wobei die Grenzlinie aus dem Zusammenspiel von Schrift und Gedächtnis bestimmt wird. Sobald in diesem Verhältnis „das blosse Gedächtniss“ die Hauptrolle spielt, wird der Begriff der Schrift so weit und so schwach, dass er schließlich zum Verschwinden kommt. Wo ist Schrift stark? Offenbar da, wo sie „wahre“ Schrift ist, die „der Sprache allein angemessne“.112 Selbst wenn eine solche fehlt, kann sie zwar bis zu einem gewissen Grad ersetzt werden, aber ihre „eigenthümliche Wirkung […] kann nie und durch nichts ersetzt werden“.113 Somit erscheint das Spektrum der Schrift einerseits, wenn betrachtet nach Graden, weit hineinreichend in die Mannigfaltigkeit der Gedächtnishilfen und ‑mittel, andererseits aber, wenn betrachtet unter dem Gesichtspunkt von „Schriftvollkommenheit“,114 so eng, dass nur eine einzige Schriftart imstande 106
Humboldt, ebd. 82. ebd. 83; cf. 99: sie „befördern sich […] gegenseitig“. 108 Humboldt, ebd. 90. 109 Humboldt, ebd. 98. 110 Humboldt, ebd. 99–110. 111 Humboldt, ebd. 111, cf. 89. 112 Humboldt, ebd. 110, 111. 113 Humboldt, ebd. 112. 114 Humboldt, ebd. 110. 107 Humboldt,
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§ 3 Schrift und Sprache
ist, die Wirkung hervorzubringen, die der Sprache förderlich ist. Schrift erstreckt sich zwischen zwei Polen. In der früheren Studie hieß es: Unter Schrift im engsten Sinne kann man nur Zeichen verstehen, welche bestimmte Wörter in bestimmter Folge andeuten. Nur eine solche kann wirklich gelesen werden. Schrift im weitläufigsten Verstande ist dagegen Mittheilung blosser Gedanken, die durch Laute geschieht.115
Dem entspricht die spätere Fassung: wahre Schrift kann man nur diejenige nennen, welche bestimmte Wörter in bestimmter Folge andeutet, was, auch ohne Buchstaben, durch Begriffszeichen, und selbst durch Bilder möglich ist. Nennt man dagegen Schrift in weitläuftigstem Verstande jede Gedanken-Mittheilung, die durch Laute geschieht, […] so liegt zwischen diesen beiden Endpunkten ein weiter Raum für mannigfaltige Grade der Schriftvollkommenheit.116
Die Schwierigkeit dieser Unterscheidung liegt darin, dass sie die Pole Schrift und Bild ineinander verschachtelt. Während auf der einen Seite „alle Schrift“ in die „doppelte Art von Zeichen“, hier Bilder, dort Schriftzeichen zerfällt und so zwischen „eigentlich[em]“ und „weitläuftigere[m]“ Gebrauch schwankt,117 wiederholt sich die Differenz auf der anderen Seite, der wahren Schrift. Hier beginnt die Sequenz Bilderschrift, Figurenschrift, Buchstabenschrift; alle diese Schriften zeitigen Wirkung, die Bilderschrift so, dass sich „das Bild zum Schriftzeichen aufwirft“, was bewirkt, dass diese Schriftart Gedanken‑ und Sprachbildung nur „stört“,118 die Buchstabenschrift so, dass sie, wenn sie schon die reine Gedankennatur und Idealität der Sprache nicht „befördert“, so doch „negativ“119 wenigstens „nicht stört“.120 An dieser Stelle entscheidet sich das richtige Verständnis des Zeichens des Zeichens. Ausschließlich Buchstabenschrift erlangt die außerordentliche Qualität, mit Zeichen ohne störenden bildlichen Nebensinn zu arbeiten, das heißt mit Zeichen in strengem Sinn, die „nur Zeichen“ und nichts anderes sein wollen.121 Also impliziert das Zeichen des Zeichens keinerlei Zurücksetzung, sondern Beförderung in den ersten Rang. Alle Schrift wirkt. Aber nur Buchstabenschrift wirkt ideal und in einer der Gedankennatur der Sprache angemessenen Weise. Worin besteht die ausgezeichnete Qualität der Buchstabenschrift, mit der sie rekursiv auf Sprache und Rede „zurückwirkt“?122 Das „Wesen der Buchstabenschrift“ besteht in „Spaltung des verbundnen Lauts“. Schrift, an sich schon bewirkend, „dass sie 115
Humboldt, Ueber den Zusammenhang, GS 5, 34. Humboldt, Ueber die Buchstabenschrift, WW 3, 110. 117 Humboldt, ebd. 108 f. 118 Humboldt, ebd. 86 f. 119 Humboldt, ebd. 86. 120 Humboldt, ebd. 89. 121 Humboldt, ebd. 87. 122 Humboldt, ebd. 90, 99. 116
3. Die Sprache – Stimme, die Worte und das Wort
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die Sprache fest heftet,“123 lehrt „theilen“; aber Buchstabenschrift lehrt „theilen und theilen“. Die logische Teilung geht bis zum einfachen Wort, dagegen Teilung selbst noch des Wortes ist „das Geschäft der Buchstabenschrift“. Erst wenn etwas sich nicht noch einmal als zusammengesetzt erweist, ist das „Theilungsgeschäft der Sprache“ „vollendet“.124 Angelangt bei den „Elementen, den Grundlauten“,125 ist die Spaltung am Ziel. Aus diesem Grund ist die Buchstabenschrift unersetzlich und erfüllt als einzige den Begriff der „wahren“ Schrift. Ihre Rückwirkung auf die Sprache ist unverkennbar. Sie fördert die Prosphonese126 und, weiter eindringend in das Wesen der Sprache, die Artikulation.127 Sie fördert Rhythmus128 und grammatische Form.129 Wie die Sprache nicht nur aus der Seele heraustönt, sondern ihr eigenes Tönen als fremd Erklingendes wiedervernimmt,130 so produziert die Buchstabenschrift nicht nur Artikulation der Laute, sondern führt umgekehrt die innersten Hervorbringungen der Seele als äußere vor.131 Damit ist die Rückwirkung der Buchstabenschrift auf die Sprache nur Teil einer „Gesammtwirkung“, und wie jene vollendet und vollkommen ist, wenn sie „nicht stört“,132 so diese, wenn sie „nicht gestört“ wird, das heißt wenn Sprache und Buchstabenschrift in freier Idealität übereinstimmen und gegossen sind wie aus einer Form.133
3. Die Sprache – Stimme, die Worte und das Wort Vom Schriftprinzip wird in Philosophie und Theologie gehandelt. Obgleich dabei von Schrift verschiedener Gebrauch gemacht wird, dort im Sinn von Schrift überhaupt oder einer der Schriften, hier im Sinn eines bestimmten Korpus oder Kanons heiliger Schrift, ist nicht von schlechthin Verschiedenem die Rede. Wir sahen: Der früheste Beleg für Schrift überhaupt ist ἡ γραϕή/scriptura im Neuen Testament, und umgekehrt: כתבי־הקודשׁים/ἱερὰ γράμματα bezeichnet zwar ein bestimmtes Schriftkorpus, kann aber zugleich Bezeichnung von Schrift überhaupt sein, die im Geruch von Heiligkeit steht. Ist schon von daher nicht ratsam, den philosophischen und theologischen Sinn voneinander zu trennen, sind beide aufeinander zu beziehen. In beiden 123
Humboldt, ebd. 84. Humboldt, ebd. 90; „vollendet“ auch 91, 98. 125 Humboldt, ebd. 91. 126 Humboldt, ebd. 91 f. 127 Humboldt, ebd. 92 ff. 128 Humboldt, ebd. 96 ff. 129 Humboldt, ebd. 98 ff. 130 Humboldt, ebd. 93 f. 131 Humboldt, ebd. 95. 132 Humboldt, ebd. 89. 133 Humboldt, ebd. 85. 124
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§ 3 Schrift und Sprache
Disziplinen soll mit „Schriftprinzip“ zum Ausdruck gebracht werden, dass der Schrift der erste Rang gebührt. Damit ist den Fehlinterpretationen des Aristoteles und den missbräuchlichen Inanspruchnahmen der Formel „Zeichen des Zeichens“ das Wasser abgegraben von vornherein. Halten wir fest, dass am Schriftprinzip die Negation das Erste ist, dann bedeutet das, dass sie sich auch auf das Erste bezieht. Schrift ist nicht Erstes im Sinn der Einheitsmetaphysik. Es gibt die Vielzahl der Schriften; es gibt die Vielzahl heiliger Schriften. In jeder tatsächlichen Schrift ist nicht Identität am Werk, sondern Differenz. Ist aber das Schriftprinzip, das nicht nur besagt, dass Schrift nichts Sekundäres, sondern auch, dass sie nichts Primäres ist, von Anfang an kein Ausdruck von Identität, ist sie Erstes nur im Sinn einer ersten Differenz. Die früheste Differenz, die mit der Schrift gesetzt wird, ist die zur Sprache. An dieser Stelle bleibt Derridas Argumentation stark, selbst wenn alle erforderliche Derrida-Kritik durchlaufen wurde. Zwar erweist sich der Vorwurf des Logozentrismus als durch Schrift allererst hervorgebracht. Dieser kritische Einwand schwächt nicht Derridas früheste These, die mit dem Schriftprinzip die Differenz zum gesprochenen Wort an die erste Stelle rückt. Gegenüber dem unbedachten Changieren zwischen Schrift und Sprache, als seien sie identisch, oder wenn nicht identisch, doch analog, ist die Differenz vorzuziehen. Differenz kann dadurch, dass sie scharf wird, nur gewinnen. Indem wir schon aus Gründen des Lesens das Schriftprinzip stärken, das nach den erwähnten Vorformen „scriptura sui ipsius interpres“134 und „Schrift überhaupt durch Schrift geregelt“135 nunmehr auf die ebenso schlichte wie unverdächtige Tautologie hinausläuft „Die Schrift ist also die Schrift“,136 nicht Zeichen des Zeichens, nicht Abbild des Lauts, nicht Phonographie, sondern durchaus sie selbst und insofern Prinzip, wird die Differenz zur Sprache unübersehbar. In unserer Fokussierung auf Schrift schoben wir die Sprache und was mit ihr zusammenhängt, Stimme, Worte und Wort, vor uns her. Als derart Aufgeschobenes sollte es jetzt wenigstens vermerkt werden. a. Die Stimme Je mehr die Schrift qua Schriftprinzip zu sich selbst kommt und schon beinahe tautologisch wird, desto mehr setzt sie im Gegenzug die Stimme frei. Es wird sichtbar, in welchem Ausmaß die Wissenschaft von der Sprache ihren Gegenstand von der Schrift her konzipiert hat.
134
S. Anm. 28. S. Anm. 91. 136 Wiethölter, Stimme und Schrift 2008, 17. 135
3. Die Sprache – Stimme, die Worte und das Wort
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Phonologische Engführung Man spricht mit gutem Grund vom Skriptizismus der Linguistik. Die Sprachwissenschaft betrachtet ihren Gegenstand, die Sprache, als sei er ein literaler. Aus dieser Perspektive erscheint ihr eigentlicher Gewinn, darunter die Zuspitzung der Phonetik zur Phonologie, als Verlust. Die Phonologie reduziert die Stimme, die sich Herder nicht tönend genug vorstellen mochte und als Äußerung verstand, die nicht nur Menschen und Lebewesen, sondern der gesamten Kreatur eigen ist,137 und die Aristoteles immerhin noch als menschliche Stimme lautwerden ließ, sei es in der Logik138 als materialen Träger der Rede, in der Rhetorik139 als gestische und mimische, in der Poetik140 als melodische und rhythmische Performation der Sprache und in der Psychologie141 als Element, das nicht nur Belebtes (τὰ ἔμψυχα), sondern auch Unbelebtes (τὰ ἄψυχα) umfasst. Die Phonologie geht in der Entstimmlichung der Stimme soweit, dass diese geradezu als stimmlos bezeichnet werden muss. Hier ist die Stimme drauf und dran, aus der Sprachwissenschaft entlassen und einer nachträglich entworfenen Sprechwissenschaft übergeben zu werden. Von allen distinktiven Merkmalen der Stimme bleibt in der Phonologie nur die Opposition von Öffnung und Hemmung übrig.142 Sie reguliert das Phonem als kleinste bedeutungsdifferenzierende Spracheinheit. Der Einwand, es sei über die Gesichtspunkte Öffnung und Hemmung hinaus auch der Ort der Artikulation in Betracht zu ziehen, der Dentale, Labiale, Velare, Affrikate usw. zu unterscheiden gibt, verfängt nicht. Alle Artikulationsorte variieren lediglich den Gesichtspunkt der Hemmung in unterschiedlicher Weise, der schon in Öffnung/Hemmung enthalten war. Somit gilt phonologisch nur, was durch die Disjunktion Offen/Geschlossen unterschieden wird. Zwar sind, wie sich zeigen wird, weitere Merkmale, Dimensionen, Facetten der Stimme aufzurufen, und auch sie lassen, von Ausnahmen abgesehen, Oppositionen zu und verhalten sich disjunkt, aber keines von ihnen ist so disjunkt wie Offen/Geschlossen. Nur hier wird das Gegenteil kontradiktorisch ausgeschlossen. Öffnung und Verschluss, jeweils getrieben bis zum Maximum voller Öffnung und vollen Verschlusses, bieten im Feld der Stimme eine Kontradiktion, die nicht erweicht werden kann. Aufgefasst als zugelassene oder gehemmte, wirksame oder unterdrückte, anwesende oder abwesende Sonorität finden sie ihren basalen Ausdruck im reinen Vokalismus auf der einen und im reinen Konsonantismus auf der anderen Seite. Mit der Verwirklichung des Prinzips des 137 Herder, Über den Ursprung der Sprache 1772, WW 1, 741,6–8: „In der Reihe der Wesen hat jedes Ding seine Stimme und seine Sprache nach seiner Stimme.“ 138 Aristoteles, De int. 1, 16a3 f; 14, 23a32 f, 24b1 f. 139 Aristoteles, De art. rhet. III 1, 1403b7; III 7, 1408b7. 140 Aristoteles, De art. poet. 1, 1447a20; 20, 1456b20–1457a30. 141 Aristoteles, De an. II 8, 420b5. 142 Jakobson, Kindersprache 1941, § 23, SW 1, 375.
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§ 3 Schrift und Sprache
maximalen Kontrasts als Leitprinzip der Phonologie tritt das Maximum der Entstimmlichung ein, und der Gewinn zeigt seinen Verlust. „Aus einem unendlichen Kontinuum feinster Nuancen der Sonorität, Bewegung und Farbigkeit der Stimme schneidet [die Phonologie] schmale Segmente heraus und stellt diese gleichsam still.“143 Nicht bloß „gleichsam“, sondern die phonologische Reduktion der Stimme bewirkt deren Stillstellung. Ästhetische Fülle Christian Stetter spricht deshalb vom „Geburtsfehler der klassischen Phonologie“.144 Worin besteht er? Darin, dass die Phonologie das Verhältnis von Stimme und Schrift für einen Moment so festlegt, als sei Schrift Lautschrift. In der Tat gehört zur Alphabetschrift, dass sie ohne phonematische Spaltung des Lautstroms nicht gedacht werden kann, was die grundlegende Unterscheidung von Konsonanten und Vokalen, von Hemmung und Öffnung zur Folge hat. Das gilt aber nur im Moment der Entstehung, nicht für die Dauer der Evolution und der Funktion im jeweiligen Stadium der Evolution. Also stellt sich die Alphabetschrift so dar, dass sie zwar am äußersten Rand den Charakter der Lautschrift gerade noch berührt, im übrigen sich aber davon entfernt und den quasitautologischen Charakter annimmt, der in der Form des Schriftprinzips nicht nur einmal in Erscheinung getreten ist. Daraus folgt, dass die Phonologie kein Modell bietet, das über die Entstehung hinaus zur Erklärung von Schrift taugt. Sie ist notwendig, aber nicht hinreichend. Löst sich somit das Band zwischen Phonologie und Schrift auf der einen Seite, dann darf sich auf der anderen auch das Band lockern zwischen Phonologie und Phonetik oder Stimme überhaupt. „So wie man die Alphabetschrift – Sache und Begriff – von dem Mythos befreien muß, eine Lautschrift zu sein, so muß man die Phonologie und mit ihr die Linguistik des 20. Jahrhunderts ihres Skriptizismus entkleiden.“145 Mit demselben Sturm und Drang, mit dem Herder ausrief: „Nun lasset dem Menschen alle Sinne frei […]!“,146 möchte man fordern: Lasset dem Menschen die Stimme frei! Nicht bloß um die phonologische Engführung zu tilgen, die durch wechselseitige Exklusion von Öffnung und Hemmung herbeigeführt war, sondern um sie „wieder einzubetten“ in die „ästhetische Fülle“, die mit dem stimmlichen Ausdruck der Rede in Erscheinung tritt. Diese mag als „Vagheit“ erscheinen, in Wahrheit ist die unresezierte Stimme nur eine „ins Unendliche gehende Bestimmtheit“,147 die die Enge erschreckt, aber die Fülle erfreut. 143 Stetter,
Stimme und Schrift 2008, 126. ebd. 120. 145 Stetter, ebd. 126. 146 Herder, ebd., WW 1, 735,22. 147 Stetter, ebd. 127. 144 Stetter,
3. Die Sprache – Stimme, die Worte und das Wort
115
Nun treten zur phonologischen Disjunktion offen/geschlossen schwächere, weniger scharfe Distinktionen hinzu.148 Was die leibnahe, ans Sprachorgan, an die Physiologie von Stimmlippen und Stimmschlitz gebundene Grundfrequenz anlangt, handelt es sich um die Differenz hoch/tief; was die Standardabweichung von der Grundfrequenz anlangt, die von Person zu Person verschieden ist, um die Differenz monoton/melodisch. Wiederum in Hinsicht auf die Stimmdynamik, die teils habituell, teils situativ ist, werden bei der Lautstärke laut/leise, bei der Sprechgeschwindigkeit schnell/langsam unterschieden. Was hingegen den komplexen Bereich der Intonation und Satzmelodie anlangt, der durch die Segmente der Grundfrequenz und Stimmdynamik noch nicht in den Blick trat, kommen Oppositionen wie steigend/fallend und schwach/stark hinzu. Gleichen die genannten segmentalen Oppositionen der phonologischen darin, dass Distinktionen aufgeführt werden, wenn auch keine solchen, die deren striktem Ja/Nein gleichkommen, vielmehr Annäherung, Durchmischung, Durchdringung, Überlagerung offenhalten, so lässt die disjunktive Schärfe bei den folgenden Segmenten der Stimmqualität und des Akzents noch weiter nach. Was die Qualität, also die spezielle Klangfarbe der Stimme anlangt, mag zwar zwischen Kopf-, Knarr‑ und Flüsterstimme unterschieden werden, aber die menschliche Stimme wird erst angemessen charakterisiert, wenn sie als Mischung aller beschrieben wird. Und was schließlich den Akzent anlangt, Akzent nicht rhythmisch wie in der Prosodie, sondern als dialektale Eigenheit der Lautbildung, zerfließt die Ja/Nein-Grenze in feinste Übergänge, ohne sich deshalb ins Unbestimmte zu verlaufen. Wie sehr die segmentale Bestimmung der Stimme ins Unendliche geht, wird deutlich. Aber dieses Unendliche ist nicht das schlechte, ins Unbestimmte auslaufende, sondern das auf weitere Bestimmung wartende. Ob so feine Differenzen wie die zur Intonation gehörigen tune, tonicity und tonality ausreichen, um zu erschöpfen, was timbre ist, stehe dahin. Es ist der alte rhetorische Begriff der Bewegung, der der Stimme zur ästhetischen Fülle verhilft und ihrer phonologischen Stillstellung entgegenwirkt.
Stimmbruch Doch es genügt nicht, die Stimme bloß zwischen Stillstand und Bewegung, zwischen Enge und Weite, Leere und Fülle auszuspannen. Das würde heißen: Man hat Stimme und verfügt über sie wie über ein Mittel, wenn auch ein hervorragendes. Stärkung der Stimmlichkeit der Stimme, die auf unserem Weg von der Leere zur Fülle soeben in einigen Facetten vollzogen wurde, wäre dann nichts als Stärkung dessen, was ich habe, sofern ich Stimme habe. Über die Weise dieses Habens fand bisher noch keine Besinnung statt. Sobald aber zur Stimme ein Ich hinzutritt, das sich ihrer bedient, kommt die Brüchigkeit dieser Verbindung zu Bewusstsein. Statt dass die Stimme da ist, 148
König/Brandt, Die Stimme 2006.
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§ 3 Schrift und Sprache
wie von einem Mittel zu erwarten, ist sie vielmehr weg. Indem sie nämlich als Mittel da ist, ist sie auch schon da gewesen. Zu ihr gehören Zeitlichkeit, Flüchtigkeit. Erklingen ist Verklingen. Auf Dauer ist die Stimme nur Nachklang, Echo ihrer selbst. Und mit großer Wahrscheinlichkeit ist sie in ihrem tatsächlichen Erklingen auch schon aus einem vorausgehenden Nachklang hervorgegangen, indem sie in ihn als einen Vorklang hinein erklang. Wenn also zur Stimme, betrachtet als Substantialität oder Materialität, sei’s leere, sei’s volle, das Ich hinzukommt, das sich ihrer bedient, erscheint sie nicht nur als Mittel, sondern als Medium, das mich umgibt. Also ist die Stimme, die schon immer mit natürlich-künstlich149 oder ähnlichen Ausdrücken des Zwiespalts umschrieben wurde, weniger als Substanz zu betrachten, denn als Reflex oder Resonanz, und diese sind allenfalls ihre Substanz. Stimme ist also, wie sich herausstellt, wesentlich Stimmbruch. Als meine Stimme ist sie im Kern, substantiell, nicht nur akzidentell, gebrochen.150 Mir ist meine Stimme im Kern unzugänglich. Sie ist verborgen.151 Es ist paradox: Ich habe meine Stimme nur, solange ich sie nicht habe. Der Mythos von Vannemunne, dem estnisch-finnischen Orpheus, von dem Jacob Grimm erzählt,152 weiß davon. Unter allen Stimmen der Schöpfung – das Meer rauscht, der Wind pfeift, der Löwe brüllt, der Vogel singt – muss allein der nicht festgestellte Mensch der eigenen Stimme entraten. Doch der Mangel wird ihm zum Mehr. Von allen Kreaturen vermag nur das Mängelwesen Mensch, andere Stimmen zu imitieren.153 Thomas Bernhards Stimmenimitator stimmt zu; nur „seine eigene Stimme imitieren, sagte er, das könne er nicht.“154 Wie soll er imitieren, was es nicht gibt, noch je gegeben hat? Aber darin irrt Bernhard: Um überhaupt eine Stimme zu haben, muss der Mensch sogar die eigene imitieren, als sei sie seine eigene. So bleiben zwei Behauptungen wahr. Erstens, man kann alle Stimmen imitieren, nur die eigene nicht. Und zweitens, selbst seine eigene kann man nicht nicht imitieren, sonst hätte der Mensch keine. Weit entfernt davon, die Stimme als zum Menschen gehörige Ausstattung zu begreifen, die er hat und deren er sich nur zu bedienen braucht, ist sie ihm immer schon entzogen, da gebrochen. Seinen klassischen Ausdruck findet der Stimmbruch als Wesensmerkmal der menschlichen Stimme in Stellung und Inhalt von Psalm 141(140),1 im byzantinischen Abendgebet (ἑσπερινόν). Durch den Sitz am Vorabend des liturgischen 149
Kolesch, Natürlich künstlich 2004. Waldenfels, Stimme am Leitfaden des Leibes 2003, 24: „Die eigene Stimme, in der eine eigentümliche Fremdheit anklingt, erleidet einen genuinen Stimmbruch […].“ Ders., Das Lautwerden der Stimme 2006, 194: „Die Stimme, die in der Erfahrung laut wird, ist eine gebrochene, zerteilte, gespaltene Stimme, sie wird durchtönt von Vor‑ und Nachklängen, von Einklang und Missklang, sie ist ein Echo ihrer selbst.“ 151 Di Cesare, Die Verborgenheit der Stimme 2006. 152 J. Grimm, Deutsche Mythologie 1, 21844, 860. 153 Wheelwright, The burning fountain 1968, 3. 154 Bernhard, Der Stimmenimitator 1978, 10. 150
3. Die Sprache – Stimme, die Worte und das Wort
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Tages und erst recht vor Sonn‑ und Festtagen hervorgehoben, wird die Eingangssituation dieses Psalms noch verstärkt, indem ihm ein Traktat zur Unterweisung im Gebrauch der Stimme beim liturgischen Gesang vorangestellt wird, die Papadike.155 Der Umgang mit der Stimme ist aber nicht nur Thema der liturgischen Theorie, sondern auch der Texte selbst, die am Beginn des liturgischen Tages zur Aufführung kommen. Zu den Abendpsalmen (ψαλμοὶ ἐπιλύχνιοι), nach ihrem Initium Κύριε, ἐκέκραξα (Herr, ich rufe zu dir) Kekragarion genannt, gehören hierzu Psalm 141(140), 142(141), 130(129), samt 117(116) als abschließendem Lobpsalm. Entscheidend ist Psalm 141(140),1: Κύριε, ἐκέκραξα πρὸς σέ, εἰσάκουσόν μου· πρόσχες τῇ ϕωνῇ τῆς δεήσεώς μου ἐν τῷ κεκραγέναι με πρὸς σέ.
Herr, ich rufe zu dir, erhöre mich! Merke auf die Stimme meines Flehens, wenn ich zu dir rufe.
Ebenso Psalm 130(129),2: Κύριε, εἰσάκουσόν τῆς ϕωνῆς μου· γενηθήτω τὰ ὦτά σου προσέχοντα εἰς τὴν ϕωνὴν τῆς δεήσεώς μου.
Herr, höre meine Stimme! Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens!
Beide Psalmen wurden hier nach dem untropierten, vorliturgischen Wortlaut der Septuaginta zitiert. Beide sind Stimme und enthalten zugleich Aussagen über die Stimme. So schneiden sich zwei Ebenen; die performative, unmittelbar dargeboten durch die Sprech‑ oder Singstimme, und die reflexive, bezogen darauf, was mit der Stimme durch ihre Erhörung geschieht. Was Letzteres anlangt, so handelt es sich nicht nur um extensives Hören (ἀκούειν) von etwas, sondern um ein solches, das zum Erhören (εἰσακούειν) intensiviert wurde. Wir würden es im Unterschied zum Hören von etwas ein solches auf etwas nennen, mehr: nicht auf etwas, sondern als Hinhören, das vom Etwas-Hören so verschieden ist wie écouter von entendre, to listen von to hear und ascoltare von udire. Ist also das in beiden Psalmen erbetene Hören nicht zu denken ohne Hören im Hören, so entsprechen dem die Aussagen zur Stimme aufs Genaueste. Als an sich schon in Stimme vorgetragene Aussagen über die Stimme tragen sie den Reflex oder die Resonanz dessen, was soeben als Stimmbruch bezeichnet wurde, schon an sich. Ebendies bringt der Wortlaut der Psalmverse präzis auf den Punkt. Das hinhörende, erhörende Hören wird nicht erbeten für den in der Bitte enthaltenen, gemeinten und bedeuteten Inhalt, der ein Etwas ist und sich nach Bedarf zu einer ganzen Anzahl weiterer Bitten um ein näher zu beschreibendes Etwas vervielfältigen kann, sondern für die ϕωνὴ τῆς δεήσεώς μου (Stimme meines Bittens), offenbar für die Stimme in der Stimme, die als transzendentale Vergangenheit – ἐκέκραξα, τὸ κεκραγέναι με – der aktualen Performation vorausliegt, von ihr aber auch aktuell vorausgesetzt wird. Das ist es, 155 Giannelos, La musique byzantine 1996, 27, 98–147; Wanek, Nachbyzantinischer liturgischer Gesang 2007, 189 ff; die Papadike 192–203.
§ 3 Schrift und Sprache
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was das Kekragarion als Initium des liturgischen Tages zu Theorie und Praxis der Stimme zu bedenken gibt, und eben dasselbe ist es, was auf phänomenologischem Wege unter dem Stichwort des Stimmbruchs zur Stimme überhaupt in Erfahrung zu bringen war. b. Die Worte und das Wort Wie es bei den Ausführungen über die Stimme nicht darum ging, eine zusammenhängende Phänomenologie vorzulegen, sondern nur um Hervorhebung der Merkposten Leere, Fülle und Bruch, so auch bei den Worten und dem Wort. Der Ansatz beim Lesen, den wir gewählt haben, begibt sich in das Feld dessen, was sekundäre Oralität genannt wird. Diese schiebt die Fülle der Stimme ebenso vor sich her wie die Fülle der Worte und des Worts. Gerade weil unser Ziel nichts anderes sein kann als immer genaueres Lesen, das heißt Fortgang vom Buchstaben zur Schrift, von der Schrift zum Text, mit dem dem Lesen erstmals sichere Basis und Plattform gegeben wird, schiebt sich die Erwartung, etwas zum Wort zu erfahren, immer weiter hinaus. Die einzelnen Schritte der Lesekunst, die sich in den Überschriften der zehn Paragraphen abbilden, enthalten jeweils zwei Glieder, verbunden durch „und“. Normalerweise ein Konnektivum, scheint „und“ in unserem Zusammenhang für Differenz zu stehen, sogar eine solche, die näher betrachtet eher größer als kleiner wird. Je stärker das Lesen intentione recta der Disziplinierung unterworfen wird, scheint es intentione obliqua der Enthemmung, wenn nicht Entfesselung einer Bewegung zu dienen, die im Rücken des Lesens losgeht. Die Stimme, das Wort wird vom Akt des Lesens durchaus nicht mitumfasst, so sehr es mit ihm zusammenhängt und von ihm ausgelöst wird. Es gibt anderes als Lesen, anderes als Schrift, anderes als Buchstaben. Hier geht es um das Wort und die Worte. Niemand zweifelt, dass das Wort Wort bereits Teil von Buchstabe und Schrift ist, von deren Betrachtung wir herkommen. Einerseits eine bestimmte Folge von Buchstaben, andererseits eine durch Spatien kenntlich gemachte Einheit von Schrift hat Wort den Sinn von Vokabel. Wir sprechen vom Wort als einem Zeichen, vom Wort als Wort. Das Wort ein Zeichen: das ist schnell zur Hand. Dagegen dahin, dass, wie eingangs gesagt, das Wort kein Zeichen sei, ist der Weg weit. Wie die Phonologie die Stimme in den Engpass äußerster Abstraktion führt, so die Linguistik das Wort. Gerade die Versuche, das Wort zu definieren, setzen, wie schon bei der Stimme, die ins Unendliche gehende Infinitheit des zu Definierenden frei, die sich je und je bemerklich macht, weil das „Wort [oder was dafür gehalten wird] nicht als Wort“ gelten kann.156 Wie vorhin der Ruf laut wurde: Lasset dem Menschen die Stimme frei, möchte man hier ausrufen: Wort ist nicht Wort! Lasset dem Menschen das Wort frei! Befreit es von Anführungszeichen! Die Entfesselung 156
Stetter, Schrift und Sprache, 27.
3. Die Sprache – Stimme, die Worte und das Wort
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des Wortes scheint im Wesentlichen als Sich-selbst-Entfesseln, Sich-selbst-Befreien vonstatten zu gehen. Es ist ein Unterschied: „das Wort“ und „das Wort selbst“.157 Das erste steht auf unsicherem Grund, es könnte „Wort“, gar nur „,Wort‘“ sein, im Plural „Wörter“. Dagegen das zweite will es selbst sein. Im deutschen Sprachgebrauch meldet sich die spekulative Kraft des Wortes. Sie arbeitet. Wörter sind noch keine Worte. „Wörter scheinen willkürlich, Worte sind es nicht.“158 Der Sprachgebrauch lehrt: Worte sind mehr als Wörter. Sie sind schon deshalb mehr, weil ihnen zukommt, zu treffen. Nicht genug damit. Selbst bei den Worten meldet sich noch einmal die selbsttranszendierende Kraft des Wortes. Worte können nicht als Wort gelten. Sie unterliegen der Unruhe, dass, wie eben gesagt, selbst das Wort, genauer: das, was dafür gehalten wird, nicht als Wort gelten kann. Die Selbsttranszendenz des Wortes verlangt, vom Plural zum Singular voranzuschreiten. Nun gilt es in äußerster Zuspitzung nur noch „das Wort als Wort“ ins Auge zu fassen.159 Das ist etwas anderes als Wort und übersteigt selbst die Differenz zwischen Wörtern und Worten. Man kann über Wortvergessenheit klagen. Aber der Merkposten der Worte und des Wortes, der hier zu markieren war, bietet keinerlei Anlass zu Klagen. Es geht nicht darum, dem Vergessen des Wortes entgegenzuwirken. Dem Wort kommt vielmehr ein Selbst zu, das bewirkt, dass es sich nicht vergisst.
157
Stetter, ebd. 164. Stetter, ebd. 156. 159 Stetter, ebd. 38; Jakobson, Was ist Poesie? 1933/34, TRF 2, 414 f/Poetik 1979, 79. 158
§ 4 Text und Rede Was nötigt, weiterzugehen zu Text und Rede? Was den Text anlangt, der im Vorgang des Lesens vor der Rede in Betracht kommt, so gilt, dass zwar jeder Text Schrift ist, aber nicht jede Schrift Text. Die Asymmetrie treibt voran. Alle Schrift ist Buchstabe, aber nicht alle Buchstaben sind Schrift; zur Schrift bedarf es eines Prinzips, das über die bloße Aggregation von Buchstaben hinausgeht. Buchstaben sind für die Schrift eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Der Form nach wiederholt sich dasselbe beim Übergang von der Schrift zum Text. Der Text ist einerseits Schrift noch einmal, andererseits ist er mehr als Schrift. Worin besteht sein Mehr? Die Schrift bietet zwar die Möglichkeit eines Textes, aber verwirklichen muss sich der Text selbst. Dieses Sich-selbst des Textes interessiert uns. Ein Text ist die je und je aktualisierte, realisierte Schrift. Eine Schrift, aber viele Texte, vielleicht unendlich viele. Die Schrift ist lediglich Potenz des Textes, während dieser sie in Akt und Aktualität überführt. Es gibt Schrift, es gibt Texte, aber was nötigt, von der Schrift weiterzugehen zum Text? Buchstaben werden nicht eigentlich gelesen, so sehr Lesen sich auf Buchstaben bezieht. Buchstaben werden buchstabiert, was ein misslicher, schwer daherkommender Modus von Lesen ist. Auch Schrift wird nicht eigentlich gelesen, so sehr sich alles Lesen auf Schrift bezieht. Zwar bindet Schrift ein bestimmtes Set von Buchstaben durch ihr Prinzip, das Schriftprinzip; sie wird, sofern Buchstabenschrift und solange es um das Prinzip ihrer Entstehung geht, lautiert, und sie wird differenziert, solange es um das Prinzip ihrer Funktion geht. Und selbst wenn Schrift als solche nicht eigentlich gelesen wird, spielt die Lesbarkeit eine so hervorragende Rolle in ihr, dass darin geradezu ihr Funktionsprinzip zu vermuten ist. Aber von der bloßen Lesbarkeit zum tatsächlichen Lesen ist es derselbe Schritt wie von der Schrift zum Text, und somit ist es das Lesen selbst, das nötigt, von der Schrift weiterzugehen zum Text. Daher genügt es nicht, bei der Schrift stehenzubleiben. Und im Rückblick erklärt sich die Differenz zwischen philosophischem und theologischem Schriftprinzip ein stückweit so, dass das philosophische Prinzip tatsächlich Schrift und nur Schrift meinte, das theologische dagegen unter Schrift stillschweigend allerlei anderes mitverstand, was in ihr bereits vorausgesetzt war. Zumindest der Text war schon mitimpliziert, und nicht nur Text überhaupt, sondern ein ganz bestimmter, was weitere Implikationen nach sich zieht. Es war die Heilige Schrift, die als Schrift schlechthin tituliert wurde. So zeichnet sich eine Linie ab, die nicht nur von der Schrift zum Text, sondern vom Text über den Text hinaus führt. Sie weiterzuführen,
§ 4 Text und Rede
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steht aus. Für jetzt muss genügen, den Text in seiner Differenz zur Schrift ins Auge zu fassen, wenn es denn für das Lesen ein nicht nur notwendiges, sondern hinreichendes Gegenüber geben soll. Aber warum Text und Rede? Die Überschriften der Lesetheologie kommen hinkend daher. Dabei scheinen sie für sich etwas Wohlgefügtes, Wohlorganisiertes zum Ausdruck zu bringen. Es ist das Selbstverständlichste von der Welt, dass Buchstabe und Laut zusammengehen, ebenso Schrift und Sprache. Handelt es sich doch um Aggregatzustände desselben. Gehen sie zusammen, hinken sie nicht. Das ist das geläufigste, flüssigste Verständnis des Verbindungswortes „und“. So jetzt auch bei Text und Rede. Was soll daran hinkend sein? Das „und“ breitet milden Frieden über beide. In der Tat gilt die Bezeichnung textus beiden, dem Schriftlichen wie dem Sprachlichen. Nicht nur der Text, auch die Rede, in der antiken Rhetorik vor allem sie, zieht die Bezeichnung textus auf sich. Es schwindet die Distanz, die zwischen Text und Rede erforderlich ist, um „und“ überhaupt zu platzieren. Die Rede ist ja der Text! In dieser kurzschlüssigen Klarheit leben frühere Kurzschlüsse wieder auf: Der Laut ist ja der Buchstabe! Die Sprache ist ja die Schrift! Hier jedoch, bei Text und Rede, stellt sich die Sprachgewohnheit in die Quere. Die Abwägung, ob Text mehr dem Schriftlichen oder dem Mündlichen zuzuordnen ist, beantwortet sie eindeutig. Ein Text ist schriftlich, und wenn man die Rede bei der Bestimmung von Text mitberücksichtigen will, ist Text allenfalls die schriftlich fixierte Rede, nicht aber die Rede als solche. Und selbst wenn es einmal so gewesen sein sollte: jetzt ist es nicht mehr so. Der Text ist ganz und gar schriftlich geworden. Textus ist nicht mehr die Beschreibung von oratio und sermo. Das geht wohl darauf zurück, dass das Wort textus seiner hohen Bildlichkeit wegen etwas zu sehen gibt. Wenn zu sehen, dann ist das Gesehene Sache der Schriftlichkeit, bevor sie Sache der Mündlichkeit ist. Es scheint die Metaphorizität von textus zu sein, die, der benachbarten structura ähnlich, Text und Rede auseinandertreibt. Sie bewirkt, dass wir den Text vorziehen und die Rede hinausschieben, entsprechend dem Verfahren bei Buchstabe und Laut und bei Schrift und Sprache. Obwohl die Verbindung beider das Selbstverständlichste sein könnte, hat sich eine Spannung, wenn nicht Kluft aufgetan. Nicht dass sie nichts miteinander zu tun hätten, aber ihre Beziehung ist nicht direkt, sondern durch eine Kluft hindurch, deren Ausmaß ermessen und ertragen werden will. Daher beginnen wir bei Text und Rede einseitig auf der Seite des Schriftlichen und zögern die Rede genauso künstlich hinaus, wie Laut und Sprache hinausgezögert wurden. Von einer Definition des Textes kann bisher keine Rede sein. Wir sind nur der Sprachgewohnheit gefolgt, die den Text einseitig auf die Seite der Schrift fallen lässt. Auch wenn das Wort undefiniert bleibt: es gibt offenbar Texte. Die Sache des Textes ist irgendwie bekannt, selbst wenn der Terminus unscharf ist. Es gibt schon das Wort Text, allerdings über weite Strecken unerforscht. Als es in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts plötzlich ins Licht der Aufmerk-
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§ 4 Text und Rede
samkeit trat, verlor es seine Naivität. Bisher lief es einfach undefiniert mit; man spricht vom „vorterminologischen“ Zustand.1 Nachdem es aus der Naivität fiel, häuften sich zwar die Definitionsversuche, aber sie gipfeln pikanterweise darin, dass mit Erreichen des terminologischen Zustands das Phänomen selbst zur Undeutlichkeit, wenn nicht zum Verschwinden gebracht wird. Die provokante These von Louis Hay lautet: „Le texte n’existe pas.“2 So entsteht der paradoxe, dem Tausendfüßler nachgesagte Sachverhalt, dass der Text zwar im vorreflexiven Zustand gehen konnte, wie die Überlieferung zeigt, in dem Moment aber, in dem reflektiert nach seiner Definition gefragt wird, verliert er die Sicherheit seines Gangs und beginnt sich zu verheddern. Hat man den Text nur, solange man seine Definition nicht hat, und verliert ihn, sobald eine seiner Definitionen zur Verfügung steht, muss sich der Eindruck verfestigen, der Text sei nicht nur undefiniert, sondern undefinierbar. Man hat oft darauf hingewiesen, dass Komposita von Text geläufig sind. Textphilologie, Textgeschichte, Textkritik sind seit langem, mindestens seit dem 19. Jahrhundert, bekannt. Und mit der erwähnten Wende nach Mitte des 20. Jahrhunderts, als der Begriff zur Hochkonjunktur auflief, traten aufs Ganze zielende Begriffsbildungen wie Textwissenschaft, Textlinguistik, Texttheorie hinzu. Der Eindruck verstärkt sich: Dem Text geht es gut, solange er sich in Nominalkomposita verstecken kann. Tritt er aber rücksichtslos auf als Text selbst, sieht er schnell alt aus. Anstatt sich zu verwirklichen, verliert er sich. Dieses paradoxe Wesen oder gleichviel Unwesen des Textes hat nicht nur dazu geführt, dass seine Undefiniertheit ausartete in Undefinierbarkeit, sondern dass man sich darauf zurückzog, ihm den minderen Status eines „impliziten Grundbegriffes“ oder „impliziten Zentralbegriff[es]“ zuzusprechen.3 Das soll zum Ausdruck bringen, dass der Textbegriff nur gut funktioniert, solange er implizit bleibt. Sehen wir uns aber veranlasst, die begriffliche Erwartung nicht preiszugeben, sie nur dahinzustellen, ergibt sich daraus der Spalt und die Freiheit, nach dem metaphorischen Status von Text zu fragen, nach dem also, was das Wort selbst zu denken, wenn nicht zu sehen gibt. Dies ist die Differenz zwischen dem begrifflichen und metaphorischen Status von Text. Einen begrifflichen, definitionstauglichen Status hätte Text erreicht, wenn das Wort ausschließlich besagt, was es unserer Einrichtung nach sagen darf. Jedoch besagt es seines metaphorischen Status wegen anderes und mehr. Selbstaktiv spielt es mit unserer definitorischen Aktivität. Ebendies ist die wunde Stelle, an der wir in den Textbegriff, der in Wahrheit eine Textmetapher ist, eingreifen können. Damit öffnet sich die Sicht auf die bevorstehende Abhandlung. Das Perspektiv ist die Sichtbarkeit der Texte. Texte liegen materiell vor Augen, geben 1
Martens, Was ist ein Text? 1989, 2. Hay, Le texte n’existe pas 1985. 3 Knobloch, Zum Status und zur Geschichte des Textbegriffs 1990, 74; ders., Art. Text/ Textualität 2005, 37a. 2
1. Die Sichtbarkeit des Textes
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etwas zu sehen, nicht nur als Inhalt oder Stoff, sondern als Form und als Erwartung von Form, die inskünftig mit der Wahrnehmung verbunden ist, wenn etwas Text genannt wird. Daher geht es nicht nur um die Materialität der Texte, sondern auch um deren Metaphorizität. Materialität und Metaphorizität sind zwei Seiten einer Medaille. Wird dies, als Eröffnung eines Perspektivs, der erste Gesichtspunkt sein, ist schon klar, was der letzte sein wird. Dass wir, indem wir die schriftliche Gestalt als für Texte konstitutiv bevorzugen, die Rede hinauszögern soweit es nur geht, bringt mit sich, dass ihr und allem, was zur Rede gehört: Vorlesen und Rezitieren, auch Sprechen und Reden eines Textes von sich selbst her, ferner die Glosse, der Kommentar, die Auslegung usw. usf., der letzte Platz zugewiesen wird. Zwischen dem ersten und dem letzten Stück muss der Textbegriff vorangetrieben werden, der zwar hintangestellt wird, aber nicht preisgegeben. Hier zeigt sich, dass die den Textbegriff eröffnende Textmetapher genau das tut, was Metaphern auch sonst tun, wenn sie nicht durch Definitionen sterilisiert wurden. Die Metapher Text hinterlässt im Textbegriff ein Ja und ein Nein, das weder nach der einen noch nach der anderen Seite auflösbar ist. Geläufige Oppositionspaare hierfür sind etwa Geschlossenheit/Offenheit, Wiederholbarkeit/Unwiederholbarkeit. Oppositionen dieser Art werden uns im mittleren Stück leiten, wenn die Polarität des Textes ihre begriffliche Explikation findet.
1. Die Sichtbarkeit des Textes Beginnen wir mit dem Text in seiner schriftlichen Gestalt, beginnen wir mit seiner Sichtbarkeit. Dass dies im Blick auf die Begriffsgeschichte von textus (Text), soweit sie zugänglich ist, einen voraussetzungsvollen Beginn darstellt, ist keine Frage. Um dem naheliegenden Einwand zu begegnen, es handle sich um eine höchst selektive Wahrnehmung, die die Seite der Oralität des Textes einfach ausblendet, müsste man die Geschichte des Textbegriffs als eine solche zunehmender Entmündlichung erzählen können. Dafür gibt es nur einzelne Anhaltspunkte, die zur Generalisierung kaum ausreichen. Der Anhaltspunkt, der erlaubt, von der Sichtbarkeit des Textes zu sprechen, liegt nicht auf der Ebene geschichtlicher Erscheinungen, die durch entgegenstehende entkräftet werden können. Er liegt in der Vokabel Text selbst. Die Sichtbarkeit des Textes ist eine andere als die der Schrift.4 Gewiss sind beide verwandt, aber nur, weil sie verschieden sind. Die Sichtbarkeit der Schrift ist die Sichtbarkeit einer Unsichtbarkeit tout court. Zwar ist Schrift in einzelnen Zeichen sichtbar, aber das Schriftprinzip als solches ist nicht sichtbar, und gleichwohl ist es in der Sichtbarkeit der Schrift am Werk. Dagegen in der Sichtbarkeit des 4
Strätling/Witte (Hg.), Die Sichtbarkeit der Schrift 2006.
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§ 4 Text und Rede
Textes, vorausgesetzt, dass der Text die Potentialität der Schrift zur Aktualität bringt, erscheint Sichtbarkeit nicht ein-, sondern zweimal. Erst dadurch, dass beim Text Sichtbarkeit auf Sichtbarkeit stößt, wird er zur Sichtbarkeit einer Unsichtbarkeit. Diese stoßende Komplexion, die eintritt, sobald man von der Schrift zum Text weitergeht, kommt allein dadurch zustande, dass es sich um einen Text handelt, nicht nur um Schrift. Ein Text operiert vi vocis so, dass er Sichtbares mit Sichtbarem verbindet. Wie er das tut, ist verschieden je nach dem genauen Verständnis des Wortes.5 Man kann in Text die griechische Wurzel stark machen. Dann ist auszugehen von τεκ*, was Vorstellungen aus Tektonik und Architektur evoziert. Text ist Prozess oder Resultat des Bauens, und wie Stein zu Stein gefügt wird, so Sichtbares zu Sichtbarem. Keineswegs handelt es sich um die Illustration eines zuvor schon in abstracto vollzogenen Sachverhalts, sondern die Sichtbarkeit des Bauens als tektonischer Vorgang ist schon die ganze Anschaulichkeit. Im Prozess des Bauens hat das Fügen die genaue Gestalt des Verfugens und der Verfugung. Texte werden architektonisch wahrgenommen. Man kennt die hebräische Schreibtechnik Ziegel auf Fuge oder Ziegel auf Halbziegel, die bei einigen poetischen Texten zur Anwendung kam.6 Aber die so entstandene, gleichsam durchlüftete Form ist nur eine Ausnahme von der geschlossenen, die ihrerseits in verschiedensten Verbünden wie Blockverband, Kreuzverband u. a. auftritt. Man kann in Text auch die lateinische Wurzel stark machen. Dann ist auszugehen von tex*, was auf bestimmte Formen des Umgangs mit Fäden, sei es als Weben, sei es als Flechten, hindeutet. Beides ist nicht dasselbe. Welches von beiden also? Offenbar darf man sich bei Einzelheiten nicht aufhalten. Wie bei Mauerverbünden eine Vielzahl von Mustern anstürmt, kommt bei der Verbindung von zwei oder mehr Fäden eine wahre Unzahl archaischer Handwerkstechniken auf uns zu. Außer dem Spinnen, das zur Verbindung von Fäden immer schon getan sein muss, kommen zu Weben und Flechten hinzu: Sticken, Stricken, Wirken, Häkeln, Klöppeln, Knüpfen, Knoten, Schnüren, Ketten, Winden. Und alsbald beginnt erst die Zusammenfügung von Texten und Textstücken, das Nähen, Flicken, Quilten, Stopfen usw. Auch hier handelt es sich um verschiedene Formen des Fügens, zwar nicht mit Steinen und Ziegeln, aber mit Fäden, Ruten, Weiden oder was immer biegbar ist. Dass beide Bildwelten sich berühren können, zeigt die Vokabel Wand. Zuerst ist sie das Resultat des Windens von Weiden, die mit Lehm beworfen werden, dann wird sie aufgeführt aus Stein. Jedoch eine Differenz zwischen der eigentlichen Gebrauchsweise von Bauen, Weben, Winden auf der einen und der uneigentlichen auf der anderen Seite ist zu beachten. Jene geschehen im Raum, diese auf der Fläche. Es geht nicht 5 6
Wagner-Hasel, Textus und texere, hýphos und hyphaínen 2006. Ex 15; Dt 32; Ri 5.
1. Die Sichtbarkeit des Textes
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um das Gebäude, nur um die Wand. Ein Text hat keinen Raum. Die Rede von der Tiefe des Texts in Opposition zur Oberfläche ist uneigentlichen Charakters. Die Tiefe des Textes ist unsichtbar; gerade deshalb muss von ihr die Rede sein. Jetzt aber handeln wir nur von der Sichtbarkeit des Texts. Sichtbar ist er in der die Metaphern des Bauens, des Webens und Windens bestimmenden Zweidimensionalität. Sie ist der Anlass, von zwei Sichtbarkeiten zu sprechen, durch die der Text von der Sichtbarkeit der Buchstaben und der Schrift absticht. Sichtbarkeit ist kein ausschließliches Merkmal des Textes. Die Sichtbarkeit des Buchstabens – denken wir an das delphische E oder das patmische ΑΩ – ist monogrammatisch, die Sichtbarkeit der Schrift grammatisch. Das heißt nicht, dass Schrift nur als Zusammenstellung von Monogrammen funktionierte; ihr Funktionsprinzip ist die Unterscheidbarkeit oder Differentialität, gemäß der These des Strukturalismus, hinter die nicht zurückgegangen werden soll. Daher ist sie auch im Sinn des Strukturalismus fortzuführen. Struktur (structura)7 entsteht, sobald gebaut, gewoben, gewunden wird, kurz: sobald Schrift beginnt, mit Mitteln von Schrift und nichts als Schrift auf sich selbst Bezug zu nehmen, sozusagen mit sich selbst in Berührung kommt. Das heißt, sobald Schrift selbstreflektorisch wird. Man kann es nicht einfach genug sagen, weil das Erstaunen so elementar und jeden Moment frisch ist. An sich hätte die Schrift allen Anlass, immer geradeaus zu gehen. Zu ihr gehört die Schriftlinie, Zeile genannt, einerlei in welcher Richtung sie verläuft, rechts oder links, waagrecht oder senkrecht. Einerlei ob sie Anfang und Ende hat oder, was wahrscheinlicher ist, gerade nicht: entscheidend ist, dass Schrift geradeaus geht und so ihr differentielles und kombinatorisches Tun weiter und weiter auswickelt. Aber etwas ganz anderes ist es, wenn die Schriftzeile, die an sich geradeaus geht, nicht geradeaus geht, weil aus der Zeile eine Seite entsteht, auf der sich, schon aus Gründen des verfügbaren Platzes, Zeile an Zeile reiht. Dann ist die Eindimensionalität der Zeile, womöglich wider Willen, in Zweidimensionalität übergegangen. Zwar kann die Zeile an sich nichts als geradeaus gehen, aber die Seite als verfügbarer Flächeninhalt nötigt sie, davon abzuweichen. Was eintritt, ist Zeilenbruch. Und während die Zeile weiter so tut, als würde sie in directum fortlaufen, widerfährt ihr ein indirectum. Wir sprechen von Zeilenbruch. Der Bruch geht der Zeile gegen den Strich. Damit ist Text entstanden, vor unseren Augen. Das ist Sichtbarkeit des Textes. Sie ist mindestens nach zwei Gesichtspunkten zu entfalten, einmal in Hinsicht auf ihre Materialität, sodann in Hinsicht auf ihre Metaphorizität.
a. Materialität Gewiss ist es unumgänglich, in Hinsicht auf Text von Materialität zu sprechen, und im Unterschied zu Buchstabe und Schrift sogar von einer dichteren. 7
Lieberg, Der Begriff ‚structura‘ 1956. Scholtz, ‚Structura‘ 1969.
126
§ 4 Text und Rede
Was heißt dichte Materialität? Häufig wird sie verwechselt mit Materialität schlechthin, und eine solche vom Text auszusagen würde heißen, dessen verteidigenswerte Materialität unzulässig zu materialisieren und zu verdinglichen. Spricht man von Materialität der Texte, hat dies einen kritischen Einschlag. Er richtet sich gegen Auffassungen, die sich allzu sehr oder allein im Bereich des Differentiellen und der kombinatorischen Techniken bewegen, aus denen ein Text hervorgeht. Ihnen gegenüber wird argumentiert, dem Text sei der materiale Aspekt wesentlich, nicht nur begleitend und so, dass er wieder von ihm abgezogen werden könnte, wie es die These von der Idealität des Textes will. Ein Text liegt allen Gesichtspunkten der Erzeugung zum Trotz in irgendeiner Weise immer schon vor; liegt er aber vor, dann liegt er – strackt er – nicht einfach da, wie Materie es tut, wenn sie dem Zustand der Verdinglichung überlassen ist, wird vielmehr vorgehalten. Es gibt, beginnend mit archaischen Riten bis hin zu rezenten Praktiken, so etwas wie Umgang mit dem Text, der sich entsprechend mehr oder weniger umgänglich oder sperrig zeigt. Kurz, die Materialität des Textes ist eine getragene, womöglich sogar sich selbst tragende, und dies erfordert, die Materialität des Textes, selbst wenn sie, wie hier vorausgesetzt, an Dichtigkeit nichts fehlen lässt, weder absacken zu lassen in Verdinglichung, noch der Verflüchtigung in Idealität anheimzugeben. Schwarz auf Weiß Beginnen wir mit der Materialität des Textes, wo sie am materiellsten zu sein scheint. „Der Begriff ‚Text‘ – heißt es etwa – umfaßt alle schriftlich fixierte Sprache im Sinne des ‚Schwarz auf Weiß‘.“8 Dieser Satz ist in seiner Richtigkeit kaum zu bremsen; als Kraftausdruck trifft er zudem ins Schwarze. Ob er auch den Text trifft? Es gibt Unterschiede; unter ihnen ist der von Schwarz und Weiß, weil es sich um keine Farben handelt, nicht nur knallig, sondern eklatant. Nur ausgerechnet was Texte anlangt, ist er die feine Art nicht. Nicht nur zeigt sich Tinte, sofern zur Handschrift gebraucht, meist in Blau, sondern auch die Druckerschwärze bleibt um Grade hinter Schwarz zurück, wo es am schwärzesten ist. Unnötig, das Entsprechende vom Papier hinzuzufügen, das fern davon, schlechthin weiß zu sein, sich in unendlichen Brechungen von Weiß bewegt. Zwar wird weithin in hartem Gegensatz gedruckt, aber dem Auge bekommt das nicht. Also ist es Kunst, den Text so einzurichten, dass Weiß sich in Richtung Chamois verschiebt, und Schwarz gelichtet wird durch den Übergang in Grau oder eine geringe Beimischung von Farbe. Der Liebhaber von Schwarz auf Weiß nimmt das Wort grau nicht gern in den Mund, und dennoch wagt Clemens Knobloch dagegenzuhalten: „Als Texte […] sind alle Sprachwerke gleichermaßen grau“.9 Er erinnert an das Ideal der Druck8 9
Glaser, Literaturwissenschaft und Textwissenschaft 1973, 23. Knobloch, Art. Text/Textualität 2005, 24b.
1. Die Sichtbarkeit des Textes
127
seite. Wenn gegen das Licht gehalten, sollte der Buchstabenvorrat nach Licht und Schatten möglichst gleichmäßig über die Seite verteilt sein, keine Lichtflecke oder Lichtrisse, Lichtschlitze dürfen hervortreten; Aufgabe des Setzers oder Formatierers ist es, möglichst kontinuierliches Grau über den Textspiegel hin zu verbreiten. Wenn dies das Ideal der Präsentation eines Textes ist, dann bleibt vom Brustton des Schwarz auf Weiß nicht mehr als das Grau in Grau, das Carsten Pallesen fasziniert.10 An die Stelle maximalen Kontrastes, der dem Auge weh tut, tritt der minimale, der das Auge zur Leistung befreit. Und statt dass der erscheinende Text gemessen wird am Maßstab Schwarz auf Weiß, tritt die Umkehrung ein, dass er als knapp vermiedenes Grau begriffen wird; es ist somit der kleinstmögliche Kontrast, mit dem er arbeitet. Dies mag erhellen, in welchem Sinn von der Materialität der Texte die Rede sein kann. Es ist nicht der schwerste, vielmehr der leichteste Gegensatz, in dem Materialität auf uns zukommt. Das Grau in Grau bezeichnet den Punkt, an dem die Idealität wenn auch noch so gering, bereits materiell ist, und umgekehrt: an dem sie, wenn noch so gering, bereits ideal ist und als von uns getragene entgegenkommt, wie es beim Text der Fall ist. Schwarzes Feuer auf weißem Feuer Was bei Schwarz auf Weiß, wenn gebunden an den Druck, stillschweigend vorausgesetzt war, ist das Papier. Als beinah Vergessenes zeugt es von der Materialität, die Texten eigentümlich ist. Sie ist so präsent, dass man sie getrost wieder vergessen kann. Hingegen die jüdische, genauer die kabbalistische Variante in Hinsicht auf Texte und vor allem auf den Text, die Thora, Schwarzes Feuer auf weißem Feuer, lebt von Pergament als Schreibgrund. Sie scheint nur den bekannten Sachverhalt bildintensiver zu wiederholen. In Wahrheit betreibt sie dessen Subversion. Auch wir haben soeben mit Grau in Grau die Subversion von Schwarz auf Weiß betrieben, indem wir dessen kraftmeierischem Ton entgegentraten. Jedoch der jüdische Gebrauch hebt diesen vollends aus den Angeln. Bisher war Schwarz das, was gilt; jetzt wird es zwar nicht ungültig schlechthin, aber dem Weiß hintangesetzt. Das weiße Feuer hinterleuchtet das schwarze. Man kann die kabbalistische Wendung ohne die Materialität des Pergaments nicht verstehen. Anders als Papier, das nichts als Oberfläche kennt und hat, hat das Pergament eine solche nur als vom Hintergrund hinterleuchtete. Pergament splittet sich in Haar‑ und Fleischseite, und gerade indem auf der einen Seite die Herkunft aus Haut deutlich wird, entsteht auf der anderen Seite das Feuer, von dem die kabbalistische Wendung spricht. Zwar starr, bilden die schwarzen Lettern die Außenseite, die von einer Innenseite hinterleuchtet wird, aus der die Weiße des Lichtes hervorbricht. Nie sind schwarze Buchstaben so fix, als dass sie nicht, auf dem Hintergrund 10
Pallesen, ‚Northern Prince Syndrome‘ 2013, 172.
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§ 4 Text und Rede
der weißen Seite, als Schwebung auf der Oberfläche zu erkennen wären. So kommt die Umkehrung zustande, die Gershom Scholem zu dem Ausruf veranlasst: „Die mystische Weiße der Buchstaben auf dem Pergament der Rolle ist die schriftliche Tora, aber nicht die Schwärze der von der Tinte umrissenen Schrift!“11 Und um der Umkehrung vollends die Sporen zu geben, muss begriffen werden, „daß die eigentlich schriftliche Thora aus dem weißen Untergrund besteht, der die schwarzen Buchstaben umschließt, von denen paradoxerweise gesagt wird, sie hätten die Gestalt der mündlichen Thora.“12 Man muss weiter ausholen, um die Aushöhlung von Schwarz auf Weiß durch die Kabbala nachvollziehen zu können. Wir reden von Texten, von ihrer Sichtbarkeit und Materialität. Daher blicken wir auf das Pergament als gewesene Haut. Die Kabbala fordert nun, zur Rede vom Text hinzu die Rede von Gott einzuführen. Gott und der Text der Thora: das ist nahezu dasselbe. Dies nicht, um in falschem Sublimationsbedürfnis der Materialität zu entfliehen, sondern um tiefer in sie einzudringen. „Alter jüdischer Überlieferung zufolge wurde die Thora als schwarzes Feuer auf weißem Feuer geschrieben, und zwar direkt auf den göttlichen Körper.“13 Wir sollten nicht zögern, den kruden Anthropomorphismus auszusprechen: Die Thora ist geschrieben auf Gottes Haut. An dieser Stelle kommen zwei Vorstellungen zusammen, Licht und Gewand. In sich ist Gott nichts als Licht, allerinnerste Thora, zusammengefasstes, unentfaltetes Licht. Tritt es nach außen, indem es sich selbst entfaltet, entsteht – „Licht ist dein Kleid, das du anhast“ Psalm 104,2 – ein Gewand, das Lichtkleid Gottes.14 In ihm berühren sich, was das Licht anlangt, die Vorstellung vom weißen Feuer mit der, was das Gewand anlangt, vom Gewebe eines Kleides. „Das Wesen des weißen Lichts […] wird verglichen mit dem Strahlen, das vom göttlichen Gewand ausgeht.“ Und: „Dieses Licht ist dem weißen Feuer vergleichbar, das […] mit Gottes Haut in Verbindung gebracht wird.“15 Es kann nicht unsere Aufgabe sein, die Zusammenführung dieser beiden Vergleiche durch Kritik zu verzögern oder hilfreiche Argumentation zu befördern, vielmehr genügt festzuhalten, was für die Umkehrung von Schwarz und Weiß daraus folgt. Während nach unserem Verständnis Schwarz auf Weiß die Technik bezeichnet, mit der ein bestimmter Sinn aus der umgebenden Unbestimmtheit klar und deutlich herausgestochen wird, kehrt die Kabbala die Verhältnisse um. Die schwarzen Lettern auf der hinterleuchteten Außenseite des Pergaments erscheinen vor dem Untergrund eines Schrift‑ und Lichtgewands, das seinerseits nur die Seite ist, mit der die Urthora, das Licht selbst, das Gott ist, in Erscheinung tritt. Daraus folgt: „Der begrenzte Zur Kabbala und ihrer Symbolik 1973, 71 f. ‚Schwarzes Feuer auf weißem Feuer‘ 1996, 31 f. 13 Idel, ebd. 39. 14 Vf., Rezitation und Zitation 2013, 50 Anm. 62. 15 Idel, ebd. 40. 11 Scholem, 12 Idel,
1. Die Sichtbarkeit des Textes
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Aspekt, das schwarze Feuer, wandelt[.] sich zum unbegrenzten Textsinn.“16 Extremes semantisches Fließen auf der Innenseite und extreme strukturelle Stabilität auf der Außenseite halten sich die Waage, und es mag sein, „daß sich die exzentrischen exegetischen Verfahren, die sich in der kabbalistischen Literatur entwickelten, nur auf der Basis der extremen Kanonisierung der Thora-Schriftrolle in ihrer reinen Materialität entfalten konnten.“17
Rubrum und Nigrum Schwarz war bisher Einheitsfärbung des Textes, Weiß Einheitsfärbung des hinter der Oberfläche leuchtenden Urtexts. Aber es gibt Farbunterschiede auch im Text selbst, einerlei ob handschriftlich oder gedruckt. Dabei mögen Farben wie Rot, Blau, Grün, Metalle wie Silber‑ und Goldtinte verschiedenen Zwecken dienen. Hier sei nur eine Farbe hervorgehoben: Rot. Die Handschrift mit Rot obliegt dem Miniator, der mit Minium (Mennige), oder dem Rubrikator, der mit Rubrum (Rot) arbeitet. Ihre Aufgabe ist es, in Stellen, die der Kopist bzw. Drucker freigelassen hat, Ordnungsmerkmale einzutragen, Titel, Überschriften, Initialen, Zählungen, Lemmata, Paragraphen. Oft geschieht dies, indem kleine Kustoden, die den Leerstellen zugeordnet waren, durch Schriftzier ins Große und Übergroße ausgeführt werden, wobei die Schreibhand übergehen kann in Zeichnen und Malen, um die Merklichkeit zu steigern. Der starke Kontrast von Rubrum und Nigrum dient der Ordnung des Textes; er steigert dessen Sichtbarkeit schon auf den ersten Blick. Während der schwarze Text von Zeile zu Zeile waagrecht durchlaufen wird, bietet das Rubrum eine abkürzende Leserichtung senkrecht durch die Zeilen hindurch. Nun wird seine Struktur sichtbar. Wenn der Text, sei es textus (Gewebe) oder als textum (Gewebtes), als starke Metapher genommen wird, steht die Arbeit von Miniator und Rubrikator im Dienst der Materialisierung des Textes. Seine Webart wird sichtbar gemacht. Papyrus und Pergament Was die Materialiät und die durch sie geförderte Sichtbarkeit anlangt, waren bisher zwei Ebenen im Spiel, Textgrund und Textoberfläche, die unterschiedlich an der Sichtbarmachtung beteiligt sind. Ging es bei Schwarz auf Weiß um maximale Entgegensetzung, bei schwarzem Feuer auf weißem Feuer um die abgründige Kollusion beider, betreffen Grau in Grau wie Rubrum und Nigrum die Oberfläche allein. In der Tat wird man Gesichtspunkte zu Struktur und Ordnung eher von der Textoberfläche erwarten, der gegenüber der Textgrund sich als passive Materie verhält. Nur widerspricht die Unterscheidung 16 17
Idel, ebd. 42. Idel, ebd. 43.
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§ 4 Text und Rede
von aktiver Form und passiver Materie allem, was einleitend zur Materialität der Texte gesagt war. Also ist selbst beim materialen Textgrund nach der Aktivität zu fragen, die von ihm ausgeht. Überdeutlich war dies beim Pergament, ohne das schwarzes Feuer auf weißem Feuer nicht zustande kommt und alle Vorstellungen von Haut, Lichtkleid, Gewebe gänzlich ins Leere gehen. Nun ist die Wende der Buchgeschichte heranzuziehen, in der Papyrus abgelöst wird von Pergament. Papyrus verträgt keine scharfe Faltung, daher die Schriftrolle, und Schriftrollen aus Pergament (wie in der Synagoge üblich) sind nur rekurrente Anschlüsse, mit denen das Neue in der vertrauten, wiewohl dysfunktional gewordenen Gestalt des Alten dargeboten wird. Dem Pergament angemessen ist der in Lagen gefaltete und in Bünden geheftete Kodex, der zur Buchform der christianisierten Welt wurde. Die Bedeutung des Schreibgrundes Pergament ist so eklatant, dass sie die des Papyrus leicht in Vergessenheit bringt. Dabei zeigt die Fertigung des Papyrus durch kreuzweise Pressung der Stängel eine starke Struktur, die man bereits Text nennen könnte, noch ohne dass ein einziges Wort darauf geschrieben wurde. Schon der Textgrund teilt der Textoberfläche Textilität mit. Diese hochtextile Eigenheit des Papyrus fällt mit dem Übergang zu Pergament und Kodex dahin. Bleibt nun die Herstellung von Textilität allein der Textoberfläche überlassen? Stattdessen sehen wir im frühen Mittelalter den rekurrenten Anschluss, „daß Textus im liturgischen Gebrauch der Zeit das Medium, den Codex, den Träger der heiligen Schriften, nicht den innersprachlichen Text meinte.“18 Was heißt also Materialität des Trägermediums? Sie ist sowohl aktiv wie passiv; passiv bei Pergament und Kodex, die zu Text erst werden durch Beschreibung, aktiv bei Papyrus und Buchrolle, die an sich schon Texte sind und diese ihre Struktur dem Text mitzuteilen vermögen. b. Medialität Wenn es sich so verhält, dass die Materialität des Textes nicht anders geschildert werden kann als durch ständiges Weder/Noch – weder bloß Oberfläche noch bloß Grund, weder bloß ideelle Differenzierung noch bloß Materialisierung –, dann ist sie offenbar etwas zwischendrin, ein Mittleres oder Medium. Ist der Text aber ein Medium, dann tritt er in die Vielzahl der Medien als eines unter vielen ein. Der Augenblick ist noch nicht gekommen, in dem einer so ungeheuren Ausweitung der Perspektive nachgegangen werden kann. Medien sind in erster Linie moderne Medien. Indem der Text als Medium unter vielen erscheint, dazu nicht einmal ein besonders neues, viel18 Röckelein, Vom webenden Hagiographen zum hagiographischen Text 2006, 80 f; im Hintergrund Scherner, ‚Text‘ 1996, 119: „,Text‘ meint hier also die Materialität des Trägermediums der heiligen Schriften.“ Ders., Art. Text 1998, 1040. Außerdem Lentes, Textus Evangelii 2006.
1. Die Sichtbarkeit des Textes
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mehr ein recht altes, das immer noch mit Dingen wie Papyrus und Pergament hantiert, wird uns die nicht weniger ungeheure Engführung bewusst, in die wir uns mit dem Ansatz beim Lesen manövriert haben. Wie mag wohl von außen aussehen, was wir hier treiben? Eine Engführung wird nicht dadurch beantwortet, dass man zur Abwechslung einen anderen Weg auftut. Ein Weg will zu Ende gegangen werden. Engführungen sind dazu da: Man muss durch. Deshalb kann es nicht eng genug sein. Der Kurs der Lesetheologie schließt Beobachtung von außen nicht aus. Der Buchstabe steht unter der Beobachtung des Lautes, den auszuschließen er bestrebt war, die Schrift unter der Beobachtung der Sprache, der Text unter Beobachtung der Rede. Gerade indem der Text die Rede auszuschließen sucht, ruft er sie herbei. Neu ist der Gesichtspunkt der Medialität nicht. Er ruft nur noch einmal in Erinnerung, sich in seiner Engführung zugleich von außen über die Schulter zu blicken. Den Einwand, unter unserer Regie werde Lesen zur Monomanie, können wir leicht abfedern. Möge doch lesen, wer will, ohne wirklich zu lesen! Nun müssen wir der Sache näher treten. Was heißt Text als Medium? Dazu genügt nicht Schrift als Medium. Ist der Text eine bestimmte Verwirklichung von Schrift, dann auch eine bestimmte von Medialität. Fritz Heider hat auf der Schwelle zum modernen Medienbegriff phänomenologisch zwischen Ding und Medium unterschieden. Dinge sind nicht von Nichts, vielmehr von Medien umgeben, die deren Energie desto besser weiterzugeben vermögen, je weniger innen‑ und je mehr außenbedingt, ferner, je weniger einheitlich und starr und je vielheitlicher und schmiegsamer sie sind. Medien solcher Art sind Boten der Dinge, weil sie durchfühlen, durchhören, durchsehen lassen.19 Als solche sind sie auch Zeichen für das Ding. Mediale Vorgänge sind Zeichen. Hervorragendes Beispiel ist die Buchstabenschrift, die im Unterschied zur Bilderschrift, da ohne Eigenbedeutung, sowohl maximal außenbedingt, und da ohne Einheitlichkeit, maximal vielheitlich ist. Gerade weil sie nicht an sich bedeuten und nicht an sich schon zusammengekoppelt sind, lassen sich die 24 Buchstaben in verschiedenster Weise kombinieren. Die Buchstabenschrift erfüllt die Bedingungen eines Mediums in idealer Weise.20 Wie andere Medien erfüllt sie die Form von Figur und Grund. Figur ist fester Körper, der vor etwas anderem ist, Grund dagegen das, was hinter der Figur ist und nur in Bezug auf diese einheitlich.21 „[W]enn wir einen schwarzen Fleck auf weißem Papier als Figur sehen, so heißt das: wir sehen das Ganze schon als ein Bild an.“22 Hier bestätigt sich: Das Medium, auch das Schriftmedium, ist die Wahrnehmungsform, die sehen lässt, sehen macht. Philipp Stoellger spricht von der Koemergenz von Figur und Ding und Medium 2005, 31–45. Heider, ebd. 45–49. 21 Heider, ebd. 112–115. 22 Heider, ebd. 114. 19 Heider, 20
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§ 4 Text und Rede
Grund und bezeichnet sie als Figuration.23 Alles Bisherige betrifft die Schrift, noch nicht den Text. Ein Text entsteht erst, wenn Schrift in Beziehung zu sich selbst tritt. Dabei unterliegt das Schriftmedium der Verdichtung, die mit bildlichen Vorstellungen als Weben, Flechten usw. beschrieben wird. Die Dichtigkeit kennt Grade des Mehr oder Minder, die nicht ohne Folgen bleiben für den Grad der Durchsichtigkeit bei dem für Medien erforderlichen Durchsehen, oder der Durchhörigkeit bei dem erwünschten Durchhören. Texte, auf sich selbst bezogene Schrift, sind in hohem Grad verdichtet, weil sie als Gewebe, Geflecht, Faltung, Verschachtelung Engführungen des Durchhörens, Durchsehens gewähren, so offen sie auch sein mögen. Bekanntlich hat Niklas Luhmann Heiders Medienbegriff aufgenommen, indem er die Differenz von Medium und Form einführt: Medium als mediales Substrat in loser, Form in strikter Kopplung derselben Elemente. Dabei verhält sich die Form zum Medium so, dass sie dieses zwar bindet, nicht aber konsumiert oder annihiliert.24 Genau dies ist im Verhältnis von Text und Schrift der Fall. Die Schrift ist mediales Substrat, der Text die Form. Halten wir mit Luhmann fest, die Schrift sei das Medium, die Texte seien „die in diesem Medium gebildeten Formen“,25 entsteht die Frage: Reicht diese Kennzeichnung aus? Wir nannten schon die Beziehung auf sich selbst. In der Tat gehört zu Texten, dass sie nicht nur etwas meinen, und dies tun, indem sie das locker gekoppelte Schriftmedium in die striktere Textform überführen, sondern sie zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie im Meinen von etwas zugleich sich selbst mitmeinen. Das heißt, dass ihr Beschreiben zugleich Selbstbeschreibung vollführt. Die Textung des Texts ist immer zugleich Vertextung (im Sinne von Selbstvertextung). Der Text gibt Reflexion-in-sich zu erkennen. Kommt aber dem Text mit Luhmann „Autologie“ zu, dann kann man sagen: „Selbstbeschreibung ist die Anfertigung eines autologischen (sich selbst mitmeinenden) Textes.“26 Luhmann führt dies auf verschiedenen Ebenen möglicher Textverhältnisse aus: in der Beobachtung erster Ordnung, die sich direkt und ohne Umschweife auf das Was des Textes bezieht; in der Beobachtung zweiter Ordnung, die sich auf das Wie des Textes ausweitet, weil dieser sein Was nicht preisgibt und daher dem Sinn nach verstanden werden muss; und in der Beobachtung dritter Ordnung, mit der „[w]ir beobachten, wie diejenigen beobachten, die beobachten, wie man am besten einen Text versteht, dessen Wortsinn dem Beobachter erster Ordnung keine befriedigende Entscheidung liefert.“27 Verhält es sich aber so, dass ein Text in seinem referentiellen Beschreiben zugleich selbstreferentielle Selbstbeschreibung liefert, dann nimmt er teil an den Vollzügen paradoxer Kommuni23 Stoellger,
Gott als Medium 2016, 28. Die Gesellschaft der Gesellschaft 1997, 195–202. 25 Luhmann, ebd. 260. 26 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft 1993, 498. 27 Luhmann, ebd. 373, cf. 339 ff. 24 Luhmann,
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kation, die, indem sie tun was sie tun, nicht tun was sie tun, und also mit ihrem Funktionieren zugleich ihre eigene Dysfunktionalität stipulieren. Erst Texte, nicht Schrift, das bloße Substrat von Texten, können auf Paradoxalität befragt werden. Text ist, was durch seine Selbstbeschreibung widerlegt, was er durch seine Beschreibung behauptet. In ihm kreuzen sich zwei Funktionen. Auf der einen Seite die konstative, mit der er seine Beschreibung von Etwas, das Beschriebene, vorträgt, auf der anderen Seite die performative, die als Beschreiben in actu vonstattengeht. Texte entstehen erst durch den Vollzug dieser Unterscheidung und setzen gleichwohl „ein Unterlaufen der Unterscheidung von Beschreiben und Beschriebenem, von performativen und konstativen Funktionen“ voraus.28 Ist nun ein Text stetes Fortlaufen und stetes Unterlaufen zugleich, beide in einer Spannung, die bis zum performativen Widerspruch auflaufen kann, zeugt eben dies von der Selbstbezogenheit, die zum Text wesentlich gehört. Sie ist die sachliche Version dessen, was die bildliche Vorstellung vom Weben und Flechten der Texte enthielt.
c. Metaphorizität Textmetaphorik wird möglich, sobald die geforderte Selbstreflexivität von Texten nicht im Modus des Stillschweigens verharrt. Text ist Textmetapher. In Strukturalismus und Poststrukturalismus ist die Textmetapher dabei, zum Textbegriff zu werden. Man wundert sich daher, warum Darstellungen von Begriff und Begriffsgeschichte von Text auftreten, die von der Textmetapher keinerlei Notiz nehmen. Dabei liegt Erika Grebers so tiefsinniges wie spielfreudiges Werk seit 1994, und gedruckt seit 2002 vor. Das Buch Textile Texte vollzieht nichts, als dass Texten mittels ihrer Selbstbezeichnung Text der Spiegel vorgehalten wird. Das ist schon die ganze Selbstreflexion, die gefordert wird. Es geht nicht darum, etwas über Texte zu sagen, sondern nur zu sagen, was diese von sich selbst her sagen. Das ist Texttheorie oder Textologie als wirkliche Disziplin. Greber stellt Wortflechten als texteigene Textmetapher in den Mittelpunkt. Daneben treten die Werke von Ulrich Ernst, Carmen figuratum und Text als Figur, in Stil und Gegenstand andere Wege gehend und doch verwandt. Ernsts weitester Horizont ist die Visuelle Poesie. Beide Ansätze sind vorzustellen und zu vergleichen. Ihr Beitrag zur Lesekunst kann nicht hoch genug geachtet werden. Bevor der Begriff des Textes in Angriff genommen wird, sollten Texte tatsächlich gesehen worden sein. Die Metaphorizität der Texte wächst mit deren Sichtbarkeit.
28
Luhmann, Die Religion der Gesellschaft 2000, 328, cf. 335.
§ 4 Text und Rede
134 Text als Textil
In Grebers Textilen Texten erfolgt die Thematisierung des Webens und Flechtens zwar vor-, aber nicht alleinherrschend. Gegengewicht hält die Kombinatorik. Überall sind zwei Prinzipien am Werk, das Flechtprinzip, so alt wie die zivilisierte Menschheit, daher buchstäblich auszugraben, und das Kombinationsprinzip, das ohne lange Vorgeschichte aus dem Stand gehandhabt werden kann. Beide Prinzipien, das eine archäologisch, das andere trotz lullistisch-leibnizscher Herkunft neologisch und modern, sind ineinander verschlungen wie „das Möbiusband, das seine zwei Seiten gleichberechtigt ineinander überführt.“29 Dieses Kräftespiel begegnete uns bereits, als von der Materialität gehandelt wurde, dort unter der Form eines entschiedenen Weder/Noch. Weder darf der Text – sagten wir – allein von der kombinatorischen Seite betrachtet werden als reine Gruppierung von Zeichen (das idealistische Missverständnis), noch allein von der schriftbildlichen Seite, auf der er zu rasch pikturale, physiognomische Dichte annimmt (das materialistische Missverständnis). Was Erika Greber zu diesem Weder/Noch hinzufügt – nein, nicht hinzufügt, es gibt nichts hinzuzufügen, hervorzuheben dagegen wohl –, ist ein kräftiges Sowohl/Als auch. Beide Prinzipien wollen ausgelebt, ausgespielt sein; die Textwelt, die durch die unendliche Schleife beider entsteht, soll sichtbar werden. Unter den Metaphern des Webens, Strickens, Knotens, Schlingens, Windens nimmt bei Greber die des Flechtens eine prominente Stellung ein. Wortflechten gestattet es, die vage, weitgestreute Metaphorik des Textes auf zwei Säulen zu stellen, die des entrebescar los motz (Wortweben) der südfranzösisch-provenzalischen Troubadours des 12. Jahrhunderts auf der einen, und der плетение словес (Wortflechten) der slawischen Hagiographie des 13. und 14. Jahrhunderts auf der anderen Seite. Beide Seiten sind unterschiedlich in Stilebene und Wirkung: jene weltlich und folkloristisch, diese geistlich und enkomiastisch, jene vergangen, diese gegenwärtig und als poetologisches Verfahren gebraucht bis heute. Zwei Säulen der Textmetapher, beim Blick auf die Landkarte so, als ob sie die europäische Textwelt vom äußersten Osten bis zum äußersten Westen umfassen wollten. Hier kommt die komparatistische Unterströmung zum Zuge; aber Romanistik und Slawistik treten nicht um ihrer selbst willen auf, sondern um den Gegenpol zur Kombinatorik zu bilden, die ihrerseits das Prinzip der Textproduktion ist. Und nicht nur dies. Weit entfernt davon, bloß den Gegenpol bilden zu sollen, zeigen sich antagonistische Gemeinsamkeiten zwischen beiden Seiten, die das Wortflechten geradezu als mythischen Spezialfall des Kombinierens erscheinen lassen: jenes archaisch, warm und konkret, sinnreich-anschaulich und orientiert am Modell des Buchstabens, dieses dagegen modern, 29
Greber, Textile Texte 2002, 41.
1. Die Sichtbarkeit des Textes
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kalt und abstrakt, sinnhaft-verständig und orientiert an der Zahl. So gehören beide, Wortflechten und Kombinieren zusammen als differente, aber strukturell homologe Vorstellungen von Produktion und Struktur eines Textes.30 Betont das Wortflechten einseitig den archaischen, mythopoetischen Pol, so ist zu fragen: Warum gerade Wortflechten? Warum unter den verschiedenen, schließlich unter dem Sammelausdruck ποιεῖν (machen) vereinheitlichten Bezeichnungen für das Poetische gerade Flechten als Pilotausdruck? „Flechten ist die archaischste Form der Textilherstellung.“31 Nicht nur menschheitlich älter als Weben, ist es auch in technischer Hinsicht archaischer: reine Handarbeit ohne Beihilfe von Arbeitsgeräten wie Webrahmen und Webstuhl. Das Flechten geschieht in gekrümmten, Weben in geraden Linien; jenes erzeugt Überschneidungen von krummen Linien, dieses rechtwinklige Kreuzungen. Soweit sichtbar, gelangt Weben erst durch Flechten zum archaischen Grund. Und angelangt dabei, setzt die Spekulation ein, ob sich das Allerarchaischste umgekehrt als Allermodernstes erweist.32 Gehört plectere (flechten) in die Protoarchäologie des seinerseits schon archaischen texere (weben), so kann eine Antwort versucht werden auf die nie gestellte und doch so aktuelle Frage: „warum […] heute ‚Text‘ und nicht ‚Plex‘ o.ä.“?33 Offenbar weil die zur Normalität gewordene Rede von Text schon Begradigung des Krummen, Ausrichtung und Fluchtung des Gekrümmten und die Reduktion der Fadenstränge auf zwei, Zettel und Schuss, voraussetzt. Also ist damit zu rechnen, dass das Flechten, obgleich verschieden vom Weben und älter als dieses, mit zunehmender Rationalisierung unter die Dominanz des Webens tritt und seine Unterschiedenheit verliert. Bisher ging es um Differenz und Synonymie von Weben und Flechten. Nun ist festzuhalten: Die Dominanz des Webens (texere) und des Gewebten (textum) ist eine Eigentümlichkeit der westlichen Tradition. Die bekannte Rückübersetzung von Textologie in „Hyphologie“ durch Roland Barthes34 belegt ex negativo, wie sehr Text ein Ausdruck des okzidentalen, nicht orientalen Mittelalters ist, wenn auch im Lateinischen nur wenig und beiläufig benutzt.35 Kein lateinischer Text nennt sich selbst so, kein scholastischer Traktat thematisiert ihn; nirgends findet sich ein Text de textu. Die slawische Tradition übernimmt текст aus dem Westen. Aber hier herrscht Flechten als Textmetapher vor. In unserer westlichen Bedingtheit verschafft erst der Rückgang vom Weben (ткать) 30
Greber, ebd. 17–21. ebd. 22. 32 Greber, ebd. 23. 33 Greber, ebd. 19. 34 Barthes, Die Lust am Text 1974, 94. 35 Zur Beiläufigkeit hat beigetragen, dass die Vulgata nirgends von texere, textus in textmetaphorischem Sinn spricht. Einzige Ausnahme ist der sekundäre Zusatz zu 2. Esr 7,69: exin [sc. ex hinc] neemiae historia texitur. Kuchenbuch/Kleine, ‚Textus‘, 434: „Die lateinische Sacra Scriptura bot also selber keine schriftbezogene Gewebemetaphorik an.“ 31 Greber,
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§ 4 Text und Rede
zum Flechten (плести) Zutritt zur (kirchen)slawischen Metapher des Wortflechtens (плетение словес). Hier tritt zum altslawischen Flechten (плетaть) der Worte alsbald hinzu das schon erwähnte Winden (свивать, вить). Was die Technik anlangt, ist Winden vom Flechten nicht weit entfernt. Beide Verben, einmal unterschieden, dann wieder ausgetauscht, bilden die Träger der Textmetapher in den ost‑ und südslawischen Sprachen. Was die Verschiedenheit anlangt, ist Wortflechten eher auf Textkunst bezogen, Wortwinden (вить) eher auf Redekunst (витийство).36 Ja, Wortwinden kann geradezu den Sinn von Reden schlechthin annehmen.37 Daher: „vitie sloves war ein unmetaphorischer Ausdruck für Rhetorisches […], pletenie sloves dagegen ein metaphorischer Ausdruck aus dem Literaturkontext.“38 Verschiedenheit hin oder her, beide werden nicht selten als Synonyme aufgefasst, die füreinander eintreten und sich gegenseitig unterstützen. Die Synonymisierung von Flechten und Winden ist „spätestens im 16./17. Jhd. vollzogen.“39 Dies ist der Hintergrund, der erlaubt, die Tradition des Wortflechtens vereint mit der des Wortwindens durch ihre Metamorphosen vom Mittelalter bis zur Moderne zu verfolgen, das heißt: bis zu Roman Jakobson, dessen Werk eine außerordentliche Komplexion nicht nur von verschiedenen Disziplinen Slawistik, Komparatistik, Linguistik darstellt, sondern auch von verschiedenen Methoden, grammatisch, historisch, phänomenologisch, strukturalistisch. Ähnlich wie bei ihm der Begriff des Parallelismus zuerst nur verhalten erscheint als poetisches Einzelphänomen neben anderen, womöglich nur einer Einzelsprache, der hebräischen, zugehörig, dann aber sich ausweitet zu einer oralen und literalen Form, die nicht nur eine Vielzahl von Sprachen, sondern die Sprache selbst affiziert und zum „durchgehenden“ Parallelismus wird, so betritt die Gewebemetapher die Szene nur höchst zurückhaltend und bleibt nach Erika Grebers Eindruck „seltsam unausgenützt, subliminal gleichsam.“40 Gleichwohl lässt sich zeigen, wie sie weit über die Textoberfläche hinaus am Werk ist: „Modellfall Jakobson“.41 In Hinsicht auf Textilität der Texte ist Jakobson die Drehscheibe, die sowohl weitervermittelt in verschiedenste Richtungen, als auch zurückverweist auf das Thema, das die Vielheit sprachlicher und textlicher Erscheinungen auf den Punkt bringt. Das ist, was den Text an36 Im
Deutschen ‚gewandtes‘ Reden, ‚Wendung‘. Hier spielt SapSal 8,8 στροϕὰς λόγων (LXX; Vg versutias sermonum) – neben 2. Esr 7,69 (Vg) eine der seltenen biblischen Stellen, die für die Textmetapher einschlägig sind – eine Rolle. Die kirchenslawische Übersetzung schwankt zwischen извития словес (izvitija sloves; rev. ksl. Übers.) und вѣтия словес (vĕtija sloves; Ostrog-Übers.), zurückgehend einmal auf витие (vitie/Winden), das andere Mal auf вѣтие (vĕtie/Reden); Greber, ebd. 111 f Anm. 101, 122, 124. 38 Greber, ebd. 111. 39 Greber, ebd. 112 Anm. 103. 40 Greber, ebd. 141. 41 Greber, ebd. 141–166. 37
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langt, das Thema des Wortflechtens, was die Rede anlangt, des Wortwindens, oder beide für beide. Der meist geschichtsfremd auftretende Strukturalismus zeigt plötzlich historisches Profil. In Jakobsons Werk berührt sich das kirchenslawische Mittelalter mit dem Formalismus der Moderne und das archaisierende Wortflechten wird gleichzeitig mit rezenter Kombinatorik. Während Jakobson sich auf der einen Seite detailliert einigen wenigen Texten zuwendet, die der alten Poetik des Wortflechtens entstammen, holt er auf der anderen zu grundsätzlichen Entwürfen aus, die nicht weniger als Sprache und Literatur überhaupt betreffen. War Wortflechten bisher ein besonderer, von anderen Techniken durch Paronomasien und Pleonasmen zu unterscheidender Schreibstil, der seiner Künstlichkeit und Erhabenheit wegen in nicht geringer Kritik stand, so vollzieht sich in Jakobsons Werk die Wende vom Okkasionellen zum Prinzipiellen, vom Exzeptionellen zum Generellen. Wortwinden/ Wortflechten wird für Reden und Schreiben zum allgemeinen Gesetz, das schon deshalb keine Wahlfreiheit zulässt, weil es abzuwählen dem Verzicht auf Reden und Schreiben gleichkommt. Was hat sich vollzogen? In Jakobsons Werk nehmen Wortflechten und Wortwinden den Übergang von einer Tätigkeit aus liberum arbitrium, die sein kann, in eine Tätigkeit aus servum arbitrium, die sein muss. Will man reden oder schreiben, kann man nicht nicht wortflechten oder wortwinden. Wie sehr beide Motive die Poetik Jakobsons durchdringen, lässt sich im Einzelnen erst dank der Edition nachvollziehen, die Hendrik Birus und Sebastian Donat unter Mitwirkung von Erika Greber dessen einschlägigen Schriften gewidmet haben.42 Hier wendet sich der durch Textile Texte geöffnete Blick dem genauen Studium von Jakobsons Texten zu und vermag sie durch die Lupe zu lesen. – Was das Wortflechten anlangt,43 begegnet es schon beim jungen Jakobson im Motiv der Buchstabenverflechtung.44 Man muss sich die Ligaturschriften der russischen Paläographie vor Augen halten, die gestatten, durch zeichnerische Kombination zur gleichen Zeit und am gleichen Ort zwei oder mehr Buchstaben zur Darstellung zu bringen. Das Faszinosum ist, dass Jakobson als Novität bezeichnet, was in Wahrheit zur ältesten kirchenslawischen Schriftüberlieferung gehört; Archaik wird zur Perspektive des Futurismus. Nun ist der Buchstabe das kleinste Element; man muss weiterdenken: Buchstabenflechten, Wortflechten, Satzflechten. Eben dem Wortflechtwerk (словесная плетёнка) begegnen wir in Jakobsons frühem Artikel über die neueste russische Poesie.45 Ob allerdings eine deutliche Vorstellung damit verbunden ist, Jakobson, Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie 2007. Vf., Verflochtenheit 2007. 44 Jakobson, Brief an Velimir Chlebnikov 1914, SW 8, 573: Эта новизна – сплеты букв; Jakobson/Pomorska, Poesie und Grammatik 1982, 149. Greber, ebd. 157 f. Strätling, Za vitki-ni-k-čemu 2001. 45 Jakobson, Новейшая русская поэзия 1919/21, SW 5, 311. 42 43
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§ 4 Text und Rede
scheint nicht zwingend. Auch wenn Jakobson Jahrzehnte später in einem seiner poetologischen Haupttexte auf die Flechtmetapher zurückgreift, hat sich nicht viel verändert; Flechten und Weben sind ununterschieden,46 lediglich der Zitatcharakter wird durch Anführungszeichen – „слoвоплетения“ – markiert.47 Auch trägt nicht zur Deutlichkeit bei, dass die Verflechtung von der Seite der Signifikanten auf die der Signifikate wechselt.48 Nur ein einziges Mal nimmt Jakobson die archaische Metapher präzis auf, dort nämlich, wo er aus dem Lobpreis Silvans auf den Hl. Sava wörtlich zitiert; hier hebt er, obwohl er in einer früheren Studie сплете (flocht) sorglos mit wove (wob) wiedergab,49 in der späteren hervor: воистину сплете (wirklich flocht), aber ohne von der so betonten Metapher nennenswerten Gebrauch zu machen.50 Also Präzision ohne Prägnanz. – Was das Wortwinden anlangt – самовитое слово (selbstwindendes Wort) war die archaisch-futuristische Parole seiner Generation –, findet es sich bereits in der Arbeit über die neueste russische Poesie mehrfach, wiewohl ohne metaphorische Prägnanz.51 Im späteren Werk kommt er nicht mehr darauf zurück, und wenn als einzige Ausnahme die samovitaja reč doch einmal Erwähnung findet, kümmert ihn der metaphorische Gehalt nicht: „self-moving speech“.52 Kein Wunder, dass sich die Rezipienten des russischen Formalismus mit Übersetzungen ähnlichen Abstraktionsgrads begnügten: „selbstmächtig“, „selbstgenügsam“. – Entschließt man sich dagegen, die beiden Metaphern mit und gegen Jakobson in starkem Sinn zu nehmen, lassen sie sich in die Polarität von archaischer Metaphorik und futuristischer Kombinatorik überführen, die Erika Greber das Möbiusband ihrer Untersuchung genannt hat. Während auf der einen Seite die Verflochtenheit der Worte für die Wahrnehmung des Rezipienten steht, mit der Aufgabe, das Intrikate des Textes zu explizieren und dazu tief in die Vergangenheit einzusteigen, steht die Windung der Worte für die Wahrnehmung des Produzenten, der Texte in Zukunft hinein entwirft. Nirgends ist von Selbstverflechtung die Rede, nur von Verflochtenheit und Flechtwerk. Aber Windung findet sich bei Jakobson ausschließlich in Gestalt von Selbstwindung. Das самовитое слово ist sowohl „selbstwindend“ wie „selbstgewunden“,53 es ist bezogen auf Sprache „selbstredend“,54 bezogen auf 46 Jakobson, Поэзия грамматики и грамматика поэзии 1960/61, SW 3, 63/Poetik, 234; ebenso: Словенский пример узловой роли безличных предложений в поэтическом контексте 1972/77, SW 3, 581. 47 Jakobson, SW 3, 69/Poetik, 240. 48 Jakobson, Une microscopie du dernier ‚spleen‘ dans ‚Les fleurs du mal‘ 1966/67, SW 3, 480: „l’entrelacement […] des significations“. 49 Jakobson, Силуаново славословие Св. Савве 1961/62, SW 3, 193, 201. 50 Jakobson, Славословие Силуана Симеону 1970/75, SW 3, 207, 211. 51 Jakobson, Новейшая русская поэзия 1919/21, SW 5, 303, 305, 353. 52 Jakobson, Subliminal verbal patterning in poetry 1968/71, SW 3, 138. 53 Greber, ebd. 136, 166. 54 Greber, ebd. 136, 138.
1. Die Sichtbarkeit des Textes
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den Text „autoplektisch“, „autopoietisch“.55 Erst die Selbstbezüglichkeit des Textes bringt die zwischen Schwäche und Stärke schwankende Metapher des Windens zur begrifflichen Stabilität.
Text als Figur Sichtbarkeit war der übergreifende Gesichtspunkt, der die zurückliegende Sammlung von Beispielen für Materialität, Medialität und Metaphorizität der Texte gelenkt hat. Wenn wir nun in das Gebiet der Visuellen Poesie und ihrer Vorgeschichte eintreten, scheint vollends die Sichtbarkeit jede Hemmung abzulegen. Bisher war es die Sichtbarkeit einer Unsichtbarkeit, und die Formen der Indirektheit, Brechung und Reflexivität belegen dies. Daher die Hemmung: bei der Materialität die Hemmung, sie in Materialisierung ausgehen zu lassen, bei der Medialität die Hemmung, das Medium an seiner Paradoxie vorbei als Mittel misszuverstehen, bei der Metaphorizität die Hemmung, Textmetaphern wie Wortflechten oder Wortwinden uneigentlich, ja mehr, sie eigentlich zu verstehen. Also ging es weniger um Sichtbarkeit der Texte als um Sichtbarmachung dessen, was an ihnen unsichtbar ist. Die charakteristische Gehemmtheit, Gespanntheit, Gebrochenheit der Sichtbarmachung des Unsichtbaren, die in den Aspekten des Materialen, des Medialen und des Metaphorischen in Erscheinung trat, müsste in dem Moment erlahmen, in dem die Sichtbarkeit sichtbar und Sichtbarmachung eine solche von Sichtbarem wird. Das Gebiet der Visuellen Poesie ist daher nur soweit von Bedeutung, als sie an diesen Punkt des Kollapses zwar streift, ihm aber nicht verfällt. Hierfür bietet Ulrich Ernsts Meisterwerk über das Figurengedicht (carmen figuratum) in Antike und Mittelalter als Vorgeschichte der Visuellen Poesie überreiche Anschauung.56 Visuelle Poesie steht für den Versuch, die Sichtbarkeit der Texte nicht zur Sichtbarkeit des Sichtbaren erschlaffen zu lassen, sie vielmehr in metaphorischer Spannung zu halten. Der stark gattungstheoretisch ausgerichtete Entwurf von Ulrich Ernst zielt auf das Figurengedicht, das ins weite Feld des Poetischen zu stehen kommt. Vom Figurengedicht wird von vornherein erwartet, es sei ein besonderer Text, nicht Text überhaupt. Seine Definition arbeitet mit klassischen Regeln des Definierens, also mit Spezifizierung des Genus Text. Nach Ernst muss man vom Text zum poetischen Text gelangen, und vom poetischen Text zu der besonderen Unterart, die Figurengedicht genannt wird. Dieses sondert sich, weil es weder erzählt noch handelt, von Epik und Dramatik, sondert sich aber auch von der Lyrik, weil es sich der Expressivität enthält. Das Figurengedicht steigert den poetischen Aufwand extrem durch ein Mehr an Formbeherrschung und Formerfüllung. Es vermehrt die poetischen Bindungen – constraints – freiwillig. 55 56
Greber, ebd. 135 f. Ernst, Carmen figuratum 1991; ders. u. a. (Hg.), Visuelle Poesie 1, 2012.
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§ 4 Text und Rede
Figurengedichte erwecken den Eindruck einer erhöhten Künstlichkeit mit einem leichten Stich ins Esoterische und Hermetische. Mit dem Figurengedicht geht man in der poetischen Gesellschaft einen einsamen Weg. Figurendichtung sei Unsinnspoesie, heißt es.57 – In Aufnahme der spürbaren Ermunterung, die durch solche Urteile ausgelöst wird, fragen wir: Gibt der gattungstheoretische Besonderungsweg des Figurengedichts etwas zu erkennen, was vom Besonderen auf die Gattung zurückwirkt? Gibt das Figurengedicht etwas zu denken über Poesie überhaupt, über Text überhaupt? Ulrich Ernst konstatiert eine solche Rückwirkung. Das Figurengedicht erzwinge, sagt er, „Erweiterung des Textbegriffs“.58 Ausgehend von der „Revolution in der Lyrik, dem Durchbruch der Konkreten Poesie“, die im Gegensatz zum herkömmlichen Begriff visuelle, der Malerei zugehörige Formen zum Gedicht hinzurechnet, werde auch der herkömmliche Textbegriff der „Aufwertung und Ausweitung“ zugeführt. Ernst erblickt eine „deutliche Tendenz zur Intermedialisierung des Textbegriffs“ in drei Richtungen. Zuerst die Forschung zu den Textilmetaphern, vertreten durch Erika Greber, sodann die Ausarbeitung des Begriffs „Seh-Text“ durch Christina Weiß,59 schließlich die Erfassung von Form und Figur der Texte, die Ulrich Ernst selbst verfolgt.60 Damit ist im Groben der Spannungsbogen erfasst: Das Figurengedicht, obgleich gattungstheoretisch Besonderung, wenn nicht sonderliche Besonderung, wirkt zurück nicht nur auf den Poesie-, sondern auch auf den Textbegriff, der es seinerseits bereits prägt. Ist einmal die wechselseitige Kommunikation zwischen Text einerseits und Figurengedicht andererseits hergestellt, lässt sich bestimmen, welchen Gewinn Formen der Visuellen Poesie für die Sichtbarkeit des Textes abwerfen. Das Figurengedicht hat seine eigenen Gesetze und seine eigene Dramatik. Es gelangt auf die Spitze, wenn im Text regelrechte Bilder erscheinen, z. B. prominent im frontal-kolossalen Widmungsbild Kaiser Ludwigs des Frommen, das Hrabanus Maurus dem Liber de laudibus sanctae crucis voranstellt.61 Gestalt, Nimbus, Schild und Kreuzstab sind mit Texten erfüllt, die, vom Basistext unterschieden und diesen dennoch gebrauchend, ein in Farben und Formen gemaltes Kaiserbild ergeben. Oder, ebenso prominent und bereits zum Korpus des Buches gehörig, zur Eröffnung des Kreuzeszyklus die erste Figur, die den Gekreuzigten leibhaft, aufrecht, mit ausgebreiteten Armen und Händen, wiewohl ohne Kreuz darstellt, hervorgehoben teils durch Texte im Text – es sind deren fünf –, teils durch Zeichnung und Farbe.62 Nun wird deutlicher, was „Ausweitung“ oder „Erweiterung“ des Textbegriffs heißt. Es geht um Ausweitung über den Text 57 Ernst,
ebd. 1. und Intext 2006, 43. 59 Weiss, Seh-Texte 1984. 60 Ernst, Text und Intext, 43 f. 61 Ernst, ebd. 293–297, Abb. 93; Text als Figur 13 Abb. 8a. 62 Ernst, ebd. 277–280, Abb. 88: Kreuzfiguren aus Bildern. 58 Ernst, Text
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hinaus, nicht um Ausweitung des Textbegriffs. Intermedialität entsteht durch Anwesenheit zweier Medien, das eine Text, das andere Bild, beide in unumkehrbarer Ordnung. Beim Figurengedicht handelt es sich um „eine intermedial konzipierte Text-Bild-Komposition“,63 um eine „Grenzgattung, die eine ambivalente Position zwischen Poesie und bildender Kunst einnimmt.“64 Was heißt dann Erweiterung des Textbegriffs? Der Text wird durch das Bild erweitert, das von nichttextlicher, nichtsprachlicher Art ist. Es muss dabei ein Kaiser, ein Gekreuzigter herauskommen; danach hat sich der Text zu strecken.65 Wird das Bild dergestalt dem Text auferlegt, dann hat nichts stattgefunden, was man als Erweiterung bezeichnen könnte. Anstelle von textinternen Gründen werden externe namhaft gemacht. Soll aber Ausweitung des Textbegriffs stattfinden, kann sie nicht durch das Bild geschehen; es bedarf der Intensivierung des Textbegriffs. Dies ist das Ziel unserer Beschäftigung mit Figurengedichten. Wir müssen sie gegen den Strich lesen. Wir gehen in Richtung Entfigürlichung des Figurenbegriffs. Lassen wir die zu Bildern figurierten Texte im Text auf sich beruhen und suchen in Hrabans Zyklus weiter, fallen figürliche Kreuzgedichte von höherer Abstraktion auf, und sie sind in Mehrzahl. Teils solche, die Kreuzfiguren aus geometrischen Formen und Symbolen bilden. So die fünfte Figur mit dem durch die figura crucis gegliederten ganzseitigen Buchstabenquadrat, in dessen vier Teilen wiederum vier kleinere Quadrate ausgemacht werden können, Kreuz und Quadrate erfüllt mit fünf Texten im Text.66 Teils solche, in denen durch Konfiguration von Buchstaben oder Zahlen Kreuzfiguren hervorgebracht werden.67 Aus diesen Kreuzfiguren ist zwar der Crucifixus als menschliche Gestalt verschwunden, und dennoch handelt es sich um Figurengedichte, wenn auch um solche, die in Umkehrung der Dramaturgie Ernsts zunehmender Defiguration unterliegen. Wie weit lässt sich die Defiguration von Kreuzgedichten treiben? Offenbar gibt es eine Grenze, die nicht überstiegen werden kann. Keines der 28 Kreuzgedichte Hrabans hat die Gestalt eines Umrissgedichts. Umriss‑ oder Konturengedichte, aus der Spätantike bekannt als Technopaignien, die etwa einen Altar, eine Syrinx oder Wasserorgel darstellen,68 könnten durchaus auch das Kreuz zum Thema wählen, und nicht nur im Umriss, sondern auch im Inhalt des Textes.69 Das würde heißen, dass die Präsentation eines Texts über das 63
Ernst, ebd. 7. Ernst, ebd. 6. 65 Ernst, ebd. 833: Es wird „zunächst die Seite schachbrettartig in Felder eingeteilt, dann das Intextgerüst eingetragen und zum Schluß die freigebliebene Seite mit Textmasse aufgefüllt“. 66 Ernst, ebd. 240–242, Abb. 72: Kreuzfiguren aus geometrischen Formen und Symbolen. 67 Ernst, ebd. 261–267: Kreuzfiguren aus Buchstaben; 267–277: Kreuzfiguren aus Zahlen. 68 Ernst, ebd. 98–108; auch Seybold, Poetik der Psalmen 2003, 70–74. 69 Ernst, Text als Figur, 98 Abb. 53: Kreuzgedicht ohne Intext; Carmen figuratum 200 Abb. 60 (Paulus Diakonus); Text als Figur, 66 Abb. 25: Kreuzgedicht mit Intext. 64
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Kreuz im Umriss der Kreuzesform geschieht, während der Rest der Seite leer bleibt. Es mag auf diese Weise zwar ein Altar‑ oder ein Syrinxgedicht entstehen, aber ein Kreuzgedicht entsteht selbst dann nicht, wenn eines entstehen könnte. Genauer: Was als Kreuzgedicht auf diese Weise entsteht, könnte auch ein dichterischer Text über etwas anderes als Kreuz und also kein Kreuzgedicht in nennenswertem Sinn sein. Was nur seines zufälligen Umrisses wegen ein Kreuzgedicht ist, wollen wir nicht so nennen. Selbst dies, dass ein noch so konzentriert das Kreuz thematisierender Text in die Umrissform eines Kreuzes hineinkomponiert wird, wollen wir durchaus nicht Kreuzgedicht nennen. Wir stoßen auf eine Grenze, die der vorherigen, als im Text das veritable Bild des Crucifixus erschien, so entgegengesetzt ist wie nur möglich, handelt es sich doch beim Umrissgedicht nicht um die figura crucifixi, sondern lediglich um die figura crucis. Ihr aber entspricht, dass eine Sichtbarkeit dargestellt wird, die dem Text extern bleibt und nicht mit dessen internen Mitteln erzeugt wird. Der als Bild figurierte Kreuzestext markiert also ebenso eine unübersteigliche Grenze wie der umrisshafte Kreuzestext. Beide bilden die Pole des Kreuzestextes, an die zu rühren mit Gefahr besetzt ist. Ausschlaggebend ist die interne Kreuzform des Textes. Ist diese in dem das Kreuz thematisierenden Umrissgedicht noch gar nicht entstanden, weil sie dem Zufall des bildlichen Kreuzumrisses überlassen bleibt, ist sie im Bild des Gekreuzigten so forciert, dass sie nicht mehr als innere Textform, sondern als von außen her aufgezwungene Bildform begriffen werden muss. In beiden kommt, wenn auch gegensätzlich und polar, die interne Kreuzform des Textes durch eine bestimmte Art von Sichtbarkeit, die wir kritisch die sichtbare genannt haben, zum Erliegen. Und eben die interne Kreuzform, die wir dem Text zusprechen, ist jetzt eigens ins Auge zu fassen als das, was „Ausweitung“ des Textbegriffs genannt werden darf, verstanden nicht als Extensivierung, sondern als Intensivierung. Interne Kreuzform entsteht, sobald sich Text im Text einstellt.70 Dies ist der Fall, wenn zur horizontalen Leserichtung von links nach rechts eine zweite hinzukommt, einerlei in welcher Richtung, vertikal, diagonal oder selbst horizontal, wenn in entgegengesetzter Richtung. Meist gilt die vertikale Richtung, einerlei ob akrostichisch, mesostichisch oder telestichisch, und einerlei ob nach unten oder oben, als die bevorzugte, weil sie den größten sichtbaren Kontrast darstellt. Die Dominanz der Kreuzform verdankt sich der Augenfälligkeit. Die Folge ist die Entlinearisierung des Lesens. Das läuft darauf hinaus, als solle das normale Prozedere des Lesens gestört werden. Man muss aber daran erinnern, dass der Leseakt nie nur unidirektionales Laufen, sondern Lesen ist. Darauf wird in § 5 zurückzukommen sein. Der Text im Text bewirkt, dass der Leser, ohne dass nur ein einziger Buchstabe hinzugefügt oder hinweggenommen wird, mehr als eindimensional lesen muss. Text im Text entsteht, sobald einem Buch70
Zum Folgenden: Ernst, Text und Intext 2006, 48 f.
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staben Zweiwertigkeit zukommt. Folgen wir der Kategorisierung Ulrich Ernsts, dann wird im „Basistext“ (auch „Außentext“), wenn in normaler Leserichtung gelesen von links nach rechts und von Zeile zu Zeile, das heißt von oben nach unten, der „Intext“ sichtbar (auch „Innentext“). Er zieht Aufmerksamkeit auf sich, weil er eine andere Leserichtung fordert. Zwar sind deren viele, vertikale, diagonale, horizontale, aber wenn der Kreuzform dominante Augenfälligkeit zukommt, ist evident, dass diese mit der Textilmetapher des Webens beschrieben werden kann. Vom Flechten und Winden, was bisher im Vordergrund stand, unterscheidet Weben sich durch Orthogonalität. Nur von einem gekreuzten Intext kann geltend gemacht werden, er sei ins Korpus des Basistextes eingewebt. Während Jakobson schwankt, ob er einen poetischen Text als gewunden, geflochten oder als gewoben bezeichnen will,71 dürfen wir dessen sicher sein, dass nur im Fall der Kreuzform die Gewebemetapher angemessen ist. Verhält es sich so, dann muss die „Erweiterung des Textbegriffs“ präzisiert, sprich: verengt werden. Bezog sie sich bisher auf die Erweiterung des Mediums Text durch das Zweitmedium Bild, geschieht sie jetzt ausschließlich im Text selbst und so, dass der Basistext durch den Intext erweitert wird. Genau genommen handelt es sich um eine paradoxe Art von Erweiterung. Gibt es den Intext nur, wenn der Buchstabenbestand des Basistextes derselbe bleibt, dann handelt es sich um eine Erweiterung ohne Erweiterung. Wir laufen der Dramaturgie Ernsts entgegen, indem wir sie rückwärts abarbeiten. Erweiterung heißt nicht Extensivierung, sondern Intensivierung. Und selbst dabei können wir nicht stehen bleiben. Als Kern des Figurengedichts (carmen figuratum) hat sich somit das Gittergedicht (carmen cancellatum) herausgeschält. Von allen Figurengedichten ist für uns nur das eine wichtig, das seit Publius Optatianus Porfyrius, seit der konstantinischen Wende, Gittergedicht heißt.72 Mit dem epochalen Übergang der Schriftkultur von der Buchrolle zum Kodex hängt das Gittergedicht insofern zusammen, als es einen Text, genauer eine Seite (pagina) zu gestalten hat. Anders als das Umrissgedicht, reiner Basistext ohne Intext, der statt des gegebenen Seitenspiegels seine eigene Kontur wählt und den Rest der Seite leer lässt, teilt das Gittergedicht die mit dem Kodex gestellte Aufgabe, eine Seite in Gänze zu komponieren, indem es deren quadratisches oder rektangulares Areal mit einem Buchstabenteppich überzieht, jedoch so, dass die Karierung akribisch eingehalten wird, auf deren Basis der Intext zur Erscheinung kommt. Man wundert sich, weshalb die Metapher der Gitter (cancelli) so unversehens an die Stelle des Gewebes tritt. Vergessen ist die Gewebemetapher nicht. Bereits Optatianus Porfyrius, der Begründer des carmen cancellatum, weiß: mentis opus mirum metris intexere carmen / ad varios cursus.73 Mit intextus versus antizipiert er schon beinahe Jakobson, Славословие Силуана Симеону, SW 3, 213: проткан (durchwebt, durchwoben). Ernst, Carmen figuratum, 9 f, 108–131. 73 P. Optatianus Porfyrius, Carm. III 28 f (Kluge 4 u. Taf. III). 71
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Ernsts Terminus „Intext“.74 Hinzu kommen eine ganzen Anzahl weiterer Metaphern: stamen, vinculum, nectere, ligare.75 Beide, Gewebe‑ und Gittergedichte, besagen etwas über Text überhaupt. Das Gittergedicht teilt mit dem Text die Aufgabe, einen bestimmten Buchstabenbestand auf die Seite des Kodex zu komponieren, nämlich so, dass Buchstabe um Buchstabe zur Verwobenheit gebracht wird. Man könnte sich, ohne die Strenge der Webmetapher zu beeinträchtigen, auch größere Einheiten als Buchstaben vorstellen, die verwoben werden, etwa Silben oder Wörter. Daran war beim Wortflechten (словоплетение) gedacht. Also sollten auch Wörter verwoben werden, bei gleicher Webstringenz. Das Gittergedicht kann nicht beanspruchen, die einzige Weise der Textkomposition zu sein. Texte können aus anderen Elementen als Buchstaben gewoben werden, ohne sie nie. Deshalb sind Gittergedichte trotz ihrer Fixierung auf Buchstaben das Paradigma für Texte überhaupt. Sie zeigen nicht vollumfänglich, aber beispielhaft, was in jedem Text geschieht. Was ein Text ist, wird am Gittergedicht paradigmatisch, ohne dass jeder Text ein Gittergedicht sein müsste. Was heißt Text als Figur? Die Figürlichkeit des Textes tritt unübersehbar hervor beim Imago-Gedicht, dessen versus intexti gemalte Bilder – des Crucifixus, des Herrschers, der Evangelistensymbole – eingeschrieben sind. Das ist Figur in des Wortes prallstem Sinn: belebte Figur, menschliche Figur, also Gestalt, und dies durch intermediale „Erweiterung“ des Texts durch das Zweitmedium, das Bild. Unser Weg endet jedoch nicht, sondern beginnt hier; es ist der Weg der Defiguration. Wie weit lässt er sich gehen, ohne dass die Figur gänzlich verloren geht? Wie viel Defiguration hält die Figur aus? Ohne Zweifel lassen sich abstraktere Figurengedichte denken, solche mit geometrischen, buchstaben‑ oder zahlorientierten Bildern. Man kann auch sie, trotz des Ausbleibens der belebten Figur, als figürlich bezeichnen. Figurengedicht ist dasjenige, dessen Basistext einen Intext von graphischer Figürlichkeit zu erkennen gibt. Gittergedichte, also solche, die außer der gewöhnlichen Leserichtung eine zweite Leserichtung eröffnen, sind Figurengedichte in des Wortes abstraktem, defiguriertem Sinn. Lässt sich Defiguration noch weiter treiben, ohne dass die Figur abhandenkommt? Das Umrissgedicht, das anstelle interner Textkreuzung und unter Verzicht auf Intext sich mit externer Bildlichkeit begnügt, entfällt. Auf unserem Weg der Defiguration sind wir zwar dabei, auf externe, zweitmediale Bildlichkeit zu verzichten, sei es die des Imago-, sei es die des Umriss-Gedichtes, aber auf die interne Struktur der Textkreuzung können wir nicht verzichten. Also bleibt, wenn wir vom Gittergedicht auch noch die geometrischen, buchstaben‑ und zahlförmigen Formen entfernen, nichts übrig als die interne Kreuzung der Leserichtungen, und sie scheint der harte Kern der Figürlichkeit zu sein, die 74 Carm. IX, senkrechte Mittelachse: reddat ut intextus Musarum carmine versus (Kluge 48 u. Taf. IX). 75 Ernst, Text und Intext, 51 Anm. 38.
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sich der Defiguration deutlich, wenn auch hochabstrakt, widersetzt. Wir denken sie vereinfachend in Kreuzform, das heißt rektangular, was mit der Textilmetapher des Webens übereinstimmt. Allerdings bleiben, um nun auch endlich den Ertrag der Untersuchungen Erika Grebers an die Stelle zu bringen, an die er inskünftig gehört, andere Verknüpfungsarten wie Winden und Flechten dem Weben jederzeit äquipollent, sofern sie als interne Textmuster gedacht werden. Aber noch sind wir nicht am Ziel. Bisher ist Text stets der poetische Text; er allein war es, dem wir Figürlichkeit in immer abstrakterem Sinn zusprachen. Was heißt das für den unpoetischen, ganz und gar prosaischen Text? Hat er die Figürlichkeit definitiv hinter sich gelassen? Hier ist zu antworten: Jeder Text, selbst der unpoetischste, kommt mit dem Gittergedicht darin überein, dass er im Kodex eine Seite füllt. Seine interne Struktur entspricht der Rektangularität des Seitenspiegels, der äußeren Bedingung der Kreuzung der Leserichtungen. Absichtlich oder nicht, ein Text ist als Kreuzung von Horizontale und Vertikale formatiert. Er hat bereits Figur, ob er will oder nicht. Was heißt also Text als Figur? Figur ist nichts, was zum Text hinzukommt, sondern dieser ist und zeigt immer schon Figur. Jeder Text, nicht nur der poetische, ist Figur. Keiner kann so unpoetisch sein, dass er nicht mit der Poesie die Figürlichkeit teilt, in welchem Abstraktionsgrad auch immer. Es mögen, wie beim Gittergedicht oder Kreuzwort die Buchstaben sein, die in karierter Ordnung definieren, in welchem Sinn der Text figürlich ist. Es müssen aber nicht Gittergedichte sein. Die Sorte der Gittergedichte gibt nur eine vereinfachte Schematisierung von Text überhaupt. Es müssen auch nicht Buchstaben sein, die definieren, was Intext ist, als sollte das Buchstabenquadrat oder ‑rechteck die einzige Form von Text sein. Es können Silben, Wörter, Sätze, ja ganze Texte sein, über deren Einheit und Form die Verknüpfung und Textierung läuft. Aber stets bleibt, selbst wenn defiguriert bis zum Äußersten, die Figur am Werk. Alle vollzogenen Bewegungen schlagen auf die Sichtbarkeit des Textes zurück. Diese ist gewiss besonders unübertrefflich und prall, wenn sie sich zum Bild, sei es des Imago‑ oder des Umriss-Gedichts, aufwirft. Wir dagegen verfolgen, der Defiguration folgend, eine Linie zunehmenden Unsichtbar-Werdens des Sichtbaren. Nicht um die Sichtbarkeit des Sichtbaren geht es, sondern um die des Unsichtbaren. Selbst nach Abzug der bildlich-konkreten und geometrisch-abstrakten Figuren kann man sich über Mangel an Sichtbarkeit nicht beklagen. Der Intext des Basistextes ist gleichgut sichtbar wie dieser, wenn auch erst auf den zweiten Blick. Offenbar müssen wir das vom Gittergedicht zu Lernende mitnehmen und übertragen, wenn wir von den Buchstaben zu Silben, Worten, Sätzen und Texten weitergehen. Selbst dann befinden wir uns immer noch im Text, wenngleich so, dass seine Verknüpfungs‑ und Kreuzungsart nicht als Sichtbarkeit eines Sichtbaren, sondern unanschaulicher als Sichtbarkeit eines Unsichtbaren vonstattengeht. Auf dieser nicht mehr zu hintergehenden Basis der Textmetapher treten wir dem Textbegriff näher.
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§ 4 Text und Rede
2. Was ist ein Text? – Die Antinomien des Textes Die Metapher des Textes im Rücken gehen wir auf die Frage zu: Was ist ein Text? Wir fragen nach dem Begriff. Wie kommt es, dass es nach Boncompagnos da Signas Quid textus?76 erst wieder Paul Ricœur gewesen zu sein scheint, der so fragt: Qu’est-ce qu’un texte? Die Antwort hängt mit drei einleitenden Beobachtungen zusammen. Die erste: Wie die Aufmerksamkeit für textile Textmetaphoriken, so ist auch die Aufmerksamkeit für den Textbegriff erst jüngeren, jüngsten Datums. Nicht nur ist das Interesse für beide gleichzeitig, sondern es ist von fast zeitgenössischer Herkunft. Nun ist das Phänomen Text so alt und seine Benennung mit Textilmetaphern, insbesondere Text so verbreitet: wie kommt es dann über solange Zeit, „daß ein textus sich nie selbst als textus bezeichnet“77 und der Bruch, der zum Reflexionsschub führt, erst so spät – mit uns – einsetzt? Wenn die Beobachtung zutrifft, dass beide, Textmetapher und Textbegriff zur gleichen Zeit, nämlich jetzt, erstmals thematisiert werden, dann müssen beide sich gegenseitig bedingen. – Eine zweite Beobachtung bringt die Korrektur der ersten. Blickt man auf einschlägige Untersuchungen zu Metapher und Begriff des Textes, scheinen sie ohne Berührung nebeneinanderherzugehen. Wie kommt es, dass die Studien zur Textmetapher viel zu erfüllt sind von Anschaulichkeit, um der unanschaulicheren Frage nach dem Textbegriff Raum zu gewähren? Und wie kommt es, dass Arbeiten über den Textbegriff so verfahren, als sähen sie vor lauter Begriff nicht, was ihnen vonseiten der Textmetapher zugearbeitet wird? Es erstaunt, dass etwa Ricœur in der Abhandlung Was ist ein Text? vorgeht, ohne der Textmetapher auch nur einmal zu gedenken. Also kann es nicht bei der Erwartung bleiben, als könnten beide Sparten der Untersuchung, Begriff und Metapher, nur miteinander vorangetrieben werden. In Wahrheit gehen beide separate Wege und bleiben ohne Notiz voneinander. – Die dritte Beobachtung, auch sie einleitenden Charakters, betrifft die Seite der Untersuchungen zur Begrifflichkeit von Text allein. Hier scheint sich ein Knoten zu schürzen, der paradoxe Züge annimmt. Wenn es denn zur Selbstachtung zeitgenössischer Texttheorie gehört, eine Epoche ante und post litteram und entsprechend eine vorterminologische und eine terminologische Epoche zu unterscheiden, und wenn die Epoche post litteram, eben die terminologische, beginnen soll mit der in actu geleisteten Begriffsarbeit und Theorie, während die gesamte Vergangenheit von Text und Texten dem vorterminologischen Status ante litteram anheimfällt, dann ist dies nicht nur beachtlich, weil es das Gewicht des eigenen Tuns nicht unerheblich mehrt, sondern es wird geradezu paradox, wenn man das Resultat dieser vermeintlich epochalen Wende auf sich wirken lässt. Wenn „die 76 77
Boncompagnus, Rhetorica novissima 1235 (Gaudenzi 1892, 258). Michael, Textus und das gesprochene Wort 2005, 191.
2. Was ist ein Text? – Die Antinomien des Textes
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Begriffsgeschichte von Text eigentlich erst mit dem Problematischwerden des Gegenstandes Text (und mit der Theoriebildung darüber) im 20. Jh. beginnt“,78 aber das Problematischwerden von Text genau dadurch ausgelöst wird, dass an die Stelle herkömmlicher Geschlossenheit der Texte erstmals deren befreiende Offenheit tritt, wenn also die Epoche der Vorterminologie mit der Geschlossenheit, die beginnende Epoche der Terminologie aber mit der Entdeckung der Offenheit der Texte zusammenfällt und diese Entdeckung das Selbstbewusstsein der Texttheoretiker vornehmlich bestimmt, dann tritt folgendes Paradox ein: Solange man den Textbegriff noch nicht hatte, hatte man immerhin den Text, wenn auch um den Preis seiner Geschlossenheit, was offenbar nichts Gutes ist; hat man aber endlich Einsicht in die Offenheit des Textes, hat man unverzüglich den Text nicht mehr. Es ist zwar eine Provokation, aber eine begründete, wenn Louis Hay die Offenheit des Textes auf den Punkt bringt: „Le texte n’existe pas“.79 Zwei Richtungen folgen daraus für unsere Untersuchung. Auf dem Hintergrund des Zusammenspiels von Textmetapher und Textbegriff müssen wir uns dem Thema der Unbegrifflichkeit und Begrifflichkeit des Textes nähern. Und wir müssen danach fragen, in welchem Verhältnis diese formale Unterscheidung zur Unterscheidung von Offenheit und Geschlossenheit steht, die eine solche inhaltlichen Charakters ist.
a. Geschlossenheit und Offenheit Zwei Textbegriffe stehen sich gegenüber. Wiewohl diachronisch höchst ungleichgewichtig, sind sie synchronisch gleichgewichtig. Jeder stellt das Gegenteil des anderen dar. Es gibt keinen größeren Kontrast als den zwischen Öffnen und Schließen, aperire und operire, открыть und закрыть. Der größte Kontrast ist die Kontradiktion; auf sie wollen wir zuarbeiten, um die Begriffe zu schärfen. Im Mittelpunkt steht dabei, im Schatten großer programmatischer Entwürfe, was Gunter Martens in editionsphilologischer Absicht zur Frage Was ist ein Text? wiederholt vorgetragen hat.80 Die Auspizien der Textphilologie sind pragmatisch; am Ende steht die so oder anders verantwortete Edition. Eine Edition macht einen Text, sollte man denken. Aber die Antwort, die Martens gibt, lautet zugespitzt: Nicht einen Text, sondern wesentlich zwei. Wir werden auf die pragmatische Seite dieser Antwort zurückkommen. Zunächst geht es darum, die Typen herauszuarbeiten, Typ und Antityp. Martens und andere bieten die stets gleiche Erzählung, wie es kommt, dass der Text in zwei kontradiktorischen 78
Knobloch, Art. Text, 31. Hay, s. Anm. 2; Martens, ebd. 18 Anm. 54. 80 Martens, Was ist ein Text? 1989; Was ist – in editorischer Sicht – ein Text? 1991; Art. Text 12001. 79
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Textbegriffen auftritt. Sie lautet so: Solange wir nicht weiter nachdenken, haben wir den Text; sobald wir aber reflektieren, sehen wir uns genötigt, „den vorterminologischen Gebrauch des Wortes Text aufzugeben.“81 Erwachen aus dem dogmatischen Schlummer ist eingetreten; teils sind wir dessen erste Zeugen, teils erste Erben. „Ein ausgeprägteres Bewußtsein der terminologischen Probleme […] entwickelte sich erst allmählich im 20. Jahrhundert.“82 In der Tat kann man sich die Szene nicht dramatisch genug vorstellen. Die gelehrte Welt redet zwar von Textphilologie, Textkritik (Jacob Grimm, Karl Lachmann), Textgeschichte (Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff), aber stark in den Komposita schwächelt sie im Simplex, sie kann nicht nur nicht sagen, was ein Text ist, sondern vergisst sogar zu fragen. Anekdoten von der Textvergessenheit anderer gehören zum Selbstbewusstsein von Textheoretikern.83 Dass auch Texttheorie, Kompositum wie die anderen, die Textvergessenheit fortsetzt, muss nicht eigens erwähnt werden. Der Umstand, dass die Texttheorie, angelangt auf der Höhe des Textbegriffs, die Forschungen zur Textmetapher, im Fall des carmen cancellatum so alt wie die christliche Welt, im Fall des Wortflechtens so alt wie die Menschheit, weder herbeiruft noch berücksichtigt, versetzt in skeptische Distanz zu ihrem Gründungsnarrativ. Der editionsphilologische Aspekt bringt mit sich, dass die epochale Wende, auf die sich die Texttheorie beruft, nicht abstrakt diskutiert wird. Vielmehr spielt sie sich ab als Wende von der Lesart zur Variante. Konnte sich die Edition einst damit begnügen, unter dem Strich Lesarten zu bieten, die den Apparat an die Hand gaben, um den Text über dem Strich zu stützen, kommt der neueren Editionspraxis der Strich abhanden. Den „einheitlichen und in sich geschlossenen“ Text kennt sie nicht mehr;84 dieser ist gesplittet in eine Vielzahl der Varianten, und an die Stelle des Textes treten die Textfassungen. War die Instabilität bisher von der Stabilität des Textes getrennt durch den Strich, so kriecht sie nun empor in den Text selbst, begnügt sich nicht mit Einzelheiten, sondern macht, dass „der Text“ sich einzig in der Vielheit seiner Fassungen präsentiert, falls der Autor nicht bereits nach der ersten seine Tätigkeit eingestellt haben oder sonstwie abhanden gekommen sein sollte. Tritt dies ein, stehen sich zwei Positionen gegenüber. Einerseits, wenn am herkömmlichen Begriff von Text als geschlossenem Gebilde festgehalten wird, ist die Zulassung von Textvarianten gleichbedeutend damit, dass es sich nicht um einen, sondern um mehrere Texte gehandelt haben muss. Andererseits, wenn der Text vom herkömmlichen Textbegriff freigestellt wird, kann auch das Vorliegen mehrerer Textvarianten nicht daran rütteln, dass es sich um einen Text handelt, der nur in verschiedenen 81
(5).
82
Martens, Was ist ein Text?, 2; „vortheoretisch“ (3); „alltagssprachlich“ (4); „landläufig“
Martens, ebd. 2. Kammer, Text als Medium 2008, 35 f. 84 Martens, ebd. 2; ebenso 3, 8, 13. 83
2. Was ist ein Text? – Die Antinomien des Textes
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Fassungen präsentiert wird. Sobald Texttheorie einsetzt, wird eben nicht, wie diese suggeriert, ein Textbegriff erzeugt, sondern, was allerdings paradox ist, zwei, der Textbegriff und dessen Schatten. Daher die Zweiheit von archaischem und aktuellem, vorterminologischem und terminologischem, vortheoretischem und theoretischem Text. Diese nie zu besiegende, nach jedem Sieg erst recht wieder ihr Haupt erhebende Zweiheit der Textbegriffe ist so begierig, dass sie allerlei Dualitäten anderer Herkunft auf sich zieht. Textforscher wie Martens reden nicht nur von geschlossen und offen, sondern alsbald auch von statisch und dynamisch, von parmenideischem Stand und Wesen und herakliteischem Fluss. Einmal ist der Text definiert durch Endlichkeit, Sagbarkeit: Text als Werk; das andere Mal durch Unendlichkeit, Unsagbarkeit: Text als Handlung oder Prozess. Während auf der einen Seite der alte Textbegriff, der Klassik für sich beansprucht und stets, auch wenn er sich vom Kanon der Heiligen Schriften entfernt, etwas Kanonisches an sich trägt, nur freier, undogmatischer, kommt auf der anderen Seite der neue Textbegriff mit dem Gestus der Entkanonisierung daher, verkehrt das Klassische ins Romantische, das schön Geformte ins Deformierte und Erhabene, oder wie immer die Evidenzformeln der Dekonstruktion heißen mögen. Mit nicht geringer Überraschung erkennt man, wie der Versuch, einen Textbegriff zu bilden, naiv begonnen, nicht nur seine Naivität einbüßt und das Gegenteil seiner selbst herbeiruft, sondern nicht ruht, bis er möglichst viele literarische und kulturelle Gegensätze an sich gezogen und gebunden hat. Kleinste, minutiöse Vollzüge innerhalb der Texttheorie finden sogleich ihre Resonanz in Literatur und Kultur. Verhält es sich so, dass die Frage Was ist ein Text? nur beantwortet werden kann, wenn die Antwort die Gestalt einer Antinomie annimmt, also zwei Textbegriffe entstehen anstelle von einem, und zwar so, dass sie sich, indem sie sich ausschließen, zugleich gegenseitig erfordern, wird man zu pathetischen Beschreibungen neigen. Eine solche ist es, wenn Martens auf Hölderlin zurückgreift, der seinerseits auf den auf Heraklit zurückgreifenden Platon zurückgreift, um „[d]as große Wort, das εν διαϕερον εαυτῳ (das Eine in sich selber unterschiedne) des Heraklit“ auszusprechen:85 soviel Aufwands bedarf es, um eine Form zu finden, die das von der Texttheorie Zugemutete aufzufangen in der Lage ist. Man fragt sich, ob nicht textaffinere Beschreibungen möglich sind.
b. Wiederholbarkeit und Unwiederholbarkeit Clemens Knobloch argumentiert nicht wie Martens aus editionsphilologischer, sondern aus linguistischer Sicht. Die Szenerie ist dieselbe: einander gegenüber stehen „alter“ und „neuer“ Textbegriff, jener „gemeinsprachlich“, 85 Hölderlin, Hyperion I 1797 (emend. Text), FHA 11, 681; anders StA 3, 83; cf. Platon, Symp. 187a; Heraklit, FVS 22 B 51.
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§ 4 Text und Rede
dieser „fachsprachlich“,86 jener im Gebrauch von „Laien“, dieser von „Linguisten“.87 Jedoch bei Martens handelte es sich um die Opposition von altem und neuem Textbegriff, bei Knobloch nur um die zwischen dem „neuen“ Textbegriff und „[n]euere[n] Entwicklungen“,88 wobei letztere auf den „,entgrenzten‘ neostrukturalistischen Textbegriff[..]“ hinaus laufen.89 Knobloch will die Opposition zweier Verständnisse von Text nicht beklagen, sondern solange befördern, bis sie als Antinomie einsichtig geworden ist. Provoziert die Abstoßung des jeweils entgegengesetzten Textbegriffs, wenn sie nur heftig genug ist, seine Herbeirufung, dann ist am Tage: Der neue Textbegriff „ersetzt die alte und paradoxe Ausgangslage der Literaturwissenschaft durch eine neue, nicht minder paradoxe.“90 Indem Knobloch hierin die ganz normale Situation der Textwissenschaft erkennt, belässt er es nicht bei der Ausrufung einer aus Hölderlin und Heraklit herbeizitierten Pathosformel, sondern muss sich argumentativ in die Antinomie hineinbegeben, die durch die beiden Textbegriffe hervorgerufen wird. Hier zeigt sich: Der alte Textbegriff ist durch und durch theologisch geprägt. Man liest in biblischen Büchern als dem Korpus Heiliger Schriften. Oft ist das Prachtevangeliar der Text. Nicht-Text dagegen sind Auslegungen hierzu, Glossen und Kommentare, ebenso Reden: Gebete, die Angeredet-Werden in Anrede verwandeln, Predigten, die Angeredet-Sein in weiteres Angeredet-Sein überführen. Daraus ergibt sich das Verständnis von Text, das geläufig ist: Ein Text enthält Worte, die als Grundlage für andere Worte dienen; er ist „Wortlaut oder materielle Vergegenständlichung eines (zumeist schriftlich) fixierten Sprachwerkes.“91 Solche dogmatistischen Vorannahmen machen den Textbegriff zwar „relativ stabil“, bringen ihn aber auch schnell zu Fall. Dient nämlich Text „der Bezeichnung schriftlich fixierter Dokumente auf der einen, ihres Wortlauts auf der anderen Seite“,92 so ist klar, dass durch den per definitionem erfolgten Ausschluss von Glosse, Kommentar und Interpretation als weiterer schriftlich fixierter Dokumente nur ausgeschlossen wird, was im Begriff bereits enthalten war. Der alte Textbegriff mit seinem traditionellen System von Oppositionen und Konnotationen, sagt Knobloch, sei durch die „neueren Terminologisierungen von Text“ der Schwächung und Auflösung ausgesetzt.93 Uns dagegen will scheinen, als sei er aufgelöst durch die ihm eigene Inkonsistenz, die ihn zwingt, auf der rechten Seite das auszuschließen, was auf der linken bereits enthalten war. 86
Knobloch, Art. Text 2005, 24a. Knobloch, ebd. 25b. 88 Knobloch, ebd. 43a–45b. 89 Knobloch, ebd. 46b. 90 Knobloch, ebd. 24b. 91 Knobloch, ebd. 24a. 92 Knobloch, ebd. 24a. 93 Knobloch, ebd. 24b. 87
2. Was ist ein Text? – Die Antinomien des Textes
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Der neue Textbegriff setzt sich nicht nur in Opposition zu den Oppositionen des alten, sondern auch zu diesem selbst. Ist das kanonische Erbe des alten die Wiederholbarkeit auf allen Ebenen, vom Werk als größter bis zum einzelnen Zeichen als kleinster Einheit, setzt der neue Textbegriff an die Stelle der Identität die Einmaligkeit und an die Stelle der Reproduktion die unendliche Diffusion von Sinn. Und an die Stelle von Text setzt er den Kontext, der ständigen Wechsel der Bedeutung nach sich zieht und den identischen Bedeutungskern auflöst. So gelangt Knobloch zum Resultat: „Die problemtheoretische Klammer, die alle ‚alten‘ und ‚neuen‘ Textbegriffe zusammenhält, ist die Frage nach der (Un‑)Wiederholbarkeit von Sinn.“94 Wenn daher der sinnvolle Gebrauch des Wortes Text in Zukunft „[z]wischen den beiden Polen der materiellen Wiederholbarkeit des Zeichenkörpers und der Unwiederholbarkeit kommunikativer Konstellationen“ zu liegen kommt,95 ist zu fragen: Handelt es sich hierbei um „Dialektik“, um „eine spannungsreiche Einheit“?96 Oder um „Ambivalenz“?97 Knobloch entschließt sich weder für das eine noch für das andere, sondern greift tiefer; es handle sich um einen „Verschiebebahnhof“. Dieses Bild hat den Charme, dass es nicht nur gestattet, Extrempositionen mit Umschlagpotential durchzuspielen oder Mittelpositionen mit dem Schein der Kontinuität zwischen beiden Polen vorzutragen, sondern auffordert, die Kontinuität selbst kritisch zu hinterfragen. Der Verschiebebahnhof versetzt der Suggestion von Kontinuität einen kräftigen Beigeschmack von Diskontinuität. Und ebendies ist es, was im Textbegriff geschieht, dessen Stabilität einzig darin besteht, dass er zwischen zwei Extrempositionen verschiebt. Auf der einen Seite steht die „Hypothese, nur der materielle Signifikant eines Zeichens sei wiederholbar, alles bi‑ oder multilateral Semiotische, alles aus Ausdruck und Inhalt Bestehende hingegen sei unhintergehbar konstellationsgebunden“: der neue Textbegriff, der auf die Formel zu bringen ist: „Zeichenhaftigkeit (…) = Unwiederholbarkeit.“ Auf der anderen Seite herrscht die „Hypothese, daß sich für eine situierte Äußerung, einen token im interaktionalen Text, eine und nur eine richtige Interpretation angeben lasse, die teils an die Intention des Sprechers, teils an die von allen geteilte Bedeutung der Ausdrücke rückgekoppelt sei.“98 Wenn dies die beiden entgegengesetzten Enden des Verschiebebahnhofs sind, an denen sichtbar wird, was Knobloch das Chimärische und Paradoxe beider Seiten nennt, so wird mit dem semantischen Spielraum im Kontinuum zwischendrin an den Extremen zugleich der Ernst der Diskontinuität sichtbar. Beides umfasst der Textbegriff, ohne jedoch in der Lage zu sein, ein Drittes hinzu zu formulieren. 94 Knobloch, ebd. 25a; das ist zugleich die Klammer, die Knoblochs Arbeit von 1990 bei der Wiederaufnahme in Art. Text/Textualität 2005, 30a–47b, zusammenhält. 95 Knobloch, ebd. 25b. 96 Martens, ebd. 19. 97 Kammer, ebd. 36, 38. 98 Knobloch, ebd. 25b.
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§ 4 Text und Rede
Es bleibt bei der Beschreibung: „Text [ist] ein potentieller master term, ein gebietskonstitutiver Grundbegriff […]. Sein Thema ist die (Un‑)Wiederholbarkeit von Sinn.“99
c. Syntagmatik und Paradigmatik Zwei Versuche, den Textbegriff zu bestimmen, liegen hinter uns. Gerne hätten wir angeknüpft an die Untersuchungen zur Textmetapher, die voraufgegangen waren. Aber Textologen wie Martens und Knobloch zeigen sich unberührt von Textmetaphern. Gewiss stammen die textmetaphorischen Überlegungen aus einer späteren Generation, nennen wir sie die Blumenberg-Generation, für die Metaphorologie ist wie Luft zum Atmen. Die zeitliche Diskrepanz könnte erklären, weshalb die beiden Stränge des Begriffs auf der einen und der Metapher auf der anderen Seite kommunikationslos nebeneinanderhergehen.100 Halten wir fest: Texttheorie/Textologie ist dicht gegenüber der Textmetaphorik. Dabei können wir es nicht belassen. Trotz selbstgewählter Isolation hat die Texttheorie zwei Ergebnisse hervorgebracht, die nicht zu verachten sind. – Erstens die Antinomie des Textes. Wer nach dem Textbegriff sucht, findet am Ende zwei, wobei unterschieden wird zwischen der Entstehung des Textbegriffs und dessen Gebrauch oder Funktion. Seine Entstehung wird regelmäßig mit einer Erzählung geschildert, deren Naivität erstaunt. Bisher habe es keinen Textbegriff gegeben; dieser sei der blinde Fleck des Umgangs mit Texten, so weitgestreut er auch war. Erst wenn die Frage gestellt wird: Was ist ein Text?, beginne die Arbeit der „Terminologisierung“, mit der die terminologische Gegenwart beginnt. Vorterminologie heiße: Herrschaft der Gemein‑ oder Alltagssprache, die ihre Herkunft aus der Befangenheit im Heiligen Text nicht verbergen kann; dagegen die Terminologie beginne jetzt. Texttheorie sei die jetzt eben zu bildende Texttheorie, die den Theoriemangel des alten Textgedächtnisses zum glücklichen Ende bringt. Soweit die Hagiographie von der Entstehung des Textbegriffs. Anders sein Gebrauch oder seine Funktion. Indem der terminologische Textbegriff sich in jedem einzelnen Punkt wie im Ganzen in Opposition setzt zum gebrauchssprachlichen – auf der editionsphilologischen Ebene als Offenheit in Opposition zur Geschlossenheit, auf der linguistischen als Unwiederholbarkeit in Opposition zur Wiederholbarkeit – zeigt er sich eines Oppositums bedürftig, das schon dagewesen sein muss, um überhaupt negiert werden zu können. Also bewirkt die Einführung des neuen Textbegriffs, dass der alte, der hätte bloß vorterminologisch und vortheoretisch sein sollen, offenbar selbst schon theoretisch 99
Knobloch, ebd. 26a. Auch Knobloch, der 2005 die Resultate von 1990 durchmustert und mit neuer Einleitung versieht, lässt kein Bedürfnis erkennen, von textmetaphorischen Forschungen Kenntnis zu nehmen. 100
2. Was ist ein Text? – Die Antinomien des Textes
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und terminologisch gewesen sein muss. Er muss affirmiert gewesen sein, um negiert werden zu können, kann also nicht nichts gewesen sein. Selbst wenn die Erzählung von der Entstehung des neuen Textbegriffs so naiv klingt, als wolle sie eben dies glauben machen, lehrt der Gebrauch, dass der neue Textbegriff im Nachhinein erst recht dem alten zu Rang und Namen verhilft. Der alte Textbegriff gewinnt Gleichstärke (ἰσοσθένεια) mit dem neuen. Beide Textbegriffe sind äquipollent. Wer den einen hat, hat auch den andern. Und folglich, wer überhaupt einen Textbegriff hat, hat deren zwei. Einen solchen Sachverhalt nennt man Antinomie. Antinomie heißt, dass nicht nur der eine Begriff faktisch so viel gilt wie der andere, sondern gleichviel gelten muss; jeder von beiden ist für sich widerspruchsfrei, und gerade so schärfen sie den Widerspruch untereinander. – Der Grund hierfür ist, und das ist das zweite: Der Text hat die Eigenschaft eines Herrensignifikanten. Mit diesem Terminus nehme ich auf, was Knobloch mit Text als „potentieller master term“ vortrug. Herrensigifikant ist der erste Signifikant, dessen Aufgabe es ist, das symbolische Feld allererst zu markieren.101 Jeder folgende Signifikant ist zweiwertig, der Herrensignifikant ist einwertig, bezeichnet sich selbst. Text ist Herrensignifikant, weil er ein selbstbezüglicher Terminus ist. Er ist Text des Textes. Nicht nimmt er diese Funktion ein, weil ein Drittes gefunden worden wäre zu den sich gegenüberstehenden beiden Textbegriffen, die der Geschichte ihrer Entstehung zufolge als alter und neuer bezeichnet werden, in Wahrheit weder alt noch neu sind, sondern sich zueinander isosthenisch und antinomisch verhalten, gleichalt und gleichneu. Herrensignifikant heißt, dass es kein Drittes gibt. Systemtheoretisch ist Text derjenige Signifikant, mit dem das System Text im unmarkierten Raum von der textlosen Umwelt unterschieden wird. In dem Moment aber, in dem das symbolische Feld des Textes markiert und der Terminus Text vom nichtprädikativen in den prädikativen Sinn verschoben ist, kehren die Differenzen innerhalb des prädikativen Textbegriffs wieder, und eben dadurch werden die Antinomien des Textes hervorgerufen. So ausgestattet eilen wir weiter zur letzten Gestalt der Antinomie. Sie ist geeignet, die Textbegriffe zurückzubinden an die Textmetaphern. Der Opposition von Syntagmatik und Paradigmatik sieht man die Verwandtschaft zu Geschlossenheit und Offenheit, Wiederholbarkeit und Unwiederholbarkeit nicht auf den ersten Blick an. Dennoch hat Martens sich auf sie berufen, um die Einheit der nicht hintergehbaren Zweiheit der Textbegriffe zu plausibilisieren.102 Er bezieht sich auf das Theorem der Zweiachsigkeit der Sprache, das durch Mikołai Kruszewskis Übertragung der assoziationspsychologischen Unterscheidung von Ähnlichkeit (Similarität) und Angrenzung (Kontiguität) auf die Sprache seinen Anfang nahm. Zwei Achsen treffen sich, sagt Kruszewski Ferdinand de Saussure 101 102
Hoff, Kontingenz, Berührung, Überschreitung 2007, 218 Anm. 280; 287 f. Martens, ebd. 9, 14 f, 20 f, 23.
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§ 4 Text und Rede
aufnehmend, synchronische und diachronische, und indem er letztere als Achse der Aufeinanderfolge (Sukzessivität) durch einen waagrechten Zeitpfeil abbildet und ihn als syntagmatisch bezeichnet, überlässt er es Louis Hjelmslev, die senkrechte zweite Achse, die der Gleichzeitigkeit (Simultaneität), paradigmatisch zu nennen.103 So kommt es, dass Roman Jakobson die Opposition syntagmatisch/ paradigmatisch als Bezeichnung für die Zweiachsigkeit der Sprache bereits als Standardterminologie übernehmen konnte, die er seinerseits als Differenz von „Nacheinander“ und „Statteinander“ definiert.104 Gesucht ist der größtmögliche Kontrast. Wie bei Zuordnung zweier Linien der Kontrast nie größer ist als wenn sie sich kreuzen, so ist auch zwischen Syntagmatik und Paradigmatik der Kontrast am größten, wenn er durch die Differenz von Nacheinander und Statteinander präzisiert wird. Während die Glieder des Nacheinander sichtbar sind, eins nach dem andern und somit eigentlich sichtbar-sichtbar, sind die des Statteinander sichtbar-unsichtbar. Während die horizontale Achse der Diachronie und Sukzessivität von Sichtbarkeit in Sichtbarkeit verläuft, bleibt die vertikale Achse der Synchronie und Simultaneität unsichtbar. Wird das sichtbare Zeichen der syntagmatischen Achse zugleich als zur paradigmatischen Achse gehörig erkannt, wandelt es sich vom Zeichen der Sichtbarkeit in ein solches der Unsichtbarkeit. Ist dasselbe Zeichen einmal als Ausdruck von Dasein, das andere Mal als Ausdruck von Fortsein zu verstehen, dann ist Syntagmatik der größtmögliche Kontrast zur Paradigmatik. Das als Präsenz verstandene Nacheinander und das als Absenz verstandene Statteinander schärft den Gegensatz von Syntagmatik und Paradigmatik und spitzt ihn soweit zu, bis er in Hinsicht auf Kontrast mit den Antinomien Geschlossenheit/Offenheit und Wiederholbarkeit/Unwiederholbarkeit konkurrieren kann. Das Zweiachsenmodell wurde ursprünglich zur veranschaulichenden Schematisierung von Sprache entworfen. Aber nicht nur von Sprache überhaupt. Sondern das Bestreben ging dahin, Zweiachsigkeit in jeder Einheit von Sprache: Kontext, Text, Satz, Lexem und Morphem wiederzufinden. Zudem war es eine Sternstunde der Theoriebildung, als Jakobson selbst die kleinste nicht weiter zerlegbare Einheit der Sprache, das Phonem, durch Zweiachsigkeit erklärte. „[D]as Phonem ist die kleinste zweidimensionale phonologische Einheit.“105 Und selbst wenn das Minimum im weiteren Fortgang Jakobsons hinausgeschoben wird vom Kleinsten zum Kleinstmöglichen, das heißt von der bedeutungshaltigen zur bedeutungsunterscheidenden Eigenschaft, bleibt die Zweidimensionalität erhalten. Kein Wunder, dass die Durchschlagskraft dieses Theorems so stark empfunden wurde, dass es auch über den Aufbau der Sprache hinaus wirksam schien. Jakobson unternimmt suggestive Ausfälle in Ethnologie, Malerei, Film.106 Mehr Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus 1975, 142, cf. 40. Jakobson, Kindersprache 1939/41, § 23, SW 1, 376. 105 Jakobson, Zur Struktur des Phonems 1939, SW 1, 309 f. Holenstein, ebd. 175–182. 106 Holenstein, ebd. 151 f. 103 Holenstein, 104
2. Was ist ein Text? – Die Antinomien des Textes
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als suggestiv sind seine Forschungen zu Aphasie und Poesie, beide Kehrseiten einer Medaille, die an die Grenze von Sprache und Nicht-Sprache zu liegen kommen. Aphasie und Poesie sind hervorragende Paradigmen von Zweiachsigkeit, die Aphasie durch die Unterscheidung von motorischer und sensorischer, die Poesie durch die von lyrischer und epischer, und beide umfasst durch die Differenz von Metapher und Metonymie.107 Dem ist nicht weiter nachzugehen. Nur ein Punkt bedarf genauerer Betrachtung. Unter die Resonanzen, die die Zweiachsentheorie über die Sprache hinaus hervorruft, wird auch der Text gezählt, gewiss keine geringe Resonanz.108 Die Zweiachsentheorie entstand ursprünglich – Kruszewski, Saussure, Jakobson – auf dem Gebiet der Sprache und eroberte mit ihrer durchschlagenden Energie auch den Text. Zweiachsigkeit von Texten ist somit Resonanz, Nachklang der fokalen Zweiachsigkeit der Sprache. Angelangt an dieser Stelle fragt man sich verwundert: Was ist hier Resonanz wovon? Verhält es sich nicht umgekehrt? War nicht der Text schon zweiachsig, bevor seine Zweiachsigkeit als Resonanz von anderswoher erklärt werden muss? Mehr: Wenn überhaupt etwas zweiachsig ist im Sinn von Anschaulichkeit, ist es dann nicht der sichtbare Text, dessen Eigentümlichkeit es ist, dass die Linearität von links nach rechts gebrochen wird durch die absichtliche oder unabsichtliche Linie von oben nach unten? Erst dieses Gebilde nannten wir Text, nicht eine der beiden Linien allein. Und weiter: Ist nicht die Sichtbarkeit des Textes der energetische Brennpunkt, der die Zweiachsigkeit der Sprache als Resonanz hervorruft und nach sich zieht? Wenn aber der Text weniger der Empfänger eines Echos als dessen Sender ist, folgt nicht daraus, dass er weniger Rezipient der Zweiachsigkeit ist als deren Produzent? Und in ebendiese Offenheit der Fragen hinein tritt nun auch der Terminus der Textmetapher. Ist der Text Empfänger der Metapher, oder hat er sie seinerseits schon ins Werk gesetzt? Letzteres ist die Hypothese der Textilmetapher, die den Textbegriff aus der Textmetapher erklären will: Text als erkaltete, verblasste, vergilbte Metapher. Einerlei wie, soviel ist deutlich, dass wir via Zweiachsigkeit von Syntagmatik und Paradigmatik an die Schnittstelle gelangen, an der die separaten Untersuchungen zu Textmetapher und Textbegriff aufeinanderstoßen. Und wie schon bei der Textmetapher das Werk Jakobsons der Ort war, an dem die eine an die andere Forschungsrichtung rührt, so auch beim Textbegriff, nun in umgekehrter Richtung. Wenn es zutrifft, dass bei Jakobson die textbegriffliche Seite stark, aber trotz aller Einsicht in Wortflechten und Wortweben die textmetaphorische schwach ist, dann ist es unsere Aufgabe, nicht der gegenteiligen Einseitigkeit zu verfallen. Beide Seiten sind in labilem Gleichgewicht zu halten. Dies suggeriert für einen glücklichen Moment, als würden Text und Sprache, Text und Rede nur zwei Seiten des Selben sein. 107 108
Vf., Die Emergenz des Namens 2006, 209–216. Holenstein, ebd. 169–173.
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§ 4 Text und Rede
d. Begrifflichkeit und Unbegrifflichkeit
Die Auseinandersetzung mit Paul Ricœurs magistraler Studie Was ist ein Text? stellen wir an den Schluss der Antinomien. Nicht deshalb, weil sie die vorangegangenen Gesichtspunkte in vollem Umfang erfasste; Wiederholbarkeit/ Unwiederholbarkeit fehlt, Syntagmatik/Paradigmatik findet Erwähnung,109 und Geschlossenheit/Offenheit bringt es zu argumentativem Gewicht.110 Auch Überlegungen zur Textilmetapher sucht man vergebens, von zufälligen Ausnahmen abgesehen.111 Umgekehrt ist daran zu erinnern, dass Ricœurs Text, obwohl zwei Jahrzehnte vor Martens’ und Knoblochs entstanden, bei diesen keine Notiz findet. Die Titelfrage Was ist ein Text? hat streng genommen nur die Art „einer vorbereitenden Frage“, die den ersten der vier Teile bestimmt; in Wahrheit handelt es sich um die Frage, die das Ganze „beherrscht“.112 Als ganze ist die Studie dem Gegensatz von Erklären und Verstehen gewidmet. Der im ersten Teil gewonnene Textbegriff zielt auf den fundamentalen Gegensatz von Erklären und Verstehen, den er über bisherige Aporien hinausführt. Erst wenn die Frage Was ist ein Text?, die zu Beginn vom Ganzen herabgestuft wurde zum Teil, im weiteren Verlauf vom Teil zum Ganzen geworden ist, wird der Titel eingelöst. Beginnen wir mit der Präliminarie: Was ist ein Text? Ohne die Textilmetapher auch nur zu streifen, gibt der erste Satz schon die ganze Antwort. „Nennen wir jeden schriftlich fixierten Diskurs Text.“ An dieser „Definition“ wird sich nichts ändern, man kann nur auf sie zurückkommen.113 Allein die Frage bleibt offen: Handelt es sich beim so definierten Text um Transkription oder um Inskription? An dieser Stelle geht ein Entweder/Oder auf, das in der vorgelegten Definition noch verhüllt ist. Text als Transkription setzt irrtümlich voraus, Schrift solle, wie § 3.2.c dargelegt, als Zeichen des Zeichens der Sprache nachgeordnet sein, da später hinzugefügt; der Diskurs müsse zuerst gesprochen sein, um schriftlich fixiert werden zu können. Die vermeintlich durch Aristoteles gestützte Sekundarität der Schrift, dem Sprechen nachgeordnet und hinzugefügt, nennt Ricœur Transkription und setzt sie der Inskription durchaus hart entgegen. Es ist nicht gestattet, die historische Abfolge zuerst Sprache, dann Schrift auf das Sachverhältnis zu übertragen; Entstehungsprinzip und Funktionsprinzip sind nicht dasselbe. Zwar bleibt der Text ein schriftlich fixierter Diskurs, aber nicht ein solcher, der dem vorangegangenen Sprechen den Aspekt der Fixierung hinzufügt. Ein Text entsteht, weil die Rede, die hätte stattfinden können, ausbleibt. Text ist die Rede, „die man zwar hätte sprechen 109 Ricœur, Was
ist ein Text? 1970, 95/Qu’est-ce qu’un texte? 1986, 149 f. ebd., 90/146, 98/152, 104/156. 111 Ricœur, ebd. 91/146: „Geflecht“/„réseau“. 112 Ricœur, ebd. 79/137. 113 Ricœur, ebd. 80. 110 Ricœur,
2. Was ist ein Text? – Die Antinomien des Textes
157
können, die man aber genau deshalb schreibt, weil man sie nicht spricht.“114 Das ist der Knackpunkt von Ricœurs Texttheorie. Text und Rede könnten im Verhältnis des Sowohl/Als auch stehen. Nun stehen sie aber in einem solchen des Entweder/Oder. Das Schreiben des Textes beansprucht genau die Stelle, die sonst das Sprechen der Rede innehat, wo Reden hätte entstehen können, aber nicht entstand. Text anstelle der Rede (le texte à la place de la parole) ist das Motiv, das im Weiteren vielfach variiert wird. Jetzt lässt sich präzisieren, was Inskription ist. Während Transkription stattfindet, wenn das Erst‑ ins Zweitmedium überführt wird, ist Inskription selbst das Erstmedium. Es wird direkt geschrieben, ohne Umweg über Sprechen. Diese Befreiung der Schrift aus der Nachordnung gegenüber der Sprache, nennt Ricœur nicht ohne Pathos die Geburt des Textes.115 Wenn aber das Schreiben des Texts nicht darauf zurückgeht dass man ihn spricht, sondern dass man ihn nicht spricht, ergeben sich zwei Merkmale. Beide stammen aus der Umkehrung,116 die eintritt, sobald an die Stelle der Affirmation (spricht) die Negation (nicht spricht) tritt, und beide werden unsere Auffassung von Text begleiten. – Die erste Umkehrung betrifft das Subjekt des Sprechens ebenso wie das Subjekt des Hörens dieses Sprechens; sie betrifft die Situation, in der sich beide begegnen, das Gespräch. Soviel zur Rede. Hingegen der Text gehört in eine Situation, in der ein solches Gespräch nicht stattfindet. Autor und Leser sind nicht Sprecher und Hörer einfach in schriftlicher Version, sondern ein Text setzt voraus, dass der Autor in Abstand getreten ist, sei es, weil er von seinem Werk zurücktritt oder weil er, was das Beste wäre, tot ist. Und vom Leser ist dieselbe Distanzierung erwartet. Der Text unterbricht den Dialog; dabei wird er so stark, dass man auf die Anwesenheit von Sender und Empfänger verzichten kann. Die Umkehrung von Sprecher und Hörer in Autor und Leser ist eine solche von Anwesenheit in Abwesenheit. – Die zweite Umkehrung betrifft das Objekt, die Referenz. Bei einer Rede darf deren Gegenstand nicht fern sein. Sie bewegt sich in einer Umgebung, auf die man zeigen können muss. Anwesenheit also auch hier, Anwesenheit von Welt. Worüber sollte man reden, wenn nicht über die Welt? Auch hier bewirkt der Text die Umkehrung. Er unterbricht das Zeigen auf die Welt und wendet es in Zeigen des Textes auf sich selbst. Unter die notae textus gehört nicht nur oberflächliche Kohäsion, sondern tiefgreifende Kohärenz. Diese entsteht durch Beziehung des Textes auf sich, deiktisch, anaphorisch oder pronominal. Zeigt der Text auf sich selbst, entstehen daraus eigentümliche Wendungen wie „der Text selbst“,117 114
Ricœur, ebd. 81. Ricœur, ebd. 82/139. Die andere auffallende Pathosformel, der „Aufgang des Textes“/ „l’orient du texte“ (104/156) bezieht sich auf die Öffnung des vorher geschlossenen Textes. 116 Ricœur, ebd. 82/139 f, 84 f/141: „Umwälzung“/„bouleversement“. 117 Ricœur, ebd. 104/156: „le texte lui-même“. 115
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§ 4 Text und Rede
„Text als Text“,118 „Text nichts als Text“.119 Das heißt nicht, die Weltreferenz sei zu unterlassen oder solle aufgehoben werden. Aber sie wird aufgehalten. An sich nicht ohne Referenz, ist ein Text, sofern nichts als Text, ohne Referenz. Wiewohl an sich nicht ohne Welt – sonst handelte es sich, was fern sei, um einen absoluten Text – ist er in der Welt außerhalb ihrer und ohne sie.120 Derart in der Schwebe,121 wird er instand gesetzt, unter zeitweiliger Ausblendung der realen Welt seine eigene hervorzubringen, die Quasi-Welt des Textes. In dem Maß, in dem der Quasi-Text der bloßen Transkription durch direkte Inskription zum wirklichen Text wird, wird vice versa die wirkliche Welt zur Quasi-Welt des Textes. – War die erste Umkehrung die, dass der Text selbst an die Stelle des Sprechers tritt, und, wie wir hinzufügen, zum Quasi-Subjekt wird, so ist es die zweite Umkehrung, dass er an die Stelle der Welt tritt. Hier merken wir, wie das Motiv des An-die-Stelle-Tretens, erstmals eingeführt als der Text an die Stelle der Rede trat, sich wie ein Ostinato in jedem besonderen Aspekt wiederholt. Soviel zur Frage Was ist ein Text? Ricœur hat eine Kompakttheorie von Text vorgelegt, die schwerlich noch einmal zu vergessen sein wird. Nun liegt sie präliminar und erratisch in der Landschaft, weder verbunden mit den Antinomien des Textbegriffs, noch mit den Anmutungen der Textmetapher, von denen wir herkommen. Das ist nicht überraschend. Auch im eigenen Kontext wirkt der erste der vier Abschnitte mit seinem Schwergewicht wie ein erratischer Brocken. Erst durch Einbettung in den umgreifenden Zusammenhang von Erklären oder Verstehen wird der Textbegriff an Umgänglichkeit, Handhabbarkeit, Brauchbarkeit gewinnen. Also ist damit zu rechnen, dass noch eine Konturierung hinzukommt, die bisher ausgeblieben war. Ausgesetzt der Rivalität von Erklären oder Verstehen, um 1900 die wissenschaftstheoretische Grundsatzfrage, gerät der Text in eine Zwickmühle, von der bei seiner Vorstellung noch nichts zu spüren war. Erklären oder Verstehen steht für den Dualismus von Natur‑ und Geisteswissenschaften, der von Dilthey als Alternative von ausschließender Art gefasst wurde,122 als Gegensatz123 und als Widerspruch.124 Damit ist plötzlich die Antinomie wieder zur Stelle.125 Der Text, wiewohl präliminarisch eingeführt als fern jeglicher Antinomie, gerät unversehens in deren Zwielicht. Wird die Antinomie vergehen müssen angesichts eines Textes, der von Antinomie nichts weiß? Oder umgekehrt: Wird der Text, der von Antinomie bislang nichts wusste, die zwielichtige Beleuchtung überstehen, ohne das Antinomische an sich zu erkennen, sie also aufzunehmen in sich selbst? Ricœur neigt zum ersteren. 118
Ricœur, ebd. 91/146: „texte comme texte“. Ricœur, ebd. 95/149: „le texte n’est que texte“. 120 Ricœur, ebd. 84/141. 121 Ricœur, ebd. 84/141, 90/145 f, 95/149, 98/151: „suspens“. 122 Ricœur, ebd. 86/142: „alternative exclusive“. 123 Ricœur, ebd. 86/142, 98/152, 101/154: „opposition“. 124 Ricœur, ebd. 103/155: „contradiction“. 125 Ricœur, ebd. 79/137, 86/142, 101/154: „antinomique“. 119
2. Was ist ein Text? – Die Antinomien des Textes
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Er kündigt an, sein Streben gehe auf Komplementarität und Reziprozität.126 Er strebt nach Dialektik127 und scheut selbst das Wort von der Versöhnung nicht.128 Daneben bleibt die zweite Richtung offen, und es gibt Gründe, die es plausibel machen, ihr zu folgen. Ricœur selbst hat die Rückkopplung der Antinomie von Erklären und Verstehen auf den Text in zweifacher Weise versucht. – Er hat erstens den Text begriffen als Antinomie von Geschlossenheit und Offenheit,129 wobei er, anders als der Strukturalismus, die Geschlossenheit auf dessen Schwebezustand bezieht: Text für sich, Text als Quasi-Subjekt und Quasi-Welt. Vom Leser wird verlangt, dass er sich auf den doppelten Aufschub und die Abgeschlossenheit des Textes einlässt. Sie ruft nach Erklärung aus dessen internen Relationen. Nur durch diesen Engpass hindurch, der dem reformatorischen „Allein der Text“ gleicht, gelangt man zu dessen Öffnung, die durch Verstehen, genauer durch Interpretation geschieht. Ricœur findet für sie die kühne Metapher des „Orients des Textes“:130 verschlossener Text im Aufgang. Ein solcher ist sowohl „Eröffnen einer Welt“,131 die dann neue Welt sein muss, als auch Eröffnen einer Sprache, die neues Sprechen ermöglicht. Also verknüpft sich die Antinomie von Erklären und Verstehen insofern mit dem Text, als dieser, wie eindrücklich vorgeführt wird, „genau an der Stelle des Sprechens“ steht und somit der Rede, die man spricht, dadurch entgegengesetzt ist, dass „man sie nicht spricht.“132 So gewährt der Text den Übergang zu einem neuen Subjekt, indem er von einem Sprechen zum anderen, und zu einem neuen Objekt, indem er von einer Welt zur anderen führt. Es ist die Metapher der „Verkettung“, die in diesem Zusammenhang auftritt.133 – In einer nachfolgenden Studie wird zweitens der in Spannung zwischen Erklären und Verstehen stehende Text – nicht als Terminus, sondern als Phänomen – in Beziehung gesetzt zur Metapher, wodurch zwei gegenläufige Bewegungen ausgelöst werden, die ihrerseits die Antinomie von Erklären und Interpretation ins Werk setzen. Dies geschieht unter der Voraussetzung, dass eine Metapher in Relation zum Text bezeichnet werden darf als minimaler Text, „Miniaturwerk“,134 und umgekehrt ein Text als Metapher von maximaler Länge. Wenn aber die Metapher nichts anderes ist als Minimum an 126
Ricœur, ebd. 86/142, 98/151, 101/154. Ricœur, ebd. 90/146. 128 Ricœur, ebd. 103/155, 108/159: „réconciliation“, „se concilier“. 129 Ricœur, ebd. 90, 98, 104/146, 152, 156; ders., Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik 1972, 133 f. 130 Ricœur, ebd. 104/156, entgegengesetzt der „Statik des Textes“, die durch „die internen Beziehungen der Abhängigkeit“ entstehen. 131 Ricœur, Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik, 133. 132 Ricœur, Was ist ein Text?, 81. 133 Ricœur, ebd. 98/152: „Verknüpfung“/„enchaînement“. 134 Ricœur, Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik, 111; in Anlehnung an Monroe Beardsleys Begriff der Metapher als „Miniaturgedicht“ (130). 127
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lebendigem Wort, und der Text Maximum an lebendigem Wort, Maximalwort, dann ergeben sich zwei Bewegungen, die einander direkt entgegengesetzt sind. Auf der einen Seite haben wir die Bewegung von der Metapher zum Text.135 Sie führt die Metapher solange aus, bis sie sich im Text erschöpft hat und zum abgeschlossenen Werk geworden ist. Dem Text in seiner Abgeschlossenheit gebührt Erklärung. Aber kaum hat die Minimalmetapher als Leitfaden zur Erklärung von maximalen Texten gedient, kehrt sich das Verhältnis um und es entsteht das Bedürfnis, das als geschlossenes Ganzes aufgefasste Werk als Schlüssel zur Metapher zu gebrauchen.136 Auf dieser Seite entsteht die Bewegung vom Text zur Metapher,137 und mit ihr vollzieht sich die Öffnung des geschlossenen Werks zur Wiederaufnahme des lebendigen Wortes. Dies geschieht durch Verstehen, das sowohl die Wiederkehr der reflexiven Beziehung auf ein Selbst wie die referentielle Beziehung auf Welt in neuer Weise eröffnet. Ich nehme Ricœurs Studien zum Text so auf, dass ich in Hinsicht auf ihn von der Antinomie Begrifflichkeit/Unbegrifflichkeit spreche. Mit Begrifflichkeit meine ich, was Ricœur zur Haltung des Erklärens, mit Unbegrifflichkeit, was er zur Haltung des Verstehens und Interpretierens erläutert hat. Die Antinomie des Textes besteht darin, dass er ganz als geschlossener und ganz als offener interpretiert werden kann. Oder, was dasselbe ist, er kann ganz als Begriff erklärt und ganz als Metapher verstanden werden. Als Begriff wird er immer geschlossener, immer mehr Werk, als Metapher wird er offener, immer mehr Wort. Indem wir diesen Stand der Überlegung Ricœurs festhalten, behalten wir im Auge, dass der Text sich auf der Ebene des Begriffs selbstverständlich nicht allein von der Seite der Geschlossenheit zeigt, sondern die gesamte Antinomie von Geschlossenheit und Offenheit im Spiel ist, und ebenso, dass er sich auf der Ebene der Metapher nicht nur von der Seite der Offenheit zeigt, sondern die Offenheit ihre anmutende, aneignende Kraft erst entfaltet, wenn sie in Opposition zur Geschlossenheit steht.
3. Die Texttheologie Warum Texttheologie? Buchstabentheologie lag schon auf der Hand, Schrifttheologie ebenso. Dass jetzt Textologie ausflippt zu Texttheologie: konnte das nicht vermieden werden? Fehlt nur noch „Literaturtheologie“, Erika Grebers Alptraum, der Übergriff auf ihre Studien, den sie befürchtete.138 Der Wunsch ist plausibel, vom pandemischen Gebrauch des Wortes Theologie verschont zu bleiben. Selten wurde in der Menschheit etwas zuwege gebracht, ohne dass 135 Ricœur,
ebd. 118–126. Ricœur, ebd. 118. 137 Ricœur, ebd. 126–134. 138 Greber, ebd. 155. 136
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nicht alsbald ein Theologe dastand, der etwas davon haben wollte. In dieser kritischen Situation ziehen wir uns nicht darauf zurück, dass Lesekunst von vornherein eingeführt war als Theologie des Lesens, auch nicht darauf, dass mit dem delphischen E und patmischen ΑΩ immer schon Buchstabentheologie und mit dem Schriftprinzip immer schon Schrifttheologie im Schwange war, wenn auch anonym. Vielmehr verhält es sich so: Der Text, spätestens er, zwingt, seiner Theologizität zu folgen. Von Theologie verlangt man, schon aus Gründen der Selbstachtung, nur eines: Theologievermeidung. Ohne sie kommt Theologie nicht zur Erscheinung. Wenn auch Lesekunst eine theologische Inklination haben mag von vornherein, kann diese nur gefestigt werden, wenn zugleich Kräfte der Theologievermeidung gefestigt werden. Theologie und Theologievermeidung stärken sich gegenseitig. Texttheologie in des Wortes expressem Sinn besagt, dass die Vokabel Gott in den Text eingefügt wird. Diese Auskunft ist nicht falsch, sie ist nur ermüdend für Menschen der Schrift und des Texts. Normalerweise darf in den Text kommen, was will, sodass die Kaprizierung auf eine Vokabel (und dann noch diese) dogmatistisch klingt, eben theologisch. In der Tat kann von Gott erst auf der Ebene des Textes die Rede sein. Auf der Ebene des Buchstabens und der Schrift sind keine Mittel vorhanden, eine solche Vokabel auf Zusammenhang hin zu prüfen. Aber auf der Ebene von Texten geht es darum, unter welchen Bedingungen sie sich in den Kontext fügt. Aus textologischer Sicht erscheinen Theologen als idiotische – auf ihr Idion kaprizierte – Text-User, die sich einer für Nicht-Theologen schwerbegreiflichen Restriktion unterwerfen. In der Tat sind sie das, wie sich sogleich zeigen wird; in der Texttheologie geht es tatsächlich darum, einem Text die Vokabel Gott einzufügen und zu beobachten, was geschieht, wenn diese Vokabel in den Text kommt. – Aber nun ist der Textologie die Gegenthese nicht zu ersparen. Texttheologie entsteht auch, ohne dass das Wort Gott dem Text eingefügt wird. Es genügt Textologie, um auf Texttheologie zu kommen, wenn auch nicht in des Wortes expressem Sinn. Es gibt eine implizite Texttheologie; jede Textologie ist eine Art davon, keine idiotische, eine koinotische vielmehr, weil bereits mit dem Text gegeben. Aus den zahlreichen Definitionen, die für Text im Umlauf sind, nehmen wir diejenige auf, die uns fortan begleiten wird. Es ist nicht die Definition, mit der Ricœur ins Haus fiel; selbst für ihn war die schriftliche Fixierung nur die notwendige, nicht die hinreichende Bedingung. Sie musste erst noch unter die Beleuchtung durch die Antinomie von Erklären und Verstehen treten, um Platz zu machen für die dem Text eigene Antinomie. Dessen antinomische Struktur entsteht, weil sich in ihm zwei maximal konträre, wenn maximalkonträre, dann kontradiktorische Linien kreuzen, waagrechte und senkrechte. Die waagrechte allein erbringt keinen Text; erst wenn die Linie zur Zeile wird und erst wenn sie gebrochen wird durch die zweite senkrechte, entsteht Text. Teils war es die Text‑ oder Textilmetapher, die diese Sichtweise ermöglichte, daher die Rede von Wortflechten,
§ 4 Text und Rede
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Wortweben, teils war es der Textbegriff, der, wo immer er ergriffen wurde, in zwei unverträgliche Seiten auseinandertrat, daher die Rede von der Zweiachsigkeit des Textes. Das ist genug, um so etwas wie Theologie am Werk zu erblicken. Nicht erst am Rand eines Textes oder durch Auftritt eines Idiotikons, sondern bereits im Zentrum des Textgetriebes wird Texttheologie sichtbar. Zwei Ansätze zur Texttheologie ragen hervor: Auf der einen Seite Robert P. Scharlemanns hochverdichteter Essay zum theologischen Text, auf der anderen Seite und zum Kontrast hierzu Paul Ricœurs Aussagen zum poetischen Text, mit denen er seine Texttheorie fortführt. Durch beide Ansätze hindurch haben wir den unseren zu finden.
a. Der theologische Text Für die Theologie entsteht die Frage nach dem theologischen Text teils von außen, teils von innen. Von außen durch Anregung der französischen Philosophie der Schriftlichkeit, allen voran durch die Arbeit Paul Ricœurs, auch durch Levinas und Derrida. Hier entsteht auf dem gemeinsamen Hintergrund der phänomenologischen Ausrichtung die Frage „What is a text, this product of writing that is open to reading?“139 So nimmt Scharlemann Ricœurs Frage auf. Eben diese Frage erhebt sich auch innertheologisch auf dem Hintergrund der theologiegeschichtlichen Epoche der Wort-Gottes-Theologie, einerlei ob von Karl Barth, Rudolf Bultmann oder Karl Rahner. Hier begegnet Textualität nie als Thema eigenen Rechts, höchstens hinterrücks in der Ironie der Schriftlichkeit des göttlichen Wortes. Wenn die Theologie des Wortes Gottes als Sprachkritik, als göttliches Nein zum menschlichen Ja vonstattengeht in der Relation von Sprechen und Hören, Verkündigen und Glauben, dann ist zu fragen, ob nicht eine Parallelkritik in der Relation von Schreiben und Lesen angezeigt wäre. Diese hätte offenbar, parallel zum Wort Gottes und zum Wort Gott, mit dem Schreiben von Gott und dem Schreiben Gottes zu tun. Misstraut man der traditionellen Kategorie des heiligen Textes, dann kann die Frage „What is a text?“ fortgeführt werden durch „What is a theological text?“140 Wenn sich also die Frage nach dem theologischen Text diesen beiden Anregungen verdankt, dann muss sie so angegangen werden, dass zuerst der Text, dann der theologische Text ins Visier genommen wird. In der Tat verfährt Scharlemann so, und seine zwei mittleren Passagen sind die nötigen Zwischenschritte, um vom einen zum anderen zu gelangen. Jedoch anders als angekündigt ist es nicht die französische Textphilosophie, der Scharlemann sich anschließt, sondern die deutsche Hermeneutik. Das ist die Stelle, an der sich zwei Richtungen von Texttheorie verzweigen; die eine geht zum theologischen, die andere zum poetischen Text. Die französische Texttheorie, Derrida, Ricœur, ver139 140
Scharlemann, Theological text 1987, 7. Scharlemann, ebd. 5–7.
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steht Interpretation als Lesen; Lesen ist gleichbedeutend mit Neuschreiben, mit eigenen Worten schreiben, was in den Textworten steht.141 Die deutsche Texttheorie, Schleiermacher, Gadamer, blickt nicht auf den neuen Text, sondern auf den alten, originalen. Ziel ist nicht das kreative Schreiben neuer, sondern das Lesen alter Texte, was nichts anderes ist als das Wiederschreiben dessen, was geschrieben steht. Hier drückt die Ordnung des Mittelalters nach: Es gibt ein Gefälle zwischen Text und Glosse, Text und Kommentar, das beachtet sein will. Ricœurs lockerer Definition – Text als jeder schriftlich fixierte Diskurs – widerfährt der Einwand, der der Behauptung „jeder“ ein gegenläufiges „nicht jeder“ einprägt. Das ist noch einmal ein Signal der Verzweigung. „Jeder“ zeigt in Richtung des poetischen, „nicht jeder“ in Richtung des theologischen Texts. Zwar ist jeder theologische Text Text, aber nicht jeder Text ist ein theologischer Text. Und nicht genug damit; die Asymmetrie greift tiefer. Zwar ist jeder Text Schrift, aber nicht jede Schrift ist Text. Asymmetrien erzeugen Gefälle; Lesekunst ist nichts als Fortgang von Gefälle zu Gefälle, von Asymmetrie zu Asymmetrie. In der Art, wie Scharlemann in unser Vorgehen eingreift und es befördert, ist er ein Meister der Asymmetrie. Kennzeichen der Asymmetrie ist das „aber“, das Aussagen mit einem generalisierenden „jeder“ eingepflanzt wird durch „nicht jeder“. Jedes/alle x ist/sind y, aber nicht jedes/alle y ist/sind x. Genau so verfährt Scharlemann: Gibt es die Unterscheidung von Text und Glosse, von Text und bloßem Text über den Text, dann gibt es auch die zwischen Texten, die auf vorhergehende, und solchen Texten, die auf keine vorhergehenden bezogen sind und Anspruch auf Originalität erheben. Hier verrät Scharlemann seinen Hauptsatz: Ein Text, der auf keinen anderen Text bezogen werden kann, ist ein solcher, in dem Bedeutung und Realität konvergieren oder koinzidieren.142 Man kennt die Unterscheidung zwischen theologia secunda und prima, zwischen Sprache der Sprache und Sprache der Dinge, oder – mit Platon – zwischen Hermeneuten der Hermeneuten und Hermeneuten der Götter.143 Hier kehrt sie bei Scharlemann wieder als Unterscheidung von uneigentlichem Text über Texte und dem eigentlichen, originalen Text, der nicht nur Texte interpretiert, sondern die Realität präsentiert, die er bedeutet. Einen Text nachzuweisen, auf den andere Texte sich beziehen, ohne dass er sich selbst auf andere bezieht, dürfte schwierig werden. Scharlemann eröffnet in einem ersten Argumentationsgang die Pole von „Instantiation“ (Veraugenblicklichung) und „Ideation“ (Verstetigung), zwischen denen sich alle Sprachbildung bewegt.144 Am Ende der einen Seite, der Seite der Konkretion, steht die Konvergenz von Bedeutung und Realität. Dies geschieht durch Deiktika 141
Scharlemann, ebd. 7 f. Scharlemann, ebd. 8 f. 143 Platon, Ion 535a, 534e; Lowth, De sacra poesi Hebraeorum 11753 (Michaelis 21770), Prael. XXI, 215/441 f; Vf., Die Aufgabe des Hermeneuten 2010, 39 f. 144 Scharlemann, ebd. 9–13. 142
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§ 4 Text und Rede
wie „dies“, „hier“, „jetzt“, konkreter noch durch Instantiatoren wie „Ich“, „Ding“, Ausdrücke also, deren Bedeutung nicht gedacht werden kann ohne im selben Moment die Realität zu evozieren, auf die sie sich beziehen. Am Ende der anderen Seite, der Seite der Abstraktion, stehen Trennung und Reinigung der Ausdrücke von aller Realität, so klassisch in Kants drei Ideen der reinen Vernunft, die in Scharlemanns Version als „Gott“, „Ding“ bzw. „Nichtding“ (thing/ nothing wie Ichts/Nichts) und „Ich“ wiederkehren. Während jene, die Konkreta, außersprachliche Referenz behaupten, wird dies bei diesen, den Abstrakta, verneint; Abstrakta sind von der Realität separiert. Jedoch das Entscheidende ist: Ein und derselbe Ausdruck, ein und dieselbe Idee, kann auf der einen wie auf der anderen Seite stehen. So Kants drei Ideen, die psychologische, kosmologische und theologische. „Ich“ ist auf der einen Seite, theoretisch betrachtet, eine Ideation, der keine Realität entspricht, auf der anderen, wenn praktisch betrachtet, eine Instantiation, in der das Ich seine Realität hervorbringt im Moment des Handelns. Bei „Ding“ zeigt sich ein Weiteres. Wird es nach seinem konkreten Ende aller Realität zugeordnet, so nach seinem abstrakten Ende keiner. Dies schlägt sich in einer markanten Abänderung der Terminologie nieder; handelt es sich im ersten Fall um thing, so im zweiten um nothing. Dieselbe Idee, einmal gelesen als Instantiation, das heißt als Behauptung der Konvergenz von Bedeutung und Realität, dann wieder als Ideation, das heißt als Negation eben dieser Konvergenz, benennt einen Gegensatz. Ebenso, wenngleich verborgen unter der Einheit ein und derselben Bezeichnung, bei „Gott“ und „Ich“. Beide gehorchen sowohl der Instantiation, weil der, der sie denkt, zugleich die Realität denkt, die ihnen entspricht, als auch der Ideation, weil ihnen keine Realität entspricht; beide umfassen ein Ichts und ein Nichts. Wenn es nun ein Schreiben des Wortes Gott gibt, das sowohl zu Instantiation wie zu Ideation gehört, dann ist es – so Scharlemann – der Text „Gott ist Gott“, der unter allen Texten von Gott der Minimaltext ist. Im Fall der Instantiation ist er zu lesen „Gott ist Gott“, im Fall der Ideation „Gott ist Gott“. Hier handelt es sich um den fundamentalen theologischen Text, der eine gegensätzliche Lesart sowohl erlaubt wie fordert. Wenn nun aber „Gott ist Gott“ der minimale Text für die Schreibung Gottes ist – Text in striktem Sinn verstanden –, und wenn – Text in weniger striktem Sinn verstanden – ein maximaler Text von Gott sich nicht auf diesen kleinen Text beschränkt, sondern Namen, Narrationen und Diskurse mitumfasst, dann genügt es zum theologischen Text nicht, nur die Bandbreite zwischen Minimum um Maximum in Betracht zu ziehen. Sondern nach beiden Seiten, sowohl in Richtung des Minimums wie des Maximums, wird der Punkt erreicht, an dem Text überhaupt in der einen oder anderen Weise umschlägt in Non-Text. Damit steht die Frage im Raum: Was ist ein theologischer Text, Text oder Non-Text? Zum bisherigen Argumentationsgang, der Text und theologischen Text unvermittelt konfrontiert, kommt ein zweiter hinzu, der zwei Zwischenschritte
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vollzieht.145 Hier erhält die fundamentale Asymmetrie des Textes, auf den sich alle späteren Texte beziehen, ohne dass dieser sich auf einen früheren bezöge, ihre detaillierte Begründung. Die These lautet: Das „Dasein“ darf Text schlechthin genannt werden.146 Oder umgekehrt: Text in des Wortes eigentlichem Sinn ist nicht jede beliebige Schrift, sondern nur diejenige, die Dasein schreibt. Das Dasein schreibt nicht selbst, was freilich das einfachste wäre, es wird „überschrieben“,147 und wenn behauptet wird, das Dasein sei der maßgebliche Text, so heißt das nicht, dass es von sich aus Text wäre, sondern es wird überschrieben, und so ist es Text. Dasein an sich ist entweder Natur (nature) oder Faktur (facture), und daraus ergeben sich zwei Zwischenschritte. Überschreibung der Natur macht aus dieser Kreatur (creature), und Überschreibung der Faktur macht aus dieser Skriptur (scripture): Schrift. Um es am Beispiel vorzustellen: Ein Pfeil kann zweierlei sein. Als solcher, der mit dem Bogen geschossen wird, ist er Natur, aber als solcher, der in einer Situation der Desorientierung die Richtung weist, ist er Kreatur. Dasein ist der Text, der Natur in Kreatur wandelt. Kreatur kann gelesen werden wie der Pfeil, mit dem nicht geschossen wird. Sie ist, als Text der Natur, eine Schrift, die sowohl durch die Natur als auch über sie geschrieben wird. Ob die Schrift der Natur durch Natur bereits Text in vollem Sinn ist, muss offenbleiben. Immerhin gibt der Pfeil, sofern kein Pfeil-Ding, sondern Pfeil-Zeichen, Anlass zu sprachlichen Kommentaren und Interpretationen, sobald seine Weisungen gelesen werden. Er nimmt insofern die Stellung eines Textes ein, er wird kommentiert ohne seinerseits zu kommentieren.148 Aber Dasein, bisher nur Schrift der Natur durch die Natur, ist auch in der Lage, über die Natur zu schreiben.149 Sie tut dies auf der Ebene des zweiten Schritts, indem analog zum ersten Faktur in Skriptur (Schrift) verwandelt wird. Faktur, ein ad hoc hervorgebrachtes, nach dem Vorbild von Natur gebildetes Kunstwort, das Natur und Kunst unterscheiden soll, ist Kunst sowohl im Sinn von Kunstfertigkeit (Hervorbringung des artisan) wie auch von avancierter Kunst (Hervorbringung des artiste). Dann ergibt sich als Gesamtzusammenhang beider Ebenen bzw. Schritte, dass Skriptur (Schrift) sich auf der zweiten Ebene zu Faktur verhält wie Kreatur zu Natur auf der ersten: eine klassische analogia proportionalitatis. Das sind die beiden Zwischenschritte, die Scharlemann zwischen Text und theologischem Text vorschlägt. Zusammengefasst stellen sie sich wie folgt dar:150 Wenn Dasein das Buch ist, in dem Natur als Kreatur lesbar wird, dann ist Skriptur das Buch, in dem die Bedeutung der Faktur lesbar gemacht wird. Die wiederbelebte Zweibüchertheorie verhilft dazu, vier Positionen – es 145 Scharlemann,
ebd. 13–16. ebd. 12 f, 16: „Dasein“ deutsch. 147 Scharlemann, ebd. 13, 16: „overwritten“. 148 Scharlemann, ebd. 13 f. 149 Scharlemann, ebd. 14. 150 Scharlemann, ebd. 16. 146 Scharlemann,
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handelt sich um die vier Stellen der analogia proportionalitatis – in eine Ordnung zu bringen: Natur als stumme Welt der Realität, die keine Bedeutung hat als die des Entstehens und Vergehens; Kreatur als Welt, die als Dasein und das heißt als Text (vor dem literarischen Text)151 gelesen wird als diejenige Schrift, die die Natur durch Natur schreibt. Sodann: Faktur als Welt dessen, was das Dasein hervorbringt als Kunsthandwerk, Kunst und Geschicklichkeit; Skriptur (Schrift) dagegen als Welt der artikulierten, geschriebenen Schrift, die genau solche Texte schreibt wie die postulierten, solche nämlich, die kommentiert werden ohne selbst zu kommentieren. Wenn dies Text ist, was ist dann der theologische Text?152 Man sollte meinen, was bisher als Text entwickelt worden ist, sei theologischer Text genug. Aber nein: Was theologischer Text ist, ergibt sich erst in Befolgung zweier Hinweisungen, einer alt‑ und einer neutestamentlichen, wobei erstere vom jüdischen Gebrauch des Gottesnamens ausgeht, letztere von den jesuanischen Parabeln. – Der erste Hinweis entsteht durch die Lesetechnik, die das nachexilische Judentum für den Gottesnamen entwickelt hat. Der Name wird jhwh geschrieben, aber Adonai gelesen und gesprochen, ohne dass der geschriebene Text ausradiert würde;153 auch wird er nicht wie im Fall von Kreatur und Skriptur vorliterarisch und literarisch überschrieben, sondern durchkreuzt, durchstrichen,154 gecancelt.155 Und zwar in doppelter, wechselweiser Hinsicht. Der Name jhwh, der seinerseits für den Text „Ich bin der ich bin“ steht, wird mit Adonai durchkreuzt, sodass ein Non-Text zur Erscheinung gebracht wird, eine Anrede, ein Vokativ. Aber auch umgekehrt: Der geschriebene Name durchkreuzt die Anrede durch die Wirklichkeit des ekstatischen Ichs – jhwh = „Ich bin der ich bin“ –, für die er steht. Sodass doppelte, gegenseitige Durchkreuzung stattfindet, Negation der Negation, stets Durchkreuzung, nie Ausradierung. Diese am Gottesnamen paradigmatisch zu erlernende Technik greift alsbald auf alles Seiende aus; es wird genauso durchkreuzt, genauso der doppelten Negation unterzogen. Paul Tillich hat daraus das Symbol des Kreuzes als Passform aller religiösen Symbole abstrahiert, weil es sowohl den singulären Gottesnamen wie generell alles Seiende betrifft. So wird der Gottesname zum Paradigma für religiöse Sprache überhaupt. – Ein zweiter Aufschluss entsteht durch die Überlieferung der Gleichnisse Jesu. Gleichnisse folgen der Formel „A ist A als Nicht-A“; „seiend als nicht-seiend“ ist präziser als „ähnlich seiend wie“. Die Gottesherrschaft der Gleichnisse ist die Andersheit jeglicher Herrschaft und besagt in erster Linie, was Herrschaft nicht ist. So durch die konkreten Einzelheiten des Gleichnisses hindurch. Das Gleichnis hat die Doppelfunktion, erstens 151 Scharlemann,
ebd. 15: „preliterary writing“. ebd. 16–18. 153 Scharlemann, ebd. 13, 16: „erased“. 154 Scharlemann, ebd. 16–18: „to cross out“; „to write across“. 155 Scharlemann, ebd. 16: „cancellation“. 152 Scharlemann,
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zu zeigen, was Gottesherrschaft nicht ist, dann zu zeigen, was sie ist, indem sie es nicht ist. Daraus ergibt sich der Hinweis darauf, wie der theologische Text identifiziert werden kann. Kein Text ist von Gott selbst geschrieben, vielmehr von einem Anderen als Gott. Aber als solches Schreiben vom Schreiben Gottes deutet er auf eine Andersheit hin, die dem Schreiben selbst innewohnt. Auch der theologische Text schlechthin „Gott ist Gott“ ist nicht von Gott geschrieben. Sondern der von Gott geschriebene Text156 ist der andere Text eines jeden Textes, ist – wie die Gottesherrschaft – die Andersheit, die in jedem Text zur Erscheinung kommen kann. Auch hier gibt es wie im Gleichnis zwei Kräfte, die am Werk sind; erstens die radikale Negation oder Andersheit, zweitens das Erscheinen in durchsichtiger Ähnlichkeit. Der Text Gottes ist, was er nicht ist. Hier berührt sich der zweite Hinweis mit dem ersten. Wie Adonai aus dem Text jhwh einen Non-Text macht, aber jhwh eben gerade als Non-Text Text bleibt, der nicht ausradiert wird, so in jedem Text. Das Schreiben Gottes schreibt sein Nein durch jeden Text; aber ebenso kann der Text, der nur Text ist und nicht Text von Gott geschrieben, der Text sein, der als Text von Gott gilt.
b. Der poetische Text Im Grundsatz verfolgt Ricœur beim Übergang vom Text zur Texttheologie die gleiche Richtung wie Scharlemann.157 Nur ist Theologie kein Terminus, den er sich zueigen machen wollte. Theologie bleibt den Theologen.158 Wenn die Philosophie sich einem theologischen Gegenstand nähert – Gott ist ein solcher –, dann unter dem Aspekt des Poetischen. Ricœur geht es um „Poetik des Namens Gottes“,159 nicht um Theologie des Namens Gottes wie Scharlemann. Warum Poetik? Weil nur so eine der Theologie stillschweigend nachgesagte Reflexionsschwäche, verbunden mit vorschneller Behauptungslust, vermieden werden kann. Erst wenn Poetik an die Stelle von Theologie tritt, darf man hoffen, der Nennung Gottes werde ein regelrechter Platz zugewiesen. Gott hat seinen Ort primär in Texten und deren Welt. „Textualität des Glaubens“160 besagt, dass die Nennung Gottes am frühesten in Texten geschieht. Verhält es sich so, dann sollte Gott bereits in Was ist ein Text? begegnet sein. Nicht so, dass unter den möglichen Themen eines Textes auch dieses auftritt. Das ist auch nicht der Fall. Wenn Gott in Beantwortung der Frage Was ist ein Text? auftauchen sollte, dann nur so, dass er mit dem Text bereits als bloßem Text unabweisbar wird. Auch dies ist in Ricœurs frühem Essay nicht der Fall. Um Gott zu nennen, bedarf es der Fortführung des Themas Text161 durch das 156 Scharlemann,
ebd. 18: „Text of God“. Gott nennen 2005, 153–182. 158 Ricœur, ebd. 163, 165 f, 181 f. 159 Ricœur, ebd. 179. 160 Ricœur, ebd. 155. 161 Ricœur, ebd. 154–159. 157 Ricœur,
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Thema der Poetik.162 Nur die Poetik vermag der vielfältigen Nennung Gottes in Texten auf die Spur zu kommen. Wir stellen Ricœurs „Meditation“163 über die Nennung Gottes unter den Gesichtspunkt des poetischen Textes. Gott nennen: das ist immer schon und vorrangig in Texten geschehen. Aber man kann Texte nicht isolieren, weder gegen die lebendige Sprache, noch gegen die lebendige Erfahrung. Vor allem ist jede Hypostasierung, sei es des Texts, der Sprache oder der Erfahrung zu vermeiden. Nicht alles ist Sprache oder Wortereignis, das wäre Hypostasierung des Dialogs, der Präsenz, der Gemeinschaft, des von Angesicht zu Angesicht. Ihr gegenüber verschafft sich der Text auf dreifache Weise Unabhängigkeit: vom Sprecher, von der Situation, vom Empfänger. Und umgekehrt ist nicht alles Text. Zwar ist es Texten eigentümlich, dass sie „sich […] in sich selbst schließen“;164 zum Text gehört Textualität, Literarität. Eine solche Geschlossenheit kennt Öffnung nur als solche gegenüber anderen Texten. Aber Intertextualität ist nur eine andere Form der Hypostasierung des Texts. Zwei Argumente bringt Ricœur dagegen vor. Erstens ist die Öffnung des Textes zur Intertextualität nichts anderes als die Illusion, man kenne einen Text besser, wenn man einen anderen kennt, aus dem er hervorgeht. Gegen den recursus in infinitum hatte sich schon Scharlemann mit seinem Begriff des originalen Textes gestellt.165 Zweitens genügt es nicht, den Sinn eines Textes wie im Neostrukturalismus nur der intertextuellen Kommunikationskette entlang zu verfolgen. Sondern dem Textsinn steht die Referenz gegenüber, das heißt die Beziehung auf außersprachliche Realität, und diese wird durch den Text, wie zu sehen war, nur suspendiert, transformiert, aber nicht aufgehoben. Zwar kann ein Text sich auf eine Welt beziehen, die nicht da ist, die Welt des Textes, aber auch die Welt des Textes ist nicht etwa verschlossen im Text, sondern außerhalb seiner, sodass sie sich „vor ihm entfaltet.“166 Bleibt also auch die Welt des Textes, trotz Suspension, bezogen auf die reale Welt, dann ist sie offen nicht nur in Hinsicht auf andere Texte, sondern auch in Hinsicht auf eine andere Welt. Genau dies ist der Punkt, an dem die Vokabel Gott, abgesehen davon, dass sie immer schon Gegenstand unter den vielen Gegenständen eines Textes ist, auch explizit eingeführt werden kann. Gott ist zwar auch eine Sache der Geschlossenheit der Texte, weil Texte überhaupt nur als geschlossene so etwas wie Textualität und Literarität gewinnen; sie ist aber noch viel mehr eine Sache der Öffnung, und zwar nicht nur einer solchen zu anderen Texten, sondern als Aufgang einer anderen Welt. „Gott, den die Texte, die mein Verlangen zu hören offenhält, nennen, ist der letzte Referent dieser Texte“,167 sagt Ricœur und schreckt nicht zu162 Ricœur,
ebd. 160–163. ebd. 174. 164 Ricœur, ebd. 156; cf. 84, 90, 98, 104. 165 Ricœur, ebd. 157 f. 166 Ricœur, ebd. 158 f; cf. 84, 90, 98. 167 Ricœur, ebd. 159. 163 Ricœur,
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rück, von Gott als dem „Ur-Referenten“ der Texte zu sprechen.168 In jedem Fall ist diese Hypothese zu unterscheiden von traditionellen Vorstellungen mündlicher oder schriftlicher Inspiration, sei es Gott als Stimme oder als Ur-Autor der Texte. Nun verlangt die Hypothese aber auch, dass sie durchgeführt wird. Dies geschieht, indem Offenbarung als Element der Poetik auftaucht. Wozu bedarf es der Zwischenschaltung von Poetik, um zu biblischen Texten zu gelangen? Warum nicht direkt vom Text zu den Texten? Warum – wird man fortfahren zu fragen – am Ende Poetik und Politik,169 statt, was tiefer im Kontext verankert war, Text und Leben?170 Die Frage ist von Gewicht, weil Ricœur mit dem Übergang vom Text zur Politik plötzlich von der Schriftlichkeit changiert zur Mündlichkeit, oder wenigstens zulässt, dass an die Stelle des Schreibens das Sprechen tritt. In der Poetik sind offenbar die Argumentationen aufzufinden, deren es bedarf, um Gott als letzten Referenten einzuführen. Es wird in Kauf genommen, dass an die Stelle des Textes, der „sich […] in sich selbst schließ[t]“,171 unterschiedslos die Sprache tritt, die „sich selbst feiert“.172 Wie keine Textualität ohne Selbstreferenz des Textes, so keine Poetik ohne Selbstreferenz der Sprache. Indem Text und Sprache etwas über sich selbst sagen, setzen sie zwar die deskriptive Beziehung zur Welt aus, nicht die Beziehung zur Welt überhaupt. Die evasive Behauptung, die Poesie sistiere die Referenz auf die Welt und kapriziere sich auf den Ausdruck von Emotionen und Gefühlen, führt auf Weltreferenz noch einmal, nur subjektive und gefühlte anstelle von objektiver und faktischer. Daher ist die nichtdeskriptive Beziehung zur Welt die Voraussetzung sowohl für den Text wie für die Poetik. Gerade indem beide in Hinsicht auf die objektiven und subjektiven Verhältnisse der Welt leerlaufen und Geschlossenheit in sich annehmen, heben sie die Bindung an die Referenzerwartung ersten Ranges auf und öffnen sich zu einer Referenzerwartung zweiten Ranges, die statt Welt neue Welt, statt Adäquationswahrheit Manifestationswahrheit, das heißt Offenbarung möglich macht.173 Die Frage: Warum Poetik anstelle von Text? ist zu beantworten: Weil die Poetik und die sie ins Werk setzende und vor Fehldeutungen bewahrende Theorie geeignet sind, den Begriff der Offenbarung zu gewinnen, ohne religiöse, theistische oder biblische Vorstellungen in Anspruch nehmen zu müssen. Offenbarung und Poesie bedingen sich gegenseitig, und so ist es eher der poetische Offenbarungsbegriff, der als Voraussetzung für den religiösen, theistischen oder biblischen dient. Und eben dieser Umweg über die Poesie hat die Aufgabe, dem Text, der sich in seiner Weltdistanz nur noch zu sich selbst verhält wie die sich selbst feiernde Sprache 168 Ricœur,
ebd. 178. ebd. 177–182. 170 Ricœur, ebd. 153 f, 177, 179: „Übertragung des Textes in Leben“. 171 Ricœur, ebd. 156. 172 Ricœur, ebd. 160. Splett/Ullrich, Fest der Sprache 1983. 173 Anders als im Französischen führt ‚Öffnung‘ im Deutschen leicht zu ‚Offenbarung‘. 169 Ricœur,
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in der Poetik, offenbarende Qualität zuzusprechen. Er „enthüllt“ eine Welt, „die wir bewohnen könnten.“174 Ricœur zwingt uns, weit vorauszugreifen. Im Gang der Lesetheologie sind wir noch beim Text, nicht schon bei Poesie und Religion. Vom Text und in strenger Konzentration auf ihn allein, ist zu fragen, inwiefern er zur Texttheologie fähig ist oder gar zwingt. Scharlemann hält sich streng an den Text allein, auch wenn er ihn psychologisch, kosmologisch, theologisch soweit auflädt, bis alles in ihm und außer ihm nichts ist als Non-Text. Ricœur dagegen scheint auszuweichen; Ziel ist die Nennung Gottes, die im strengen Rahmen von Textologie als Schreibung Gottes hätte thematisiert werden müssen, aber weder hier175 noch in Penser la Bible176 reflektiert wird. Dass Nennung Gottes in die Zuständigkeit des Textes fällt, erwähnt Ricœur nicht. Er fragt vielmehr: Inwiefern fällt die Nennung Gottes in die Zuständigkeit der poetischen Sprache? Hier führt er eine Asymmetrie ein, die lautet: Alle religiöse Sprache ist dichterische Sprache, aber nicht alle dichterische Sprache ist religiös.177 Die angestrebte Poetik des Namens Gottes ist nicht Poetik schlechthin, sondern eine in bestimmter Weise qualifizierte, modifizierte, rektifizierte Poetik. Hierzu bedarf es der Einführung der Kategorie des „Grenzausdrucks“.178 Grenzausdrücke entstehen, wenn die Negation Übergewicht über die Affirmation erhält. Spätestens seit der Formel des Vierten Lateranense von der über jede noch so große similitudo hinaus zu wahrenden noch größeren dissimilitudo zwischen Schöpfer und Geschöpf 179 ist die Nennung Gottes an das asymmetrische Übergewicht der Negation gebunden. Das rufen die Grenzausdrücke in Erinnerung. Die Nennung des Namens stößt, sobald sie sich vollenden will, auf Unvollendbarkeit, denn der Name ist der unnennbare Name, und genau so – der Zusammenhang von Name als Miniaturtext und Gleichnis als Miniaturerzählung war schon thematisch180 – gehören die zur Gleichnisexegese erforderlichen Leitbegriffe wie Hyperbel, Paradox und Extravaganz in die Rubrik der Grenzausdrücke.181 – Aber wir verlassen Ricœur an dieser Stelle. Weder dürfen wir uns erlauben, jetzt schon in die Region von Poesie und Religion auszuschwärmen, noch lässt sich bei Ricœur der Grad an Beschränkung und Disziplin erkennen, der uns im vierten Paragraphen auferlegt ist.
174 Ricœur, ebd. 163; cf. 177: poetische Sprache „öffnet […] eine neue Welt, […] die Welt der Dichtung.“ 175 Ricœur, ebd. 170 f. 176 LaCocque/Ricœur, Penser la Bible 1998, 346–385. 177 Ricœur, ebd. 177. 178 Ricœur, ebd. 170–173: „expressions-limites“; „limit-expressions“. 179 DH 806. 180 Ricœur, ebd. 170–173; Scharlemann, ebd. 17. 181 Ricœur, ebd. 178.
3. Die Texttheologie
c. Der theologisch-poetische Text
171
Mit dem Kompositum theologisch-poetisch soll angedeutet werden, dass beide Vorgänger maßgeblich sind. Bei aller Verschiedenheit versuchen beide den Schritt von Textologie zur Texttheologie; Scharlemann so, dass er einerseits am textologischen Programm in strenger Disziplin festhält, es andererseits aber mit einer ganzen Theologie befrachtet, Ricœur so, dass er die Orientierung an Textologie zusehends zurückstellt und nicht zu einer Texttheologie im strengen Sinn, sondern einer vergleichsweise profillosen „‚Gott-Rede‘“,182 das ist θεολογία, gelangt. Der Wunsch entsteht, sowohl Scharlemann mit Hilfe Ricœurs zu lesen und seinen Textbegriff zu verschlanken, als auch Ricœur mit Scharlemann, was erfordert, den unübertrefflich dichten ersten Abschnitt „Was ist ein Text?“ noch einmal minutiös daraufhin abzutasten, was er, der an keiner Stelle diesen Schritt explizit vollzieht, ohne Zuhilfenahme herbeigebrachter Annahmen an Texttheologie impliziert. Eine billige Weise der Unterscheidung zwischen Scharlemann und Ricœur ist von vorneherein blockiert; nur an der Oberfläche unterscheiden sich ihre Auffassungen so, dass der eine den gegebenen, möglichst originalen Text will,183 der andere den neu zu schreibenden, die semantische Innovation, neue Welt und neues Selbst anstoßenden Text.184 Im Verlauf der Argumentation ist deutlich geworden, dass beide beides voraussetzen,185 wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten. So besteht das gewählte Kompositum theologisch-poetisch darauf, dass es angemessen ist, die Ansätze Scharlemanns und Ricœurs in wechselseitiger Beziehung aufzunehmen. Theologisch-poetisch weckt aber auch die Erinnerung an die alte theologia poetica, die für Antike und Renaissance eine Rolle am Rande des theologischen Spektrums spielte. Diese tritt aus ihrer Latenz hervor, und was an ihr bloß Begriff war, wird erneut zur Aufgabe.186 Aus jetziger Perspektive ist kritisch-einschränkend zu sagen, dass sie nicht telle quelle Eintritt verlangen kann an dieser Stelle. Sie müsste erst einer Revision aus texttheoretischer Sicht unterzogen werden, zu der sie selbst nichts beigetragen hat. Die Zulassung des Kompositums theologisch-poetisch gilt nicht dem allgemeinen Thema der Theopoesie, nicht Petrarcas „theologia“ als einer „poetica de Deo“,187 nicht Boccaccios „teologia“ als „niun’altra cosa […] che una poesia di Dio“,188 die mit Ricœurs „Dichtung von Gott“ (poème de Dieu) als sprachlichem Ort von „Gott nennen“ 182
Ricœur, ebd. 177. ebd. 8. 184 Ricœur, ebd. 177. 185 Scharlemann, ebd. 14; Ricœur, ebd. 155. 186 Vf., ‚Theologia poetica‘ 1986. 187 Petrarca, Ep. Fam. X 4; zit. nach Vf., ebd. 205 Anm. 69. 188 Boccaccio, Vita di Dante, 23; zit. nach Vf., ebd. 206 Anm. 71. 183 Scharlemann,
172
§ 4 Text und Rede
(nommer Dieu) wiederaufgenommen wird,189 sondern es geht präzis um die Frage, wie das Wort Gott in den Text kommt, genauer, wie der Name Gottes in den Text eingeschrieben wird oder auch ohne ausdrückliche Einschreibung einen unausdrücklichen Ort in ihm hat. Das ist der harte Kern. Sollte sich daraus ein bestimmtes Wissen über Theologie und Poesie ergeben, sei es willkommen. Unwillkommen wäre es, freiverfügbares, gewissermaßen schwadronierendes Wissen aus Theologie oder Poesie herbeizurufen, um beim Übergang von Textologie zur Texttheologie eine Hilfe zu reklamieren, die man sich selbst nicht geben kann. Nun ist zusammenzubringen, was sich in § 4 zur Theorie des Textes angesammelt hat, um den Überschritt von Textologie zu Texttheologie zu versuchen in strenger texttheoretischer Disziplin. Gehen wir also zurück zu den Textmetaphern und Textbegriffen, mit denen wir begannen. Aufseiten der Textmetapher war es die Vorstellung des Wortflechtens, die sich zum Wortweben weiterentwickelte, das heißt, sich ausrationalisierte zum Schema von rektangular gekreuzter Horizontale und Vertikale, unterstützt durch den Schematismus des carmen cancellatum, in dem Text und Intext zur Kreuzung gelangen. Dabei ist nicht zu vergessen, dass es viele Gestalten von Textmetaphern gibt und nicht nur diese eine, freilich durchschlagende. Aufseiten des Textbegriffs war es die Beobachtung, dass der Versuch, einen Begriff nach allen Regeln des Definierens zustande zu bringen, regelmäßig dazu führte, dass anstelle von einem zwei Textbegriffe ans Licht traten, die einander nicht nur konträr, sondern kontradiktorisch entgegenstanden, sodass jeder Textbegriff für sich unschwer als hinkender Teil eines antinomischen Begriffspaars identifiziert werden konnte und weiterhin muss. Vier solcher Paare wurden vorgeführt. Selbst wenn textmetaphorische und textbegriffliche Überlegungen in Scharlemanns und Ricœurs Studien in den Hintergrund traten, zu übergehen sind sie nicht. Sondern die Vielfalt der Textmetaphern ist ebenso wie die Antinomie des Textbegriffs bei jeder künftigen Beschäftigung mit Texttheorie vorauszusetzen. Der originale, theologische Text, den Scharlemann favorisiert und mit unendlicher Konvergenzpflicht auflädt, und der allererst zu bildende poetische Text, dem Ricœur zutraut, die neue, bewohnbare Welt und der ganz Andere, Gott, könne aus ihm hervorspringen, sind eben der Text, der durch Textmetaphern und Textbegriffe wie die vorgeführten qualifiziert wird. Um nun auch unsererseits von Metaphorik Gebrauch zu machen: Sämtliche Fäden – sie wurden im Sinn der formalistischen Bloßlegung des Verfahrens (обнажение приёма)190 bis zur Sichtbarkeit vor Augen gelegt – sind nun am Tage und müssen zu einem einzigen Knoten zusammengeführt werden. Ohne ihn wird die Theologie des Lesens keinen regulierten Fortgang nehmen. Soll aber Verknotigung sein, dann 189 190
Ricœur, ebd. 174. Jakobson, Новейшая русская поэзия 1919/21, SW 5, 319.
3. Die Texttheologie
173
ist es erforderlich, nicht nur bereits bei der Arbeit mit Textmetaphern die antinomischen Formen der Textbegriffe zu ahnen, sondern auch bei der Arbeit mit Textbegriffen immer noch an die anhaltende Virulenz der Textmetaphern zu erinnern. Und mehr: Man kann sich der Einsicht nicht verschließen, dass den Verhandlungen zu Texttheorie und Textologie die Texttheologie immer schon kopräsent ist, und umgekehrt, dass Texttheologie nicht denkbar ist ohne begleitendes Exerzitium in Textologie. Oder, um den Knoten noch kräftiger zu schürzen: Dass Theologie – Theologie schlechthin – nicht denkbar ist ohne das Dasein von Texten, die darauf warten, begriffen und gesehen zu werden, wie sie sichtbar Unsichtbarkeit hervorbringen und Unsichtbarkeit sichtbar machen. Oder sollten wir einfach sagen: Die warten, gelesen zu werden? Summa summarum: Die Textmetapher ist der Textbegriff (und umgekehrt), sobald nachvollzogen wird, dass die unsichtbar noumenale Antinomie der Textbegriffe sich in der sichtbar ästhetischen Zweiachsigkeit des Textes darstellt (und umgekehrt). Denn was ist ein Text? Er entsteht, wenn nicht nur Buchstabe und Buchstabe, und nicht nur Buchstabe formatiert durch das Schriftprinzip und daher als Schrift, sondern Schrift als Schrift begegnet, was in unserer Textkultur nicht denkbar ist ohne die Paradigmatik, die die Syntagmatik unterbricht, oder weniger abstrakt: als Vertikale, die die Horizontale bricht und kreuzt. Das sind die essentials des Texts, sowohl auf der Ebene der Textmetaphorik, sofern diese in der Gewebemetapher, als auch auf der Ebene des Textbegriffs, sofern dieser in der Antinomie Gestalt gewinnt. Beide Ebenen gehen aufeinander zu, und wenn wie soeben behauptet wird, dass eine die andere ist, heißt dies nicht, sie seien identisch, sondern lediglich, dass sie funktional identisch sind. Aber kaum ist der innerste Kern des Texts als eines Gewebes, das von links nach rechts und von oben nach unten gelesen wird, ausformuliert, beginnen erhebliche Unterschiede. Es ist ein gänzlicher Unterschied zwischen dem Anblick eines Gittergedichts einerseits, in dem durch Kreuzung der Achsen nicht nur ein Text zur Erscheinung kommt, sondern zwei, Text und Intext, und dem Anblick normaler Zweiachsigkeit auf der anderen, in der nur ein Text zur Erscheinung kommt, da nur die syntagmatische Achse im Modus der Anwesenheit arbeitet, die paradigmatische dagegen in dem der Abwesenheit. Diese Differenz ist so fundamental, dass man daran zweifeln könnte, ob sie als Varianten desselben Schemas verstanden werden dürfen. Man muss den Zweifel sogar zuspitzen und die aufgetretene Differenz bis ins Extrem treiben. – Einerseits, wenn im carmen cancellatum auf einer Textseite nicht nur einzelne Linien im waagrechten Text wahrzunehmen sind, die einen Text im Text, den Intext, zu lesen geben, oder wenn im Gedicht nicht nur gewisse Anfangs‑ und Endreime oder buchstäbliche Akro-, Meso‑ und Telesticha etwas dem Intext Vergleichbares senkrecht durch den Text ziehen – alles Intexte, die durchaus da und nicht fort sind –, sondern der ganze Textspiegel in allen vorhandenen Linien sowohl waag‑ wie senkrecht zu lesen ist: dann werden mögliche Textinhalte extrem einschränkt und schließ-
174
§ 4 Text und Rede
lich auf magische Texte wie das SATOR-Quadrat festlegt. Das heißt: Würde in einem Text sowohl im Ganzen wie in allen Elementen die durchgängige Kopräsenz von Text und Intext verlangt, stirbt der Text seinen Tod auf der Stelle. – Andererseits könnte die Anwesenheitspflicht des Intexts als selbständiger Text so weit gelockert werden, dass die zweite Textzeile als conditio sine qua non für einen Text entbehrlich scheint, weil die fortlaufende Zeile allein schon allen Erfordernissen von Syntagmatik und Paradigmatik genügt. Das heißt: Würde in einem Text auf die Anwesenheit der paradigmatischen Achse selbst als abwesende Verzicht geleistet, dann ist auch auf dieser Seite der Tod des Textes erreicht. Auch hier darf vom eigentlichen Kern des Textes, seiner Zweiachsigkeit, keinesfalls abgewichen werden. – Die extremen Belastungen des Textes mit Todesfolge zeigen, dass zwischen ihnen sich ein weites Feld von Textwirklichkeiten auftut, in dem Zweiachsigkeit, einerlei ob anwesend-anwesend oder anwesend-abwesend, herrscht und das Feld in den Rang eines Gebietes erhebt. Dies und nur dies soll mit der Rede vom innersten Kern des Textes behauptet werden. So auf innerste Verknotigung als Merkmal von Text bedacht, lösen wir uns von den gängigen Textdefinitionen, die einseitig mit dem Gesichtspunkt des Maximums arbeiten. Man kennt die Elemente des Textes: Phoneme, Morpheme, Lexeme, die im Satz zusammengebunden werden. Mit dem Satz als oberster Einheit hat die Grammatik ihr Werk getan. Geht man zum Text als satzübergreifender Einheit weiter, werden Logik, Rhetorik und Dialektik aufgeboten, um die Zusammenstellung von Texten argumentativ zu beleuchten. Ein Text wäre dann ein Kompositum nach grammatischen, rhetorischen, dialektischen und logischen Regeln, und es würden verschiedenerlei Sachgebiete hinzutreten, vielleicht auch die Theologie, um Sätze auf dem Weg zum Text und zum großen Text, zum Buch oder zur Enzyklopädie, zu begleiten. Bei diesem Verfahren ist der Text ein Quantum, das stets der Maximierung folgt. Von dieser einseitigen Bindung des Textbegriffs sagen wir uns los. Schon indem wir auf den innersten Kern des Textes zielen, und dieser in einem Kreuzungs‑ und Schnittpunkt zu suchen ist und nicht im Quantum, wird der Textbegriff des Maximums wie des Minimums fähig. Ein ernstzunehmender Textbegriff muss bestrebt sein, kein Quantum, sondern ein Quale zu umfassen. Er beschränkt sich nicht auf ein einziges Stratum im Aufbau der Sprache, und zwar möglichst das oberste, sondern geht durch alle Schichten der Sprache hindurch.191 Er umfasst das größte Textquantum ebenso wie die kleinste bedeutungsentscheidende Unterscheidung, das Phonem. Der Text umfasst Maximum und Minimum, soweit es durch die zum Schema der Achsen gehörige Zweiheit qualifiziert ist. Zweiheit, das eigentliche Merkmal von Texten, ist nicht nur dem Text als größtem, sondern auch dem Phonem als kleinstem und selbst dem kleinstmöglichen 191 Cf. Jakobson, Grammatical parallelism and its Russian facet 1965/66, SW 3,129: „pervasive parallelism“, Durchgängigkeit des Parallelismus.
3. Die Texttheologie
175
Jenseits des Phonems zueigen. Betrifft aber unser Textbegriff sowohl Maximum wie Minimum, indem jeweils das Textliche an ihm hervorgehoben wird, so lässt sich auch sagen, dass im Textbegriff Maximum und Minimum koinzidieren. Wenn dies der Text ist, was ist dann der theologisch-poetische Text? In Aufnahme von Scharlemann und Ricœur ist zu antworten: Offenbar der, der mit dem Namen Gottes zu tun hat. Diese Antwort ist aber schon die letzte Gemeinsamkeit der beiden Vordenker; danach geht jeder seinen Weg, Scharlemann den schrift-, Ricœur den sprach‑ und poesieorientierten. Unsere Aufgabe besteht darin, den Namen Gottes in das Textverständnis einzuzeichnen, das eben entfaltet wurde. Zunächst ist in Anknüpfung an Minimum und Maximum des Textbegriffs festzuhalten, dass der Gottesname an beiden Enden teilhat. Am Minimum deshalb, weil es Namen und mithin auch dem Namen eigentümlich ist, minimiert zu werden. Paradigmatisch beim hebräischen Gottesnamen, dessen tetragrammatische Schreibung nur die Durchgangsstation bildet für die tri‑ oder digrammatische, und am Ende steht das Monogramm als Maximum energetischer Machtfülle. Aber auch umgekehrt. Vom zwölf-, 42‑ oder 72fachen Namen war bereits die Rede, und am Ende erscheint der Text selbst als Name und als dessen Maximum. Ricœur spielt vielfach mit dem Minimum und setzt damit stillschweigend das Maximum voraus.192 Man möchte vermuten, der Austausch zwischen Minimum und Maximum gehe kontinuierlich der Zweiachsigkeit entlang, die ihrerseits nur die Schematisierung der Metaphorik des Gewebes darstellt. In einem Text wird der Name Gottes vom Minimum bis zum Maximum verschoben, und zwar allein und ausschließlich mit Mitteln, die dem Text eigentümlich sind, wenn dieser von der kleinsten zweidimensionalen Einheit jenseits des Phonems bis zur größten reicht. So betrachtet ist Text nichts als das Kontinuum zwischen Minimum und Maximum, und was ihn treibt, ist nichts anderes als der Name Gottes. Er ist es, der das Textgetriebe zwischen Minimum und Maximum in Gang setzt. Aber wir müssen genauer hinschauen, was sich an den polaren Enden des Textkontinuums zuträgt. Wie § 2.2.b gesehen, schwankt die Interjektion, die Miniaturform des göttlichen Namens, zwischen primärer und unsemantischer auf der einen und sekundärer und semantischer auf der anderen Seite, und nur die letztere befindet sich zuverlässig auf dem Weg, der von der kleinsten semantisch relevanten Einheit kontinuierlich bis zur größten führt. Aber es führt kein Weg von der primären zur sekundären Interjektion. Die Interjektion ist der Schauplatz einer fundamentalen Diskontinuität, die vom Gottesnamen ausgetragen und verkraftet werden muss. Und was sich auf der Seite des Minimums abzeichnet, ist auf der andern Seite ebenso zu erkennen: Der ganze Text war das Maximum des Textes. Dieses befindet sich aber 192 Ricœur, Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik, 111 f: Metapher als Miniaturwerk; 125: Mikrodialektik; 130: Metapher als Miniaturgedicht (M. C. Beardsley); ders., Gott nennen, 173: Gleichnis als Kurzfasssung des Namens Gottes.
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§ 4 Text und Rede
in grundsätzlicher Differenz zum Maximum an sich, der omnitudo realitatis, die unvergleichlich anders ist als das Maximum des Textes. Die zwischen Minimum und Maximum ausgespannte Kontinuität bleibt daher sowohl am subjektiven wie am objektiven Pol umfasst von einer alle Kontinuität umfassenden Diskontinuität, die durch den Gottesnamen offengehalten wird. Gehört zu diesem die Gestalt des nomen implicatum ebenso wie die des nomen explicatum, dann hat der Gottesnamen seinen genauen Ort zwischen Kontinuität und Diskontinuität. Und wie zur Kontinuität die Formen des Größten und Kleinsten, auch die des Größt‑ und Kleinstmöglichen gehören, so gehören zur Diskontinuität die Formen des Unendlich-Kleinen und Unendlich-Großen. Man muss genau unterscheiden, was jeweils mit den Generaltiteln Minimum und Maximum zum Ausdruck gebracht wird, Kontinuierliches oder Diskontinuierliches. Dies zugestanden und vorausgesetzt, kann nach der Erscheinungsweise des göttlichen Namens als identifizierbarer Vokabel im Text gefragt werden. Bisher war der Name nichts als das Textgetriebe selbst zwischen Minimum und Maximum, vorausgesetzt, dass seine Kontinuität unter die Klammer überwiegender Diskontinuität gestellt wird. Nun zielt die Blickrichtung nicht auf Text überhaupt und nicht darauf, wie dieser die Geschäfte des Namens Gottes immer schon und immer noch betreibt, sondern auf das, was dem Text als bestimmter Name eingeschrieben ist. Aufgrund des zu Textmetapher und Textbegriff Gesagten sind drei Fälle zu unterscheiden. – Erstens: Der göttliche Name kann als Textfigur im Gitter erscheinen. Dann ist er Teil des Intexts oder Intext selbst. Hier spricht man gerne davon, der Name werde eingewoben in den Text, sei Text im Text, daher Text wie der Text, nur würde er ohne Drehung der Leserichtung nicht begegnen. Nicht nur der Horizontalen zu folgen, sondern die Vertikale zu finden, die texthaltig ist: das bedarf der Aufmerksamkeit in der Aufmerksamkeit. Aber kaum ist diese erweckt, ist eine Aufmerksamkeit wie die andere, ebenso wie ein Text ist wie der andere. Man kann zur Bequemlichkeit des Lesers den senkrechten Text waagrecht schreiben, und schon wird er aus dem Außergewöhnlichen ins Gewöhnliche überführt. So kann das Kunstgebilde der Verschachtelung wieder vom Inhalt abgezogen werden. Am Ende scheint der Text im Text als Text und Text. – Anders und zweitens, wenn der göttliche Name im Text selbst erscheint, nicht als Intext, sondern schlicht als Teil des Texts, der im Gange ist. Dann folgt er der Textzeile, die waagrecht fortläuft. In diesem Fall, so wird man urteilen, hat er jeden Charme des senkrecht Einfallenden verloren und fließt mit dem Fluss dahin, dessen Teil er ist. Er ist der Unauffälligkeit überantwortet, und man ergreift nachträglich alle möglichen Techniken der Schrift oder des Druckes, um ihn zur Auffälligkeit zu bringen. Sei es durch Kontraktion oder Suspension, in jedem Fall aber durch Abbreviation, oder durch besondere Zier in Farbe und Zeichnung, oder durch Blockierung des normalen Leseflusses, sei es durch Hervorhebung mit Versalien ganz oder teilweise, sei es mit Kapitälchen: alles dient dazu, mittels Schreib‑ und Drucktechniken den in Un-
4. Die Rede
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auffälligkeit entschwindenden und verfließenden Gottesnamen wieder auffällig zu machen. Jedoch hätte es dessen nicht bedurft, wenn in Betracht gezogen worden wäre, dass es sich beim fortlaufenden Text von vornherein nur um die syntagmatische Achse handelt, die vor Augen tritt. Diese wird in jedem Moment durch die paradigmatische geschnitten, sodass das bloße Nebeneinander, dem der Gottesname auf der syntagmatischen Achse ausgesetzt wird und überlassen bleibt, als sichtbare Seite eines Statteinander begreiflich wird. Das heißt: Der auf der syntagmatischen Achse anwesende Name, anwesender unter anwesenden, steht zugleich für einen abwesenden Namen. Das hat zur Folge: Anwesend ist nicht nur der anwesende Name, sondern auch der abwesende in seiner Abwesenheit. Es mag erstaunlich klingen, aber die dem Ketiv und Qere der jüdischen Lesung des Gottesnamens zugrundeliegende Kreuzung des geschriebenen Textes durch den gesprochenen, erscheint vor diesem Hintergrund plötzlich als das Paradigma für die Zweiachsigkeit, die Texte überhaupt auszeichnet. Ist auch die Theorie der Zweidimensionalität des Texts und seiner Elemente eine Hervorbringung des 20. Jahrhunderts, die verbunden bleibt mit dem Namen Roman Jakobsons und anderer, wenngleich nur eine solche, in der ein geradezu menschheitliches Gedächtnis des Webens und Textwebens zur Deutlichkeit gebracht wird, so ist sie doch, zwar nicht als generelle Theorie, aber als spezielle Lesepraxis bereits in der jüdischen Lesung des Gottesnamens in Erscheinung getreten, die sie in diesem herausragenden Fall ins Werk gesetzt hat. – Das macht es erst möglich, drittens auch den Fall ins Auge zu fassen, dass der Textverlauf, soweit sichtbar, von jeglicher Nennung des Namens entblößt ist, nichts als Text und vom theologischen oder poetischen Text keine Spur, geschweige denn vom theologisch-poetischen. Selbst ein solcher Text, ein manifest untheologischer und unpoetischer, ist, wenn als Kreuzung von syntagmatischer und paradigmatischer Achse verstanden, kein prinzipiell anderer als der theologische oder poetische. Deshalb können wir sagen: Einerlei ob dem Text der Name eingeschrieben ist oder nicht, ist und bleibt er ein Phänomen der Einschreibung. Er unterscheidet sich von Schrift prinzipiell dadurch, dass er nicht nur Schreibung, sondern Einschreibung ist. Wenn aber dies die Definition von Text ist, ist jeder Text potentiell ein theologisch-poetischer, und dies liegt der Theologie des Lesens als auszuschöpfendes Potential zugrunde.
4. Die Rede In Fortsetzung der hinkenden Begriffspaare, mit denen die Schritte der Lesetheologie überschrieben sind, kommt endlich die Rede in Blick, und wenn es bei allen an zweiter Stelle stehenden Termini die Absicht war, sie aufzuschieben und hinauszuzögern, so scheint dies bei Text und Rede besonders effektiv gelungen zu sein. Vielleicht zu gut. Denn wir haben vom Text so lange
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§ 4 Text und Rede
und eindringend gehandelt, dass der Eindruck entsteht, er enthalte bereits alle Aspekte der Rede, sodass für diese nichts übrigbleibt. Wie konnte es soweit kommen? – Hauptsächlich dadurch, dass aufgrund der Konzentration auf das Theorem der Zweidimensionalität, in der Textbegriff und Textmetapher sich begegneten, nicht mehr zu unterscheiden war zwischen Text und Rede. Es war die Zweiachsigkeit der Sprache – das war Jakobsons Thema –, das bei uns unter der überwältigenden Evidenz der Anschaulichkeit der Textmetapher mehr oder weniger stillschweigend in die Zweiachsigkeit des Textes mutierte. Einmal dort angelangt, konnte die Zweiachsigkeit der Sprache kaum mehr anderes betrachtet werden, als sei sie, vielleicht unbewusst, aus der vor Augen liegenden Zweiachsigkeit des Textes entsprungen. – Hinzu kommt: Um überhaupt eine Differenz zwischen Schrift und Text zu erkennen, wurde eingangs zwischen Potenz und Akt unterschieden; der Text sei, so hieß es, die Aktualisierung von Schrift zu einer bestimmten Gestalt. Man kann dieses Argument nicht hören, ohne darin die Pilotunterscheidung wiederzuerkennen, die Ferdinand de Saussure zwischen langue und parole vollzieht, und eben diese wiederholt sich in den Überschriften von § 3 und § 4, indem an die Stelle der Sprache die Rede tritt, Rede als jeweilige Aktualisierung des sprachlichen Systems. Aber je näher sich die Schritte von der Schrift zum Text auf der einen und von der Sprache zur Rede auf der anderen Seite kommen, desto weniger kann man zwischen Text und Rede sicher unterscheiden. Nicht etwa hinausgezögert hätten wir also die Rede, sondern sie längst mitbehandelt und mitbesprochen, zu sehr, als dass noch etwas bleibt, was nicht schon bedacht ist. – Blickt man zudem auf die Art und Weise, wie der Terminus Text Mitte der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts in die deutsche Fachterminologie eindrang, so ist es die Rede, die durch das Aufkommen des Texts verdrängt wurde, offenbar weil dieser deren wichtigste Eigenschaften teilt. Während Harald Weinrich schon unter der Flagge Text segelte,193 hielt Hennig Brinkmann noch das Fähnlein Rede hoch, wiewohl vergebens. Nicht der Satz, die Rede sei die höchste syntaktische Einheit, lautet seine These.194 „‚Rede‘ nennen wir sprachliche Einheiten mündlicher oder schriftlicher Art, die nicht mehr Bestandteil höherer sprachlicher Einheiten sind.“195 Gewohnt, ebendies als Merkmal von Text anzusehen, stellen wir fest, wie sehr „die terminologische Ablösung von Terminus ‚Rede‘ durch den Terminus ‚Text‘“196 in die Situation führt, dass nach umfänglicher Darlegung des Textes für die Rede nichts mehr übrig bleiben kann, denn sie sind austauschbar. – Und selbst wenn man der Rhetorik gern zubilligen wollte, sie hege einen Begriff von Rede, der sich von vornherein vom Text trennt, und biete Anhalt dafür, wie die Rede dem Tempus 11964, Kap. I. Brinkmann, Die Konstituierung der Rede 1965, 157. 195 Brinkmann, Die deutsche Sprache 21971, 723. 196 Scherner, ‚Text‘ 1996, 138. 193 Weinrich, 194
4. Die Rede
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Text entgegenzusetzen sei, belehrt die Frühgeschichte von textus alsbald, dass er, wenn auch selten, in der Rede schon mitbedacht war.197 Die Frage kehrt umso dringlicher wieder: Welche Rede ist es, die wir noch meinen hinausgeschoben zu haben durch einseitige Beschäftigung mit dem Text? Ein letztes Mal ist zurückzukehren zur schärfsten Entgegensetzung von Text und Rede, die uns begegnet ist. „Der Text ist ein schriftlich fixierter Diskurs“, definiert Ricœur. Aber um die Inskription deutlich von der Transkription zu unterscheiden, fügt er präzisierend hinzu: „Was durch die die Schrift fixiert wird, ist also eine Rede, die man zwar hätte sprechen können, die man aber genau deshalb schreibt, weil man sie nicht spricht.“ Ricœur fährt fort: „Die schriftliche Fixierung tritt genau an der Stelle des Sprechens auf, das heißt an der Stelle, an der das Sprechen hätte entstehen können.“198 Ricœur hätte hinzufügen können: Wie es im Tetragramm paradigmatisch geschieht. Dieses sitzt nämlich genau „an der Stelle“ von (à la place même de), wie er mantraartig wiederholt.199 Sitzt aber der Text genau an der Stelle der nichtgesprochenen Rede, dann auch umgekehrt die Rede genau an der Stelle des nichtgeschriebenen Texts. Was die Genauigkeit dieses Stellenwechsels anlangt, ist ein Doppeltes impliziert. Erstens: Text und Rede entsprechen sich offenbar auf das Genaueste, und dies war es, was in die obige Argumentation getrieben hat; Text und Rede überlappten sich so sehr, dass für die Selbständigkeit der Rede nichts übrig bleibt. Jedoch auch zweitens: Daraus zu schließen, Text und Rede seien dasselbe, wäre voreilig. In Wahrheit handelt es sich darum, dass eins „genau“ an der Stelle des anderen steht. Nicht Identität, sondern Substitution bestimmt ihr Verhältnis. Nur deshalb kann der Text, der nach Brinkmann keiner höheren Einheit Bestandteil und nach Scharlemann keines Textes Text mehr ist, aus seiner Geschlossenheit heraustreten und sich zur Rede hin öffnen, sei es mit Ricœur in Gestalt der Poetik oder mit Scharlemann in der des Non-Texts. Nur dieser Widerhaken für die Selbständigkeit der Rede dem Text gegenüber war hier zu setzen. Ihn auszuführen bleibt den kommenden Paragraphen überlassen.
197 Cicero, Orat. part. 23,82 (Orelli 1, 543): in toto quasi contextu orationis. Quintilian, Inst. or. IX 4,17 (Rahn 2, 372): dicendi textum. 198 Ricœur, Was ist ein Text?, 80 f. 199 Ricœur, ebd. 81–85: zehnmal.
§ 5 Lesen und Lesen Warum Lesen jetzt? Und warum zweimal? In ihrer Grundschicht will die Theologie des Lesens nichts vollführen als fortlaufendes Lesen. Wird dieses auffällig, weil es entweder stockt oder sich verdoppelt, leidet der Zusammenhang. – Bei genauem Hinsehen zeigt sich eine erste Ungleichmäßigkeit gleich von vornherein. Lesen tritt explizit im Anfangs‑ und Schlussparagraphen auf; in den „und“-Paragraphen 2–4, 6–8 wird es nur implizit vorangetrieben. Die Eckparagraphen bilden die Klammer; § 1 Theologie des Lesens so, dass der Ausgangspunkt markiert wird, der dank der Komplexion von Lesen und Theologie in der Frühscholastik seine Nachwirkung bis heute nicht verfehlt, § 10 Lesekunst so, dass sich die absolvierten Schritte zusammenfügen zur Kunstlehre des Lesens. Eine Inklusion entsteht, die der Entwicklung die Richtung weist. – Nicht genug damit. Die Überschriften von den §§ 2–9 zeigen die Eigentümlichkeit, dass „und“ mitten durch sie hindurchgeht. Besteht Lesen an sich schon aus Teilen und elementareren Teilen von Teilen, dann ist Lesekunst wohl deren Sammlung. Monothematisches Lesen dürfte desto besser gelingen, je monothematischer seine Elemente sind. Das schließt „und“ im Grunde aus. Beim Durchgang durch die Reihe der Überschriften fällt auf, dass nur die linke Seite eine direkte Affinität zum Lesen unterhält, und dennoch wird auch die rechte mit jedem einzelnen Schritt verbunden. Nicht zum Besten des Leseunternehmens, wird man einwenden, zu diesem hätte die linksseitige Reihe genügt, die von Mal zu Mal an Komplexität zulegt, bis die Kunstlehre komplett ist. Mit „und“ treten erweiternde, nicht streng an den Fortgang des Lesens gebundene Gesichtspunkte ins Verfahren. Es sind beziehentliche, aber ungleiche Paare, die mit der Kopula zusammengefügt werden. Offenbar genügt es nicht, das Lesen sowohl thematisch wie unthematisch zu bearbeiten, ersteres am Anfang und Schluss, letzteres in den Schritten dazwischen. Es gibt eine zweite Ungleichmäßigkeit: Lesen ist nicht durchgängig dasselbe; es ist sich selbst nicht gleich. Oder mit Klaus Weimars abgründiger Formulierung: „Lesen kennt Unterschiede.“1 Dass Lesen selbst etwas „kennt“, verlangt, dass wir in unserer Kenntnis des Lesens nicht länger zurückstehen sollten hinter der Kenntnis, die das Lesen von sich selbst hat. Besteht diese in der Kenntnis von Unterschieden, dann kennt das Lesen Unterschiede in sich. Ist aber das, was das Lesen von sich kennt, ein Unterschied in sich, dann steht seine Verdopplung zu Lesen und Lesen unmittelbar vor der Tür. 1 Weimar,
Enzyklopädie der Literaturwissenschaft 21993, § 55.
§ 5 Lesen und Lesen
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Versuchen wir die Unterschiede des Lesens grob zu ordnen. Vielleicht sind es drei Schichten, bei genauerem Hinsehen zwei, die zu unterscheiden sind. Die unterste und allgemeinste – wir nannten sie Grundschicht – läuft durch alle Paragraphen hindurch, sorgt dafür, dass keiner herausfällt, und verbindet alle zu schlichter thematischer Einheit. Sie zu verlassen, brächte die Theologie des Lesens zum Scheitern. Auf ihr zu verbleiben, genügt aber in keiner Weise. Sie ist nur eine Nullschicht. Daher tritt in die Grundschicht die Reihe der „und“-Paragraphen ein. Sie bilden das Korpus der Lesetheologie, umklammert von zwei expliziten Lesekapiteln. Statt vom Lesen zu reden, vollziehen sie es, indem sie Gegenstände des Lesens in den Blick nehmen, die sich durch Lesbarkeit auszeichnen, aufgebaut von unten nach oben, von den Elementen bis zu großen und größten Einheiten. Hier erblicken wir das Lesen bei der Arbeit; es ist Lesen von etwas, und solange es Arbeit hat, wird es nicht auffällig, strauchelt nicht, stolpert nicht über sich selbst. Aber wie arbeitet es? Soweit zu sehen: Es sondert den Buchstaben vom Laut, die Schrift von der Sprache, den Text von der Rede. Nur so kommt es zu sich selbst. Das „und“ der jeweiligen Überschrift verbindet und trennt. Offenbar überwiegt die Trennung. Daher das Interesse an Scheidung, Aufschub, Hinauszögerung. Zwar hängen Buchstabe und Laut, Schrift und Sprache, Text und Rede zusammen, und es könnte gar scheinen, als fügten sie sich zur Identität. Aber um dem Lesen den nötigen Raum zu verschaffen, muss die Differenz überwiegen. Soll doch das Aufgeschobene und Hinausgezögerte wiederkehren, wann es will: jetzt geht es um des klaren Lesens willen darum, es auf Distanz zu bringen. Für Bedürfnisse des Lesens erscheint der Laut als zu laut, die Sprache als zu nah, die Rede als zu beredt. Auf diese Weise wird sichtbar, dass das Lesen nicht nur arbeitet, sondern zugleich, um Raum für seine Arbeit zu gewinnen, Lesbares von Unlesbarem scheidet. Nur indem es dem Rand entlang geht, den es selbst produziert, findet seine Arbeit zuverlässig den ihr entsprechenden Gegenstand. Verhält es sich aber mit dem Lesen so, dann ist von ihm zu verlangen, dass es nicht nur arbeitet, sondern durch seine Arbeit zur Klarheit über sich selbst gelangt. Es wäre nicht wünschenswert, dass es in § 10 noch dasselbe ist wie in § 1. Aber nein! Nach so vielen zwischeneingetretenen „und“-Paragraphen sollte es gezeigt haben, dass es nicht nur arbeitet, sondern, wenn zur Klarheit gelangt über sich und seine Grenzen, auch feiern kann. Wenn jedes weitere „und“ einen Punkt auf der Grenzlinie markiert, innerhalb deren kohärentes Lesen vonstattengeht, und eben dadurch klar macht, was es von sich abscheidet und auf Abstand bringt, wird deutlich, dass Kunstlehre des Lesens nur möglich ist, wenn im Rücken der Beziehung nach innen zugleich die Grenzziehung nach außen Gestalt gewinnt. Dies ist in Weimars Satz enthalten. Das Lesen kennt Unterschiede, weil es den Unterschied kennt, den es selbst macht. An sich schon Sonderung, Besonderung, wenn nicht Absonderung, geht das praktizierte Lesen seiner eigenen Grenze entlang. Es arbeitet nach innen und feiert nach außen. Gehört das arbei-
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tende Lesen zur ersten Schicht, in der es auf sein Etwas bezogen, also gegenständliches Lesen ist, so das feiernde Lesen zur zweiten, in der das Lesen als auf sich selbst bezogen sich von allem unterscheidet und sondert. Darin, dass sich das Lesen des letzten Paragraphen von dem des ersten gründlich unterscheidet, ist die Figur Lesen und Lesen wirksam. Drei Schichten, die Grundschicht und die beiden eigentlich zu zählenden, sind in unserem Aufriss am Werk. Die letzte Schicht tritt erst im fünften Paragraphen, in dem wir uns befinden, ans Licht. Während dieser oberflächlich nur die Reihe der durch „und“ verbundenen Begriffspaare fortsetzt, geschieht in der Tiefe, dass das Lesen nicht nur gegenständlich Lesbares von Unlesbarem unterscheidet, sondern sich von sich selbst. Das „und“ des fünften Paragraphen trennt nicht kategorial Verschiedenes, sondern ein und dasselbe. Das ist seine besondere Herausforderung. Während die Differenz überall sonst schon im Wortklang zutage tritt, verrät er diesmal nichts. Erst mit dem hintergründigen Wissen „Lesen kennt Unterschiede“ geht der Unterschied von Lesen und Lesen auf. Nun unterscheidet sich das Lesen nicht nur von Anderem als Lesen – wir nannten es das Unlesbare –, sondern auch von sich selbst als Anderem, was seinerseits einen Unterschied macht. Keineswegs begnügt es sich damit, mit Aschenputtel die guten ins Töpfchen zu sammeln, die schlechten ins Kröpfchen, sondern es muss sich auf sich selbst beziehen und sich selbst lesen. So kommt es zu Lesen und Lesen. Wo immer Lesen geschieht, bringt es ein „und“ hervor. Das Lesen vollzieht, wie schon am Gang der Lesetheologie äußerlich sichtbar, fortlaufendes „und“. Obgleich es in seiner allgemeinsten, grundschichtigen Form gleichmäßig durchgeht, verläuft sein Gang in zweifacher Weise. Es ist ein Unterschied zwischen Lesen im ersten Sinn wie in den §§ 2–4 und 6–8, das etwas, und dem zweiten wie in den §§ 5 und 9, das sich selbst liest. Während jene vom gegenständlichen Lesen handeln, betreffen diese das selbstbezügliche, wobei die beiden nur auf dem Papier getrennt sind, faktisch sind sie in jedem einzelnen Leseakt verbunden. Während im einfachen Lesen der blinde Fleck, schon um den Fortgang nicht zu stören, keine Aufmerksamkeit auf sich zieht, tritt im selbstbezüglichen Lesen die Störung ein, sobald aus Lesen Lesen des Lesens wird. Das sind die Schichten, die über die Grundschicht hinaus eigens gezählt wurden. Nachdem die Zweidimensionalität des Textes hinlänglich eingeführt ist, können wir die Zweidimensionalität des Lesens in den Blick fassen. Das Lesen geht in die Breite und tut dies im grundschichtigen Sinn schon dadurch, dass es sich durchgängig vom ersten bis zum letzten Paragraphen ausbreitet. In die Breite geht es aber auch im gegenständlichen Sinn, indem es sich in den Lesepaketen der §§ 2–4 und 6–8 ausbreitet. Dagegen wird man in Hinsicht auf § 5 Lesen und Lesen und § 9 Lesen und Nicht-Lesen nur eingeschränkt behaupten, das Lesen breite sich aus. Eine zweite Dimension wird unübersehbar. Das Lesen kommt auf die Spitze, einerlei ob diese als Höhe oder Tiefe vorgestellt wird. Und wäh-
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rend die Lesetheologie nach der Art der Schrift immer weiter in die Horizontale geht, kreuzt sie die Horizontale in §§ 5 und 9 als Vertikale unter dem Schein, sie führe nur die Reihe der „und“ im gewohnten Sinne fort. Nun steht der Aufriss der Lesetheologie vollständig vor uns. Vom Lesen wird nichts verlangt, als dass es einfach fortfährt. Der Beginn mit dem Buchstaben ist evident. Vorher ist nichts, erst mit dem Buchstaben ist Lesbares vorhanden. Nicht in dem Sinn, dass wirklich gelesen wird, denn wie das Phonem keine eigene Bedeutung trägt, und doch Bedeutungsentscheidendes beiträgt, so auch der Buchstabe. Er ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Jedoch macht ein Buchstabe noch keinen Sommer. Der Gesichtspunkt der Schrift muss hinzutreten. Sie nimmt dem Einzelbuchstaben die Zufälligkeit und stabilisiert ihn als Hervorbringung durch ein Prinzip. Das Schriftprinzip bindet den Buchstaben durch die Buchstaben. Auch dabei handelt es sich nur um eine Bedingung des Lesens, nicht um das Lesen selbst. Sie ist notwendig, aber nicht hinreichend. Der Schrift eignet Lesbarkeit im Prinzip, nicht im einzelnen Fall. Zu Lesen wird Lesbarkeit erst mit Text. Nun ist Lesen nicht bloß möglich, sondern wirklich. Und in dem Moment, da Lesen zum ersten Mal voll durchtönt und Wirklichkeit beschreibt, ergreifen wir die erste sich bietende Gelegenheit zur Reflexion auf das Lesen selbst. Mit § 5 Lesen und Lesen wird der Kurs des Lesens, der an sich weiterliefe, unterbrochen durch einen Exkurs, der nunmehr beginnt. Und wie er weiterläuft, wenn er denn tatsächlich nichts als Weiterlaufen sein sollte, wird durch die asymmetrisch hinkende Form bestimmt, die sich bisher schon abzeichnete. Er wird weitergehen zu Literatur. Text ist viel, Literatur wenig. Die hinkende Asymmetrie greift: Alle Literaturen sind Text, aber nicht alle Texte sind Literatur. Für sie sind Texte die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Wenn Text und Lesen im Gleichstand der Entsprechung stehen: Wie verändert sich das Lesen, wenn es vom Text zur Literatur weitergeht? Die Antwort ist nicht vorwegzunehmen. Ebenso wenig können die weiteren Asymmetrien vorweggenommen werden. Sie verlaufen so: Literatur ist viel, aber Buch wenig. Und weiter: Buch ist viel, aber Heilige Schrift wenig. Ob hierfür Evidenz gefordert werden darf und in welchem Sinn, ist noch nicht abzusehen. Und wie in Entsprechung zu den Veränderungen aufseiten des Textes der Begriff des Lesens sich zuspitzt zu einem Lesen in Höhe oder Tiefe, welches die Breite stört und durchkreuzt, darauf reagiert § 9, der das gegenwärtige Lesen und Lesen zu Lesen und Nicht-Lesen zuspitzt. Dabei zeichnet sich ab: Das Lesen hat einen Anfang. Es hat aber auch ein Ende. Obgleich an sich durchgängig und geradezu unendlich, ist es nur Durchgang, das heißt: nicht endlos. Eine letzte einleitende Frage bleibt. Wenn damit die Stellung der §§ 5 und 9 geklärt ist als Selbstthematisierung des Lesens im Lesen, als Störung des Verlaufs gegenständlichen Lesens durch selbstbezügliches und als Exkurs im Kurs: warum dann zweimal, in der Mitte und am Ende? Und warum in Gestalt von Lesen und Lesen auf der einen und Lesen und Nicht-Lesen auf der anderen Seite?
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Offenbar um eine Farbigkeit ins Lesen einzutragen, die dessen Monochromie ins richtige Maß setzt. Nur die linke Seite der Paragraphen gehört zum Lesen in strengem Sinn. Und dennoch ist sie nur Teil einer weiteren Form, die sich bei jedem Schritt auf anderes als Lesen bezieht und den Kontrast bis zur Opposition vertieft. Der Buchstabe schließt den Laut aus, die Schrift die Sprache, der Text die Rede, und gleichwohl bleiben die Elemente des Lesens bezogen auf das, was sie ausschließen. Aber genau so, wie der Buchstabe, die Schrift, der Text zu profilieren waren gegen den Laut, die Sprache, die Rede, so ist jetzt Lesen zu profilieren gegen das Lesen. Und wie bisher die Aufgabe war, die Elemente auf der linken Seite, die das Lesen sukzessiv aufbauten, so scharf wie möglich an die Kante ihres Gegenteils zu führen und zu dehnen bis zum Es-geht-nicht-mehr, gilt es jetzt das Lesen im strengen Sinn soweit auszudehnen und auszureizen, bis es scharfe Kante zeigt zum Lesen im weiteren Sinn. An der Schärfe dieser Grenzlinie liegt alles. Die Selbstunterscheidung des Lesens zieht die Grenze zwischen Lesen und Lesen. Die Unterscheidung von Lesen und Lesen ist nichts, was dem Lesen durch Systemzwang von außen auferlegt würde. Aus dem Sprachgebrauch weiß man, dass zwei Weisen des Lesens aufeinandertreffen, archaische und rezente, metaphorische und eigentliche. Wobei die Ordnung der Begriffspaare gegen Vertauschung nicht geschützt ist; plötzlich erscheint, was eigentlich genannt wurde, als Verschiebung früherer Eigentlichkeit, und umgekehrt. Stabilisierung des Begriffspaars lässt sich herbeiführen, wenn das Lesen im buchstäblichen Sinn an den Bezug zum Buchstaben gebunden wird. Dann normiert der sinnlich-unsinnliche Doppelsinn des Buchstabens den Sprachgebrauch. Dann ist dieses Lesen das eigentliche, und das uneigentliche wird davon ausgeschlossen, mit der Folge, dass der Blick rückwärts vom Rezenten zum Archaischen zur Regel wird, während der Blick vorwärts, der genauso möglich ist, der Vernachlässigung verfällt. Aber was führt zu Lesen und Nicht-Lesen? Nichts anderes. Wie Lesen und Lesen nur dann Sinn macht, wenn Lesen im ersten Sinn ein gewisses Nicht-Lesen von sich ausschließt, das gleichwohl in übertragenem Sinn als Art von Lesen erscheint, so ist bei Lesen und Nicht-Lesen dasselbe vorausgesetzt, nur so, dass an die Stelle der dehnbaren Kontrarietät die Kontradiktion getreten ist, die im scharfen Begriff Nicht-Lesen zum Ausdruck kommt, wenn selbst noch die letzte Spur metaphorischen Lesens weicht. Johannes Tauler hat Nicht-Lesen in seiner Predigt 45 Beati oculi herbeigeführt,2 indem er – was an sich nur ein buchstäblicher Vorgang ist – den mittleren Laut von lesen mutiert, und Martin Luther ist ihm im Schönen Confitemini gefolgt.3 Aus Lesen wird Leben. Nun ist Lesen nicht
2 Tauler, Pr. 45 (Vetter 196,28.30): „lesmeister“/„lebmeister“; parallel Pr. 41 (175,5 f): „leren“/„leben“. 3 Luther, Das schöne Confitemini 1530, WA 31/1, 67,10: „lesewort“/„lebewort“.
1. Die Etymologien des Lesens
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nur konfrontiert mit Leseähnlichem, sondern mit Leseanderem, Lesefremdem. Es kippt ins Nicht-Lesen. Gilt es das Lesen im eigentlichen Sinn hochzuhalten, muss Lesen in übertragenem Sinn, das sich irgendwie auf dem Weg zum Nicht-Lesen befindet, hinausgezögert und aufgeschoben werden, solange es geht. Wir tun dies durch drei Befestigungen literalen Lesens: erstens durch Terminologie und Etymologie von lesen und seinen Äquivalenten, zweitens durch Psychologie und Neurobiologie des Lesens, die dieses an möglichst kurzer Leine halten und vor unstatthafter Spiritualisierung bewahren, und drittens durch die Phänomenologie des Lesens, die der Literaturwissenschaft einen möglichst buchstäblichen Lesesinn zur Bearbeitung übergibt. Ich nenne diese Perspektiven Befestigungen literalen Lesens, weil sie den eigentlichen Sinn gegen den metaphorischen befestigen. Gleichwohl wird sich viertens zeigen, dass aller Abwehr zum Trotz und jetzt erst recht der uneigentliche Sinn in den eigentlichen einfällt.
1. Die Etymologien des Lesens Etymologisieren ist nicht Denken, und Etymologien denken nicht für uns. Dennoch sorgen sie dafür, dass dem Denken nicht die Anregung ausgeht. Was einleitend zum fünften Paragraphen gesagt wurde, stand unter stillschweigender Dominanz der deutschen Vokabel lesen. Aber schon englisches to read entzieht sich. Um wieviel mehr entzieht sich griechisches ἀναγιγνώσκειν und hebräisches קרא. Wenigstens im bescheidenen Umfang der alten Sprachen wollen wir über die Grenzen unserer Sprache hinausblicken. a. Das deutsche Lesen (Das lateinische legere) Nie kann genug betont werden: Die Theologie des Lesens steht und fällt mit Lesen stricte sic dictum. Ihr entgleitet der Boden, wenn diese Restriktion nie erstrebt wird. Lesen in striktem Sinn bezieht sich auf Texte. Warum muss die enge lesetechnische Bedeutung sich ständig einer weiteren erwehren? Obgleich die Grenzen des Lesens klar sind, will die Zweideutigkeit nicht weichen. Der bloße Klang von lesen weht eine Etymologie herbei, die den literalen Gebrauch durch Erinnerungen an frühere Gebrauchsweisen aufbricht.4 Im großen Ganzen steht lateinisches legere parallel dazu, sodass sich dessen eigene Betrachtung erübrigt.5 Bei Beschränkung auf lesen taucht im aktuellen 4 DWb
6, 1885, 774–786. Wörter und Sachen/Mots et choses 2001, 241a: „legˆ‑ ‚zusammenlesen, sammeln‘. Gr. λέγω ‚sammle, lese zusammen, zähle, rede, sage‘, καταλέγω ‚verzeichne‘, συλλογή ‚Sammlung‘, ἐκλογή ‚Auswahl‘, λόγος ‚Rede‘, λογίζομαι ‚rechne, überlege‘ (auch ἀλέγω ἐν ‚zähle, rechne unter etwas‘ mit ἀ-‚ên-‘), λώγη; συναγωγὴ σίτου Hes., dor. ἐλώγη ἔλεγεν Hes.; lat. legō, ‑ere, ‚zusammenlesen, auflesen; wählen; lesen‘, legiō ‚ausgehobene Mannschaft, Legion‘ 5 Schmitt,
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sogleich der ältere Sinn auf: zusammenlesen, sammeln. Hält sich der jüngere, literale Sinn innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, so kommt dem älteren eine Unvernunft zu, von der man gewünscht hätte, sie sei der Grenzen verwiesen. Doch der aktuelle Sprachgebrauch erlaubt, sowohl Buchstaben zu lesen als auch Dinge. Archaische, frühkindliche Erinnerungen an Ährenlesen6 sind unvergleichlich lebendiger als die an das Lesen von Buchstaben, das später hinzukam. Der archaische Sinn ist nicht nur Sache der Erinnerung, sondern zugleich Hoffnung auf Kommendes. Die Weinlese,7 die schon als Wort das Abernten von Trauben übersteigt, ist bereits, weil sie das Ziel vorwegformuliert, begleitet vom Jauchzen der Winzer.8 Offenbar sind Lesen von Buchstaben und Lesen von Dingen, trotz Einheit des Wortes, verschiedene Dinge. Liest man Buchstaben oder Texte wie Dinge, dann liest man in ihnen, statt, wie angemessen, sie zu lesen. Und umgekehrt: Liest man Dinge wie Buchstaben, so liest man in den Dingen, statt sie zu lesen. Am Ende solcher Verkehrung steht das Handlesen.9 Niemand trägt Bedenken, wenn im Handbuch gelesen wird, das so groß wie eine Hand und als solches zur Hand ist. Doch obgleich die vom Manuale entblößte Hand nicht mehr Gegenstand des Lesens ist, kehrt sie alsbald als Lesehand wieder, sei es als manus Guidonis oder als Dekalog, der an allen zehn Fingern abgezählt wird. Man wird den archaischen Wortsinn von lesen fernhalten und sammeln bevorzugen. Doch sogleich beginnt anstelle von stillgestelltem Lesen das Sammeln zu schweben. Aus gutem Grund ist die Tätigkeit des Sammelns zur Konjunktur gelangt.10 Der collector ist ein zweiter lector, und damit wird von der anderen Seite bekräftigt, dass die Tätigkeit des Lektors keine andere ist als die eines Kollektors. Nun muss die Dinglese daran erinnern, dass der Textlese der Doppelsinn abgesprochen wird. Vergeblich. Mögen auch Wein‑ und Ährenlese der Text[…], legulus ‚Aufleser‘, ēlegāns ‚wählerisch, geschmackvoll‘; hierher wohl auch lignum als ‚Leseholz‘; ferner dīligere (*dis-leg‑) ‚hochschätzen‘, intelligere (*inter-leg‑) ‚wahrnehmen‘, neglegere ‚vernachlässigen‘, religiō ‚Bedenken, religiöse Scheu‘ […]; zu legō vermutlich auch als ‚Sammlung der Vorschriften‘ lat. lēx f. ‚Gesetz‘ […], legūmen ‚Hülsenfrüchte, Gemüse‘; germ. *lēkja‑ ‚Besprecher, Arzt‘ in got. lēkeis, aisl. læknir, ags. læce, ahd. lāchi; dazu ahd. lāchin n. ‚Heilung‘, mhd. lāchenīe f. ‚Besprechen, Hexen‘; ksl. lěkъ ‚Heilmittel‘ aus dem Germ. […].“ Die ‚Urszene‘ von legere ist dieselbe wie die von ‚lesen‘; sie liegt im Losorakel (241b): Einritzen/Schreiben von Runen auf Stäbe – Ausstreuen der Stäbe – Aufsammeln und Lesen – Sagen/Verkünden des Orakelspruches. 6 Weimar, Ähren und Texte lesen 1993, 51–67. 7 Heidegger, Logos (Heraklit, Fragment 50) 1954, 209. Illich, Im Weinberg des Textes 1991, 31, 58 f, 101: Lesen als pflückendes Spazieren zwischen den Zeilen des Texts wie zwischen denen eines Weinbergs. 8 Jes 16,10. 9 Rakelmann, Zigeunerweisheit 1991. 10 Grote (Hg.), Macrocosmos in Microcosmo 1994. A. Assmann u. a. (Hg.), Sammler – Bibliophile – Exzentriker 1998. M. Sommer, Sammeln 1999. A. U. Sommer u. a. (Hg.), Die Hortung 2000. Hahn, Soziologie des Sammlers 2001. Wernli (Hg.), Sammeln 2017.
1. Die Etymologien des Lesens
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lese fernstehen, bleiben doch Blumenlese, Florilegium und Anthologie ganz an ihr hängen. In bukolisch-hintersinnigem Spiel schwingt Vergils Qui legitis flores über das Pflücken von Blumen hinaus, und dieser Mehrsinn wird von den Lesern mitgehört.11 Die Classische Blumenlese Mörikes überreicht keine Bouquets, sondern griechische und römische Gedichte, übersetzt für den „gebildeten Leser“.12 Gegen unsere Anordnung, Lesen strikt an Buchstaben, Schrift und Text zu binden, steht Grimms Deutsches Wörterbuch. Hier geht es um die den germanischen Dialekten gemeinsame eine Wurzel mit zwei Bedeutungen, sammeln und lesen, wobei diese der neueren zugehört, jene „der ältern sprache“ und „der ältern und sinnlichern bedeutung“ (einer Spur folgen). Diese sei „die für uns älteste bedeutung“, die „wurzel“ des Lesens, aus der alles Spätere hervorgeht.13 Im Neuhochdeutschen so, dass dem Lesen, gebraucht im Sinne von auflesen, sammeln „in bezug auf dinge“, bruchlos „worte, schrift lesen“ zugeordnet werden kann. Man muss sehen, dass diese Bedeutung, „ursprünglich auf das auflesen und zusammmenstellen der kleinen mit runen eingekerbten stäbchen beim loswerfen bezogen […,] allmählich […] auf das zusammenstellen der buchstaben zu worten schlechthin gewendet“ worden ist.14 So bleibt auch das Lesen von Buchstaben ein Lesen von Dingen, nur von anderen. Übertragung entsteht, wenn es zum Lesen „in bezug auf buchähnliches“ oder „in bezug auf ein antlitz“ kommt: Lesen „anderer charaktere als der schrift“.15 Der Anordnung des Grimmschen Wörterbuchs bleibt verborgen, dass die jüngste metaphorische Wendung nur die älteste Bedeutung wiederbelebt. Im Kontinuum der Bedeutungsentwicklung muss ein Bruch eingetreten sein. Er liegt beim Übergang von den Dingen zu den Buchstaben, in der Wendung vom Sinnlichen zum Unsinnlichen. Da aber beide, Sinnlichkeit und Unsinnlichkeit, untrennbar ineinander verfilzt sind, liegt der Bruch bei genauerer Betrachtung an der Stelle, an der es sich entscheidet, ob eher die Richtung einer die Sinnlichkeit übertreffenden Unsinnlichkeit eingeschlagen wird oder umgekehrt die einer die Unsinnlichkeit überwiegenden Sinnlichkeit. Wenn es das Ziel vernünftigen Lesens ist, dessen Zweideutigkeit einzudämmen, diese aber, kaum eingedämmt, erneut vor der Tür steht, dann wird es wohl so sein, dass selbst strikteste Eindeutigkeit des Lesens dessen Zweideutigkeit nicht vollständig zum Verschwinden bringt. Unvermeidlich, wie sie ist, darf sie wenigstens nicht mutwillig gesucht werden. Immerhin in seiner Zweideutigkeit kann Lesen als
11 Isidor von Sevilla, Etym. X 154: Lector dicitur […] a colligendo animo quae legit, quasi collector: sicut illud [Vergil, Ecl. 3,92]: Qui legitis flores. 12 Mörike, WuB VIII/1; VIII/2, 48. 13 DWb 6, 774. 14 Ebd. 776 f. 15 Ebd. 784.
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§ 5 Lesen und Lesen
eindeutig bezeichnet werden. „Wer nicht […] sammelt, der zerstreut.“16 Wenn aber die Zweideutigkeit des Lesens selbst eindeutig ist, dann empfiehlt sich, den Terminus Zweideutigkeit zu meiden und ihn mit Walter Benjamins „Doppelsinn“ des Lesens zu ersetzen.17 Mit der metaphorischen Schwebung kommt mehr als verunglücktes Lesen. Wo immer Lesen ist, zeigt es sich in Gestalt von Lesen und Lesen.
b. Das griechische ἀναγιγνώσκειν, ἐντυγχάνειν Innerhalb der indoeuropäischen Sprachen haben die griechischen Benennungen des Lesens einen eigenen Weg eingeschlagen. Nur im medialen Gebrauch von ἐπιλέγειν und ἀναλέγειν, beides Verben des Lesens, wiewohl ephemere, hat sich der dem lateinischen legere vergleichbare metaphorische Sinn von Sammeln und Auslesen erhalten.18 Dagegen die gebräuchlichen Leseverben ἐντυγχάνειν und ἀναγιγνώσκειν evozieren ein anderes Bildfeld. Während ἐντυγχάνειν klassisch gebraucht wird im Sinn von zusammentreffen, ein Gespräch führen mit, eine Audienz erhalten, spezifiziert es sich im Hellenismus zu lesen. Auf welche Weise die vorliterarische Bedeutung in der literarischen nachwirkt, ist mit Händen zu greifen. Es ist die Präsenz des persönlich Abwesenden, dem im lauten Lesen Stimme geliehen wird.19 Hier ist Lesen nicht der sammelnde oder auslesende Umgang mit Dingen, sondern die Vergegenwärtigung des abwesenden Autors. Eric A. Havelock hat daran mit (einseitigen) Thesen zum griechischen Sonderweg der Präliteralität angeknüpft.20 Auch der wichtigste, älteste und anhaltendste Terminus, ἀναγιγνώσκειν, ist geeignet, im Sinn dieses Sonderwegs Vorstellungen von Präsenz und Oralität zu fördern.21 Bezogen auf jede Art von Wiedererkennen – das Präfix ἀνά deutet auf Anstrengung wie auf Wiederholung –, wird ἀναγιγνώσκειν seit Platon im technischem Sinn für das Wiedererkennen der Schriftcharaktere gebraucht, der Buchstaben also, die im Unterricht gelernt werden.22 Vier Dinge sind zu bemerken. Bei ἀναγιγνώσκειν handelt es sich erstens um Lesen mit lauter oder gemurmelter Stimme, nicht nur in Situationen öffentlichen Vorlesens für andere, sondern auch des Lesens für sich allein.23 Findet sich die Verbindung von ἀναγιγνώσκειν und λέγειν, 16
Mt 12,30/Lk 11,23. Benjamin, Lehre vom Ähnlichen 1933, GS II/1, 209: der „merkwürdige[.] Doppelsinn des Wortes Lesen“ in „seiner profanen und auch magischen Bedeutung.“ 18 Chantraine, Les verbs grecs signifiant ‚lire‘ 1950, 121 f, 126. 19 Chantraine, ebd. 122–125. 20 Havelock, Schriftlichkeit 1990, 77–103. 21 Chantraine, ebd. 115–121. 22 Platon, Prot. 325e: τὰ γεγραμμένα – ἀναγιγνώσκειν ; Euthyd. 279e: περὶ γραμμάτων γραϕῆς τε καὶ ἀναγνώσεως. 23 Balogh, ‚Voces paginarum‘ 1927. Knox, Silent reading in Antiquity 1968. Svenbro, The ‚voice‘ of letters in Ancient Greece 1987. Slusser, Silent reading in antiquity 1992. Gilliard, More silent reading in antiquity 1993. 17
1. Die Etymologien des Lesens
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dann nicht etwa, wie soeben bei den Komposita ἐπιλέγειν und ἀναλέγειν, um den Sinn des Sammelns oder Auslesens anklingen zu lassen, sondern um die Lautheit zu betonen. Lesen macht die Stimme der in der Schrift absenten Person präsent, als ob sie spräche. Zweitens: Da Lesen älter ist als das seit Platon bezeugte lesetechnische ἀναγιγνώσκειν, stellt sich die Frage nach früheren Bezeichnungen. Hier steht ἀκούειν (hören) an erster Stelle.24 Es prägt das Lesen so sehr, dass es auch als ἀναγιγνώσκειν textgebundenes Hören bleibt;25 ἀκρόασις ist ἀνάγνωσις.26 Drittens: Selbst wenn, wie später in neutestamentlichen Schriften, ἀναγιγνώσκειν und ἀνάγνωσις auf den Lesesinn beschränkt werden, bleibt der vortechnische Sinn genau erkennen, wiedererkennen, anerkennen im Schwange und meldet sich erneut. Und viertens ist zur Differenz von lesen im Deutschen und in den griechischen Ausdrücken festzuhalten, dass sie auf Bildfelder zurückgehen, die nichts miteinander zu tun haben. Trotzdem ist deutschen wie griechischen Ausdrücken gemeinsam, dass sie spätere Zuspitzungen zum lesetechnischen Sinn darstellen. Sie schwimmen gleichsam in einem früheren Gedächtnis, das sie einerseits unterdrücken, andererseits wiedererwecken. Während im Deutschen sammeln den lesetechnischen Sinn grundiert, ist es im Griechischen die Anwesenheit einer abwesenden Person, der der Lesende die Stimme leiht. Allem zum Text Gesagten zum Trotz wird die Gegenwart der persona loquentis nicht ausgeschlossen, vielmehr herbeigerufen, sowohl bei ἐντυγχάνειν wie bei ἀναγιγνώσκειν. Lesen geschieht als Re-Zitieren. Obwohl sich ἀναγιγνώσκειν im Sinne des Lesens auf das Wiedererkennen von Schriftzeichen beschränkt, bildet der griechische Sonderweg der Präliteralität und der oralen Präsenz den Nährboden für metaphorische Erweiterungen, die älteste Reminiszenzen erneut beleben. So im 2. Korintherbrief, wo Paulus auf der einen Seite das Lesen eines in Absenz geschriebenen Briefes als Ausdruck persönlicher Präsenz verstanden haben will,27 auf der anderen Seite – und umgekehrt – die persönliche Präsenz als zu lesenden Brief, geschrieben in Herzensschrift und lesbar für jedermann.28 Die Metapher verläuft in doppelter Richtung. Offenbar können sowohl Buchstaben als Metapher für persönliche Präsenz verstanden werden, wie auch persönliche Präsenz als Metapher von Buchstaben. Oder anders: Es kann sowohl der enge Sinn von ἀναγιγνώσκειν den weiten beherrschen wie umgekehrt. Vom Angesicht war bisher kaum die Rede, obgleich es eine ausgezeichnete Weise persönlicher Präsenz und Sitz der Stimme ist, und obgleich Paulus im selben Zusammenhang Moses’ Lesen in riskante Nähe zu Moses’ Antlitz bringt.29 Ein Angesicht kann, wie die ganze Person, 24 Chantraine,
ebd. 118 f. Parm. 127c: ἀκοῦσαι τῶν […] γραμμάτων. 26 Plutarch, De aud. poet. 1, 14EF: ἐν ταῖς ἀκροάσεσιν καὶ ἀναγνώσεσιν ἐθίζειν . 27 2. Kor 1,13–14 ἀναγινώσκειν. 28 2. Kor 3,2–3 ἀναγινώσκειν. 29 2. Kor 3,13–16 ἀνάγνωσις, ἀναγινώσκειν. 25 Platon,
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Gegenstand von ἀναγιγνώσκειν im weiten wie im engen Sinn sein; es wird wiedererkannt, es wird aber auch gelesen. Das Wiedererkennen des Angesichts gegen Widerstand, die ἀναγνώρισις des Aristoteles, die Peripetie des Dramas,30 und das Lesen im Angesicht, die ἀνάγνωσις oder die Divination ex facie hominum, wie Plinius sie nennt,31 treten in mehr als verbale Beziehung, wenn auch jenseits der klassischen und hellenistischen Belege. Nun soll die ἔντευξις (Begegnung) mit einem Text wie die mit einem Gesicht sein, und umgekehrt. Klaas Huizing hat dies zum Anlass genommen, die Schrift des Gesichts32 wie das Gesicht der Schrift33 einfallsreich zu thematisieren. An genussvoller Ausreizung des Doppelsinns von ἀναγιγνώσκειν interessiert,34 verzichtet Huizing darauf, den palindromischen Gleichstand der Begriffe in die Asymmetrie zu überführen, die für die Theologie des Lesens ausschlaggebend ist. Nicht nur überlässt er die Schrift des Gesichts nicht der physiognomischen Wahrnehmung und wendet sich ausschließlich dem Gesicht der Schrift zu, sondern er vermeidet auch deren Bindung an einen literalen Lesebegriff, der für uns unumgänglich ist. Selbst wenn, was nicht geleugnet werden soll, die Lesetermini des Deutschen (Lateinischen) wie des Griechischen gleichsam umzingelt sind von älteren Etymologien, Sammeln dort, Wiedererkennen hier, besteht kein Grund zur Überschreitung der Grenze. Sie muss erst recht gezogen werden, um die Lesetheologie bei Disziplin zu halten. Dies gilt auch, wenn die theologische Inanspruchnahme der Metapher vom Gesicht der Schrift, die Huizing bis in die nachreformatorische Generation zurückverfolgt,35 noch tiefer zurückreicht. Martin Luther macht von der facies scripturae Gebrauch36 und schlägt den Bogen zurück zu Johannes Cassian, der im Zusammenhang der Vorstellung des vierfachen Schriftsinns zur Metapher der scripturarum facies greift.37 Und nicht genug damit. Man kann der Entstehung der Metapher vom Gesicht der Schrift geradezu beiwohnen, wenn man im 2. Korintherbrief den Übergang von 3,13 zu 3,14 und im 2. Petrusbrief den Übergang von 1,16–18 zu 1,19–21 vollzieht. Jedesmal wird die literale Schrift mit dem metaphorischen Gesicht in Verbindung gebracht, Angesicht Moses’ dort, Angesicht Christi hier, dort mit, hier ohne ausdrückliche Nennung von πρόσωπον. Unabhängig von alten Fragen des Schriftsinns will selbst in unserer Zeit Ludwig Wittgenstein scheinen, als böten Druck, Zeilen, Text den Anblick eines speziellen Bildes: 30 Aristoteles,
De art. poet. 11, 1452a23–1452b8. Sec. d.Ä, Nat. hist. XXXV 88 (Roderich 70). 32 Huizing/Gurisatti, Die Schrift des Gesichts 1989. Huizing, Das erlesene Gesicht 1992. 33 Huizing, Homo legens 1996, 93–146; ders., Das Gesicht der Schrift 1997. 34 Huizing, Homo legens, 12, 145 f, 150 f. 35 Huizing, Das Gesicht der Schrift, 42 Anm. 99. 36 Luther, Praef. op. lat. 1545, WA 54, 186,9 f; cf. WA 40/1, 501,6. 37 Johannes Cassian, Conl. XIV 11,1, CSEL 13, 411,25; dagegen Cassiodor, Inst. I 30,3, FChr 39, 272,7 denkt an schöne Bucheinbände. 31 Plinius
1. Die Etymologien des Lesens
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Die Buchstaben alle von ungefähr der gleichen Größe, auch der Gestalt nach verwandt, immer wiederkehrend; die Wörter, die zum großen Teil sich ständig wiederholen und uns unendlich wohlvertraut sind, ganz wie wohlvertraute Gesichter.38
c. Das hebräische ָק ָרא, ִמ ְק ָרא Das hebräische קראhat mit den deutschen und griechischen Ausdrücken gemeinsam, dass eine ältere Bedeutung lesetechnisch verengt wird, jedoch so, dass lesen, vorlesen nur eine ist aus einer ganzen „Anzahl spezieller Bedeutungen“, zu der die „Grundbedeutung“ Anlass bietet.39 Vom Sammeln und Auslesen entfernt sich קראnoch weiter als die griechischen Termini,40 die mit ἐπιλέγειν und ἀναλέγειν immerhin heranreichten. Und mit der griechischen Vorstellung der Präsenz einer Person mit Stimme, Gesicht und Gestalt hat der hebräische Leseterminus überhaupt nichts zu tun. Die vorliterarische Grundbedeutung von קראist so umfassend, dass sie kaum ein von lebenden Wesen ausgehendes Stimmereignis ausschließt, sofern es laut und heischend ist. Von Haus aus hat קראmit Rufen und Schreien zu tun; die Septuaginta übersetzt mit καλεῖν und βοᾶν; קראbezeichnet die ungehemmte Materialität des Lautes, jedwede Lautwerdung tierischer,41 menschlicher oder göttlicher Art. Dies ist es, was beim speziellen Gebrauch als lesen durchaus mitzuhören ist. – Zunächst und ursprünglich heißt קראdurch den Laut der Stimme die Aufmerksamkeit jemandes auf sich ziehen.42 Zweierlei fällt auf. קראbegegnet erstens kaum in übertragenem Sinn. Schreien und Rufen sind eine Realität, die an die Ohren dringt. Zweitens hat קרא, abgesehen von Wendungen wie נתן קול (die Stimme erheben), keine Synonyme; alle in Betracht kommenden Verben begnügen sich mit untergeordneten Bedeutungen, so ( הגהhalblaut lesen) und ( זכרerwähnen).43 Beide Gesichtspunkte demonstrieren: קראneigt dazu, die akustische Sphäre zu besetzen und Bedeutungsnuancen wie ausrufen, zurufen, anrufen zu übergreifen. Hierzu gehört auch ( קרא בשםbeim Namen rufen, nennen).44 – Hinzu kommt קראals lesen und vorlesen. Wie soll man diese BePhilosophische Untersuchungen 1945/58, § 167, in: Schriften [1], 366. u. a., Art. ָק ָראqārā’ / ִמ ְק ָראmiqrā’ 1993, 118, 129. 40 Jedoch kehrt der Sinn des Sammelns im Arabischen wieder: Hossfeld, ebd. 119, ebenso in der deutschen Übersetzung von ‚ מקראAnsammlung‘, ‚Versammlung‘: Hossfeld, ebd. 144 f. 41 Hossfeld, ebd. 125. 42 Labuschagne, Art. קראqr’ rufen 1979, 668. 43 Labuschagne, ebd. 667. 44 Labuschagne, ebd. 671. Hierher gehört das Rufen zu jhwh, meist in Psalmen. Bezogen auf jhwh findet sich קראteils mit Präpositionen wie ל. und אל,, teils mit קרא שם־יהוהoder קרא בשם־יהוה. Die Bedeutungsnuancen reichen, was die Form anlangt, vom Kultischen bis zum Nichtkultischen, was die Intention anlangt, von Klage und Flehen bis zu Dank und Lob. Die Grundgattungen der Psalmen treffen sich in קרא. – Aber jhwh ist nicht nur Ziel des Rufens, sondern auch dessen Subjekt. jhwh ruft selbst, und „[h]ier wird eine über die reine Grundbedeutung hinausgehende Konnotation deutlich: qārā’ stellt sich als ein machtvolles, 38 Wittgenstein, 39 Hossfeld
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§ 5 Lesen und Lesen
deutung einzeichnen in das weite stimmliche Feld, das vom Animalischen bis zu Gott reicht? Zwar hat sich die lesetechnische Bedeutung erst später, in exilischer und deuteronomistischer Zeit ausgebildet, aber anders als im Deutschen und Griechischen gibt es im Hebräischen keine metaphorische Verschiebung zwischen früher und später, weiter und enger Bedeutung; das Lesen bleibt im gleichen Sinn Teil des umfassenden Lautgeschehens; nach wie vor wird hier genauso laut und öffentlich gerufen und geschrien, proklamiert und verkündet. Parallel dazu verläuft die Entwicklung von ( מקראLesung). Seiner Grundbedeutung nach Rufen, dann aber auch für die durch Rufen zusammengeführte Versammlung und deren Versammlungsort gebräuchlich, beginnen קראund מקראihren Weg als termini technici für die liturgische Lesung, die in der Synagoge rezitiert wird.45 Im rabbinischen Schrifttum kommt die Bedeutung Aussprache hinzu: Bezeichnung für die Vokalisierung des hebräischen Konsonantentexts. Wohl nirgends ist die hebräische Etymologie wirkungsvoller aufgenommen worden als von Franz Rosenzweig und Martin Buber, zugleich nirgends erklärungsbedürftiger. Beide geben Kunde davon mit allen Signalen einer außergewöhnlichen Entdeckung. Rosenzweigs Die Schrift und das Wort handelt von nichts als Schrift vs. מקרא: „Alles Wort ist gesprochenes Wort.“46 Nicht genug: die Bibel allein erzwingt sich unter allen Büchern des literarischen Zeitalters, vorliterarischen wie literarischen, die vorliterarische Leseweise – mit dem hebräischen Ausdruck für Lesen, der dem Abendland vom Koran her bekannt ist und der (nicht etwa: Schreiben) auch für das Alte Testament die geläufigste Bezeichnung hergegeben hat: die Kria, den Ruf.47
Die hebräische Bibel als laut rezitierter Koran (qur’an) oder Kri’ah (ריָאהI )>קist Verkündigung, Ruf. „Jedenfalls Schrift ist Gift, auch die heilige“, so Rosenzweig an Hans Ehrenberg.48 Buber will sie deshalb durch Kolometrie aus den Fesseln grammatischer Interpunktion befreien; sie sei durchweht vom „Atemzug“ als dem „Grundprinzip der natürlichen, der mündlichen Interpunktion“.49 מקרא, nach Nehemia 8,8 terminus technicus für Lesung, nötigt zum Neologismus „des ‚Gerufs‘“.50 Nicht nur geht es um Ekphonese, Bubers Stichwort lautet „Gesprochenheit“; „schon die hebräische Bezeichnung für ‚lesen [ ‘]קראbedeutet: ausrufen, der traditionelle Name der Bibel ist: ‚die Lesung [‘]מקרא, eigentjhwh allein vorbehaltenes Handeln dar, das menschliches Vermögen übersteigt“: Hossfeld, ebd. 127 f. 45 Neh 8–9. Venema, Reading scripture in the Old Testament 2004. 46 Rosenzweig, Kleinere Schriften 1937, 134. 47 Rosenzweig, ebd. 136. 48 Rosenzweig an H. Ehrenberg, 29. 1. 1925, in: Briefe 1935, 528. Richter, ‚Schrift ist Gift‘ 2014. 49 Rosenzweig, Kleinere Schriften, 137. 50 Rosenzweig, ebd. 139.
1. Die Etymologien des Lesens
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lich also: die Ausrufung.“51 Die Wiederentdeckung der Schrift beschreibt er: „Ich las laut, im Lesen wurde ich die ganze Schrift los, es war nur noch Mikra.“52 Was sich bei Rosenzweig und Buber ereignet, ist nicht etwa dies, dass sich die Grundbedeutung von קראsoweit spezifiziert, bis lesen daraus wird – dieser Weg bleibt den Exegeten überlassen –, sondern umgekehrt, dass das auf Schrift enggeführte ( קראlesen) durch die der Bibel eigentümliche Gesprochenheit nicht weniger als den gesamten Reichtum der ursprünglich mit קראverbundenen Bedeutungen erweckt. Nur so bringt es „die innerste Kraft des Anrufens, des Gebietens und Kündens, des Klagens und Dankens“ wieder zurück.53 Mit der Verdeutschung wird nicht etwa Schrift in Schrift übersetzt, sondern es geht um den „Versuch zur Rückübersetzung ins Mündliche, zur Wiedererweckung des gesprochenen Worts“.54 Zwar geht Buber nicht soweit, die Fessel der Gesprochenheit noch einmal aufzusprengen und darauf zu achten, dass das „gesprochene Wort“ durchaus nicht dasselbe ist wie das sprechende Wort, um das er einen weiten Bogen macht. Gleichwohl überdehnt er die Fassungskraft von מקרא. Sein eigener Text dokumentiert, wie die Einheit von מקראzerbricht. Sie zerbricht in schriftbezogenes Lesen hier und schriftloses Rufen dort. Einmal ist das laute Lesen bereits Erfüllung des gesprochenen Worts,55 dann wieder ist es Verhinderung des wirklichen Ausrufens des Wortes, das in der Schrift gefangenliegt.56 Ist also מקראwas sein und was nicht sein soll zugleich, hat sich der Begriff aufgelöst. Das ist Bubers Aporie. d. Doppelsinne des Lesens: Archaisch/Rezent, Anwesend/Abwesend Drei Etymologien für Lesetermini waren vorzutragen; eine Nötigung, sich auf eine zu verständigen, entstand nicht. Immerhin zeigten sie die Gemeinsamkeit, dass die lesetechnische Bedeutung als die jeweils spätere einzutragen ist in die unspezifische Vorgeschichte desselben Wortes, so im Deutschen Lesen in Lesen, im Griechischen Wiedererkennen in Wiedererkennen und im Hebräischen Rufen in Rufen. Soweit zu sehen, lässt Lesen sich nur thematisieren in der Doppelheit von Lesen und Lesen. Daher Benjamins „Doppelsinn“ des Lesens. Er geht durch alle drei Etymologien hindurch, wenn auch unterschiedlich in Weise und Grad und so, dass man nicht sicher weiß, welcher von beiden die Kursivierung zu Lesen zusteht. Wieviel verraten sie über den konkreten Lesevorgang? – Am meisten wohl bei der deutschen (und lateinischen) Schriften zur Bibel 1964, 1114. Buber, Warum und wie wir die Schrift übersetzten, um 1938, 173,5 f. 53 Buber, ebd. 176,18 f. 54 Buber, ebd. 176,38. 55 Buber, ebd. 173,5 f; 176,40 f; 183,15: Lautlesen. 56 Opposition zwischen dem „laut verlesenen“ und dem „wirklich gesprochene[n]“ Bibelwort ebd. 176,40 f, zwischen dem „in der Schrift gefangen[en]“ und dem „wirkliche[n], gesprochene[n] und sprechbare[n] Wort“ ebd. 180,27 f. 51 Buber, 52
§ 5 Lesen und Lesen
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Etymologie, die mit nachdrückender Oralität wirklich nichts zu tun hat, mit Technizität dagegen viel. Die Anschaulichkeit des archaischen Los‑ und Leseorakels kommt der Unanschaulichkeit des rezenten Lesens von Schrift zu Hilfe und begleitet sie ein stückweit. Der deutsche Buchstabe folgt diesem Vorgang und führt vom buchenen Runenstäbchen bis zur Letter. Man kann den Doppelsinn von lesen und Buchstabe metaphorisch nennen, wobei schwer zu entscheiden ist: Was ist primär? Was sekundär? Ständige Verwirrung: Buchstäblich ist der Buchstabe ein hölzerner Zauberstab, aber im literalen Sinn ist er dies eben nicht, sondern ein Element von Schrift. – Weniger lässt sich beim Wiedererkennen zu den Umständen des Lesens in Erfahrung bringen. Wie unterscheidet sich lesendes Wiederkennen von Wiedererkennen überhaupt? Im Lauf der Wortgeschichte gerät der lesetechnische Sinn zunehmend unter den Druck des Allgemeinsinns; die spezifischen Umgangsweisen mit Schrift gehen in generellen Vorstellungen von Stimme, Person, Gestalt unter. Die Verlautbarung des Gelesenen durch Anwesenheit eines Lesers ist der entscheidende Gesichtspunkt. Stellt man die griechische Etymologie in den Horizont ihrer Wirkungsgeschichte, so wird man den hier gepflegten Doppelsinn am besten als allegorischen bezeichnen. Griechische Lesetermini beschreiben Leseallegorien mit dem Ziel, über die Ärmlichkeit des literalen Lesens hinaus den Reichtum allegorischer Vielstimmigkeit zum Sprechen zu bringen. – Noch weniger, nahezu nichts erfährt man beim hebräischen Rufen. Hierin mag viel umfasst sein: Verlautbarung, An‑ und Herbeirufen, Aus‑ und Berufen, Nennung und Namengebung, und folgt man Rosenzweig und Buber, geradezu alles: Wort, Nähe, Anwesenheit, Beziehung, Leben – „nicht aber der Vorgang des Lesens als solcher.“57 Keine der besprochenen Etymologien neigt so sehr dazu, das, was sie beschreiben soll, gerade nicht zu beschreiben, wie die hebräische; keine bietet der Schriftflüchtigkeit mehr Hand als sie. Um an die Konkretion des Lesens heranzukommen, bequemt sie sich nicht einmal zur Metapher, geschweige denn zur Allegorie; sie drückt vielmehr dem Lesen ohne Rücksicht auf dessen Besonderheit das nichttropierte, nichtmetaphorische, nichtallegorische Rufen auf, das schon im generellen Bedeutungsspektrum gemeint war. Damit wäre der Doppelsinn des Lesens auf dem besten Weg, zum Einsinn zu werden. Aber es handelt sich nur um eine von Rosenzweig und Buber ins Extrem getriebene Sicht. Eine andere Sicht kann sehr wohl dem Anblick des Textes standhalten. Der stumme, wiewohl sichtbare Konsonantentext des Hebräischen wartet nur darauf, „durch den Laut der Stimme“, durch Vokalisierung und Akzentuierung „die Aufmerksamkeit jemandes auf sich [zu] ziehen“, das heißt, durch קראbeatmet und verlautbart zu werden. Vokal‑ und Akzentsysteme geben davon Kunde. Insofern ist in Rufen wohl auch ein lesetechnischer Gesichtspunkt enthalten. Es ist 57
Hossfeld, ebd. 136.
1. Die Etymologien des Lesens
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der Gesichtspunkt der Kantillation oder Rezitation, der mit dem hebräischen terminus technicus für Lesen buchstäblich genau beschrieben wird. Der Prüfung auf den Sinn des Doppelsinns mag eine solche in Hinsicht auf Anwesenheit/Abwesenheit folgen. Sie verläuft nicht homolog zur ersten, sondern ordnet die drei Etymologien neu. Anwesenheit/Abwesenheit ist das Schibboleth des Dekonstruktivismus und seiner Präferenz der Schriftlichkeit, in deren Nachwirkung die Theologie des Lesens steht. Nun zeigt sich jedoch, dass die besprochenen Etymologien, auf die Entgegensetzung von An‑ und Abwesenheit unterschiedlich anschlagen. – Am stärksten die griechische Etymologie, die mit Präsenz überrannt wird. Lesen soll nicht beim Wiedererkennen stummer Buchstaben verharren, sondern durch Stimme, Wort, Gesicht und Gestalt entschädigt werden. Möglicherweise haben hier die Debatten über Phono‑ und Logozentrismus, Eigenes und Fremdes, Aneignung und Alterität, Affirmation und Negativität ihren Anhalt. Wenn einerseits der Doppelsinn von ἀναγιγνώσκειν verspricht, lesendes ἀναγιγνώσκειν sei durch lebendiges ἀναγιγνώσκειν zu kompensieren, und andererseits das griechische Wortspiel ῏Αρά γε γινώσκεις ἃ ἀναγινώσκεις58 verheißt, das gegen Widerstand wiederholte Lesen sei zu überwinden durch Aneignung des Verstandenen, dann wird deutlich, wie sehr die griechische Etymologie auf das Ende der Absenz wartet. – Nichts dergleichen bei der deutschen Etymologie. Der Doppelsinn von archaisch-sammelnd/rezent-lesend bleibt unberührt von der Entgegensetzung anwesend/abwesend. Zwar wird er gelegentlich so gedeutet, als gehe es dort um die Fülle von Wein und Ähren, hier um die Leere dürrer Buchstaben, aber dies ist ein Eintrag aus der griechischen Präsenzmetaphysik, die mit der deutschen Etymologie nichts zu tun hat. Diese bleibt gegenüber Anwesenheit/Abwesenheit neutral. – Wie steht es bei der hebräischen Etymologie, die drauf und dran war, den Doppelsinn des Lesens zum Verschwinden zu bringen? Hier muss das fast einsinnig gewordene קראden Zwiespalt reproduzieren. Rufen splittet sich in zwei Grundbedeutungen, auf der distanzwahrenden Seite anrufen, auf der distanzaufhebenden herbeirufen oder nennen.59 Die Gattungspoetik des Lyrischen kennt für ersteres die Elegie, für letzteres die Hymne, und im griechischen Kontext, dem diese Termini samt der dazugehörigen Poetik entstammen, könnte man so verfahren, wie Herbert J. Marks vorschlägt: „Die Hymne, die benennt, was nah ist, hat Teil am Gegenwärtigwerden der Stimme; die Elegie, die das beschwört [anruft], was abwesend ist, beinhaltet die Ersetzung durch das Schreiben.“60 Jedoch das Charakteristische des Hebräischen ist es, dass beide Seiten, Anwesenheit und Abwesenheit, mit קראverbunden sind, wenn auch verschieden. Gewiss ist קראals Anruf über unaufhebbare Distanz hinweg und 58
Act 8,30; cf. 2. Kor 3,2. Hossfeld, ebd. 117–119. 60 Marks, Schrift und Mikra 1997, 111. 59
196
§ 5 Lesen und Lesen
als Ausdruck von Abwesenheit „überwiegend in Klagepsalmen belegt“, aber nicht darauf beschränkt. Es findet sich auch in Hymnen, dann aber als Herbeirufen und als Ausdruck für Anwesenheit dank aufgehobener Distanz. Doch selbst hier findet sich der Unterschied: Während קראnur in Klagepsalmen eine kopräsente, jetzt in actu geschehende Performation beschreibt, bezeichnet es in Hymnen ein Geschehen, auf das bereits zurückgeblickt wird. Hymnische Performativität bleibt anderen Verben vorbehalten;61 nie wird jhwh herbeigerufen im Sinn von Präsenz. Unsere Absicht war, Lesen im literalen Sinne zu befreien von Zweideutigkeit, es zu verbegrifflichen. Dennoch wollten zwei Paare von Oppositionen nicht weichen. Das erste war mit Benjamin der „merkwürdige[.] Doppelsinn des Wortes Lesen“ in „seiner profanen und auch magischen Bedeutung.“62 Wie immer dieser gefasst wird, entzaubert/verzaubert, rezent/archaisch, literal/ metaphorisch oder profan/sakral: Theologie des Lesens bedarf der Profanität und des methodischen Ausschlusses des Sakralen. Das zweite Gegensatzpaar – Ricœur hat es zum Zug gebracht63 – ist der Doppelsinn des Lesens in Hinsicht auf Abwesenheit und Anwesenheit. Obgleich verbunden mit Abwesenheit, Abwesenheit des Autors und seiner Stimme, Abwesenheit der Welt und der direkten Referenz auf sie, wird das Lesen wie zur Kompensation häufig mit dem Versprechen von Anwesenheit verknüpft. Wie immer man den Gegensatz fassen will, Schrift/Wort, Absenz/Präsenz, Negation/Affirmation: Theologie des Lesens bedarf der Absenz mehr als der Präsenz. Die hebräische Etymologie hat das soeben gezeigt. Darüber hinaus ist zu beachten: Beide Doppelsinne operieren nicht homolog als Varianten desselben. Sie bleiben selbständig und sind in jedem einzelnen Fall besonders aufeinander zu beziehen und erneut zu justieren.
2. Die Empirie des Lesens Die Etymologien des Lesens konfrontieren uns mit dessen Doppelsinn, und nicht nur mit einem. Von Etymologien ist nichts anderes zu erwarten; der ἔτυμος λόγος64 stellt dem gebräuchlichen den wahren, dem konventionellen den natürlichen Sinn entgegen. Dabei bleibt die Sicht beschränkt auf Worte. Jetzt geht es um die Sache. Die wiederholten Bekenntnisse, es gehe ausschließlich um Lesen stricte sic dictum, wirken schal, solange sie nicht gefestigt sind durch die Sache selbst, das heißt durch die Empirie des Lesens. Etymologien 61 Hossfeld, ebd. 124; Klage als anrufendes קרא: Ps 22,3; 27,7; 28,1; 61,3; 141,1; Hymne als herbeirufendes קרא: Ps 18,7; 34,7; 66,17; 118,5; 138,3. 62 Benjamin, Lehre vom Ähnlichen 1933, GS II/1, 209. 63 Ricœur, Was ist ein Text? 1970, 80–85. 64 Platon, Phaidr. 243a.
2. Die Empirie des Lesens
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sind blind für Empirie. Vor dem 19. Jahrhundert gibt es keine nennenswerte Empirie des Lesens. Diese ist nicht denkbar ohne die explosive Erhöhung der Mengen und Sorten der Druckwerke, und nicht ohne die Emanzipation des Lesepublikums von hierarchischen Strukturen, die sich im 18. Jahrhundert anbahnt und in deren Nachwirkung wir stehen. Jetzt endlich ist Lesen befreit vom Doppelsinn. In solcher Hoffnung stellen wir den Etymologien die Empirie des Lesens entgegen, dem „wahren logos“ die Sache selbst. Zwei Disziplinen bieten sich an, Psychologie und Neurobiologie. a. Die Psychologie des Lesens Von Psychologie des Lesens als etablierter Forschungsrichtung kann erst seit Ende des 19. Jahrhunderts die Rede sein. Teils steht sie mit Leibniz und Kant in der Diastase von psychologia rationalis und empirica und dem Problem ihrer Verschränkung, teils gehört sie in die Folge des psychophysischen Parallelismus Gustav Theodor Fechners, der jedem Bewusstseinsvorgang ein mechanisches Korrelat zuordnet. Vermittelnd zwischen Physik und Psychologie tritt die Physiologie ein. Auf dieser Basis stehen sich Hermann Helmholtz65 und Wilhelm Wundt66 gegenüber, jener die Seite der Physik, dieser die der Psychologie stärkend, beide aber befasst mit Lesen nur am Rande. Die physiologische Optik steht im Hintergrund der französischen, die physiologische Psychologie im Hintergrund der deutschen Leseforschung, die um 1880 begann und gegen 1900 zu europäischem Format entwickelt war. „[A]n die großen Anfänge“67 dieser Epoche ist zu erinnern. Sakkade und Fixation Man sollte erwarten: Je empirischer die Betrachtung des Lesens, desto mehr muss sich zeigen, wie die Bewegung der Augen den Textzeilen folgt. Was ist empirisch? Offenbar der Aufbau der Erkenntnis von unten, Stück um Stück, Buchstabe für Buchstabe, in pädagogischer Version: Buchstabieren als Methode. Nicht wenige Theoretiker, noch Carl Wernicke,68 sind dieser Anschauung gefolgt. Schreitet Lesen als Buchstabieren voran, dann gilt: Je höher die Zahl der Buchstaben, desto mehr Zeit wird benötigt; zwischen Zahl und Zeit herrscht Homologie. Zugrunde liegt die jüngst von Helmholtz entwickelte These, die größte Sehschärfe liege in der fovea centralis der Netzhaut, und Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik 1867. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie 1874. 67 Günther, Historisch-systematischer Aufriß der psychologischen Leseforschung 1996, 918b. 68 Wernicke, Einige neuere Arbeiten über Aphasie 1893, 112: „Das ganze Wort kann […] abgelesen werden, wie überhaupt gelesen wird, d. h. buchstabirend. Das Lesen und Schreiben geschieht eben immer buchstabirend […].“ 65 66
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§ 5 Lesen und Lesen
diese bedinge das Lesen. Texte fordern eine Augenbewegung, die dem Verlauf der Zeile Buchstabe für Buchstabe folgt. Und wie von den Elementen zur Verbindung von Elementen, so von Teilen von Teilen zu Teilen des Ganzen. Gegenstand der Untersuchung ist das durch tele‑ oder mikroskopische Instrumente nicht munitionierte Auge. Um seine Bewegungen messen zu können, sind aufwendige Apparaturen teils gegenständlicher, teils gespiegelter Art erforderlich. Die experimentelle Pariser Leseforschung begann mit dem Spiegel, was die intrikate Situation des Sehens des Sehens oder sehenden Sehens impliziert, der empirischen Intention zum Trotz. Die außerordentliche Faszination, die die Psychologie des Lesens auf die Generation vor und um 1900 ausübte, bestand darin, dass ihr Gegenstand Grundannahmen des Empirismus nicht erfüllt, und dies wird zur Sichtbarkeit gebracht auf empirischer Basis. So wird die Psychologie des Lesens zum Paradigma für empirische Kritik des Empirismus, womit Émile Javal, dem schwerlich überstiegener Idealismus nachgesagt werden kann, die Fachwelt und sich selbst überrascht. Interessiert nicht einmal an der Psychologie, sondern lediglich an der Physiologie des Lesens stellt er in Bezug auf deren Mechanismus fest, dass dieser den einfachsten Annahmen des Empirismus widerspricht: „loin d’être continu, le mouvement horizontal des yeux pendant la lecture se fait par saccades.“69 An sich der Militärsprache zugehörig, wird saccade auf die angriffigen, ruckartigen Stöße übertragen, in denen die Augenbewegung beim Lesen weniger verläuft als springt. – Die millisekundengenaue Messung lehrt nicht nur, dass der vermeintliche Lesevorgang nicht kontinuierlich, vielmehr stoßweise von Buchstabe zu Buchstabe vonstattengeht, sondern auch, dass er nicht einfach vorwärtsschreitet. Ruckartige Rückwärtsbewegungen werden erkennbar, nicht nur von Zeile zu Zeile, was begreiflich wäre, sondern innerhalb ein und derselben Zeile. Kein Vorgang ohne Rückgang; Lesen kommt nur durch Sprünge nach rückwärts vorwärts. Als erstes ist festzuhalten: Zum Lesen bedarf es mehr als der Einsinnigkeit der Bewegungsrichtung. – Hinzukommt: Wenn der Rückgang den Charakter eines Rücksprungs hat, dann dürfte, was verharmlosend Vorgang des Lesens genannt wurde, richtiger als Vorsprung zu bezeichnen sein. Entsteht Lesen durch Augensprünge vor und zurück, so ist die Kontinuitätserwartung, die wir mit ihm verbinden, gestört. Der Lesefluss verläuft kataraktisch. Deshalb ist zweitens festzuhalten: Zum Lesen bedarf es mehr als der Annahme einer Kontinuität des Bewegungsablaufs. – Die Frage entsteht: Was liegt zwischen den Sakkaden? Ein Sprung bedarf, um abzusetzen, des Widerlagers. Zwischen den Sakkaden ruht das Auge und nimmt einen sinnlichen Ein69 Javal, La physiologie de la lecture et de l’écriture 1905, 127, und so auch bereits im Essai sur la physiologie de la lecture 1879, 251 f u. Anm. 1. Die um 1880 erfolgte Entdeckung, wahrscheinlich auch die Benennung der Sakkade wird Lamare, Sur les mouvements des yeux pendant la lecture 1893, zugeordnet; Auszüge daraus: Javal, La physiologie, 128–132.
2. Die Empirie des Lesens
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druck auf. Diesen Moment nennt Javal „fixation“.70 Der Kontrast zwischen der Dauer der Fixation und der Sakkade ist groß; Javal misst im Durchschnitt 250 gegen 15 Millisekunden. Sodass als drittes festzuhalten ist: Lesen vollzieht sich als Wechselspiel von Fixation und Sakkade, wobei den Sakkaden Plötzlichkeit zukommt, den Fixationen Dauer des Verweilens. – Wenn aber entgegen der früheren Theorie, die gegenständliches Erkennen während der Augenbewegung für möglich hielt, das Auge nur durch Fixierung den Punkt größter Sehschärfe erreicht, was geschieht zwischen den Abschnitten oder Sektionen der Fixation? Javal antwortet: „le passage d’une section à la suivante se fait par une saccade très vive, pendant laquelle la vision ne s’exerce pas.“71 Verhält es sich demzufolge so, dass das Auge während der ruckartigen Bewegung zwischen den Fixationen nichts sieht, dann gilt viertens: Der Vorgang des Lesens kennt wohl Zeitstellen, in denen das Auge sieht: fixation, kennt aber auch Zeitstellen, in denen es nicht sieht: saccade. Zum Lesen sind erfordert Sehen und Nicht-Sehen. So bietet Javals Physiologie des Lesens Anhalt für eine empirische Destruktion des Empirismus.
Bewegung und Ruhepause Ohne Kenntnis der französischen Vorgänger entstand in der Leipziger Experimentalpsychologie ein deutsches lesepsychologisches Pendant. Die im Umkreis Wilhelm Wundts entstandenen Studien von James McKeen Cattell basieren auf Experimenten mit dem Tachistoskop, wobei besonders die von Wundt bevorzugte, der Guillotine nachempfundene Variante des vertikalen Fall-Tachistoskops zum Einsatz kam. Es arbeitet mit dem Fallspalt, der, mit einer bestimmten Geschwindigkeit geöffnet, dem Probanden eine Textzeile von bestimmter Länge exponiert. Zweck der Vorrichtung ist es, die Bewegungen (saccades) der Augen auszuschließen und den Moment der Ruhepause (fixation) aus dem Fluss des Lesens gleichsam auszuschneiden.72 Eine solche Laborsituation präpariert das Gesichtsfeld der Wahrnehmung simultan, nicht sukzessiv. Während der Augenbewegungen, die für den Aspekt der Sukzessivität stehen, wird nichts erkannt; erkannt wird zwischen ihnen, in der Ruhepause, simultan. Dabei wird die Fixation der Ruhepause unterstützt durch Fixation des Kopfes mittels eines Helmholtzschen Kopfhalters. Ist allenthalben Fixation erzielt, Simultaneität hergestellt und Sukzession ausgeschlossen, zeigt sich durch den für den Bruchteil einer Sekunde geöffneten Fallspalt, dass aus einer dargebotenen unzusammenhängenden Buchstabenreihe maximal 4–5 Zeichen, dagegen aus einer durch ein Wort gestalteten Reihe 8–11 Zeichen wiedergegeben werden können, somit auffallend mehr. 70
Javal, Essai, 251. Javal, La physiologie, 127. 72 In französischer Terminologie: Auszuschließen sind Sakkaden, auszuschneiden die Fixationen. 71
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§ 5 Lesen und Lesen
Cattell nennt seine Entdeckung den Wortüberlegenheitseffekt (word-superioring-effect) und formuliert als Resultat, „dass wir ein Wortbild als ein Ganzes auffassen“.73 Und mehr als Worte: „Der Satz wird als ein Ganzes aufgefasst: ist er nicht aufgefasst, so hat man auch von den einzelnen Wörtern so gut wie nichts gesehen.“74 Daran anknüpfend haben Benno Erdmann und Raymond Dodge durch Untersuchungen mit einem speziellen Expositionsapparat die erste monographische Lesepsychologie vorgelegt und deren Extrakt in 99 Lehrsätze komprimiert.75 Ausgehend vom „beständige[n] Wechsel zwischen Ruhepausen und Bewegungen der Augen“ (LS 1) werden die Unvergleichlichkeiten beider gesammelt. Die Zeit der Ruhepausen ist um ein vielfaches höher als die der Bewegungen; die Bewegung hat nur den Zweck der Überführung von Fixation in Fixation, während optisches Erkennen von Schriftzeichen „ausschließlich während der Ruhepausen“ erfolgt. Wird der Sehschlitz des Expositionsgeräts für 0,1 Sekunden geöffnet, zeigt sich: Aus einer Buchstabenreihe ohne Wortzusammenhang können maximal 4–5 Zeichen wiedergegeben werden, aus einer solchen mit Wortzusammenhang 4–5mal soviel. „Daß wir […] optisch geläufige Schriftwörter unter Bedingungen erkennen, die jedes Erkennen der einzelnen Buchstaben ausschließen, hat seinen Grund in der typischen Gesamtform“ (LS 45). Wird aber die Gesamtform undeutlich, muss „buchstabierendes Lesen“ eintreten, das langsam verfährt, „Glied für Glied“ (LS 59). Also springt das sukzessive Lesen nur ein als Notlösung bei Störungen des simultanen Lesens. Wie kommt es, dass die Arbeit von Erdmann und Dodge, wiewohl hervorgegangen aus der Wundt-Schule, alsbald auf Wundts heftigste Kritik stößt? Alle stimmen in vielen Punkten überein. Hierzu gehört erstens, dass Lesen bei fixierter Stellung der Augen stattfindet und nicht während deren Bewegung, und zweitens, dass sich der Leseprozess nicht sukzessiv, Buchstabe für Buchstabe vollzieht, sondern durch simultane Wahrnehmung, die durch die Versuchsanordnung ausgeschnitten und zur Sichtbarkeit gebracht wird. Jedoch selbst simultane Wahrnehmung hat ihre Zeit, wenn aber Zeit, dann auch ihre Sukzession. Der Streit, den Wundt entfacht, geht nur vordergründig um die Tauglichkeit der Versuchsgeräte, hintergründig und in der Sache geht er um die Deutung dessen, was sich im isolierten Ruhepunkt der optischen Wahrnehmung abspielt. Wundt und Cattell nehmen an, Wahrnehmung geschehe als Unterscheidung des eben jetzt sich aufdrängenden Eindrucks von früheren im Bewusstsein gespeicherten Vorstellungen und als Assimilation derselben. Dagegen behaupten Erdmann und Dodge, beim Lesen finde nichts statt als spontane, simultane Wahrnehmung, die früher erworbene Vorstellungen in den 73
McKeen Cattell, Ueber die Trägheit der Netzhaut und des Sehcentrums 1886, 111. McKeen Cattell, ebd. 127. 75 Erdmann/Dodge, Psychologische Untersuchungen über das Lesen 1898. 74
2. Die Empirie des Lesens
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Status von „unbewußt erregte[n] Residuen oder Dispositionen“ versetzt,76 die allenfalls als apperzeptive Ergänzungen zum Zuge kommen. An dieser Stelle lässt Wundt pikiert wissen, dass er diese These philosophisch übertrifft. Während jene sich mit der tachistoskopischen Ausschließung der Augenbewegung begnügen und darauf vertrauen, die erforderliche Gesamtform des Wortes sei als visuelles Bild nachweisbar, reklamiert Wundt „nicht nur [die] Ausschließung der Augenbewegungen, sondern auch [die] Ausschließung der Wanderungen der Aufmerksamkeit [als] ausdrückliche Bedingungen.“77 Mit anderen Worten: Der experimentell isolierte Fixationspunkt optischer Wahrnehmung ist schon in sich selbst viel zu bewegt, um als reiner Ruhepunkt gelten zu können. Zur realen Bildzeit der Fixation einer Buchstabenreihe kommt nicht nur die Nachbilddauer hinzu, in der die Aufmerksamkeit weiterzieht, sondern auch das Residuum der Vorerfahrungen, das die Form der Wortbearbeitung lenkt. Wundt klagt gegenüber Erdmann und Dodge über mangelnde Berücksichtigung der Physiologie zwischen Physik und Psychologie.78 Die Physiologie besetzt bei Wundt den Rang einer Platzhalterin der Philosophie. Wie nämlich bereits die Physiologie des Auges die Unterscheidung von „directem“79 und „indirectem“80 Sehen erfordert, direkt in der fovea centralis, indirekt in der Peripherie, so schließen daran zwei Arten von Aufmerksamkeit an, aktiv die eine, passiv die andere. Also ist bereits in der Ruhepause zu unterscheiden zwischen der gespannten, auf einen Punkt zu fixierenden Aufmerksamkeit auf der einen Seite, welche ein Vorgang aktiver Apperzeption und des Sich-Ausspannens auf den Sinneseindruck bis ins Detail ist, und der schweifenden – Wundt nennt sie hier „wandernde“ – Aufmerksamkeit auf der anderen, die die Arbeit der mehr passiven Assimilation vollführt, durch welche die Details der Apperzeption der reproduktiven Ergänzung zugeführt werden. Das alles erreicht Wundt, indem er über die Augenbewegungen hinaus die Bewegungen der Aufmerksamkeit thematisiert, die überraschenderweise im isolierten Ruhepunkt allererst in Erscheinung treten. So gelangt er zu einer Skizzierung des Leseprozesses, die „den Vorstellungen der Zeitgenossen weit überlegen ist.“81 Die Unterscheidung von saccade und fixation oder Bewegung und Ruhepause genügt nicht. Sie kann nur den Moment optischer Wahrnehmung bloßlegen. Dieser ist aber, entgegen der Erwartung, nicht nur Fixation, sondern seinerseits Fixierung und Bewegung zugleich. Und während sich alsbald philosophische Unterscheidungen wie aktiv/passiv, produktiv/reproduktiv, ideal/empirisch anschließen, die Wundt in 76 Erdmann/Dodge,
ebd. 223. Wundt, Zur Kritik tachistoskopischer Versuche [1] 1900, 312; zur Wanderung der Aufmerksamkeit 308 ff. 78 Wundt, ebd. 288. 79 Wundt, ebd. 289. 80 Wundt, ebd. 317. 81 Günther, ebd. 929b. 77
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§ 5 Lesen und Lesen
der von Experimentalpsychologie freien Sphäre der Völkerpsychologie weiterverfolgt,82 bleibt die Physiologie – hier die des Auges – das Merkzeichen für eine Theorie des Lesens, die philosophischen Ansprüchen genügt.
b. Die Neurologie des Lesens Während die Psychologie des Lesens in der herangezogenen Epoche ins Labor gehört, gehört die gleichzeitige Neurologie des Lesens in die Anatomie. Ihre Wege treffen sich kaum; die Psychologie setzt einen Zustand voraus, der Sektionen entbehrlich macht. Daraus folgt aber nicht, dass aus neurowissenschaftlicher Sicht nichts zum Lesen beizutragen wäre. Um 1900, als noch nicht bildgebende, computergestützte Verfahren wie Magnetenzephalographie oder Positronen-Emissions-Tomographie zur Untersuchung gelingender Leseprozesse bei gesunden Personen zur Verfügung standen, war die Neurologie überwiegend auf Störungen des Lesens gerichtet, also Sache der Klinik. Neurologie um 1900 ist Neuropathologie. Neben Gestik, Schreiben, Verstehen erscheint Lesen als eine der Modalitäten des Sprechens, und wie die Neuropathologie des Sprechens sich vorwiegend mit dessen Störungen beschäftigt, so auch die des Lesens. Was dort Aphasien sind, sind hier verschiedene Formen von Alexie. Hierzu gehören Erkrankungen des Gehirns, die durch äußere wie innere Läsionen verursacht werden, durch Einwirkung von Gewalt ebenso wie durch Auswirkung von Hirnschlägen. Das ist das klassische Feld der auf anatomischer Basis betriebenen Aphasie-Forschung, unter deren Folgethemen die Alexie gehört. Sigmund Freud hat 1891 der ersten Generation der Aphasie-Forschung eine „kritische Studie“ gewidmet.83 Im späteren Rückblick nennt er sie ein „kritisch-spekulatives Buch“.84 Der Reiz, der von dieser Schrift auf die Theologie des Lesens ausgeht, wird dadurch noch gesteigert. Eine doppelte Brechung kommt ins Spiel. Zum einen ist Freuds Studie schon im Ansatz das Resultat einer Brechung; nicht Aphasien stellt sie vor, sondern Auffassung der Aphasien, und beschränkt sich also, „ohne über neue eigene Beobachtungen zu verfügen,“85 auf eine kritische Forschungsübersicht. Zum andern geschieht durch den erwähnten späteren Rückblick noch einmal eine Brechung unter dem Aspekt des Spekulativen. Wir betreiben vorwiegend den spekulativen Anteil von Freuds Kritik der Auffassung der Aphasien. Es ist nie ohne doppelte Brechung, dass wir auf die Aphasien blicken, und in der Folge auch auf die Alexien. Man wird fragen, ob die Ausdehnung des Lesethemas auf die Neurologie zweckdienlich sei. Zur Theologie des Lesens wird Lesenkönnen allenthalben vorausgesetzt. Ebenso setzt Völkerpsychologie I: Die Sprache 1, 31911, 576–594. Freud, Zur Auffassung der Aphasien 1891. 84 Freud, Selbstdarstellung 1925, GW 14, 42. 85 Freud, Zur Auffassung, 39. 82 Wundt, 83
2. Die Empirie des Lesens
203
die Psychologie des Lesens Lesenkönnen voraus, ihre Experimente gelten gesunden Augen. Aber auch die Neurologie setzt Lesenkönnen schon voraus. In Theologie, Psychologie und Neurologie befinden wir uns auf dem Boden erworbener Lesefähigkeit. Während die Psychologie dabei verharrt, haben Theologie und Neurologie die erstaunliche Gemeinsamkeit, dass sie nicht nur danach fragen, was mit der Lesefähigkeit bewirkt, sondern auch, was mit ihr erlitten wird. Sie fragen danach, was mit der Lesefähigkeit geschieht. Darin ist beides enthalten, das Bewirkte wie das Erlittene. Kein Geschehen, ohne dass ihm eine Aktivität, oder, wenn habitualisiert, eine erworbene Fähigkeit vorausgeht. Ebenso: Kein Geschehen, ohne dass Passivität einfällt, nicht einfach und schlechthin, sondern als erworbene, zugezogene Unfähigkeit. Die psychologische Leseforschung, meint Hartmut Günther, gewinne ihre Impulse „durch die Untersuchung von erworbenen Störungen der Lesefähigkeit (Alexien).“86 Was heißt Erwerb von Störungen? In Wahrheit handelt es sich um den Eintritt eines Verlusts. Das ist das Thema der Neuro(patho)logie: Aphasie als Verlust der erworbenen Sprachfähigkeit. Den Verlust erwirbt man nicht, zieht ihn sich allenfalls zu. Und bei der Alexie mutatis mutandis ebenso. Das ist es, was die Neurologie des Lesens in Nachbarschaft bringt zur Theologie des Lesens. Diese, obwohl sie sich mit allen Kräften um Erwerb, Pflege und Übung des Lesens kümmert und selbst das Lesen des Lesens nicht verachtet, trifft sich trotz aller Verschiedenheit mit der Neurologie im Thema des Verlusts der Lesefähigkeit. Hat die Neurologie im Zeitraum um 1900 überwiegend mit dem Verlust von Sprache und Lesen zu tun, dann ist sie, und sei es als Kontrafaktur, für die Theologie des Lesens unerlässlich. Die Aussagen der Aphasieschrift zum Lesen finden sich bei Freud an verschiedenen Orten und auf verschiedenen Ebenen. Einmal im abschließenden sechsten Abschnitt in zwei zusammenhängenden Passagen, die in konzeptioneller Absicht das Lesen als Gegenstand direkt thematisieren. Dann aber auch indirekt in eingestreuten Bemerkungen des ersten und fünften Abschnitts, wo nicht explizit vom Lesen gehandelt wird, sondern nur von Elementen der Schrift‑ und Textlichkeit, und wie sie sind, wird auch das Lesen sein. Während die erste Ebene dem mit der Studie von Anfang an verbundenen Gesichtspunkt des Kritischen folgt, entspricht die zweite Ebene dem, was Freud aus dem Abstand des Rückblicks den spekulativen Anteil nannte. Lesen als Objekt der Neurologie Um in die Analyse des Lesens eintreten zu können, sind die Markierungen in Erinnerung zu rufen, die das aphasische Feld seit den ersten Entdeckungen gliedern. Die Nosologie beansprucht, die Logik oder Rationalität einer Krankheit zu durchschauen. Bei der Aphasie besteht sie darin, dass zwei Arten von 86
Günther, ebd. 927b.
§ 5 Lesen und Lesen
204
Verlust des erworbenen Sprachvermögens eintreten, die sich genau spiegeln. In höchster Abstraktion erkennt man auf der einen Seite den Verlust der artikulierten Sprache bei erhaltenem Sprachverständnis, auf der andern den Verlust des Sprachverständnisses bei erhaltener Artikulation. Gewiss befindet sich die Aphasie jederzeit in bedrohlicher Annäherung an den harten Kern, in dem das gesamte Sprachvermögen verloren und zerstört ist. Hat sich die Aphasie derart ausgewirkt, können Unterschiede nicht mehr namhaft gemacht werden. In der zeitgenössischen Terminologie wird dieser dramatische Punkt als globale Aphasie bezeichnet. Er ist das schwarze Loch der Aphasie. Sobald sich aber, was ohne Aufhellung nie vonstattengeht, die geringste Kontur zeigt und Unterschiede erkennbar werden, befindet man sich mehr oder weniger auf einer der genannten Seiten, von denen die erste nach ihrem Entdecker als Broca-, die zweite als Wernicke-Aphasie bezeichnet wird, jene in Erscheinung tretend als Wortmangel, beschränkt auf einsilbige Stammelworte oder Einwortsätze, diese als Wortüberfluss, aufgeschäumt zum Jargon. Beide Formen sind Sprachstörungen, wiewohl nicht Störung der Sprache schlechthin, wozu die globale Aphasie neigt, vielmehr unterscheidbare Weisen, von denen jede das „Gegenstück“ zur anderen bildet.87 Während die polare Grundform der Aphasien sich in dieser oder jener Modifikation bis heute durchgesetzt hat, sind andere zur Begründung angeführte Theoreme abhanden gekommen, nicht zuletzt dank Freuds Kritik. Hierzu gehört das Bedürfnis, den jeweiligen Fokus der Krankheit nicht nur als Gedankending, sondern als Ding, also anatomisch in der linken Hirnhemisphäre zu lokalisieren, so im Fall von Broca als Verletzung der dritten, der Sylvischen Furche benachbarten Windung des Stirn-, im Fall von Wernicke in der Verletzung einer bestimmten Stelle des Schläfenlappens. Während die Wernickesche Stelle diejenige ist, an der der nervus acusticus endet, der Sprachklänge empfängt und als akustisches oder sensorisches Zentrum bezeichnet wird, ist die Brocasche Stelle diejenige, welche die empfangenen Impulse über die medulla oblongata zum Zweck von Sprachbewegungen zur Peripherie sendet und deshalb motorisches Zentrum genannt wird. Lokalisiert werden somit erstens die Zentren. Lokalisiert werden aber auch zweitens die Leitungsbahnen. Schon der acusticus als Zu‑ und die oblongata als Ableitung sind solche Bahnen, und soll der Sprachapparat funktionieren, dann ist die Annahme einer weiteren Leitungsbahn erforderlich, die vom sensorischen zum motorischen Zentrum verläuft. Sie könnte erklären, was gemeint ist, wenn man von der Assoziation von akustischem Reiz und artikulatorischer Bewegung spricht. Also sind neben Zentren auch Leitungsbahnen erforderlich, die als Substrate der Übertragungen anatomisch zu lokalisieren sind. Da aber eine Verletzung nicht nur die Zentren, sondern auch die Leitungsbahnen betrifft, erweitert sich der Katalog möglicher Apha87
Freud, ebd. 40.
2. Die Empirie des Lesens
205
sien. Als globale immer ein und dieselbe, selbstherrlich und dominant, als motorische und sensorische immerhin zwei und als Gegenstücke, hielt sich die Aphasie bisher innerhalb der Zentrumsaphasie. Im Fall gestörter Leitungen treten Leitungsaphasien hinzu, zunächst die zwischen den beiden Zentren, die bereits Wernicke als dritte Form von Aphasie beschrieben hat, dann aber auch solche, die durch einen Insult der Zu‑ und Ableitung entstehen können, um aus dem umfangreicheren Katalog Lichtheims nur diese zwei zu nennen. Sind Zentrumsaphasien nach ihrer Lage in der Hirnrinde als kortikal zu bezeichnen, dann die Leitungsaphasien, die tiefer liegen, als subkortikal. Damit sind die elementarsten Begriffe benannt, die für Freuds Kritik der Auffassung von den Lesestörungen erforderlich sind. Seine Kritik läuft im Resultat darauf hinaus, die Unterscheidung von Zentrum und Leitungsbahnen sowie die Lokalisierung beider als für die Funktion des Sprachapparates entbehrlich nachzuweisen. Es genügt schon die Selbstbeobachtung, um vom Lesen zu wissen: Es gibt Lesen-auf-Verständnis, Buchlesen, Leiselesen; es gibt aber auch Korrekturlesen, Vorlesen, Lautlesen, bei denen das Verständnis zurücktritt.88 „Unfähigkeit zu lesen“ bedroht beide.89 Lesen als Prozessor der Neurologie Lesen ist nicht nur das Objekt der Neurologie, sondern auch deren Prozessor. Als Objekt wird Lesen gelehrt, als Prozessor wird es signalisiert. Auf dieser Ebene ist die Weise der Kundgabe nicht Direktheit, sondern Obliquität. In diese Region gehört erstens, dass Freud davon spricht, dem Gehirn werde etwas „eingeschrieben“. Ein erstes Schema der Aphasien, das polare „Zentren“ und „Leitungsbahnen“ verbindet, stellt in abstracto den Stand der mit Wernicke erreichten Aphasielehre dar.90 Anders beim zweiten Schema, in dem Freud dieselben Zentren und Bahnen in situ zeigt.91 Das Schema ist, wie Freud bei der ersten Figur formuliert, „dem Gehirne eingeschrieben[..]“, aber keineswegs als Gewaltakt oder Oktroi, sondern es – so heißt es bei der zweiten Figur – „läßt sich sozusagen dem Gehirne einschreiben“.92 Das Wort „sozusagen“ dürfen wir als Spur Freuds im Referat von Wernicke auffassen, und auch für die Metapher des Einschreibens trägt Freud die Verantwortung; Wernicke gebraucht sie nicht. Die Differenz von erstem und zweitem Schema ergibt sich daraus. Das erste, abstrakte, ist zwar geschrieben, aber das zweite In-situ-Schema ist eingeschrieben. Hier ist Schrift nicht nur mit Schwärze bedrucktes Papier, sondern steht – um mit 2. Korinther 3,3 fortzufahren – auf 88 Freud,
ebd. 118–121. ebd. 137–142. 90 Freud, ebd. 42 Fig. 1. 91 Freud, ebd. 43 Fig. 3 [recte 2]. 92 Freud, ebd. 43. 89 Freud,
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§ 5 Lesen und Lesen
fleischernem Grund; dieser trägt die Schrift mit Gewährung, nicht mit Gewalt. Einerseits trägt er sie gern. Aber andererseits ist unverkennbar: Anders als im Simplex klingt im Kompositum „einschreiben“ die Kunst von Wernickes Skalpell nach, die „an gut in Alkohol erhärteten Gehirnen“ Schrift findet, die zu lesen ist. Fast unzugänglich, wie der Präparator der entsprechenden Hirnstelle weiß, muss er „ganz im Finstern“ und in „künstlichsten, unbequemsten Stellungen“ vorgehen, „um sich nicht selbst noch den einzigen Zugang des Lichtes zu verstellen.“93 Unter Bedingungen von Präparation scheint das Skalpell wie der „Griffel“ in der Hand „eines guten Schreibers“,94 der Gehirnschrift schreibt. Diese Schrift ist es, von der Wernickes Studie Kunde gibt. In dem Maß aber, in dem Freuds Schrift die Kritik der Anatomie durchsetzt, entzieht sich das Eingeschriebene dem Geschriebenen. Gelesen wird von Freud nicht mehr die dem Gehirn eingeschriebene Aphasie bzw. Alexie selbst, sondern die „Auffassung der Aphasien“, die in der Fachliteratur einer Forschergeneration zu lesen ist. Die Resektion des Eingeschriebenen auf Geschriebenes hinterlässt – analog zur Resektion des metaphorischen Lesens auf streng literarisches – offenbar eine Lücke, und Freuds Schrift, ein Meilenstein auf seinem Weg vom Neurologen zum Analytiker, dient offenbar der bewussten Erzeugung dieser Lücke und des Umgangs mit ihr. Eine zweite, gleichfalls auf der Ebene der Obliquität und Indirektheit gelagerte Aussage Freuds kommt hinzu.95 In ihr verschachteln sich Parenthese und Vergleich. Die Parenthese, hier eine solche zwischen Gedankenstrichen, bewirkt an sich bereits die Unterbrechung der Linearität der ersten Rede durch eine zweite, indirekt einfallende Stimme in die direkt dahinlaufende erste. Sie kündigt ein „Beispiel“ an, einen Vergleich (similitudo) also, eine Bildrede für einen ohne Bild schwer darstellbaren Sachverhalt. Und ebenso verbindet sich die Form der Parenthese mit dem Inhalt des Bildes; es geht um Gedicht und Alphabet und die zwischen ihnen in mengentheoretischer Hinsicht herrschende 93 Wernicke, Der aphasische Symptomencomplex 1874, 17 f: „Bei Ausführung dieser Präparation empfiehlt es sich, zuerst den Scalpellstiel etwa in der halben Höhe der inneren Fläche des Klappdeckels anzusetzen und von da aus sowohl nach oben als nach der Insel hin die Rinde abzustemmen.“ 94 Ps 45,2. 95 Freud, ebd. 95 f: „Wir ersehen nur so viel, daß die nach Durchsetzung von grauen Substanzen in der Hirnrinde anlangenden Fasern zwar noch eine Beziehung zur Körperperipherie enthalten, aber kein topisch ähnliches Bild derselben mehr geben können. Sie enthalten die Körperperipherie, wie – um ein Beispiel dem uns hier beschäftigenden Gegenstande zu entlehnen – ein Gedicht das Alphabet enthält, in einer Umordnung, die anderen Zwecken dient, in mannigfacher Verknüpfung der einzelnen topischen Elemente, wobei die einen davon mehrfach, die anderen gar nicht vertreten sein mögen. Könnte man diese Umordnung, welche von der spinalen Projektion an bis zur Großhirnrinde vor sich geht, im einzelnen verfolgen, so würde man wahrscheinlich finden, daß das Prinzip derselben ein rein funktionelles ist und daß topische Momente nur insoweit beibehalten werden, als sie mit den Anforderungen der Funktion zusammenfallen.“ Dazu Vf., From alphabet to poem 2018.
2. Die Empirie des Lesens
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Asymmetrie, dass zwar Gedichte das Alphabet enthalten, aber nicht umgekehrt. Die äußerst sensible, auf sprachliche Formen achtende Verfahrensweise Freuds wird ausgelöst durch das „Meynertsche Lehrgebäude über Gehirnbau und Gehirnleistung“,96 das für Wernicke stets, für Freud nur bisher maßgeblich war. Es erklärt das Verhältnis zwischen Gehirnrinde und Körperperipherie, mit der sie über die Stränge des Rückenmarks verbunden ist, durch die Hypothese, es finde „Abbildung Punkt für Punkt“ statt,97 mit der der Körper im Gehirn „enthalten“ ist;98 Meynert spricht von der „Projection“ des Körpers auf die Hirnrinde.99 Wenn auch nicht von Meynert selbst, so doch von seiner Schule wurde „die Idee einer vollständigen und topographisch ähnlichen Abbildung des Körpers in der Großhirnrinde mehr oder minder klar vertreten.“100 Dagegen Freud: „Ich glaube, es läßt sich zeigen, daß die Annahme einer Projektion des Körpers auf die Hirnrinde im eigentlichen Sinne des Wortes, worunter dann eine vollständige und topographisch ähnliche Abbildung zu verstehen wäre, zurückgewiesen werden kann.“101 Ist aber die Körperperipherie in der Hirnrinde „nicht Stück für Stück enthalten“,102 wie dann? Hierauf antworten Parenthese und Beispiel. Zwar nichtenthalten Punkt für Punkt und Stück für Stück, besteht Beziehung gleichwohl. Die Fasern der Hirnrinde „enthalten die Körperperipherie, wie […] ein Gedicht das Alphabet enthält.“ Wenn es erlaubt ist, die Problematik der Gehirnschrift – „eingeschrieben“ – hierher zu übertragen, dann heißt das: Seiner topischen Unähnlichkeit wegen ist das Gehirn zwar keine Schrift im eigentlichen Sinne, aber daraus folgt keineswegs, dass es Nicht-Schrift ist in jeder Hinsicht. Vielmehr: das Gehirn ist wie ein Gedicht. Das Gehirn ist kein Gedicht, schon weil es in seiner topographischen Unordnung nicht Schrift ist. Aber es ist wie ein Gedicht. Das Verhältnis von Gehirn und Gedicht kompliziert sich zusätzlich, wenn Freud sagt, beim Beispiel von Gedicht und Alphabet handle es sich um eine Entlehnung aus „dem uns hier beschäftigenden Gegenstande“. Das ist doch das Gehirn! Also wird dem Gehirn das Gedicht entlehnt, das es nicht ist. Oder doch? Es wird entlehnt, um das an sich unbeschreibbare Gehirn zu beschreiben. Das Gehirn ist Gedicht und ist es nicht; deshalb ist es wie ein Gedicht. Hier kehrt das Problem der Gehirnschrift noch einmal zurück. Das Gehirn ist Schrift und ist es, wie Freud gegen Wernicke argumentiert, definitiv nicht. Es ist wie Schrift, und wenn diese Aussage mit Leben erfüllt werden sollte, ist das paradigmatische Verhältnis von Gedicht und Alphabet zu befragen. Denn wie Gedicht zu Alphabet, so Gehirn zu Schrift. 96
Freud, ebd. 86–96. ebd. 89. 98 Freud, ebd. 93, 95. 99 Freud, ebd. 89. 100 Freud, ebd. 90. 101 Freud, ebd. 92. 102 Freud, ebd. 93 (kursiv). 97 Freud,
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§ 5 Lesen und Lesen
c. Zur Kritik des Empirismus des Lesens Psychologie wie Neurologie sind hochwillkommene Bestrebungen, das Lesen so streng wie möglich auf literaler Linie zu halten, schlank und rank. So ist einerseits darauf zu achten, dass es nicht dem lauernden Tiefsinn seiner Etymologien verfällt, sondern scharfsinnig bleibt. Andererseits drohen, was gerade dem empirisch ausgerichteten Blick nicht verborgen bleibt, Störungen des Lesens, die die Lesefähigkeit tangieren. In der Psychologie Störungen visueller Art, die aber in der Neurologie keine Rolle spielen; Alexiker können die gegenständliche Welt erkennen, aber Buchstaben nicht. Neurologische Störungen liegen tiefer, nicht an der Peripherie, sondern im Zentrum. So sind es zwei Arten von Störung, die durch empirische Einstellung auf Lesen ans Licht gebracht werden, einerseits durch ein Zuviel, andererseits durch ein Zuwenig. Es muss das Bestreben empirisch-literalen Lesens sein, sich zwischen den Störungen von rechts und von links zu halten. Deshalb heißen wir die Empirie des Lesens willkommen. Sie ist nichts für sich; sie ist ein Zwischen, ein Grat zwischen zwei Abstürzen. Sie verliert ihre Tauglichkeit, wenn sie zum Empirismus wird. Zur Bewillkommnung der Empirie gehört die Kritik des Empirismus, der das Lesen aus seiner prekären Zwischenstellung lösen und empiristisch festlegen will, sei es psychologisch, sei es neurologisch. Dagegen wenden wir uns, mit dem Ziel einer stets nach Verbesserung rufenden Empirie des Lesens. Die Psychologie des Lesens, monographisch entwickelt von Erdmann und Dodge, darf als Versuch verstanden werden, die Empirie des Lesens so empiristisch wie möglich voranzutreiben. In großer methodischer Klarheit arbeitet sie auf ihr Scheitern hin. Empiristisch bringt sie an den Tag, worin ihr die Empirie des Lesens widerspricht. Deshalb ist die Psychologie des Lesens voller Überraschung vom ersten Moment an. Sie läuft darauf hinaus: Empiristisch ist der Empirie nicht beizukommen. So bereits in ihrem ersten Satz.103 Während wir lesen, findet nicht kontinuierliche Sukzession der Augen der Buchstabenreihe entlang statt, sondern beständiger Wechsel von Fixation und Sakkade, Ruhe und Bewegung. „Beständiger Wechsel“: das ist ein Oxymoron der herzhafteren Art, wie parmenideischer Heraklitismus, und umgekehrt. Und ebenso: Fixation und Sakkade vor und zurück, die sich verhalten wie Sehen und Nicht-Sehen, machen aus Lesen ein Geschehen, in dem Sehen und Hören nicht stattfindet, ohne dass Sehen und Hören vergeht. Das war nur der allererste Satz. Der zweite Satz konfrontiert damit: Die Zahl der Augensprünge sei sehr viel kleiner als die Zahl der Buchstaben, die wir lesen.104 Also Nicht-Entsprechung von Anfang 103 Erdmann/Dodge, ebd. 47: „Während wir in unverrückter Kopfhaltung eine Zeile bequem verständlichen Textes lesen, findet ein regelmäßiger Wechsel zwischen Ruhepausen und Bewegungen der Augen statt.“ 104 Erdmann/Dodge, ebd. 48: „Die Anzahl der Ruhepausen und dementsprechend der Bewegungen ist für eine Zeile muttersprachlichen Textes beim verständnisvollen Lesen sehr viel kleiner, als die Anzahl der Buchstaben auf der Zeile.“
2. Die Empirie des Lesens
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an, wo Entsprechung zu erwarten war. Das ist die nicht genug zu bewundernde Form der Untersuchung von Erdmann und Dodge. Empiristisch handelt sie sich die Kritik des Empirismus ein, damit die Empirie des Lesens umso deutlicher hervortrete. Und ebenso auf den weiteren Stufen. Buchstabierendes Lesen führt sich selbst ad absurdum. Wollte man den Text Buchstabe für Buchstabe aufbauen wie Hugo von St. Viktor105 oder Bonaventura,106 von den Elementen zum Teil, vom Teil zum Ganzen, tritt alsbald der „Wortüberlegenheitseffekt“ dagegen, der in systematischer Hinsicht nichts ist als empiristische Widerlegung des Empirismus. Die Ganzheit des Wortes geht voran. Dasselbe wiederholt sich bei der „Gesamtform“, die Erdmann und Dodge empiristisch nachzuweisen suchen und damit das Schauspiel des Scheiterns nur erneut in Szene setzen.107 Die moderne Leseforschung opponiert mit anschaulichen Begriffen bottom-up‑ und top-down-Modell.108 Die Psychologie des Lesens favorisiert das bottom-up-Modell bis zum Ausschluss des top-down-Modells. Es gibt Vorverständnis, es gibt Vorerfahrung und Gedächtnis, es gibt Kontextwissen. Währenddessen verharrt die Psychologie des Lesens in willkürlicher Begrenzung; ihr Ganzes ist das Wort, vom Satz handelt sie kaum, geschweige denn von Text und Kontext. Hugo von St. Viktor unterscheidet den synthetischen ordo legendi, der bottom-up, und den analytischen modus legendi, der top-down verfährt.109 Jenen nennt er expositio und versteht darunter den Fortgang vom definiten Einzelnen zum infiniten Ganzen, diesen divisio, die von den Universalien zu den Partikularien führt. Eine Zangenbewegung dieser Art wahrt die Zwischenstellung des Lesens. Sie wahrt seine Empirie. Während die Psychologie des Lesens Kritik des Empirismus nur implizit betreibt, ist Freuds Absicht explizit die einer kritischen Studie. Zwar will er zeigen, dass zur Erkenntnis der Funktion des Sprachapparats dessen empiristisch-anatomisches Fundament entbehrlich wird,110 aber das topische Moment wird nur suspendiert, nicht aufgehoben. Später wird Freud sagen, die Topik des Unbewussten habe „vorläufig nichts mit der Anatomie zu tun.“111 Allerdings entfernt sich der Sprachapparat samt Lesen und Schreiben aus der Punkt-für-Punkt-Erwartung, aber nicht so, dass diese negiert und schlechthin ausgeschlossen würde, 105 Hugo v. St. Viktor, Didasc. III 8, FChr 27, 242 f De ordine legendi: In his ordo est, ut primum littera, deinde sensus, deinde sententia inquiratur. Quo facto, perfecta est expositio. 106 Bonaventura, Hexaem. XIX 7 (Nyssen 592): sicut pueri primo addiscunt a, b, c, d etc., et postea syllabicare et postea legere et postea, quid significet pars. 107 Erdmann/Dodge, ebd. 164–185. 108 Gross, Lese-Zeichen 1994, 12. 109 Hugo v. St. Viktor, Didasc. III 9, FChr 27, 244 De modo legendi: Modus legendi in dividendo constat. Omnis autem divisio incipit a finitis, et ad infinita progreditur. […] Praeterea ratione investigamus, ad quam proprie pertinet dividere, quando ab universalibus ad particularia descendimus dividendo […]. 110 Freud, ebd. 1, 56: „ersetzen“; 69: „anstatt“. 111 Freud, Das Unbewußte 1913, GW 10, 273.
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sondern sie rückt in den Hintergrund. Und indem sie entrückt, hinterlässt sie eine Erwartung, die durch Freuds Fortgang vom Neurologen zum Analytiker verstärkt wird. In diesem Spannungsfeld hat Hans Blumenberg die Lesbarkeit der Träume nachkonstruiert und ihr den Status ursprünglicher Lesbarkeit Punkt für Punkt und Stück für Stück abgesprochen, jedoch so, dass sekundäre Mitlesbarkeit eintritt, die die primäre nur soweit hinter sich lässt, als sie die Erwartung zukünftiger Lesbarkeit vor sich herschiebt.112 Im Grund war dies bereits in der Aphasieschrift den beiden indirekten Hindeutungen auf das Lesen zu entnehmen. Während die Einschreibung ins Gehirn, die dessen Lesbarkeit zur Folge hätte, der Kritik verfällt, kehrt die Nötigung zur Lesemetapher im Alphabet-Gedicht-Vergleich wieder, sobald das Verhältnis von Gehirn und Körperperipherie anders als durch 1 : 1-Relation erklärt werden muss. Ist das Modell für das Unbewusste später die Höhle,113 so jetzt das Gehirn; beide, Grotte und Gehirn, gleich rätselhaft als gefurchte, gewundene, gelappte Gebilde, kaum zu benennen, ohne Inschrift, das eine konkav und introvertiert, das andere mit Theodor Meynert auch „Höhle“ genannt,114 aber mit Wendung nach außen, extrovertiert als konvexe Gehirnrinde. So verweist die Aphasieschrift schon auf die spätere Entwicklung Freuds, wie umgekehrt diese zurückverfolgt werden kann bis auf die Aphasieschrift. Sie werden zusammengehalten durch den Aspekt des metaphorischen Lesens. Hier ist Freud indirekt und unwillentlich produktiv. Ob allerdings jemand sich getrauen wollte, mit dem, was Freud zum Lesen nicht signalisiert, sondern gelehrt hat, das Leseabenteuer zu beginnen, bleibe dahingestellt. Bei der Neurologie des Lesens gelten ähnliche Beschränkungen wie bei der Psychologie des Lesens, die bereits über die Gewinnung des Wortes froh sein musste, zu Gebilden wie Satz, Text, Kontext, Literaturen, Bücher aber nicht gelangte. Bedenkt man zudem, dass das Explanandum der Neurologie, mit eigenem Gehirn zu lesen, bescheiden ist im Vergleich zum kühnen Anspruch der Literaten, Lesen sei Denken mit fremdem Gehirn,115 dann wird deutlich, wie weit wir mit Psychologie und Neurologie noch von den Akten entfernt sind, mit denen das literale Lesen sich aufmacht, literates Lesen zu werden. Dass wir mit eigenem Hirn lesen, setzen wir stillschweigend voraus, wenn es darum geht, mit fremdem zu lesen, wie es für eine Theologie des Lesens allerdings unerlässlich ist.
Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt 1981, 342. Freud an Wilhelm Fließ, 14. 4. 1898, in: Aus den Anfängen der Psychoanalyse 1962, 217: Adelsberger Grotte, Rudolfshöhle von Divača. 114 Freud, Zur Auffassung, 88. 115 Borges/Ferrari, Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn 1990. Iser, Der Lesevorgang 1975, 273: „‚Spaltung‘ im Leser selbst. [Er d]enkt […] die Gedanken eines anderen […].“ 112 113
3. Die Literalität des Lesens
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3. Die Literalität des Lesens Durch die zwei absolvierten Arbeitsgänge sollte deutlich geworden sein, was wir nicht als Literalität des Lesens bezeichnen werden. Bei der Etymologie des Lesens ging es darum, wie sich der rezente Sinn des Lesens gegen etymologische Übergriffe schützt, bei der Empirie des Lesens darum, wie sich der empirische Sinn gegen den empiristischen behauptet. Literalität des Lesens ist nichts als Lesen in literalem Sinn, legere stricte sic dictum, dem metaphorischen Lesen strikt entgegengesetzt. Es ist diese Opposition, die zur Überschrift des fünften Paragraphen führt. Nun stehen Lesen und Lesen als § 5.3 und § 5.4 klar vor uns. Das ist aber nur die allergröbste Unterscheidung, in der wir uns bewegen. Beim Aussprechen rutscht das ungewohnte Substantiv Literalität leicht von der Zungenspitze in den Gaumen und wird zu Literarität, die wir jetzt noch nicht brauchen können, später schon. Literalität verweist an den buchstäblichen Sinn des Lesens, an die Buchstaben. Jedoch vor Kurzschlüssen ist zu warnen. – Auf der einen Seite ist die Beschreibung zu eng; buchstäbliches Lesen ist nicht nur auf Buchstaben gerichtet; es gibt, auch im Bereich des Visuellen, Noten‑ und Kartenlesen, es gibt Laban‑ oder Benesh-Notation, Lesen von Choreographie. Buchstaben sind zwar das vorherrschende, aber keineswegs ausschließliche Gebiet buchstäblichen Lesens. Hinzu kommen nichtvisuelle und dennoch literale Weisen des Lesens. Dazu gehört das taktile Lesen der Braille-Schrift durch Blinde, dessen Zusammenhang mit dem Lesen der Sehenden über den geläufigen Topos des Sehens als einer Art Tastsinn auf Ferne rekonstruiert werden mag. Dazu gehört das elektronische Lesen. Der Gebrauch von Lesen für die Aufnahme von in digitalen Dateien abgespeicherter Information stellt vor die Frage, ob es der Literalität zugeordnet werden kann, ohne dass diese zur Digitalität wird. – Das ist nur die eine Seite. Auf der anderen ist das buchstäbliche Lesen von Buchstaben, mit dem wir arbeiten, nicht von vornherein fixiert auf Buchstaben, selbst dann nicht, wenn es sich nichts anderem als Buchstaben zuwendet. Selbst die Beschränkung auf sie, der sich die Lesetheologie unterzieht, heißt nicht, dass diese nicht überstiegen werden könnte, ohne dass die Literalität des Lesens Schaden nimmt. Lesen, selbst wenn auf Buchstaben beschränkt, ist nie Lesen von Buchstaben allein, vielmehr Lesen von Schrift, die als Schriftprinzip den Buchstaben ins Verhältnis zu den Buchstaben setzt, Lesen von Text, der Schrift ins Verhältnis setzt zur Schrift, sodass es sich langsam lohnt, von Lesen in literalem Sinn zu sprechen. Das ist der Stand, auf dem wir uns befinden. Dass literales Lesen überführt wird in literarisches, ist eine Entwicklung, die dem folgenden Paragraphen angehört. Zur Vergewisserung über den Stand der Dinge gehört auch, zwei Elemente des vorangegangenen Paragraphen mit zweien des jetzigen zusammenzuführen, damit sie sich gegenseitig erhellen. Es handelt sich um die Zweiheit von Sak-
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§ 5 Lesen und Lesen
kade und Fixation oder Bewegung und Ruhe auf der einen, und die wesentliche Antinomie oder Zweidimensionalität des Textes auf der anderen Seite. So jedenfalls wollten wir sie nicht zusammengeführt haben, wie der Manierismus des Lesens sie zusammenführt. Gewiss entsteht aus der Sichtbarkeit des Textes, Text als Textil und Text als Figur, die anschauliche Anregung, einen Text stets progredient und regredient, deszendierend und aszendierend zu lesen, das heißt, die bloße Linearität zu verlassen und Figuralität sowohl zu suchen wie zu bilden, sei es in Gestalt von Rotation, sei es in der Vielfalt von Kinetik, mit denen Texte im manieristischen Barock in Bewegung gesetzt wurden.116 Aber es ist nicht gestattet, die vielfältigen Augensprünge, zu denen der als Textil und Figur sichtbare Text erfreulicherweise ermuntert, mit den Augensprüngen zu verwechseln, die von der Psychologie des Lesens als Sakkaden bezeichnet werden. Zwar folgen sie denselben Richtungen; es gibt Vor‑ und Rücksprünge, es gibt solche innerhalb derselben Zeile und solche von Zeile zu Zeile, nach oben wie nach unten. Es gibt eine Kinetik der Augensprünge, aber diese ist durchaus nicht die Kinetik des Textes, die vom Manierismus des Barock veranstaltet wird. Diese ist sichtbar, dagegen die Kinetik der Sakkaden – um an die Pointe der Lesepsychologie zu erinnern – schließt die Sichtbarkeit gerade aus. Sehen findet in Ruhepausen statt, in Fixationen, nicht in den Sakkaden. Es will scheinen, als sei das aus Gittergedichten hervorgegangene manieristische Spiel der carmina figurata bloß eine Vorübung im Sichtbaren, hier allerdings eine höchst willkommene, nie genug zu betreibende, um, wenn an die Stelle der sichtbaren Intexte der unsichtbare Text im Text tritt, für das Sehen des Unsichtbaren gewappnet zu sein. Aber die Zweidimensionalität des Textes wäre grob missverstanden, wenn beide Dimensionen gleich sichtbar und gleich anwesend wären. Die Pointe der strukturalistischen Zweidimensionalität ist vielmehr, dass mit der Sichtbarkeit der ersten Dimension sich die Unsichtbarkeit der zweiten erst sichtbar einstellt. Und diese wesentliche Eigenschaft des Textes entspricht genau der wesentlichen Eigenschaft der Psychologie der Augenbewegung beim Lesen. Wie nämlich der Text seine zweite paradigmatische Dimension, die senkrecht zur ersten, sichtbaren und syntagmatischen steht, im Unsichtbaren lässt, so verfährt die Augenbewegung zwischen den Ruhepunkten des Sehens, ohne zu sehen. Und wie die Unsichtbarkeit der zweiten Dimension Unsichtbarkeit einer Sichtbarkeit ist, nämlich die des dahinfließenden Textes, auf den sie bezogen ist und an dem und durch den sie erscheint, so ist das Nicht-Sehen der Sakkaden beim Lesen bezogen auf das Sehen der Fixationen und gelangt erst durch sie zur Wirksamkeit. Soviel ist gewiss, dass der Versuch, die Unsichtbarkeit in Sichtbarkeit zu überführen, zwar um den Preis des Manierismus möglich ist, auch sinnvoll und oft empfohlen zum manuduktorischen Exerzitium, dass er aber die eigentliche Probe des Lesens nur hinauszögert. Sie besteht darin, dass ein sichtbarer Text, 116
Ernst, Lesen als Rezeptionsakt 1985.
3. Die Literalität des Lesens
213
um Text zu sein, Unsichtbarkeit, und dass das empirische Lesen, um Lesen zu sein, empirisches Nicht-Sehen zulassen muss. In diesem Punkt vereinen sich Text und Lesen, und aus ihm heraus entsteht, was zur Literalität des Lesens zu entwickeln sein wird. Um aber diesen Punkt und Fokus aufzufinden, sind zuerst die Grenzen des Lesens aufzusuchen.
a. Die Pole des Lesens Der Gesichtspunkt der Polarität begegnet nicht zum ersten Mal. Die Polarität ist von so formaler Natur, dass vielerlei darin Platz findet, jetzt auch das Lesen. Mit Polarität hatten wir bereits zu tun bei der Antinomie der Textbegriffe Geschlossenheit/Offenheit, Syntagmatik/Paradigmatik: eine fundamentale, unauflösliche Polarität aufseiten der Objekte des Lesens. Wir hatten ferner mit ihr zu tun bei der Polarität der Aphasien: es ging um Broca‑ und Wernicke-Aphasie, Gegenstücke, die das Feld des Aphasischen aufspannen und strukturieren. Wenngleich jeder Einzelfall von Aphasie oder Alexie der Differentialdiagnose bedarf, bleiben die jeweiligen Beschreibungen abhängig von allgemeinen Kategorien der Polarität. Ebenso findet sich Polarität aufseiten der Subjekte des Lesens. Hier entsteht unabhängig vom Einzelfall rein für sich und in abstracto der Anblick eines stockenden, nicht weiterkommenden Lesens aufseiten der Broca-, und eines davonlaufenden, nirgends Halt findenden Lesens aufseiten der Wernicke-Aphasie. Wir zögern nicht, unsere Synthese soweit zu treiben, bis auf der erreichten abstrakten Höhe die Polarität der Textbegriffe aus § 4 und die Polarität der Lesebegriffe aus § 5 in Verbindung treten. Die Pole des Lesens markieren die Stellen, an denen die Lesefähigkeit kollabiert. Um die Bandbreite des Lesens zu ermessen und sie möglichst weit zu öffnen, müssen wir bis an die Grenzen gehen. Das Buchstabenquadrat und der melancholische Blick Die vorgeführte Kritik der manieristischen These schafft die Möglichkeit, die Bandbreite des Lesens annähernd genau zu bestimmen. Wie jede Kritik sich in Abhängigkeit vom Kritisierten begibt, so wird der Manierismus des Texts als Textil und Figur durch Kritik geradezu in den Status der unvergänglichen Vergangenheit befördert. Als an der Aktualität des Lesens Interessierte haben wir den Manierismus nur noch als Hintergrund, der bleibt. Er dient als erster Pol zur Bestimmung der Bandbreite des Lesens. Wenn in der Reihe von Buchstabe, Schrift, Text erst letzterer das Gebilde ist, das Gegenstand von Lesen in literalem Sinn genannt werden darf, wenn zudem Text der gegebenen Beschreibung zufolge nicht einfach durch eine fortlaufende Zeile gebildet wird, sondern dadurch, dass diese aus welchen Gründen auch immer gebrochen ist, sodass sich Zeile an Zeile reiht und zur Horizontalen die Vertikale hinzutritt, dann dürfte der vollkommenste Text derjenige sein, der zum einen die Form
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§ 5 Lesen und Lesen
eines Quadrats annimmt, dessen Zeilenlänge auch die Textlänge definiert, zum anderen Kreuzstruktur einhält, damit waagrechtes Lesen an jeder Stelle auch senkrechtes erlaubt. Hierzu genügt nicht, dass der Text das ganze Quadrat, der Intext dagegen bestimmte, bildlich oder figürlich hervorgehobene Teile füllt, sondern er muss im vollen Umfang auch als Intext lesbar sein, sodass der Sichtbarkeit des Textes die Sichtbarkeit des Intexts in gleichem Umfang entspricht. Die Überlieferung der magischen Quadrate seit der Antike zeigt, welche von ihnen diesen strengen Anforderungen nachkommen.117 Sie nähern sich dem Nonplusultra eines doppelt vernähten Textes, der, einmal da, nicht mehr aus der Welt geschafft werden kann; er rührt an Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit. Albrecht Dürer hat das magische Quadrat in Zahlen, nicht in Buchstaben den Symbolen der Melencolia I beigemischt. Offenbar gelangt das Lesen, sobald es dem in diesem Sinne vollkommenen Text gegenübertritt, an seine absolute Grenze; der stiere Blick der Melancholie vollführt keine Sakkade mehr, wenn aber keine Sakkade, dann auch keine Fixation. Er liest nicht, starrt vielmehr, einerlei ob ins Volle oder Leere, und dies ist das Paradox des vollkommenen Textes. Sein intensiver Reichtum ist seine extensive Armut. Vor lauter Sichtbarkeit waagrecht und senkrecht hat die Sakkade, die Angriffslust des Auges, die um des Sehens willen nichts sieht, keine Chance. Melancholisches Nicht-mehr-lesen-Können tritt ein, sobald die Begegnung mit dem Text ausgeht wie die Begegnung mit dem magischen Quadrat. Angelangt auf der Spitze der Lesbarkeit, Text als vollkommener Text, ist er unlesbar geworden. Nicht dass er in jeder Hinsicht unlesbar wäre, aber er stößt die Angriffigkeit des Lesens als überflüssig von sich. Melancholische Nicht-Lesbarkeit hat die präzise Form, dass das zu Lesende bereits ausgelesen ist. Die Buchstabenlinie und der manische Blick Das Buchstabenquadrat zieht an und stößt noch vielmehr ab. Es tut, was ein Pol zu tun pflegt. Bei ihm ist des Bleibens nicht. Offenbar muss an der blutten Sichtbarkeit des zweiten Textes weitergebastelt werden; sie muss zum Verschwinden gebracht werden. Verschwindet aber mit der Sichtbarkeit des Intexts der zweite Text, verschwindet mit ihm die zweite Dimension überhaupt. Dann überlassen wir den Text einseitig der eindimensional-horizontalen Buchstabenlinie, bestehend aus fortlaufenden Buchstaben und nichts als Buchstaben. Nach allen Begriffen von Text hat das zur Folge, dass dieser sich selbst verliert. Entsprechend das Lesen. Lesen findet statt, solange Fixationen stattfinden und Sakkaden, rechts/links, unten/oben. Tritt aber mit der unilateralen, unendlichen Textzeile Eindimensionalität ein, sind die Lesebewegungen sistiert. Ebenso in Hinsicht auf den Text, von dem wir gefordert hatten, er solle nicht nur Zeile bilden, sondern Zeile um Zeile. Während der 117
Dornseiff, Das Alphabet in Mystik und Magie 21925.
3. Die Literalität des Lesens
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Text im magischen Quadrat zum Stillstand kommt, löst er sich mit der unendlich fortlaufenden Zeile in Flüchtigkeit auf. Im magischen Quadrat ist nichts möglich als was nötig ist; dagegen in der unendlichen Zeile ist nichts nötig, da alles möglich ist. Wunderlich leichte Welt, Welt der Manie, der Melancholie polar entgegengesetzt. Wenn man wissen will, was Offenheit eines Textes wirklich ist, dann hier am manischen Pol. Und wenn man wissen will, was Geschlossenheit des Textes wirklich ist, dann dort am melancholischen Pol. Alle anderen Begriffe von Offenheit und Geschlossenheit eines Textes sind abgeleiteter Natur und bleiben hinter der Deutlichkeit zurück. Während Geschlossenheit das Geflecht eines Textes nicht nur verknüpft, sondern festzurrt dergestalt, dass dem Blick, der sich darauf richtet, nur bleibt zu „starren, ohne […] zu lesen“,118 sodass er der Melancholie verfällt, bewirkt Offenheit nicht nur, dass das Geflecht eines Textes fadenscheinig wird, sondern dass es partout fad wird, und sobald der Blick sich darauf richtet, streift er den letzten Anhalt vollends von sich und entflieht in die Manie. Nichts gegen die Bloßlegung des Verfahrens, an der wir interessiert bleiben, aber an den Polen tritt nichts zutage als gänzliche Verfahrenheit des Verfahrens. Zwischen den Polen Alles Lesen spielt sich zwischen Polen ab, an denen es vergeht. Aus verschiedenen Gründen, teils weil es zu repetitiv wird, teils weil es die Repetition ausschließt. Auch zwischendrin bleibt es nicht dasselbe, unterliegt vielmehr dem Mehr oder Minder in einer Vielfalt, die wir nur ahnen, nicht überblicken können. Nur die divergenten Richtungen lassen sich vorläufig anzeigen. Nach der Seite des melancholischen Pols dürfte die Poetizität des Texts zunehmen; hier breitet sich aus die Bindung des horizontalen Textes durch den vertikalen: am Anfang, am Ende, in der Mitte der Zeile, oder wo immer etwas zum zweidimensional bestimmten Element wird. Hingegen nach der Seite des manischen Pols legt der prosaische Charakter des Texts zu, wodurch Ungebundenheit und Gelöstheit steigen. Wiewohl nach beiden Seiten mit klarer Grenze. Nur wo ein Mehr oder Minder von Poesie und Prosa spielt, kann belangvoll gelesen werden. Sobald auf der einen Seite die Bindung oder auf der anderen die Lösung ihr Werk getan hat und in Gebundenheit oder Auflösung übergeht, ist es um das Lesen geschehen. Ein erster Gesichtspunkt: Wollte man eine Sortenlehre der Texte entwerfen, müsste sie in die Bandbreite des Lesbaren hinein entworfen werden. Stets ginge es darum, die vier Antinomien des § 4.2, die zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Anwesenheit und Abwesenheit schwanken, in ihrer wechselseitigen Beziehentlichkeit zu erhalten, damit nicht Sichtbarkeit in Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit in Unsichtbarkeit ausgeht. Soviel zu den Textformen und ihrer 118
Goodman, Sprachen der Kunst 1995, 223.
§ 5 Lesen und Lesen
216
Vielfalt innerhalb der Bandbreite des Lesens. Ein weiterer Gesichtspunkt ist ebenso fundamental und geht allen Einzelbestimmungen voraus. Die Referenzgröße für Bindung und Lösung war bisher der Buchstabe; die Paradigmen waren Buchstabenquadrat und Buchstabenlinie. Aber das ist weder notwendig, noch immer so. Der Buchstabe ist nur eine der möglichen Referenzgrößen, wenn auch eine augenfällige. An seine Stelle können genauso gut Silben treten, Wörter, Satzteile, ganze Sätze, Textstücke, Texte. Und neben die Vielfalt im Umfang tritt eine ganze Vielheit verschiedener Aspekte, in denen sich Grade der Bindung und Lösung abbilden. Dazu gehören die Formen der Reime, die mit Lauten und Klängen, ferner und abstrakter die Formen der Rhythmen, die mit verschiedenen Mustern von Bewegung arbeiten und Laute und Klänge mitumfassen. Dazu gehören, noch abstrakter, aufseiten des Poetischen Verse, Strophen, Stanzen, ganze Gedichte, aufseiten des Prosaischen Sequenzen, Sektionen, Geschichten, die sich gegenseitig binden oder lösen. Schließlich gehören auf der Höhe der Abstraktion die Gedanken dazu; es gibt Gedankenreime, Gedankenrhythmen, Gedankensequenzen, die im Großen darstellen, was der Einfachheit halber nur an Buchstaben, im Quadrat oder an der Linie beobachtet wurde. Aus diesem Grund sind wir gewohnt, Größen, die Buchstabengröße übersteigen, Reime oder Gedankensequenzen, der Überschaubarkeit wegen ihrerseits wieder durch Buchstaben zu symbolisieren. Soviel zu den Referenzgrößen und ihrer Vielfalt, für die Buchstaben nur ein Beispiel sind.
b. Der Fokus des Lesens Hatten die Pole dazu gedient, das Feld des Lesens soweit wie möglich auszuspannen und spürbar zu machen, dass es weiter nicht geht, so verfolgen wir mit dem Fokus die entgegengesetzte Richtung und ziehen das Lesen, das an sich ein weites Feld ist, in einen Punkt zusammen. Der Brennpunkt muss so eng wie möglich bestimmt werden; er steht dafür, dass es enger nicht geht. Die Anagnostik
Zwar hat Karl Maurer in den Formen des Lesens in erster Linie auf die Vielfalt der Formen abgehoben, die im Feld des Lesens anzutreffen sind, und gestützt auf Friedrich Kainz einige davon benannt: einfaches und zusammengesetztes, apperzeptives und assimilierendes (Wundt), statutarisches und kursorisches, und er hat Typen von Lesern hinzugefügt: visuelle und akustisch-motorische, rezeptive und produktive, objektive und subjektive.119 Aber Vielfalt schließt die Einheit des Lesens nicht aus. Maurer setzt auf Pluralität der Formen nur, sofern sie die Singularität des Lesens nicht ausschließen. Er hält fest:
119
Maurer, Formen des Lesens 1977, 483.
3. Die Literalität des Lesens
217
es gibt offenbar verschiedene, sowohl nach der Literaturgattung und der Kunstperiode wie nach der individuellen Disposition und Intention differenzierte Formen des Lesens, deren Erforschung noch in ihren Anfängen steckt, sehr im Gegensatz zur – präzeptiven wie deskriptiven – Erschließung der Formen der literarischen Produktion. Es fehlt uns einstweilen das Gegenstück zur Poetik – die Legetik.120
Vielleicht sollte man das Gegenstück zur Poetik des Wohlklangs wegen griechisch benennen: Anagnostik. Mit Poetik und Anagnostik stehen sich Autor‑ und Leserperspektive, Dichtkunst und Lesekunst gegenüber. Die Anagnostik ist der Fokus der verschiedenerlei Formen des Lesens. Sie soll erklären, was Lesen an sich selbst und von innen her ist, ohne Umweg über die Betrachtung von außen. Hier gibt Maurer eine eindeutige Marschrichtung. Die erwähnten Formen des Lesens beschäftigen sich „nur mit dem ‚Lesevorgang‘ […] im allgemeinen“, um dessen Klärung Wissenschaften wie Physiologie, Psychologie,121 Soziologie des Leserverhaltens und Buchmarktforschung122 bemüht sind. Der Lesevorgang im allgemeinen, setzt Maurer voraus, zerfällt in verschiedenerlei Hinsichten von außen und entbehrt des intrinsischen Fokus. Gewiss wird [j]ede künftige Untersuchung über literarisches Leserverhalten […] auf einem solchen, von der Verhaltenspsychologie errichteten wissenschaftlichen Fundament aufzubauen haben, aber die eigentlichen Untersuchungskategorien wird sich die Literaturwissenschaft schon selbst erarbeiten müssen.123
Das Wissen vom Lesen gewinnt seinen Fokus, anders gewendet: gewinnt die Form von Anagnostik nicht durch den Lesevorgang „im allgemeinen“, sondern erst „mit der Lektüre literarischer Werke im besondern.“124 Der Grund ist klar. Literarische Werke wollen literarisch, nicht physiologisch, psychologisch oder soziologisch gelesen werden, und enger ist der Fokus des Lesens nicht zu fassen. Damit ist Maurer Außerordentliches gelungen. Er hat literarisches Lesen literarisch bestimmt, das heißt: aus sich selbst. Im selben Moment hat sich das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem umgekehrt. Vermag die Anagnostik das Lesen fokal aus Lesen zu erklären, dann ist sie die bessere Hüterin des Allgemeinen, wohingegen äußerliche Betrachtungen, psychologische, soziologische, unter dem Kennzeichen des Empirischen, wenn nicht des Empiristischen stehende, nur Besonderheiten des Lesens wiedergeben, gar Sonderlichkeiten.
120 Maurer,
ebd. 482 u. Anm. 41. ebd. 483. 122 Maurer, ebd. 474. 123 Maurer, ebd. 483 (kursiv Vf.). 124 Maurer, ebd. 483. 121 Maurer,
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§ 5 Lesen und Lesen
Der explizite und der implizite Leser Es gibt den wirklichen Leser; ihm schenkt Maurer die Aufmerksamkeit. Er kann sich sogar vorstellen, Äußerungen über Leseeindrücke, soviel sich finden, systematisch zu sammeln, noch vor dem Zugriff der Literaturwissenschaft und „ohne artifizielle Versuchsanordnung“. Das Resultat dürfte sein: Jeder tatsächliche Leser ist anders. Angesichts der wenig schmackhaften Alternative, entweder in unabsehbare Einzelheiten abzuschweifen, oder „sich wieder auf pauschale Fragestellungen zurück[zuziehen]“,125 winkt Erleichterung, wenn die Konstanzer Schule, allen voran Wolfgang Iser, das Hin und Her durch die These verkürzt, der Text allein genüge, um den Leser hinreichend zu erkennen. Dieser sei im Text enthalten, sein Verhalten sei bereits definiert durch den Leseakt, der „der Bezeugung oder Bestätigung durch tatsächliches Leserverhalten gar nicht mehr bedarf.“ Enthält der Text, genauer die Struktur des Textes – so Iser – die Struktur des Lesers a priori und ohne Umweg über den realen Leser, dann handelt es sich ohne Zweifel um den idealen Leser. Wie weit auch die Vorstellungen vom idealen und realen Leser auseinandergehen, dem idealen gebührt der Vorzug, weil er dem Text näher ist. Er wird in kurzem Prozess aus dem Text eruiert, der ihn enthält. Der Umweg über die unendlichen Umstände des tatsächlichen Lesers entfällt; es entfällt auch der Umweg über die empirischen Wissenschaften. Dem Philologen dürften ideale Leser „besonders sympathisch sein […], da er bei ihrer Erschließung sein vertrautes methodisches Rüstzeug einsetzen kann“.126 Wir sprechen hier vom idealen und realen Leser und zögern damit die Konstanzer Sprechweise hinaus, die den „impliziten“ Leser bevorzugt, während dem „expliziten“ geringere Beachtung zuteil wird.127 Was ist durch die Ersetzung von ideal/real durch implizit/explizit gewonnen? Die Unterscheidung von idealem und realem Leser knüpft an die sattsam bekannte philosophische Problematik an, die uns seit Beginn des Lese-Paragraphen begleitet. Sie scheint auch die Unterscheidung von implizitem und explizitem Leser zu dominieren. Wenn Hans Robert Jauß feststellt, während die „explizite Leserrolle“ dazu neige, sich in „subjektiven Bedingungen und gesellschaftlichen Abhängigkeiten“ zu verlieren, sei die „implizite Leserrolle an objektiven Strukturen des Textes ablesbar, also unmittelbarer greifbar“128 und verdiene methodologisch den Vorzug, so erweckt schon die unvorsichtige Formulierung Fragen: Warum soll gerade das Unmittelbarere objektiv sein, das durch Bedingungen und Verhältnisse Vermittelte subjektiv? Verhält es sich nicht umgekehrt, dass der ideale bzw. implizite Leser derjenige ist, der jetzt eben tatsächlich liest? Dann droht, dass die je 125 Maurer,
ebd. 475. Maurer, ebd. 477. 127 Iser, Der implizite Leser 1972; Der Akt des Lesens 1976, 60–64. 128 Jauss, Der Leser als Instanz einer neuen Geschichte der Literatur 1975, 339. 126
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eigene Leseerfahrung, als implizites Lesen tituliert, sich den Vorzug erschleicht, den der implizite Leser methodologisch hat. Auch unsere Definition der Anagnostik als Hüterin des einen Lesens, das in den vielen expliziten Formen des Lesens immer schon impliziert ist, ist drauf und dran, den impliziten Leser als Lesertyp für sich zu reklamieren.
Der Lesevorgang „Was aber ist der Lesevorgang?“, fragt Iser zu Beginn seiner Konstanzer Antrittsvorlesung129 und antwortet: Der Lesevorgang ist Aktualisierung des Textes, Produktion von Bedeutung durch Interaktion von Text und Leser. Der Kontrast ist deutlich. Nicht beschränkt sich der Lesevorgang darauf, nach Art der klassischen Hermeneutik im Text abgelagerte, unabhängig von ihm existierende Bedeutungen zu ermitteln, wie es in der Kunst der Interpretation einer vergangenen Generation vorgeschlagen wurde.130 Für einen Moment schwebt das Unternehmen, das hier beginnt und als Konstanzer Rezeptionsästhetik in die Welt ging, in Unentschiedenheit, ob es sich nicht den Gesichtspunkt der Produktion zu eigen machen und die Rezeption den Gegnern überlassen will. Am Ende der Vorlesung ist klar: Es gibt Texte, die ihrer Struktur nach von möglichen Lesern unabhängig sind, weil die Bedeutung, die sie formulieren, außerhalb und jenseits ihres Formuliertseins gegeben ist. Im Unterschied dazu sucht der Lesevorgang im hier intendierten Sinn nur den Text, der „Gelesenwerden als wichtigstes Element seiner Struktur besitzt“.131 Es ist der Lesevorgang, der Texte und Texte unterscheidet. Das ist ein neuer, nicht dagewesener Gesichtspunkt. Wir waren von der einfachen Kopräsenz von Text und Lesen ausgegangen. Beide erstrecken sich quantitativ gleichweit; beide sind qualitativ verwandt; Texte sind in sich polar, Lesen ist in sich polar. So entsprechen sich beide. Doch Iser verfolgt einen anderen Weg. Sein Lesevorgang ist anzüglich und scheidet die Textlandschaft in zwei Teile; den einen überlässt er der Kunst der Interpretation und requiriert den anderen ausschließlich für solche, die – mit Karl Maurer – für Anagnostik, für Kunst des Lesens zugänglich sind. Sobald aber die Besonderheit dieser Textart so gefasst wird, das wichtigste Element eines Textes sei sein Gelesenwerden, weiß man nicht mehr, ob dies eine Besonderheit ist oder die Allgemeinheit, die einem Text schon zusteht, weil sie ihm nicht verweigert werden kann. Oder liegt die differentia specifica dieser Textdefinition darin, dass Gelesenwerden, so sehr es jedem Text zusteht, nicht für jeden das „wichtigste“ Element seiner Struktur ist, sondern ein beiläufiges, zu vernachlässigendes? Zwar wird jeder Text gelesen und jeder besitzt „Gelesenwerden als […] Element seiner Struktur“, aber nicht als „wichtigstes“. Es 129
Iser, Die Appellstruktur der Texte 1975, 229. Staiger, Die Kunst der Interpretation 1955. 131 Iser, ebd. 248. 130
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§ 5 Lesen und Lesen
ist zu erkennen: Der Lesevorgang erstreckt sich, soweit sich Texte erstrecken; es gibt ein gleichsam kaltes, auf „klassifikatorische[n] Eifer“ borniertes, aber es gibt auch ein erhitztes, „stimulierende[s]“, auf „Aufregendes“ gerichtetes Lesen; jenes der klassischen Kunst der Interpretation zugeordnet, dieses durch die Kunst des Lesens, die der „Erotik der Künste“ zugehört, ins Werk gesetzt.132 Der Lesevorgang differenziert sich in eine schlichtere Variante und eine solche, die es auf „Nervosität“ abgesehen hat, und nur um letzteres, um das Prickelnde, dann nämlich, wenn Gelesenwerden zum wichtigsten Element der Textstruktur wird, geht es hier. Was ist der Lesevorgang? Lesevorgang ist viel, aber der Lesevorgang ist nur der prickelnde. Das heißt: Lesen hat eine bestimmte Bandbreite; seinen Fokus hat es im Prickelnden. Isers bevorzugtes Lesepensum ist das genus epicum, die erzählende Prosa,133 und hier der Roman; darauf, dass der besondere Zuschnitt des Lesevorgangs, den er beschreiben will, erst mit Vorromantik und Romantik richtig in Gang kommt, weist er mehrfach hin. Das Aufregende des Lesevorgangs, das er mit Kants Kritik der Urteilskraft als Spiel der Phantasie bezeichnet, teilt zwar mit unseren Erkenntnissen den Gesichtspunkt der Polarität, beschränkt sie aber auf das „Vergnügen“, den Platzhalter des Erotischen, Stimulierenden, Aufregenden. Die Polarität des Vergnügens wird doppelt bestimmt;134 einmal so, „daß Langeweile und Strapaziertwerden [die] Grenzpunkte verkörpern“, und hier nimmt man die ganze Bandbreite des Vergnügens wahr, jenseits derer nur „Ausscheiden aus der Beteiligung“ bleibt; das andere Mal so, dass auf der einen Seite „uns alles deutlich gesagt wird“, wohl zu deutlich, während auf der anderen „das Gesagte in Diffusion zu verschwimmen droht“. Ohne Zweifel müsste sich dies niederschlagen in Vergnügen oder Missvergnügen, aber in elementarerem als dem auf epische oder romaneske Texte bezogenen ästhetischen Sinn. So oszilliert Isers Phänomenologie des Lesevorgangs zwischen der ausdrücklich erklärten Bezogenheit auf den literarischen Text einerseits135 und der mitklingenden Bezogenheit auf Texte überhaupt andererseits.136 Nur um der letzteren willen findet Isers Werk an dieser Stelle unseres Gedankengangs Beachtung; wir sind noch nicht beim literarischen Text. Iser dagegen ist immer schon bei ihm. Er ist immer schon beim aufregenden, vergnüglichen Lesevorgang, während wir unseres Ortes den Lesevorgang an sich schon aufregend genug finden. Daraus ergibt sich eine Sibilanz zwischen Iser und uns; er will vorwärts gelesen sein und 132
Iser, ebd. 228. Iser, Der Lesevorgang 1975, 260. 134 Iser, ebd. 254; Der Akt des Lesens, 176. 135 Iser, Die Appellstruktur, 230: „Wie läßt sich der Status eines literarischen Textes beschreiben?“ Lesevorgang, 255: „Schränkt man […] einmal den Blick auf die Satzoperationen literarischer Texte ein […].“ 136 Iser, Der Lesevorgang, 258: „allgemeine[s] Schema“, 260: „Jeder Text“; 264: „Text pauschal“, wie es einer Phänomenologie des Lesevorgangs entspricht. 133
3. Die Literalität des Lesens
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zum Gipfel der Erregung gelangen; hier in § 5 wird er partout rückwärts gelesen, weil das Gelesenwerden von Texten schon Erregendes genug hat. Drei Schnittpunkte sind es, in denen Isers Phänomenologie des Lesevorgangs zu erkennen gibt, wie der literarische Text aufruht auf Texten überhaupt. Nur der erste ist der Phänomenologie entnommen, der zweite gehört in die Gestaltpsychologie, der dritte nimmt die strukturalistische Linguistik wieder auf. Bei Iser rangieren alle unter Phänomenologie; sie verspricht offenbar die Koine, die diese und andere Sprechweisen zur Verschmelzung bringt. – Der erste Schnittpunkt ist, vielzitiert, die Unterscheidung von Protention und Retention aus Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins.137 Obgleich bezogen speziell auf den Konnotationsaufbau literarischer Texte, die einerseits vom Leser als Anweisung auf Kommendes verstanden werden, mit Husserl als Protentionen, die das Kommende mit Affirmation erfüllen und zur Sättigung bringen, und andererseits vom Leser mit Festhalten am Gewesenen beantwortet werden, mit Husserl als Retentionen, die das Gewesene durch Negation enttäuschen und in den Zustand der Entleerung bringen, sind Protention und Retention auch schon dem Lesevorgang vorliterarischer Texte eigen. Jeder Text, nicht nur der literarische, bedarf des Zeitrahmens;138 jeder Moment der Lektüre einerlei welcher Art von Text wird geprägt durch die Verschränkung von Protention und Retention.139 Sogar der „wandernde Blickpunkt“,140 dieser für den Ort des Lesers eminente Begriff, stellt sich nicht erst beim literarischen, sondern bereits beim Text überhaupt ein. – Der zweite Schnittpunkt erinnert den Leser literarischer Texte daran, dass er bereits „den Text pauschal“ wahrgenommen hat als „Ansammlung von Zeichen“ und „ständiges Gruppieren solcher Zeichen“.141 Dieser gestaltpsychologische Akzent wiederholt, was bereits die Psychologie des Lesens experimentell an den Tag gebracht hatte. Um einen gestalthaften Gruppierungseffekt zu erzielen, muss das bloße 1 : 1-Abtasten von Buchstaben und Wörtern überschritten werden; erst so gewinnen einzelne Zeichen Gestaltkohärenz.142 Nun kehren die durch Sakkaden unterbrochenen Fixationen wieder als die chunks der Psycholinguistik, die in den „stromzeitlichen Fluß der Lektüre“ versetzt werden.143 Hier wird deutlich: Das Lesen des literarischen Textes liegt direkt in der Linie des Lesens von Texten überhaupt. Nur hält es sich nicht auf mit Einheiten wie Buchstaben oder Wörtern, denen keine literarische Bedeutung zukommt,144 sondern beginnt mit dem Satz als kleinster re Iser, Der Lesevorgang, 255–260; Der Akt des Lesens, 179–183. Iser, Der Lesevorgang, 260. 139 Iser, Der Lesevorgang, 258; Der Akt des Lesens, 182. 140 Iser, Der Lesevorgang, 260; Der Akt des Lesens, 177–218. 141 Iser, Der Lesevorgang, 264. 142 Iser, Der Akt des Lesens, 194 f. 143 Iser, ebd., 178 f. 144 Iser, ebd., 195. 137 138
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levanter Einheit.145 – Ein dritter Schnittpunkt besteht darin, dass der Gesichtspunkt der Struktur sich bis zur Höhe des literarischen Textes durchhält; man fragt sich, ob als bloße Gewohnheit oder weil er wirklich in Funktion steht. Warum geht es selbst hier um „Appellstruktur“? Warum um Gelesenwerden des Textes „als wichtigstes Element seiner Struktur“? Und warum ist es gerade die „Textstruktur, in der der Leser immer schon mitgedacht ist“?146 Struktur ist der Terminus, der den gesamten Aufbau der Sprache, beginnend beim Phonem, und den gesamten Aufbau der Schrift, beginnend beim Buchstaben, begleitet. Sie ist in Sprache und Schrift das Rückgrat von den Elementen bis zur literarischen Rede und zum literarischen Text. Das äußert sich nicht zuletzt darin, dass die literarische Lektüre den wandernden Blickpunkt – dieses hochliterarische camminando-Motiv – nicht für sich behält, sondern mit dem Geschehen teilt, das den Text überhaupt auszeichnet, seit in ihm Aufeinandertreffen von syntagmatischer und paradigmatischer Dimension geschieht. Die Grundstruktur von Text überhaupt kehrt beim literarischen Text wieder als „Zusammenspiel der syntagmatischen mit der paradigmatischen Achse der Lektüre“147 und erklärt das Wandern des Blickpunkts aus dem Umsprung des Blickes, dem literarischen Nutznießer der Sakkade. So kann Iser seinen Akt des literarischen Lesens vollends ins Ziel führen.
Literalität und Literarität Am Ende steht die Frage: Ist der Fokus des Lesens gefunden? Um Fokus zu sein, muss er scharf sein. Zwei konkurrierende Sichtweisen drohen ihn zu verunklaren. Die eine sagt: Lesen überhaupt bezieht sich auf Text überhaupt, die andere: Lesen im einzig belangvollen Sinn des produktiven Aktes bezieht sich nur auf literarische Texte. Der Brennpunkt der zweiten Sicht ist schärfer; aber kaum wird der Fokus literarisch justiert, geht die literale Sichtweise darüber und lässt die Kontur wieder verschwimmen. Dasselbe geschieht bei den Bezeichnungen: Literalität dort, Literarität hier, unscharfe Liquidität der Laute l dort und r hier. Also wird die Auseinandersetzung, ob es den Fokus des Lesens überhaupt gibt, mehr angestachelt als beruhigt, und solange diese Frage offensteht, ist an die Unterscheidung von literalem und metaphorischem, den Kern von Lesen und Lesen, nicht zu denken. In dieser Situation wollen wir den Graben zwischen literalem und literarischem Lesen aufreißen so weit und so tief es nur geht, um dann auch zu suchen, womit er zu überwinden ist. Eines ist evident und unhintergehbar: Nicht jeder Text ist literarisch. Die Schweizerische Bundesverfassung von 1874 würde es sich verbitten, wegen des in Art. 59 Abs. 3 unwillkürlich unterlaufenen Reims „Der Schuldverhaft Iser, Der Lesevorgang, 255 f; Der Akt des Lesens, 179. Iser, Die Appellstruktur, 248. 147 Iser, Der Akt des Lesens, 332; cf. 327 ff. 145 146
3. Die Literalität des Lesens
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ist abgeschafft“ als literarischer Text bezeichnet zu werden; womöglich schon deshalb wurde dieser Absatz seinerseits abgeschafft. Es gilt, mit Iser „die Besonderheit des literarischen Textes durch Abgrenzung von anderen Textarten“ zu erkennen.148 Die Tür zu Isers Taxonomie wird durch Verschiedenheiten im Verhältnis von Text und Gegenstand eröffnet. Es gibt Texte, die sich auf einen Gegenstand beziehen, „der eine vom Text unabhängige Existenz besitzt.“ Eine solche Art von Gegenstandsbezogenheit wird sich auch dem Text mitteilen; dieser wird selbst Gegenstand. Indem er die „Exposition dieses Gegenstandes“ bietet, spricht er – mit John L. Austin – die „language of statement“. Anders bei literarischen Texten; sie besitzen in der Welt „keine genaue Gegenstandsentsprechung“, bringen ihre Gegenstände vielmehr hervor. Hier gehe es um die Konstitution des Gegenstandes in der „language of performance“. Aber mit dem Wechsel von Exposition zu Komposition oder von statement zu performance kann sich auch der Sinn von Gegenstand ändern. Nicht ändert er sich, wenn der Infinitiv des Statements bloß zum Imperativ mutiert, der nicht konstatiert, sondern postuliert. So bei Gesetzestexten; was diese fordern, ist ein bestimmter Zustand von Welt. Aber das Gegenüber von Text und Gegenstand bleibt dasselbe, einerlei ob beschrieben oder gefordert. Gegenüber dem Gesetz ist der literarische Text schon beinah ein halbes Evangelium. Hier greift, dass literarische Texte schwach sind in Bezug auf Welt, stark in Bezug auf sich selbst. Sie unterscheiden sich von beschreibenden und fordernden Texten, indem sie die Konnotation der Denotation vorziehen; ihre Welt ist nicht die reale, sondern lediglich die „dargestellte Welt“,149 die „Quasi-Welt der Texte“.150 Nur auf dieser Ebene sind die Textmetaphern zuhause, die im vorhergehenden Paragraphen vorgestellt wurden. Sie sollen zum Ausdruck bringen: Wenn schon der literarische Text schwach ist in Bezug auf Realität, stark nur in Bezug auf sich selbst, dann muss er wenigstens intensiv gestrickt, gewebt, verknüpft und vernetzt sein. An dieser Stelle, wo erstmals besondere Aufmerksamkeit auf die Struktur des Textes entsteht – und Aufmerksamkeit auf die Struktur des Textes ist nichts als Aufmerksamkeit auf den Text selbst –, gewinnt auch erstmals das Lesen seinen Platz, das in seiner sammelnden Art dem Stricken und Weben des Textes genau korrespondiert. Wenn Lesen aktiv sammelndes Lesen ist, dann ist Text nichts als passives „Gelesenwerden“, und beide, Text und Lesen, sind in Hinsicht auf Struktur konvenient. Ist der literarische Text vom beschreibenden wie vorschreibenden hinreichend unterschieden, ist auch klar: Weder bildet er Gegenstände ab noch bildet er sie vor; er bildet vielmehr schlechthin, indem er sich selbst und das Lesen bildet als einzigen Ort seiner Wirklichkeit. 148
Iser, Die Appellstruktur, 230; zum Folgenden 231 f. Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks 1968, 29. 150 Ricœur, Was ist ein Text? 1970, 84, 90. Ebenso Ingarden, Das literarische Kunstwerk 3 1965, 233 f: dargestellte Welt als Quasi-Welt. 149
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§ 5 Lesen und Lesen
Das bringt ihn in die „eigentümliche Schwebelage“,151 die schon aus Ricœurs gleichzeitigem Essai bekannt ist.152 Doch während Ricœur den Text von vornherein als literarischen bestimmt,153 anerkennt Iser, dass ein Text nicht nur sich zur literarischen Leistung aufschwingen, sondern auch zum nichtliterarischen Text, zum Text überhaupt, absacken kann. Dass der literarische Text als Textsorte unter anderen erscheint, geht auf Betrachtung „nur von außen“ zurück.154 Ihr erscheint Text in literalem Sinn vieldeutig; alle Texte sind literal, aber nicht alle sind literarisch. Deshalb müssen „in einem zweiten Schritt“ Gesichtspunkte aufgeführt werden, die sich der Betrachtung von innen verdanken. Welchen Vorteil verspricht die Binnenbetrachtung? Binnenbetrachtung kennt für Iser nur eine Bedingung: Gesucht werden muss „im Text selbst“.155 Es ist nicht das erste Mal, dass wir dem Text selbst begegnen. Ricœurs gleichzeitige Wendung zum „Text selbst“,156 getragen von dem Wunsch, dass der „Text nur Text“,157 „Text als Text“ sei,158 wurde längst zum Eckstein der Lesetheologie. Ricœur scheute sich nicht, den Binnenaspekt zu vertiefen bis zum Text „in sich selbst“.159 Dass dem Text ein Selbst zugesprochen wird, hat mit Hypostasierung nichts zu tun; der Text ist kein persönliches Wesen wie der Autor, der ein solches ist (oder war). Sondern im selben Sinn, in dem der Text zur „Quasi-Welt“ wird auf dem Weg der Entpragmatisierung, wird er zur Quasi-Person auf dem Weg der Entpersönlichung. Nichts sonst bewirkt die Spaltung im Leser, die als „künstliche Spaltung unserer Person“ erfahren wird, ausgelöst dadurch, dass wir im Text etwas begegnen, „das wir nicht sind“.160 Zur Binnensicht des Textes gehört, dass sie sich ohne Entleihung von Metaphern aus dem Bereich des Persönlichen beschreiben lässt. Wir müssen Isers Hauptstichworte „Unbestimmtheitsbetrag“, „Leerstelle“ sowie seine Techniken des Umgangs damit, die banalisierende Auffüllung auf der einen oder die widersprechende Leer‑ und Offenhaltung auf der anderen Seite, nicht im Einzelnen nachvollziehen. Es genügt: Die Tatsache, dass ein Text nicht nur seine Binnenstruktur zu erkennen gibt, sondern sozusagen willentlich mit ihr arbeitet, kommt nicht jedem Text zu. Es gibt Texte, die mehr als Außenstruktur nicht erstreben; sie beschränken sich auf die Bedeutung, die „unabhängig“ von ihnen gegeben ist. Was immer Text ist, mit oder ohne Binnenperspektive, wird literal gelesen. Aber nicht alle Texte werden literarisch 151
Iser, ebd. 234; „Suspens-Effekt“ 237. Ricœur, ebd. 84, 90, 98. 153 Ricœur, ebd. 84: „die Quasi-Welt der Texte oder der Literatur“. 154 Iser, ebd. 234. 155 Iser, ebd. 234. 156 Ricœur, ebd. 104/156: „le texte lui-même“. 157 Ricœur, ebd. 95/149: „le texte n’est que texte“. 158 Ricœur, ebd. 91/146: „texte comme texte“. 159 Ricœur, Gott nennen, 156/ 491: „[l]es textes […] sur eux-mêmes“. 160 Iser, Der Lesevorgang, 273. 152
4. Die Metaphorisierungen des Lesens
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gelesen. Nur zu gerne würden wir die Regelung treffen, zwar Buchstaben und Schrift dem nichtliterarischen Lesen zu überlassen und den Text dem literarischen vorzubehalten. Doch die Grenze zwischen nichtliterarischem und literarischem Lesen geht mitten durch den Text hindurch. Nur der Text, dem ein Selbst zukommt, somit Selbstreflexivität und Selbstreferentialität als Form seiner Formen, kann literarisch gelesen werden. Gleichwohl schmälert dies nicht, dass beide Textsorten literal gelesen werden. Doch ist klar, dass der in § 4 entfaltete Textbegriff auf den literarischen Text hinarbeitet. Bereits die technische Bedingung, dass der Terminus Text nicht fortlaufende, sondern gebrochene Zeilen bezeichnet, bietet Anschaulichkeit hierfür. Wenn aber erst der Zeilenbruch Textilmetaphern und Textfiguren ermöglicht, und wenn diese erst das Binnenverhältnis hervorbringen, das zur Selbstreferentialität und somit zur Literarität des Textes gehört, dann fragt es sich, ob Literalität und Literarität nicht enger zu verknüpfen sind als bisher. Man kann nun nicht nur sagen, was man auch fernerhin wird sagen müssen, dass nicht alle Literalität Literarität, aber alle Literarität Literalität ist, sondern nähert sich dem erstaunlichen Sachverhalt, dass Text, literal verstanden, nur der literarische ist. Literalität ist Literarität.
4. Die Metaphorisierungen des Lesens Der Übergang von der Literalität zur Metaphorizität des Lesens ist riskant. Er ist außerdem die Schaltstelle der Lesekunst, in deren genauer Mitte er uns begegnet. Er hat seinen Sitz in den „und“-Überschriften, betreibt Kopulation und Divortium. Man mag die meisten dieser Überschriften – Schrift und Sprache, Text und Rede, Literatur und Liturgie – auffassen, als ob Dinge verknüpft würden, die ganz zu Recht je eine besondere Bezeichnung tragen. Nur bei einer einzigen „und“-Überschrift trifft dies nicht zu, der jetzigen. Hier werden nicht Dinge, die schon der Terminus als verschiedene zu erkennen gibt, in Verbindung gebracht, sondern ein und dasselbe. Das Lesen fällt aus den Themen der Lesekunst heraus, tritt neben sie, steht quer zu ihnen. Wird aber ein und dasselbe mit sich in Verbindung gebracht, dann wird es in Wahrheit getrennt. Was spielt sich in Lesen und Lesen ab? Muss Lesen, weil immer schon im Zerfallen, erst in Verbindung gebracht werden mit sich selbst? Oder muss es, weil immer schon sich Einheit anmaßend, erst in scharfe Differenz versetzt werden zu sich selbst? Diese Fragen begleiten den Übergang vom literalen zum metaphorischen Lesen. Er ist das Scharnier der Lesekunst. Unter Metaphorisierungen des Lesens verstehen wir Versuche, hie und da an der Literalität des Lesens zu modeln oder sie hinter sich zu bringen. Selbst wenn es mit Bedacht geschieht: das ist ein neuer, mit Kant nicht ohne Anspruch auf Vornehmheit vorgetragener Ton. Bislang war das gerade Gegenteil erhofft. Einerlei ob Literalität mit Literarität in eins fällt oder nicht, sie strebt danach,
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§ 5 Lesen und Lesen
sich der Metaphorisierung entgegenzustemmen, die aus den Etymologien des Lesens droht. Wieviel Etymologien, soviel Metaphorisierungen. Das deutsche Wort lesen, von dem hier paradigmatisch Gebrauch gemacht wird, rückt eine von ihnen in den Vordergrund: Lesen als Sammeln. Hier ist die Literalität davon bedroht, dass die Reichweite von Lesen unzulässig ausgedehnt wird auf anderes als Buchstaben, Schrift und Text. In unserer Epoche hat die Warburg-Schule der Metaphorisierung des Lesens den Boden bereitet. Man darf Aby M. Warburgs Vortrag über das Schlangenritual der Pueblo-Indianer an den Anfang stellen,161 also jenen späten Kreuzlinger Text über ein lebensgeschichtlich frühes Ereignis, der nicht nur für die Person des Autors, sondern auch für seine Kultur eine äußerst sensible Schwelle markiert. In der ersten Hinsicht handelt es sich um einen dünnhäutigen, in der zweiten um einen porösen Text, dessen Ausarbeitung Warburg zum eigenen Leidwesen „formlos und philologisch schlecht fundiert“ erschien.162 Aber gerade so kommt er dem Schwamm nahe und kann biographische und kulturelle Strömungen aufnehmen und durch sich hindurchfließen lassen. Zwar macht Schlangenritual vom Doppelsinn des Lesens nicht direkt Gebrauch, aber seine synkretistische Begrifflichkeit weist „in d[ie] Mitte zwischen Magie und Logos“163 oder, um gebräuchliche Termini um 1900 aufzunehmen, in die Mitte von Ritus und Mythos, von δρώμενα und λεγόμενα, was sich, um den Kontakt zu unserem Zusammenhang herzustellen, ohne weiteres als Mitte von metaphorischem und literalem Lesen übersetzen lässt. Genauso wurde Warburg verstanden. Seine Entgegensetzung von „Andachtsraum“ und „Denkraum“164 wird zur Basis der Lesetheologie. Allerdings beschleicht die Ambivalenz, die den Autor des Schlangenvortrags ins Pathologische treibt, auch uns. Mit dem Überschritt vom literalen zum metaphorischen Lesen tun wir etwas, was wir nicht wollen, wenn wir nicht müssten. Nachdem wir uns von der Literalität des Lesens so gründlich überzeugten, scheint es unsinnig, gefährlich und mutwillig, die Grenzlinie preiszugeben. So geschieht es, wenn die im Gebiet des Literalen geübte Lesetechnik derart flott vonstattengeht, dass sie den Übermut provoziert, als ließe sich über das Kerngeschäft hinaus die ganze Welt mit Lesen überziehen. Ein erster Typ der Metaphorisierung des Lesens tritt auf, die schlichte Analogisierung. Sie besagt: Wie das Lesen im Text, so das Lesen in Welt. Wir stellen uns einen solchen Überschritt als Übermut vor, als mutwilligen zudem. Anders, wenn Müssen an die Stelle des Wollens tritt. Es ist ein schizophrener Lesezwang, wenn jemand dem „Zwang, in allen Dingen etwas lesen zu müssen“, erliegt.165 Hier kommt ein zweiter Typ der Metaphorisierung des Lesens Schlangenritual 1995. ebd. 58. 163 Warburg, ebd. 24, cf. 79. 164 Warburg, ebd. 56. 165 Binswanger, Schizophrenie 1957, 297 (teilw. kursiv), 346 f. 161 Warburg, 162 Warburg,
4. Die Metaphorisierungen des Lesens
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an den Tag, dem ersten entgegengesetzt in jeder Hinsicht, vor allem aber darin, dass Lesen nicht mehr von der literalen, sondern von der metaphorischen Seite her bestimmt wird. Weder der eine noch der andere Typ, weder der euphorische noch der dysphorische, können wegleitend sein. Warburgs dünnhäutig-poröse Ortsangabe „in der Mitte zwischen“ gewinnt Präzision erst, wenn er sie, noch im selben Satz und unter Inanspruchnahme der klassischen Textilmetapher, mit dem „verknüpfende[n] Mensch[en]“ verbindet.166 Das wirft Fragen auf. War nicht der Textilmetapher eigen, dass sie vollumfänglich im literal-literarisch umgrenzten Text aufging? Woher soll sie das Zeug haben, darüber hinauszuweisen? Ist es das literale Lesen selbst, das sich nicht an die Grenzen hält, sondern übermütig, übergriffig wird?
a. Die Lesbarkeit In ihrer Zürcher Antrittsvorlesung hat Sigrid Weigel Warburgs Vortrag über das Schlangenritual auf einen Terminus zugespitzt, von dem darin nicht explizit die Rede war, die Lesbarkeit. Lesbarkeit – so Weigel – begegne in doppelter Form, teils in der philologischen Frage nach der Lesbarkeit eines Textes, teils in der ethnologischen Perspektive der Lesbarkeit von Kultur.167 Somit kreuzen sich zwei Arten von Lesbarkeit und bilden das Hybrid Kulturanthropologie, wobei an der Zweiheit mehr gelegen ist als an der Einheit dieses Titels. Kulturanthropologie sei ein Untersuchungsfeld, in dem es vor allem um Fragen der Lesbarkeit sowohl von Geschriebenem als auch von sogenannten kulturellen Texten geht, seien es Narrative, Gebärden, Verhaltensweisen, seien es Dinge, Topographien oder jene Reste und Spuren, auf deren Entzifferung alle Interpreten vergangener Kulturen in besonderem Maße angewiesen sind.168
So sehr wir hier von einem Sammelsurium hören, das verdächtig dem gleicht, was im kommenden Paragraphen unter dem Stichwort Liturgie auf uns zuzukommen droht, ist unsere Aufgabe nicht Kulturanthropologie. Jetzt stellt sich nur die Frage, wie es zur Unterscheidung von Lesbarkeit erster und zweiter Ordnung kommt. Darauf ist zu antworten: Soweit zu sehen, kommen beide Lesbarkeiten aus dem Umkreis Warburgs. Hier findet sich allerleichteste Übergänglichkeit, der Dünnhäutigkeit seines Textes und der Porosität seiner Kultur entsprechend. Es entsteht Lesbarkeit der Bilder,169 der Kunst,170 der
166 Warburg,
ebd. 24. Warburgs Schlangenritual 1996, 269. 168 Weigel, ebd. 271. 169 Benjamin, Das Passagen-Werk, GS V/1, 577 f. 170 Beyer (Hg.), Die Lesbarkeit der Kunst 1992. 167 Weigel, Aby
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§ 5 Lesen und Lesen
Architektur,171 der Städte,172 und über das Ästhetische hinausgehend Lesbarkeit der Kultur,173 um von der Lesbarkeit der Welt174 zu schweigen. Anzumerken ist, dass Weigels Applikation des Terminus Lesbarkeit auf Warburgs Syndrom eine bemerkenswerte Vorgeschichte hat. Gefragt wird nicht wie im Umkreis von Warburg nach der Herkunft der Lesbarkeit, sondern nach der Herkunft von Lesbarkeit. Während das Adjektiv lesbar nachweisbar ist seit dem 17. Jahrhundert, bildet Grimms Deutsches Wörterbuch zum Substantiv Lesbarkeit 1885 ein Kuriosum. Der Artikel besteht aus dem nackten Lemma und nichts weiter.175 Lesbarkeit ist ein Neologismus. Im Unterschied zur Sache stammt der Terminus nicht von Warburg. Wenn die außerordentliche Konjunktur von Lesbarkeit in unserer Zeit überhaupt einem Autor zuzuschreiben ist, dann Hans Blumenberg, der aber seinerseits bei aller Berührung in der Sache von Warburg und Warburg-Schule keine Notiz nimmt. „‚Lesbarkeit‘“, sagt er, sei „Inbegriff des Sinnverlangens an die Realität, gerichtet auf ihre vollkommenste und nicht mehr gewaltsame Verfügbarkeit.“176 Nicht gehe es um „Weltvertrautheit“,177 schon gar nicht um „Vertraulichkeit“.178 Jedoch neuzeitliche „Weltverfügung“ könne nicht die einzige Erfahrungsweise von Welt gewesen sein, mithin müsse die Verfügbarkeit andere Aspekte gehabt haben als die bloßer Wahrnehmung und exakter Vorhersagbarkeit. Zwar solle Lesbarkeit eine „Metapher für das Ganze der Erfahrbarkeit“ sein,179 aber eine solche, die nicht auf die moderne Erfahrungsweise beschränkt ist. Während Warburg in Sachen Lesbarkeit zu leise ist, ist Blumenberg fast ein wenig zu laut; er weiß zu viel, weiß insbesondere, dass Lesbarkeit qua Erfahrbarkeit zu beziehen ist auf die Idee des Buches, sei es als Buch der Schöpfung oder der Welt. Unsere Aufgabe ist das Buch der Welt nicht jetzt; es wird später auf uns zukommen. Jetzt geht es um die frühere Frage, wie die Lesbarkeit zum Doppelsinn hat gelangen können. Dies hängt daran, wie nach glücklich vollendeter Literalisierung des Lesebegriffs die Lesemetapher überhaupt hat entstehen können – eine Frage, die Blumenbergs metaphorologischem Generalthema nicht fremd ist. Oberflächlich betrachtet reichen beide Lesbarkeiten unterschiedlich weit zurück, die metaphorische weiter als die literale. Lesbarkeit in literalem Sinn wird, 171 Nethöfel, Theologische Hermeneutik 1992, 170–200: „Chartres lesen lernen“. Markschies, Gibt es eine ‚Theologie der gotischen Kathedrale‘ 1995, 40: „ablesbar“; ders., Neue Forschungen 2004, 198. 172 Gabellone, La ville comme texte 1976. Smuda (Hg.), Die Großstadt als ‚Text‘ 1992. Stierle, Der Mythos von Paris 1993, 12 ff: „Die ‚Lesbarkeit‘ der Stadt“. 173 Geertz, Dichte Beschreibung 1987, 15. 174 Garz/Kraimer (Hg.), Die Welt als Text 1994. 175 DWb 6, 772. 176 Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt 1981, 10. 177 Blumenberg, ebd. 11. 178 Blumenberg, ebd. 18. 179 Blumenberg, ebd. 9, 16.
4. Die Metaphorisierungen des Lesens
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soweit zu sehen, erstmals von Friedrich Nietzsche 1887 an prominenter Stelle in der Vorrede zur Genealogie der Moral gebraucht. Es ist die Form des Aphorismus, die jemandem „unverständlich“ sein könnte, weil er sich nicht entschließen kann, sie „schwer genug“ zu nehmen. Zum Aphorismus genügt nicht, „dass er abgelesen“ wird; damit ist er noch nicht „‚entziffert‘“. Und die „‚Lesbarkeit‘“‚ die Nietzsche herbeizitiert, unterscheidet sich von bloßer Unleserlichkeit180 dadurch, dass sie Lesen nicht nur als technische Voraussetzung für die „Kunst der Auslegung“ betrachtet, die aufs Lesen folgt, sondern diese ins Lesen miteinschließt, also „Lesen als Kunst“ übt.181 Es dürfte Nietzsches Lesbarkeit sein, der Hugo Friedrich die seine verdankt. Hier sind es Pascals Fragmente, die nicht nur in handschriftlicher Gestalt der Unleserlichkeit nahekommen,182 sondern mit ihrer aphoristischen, paradoxen Form gegen das „Ideal der Lesbarkeit“ verstoßen, das als Ideal der französischen Literatur gilt.183 Hingegen die metaphorische Lesbarkeit scheint erstmals bei Georg Christoph Lichtenberg zu begegnen, ausgerechnet wenn dieser sich als Antiphysiognomiker äußert. Erstaunlicherweise nicht so, dass mit der Physiognomik zugleich auch die metaphorische Lesbarkeit über Bord geworfen würde. Dass im menschlichen Angesicht nichts zu lesen sei, schließt die generelle These von der „Lesbarkeit von allem in allem“ nicht nur nicht aus, sondern setzt sie voraus.184 „An d[…]er absoluten Lesbarkeit von allem in allem zweifelt niemand“, auch nicht der Antiphysiognomiker. Unzulässig ist nur, was auf der Ebene des Absoluten wahr ist, auf die Ebene des Bedingten zu versetzen und das hier genügende „Lesen auf der Oberfläche“185 mit der Lesbarkeit in der Tiefe zu verwechseln.186 Nur für Lesen jenseits der Oberfläche kommt jene schlechthin entzogene Lesbarkeit zum Zuge. Unsere Frage gilt der Herkunft von Lesbarkeit. Nachgewiesen wurden bisher die Herkünfte zweier Lesbarkeiten, der literalen und der übertragenen, beide affirmativ verstanden. Auf der einen Seite steht Nietzsches Schwer-Lesbarkeit, auf der anderen Lichtenbergs Tief-Lesbarkeit, und bei aller Differenz des zu Lesenden, Texte dort, Weltzustände hier, ist hier und dort dasselbe Merkmal der Transzendentalität spürbar, durch das sich die Lesbarkeit vom bloßen Lesen unterscheidet. Aber warum zwei Lesbarkeiten auftreten, sobald von Lesbarkeit die Rede ist, bleibt ungeklärt. In der Kühnheit, von Lesbarkeit so zu sprechen, dass sie sich sowohl zur einen wie zur andern Seite wenden kann, ja dass das 180 Aus nunmehriger Sicht handelt es sich bei der § 3.2.b thematisierten Lesbarkeit um bloße Leserlichkeit. 181 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral 1887, KGW VI/2, 267 f. Blumenberg kennt diesen Nachweis nicht. 182 Friedrich, Pascals Paradox 1936, 133 Anm. 32, 140. 183 Friedrich, ebd. 85. 184 Lichtenberg, Sudelbücher F 694, Ende 1777, SuB 1, 555. 185 Welches „Unleserlichkeit“ an den Tag bringt: Lichtenberg, Über Physiognomik 21778, SuB 3, 257. 186 Lichtenberg, ebd. 265, cf. 290.
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Changieren beider sogar erstrebt wird, ist die Husserl-Schule am weitesten gegangen. Schon Blumenberg lässt erkennen, in welchem Ausmaß sich die Lesbarkeit als Metapher für das Ganze der Erfahrung Husserls Krisis der europäischen Wissenschaften verdankt, und obwohl Husserl von ihr keinen Gebrauch macht, ist die Lesbarkeit der Welt seiner Phänomenologie eingezeichnet. Doch Blumenberg hat keine Notiz davon genommen, dass die Lesbarkeitsmetapher auch in der Schule Husserls gepflegt wird. So bei Wilhelm Szilasi, der der These von der Seele als tabula rasa mit der Lesbarkeit dieser Tafel entgegnet. Bei Szilasi besetzt die Lesbarkeitsmetapher prominent den Übergang von Literalität zur Metaphorizität. Sie begünstigt Vorstellungen von einem Text, der zwischen beiden Seiten hin und her geht. „[U]nser Bewußtsein hat immer einen lesbaren, kontinuierlichen Text der Erfahrung, einen zusammenhängenden Text, in welchem es die Welt, die weltlichen Zusammenhänge und sich selbst lesen kann.“187 Daran schließt Ludwig Binswanger an und spricht vom „kontinuierlichen, lesbaren Text der Erfahrung“,188 bezogen auf die Seele, aber auch bezogen auf die „Lesbarkeit des Welttextes“.189 Ziel Binswangers ist – avant la lettre de Blumenberg – die „Lesbarkeit der Welt“,190 deren „Unlesbarkeit“ den Absturz in Wahn und Erfahrungsverlust nach sich zöge.191 Dass nunmehr die Lesbarkeit aus der manifesten Zweiheit ihrer Herkünfte überführt ist in Einheit, ja dass sie zu dem Schauplatz des Übergangs zwischen literaler und metaphorischer Seite wird, die jederzeit in beide Richtungen umschlagen kann und soll, wird schließlich durch Zuhilfenahme des Begriffs der Erfahrung besiegelt.
b. Die Erfahrbarkeit Wenn aus der Erörterung der Lesbarkeit etwas hervorgeht, dann dies: Es genügt nicht, die Relation von Text und Lesen, die in der Lesbarkeit erster Ordnung in literalem Sinn gebraucht wird, zu übertragen auf die Relation von übertragenem Text und übertragenem Lesen, um dies schon für Lesbarkeit zweiter Ordnung zu halten. Sondern die doppelte Lesbarkeit geht erst aus der Umkehrung der Relation hervor. Heißt es im Sinn der ersten Lesbarkeit: Wo Text ist, ist auch Lesen, so im Sinn der zweiten: Wo Lesen ist, muss auch Text sein. Und indem man präzisiert, dass in diesem Fall nicht von Lesen, sondern von Lesen die Rede war, wird auch aus dem Text Text.192 Wenn das zutrifft, Szilasi, Einführung in die Phänomenologie Edmund Husserls 1959, 91. Wahn 1965, 84, cf. 90, 196/AW 4, 468, cf. 472, 531. 189 Binswanger, ebd. 84/AW 4, 468. 190 Binswanger, ebd. 90/AW 4, 472. 191 Binswanger, ebd. 197–200/AW 4, 531–533. 192 Dies ist das wichtigste Element in Breidbachs Art. Lesen 2008, 195 f. Während dem ersten Fall eigentümlich ist, „daß von Zeichen auf Bedeutung geschlossen wird“, vollzieht der zweite den „Umkehrschluß“, dass Bedeutsamkeit die Erwartung steigert, dass wo Bedeutung ist, da auch Zeichen sein müssen. 187
188 Binswanger,
4. Die Metaphorisierungen des Lesens
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können wir die inverse Taktung der beiden Lesbarkeiten auf die Relation von Lesbarkeit und Erfahrung anwenden. Es gibt zwei Weisen, eine solche Relation herzustellen; im Sinn der ersten Lesbarkeit so, dass gemutmaßt wird: Wo Lesbarkeit ist, ist auch Erfahrbarkeit, und im Sinn der zweiten umgekehrt. Dieser Wechselperspektive wäre nur zu entkommen, wenn wir im Zug des Lesens den Gesichtspunkt der Erfahrung vermeiden, unterdrücken oder ausgrenzen könnten, um es beim l’art pour l’art der Lesekunst zu belassen. Dies scheint nur bei der absoluten Lesbarkeit sinnvoll, die Lichtenberg im Blick hatte. Deren „Alles in Allem“ ist aber von Nichts in Nichts kaum zu unterscheiden. Daher bleibt nur der Weg, einmal, ausgehend vom Lesen, zu fragen, warum es sich die Erfahrung kooptiert, das andere Mal umgekehrt, ausgehend von der Erfahrung, zu suchen, warum sie zum Lesen neigt. Lesen und die Metapher der Erfahrung Dass Lesen zu Erfahrung führt – Walter Benjamins großes Thema193 – wird in der Konstanzer Schule in breiter Front aufgenommen. Begnügen wir uns mit Wolfgang Isers Lesetheorie, deren phänomenologische Ausrichtung von vornherein der Erfahrung nahesteht, pointiert durch Bemerkungen Odo Marquards, die die Brisanz des Vorgehens verstärken. Bereits die Aussortierung des literarischen Textes aus dem Text überhaupt fördert diesen Gesichtspunkt zutage. Das macht die Besonderheit des literarischen Textes, dass er nichts der Erfahrung vollkommen Entsprechendes besitzt. Der durch Erfahrung erschlossenen Welt – wir nennen sie Empirie – attestiert Odo Marquard, der in der Rolle des τειχοσκόπος auf die Geschehnisse in der Arena der Literaturwissenschaft blickt, dass sie in dem Maß, in dem sie als experimentelle Empirie und exakte Erfahrungswissenschaft die Welt zum „Gegenstand möglicher Erfahrung“ macht, ironischerweise bewirkt, dass die Welt ebendadurch aufhört, „Gegenstand möglicher eigener Erfahrung“ zu sein.194 Oder mit Iser: In dem Maß, in dem der literarische Text die „Erfahrung“ als Empirie aus sich ausschließt, schließt er sie in der zur „eigenen Erfahrung“ verwandelten Form ein; literarische Texte werden in und gegen Texte überhaupt konstituiert wie „eigene[.] Erfahrung mit einer potentiellen Erfahrung“.195 Das ist Isers Variante der Figur der Erfahrung mit der Erfahrung. Gerade literarisches Lesen kann es nicht unterlassen, sich den Gesichtspunkt der Erfahrung zu kooptieren. Indem es sich Philip Sidneys Maxime der Literalität – „the Poet […] nothing affirms, and therefore never lieth“196 – zueigen macht und die Diffe193 Stierle, Walter Benjamin und die Erfahrung des Lesens 1980. Regehly, ‚Vom Geiste des Buchstabens‘ 1993. 194 Marquard, Krise der Erwartung – Stunde der Erfahrung 1982, 26 f. 195 Iser, Die Appellstruktur, 232. 196 Sidney, The defense of poesy 1579/80, 235. Cf. Iser, Die Appellstruktur, 249; Der Akt des Lesens, 25.
232
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renz zwischen Erfahrung und eigener Erfahrung ins Unermessliche steigert, entsteht allererst die Aufmerksamkeit auf eigene Erfahrung als eine solche mit und gegen die Erfahrung. Um diese zu fassen, bringt Iser, wie vor ihm Szilasi und Binswanger, Husserls Beschreibung des inneren Zeitbewusstseins als Protention (Erwartung) und Retention (Erinnerung) und die wechselseitige Suspension beider ins Spiel,197 und damit die Grundstruktur zweidimensionalen Lesens, die der zweidimensionalen Grundstruktur der Texte genau entspricht. Dem verleiht Iser Ausdruck, indem er die Textmetaper der Verstrickung, die ihm durch Wilhelm Schapp nahegebracht worden war,198 auf das Lesen überträgt. Im Verstricktsein entsprechen sich Lese‑ und Textstruktur; es ist lesend, dass wir „in die Texte verstrickt“ sind.199 Indem aber Lesen vonstattengeht in Verschränkung von Erwartung und Erinnerung, die sich gegenseitig suspendieren, wird es selbst zur Erfahrung, jedoch so, dass es sich um Erfahrung mit der Erfahrung handelt. Wenn jetzt von der „Erfahrungsstruktur des Lesens“200 gesprochen wird, dann ist damit nicht Erfahrung überhaupt gemeint, sondern Erfahrung mit der Erfahrung, und diese hebt sich von Erfahrung überhaupt als „ästhetische Erfahrung von Erfahrung“ ab, ja, „ästhetische Erfahrung macht den Erfahrungserwerb selbst bewußt“; ihr „transzendentales Moment“ steht für die Erfahrbarkeit. Man kann zwar Marquards Auffassung der ästhetischen Erfahrung als bloßem Stattdessen und bloßer „Kompensation“ misstrauen,201 aber die Unterscheidung von transzendentaler Erfahrung und Erfahrung schlechthin, die ihr zugrundeliegt, bleibt in Kraft. Und wie transzendentale Erfahrung – als Verstrickung202 – zur Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt wird, so auch der literarische Leseprozess für das Lesen und der literarische Text für den Text überhaupt. Erfahren und die Metapher des Lesens Dass umgekehrt die Erfahrung sich zu ihrer Erhellung das Lesen kooptiert, geschieht bei Immanuel Kant zu Beginn der transzendentalen Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft, ein vielzitierter Passus.203 Dass dies geschieht, ist deshalb so bemerkenswert, weil die bisher eingeschlagene Richtung vom Lesen zur Erfahrung für Kant von vornherein ausgeschlossen zu sein scheint. Seine 197
Iser, Der Lesevorgang, 256 ff, 260. Schapp, In Geschichten verstrickt 21976. 199 Iser, ebd. 270. 200 Iser, Der Akt des Lesens, 216. 201 Marquard, ebd. 217. 202 Iser, Der Akt des Lesens, 210: „Das Verstricktsein als Erfahrungsbedingung“. 203 Weshalb das Thema des Lesens beim vorkritischen Kant ausgerechnet im Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen 1763, A 43 f, WW 1, 804, als eine der Anwendungen dieses Versuchs eine hervorragende Rolle spielt, verdiente eine eigene Untersuchung. 198
4. Die Metaphorisierungen des Lesens
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Urteile über Buchstaben und „Büchergelehrsamkeit“ sind bekannt; Lesen bringe zwar Vermehrung von Kenntnissen, bleibe aber ohne Einsicht, da ohne Begriff und Vernunft.204 Dagegen der Geist, zwar „das belebende Prinzip im Menschen“, steht als Genie in der Gefahr des Missbrauchs.205 Vor die Alternative gestellt, ob der Welt eher durch „Genies“ oder durch „mechanische Köpfe“ gedient sei, müsste Kant sich für letztere entscheiden; diese stiften „mit ihrem alltägigen, langsam am Stecken und Stabe der Erfahrung fortscheitenden Verstande“206 wenigstens keine Unordnung. Kant kann sich den misslichen Ausgang dieser Wahl erleichtern, indem er den psalmischen Stab der Erfahrung ins ansprechendere Gewand eines Buchstabens der Erfahrung kleidet und damit ein Element von Lesekultur in Anspruch nimmt, das zwar für sich allein Erfahrungsleere hervorgebracht hätte, nun aber geradezu als belebend, da geistgewirkt aufgefasst werden kann. Dies ist der anthropologisch-pragmatische Rahmen, in den die auffällige Lesemetapher aus der Kritik der reinen Vernunft und den Prolegomena zu stehen kommt. Die Rolle des erhabenen Genies bleibt in diesem Zusammenhang Platon überlassen, der Ideen erfahrungsübersteigend betrachtet, während der Gegenspieler Aristoteles sich in die Rolle des mechanischen Kopfes gedrängt sehen müsste, wenn nicht die Erfahrung, der er zuneigt, durch die kleine, aber entscheidende Spanne, die sie vom „Stabe“ zum Buchstaben zurücklegt, mit Geist belebt würde. Das ist die Leistung, die das Lesemodell an dieser Stelle zu erbringen hat. An sich schon eingebettet in einen für Kant ungewöhnlich hermeneutischen Kontext,207 schlägt das Hermeneutische auf die transzendentale Dialektik durch. Erfahrung wird durch Empirie nicht erschöpft. Weder geht es darum, wie Platon dem Bedürfnis der Erkenntniskraft auf Höheres zu folgen, noch darum, empirische Daten in mechanistischer Weise zu akkumulieren, sondern darum, „bloß Erscheinungen [zu] buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können“. Und wie Buchstabieren zu denken sei, wird deutlich, sobald „die Begriffe des Verstandes, mit denen sich Aristoteles beschäftigte“, die Kategorien, als „Schlüssel zu möglichen Erfahrungen“ vorgestellt werden.208 Daran schließt sich § 30 der Prolegomena nahezu gleichlautend an. Kategorien, die reinen Verstandesbegriffe, sind mit Aristoteles und gegen Platon zwar auf „Gegenstände der Erfahrung“ gerichtet, aber nicht so, dass mit den Gegenständen der Erfahrung schon Erfahrung zustande gekommen wäre. „Sie dienen gleichsam nur, Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Er204
Kant, Anthropologie 1798, BA 166, WW 6, 548. Kant, ebd. BA 161, WW 6, 544 f. 206 Kant, ebd. BA 162, WW 6, 545. 207 Kant, KrV 11781/21787, A 312 ff/B 369 ff, WW 2, 321 f: gegen Neologismen, für Wiederbelebung toter Begriffe; gegen verschwenderische Synonymie, für Singularität der Bedeutung; gegen literarische Untersuchung, für Besserverstehen des Autors als er sich selbst verstand. 208 Kant, ebd. A 313 f/B 370 f, WW 2, 322. 205
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§ 5 Lesen und Lesen
fahrung lesen zu können.“209 Mit anderen Worten: Gelang einmal, den Stab der auf Gegenstände der Erfahrung bezogenen Kategorien als Buch-Stab zu begreifen, dann ist der Dienst geleistet, der die Gegenstände der Erfahrung genauso in Erfahrung überführt wie der Dienst des Buchstabierens schon drauf und dran ist, zur Herrschaft des Lesens fortzuschreiten. Nur ein Unterschied fällt auf. Warum schiebt sich in der späteren Fassung „gleichsam“ in den Text? Gerold Prauss hat beklagt, das kantische Lesemodell werde zwar oft erwähnt, aber kaum in seinem Erklärungswert zum Zuge gebracht, und zwar in erster Linie durchaus als Vergleich. Wie das Lesen, so die Erfahrung, und wie das Lesen gerade kein Buchstabieren ist, so das Erfahren gerade kein Stehenbleiben bei empirischen Erscheinungen.210 Der Vergleich hat Grenzen;211 sie werden durch Einfügung von „gleichsam“ sichtbar gemacht. Aber in zweiter Linie – so Prauss – gehe es nicht nur um den Vergleich schlechthin, sondern um einen „unvermittelten“, „unmittelbaren Vergleich“, um die brevior similitudo, bei der das sicuti entfällt. Eine solche wird seit Quintilian als Metapher bezeichnet. Und wie die Metapher durchaus eigentlich verstanden werden will, so auch Kants Lesemodell an seinem Ort in der Kritik der reinen Vernunft.212 Hier zeigt sich sogar, dass die Zulassung des Vergleichs in die Irre führt. Der Vergleich gestattet dem Buchstabieren, Buchstabieren zu bleiben. Wenn dieses aber wie üblich bedeutet, die Buchstaben der Reihe nach einzeln zu benennen, dann zeigt sich schnell, dass aus buchstabiertem Ka, A, En, Te kein gelesener Kant wird: die Erfahrung ist blockiert, die hätte freigesetzt werden sollen. Dagegen die Metapher als kürzestmöglicher Vergleich zwingt das Buchstabieren, sich fortzubewegen. Übertragen auf die Erscheinung, die nicht Buchstabe ist und daher üblicherweise auch nicht zu buchstabieren, wird Buchstabe zu Buchstabe und Buchstabieren zu Buchstabieren, und es wird deutlich: Kant spricht in seinem metaphorischen Lesemodell „nicht, auch nicht implizit, über das Buchstabieren von Buchstaben, sondern von vornherein und ausschließlich über ein ‚Buchstabieren‘ von Erscheinungen.“213 Erst wenn Erscheinungen aufgefasst werden als Buchstaben, lässt sich so etwas wie K, a, n, t als Kant lesen.214 Ohne dem Kantischen Lesemodell Einsichten der späteren Lese‑ oder Gestaltpsychologie aufzudrängen, wird klar, dass allein der Übergang von der vergleichenden zur metaphorischen Lesart deblockierend, das heißt lesefördernd wirkt. Kants Lesemodell hat primär nichts zu tun mit Lesen, sondern mit Erfahren, und hier geht es darum, die Elemente der Erfahrung, die Erscheinungen, auf dem Weg 209 Kant,
Prolegomena 1783, A 101, WW 3, 181. Erscheinung bei Kant 1971, 48–51. 211 Prauss, ebd. 55–57. 212 Prauss, ebd. 93–99. 213 Prauss, ebd. 95. 214 Prauss, ebd. 96. 210 Prauss,
4. Die Metaphorisierungen des Lesens
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über die Metaphern des Buchstabens und des Buchstabierens dahin zu bringen, dass sie in die reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien passen wie Buchstaben ins Lesen.
Lesen und Lesen, Erfahren und Erfahren Stellen wir nun die beiden inversen Ansätze gegeneinander, dann zeigt sich, dass nur das Kantische und ihm folgend das Husserlsche Modell dem entspricht, was Blumenberg mit dem großen Wort Lesbarkeit als Metapher für das Ganze der Erfahrbarkeit zum Programm gemacht hat. Von feineren Unterschieden wird sogleich zu reden sein. Aber ihnen vorweg ist fürs erste festzuhalten, dass der gegenläufige Ansatz, der nicht das Lesemodell zur Erhellung des Erfahrens, sondern das Erfahrungsmodell zur Erhellung des Lesens herbeiruft wie in der Konstanzer Schule, dann wohl umgekehrt das Programm der Erfahrbarkeit als Metapher für das Ganze der Lesbarkeit verfolgen wird. Wir sprachen von Lesbarkeit erster und zweiter Ordnung. Hier ist sie. Die beiden Lesbarkeiten werden offenbar durch Changieren der metaphorischen Richtung erzeugt, wie sie in den beiden Ansätzen ausdifferenziert war. Während die Konstanzer Richtung die Literalität des Lesens erhellt auf dem Umweg über die Metaphorisierung der Erfahrbarkeit, erhellt die Kantische Richtung die Literalität des Erfahrens auf dem Umweg über die Metaphorisierung der Lesbarkeit. Weiter als bis zu diesem Wechselspiel, das durch Inversion der metaphorischen Bewegungsrichtung erzeugt wird, gelangen wir nicht. Wir gelangen nie zur Identität des Lesens, nur bis zur Differenz von Lesen und Lesen. Die plakative Gegenüberstellung dieser Art verdient differenziertere Betrachtung. Die im Prinzip korrekte Zuordnung des Husserlschen Modells zu dem Kants innerhalb von ein und derselben metaphorischen Richtung, nämlich der vom Erfahren zum metaphorischen Lesen, lässt unübersehbare Spannungen erkennen. Ohne Zweifel war für Kant Lesbarkeit eine Metapher für das Ganze der Erfahrbarkeit, nämlich für die Welt, dagegen für Husserl und Blumenberg war die Kantische Welt nicht die Lebenswelt, um die es der Phänomenologie geht. Folglich galt es der gewaltsamen Weltverfügung der Neuzeit eine ganzheitlichere Weltbeziehung entgegenzusetzen, und diese – die sanftere Variante – bot sich unter dem Titel der Lesbarkeit der Welt an. Als ob die Diastase Taulers und Luthers215 in nichts aufgegangen wäre: Lesbarkeit der Welt macht aus Welt Lebenswelt. Hier zeigt sich, dass nicht nur wie soeben die Lesbarkeit unhintergehbar in Gestalt zweier Lesbarkeiten unterschiedlicher Ordnung auftritt, sondern dass dasselbe auch der Erfahrbarkeit widerfährt. Auch Erfahrbarkeit begegnet fortan unhintergehbar als solche erster und zweiter Ordnung. Hier ist sie. Odo Marquard zog aus der Konstanzer Inanspruchnahme der Metapher der Erfahrung zur Erhellung des Lesens die Konsequenz, die ästhetische Erfahrung 215
S. Anm. 2–3.
§ 5 Lesen und Lesen
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zu empfehlen als Stattdessen und Kompensation für die Erfahrung selbst, die seinem Urteil nach unwiederbringlich verloren ist. Dem ist zuzustimmen, wenn man daran festhält, dass die Metapher der Erfahrung – und was ist ästhetische Erfahrung anderes als Erfahrung in metaphorischem Sinn – nur zugleich mit der Literalität der Erfahrung gegeben ist, dass also Erfahrbarkeit zweiter Ordnung, selbst als Kompensation, wenn es denn sein sollte, nur mit der Erfahrbarkeit erster Ordnung erstrebt werden kann. Wie schon beim Lesen gesehen, gibt es auch die Einheit der Erfahrung nur als Unterscheidung von Erfahren und Erfahren.
c. Die Unlesbarkeit oder die Allegorien des Lesens Der letzte Schritt kann es nicht sein, den Metaphorisierungen des Lesens noch eine äußerste, gar endgültige hinzuzufügen. Vielmehr gilt es im Rückblick die Außenperspektive einzunehmen und einen Widerhaken zu setzen. Selbst wenn es gelungen sein sollte, laute Dogmatisierungen der Metapher zu vermeiden, so haben wir mit deren leiser Insinuierung in jedem Fall zu tun. Sie gibt vor, als bestünde ein Übergang von Lesen zu Lesen, leicht, unmerklich und sanft. Die Suggestion von Übergänglichkeit, welche durch die Metapher verbreitet wird, nähert sich der verführerischen Äquivokation, als bestünde am Ende zwischen Lesen und Lesen kein Unterschied, als seien sie, wie die Wörter klingen: eins. So entsteht Lesbarkeit der Welt. Indem wir Texten über die Lesbarkeit der Welt in historischer Abfolge gefolgt sind, erzeugten wir die Suggestion, als sei die Lesbarkeit der Welt verhandelt worden. Daher die Anmaßung, etwas zum Ganzen der Erfahrbarkeit gesagt haben zu wollen, daher der Anspruch auf Totalität, der genau das ausschließt, wovon er redet, nämlich die Erfahrung. Selbst wenn es unvermeidlich sein sollte, die Metapher des Lesens zu bilden, wird es noch viel unvermeidlicher sein, der Suggestion der Lesbarkeit die Unlesbarkeit der Welt entgegenzusetzen, gemäß der bekannten Aussage des IV. Lateranums, nach der keine Ähnlichkeit von Schöpfer und Geschöpf so groß ist, als dass nicht die Unähnlichkeit noch größer wäre.216 Hier wird der Widerhaken sichtbar, von dem die Rede war. Er besteht darin, dass keine Lesbarkeit so groß ist, dass nicht die Unlesbarkeit noch größer wäre. Dass den Metaphern des Lesens die Allegorien des Lesens entgegengesetzt werden, in denen das je Größere der Unlesbarkeit sich kundtut, ist allerdings der Allegorie nicht von Anfang an mitgegeben. Auch entspricht es nicht dem mit der neutestamentlichen Parabeltheorie verbreiteten Verhaltensmuster, es sei grundsätzlich gut, sich von der Allegorie ab‑ und der Metapher zuzuwenden. Jedenfalls jetzt ist die umgekehrte Bewegung erfordert. Das Säuseln der Metapher wird überrannt vom Schrecken der Allegorie. Und diese Umkehrung hat ihre Ursache in der Umkehrung, die die Allegorie seit ihren Anfängen genommen hat. Von dort ist es ein weiter Weg bis zur Rehabilitierung der Al216
DH 806.
4. Die Metaphorisierungen des Lesens
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legorie, die Hans-Georg Gadamer proklamierte217 und die seither die Szene beherrscht. Von der Allegorie, wie sie einmal war, kann man allenfalls träumen. Friedrich Ohly, hart geschult am nackten, bedeutungslosen Stein, träumt davon am helllichten Tage; er nimmt die allegorischen Anfänge der Theologie des Lesens bei Hugo von St. Viktor nicht nur wieder auf, sondern hebt sie bis zur höchsten Lebensdringlichkeit. Die Heilige Schrift, Gipfel der Schrift, sticht hervor, weil sie nicht nur Wort-, sondern Dingbedeutungskunde verbreitet; die Bedeutung der Worte ist durch Menschen gesetzt, die der Dinge durch Gott gegeben. Hier sei – so Ohly – der Ort, „eine klare Unterscheidung mit Bestimmtheit zu treffen.“ Die poetische Technik der Personifikation, Verbildlichung oder Versinnbildlichung, die üblicherweise als allegorisch qualifiziert wird, „hat mit dem, was wir hier unter Allegorie zu verstehen haben, nichts zu tun.“ Hier geht es „umgekehrt um die Enthüllung des bei der Schöpfung in der Kreatur versiegelten Sinns der Sprache Gottes, um revelatio […], die aus der stummen Welt der Dinge die Sprache göttlicher Verkündigung vernimmt.“218 Ohne diesen Hintergrund, wie gründlich verloren er auch immer ist, hätte Lichtenberg nichts von der absoluten Lesbarkeit gewusst. Und einerlei, ob der universale Mundus symbolicus des Filippo Picinelli219 und in seinen Fußstapfen die große Emblem-Sammlung von Arthur Henkel und Albrecht Schöne220 als Spätblüte221 der mittelalterlichen Allegorie verstanden werden oder als deren letzte Angstblüte:222 ohne den von Ohly gezeichneten Hintergrund sind sie nicht einmal zu denken. Gadamer, Wahrheit und Methode 1960, 66–77. Ohly, Vom geistigen Sinn des Wortes 1977, 12 f. 219 Picinelli, Mondo simbolico 11653; Mundus symbolicus 11681. 220 Henkel/Schöne (Hg.), Emblemata 1967. 221 Henkel/Schöne, ebd., Vorbemerkungen, xv-xvi. 222 Filippo Picinellis Mondo simbolico sucht die allegorische Lesbarkeit der Welt, das klassische Pendant zur Lesbarkeit der Heiligen Schrift, just zu dem Zeitpunkt weiterzutradieren, in dem die Kunde von deren gänzlicher Nichtigkeit ruchbar wird. Während somit auf der einen Seite die Heilige Schrift als nicht gegeben gedacht werden kann – „etsi scriptura non daretur“, was den Druck auf Lesbarkeit der Welt unendlich erhöht –, wird auf der anderen Seite zunehmend evident, dass die überlieferte allegorische Dingbedeutung über die Dinge, wie sie wirklich sind, gar nichts zu sagen hat. Picinelli – und mit ihm das ganze „emblematische Zeitalter“ – antworten darauf mit der universalen Barockenzyklopädie allegorischer Bedeutungen der heiligen und der profanen Welt. Ob diese als Spät‑ oder Angstblüte der mittelalterlichen Allegorie zu deuten ist, vermag wie kein anderes das Motto „Moriar ne moriar“ (Ja sterben, um nicht zu sterben) zu klären. Weder enthalten im Mondo simbolico bzw. im erweiterten Mundus symbolicus, noch in Henkel/Schönes Emblemata, findet es sich m.W. nur im zehnten Deckenemblem des Kreuzgangs des Augustiner-Chorherrenstifts Wettenhausen, vor dem Eingang zur Gruft (https:// www.klosterwettenhausen.de/geschichte/kreuzgang; Donat, Die Kreuzgangembleme 1983, 51; Russell, Allegoresis 1988, 68, 70, 316). Entstanden um 1680, gehört es in eben die Zeit und an eben den Ort, an dem der Chorherr Augustin Ehrat (1648–1719) den Mondo simbolico 1653 in den Mundus symbolicus 1681 übersetzte, der von dort seinen Lauf durch die Welt des europäischen Barock begann. Als Teil eines Kurses von 24 dem mönchischen Leben gewidmeten 217 218
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§ 5 Lesen und Lesen
Die Rehabilitierung der Allegorie gerade im Zeichen ihres Verfalls verdankt sich nicht nur dem Trauerspielbuch Benjamins – hier wäre insbesondere die Emblemen, deren Inschriften im Umfang zwischen zwei und sechs Worten schwanken, fällt die Inscriptio des zehnten Emblems teils durch Spracharmut (zwei Worte: ne, moriar), teils durch rekursive Erweiterung der Spracharmut (drei Worte: moriar ne moriar) auf. Während sich die pictura des Steinbocks, der dem Jäger entkommt, in Johannes Michael von der Kettens Apelles symbolicus 1699, vol. 1, 643, nr. 331 nachweisen lässt, geht die inscriptio auf Augustin, Conf. I 5,5, zurück: „Noli abscondere a me faciem tuam: moriar, ne moriar, ut eam videam.“ An Ort und Stelle besagt das Emblem: Lieber den Tod erleiden, als der Lebensverheißung der vita monastica verlustig zu gehen. Aber die Schärfe des Mottos kann durch eine solche Applikation nur stumpf werden. Nichts ist unwahrscheinlicher als die Zusammenstellung ganz unwahrscheinlicher Dinge. So hier die von Leben (ne moriar) als Ziel und Zweck von Tod (moriar). Nichts unwahrscheinlicher, als wenn (Euripides, fr. 638; Platon, Gorg. 492e) Leben Tod sein soll, dagegen Tod Leben. Um den direkten Zusammenstoß zu vermeiden, weicht man womöglich auf weichere Motti aus: „Non omnis moriar“ (Ich werde nicht gänzlich sterben; Horaz, Carm. III 30,6; Mundus symbolicus, lb. IX cap. 16 marg. 230: Teilmenge), „Non moriar sed vivam“ (Ich werde nicht sterben, sondern leben; Ps 118[117],17: Alternative), „Fui mortuus et ecce sum vivens“ (Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig; Apc 1,18: zeitliche Abfolge). Aber in „Moriar ne moriar“ wird die Zusammenstellung ganz unwahrscheinlicher Dinge nicht vermieden, sondern provoziert. „Moriar ne moriar“ fällt durch Ultrakürze auf. Emblematische Motti bedienen sich nicht selten der Form des concetto, als deren Mutter die acutezza/agudeza gilt. Der concettistischen Zusammenstellung unwahrscheinlicher Dinge sind zwei Begriffe – Leben und Tod, vita und mors – bereits viel zu viel. Ultrakürze verlangt Reduktion auf einen, aus dessen Vielsinn heraus der concetto entspringt. Erster Anlauf hierzu ist „Peream ne paream“ (Lieber sterben als gehorchen; Mundus symbolicus, lb. V cap. 56 nr. 46), zwar zwei Worte, aber solche mit assonantischem Reim. Fällt aber die Zweiheit der Worte vollends dahin wie in „Pereant ne peream“ (Mögen sie [die weltlichen Besitztümer] zugrundegehen, damit nicht ich zugrundegehe; Wettenhausen, Embl. 18; Mundus symbolicus, lb. XX cap. 6 nr. 105: paupertas monastica), so signalisiert die Differenz von Plural und Singular: der Untergang betrifft sie, nicht mich. Eine neue, nicht zu übertreffende Qualität ist mit „Peream ne peream“ (Ich muss zugrundegehen, um nicht zugrundezugehen; Mundus symbolicus, lb. IV, cap. 56 nr. 598) erreicht. Bei eingetretener klangsinnlicher und grammatischer Ununterscheidbarkeit der beiden Verben – rhetorisch: bei eingetretener Reduktion der Paronomasie auf Palillogie – bleibt als gedanklicher Operationsspielraum nur noch die Negation. Wir meinten zuerst, maximale Unwahrscheinlichkeit entstehe durch Zusammenstellung zweier maximal widersprechender Worte. Nun zeigt sich: Maximale Unwahrscheinlichkeit der allerstrengsten Form geschieht als Tautologie und Negation der Tautologie. Sie geschieht, sobald die Identität von A ist A concettistisch-akut überführt wird in die Differenz von A ist nicht A. Aussagen zum neuen, den Tod überwindenden Leben wie etwa „Non moriar sed vivam“ gewinnen ihre concettistische Form erst durch den Verzicht darauf, das Neue durch ein eigenes neues Wort (etwa vivere, vita) zu benennen. Oder umgekehrt: Der Gebrauch eines eigenen neuen Wortes für das Neue macht die Zusammenstellung unwahrscheinlicher Dinge unwahrscheinlich. „Moriar ne moriar“ (Sterben muss ich, um nicht sterben zu müssen) hat die Form einer selbstbezüglichen Negation im Konjunktiv Präsenz der ersten Person Singular. Zwar nicht Paradox in strengem Sinn (dazu wäre der Indikativ erforderlich), handelt es sich doch um einen performativen Selbstwiderspruch in vollem Umfang. Dieses Motto bildet m. E. den einzigartigen Gipfel (und das Ende) der concettistisch-allegorischen Emblematik. Wenn denn tatsächlich die Allegorie – mit Ohly – aus der stummen Welt der Dinge die Sprache göttlicher Verkündigung vernehmen will, und nichts ist unwahrscheinlicher als dies, dann wird sie ohne
4. Die Metaphorisierungen des Lesens
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Frühromantik zu berücksichtigen –, aber ihm prominent. Aus dem umfassenden Komplex von Trauerspiel vs. Tragödie, Melancholie vs. Furcht und Zittern, Allegorie vs. Symbol und aus der glücklichen Konstellation von Erwin Panofskys und Fritz Saxls Melencolia I, Karl Giehlows Hieroglyphenkunde und Carl Schmitts Politischer Theologie ist in unserem Zusammenhang nur die schmale Spur zu verfolgen, die Benjamin durch Annäherung von Allegorie und Schrift gelegt hat. Generell gilt: Wie Allegorie vs. Symbol, so Schrift vs. Sprache. Wiewohl nicht express zitiert, weist der schriftkundige Franz Dornseiff in diese Richtung. „Allegorie, alles steht mit allem in geheimnisvoller Beziehung“, heißt es gleich zu Beginn.223 Dem folgend beschreiten die drei „Antinomien des Allegorischen“, in denen Benjamin seine Theorie bündelt, den Weg von der Allegorie zur Schrift. – In Hinsicht auf den „Gehalt“ zeigt die allegorische Bedeutung die unauflösliche Dialektik von Erhebung und Entwertung. Sie hat ihren Grund darin, dass das allegorische Alles-mit-allem auf der einen Seite in die höchste Höhe der Theologie reicht, wo Gott alles in allem wirkt224 oder alles in allem sein wird,225 was zum Ausdruck zu bringen Sache von Hymnus und Theohymnie ist; auf der anderen Seite gründet sie in der Kontrafaktur, dass ein „jedes […] ein beliebiges anderes bedeuten“ kann, was an die tiefsten Tiefen einer Welt rührt, „in der es aufs Detail so streng nicht ankommt.“226 Das ist die erste Version der Antinomie des Allegorischen, mit der sie sich bis zum Sakralen erhebt und der Welt zuspricht, in ihr könne nichts ernstlich bedeutungslos sein, und sich bis zum Profanen erniedrigt, weil kein Stück Welt seiner Bedeutungslosigkeit entrinnt. Hatte noch Picinelli versucht, den allegorischen Mehrwert gleichermaßen über Sakrales wie Profanes auszubreiten, so stellt sich unter den Bedingungen der Moderne für Benjamin der Gegensatz von Sakralität und Profanität nicht mehr als ein solcher dar, der der Allegorie unterliegt, die Allegorie unterliegt vielmehr ihm und trägt ihre antinomische Gestalt davon. – Gestalt, das „formale Korrelat“ zur Erhebung und Entwertung des Gehalts, ist denn auch die zweite Ebene der Antinomie, auf der „Konvention“ und „Ausdruck“ sich gegenseitig aufschaukeln. Die Allegorie umfasst beide, „und beide sind von Haus aus widerstreitend“. Sie ist der Widerstreit zwischen Konvention und Ausdruck, oder, wenn man so will, Ausdruck der Konvention wie Konvention des Ausdrucks.227 – Damit ist bereits die dritte Version der Antinomie zugegen, die mit der Schrift gegeben ist. Hier geht es nicht um Schrift als eine Seite eines antinomischen Paars wie bei Schrift und Sprache oder Schrift und concetto und acutezza nicht auskommen. Wie der Concetto „Moriar ne moriar“ das Leben herausschlägt aus dem Tod, so – nur so – vernimmt die Allegorie Wort aus den Dingen der Welt. 223 Dornseiff, Das Alphabet 21925, 1. 224 1. Kor 12,6. 225 1. Kor 15,28. 226 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels 1928, GS I/1, 350 f. 227 Benjamin, ebd. 351.
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Wort, sondern die Schrift wird allein zum Schauplatz der „Antinomik“, die sich bei Gehalt und Gestalt gezeigt hatte. Sie wiederholt sich noch einmal „im Wesen der Schrift selber“. Schrift will, wie wir schon sahen, heilige Schrift sein und ist doch nichts als Buchstabenschrift. Wie die Allegorie, so schwankt auch sie zwischen „sakraler Geltung“ und „profaner Verständlichkeit“, zwischen „eruptive[m] Ausdruck“ und „schnellfertige[r] Technik“. Und während sie sich als Buchstabenschrift am weitesten von der sakralen Geltung entfernt, beansprucht sie diese wieder als Hieroglyphik.228 Wie stark die Entsprechung von Allegorie und Schrift ist, zeigt sich bereits äußerlich daran, dass Benjamins Ausführungen über die Allegorie, der zweite Teil des Trauerspielbuchs, beinahe koextensiv sind mit seinen Ausführungen zur Schrift.229 Um den Zusammenhang beider auf den Punkt zu bringen: Wie Theologie nur denkbar ist als allegorische Theologie – „théologie allégorique“230 –, so tritt sie auch nur in Erscheinung als „Theologie der Schrift“,231 wobei Theologie natürlich beides ist, die zum Sakralen erhobene wie die zum Profanen entwertete. Theologie ist sowohl das mit Tinte Geschriebene, wie „das Löschblatt zur Tinte“, einerseits voll erhabener Theologie, andererseits ihr entwertetes Nichts. „Ginge es […] nach dem Löschblatt, so würde nichts, was geschrieben ist, übrig bleiben.“232 Benjamin handelt nicht von Allegorien der Schrift, sondern davon, dass die Schrift, einerlei in welcher buchstäblichen oder hieroglyphischen Gestalt, der Antinomie des Allegorischen untersteht. Dass der Leser daran teilhat, ist ihm auch ohne weitere Explikation selbstverständlich.233 Erst Paul de Man geht zu den Allegorien des Lesens weiter und versetzt der Unlesbarkeit eine letzte und wie es scheint nicht zu überbietende Zuspitzung. Wir erinnern uns: Die Suggestion der Lesbarkeit der Welt, die durch die mittelalterliche Allegorie aufgebracht wurde und erlaubte, Schrift nicht generell, aber im singulären Fall der Heiligen Schrift so zu lesen, dass dank der Allegorie nicht nur die Wortbedeutung, sondern auch die Dingbedeutung, und damit nicht nur das Buch der Schrift, sondern auch als Pendant das Buch der Welt lesbar würden, bringt bei Umkehrung der Verhältnisse in Frühmoderne und Moderne – das heißt bei Belastung des Buches der Welt mit der Aufgabe, es solle anstelle der zu Unverständlichkeit und Profanität entwerteten Heiligen Schrift der Lesbarkeit, die es in der mittelalterlichen Epoche der Kohabitation gelernt habe, noch einmal aufhelfen – nichts als Unlesbarkeit hervor. UNLESBARKEIT dieser Welt. 228 Benjamin,
ebd. 351. ebd. 339–389. Lindner, Allegorie 2000, 62–68. 230 Benjamin, ebd. 349. 231 Benjamin, ebd. 346. 232 Benjamin, Passagen-Werk, N 7a 7, GS V/1, 588. 233 Benjamin, Ursprung, 361. 229 Benjamin,
4. Die Metaphorisierungen des Lesens
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Dies ist der Status, den Benjamin mit Melancholie beantwortet und mit der barocken Allegorie erklärt. Es ist dieselbe Allegorie, die einstmals, wenn erhoben, Lesbarkeit bewirkte, jetzt aber, weil entwertet, Unlesbarkeit produziert. De Man knüpft daran an und geht darüber hinaus. Um daran anzuknüpfen und um Benjamins Ansatz in den europäischen Kontext vom Barock zur Frühromantik zu stellen, handelt er von Allegorie und Symbol in der europäischen Frühromantik. Frühromantik, das ist der hellsichtige Moment, in dem Friedrich Schlegel der Allegorie vor dem Symbol den Vorzug zuwies.234 „Mit andern Worten: alle Schönheit ist Allegorie. Das Höchste kann man eben weil es unaussprechlich ist, nur allegorisch sagen“, heißt es 1800 im Gespräch über die Poesie.235 Während das Symbol die „Möglichkeit einer Identität der Identifikation“ von Sprache und Ding suggeriert, befördert die Allegorie „das negative Moment“ der „Distanz zum eigenen Ursprung“ und des „Verzicht[s] auf den Wunsch und die Sehnsucht nach dem Zusammenfallen“ von Sprache und Ding. Sie stellt die Sprache in die „Leere“ der „Differenz“. De Man bleibt dabei nicht stehen, „das Überkreuzen oder den Chiasmus von zwei Arten der Lektüre“, erhobener und entwerteter, als Allegorie zu bezeichnen, sondern geht dazu über, „LESEN selbst zu allegorisieren“.236 Das Allegorische – so de Man – „bedeute[.] genau das Nichtsein dessen, was es vorstellt“,237 sodass die Allegorie des Lesens die einzige Aufgabe hat, die Unmöglichkeit des Lesens vorzustellen.238 Dieser Sachverhalt ist einfach, und zugleich nur zu haben als doppelter. Paul Celans eben zitierter Satz von der Unlesbarkeit dieser Welt ist als solcher uneingeschränkt lesbar, nur durch seine Lesbarkeit kommt nichts als Unlesbarkeit an den Tag.239 UNLESBARKEIT dieser Welt. Alles doppelt.
Celans Satz wird zum Modell für Lesbarkeit überhaupt, denn während auf der einen Seite gelesen wird, breitet sich auf der andern Unlesbarkeit aus. Noch einmal wird der einfache, wiewohl doppelte Sachverhalt deutlich, wenn man das Wort Lesen ins Auge fasst. Seiner hohen Negativität und Nicht-Referentialität wegen ist es unmöglich, Identität des Lesens mit sich selbst zu gewinnen; es ist „für immer unmöglich, LESEN zu lesen“.240 Aber es ist möglich und nötig, LESEN allegorisch zu lesen: der angemessene Ausdruck dafür, dass 234
de Man, Allegorie und Symbol 1969, 406. Friedrich Schlegel, Gespräch über die Poesie, Athenäum 3, 1800, 107, FSKA 2, 1967, 324. Sörensen (Hg.), Allegorie und Symbol 1972, 158: „allegorisch“; Lesart 1823: „symbolisch“. 236 De Man, Allegorien des Lesens 1988, 110/Allegories of reading 1979, 77 „allegorizing […] Reading itself“. 237 Benjamin, ebd. 406. 238 De Man, Allegorien, 111: „Die Allegorie des Lesens erzählt von der Unmöglichkeit des Lesens.“/Allegories, 77: „The allegory of reading narrates the impossibility of reading.“ 239 Paul Celan, Schneepart 1971, 12. Hamacher, Unlesbarkeit 1988, 23. 240 De Man, Allegorien, 111/Allegories, 77: „it is forever impossible to read Reading.“ 235
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das Gemeinte stets etwas anderes ist als das Gelesene, und nicht nur anderes, sondern das Gegenteil. So erscheint Lesen als performativer Selbstwiderspruch und gelesene Unlesbarkeit als Modell für Lesen überhaupt.
§ 6 Literatur und Liturgie Die große Linie der zweiten Hälfte der Lesetheologie ist vorgezeichnet, sie muss sich nun im Detail bewähren. Warum Fortgang mit Literatur und Liturgie? Das Doppelthema eröffnet zwei Perspektiven und drei Übergänge. Einerseits führt Literatur und Liturgie die Linie der linken Titeltermini fort. Wir verlassen den Buchstaben, mit dem begonnen wurde, in keiner Weise, wir verlassen auch Schrift und Text nicht, wenn wir zur Literatur weitergehen. Der Terminus Literatur erinnert daran, dass man sich noch bei den litterae befindet, wiewohl in präzisierungsbedürftiger Weise. Die Schritte, die hinter uns liegen, müssen nicht noch einmal gegangen werden. Der Buchstabe wurde präzisiert durch Schrift, Schrift durch Text, und jetzt steht an, den Text durch Literatur zu präzisieren. Inzwischen dürfte diese Art des Fortgangs so unspektakulär wie habituell geworden sein. Der erste vorbereitende Arbeitsgang soll daher Vom Text zur Literatur heißen. Die Form der Asymmetrie, die auf jeder Stufe in dieser oder jener Variante aufgerufen wurde, steht weiterhin in Geltung. Jetzt lautet sie: Alle Literatur ist Text, aber nicht alle Texte sind Literatur. Doch kaum gehen wir die Reihe der Asymmetrien zurück bis zur ersten: Alle Literatur ist Buchstabe, aber nicht alle Buchstaben sind Literatur, entsteht die Frage: Wird nicht der Buchstabe jetzt, mit der Literatur, erst richtig Buchstabe? Wenigstens der Terminus Literatur prätendiert, erst mit ihm könne mit einigem Belang von litterae die Rede sein. Andererseits soll die Linie fortgeführt werden, die durch die rechtsseitigen Begriffe entsteht. Wohin treibt die Reihe, die mit dem Laut beginnt und mit Sprache und Rede fortgeht? Handelt es sich jeweils um Aspekte der Grundopposition von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, so ist schnell klar, wohin die Reise geht. Man mutmaßt, der mechanischen Technik auf der einen Seite stehe auf der andern der lebendige Puls, der Herzton gegenüber. So marschiert die rechte Reihe ungesäumt zum vollen Leben, und das ist wohl kaum etwas, vor dem man sich fürchten müsste. Fürchten muss man sich allerdings davor, vom Leben zur Unzeit und an der falschen Stelle geredet zu haben. Deshalb ist Literatur und Leben kein angemessenes Thema. Die Sparsamkeitsregel fordert, durch gründlichen Aufenthalt auf der linken Seite die rechte möglichst lange hinauszuzögern. Nicht etwa, um Leben hinauszuzögern, vielmehr um das schon vorausgesetzte Leben in den Blick zu bekommen. Wie bisher von der Vermutung ausgegangen wurde, Buchstabe, Schrift, Text enthielten bereits zum guten Teil, was zu Laut, Sprache und Rede vorgetragen werden kann, so auch jetzt. Der Literatur kann man sich nur in der Erwartung zuwenden, sie sei bereits Leben,
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und anders wollen wir vom Leben nicht reden. Ist es unschmackhaft, eine Opposition von Literatur und Leben zuzugeben, sind doch die Oppositionen nicht zu übersehen, die von der Literaturwissenschaft regelmäßig gezogen werden, sobald sie ihren Gegenstand zu begrenzen sucht. Zwar geringeren Kalibers, sind sie Oppositionen gleichwohl. Vieldiskutiert ist die Opposition von Literatur und Kultur, und sie bietet sich für den sechsten Paragraphen wie von selbst an. Allerdings handelt es sich beim Übergang zur Kultur im Vergleich zu den gemessenen Schritten vom Laut zu Sprache und Rede um einen Riesenschritt mit allen Anzeichen von Maßlosigkeit. Nun brechen Fragen auf wie Literatur und Bild, Literatur und Musik. Und nicht nur das Feld der Künste geht auf. Sondern zum artistischen Handeln treten hinzu poietisches, praktisches und gesellschaftliches Handeln, das im Vergleich zum Sprechen völlig unterbelichtet war. Kommt aber mit dem Sammelbegriff Kultur dies alles, kommt bei geringer Abtönung auch Literatur und Kult und bei Akzentuierung des Handelns Literatur und Ritual. Und selbst Literatur und Liturgie taucht am Horizont auf, Liturgie verstanden als Abbreviatur und Kompendium kultureller Kräfte. Ein Grund, der verlangt, einen dieser Titel auszuschließen, ist nicht sichtbar. Aber das ist noch kein Grund, sie einzuschließen. Gefährden nicht Kultur, Kult, Liturgie – wie eben schon Leben – mit der Maßlosigkeit ihrer Prätention jegliche Disziplin? Also gilt es, nach einem Zwischenbegriff Ausschau zu halten, der der Literatur so nahe steht, dass er fast in ihr aufgeht, aber auch so fern, dass er nicht mit ihr verwechselt werden kann. Es ist der Begriff der Wiederholung.
1. Drei Übergänge Das erste Element unserer Aufgabe, die Literatur, war zu gewinnen durch Rückgriff auf § 4 Text und Rede. Hier liegt der Übergang vom Text zur Literatur. Er ist der erste. Was darüber hinaus aussteht, ist der Rückgriff auf den fünften Paragraphen, der unmittelbar zurückliegt. Er war auffällig, weil er die Reihe nicht fortsetzt, sondern reflektierend aus ihr hervortritt. Handelte es sich in Text und Rede um Gegenstände der Betrachtung, so in § 5 Lesen und Lesen um die Art der Betrachtung. Sobald Reflexion eintritt, kommt es zum Verhältnis, dann auch zum Verhältnis des Verhältnisses usw. Nicht nur dadurch tanzt der fünfte Paragraph aus der Reihe, sondern zuerst und zunächst durch die irritierende Repetition von ein und demselben Wort, eine Figur, die in keiner Überschrift der Lesetheologie wiederkehrt. Und wie sich auf der einen Seite der Verdacht der Leerheit und Echolalie erhebt, entsteht auf der andern die Befürchtung, es solle das Versprechen künftiger Fülle und Überfülle ausgerufen werden. Was auch immer, es handelt sich um eine Figur der Verdopplung oder der Wiederholung, die entsteht, sobald Verhältnisse reflektiert werden. Um Wiederholung wahrzunehmen, bedarf es der Aufmerk-
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samkeit im Modus von Erfahrung der Erfahrung. So hilft der Rückbezug auf Lesen und Lesen, das Stichwort aufzufinden, das sammelnde Kraft genug hat, um als Zwischenbegriff zu dienen. Es ist der Begriff der Wiederholung, der Vertrauen weckt, er vermöge das Zwischen zu benennen, das der Literatur sowohl hinreichend verbunden als auch hinreichend entgegengesetzt ist. Lesen wiederholt sich. Daher geht der zweite Übergang vom Lesen zur Wiederholung. Wiederholung ist nur ein Zwischenbegriff. Was aussteht, ist der Übergang auf der rechten Seite. Der dritte Übergang geht daher, analog zum ersten, von der Rede zur Liturgie. a. Vom Text zur Literatur Texte zeigen – lautet die These – trotz ihrer Vielfalt Einheitlichkeit darin, dass sie von wesentlich antinomischer Gestalt sind: Geschlossenheit/Offenheit, Wiederholbarkeit/Unwiederholbarkeit, Syntagmatik/Paradigmatik, Begrifflichkeit/Unbegrifflichkeit. Das sind äußerst abstrakte Begriffe, und doch korrespondieren sie auffallend mit der Konkretion der Texte. Sei es als Textil oder Figur: Texten liegt Anschaulichkeit zugrunde, Sichtbarkeit und Materialität. Dabei gilt die Minimalforderung, von Text sei erst zu reden, wenn über die sukzessive Verbindung von Schriftelementen hinaus die Brechung der Zeile hinzukommt. Es läuft nicht bloß die Sukzession fort, sondern es rückt Sukzession an Sukzession, nicht nur als Nebeneinander, sondern als Nacheinander. Das ist Textilität der Texte. Von Text ist zu reden, wenn nicht nur die Zeile, sondern Zeile um Zeile erscheint und Unterbrechung eintritt. Hier erhebt sich die Frage: Wenn das Text ist, braucht es dann den Übergang vom Text zur Literatur? Ist nicht mit der Beschreibung des Texts die Literatur hinreichend mitbeschrieben? War die Minimalforderung an den Text bereits zu voraussetzungsreich, zu intrikat, um nicht über die Literatur mitzuverfügen? In diesem Fall bleibt der Literatur nichts Besonderes; besteht kein Unterschied, bedarf es keines Übergangs. Natürlich ist mit der Beschreibung von Text bereits über die Literatur mitverfügt, sofern diese nichts anderes ist als Text. Aber die notwendige Bedingung ist nicht die hinreichende. Worin besteht die Differenz zwischen Text und Literatur? Ungemach droht nicht nur vonseiten des Textes, der so stark ist, dass er die Literatur in sich auflöst, sondern auch vonseiten der Literatur, deren Begriff so schwach angesetzt wird, dass sie den Übergriffen des Textes nichts entgegenzusetzen hat. Das Rezensionsinstitut der Theologischen Literaturzeitung dehnt den Terminus soweit, dass als Literatur durchgeht, was unter literarischen Gesichtspunkten nie durchgehen wird. Nicht nur der Text droht übergriffig zu werden, sondern auch die Literatur zu nachgiebig, um klare Kante zu zeigen. Gehen wir zurück zu Paul Ricœurs Antwort, die im Paragraphen über den Text tonangebend war. Im Bestreben, Buchstabe, Schrift und Text sachlich so
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früh wie möglich anzusetzen, setzt er sie an die Stelle von Laut, Sprache und Rede, die ausbleiben; schriftliche Kommunikation ist nicht Fortsetzung der mündlichen mit zweitrangigen Mitteln, vielmehr rückt der Text erstrangig an die Stelle des Gesprächs. Fordert der Dialog den anwesenden Gesprächspartner, dessen Stimme vernommen, und die anwesende Welt, auf die gezeigt werden kann, so eröffnet die Lektüre von Schrift, Text, Buch, weit entfernt davon, sich mit Verschriftlichung des Gesprochenen zu begnügen, einen von Oralität abstechenden Modus der Literalität. Die Präsenz des Sprechers verkehrt sich in die Absenz des Autors, und die Einflüsterungen der omnipräsenten Welt müssen verstummen, sobald der Text den Bezug auf Welt in Suspens und Schwebe versetzt. Ricœur mischt seiner Beschreibung dramatische Züge bei; es geschieht Umwälzung nicht nur im Verhältnis zum Subjekt oder zu Autor und Leser, sondern auch im Verhältnis zum Objekt oder zur Welt. Nun tritt der Text an die Stelle des Sprechers und spricht selbst, und ebenso tritt der Text an die Stelle der Welt und bildet seine eigene. Jedoch die Spannung wird nur soweit getrieben, dass sie nicht reißt; die Loslösung vom wirklichen Sprecher und von der wirklichen Welt ist aufgeschoben, nicht aufgehoben. Die Welt des Textes und der Texte untereinander wird ebenso zur „Quasi-Welt“, wie wohl auch der Autor ein Quasi-Subjekt gewesen sein muss. Das ist die Stelle, an der Ricœur Flagge zeigt. „D[as] Verhältnis von Text zu Text bringt im Zuge der Tilgung der Welt […] die Quasi-Welt der Texte oder der Literatur hervor.“1 Flugs hat sich Literalität in Literarität verwandelt, und mit der Antwort auf Was ist ein Text? steht unverhofft die Antwort im Raum, was in emphatischem Sinne Literatur ist. Sie lautet: Literatur entsteht, sobald ein Text seine eigene Welt bildet. Fallen Text und Literatur vorschnell zusammen, sind zwei Fehlerquellen denkbar, bei der Literatur oder beim Text. Entweder wird kritisch entgegnet: Was hier Literatur genannt wird, ist noch nicht Literatur. Zusätzliche Kennzeichen werden gefordert, wenn aber Kennzeichen, dann auch Restriktionen, um Literatur strikt zu erfassen. Oder es wird kritisch gefragt, ob die Beschreibung von Text nicht zu schnell zu weit vorgeprescht ist, ob sie nicht hätte früher angehalten werden müssen. Aber wo? Ricœurs Textbegriff entfaltet nur, was bereits im ersten Ansatz enthalten war. Damit wird die kritische Anfrage zurückgeschickt in den Ansatz; er hätte wohl weniger fulminant sein sollen, um einen schwachen Textbegriff zu erzeugen, der die Differenz zur Literatur offenlässt. Ebenso muss sich unsere eigene Antwort auf die Frage, was ein Text sei, der Kritik stellen. Zu sehr steht sie im Verdacht voreiliger Behauptungslust, um nicht jetzt, wo es um Literatur geht, in die Bredouille zu geraten. Enthält die in ständigem Blick auf sinnliche Materialität, Textilität und Figuralität gegebene Antwort, ein Text liege vor, wenn er aus mindestens zwei Zeilen besteht, be1
Ricœur, Was ist ein Text? 1970, 84.
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reits das Zuviel, das nun schadet? Ist nicht am Tag, dass, wenn zwei Zeilen Text sind, evidentermaßen auch schon eine Text gewesen sein muss? Dass also die vorgetragene Antwort alles Zeug enthält, sich selbst ad absurdum zu führen und einen schlichteren, anspruchsloseren, schwächeren Textbegriff hervorzubringen, der die Abgrenzung zur Literatur erleichtert? Man kann es drehen und wenden wie man will: Die eine Zeile, der keine zweite folgt, was soll sie gewesen sein, wenn nicht Text? Außer Text gibt es keine Bezeichnung für sie. Die Bredouille scheint unentrinnbar. Ihre Auflösung kommt von der entgegengesetzten Seite. Zwar ist unwidersprechlich, dass, wenn zwei Zeilen Text sind, auch schon eine Text gewesen sein muss, aber daraus ergibt sich nicht, dass zwei Zeilen genügen, um sie zuverlässig Literatur zu nennen. Das Telefonbuch besteht geradezu ausschließlich aus Zeile an Zeile, ohne dass es zur Literatur gehört. Also nützt zur Unterscheidbarkeit von Text und Literatur die Schwächung des Textbegriffs durch Eindimensionalität nichts. Ein schwacher Textbegriff kann am Ende auch den Begriff der Literatur nur schwächen. Es empfiehlt sich daher, die Zerdehnungen des Textbegriffs sich selbst zu überlassen und den vorgetragenen starken, weil zweidimensionalen Textbegriff darauf zu befragen, was mit ihm geschieht, wenn Literatur entsteht. Was ist Literatur?
b. Vom Lesen zur Wiederholung Auch das zweite Stichwort, die Wiederholung, ist nicht leicht zu gewinnen. Wie Literatur mit Text vorschnell in eins zu fallen droht, so auch Wiederholung mit Lesen. Besteht doch kein Zweifel: Lesen erstreckt sich, soweit Texte reichen. Und ebenso besteht kein Zweifel, dass die Wiederholung im Text steckt, solange es ihn gibt. Lesen ist nichts als die aufmerksame Wahrnehmung, wie Elemente des Textes durch Wiederholung auftauchen und bis zur nächsten Wiederholung wieder versinken. Ist also Wiederholung zur Stelle, solange es das Zusammenspiel von Text und Lesen gibt, dann ist sie mit Text und Lektüre gleichursprünglich und gleichumfassend. Sie ist weit entfernt davon, dass vom Lesen zur Wiederholung ein Übergang stattfinden müsse. Immerhin sollte eine Zurechtrückung des ersten Eindrucks insofern möglich sein, als die Form des Übergangs bereits durch die zurückliegende Variante vom Text zur Literatur deutlich geworden ist. Durch den Übergang zur Literatur sind wir den Text nicht los, kommen vielmehr in intensiverer Weise auf ihn zurück. Der Text bleibt auch in der Literatur zugegen, verlangt aber, ein Fortgang solle wahrgenommen werden, nicht ein solcher mit ihm und von außen, sondern in ihm und von innen, und wenn wahrgenommen, dann auch vollzogen. Ebenso beim Übergang vom Lesen zur Wiederholung. Die Erwartung kann nicht sein, das Lesen solle zurückgelassen werden, sondern mit der Wiederholung kommen wir in intensiverer Weise darauf zurück. Lesen ist
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nicht gleich Lesen, es kennt Unterschiede, sagt Weimar. Es muss sich mit dem Gelesenen verändern. Deshalb war es nötig, Lesen und Lesen zu differenzieren. Mit Lesen und Lesen ist aber die Wiederholung zugegen. Textlesen ist etwas anderes als Literaturlesen, und dies hängt offenbar damit zusammen, dass die Wiederholung, obwohl kopräsent und koextensiv mit Lesen, Unterschiede kennt, wenn aber Unterschiede, dann auch Übergänge, die bewirken, dass sich die Gangart der Wiederholung verändert, ohne aus dem Lesen herauszufallen. So ist die Form des Übergangs hier und dort durchaus dieselbe. Wenn sie dieselbe ist, warum und wozu wird unterschieden zwischen dem Übergang zur Literatur und dem zur Wiederholung? Ist die Wiederholung bereits mit dem Text gegeben, hat sie mit der Literatur schon eine Intensivierung erfahren, und es ist klar: der Literatur sitzt die Wiederholung so sehr im Filz, dass von Opposition zu ihr keine Rede sein kann. Literatur ist nichts als eine bestimmte, noch zu bestimmende Weise von Wiederholung. Indem dies vorausgesetzt wird, zeigt sich, dass der Druck auf Differenzierung keineswegs nachlässt. Die Wiederholung, die durch die Bedingungen von Literatur gesättigt wird, erweist sich durchaus als ungesättigt in anderer Hinsicht. Alle Dichtung ist Literatur, aber nicht alle Literatur ist Dichtung. Es werden sich manifeste Widerstände erheben, extreme Formen der Lyrik der Literatur zu inkorporieren. Lyrik geht in Literatur auf und steht gleichwohl von ihr ab. Nicht aber wird man sagen können, dass im gleichen Zug der Gesichtspunkt der Wiederholung obsolet wird. Im Gegenteil meldet sich eine durch Literatur ungesättigt gebliebene Intensität von Wiederholung. Und soweit Lyrik reicht, reicht auch die Wiederholung. Wiewohl wesentliches Kennzeichen von Literatur, weist die Wiederholung über die Literatur hinaus. Sie weist über sie hinaus wie sie schon über den Text hinausgewiesen hatte, zu dessen unveräußerlichen Kennzeichen sie ebenfalls gehörte. Weder Text noch Literatur sind in Sachen der Wiederholung das Ende der Fahnenstange. Und ob und in welcher Weise Dichtung und Lyrik dazu dienen, ein solches Ende zu fixieren: darauf steht die Probe aus. Also besteht ein Ungleichgewicht zwischen der Bearbeitung der Frage nach der Literatur und der Bearbeitung der Frage nach der Wiederholung, die wir jetzt in Angriff nehmen. Wir halten an der Wiederholung in den Grenzen der Literatur fest, um desto schärfer erkennen zu können, was darüber hinaustreibt. Ein letzter, nicht unproblematischer Gesichtspunkt tritt auf. Die Unterscheidung von Lesen und Lesen, von der wir herkommen, zielte nicht nur darauf, verschiedene Arten innerhalb des Lesens zu unterscheiden, sondern das Lesen selbst an seine Grenze zu führen, an der es nicht umhin kann, zu Lesen zu alterieren. Ersteres tut der Literalität des Lesens keine Einbuße, letzteres bewirkt, dass es in die Lesemetapher kippt. So auch jetzt. Wiederholung ist nicht nur Merkmal von Texten schlechthin, nicht nur ein solches von literarischen und, davon unterschieden, von poetischen und lyrischen, sondern sie führt
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über alle Texte, die Ricœur als Quasi-Welt bezeichnet hat, hinaus ins Andere der Texte, in die Welt, die sich den Annehmlichkeiten der Quasi-Welt entzieht. Hierauf war die Metapher der Lesbarkeit der Welt gerichtet, hierauf führt die Wiederholung, doch ohne metaphorischen Bruch. Was ist Wiederholung?
c. Von der Rede zur Liturgie Zwei Beobachtungen begleiten den dritten Übergang, der die Reihe von Phänomenen der Mündlichkeit fortsetzt bis zum Zusammenspiel beliebig vieler Personen, die sprechen und handeln. – Auf der einen Seite ist es keine Schwierigkeit, den Ansatz zur Liturgie nachzuweisen in der Rede selbst. Dass jemand redet, kann schwerlich abgezogen werden von den konkreten Umständen solchen Redens. Es ist zwar nur die Stimme, deren sich der Redende bedient, und von der Stimme nur gerade so viel, wie zur Bildung von Sprachlauten, also nichtlauten Lauten, nötig ist. Aber schon kehrt sich das Verhältnis um. Zwar nur Mittel, von dem Beherrschung erwartet wird, ist die Stimme zugleich Medium mit einem gewissen Grad an Unverfügbarkeit, sitzt nicht nur im Kehlkopf, was, wenn es so wäre, unangenehm zu hören wäre, sondern benötigt am Ende nicht weniger als den ganzen Leib des Redenden zur Resonanz, um auf diese Weise auch Leiber, nämlich die der Hörenden, zu fügen zu einem Leib. Kommen mit der Rede Stimme und Leib, so kommt viel, wenn nicht alles: die Bewegtheit des Leibes, die Beseeltheit jeder einzelnen Stelle und im Ganzen, seine Zeichenhaftigkeit, Gestik, Performanz usw. Also wird man sich als leibliches Wesen, einerlei ob willig oder unwillig, darein fügen, dass es schwer ist, die Rede von ihren konkreten Umständen zu separieren. Dies anerkennt die Rhetorik, indem sie das Liturgische nicht als etwas betrachtet, was zur Rede hinzukommt oder nicht, sondern als etwas, was immer schon in ihr steckt. Sie nennt es actio und widmet ihr mehr als bloß Nebenbemerkungen. Actio ist nach inventio, dispositio, elocutio, memoria der fünfte und letzte Teil, in dem die rhetorische Kunstlehre zum Ziel kommt. Dabei schwankt actio zwischen Reden und Handeln, von welch letzterem sie den Namen trägt. Aber auch auf das Erstere kann sie nicht verzichten. Eine Rede will gehalten werden, will zur pronuntiatio nicht erst befördert werden, sondern zeigen, dass sie pronuntiatio schon von Anfang an war. „Quam pulchri super montes pedes adnuntiantis et praedicantis pacem“ Isaias 52,7. Mit dem Begriff actio anerkennt die Rhetorik das Liturgische in ihr selbst, dessen Namen sie nicht kennt und nicht kennen kann. Genug, dass sie die Sache des Liturgischen kennt. – Auf der anderen Seite meldet sich, nicht zuletzt als Folge des eben Ausgeführten, der tiefsitzende Wunsch, das Liturgische von der Rede möglichst zu entfernen, um der Rede selbst Platz zu schaffen, die nicht nur Stimme ist, sondern Verbalisierung, Argumentation, Eleganz. Die langlebige, der Aufklärung zu ver-
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dankende Definition von Liturgie, sie sei alles am Kult, was nicht freie Rede ist, kommt von daher. Es muss das Interesse der Rhetorik sein, die Rede in ihrer sprachlichen Gestalt so schlank wie möglich zu halten, die Neigung zum Asianismus durch schlichte Attizität zu bekämpfen usw. Daher wird man bestrebt sein, zwischen Rede und Liturgie eine scharfe Grenze zu ziehen und diese durchzusetzen auch gegen Widerstand, soweit es nur geht. Wird man etwa, gerade im Blick auf die Verfilzung von Stimme und Leib, den Leib des Redenden von Kopf bis Fuß in ein schwarzes Gewand hüllen, um ihn, unangenehm und aufdringlich wie er ist, wenigstens optisch wegzustreichen und nur übrigzulassen, was zur nackten Rede unbedeckt bleiben muss, so ist an die Stelle des liturgiepflichtigen Leibes das liturgische Gewand getreten als diejenige Negation von Liturgie, die nun selbst liturgische Valenz gewinnt. Es sind zwei Beobachtungen, die den Übergang von der Rede zur Liturgie begleiten; beide verhalten sich antagonistisch und keine von beiden vermag die andere aus dem Feld zu schlagen. Der Übergang findet statt im Kräftespiel gleichstarker Liturgik und Antiliturgik, und man muss sich nur zur Probe auf eine der beiden Seiten schlagen, um den Wunsch nach der anderen zu stärken. Keine Rede ohne den Wunsch, sie auf Dauer von aller Liturgie zu scheiden. Und wiederum keine Rede ohne den Wunsch, die liturgische actio, die schon in ihr steckt, möge als solche hervortreten. Die Liturgie steht nicht nur in Bezug zu den rechtsseitigen Themen, die mit dem Laut begannen, sondern enthält auch Texte, die zur Seite disziplinierten Lesens gehören. Unter ihnen bilden Psalmen und Lesungen den harten Kern. Sie stehen für Poesie und Prosa, von deren Unterscheidung die Rede war und noch sein wird. Zwar können sie sich annähern bis zur gelegentlichen Vermischung, allerdings unter Voraussetzung einer nicht aufzuhebenden Differenz. Hier ist zunächst zu beobachten, dass Texte Elemente sind, die zum Reden und Handeln der Liturgie, die an sich nicht von der Art von Texten sind, mehr oder weniger von außen hinzutreten. Auch wird man beobachten, dass die Anzahl der Textgattungen sich rasch über Psalmen und Lesungen hinaus vermehrt; Gebete und Ansprachen erweitern den Textkatalog. Zudem wird ab einem bestimmten Grad der Normierung und Regulierung das Bedürfnis der Verschriftlichung den Sprung vollziehen, nicht nur den sprachlichen Gehalt der Liturgie, sondern auch die Art und Weise seiner Aufführung schriftlich zu fixieren, sei es in beschreibenden Angaben zur Inszenierung oder durch Beifügung von Notationssystemen, die alsbald ihrer eigenen Rationalisierungsgeschichte folgen. In jedem Fall kann man sich in Ausziehung dieser Linien den Punkt denken, an dem der gesamte Inhalt der Liturgie, λεγόμενα und δρώμενα, verschriftlicht worden ist und schriftlich tradiert wird. Dann schwindet die Differenz zwischen Text und Liturgie, die soeben als nicht aufhebbar bezeichnet wurde. Nun ist Liturgie in vollem Umfang Text. Man muss diesen Punkt quantitativer Identität ins Auge fassen, um mit der nötigen Emphase die qualitative
2. Was ist Literatur?
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Differenz festzuhalten: Liturgie ist „mehr […] als nur fixierter Text“.2 Für den Zusammenhang der Lesetheologie, die sich minutiösester Schritte befleißigt, ist das Mehr der Liturgie alles andere als erfreulich. Weniger wäre mehr. Bereits zum Erreichen des Mehrs des Textes bedurfte es einer Anstrengung, die sich ungern der Ankündigung weiterer Mehrs aussetzt. Und überhaupt: Wenn der Text ein Mehr zulassen sollte, dann ist es das Mehr der Literatur und nicht das der Liturgie. Hier wird das ganze Ausmaß des Widerstands spürbar, der sich dagegen richtet, die Liturgie in den Zusammenhang des Lesens einzufügen. Es ist wahrscheinlicher, dass der Zusammenhang des Lesens durch die Liturgie zerbricht. Aus Sicht des disziplinierten Textbegriffs, der mit der sammelnden Kraft des Lesens Schritt hält, muss Liturgie erscheinen wie ein Sammelsurium, in dem viel zu viel möglich ist. An dieser Stelle kommt der Zwischenbegriff der Wiederholung ins Spiel. Wiederholung ist Texten wie Reden eigen; den Texten, sofern sie sich, ohne der Gewalt von außen zu unterliegen, zur Literatur fortbilden, den Reden, sofern ihnen, wie soeben behauptet, das Element des Liturgischen von innen her zugehört, sodass ohne Wiederholung Reden nicht möglich wäre. Ob es gelingt, Liturgie in den Verlauf der Lesetheologie ohne Oktroi einzuführen, ist eine offene Frage. Was ist Liturgie?
2. Was ist Literatur? Die Klage, diese Frage werde kaum ernsthaft gestellt, ist Standard. Faktisch begegnet es nicht selten, dass Literaturwissenschaftler aus dem courant normal ihres Fachs heraustreten und sich und ihr Tun erklären. Seit auf der einen Seite Jean-Paul Sartre,3 auf der anderen René Wellek und Austin Warren4 so gefragt haben, jener in gesellschaftspolitischer, diese in fachdisziplinärer Absicht, wurde die Frage oft wiederholt. Die Antworten von Klaus Weimar5 und Joachim Küpper6 stechen hervor, jene durch Genialität und Pfiff, diese durch Skrupulosität und Skepsis, beide aber so, dass sie in die Problematik nicht nur hineinführen, sondern direkt in sie hineinreißen. Im Typ entgegengesetzt, führt der eine, der sich die Gattung der klassischen Formalenzyklopädie zunutze macht, zu einer klaren und eindeutigen Antwort, die wir stark nennen können, während der andere, die Darstellungsform des Essays aufnehmend, zu einer deliberativen Antwort gelangt, die sich im Vergleich zu Weimar 2
Kranemann/Richter, Art. Liturgie 2001, 388. Sartre, Qu’est-ce que la littérature? 11948. 4 Wellek/Warren, Theorie der Literatur 1995, 17: „Was ist Literatur? Was ist sie nicht?“ Wellek, Was ist Literatur? 1978. 5 Weimar, Enzyklopädie der Literaturwissenschaft 21993; ebenso Weimars Beiträge zu: Binder, Literatur als Denkschule 1972. 6 Küpper, Was ist Literatur? 2001. 3
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§ 6 Literatur und Liturgie
schwach präsentiert, und zwar gekonnt schwach. Ein Bezug zwischen beiden besteht nicht; beide gehören versetzten Generationen der Literaturwissenschaft an, beide stehen in Nachwirkung antipodischer, wiewohl benachbarter Orte, Zürich und Konstanz. Und schließlich gestattet die Literaturtheorie einen Ausblick auf die Problematik des Kanons, die umso ungezwungener angeschlossen werden kann, als sie sich aus dem Phänomen des Literarischen von selbst ergibt. a. Die definitive Antwort Das ist die Situation: Texte sind viel; aus der unübersehbaren Vielzahl von Texten muss die „Gruppe von Texten“ ausgesondert werden, die Literatur genannt zu werden verdient.7 Der Versuch, der Literatur Grenzen zu ziehen, wird erschwert, weil auch der Literatur viel ist; es gibt Sekundär‑ und Primärliteratur, Fachliteratur, Klavierliteratur usw. Von Literatur soll nur soweit die Rede sein, als sie Gegenstand von Literaturwissenschaft ist. Auch hier bleibt der Gebrauch des Terminus notorisch instabil. Es konkurrieren Trivialliteratur, schlechte Literatur usw.; vielleicht möchte man sich mit einer Geste der Selbstermannung auf die Seite der guten Literatur schlagen. Oder, wie in der französischen Literatur, auf die Seite der belles lettres. Auf dergleichen spezifizierende Bezeichnungen ist zurückzukommen. In der deutschen Literaturwissenschaft hat sich jedoch mit der Trennung von Sprach‑ und Literaturwissenschaft Ende des 19. Jahrhunderts eine Entwicklung zugetragen, die auf qualifizierende Zusätze verzichtet und Literatur schlechthin als Thema betrachtet. Literatur selbst sei das Wesen, heißt es nun, und es wird sichtbar: Soweit auch der Gegenstand der Literaturwissenschaft zurückreichen mag bis in die Antike, der absolute Gebrauch von Literatur wird erst zu einem Zeitpunkt möglich, der in der Moderne liegt. Vor ihm konnte Was ist Literatur? nicht gefragt werden, und wenn, dann wäre die Frage identisch gewesen mit Was ist Text? Literatur – auch diese Antwort begegnet in der Literaturwissenschaft, wenn auch nur in Randzonen von schwächerer Reflexion – wäre dann die Gesamtheit aller Texte. Fragt man dagegen nach Literatur in spezifischem Sinn, befindet man sich in der Tradition des 19. Jahrhunderts, das aus diesem Grund ein philologisches Säkulum genannt werden darf. Weimar unternimmt es, eine am Ende des 19. Jahrhunderts aufgebrochene Frage mit einer am Anfang desselben Jahrhunderts in Blüte stehenden Form von Wissensorganisation zu verbinden, der Formalenzyklopädie. Damals brillierten Schleiermachers theologische und Hegels philosophische Enzyklopädie; jetzt dienen sie als Paradigmen, um dem Mangelzustand, in dem sich die Literaturwissenschaft seit Geburt befindet, entgegenzutreten. Auf diese Weise entsteht die Enzyklopädie der Literaturwissenschaft, die im Falle Weimars als Mal ihres Nachgebo7
Weimar, ebd. §§ 71–72.
2. Was ist Literatur?
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renseins das unveräußerliche Kennzeichen des ironischen Enzyklopädiezitats an sich trägt. Schon als Form arbeitet die Enzyklopädie mit Begriff und Satz. Mag sie in Weimars Fassung auch in Spiel und Maskerade auftreten, am Ende steht der Satz, und das Ganze besteht aus Leitsätzen. In beidem ist Weimar brillant. Soll Literatur – Literatur schlechthin – eine bestimmte Gruppe innerhalb der Gesamtheit von Texten bilden, muss sie „genau definierte“ Grenzen haben.8 Genau definiert sind sie, wenn sie „klar und eindeutig“ gezogen werden können.9 Die Voraussetzungen Das Ideal von Klarheit und Deutlichkeit mag im Cartesianismus zu erfüllen sein, in der Literaturwissenschaft nicht ohne weiteres. Diese hat nicht mit Bewusstsein schlechthin zu tun, sondern mit bestimmten Texten; ihre Evidenz ist keine unmittelbare, sondern eine durch komplexe Tradition vermittelte. Von vorherein ist das Gebiet der Texte ein solches von mehr oder weniger Evidenz. Daher gilt es, im Licht der größtmöglichen Klarheit zu beginnen und damit ins Unklare vorzudringen. Was das Gesamtgebiet der dichterischen Texte anlangt, hat Platon in Hinsicht auf ihr Produziertsein drei Genera unterschieden: Epen (ἔπος), Lieder (μέλος) und, stellvertretend für Dramen überhaupt, Tragödien (τραγῳδία),10 in Hinsicht auf ihre Produktion zwei Sorten und eine dritte aus beiden gemischt. Die produktiven Prinzipien sind Darstellung (μίμησις) einerseits, andererseits Bericht (διήγησις, ἀπαγγελία), woraus das dramatische und das diegetische Genus entsteht, während das epische durch Mischung beider hervorgebracht wird.11 Platons Entwurf, der das Dramatische und Lyrische stärkt und das Epische schwächt, war vielfacher Transformation ausgesetzt. Was wir für klassisch halten, die Trias Epik, Dramatik, Lyrik, ist Resultat dieser Transformation und hat mit Platon fast nichts mehr zu tun. Von Lyrik ist bei ihm überhaupt nicht die Rede. Nun verschieben sich die Gewichte. Die gleichstarke Zweiheit der Produktionsprinzipien verlagert sich auf Dramatik und Epik, und die Lyrik rückt an die Stelle des Dritten, das nicht aus einem selbstständigen Prinzip erklärt werden kann. Lyrik als Terminus für das dritte Genus der Literatur entsteht nicht vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, und seither vollzieht sich die Umkehrung, dass das dritte Genus in Wahrheit zum ersten wird, dem die anderen nachzuordnen sind.12 Weimar zollt der Lyrik als Terminus keinerlei Beachtung, ihrem Gegenstand 8
Weimar, ebd. §§ 71–72. Weimar, ebd. § 88, cf. § 89. 10 Platon, Rep. II 379a. 11 Platon, Rep. III 394bc. 12 Völker (Hg.), Lyriktheorie 1990. Asmuth, Art. Lyrik 2001, 720: „die allgemeine Aufwertung der Lyrik zur dritten, für das Verständnis von Dichtung nunmehr wesentlichsten Gattung“. 9
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§ 6 Literatur und Liturgie
aber, den er leicht antiquiert Poesie nennt, die allerhöchste. Poesie vertritt bei Weimar die Stelle der Lyrik, die dabei ist, an die Spitze der literarischen Gattungen zu rücken. Wenn aber das 19. Jahrhundert nicht nur als philologisches, sondern auch als poetisches zu gelten hat, dann vervollständigt sich das Bild von dem Hintergrund, aus dem Weimar seine Literaturtheorie gewinnt. Poesie, Drama, Erzählung
Um sich der Frage Was ist Literatur? zu nähern,13 beschreitet Weimar den langen Marsch durch die Textwirklichkeit. Er beginnt mit „Untergruppen“, um am Ende sagen zu können, was die „Gruppe ‚Literatur‘“ ist. Sie will Lyrik, Dramatik und Epik „mit eindeutigen Grenzen“14 und spezifischen Merkmalen umfassen. Die klassische Lehrform der notae poeseos scheint durch. Bei Poesie, Drama und Erzählung geht es um literarische Hervorbringungen, um Literatur, nicht um Poetik als Kunstlehre des Hervorbringens; diese bildet die „Gegenprobe“ zur Literatur.15 Es geht zuerst um die Leser-, dann um die Autorperspektive. Die gewählte Anordnung, die vom Klaren ins Unklarere vorstößt, verrät etwas vom hierarchischen Gefälle der Literaturgattungen, wie es im 19. Jahrhundert gesehen wurde. Nun ist im langen Durchgang zu prüfen, „ob sich die Grenzen weiter hinausschieben lassen, ohne an Eindeutigkeit zu verlieren bzw. wie sie hinausgeschoben werden müssen, um Eindeutigkeit zu gewinnen.“ Herleitungen sind gefragt. „Also ans Werk!“16 Von allen Kennzeichen im Feld des Literarischen dürften die der Poesie17 am unmittelbarsten einleuchten. Das erste: Gedichte sind häufig gereimt. Doch Vorsicht; es gibt Reime, die dem Zufall oder einem auf Ermüdung beruhenden Wiederholungszwang zuzuordnen sind. Reim schlechthin ist kein eindeutiges Kennzeichen; er muss beabsichtigt sein. Nicht gilt, was bequem wäre, „wo Reim, da Literatur“, sondern „wo absichtlicher Reim, da Literatur“.18 Ein Vorbehalt kommt erstmals zum Ausdruck, der fortan alle Kennzeichen begleiten wird. Nicht genügt es, ein etwa aufgefundenes Kennzeichen – vier bei der Poesie, drei beim Drama, zwei bei der Erzählung – schlechthin zum Zuge zu bringen; dieses bedarf vielmehr selbst der Kennzeichnung. Kennzeichen gibt es nur als gekennzeichnete Kennzeichen. Das sind solche, die ihrerseits der Markierung bedürfen, die sie daran hindert, schlechthinnig zu werden. Der Vorbehalt lautet: Aber nur, wenn absichtlich! Nur, wenn mit bestem Wissen und Willen! Läuft etwas gegen den Strich? In der Kunst, besonders der des Redens, gilt: Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Hier umgekehrt: Erst die berechtigte 13 Weimar,
ebd. §§ 162–183. ebd. § 95 Anm. 15 Weimar, ebd.: I. Theorie der Literatur, §§ 71–183; II. Theorie der Poetik, §§ 184–280. 16 Weimar, ebd. § 95 Anm. 17 Weimar, ebd. §§ 96–115. 18 Weimar, ebd. § 99 Anm. 14 Weimar,
2. Was ist Literatur?
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Vermutung einer Absicht19 kennzeichnet das Kennzeichen so, dass es klar und eindeutig als nota poeseos fungiert. Beim Reim, der eine solche Nachjustierung des Kennzeichens als erster auf sich zieht, geht es nicht darum, irgendwelche unterlaufenen Prozesse, unbeabsichtigte, unbewusste, anankastische, als literarisch durchgehen zu lassen, seien sie noch so göttlich oder allzu menschlich, seien sie Enthusiasmos oder Selbstverlust. Sie sind Pseudoinspirationen. Wahre Inspiration ist vor allem eins: harte, geregelte Arbeit. Zum Reim kommt an zweiter Stelle der Rhythmus. Hier geschieht dasselbe. Nur wo Rhythmusabsicht vermutet werden darf, taugt er als literarisches Kennzeichen. Eierndes Rhythmisieren macht keine Literatur. Als drittes Kennzeichen erscheint die Abweichung von der normalen Grammatik. Aber da selbst bei bester Absicht Grammatik nicht jedermanns Sache ist, bedarf es hier nicht nur der Absicht, sondern auch einer solchen, die in bestimmter Weise diszipliniert ist. Es bedarf der in Kenntnis der normalen Grammatik vollzogenen Abweichung. Das ist gemeint, wenn mit einer gewissen Nonchalance gesagt wird: „Die Absicht macht die Literatur.“20 Endlich das vierte Kennzeichen, noch komplexer: die Zeilenteilung. Thematisch ist sie seit § 4 Was ist Text? Sie war bereits Kennzeichen des Textes, nicht erst der Literatur. Alle Texte erlauben Zeilenteilung, unabsichtliche, aus schreib‑ oder drucktechnischen Gründen, absichtliche. Dies reicht nicht aus, um Literatur von Listen und Telefonbüchern hinreichend zu unterscheiden. Hier bedarf das gekennzeichnete Kennzeichen noch einmal der Kennzeichnung. Es genügt nicht, frühere Kennzeichen zum Sukkurs aufzurufen; selbständig soll das vierte Kennzeichen zur Literatur führen. Hierfür zieht Weimar den Gesichtspunkt des Lesens heran; ein Telefonbuch wird anders gelesen als das Poesiebuch. Erst wenn absichtliche Zeilenteilung das Leseverhalten verändert, wird man es als literarisches Kennzeichen anerkennen.21 – Blicken wir zurück. Welche Texte dürfen als literarisch gelten? Durch das Merkmal des Reims: gereimte Gedichte und Dramen, Bauernregeln und Sprichwörter, Merkverse und Werbetexte; durch den Rhythmus: reimlose Gedichte und Dramen, Verserzählungen, rhythmisierte Sprüche und Kunstprosa; durch Abweichung von der Normalgrammatik: experimentelle und Nonsens-Literatur; durch Zeilenteilung als Element von Lesersteuerung: Gedichte, Dramen und Erzählungen, sofern sie nicht schon unter Kennzeichen 1–3 fallen. Im Übrigen können Kennzeichen kumuliert und panaschiert werden. Der bisher als Literatur ausgewiesene Bereich dürfte sich, selbst wenn er teilweise schon auf Drama und Erzählung ausgriff, mit dem decken, was Poesie genannt wird. Das heißt, dass über unpoetische, prosaische Formen des Dramas und der Erzählung weiterhin Ungewissheit herrscht. Offenbar reicht Literatur 19
Weimar, ebd. § 100 u. pass. Weimar, ebd. 107 Anm. 21 Weimar, ebd. § 112. 20
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§ 6 Literatur und Liturgie
weit in Prosa hinein, wie weit, bleibt offen. Identisch mit ihr ist sie nicht. Wer alle Prosa für Literatur hält, nähert sich der Ununterscheidbarkeit von Literatur und Text, die zu vermeiden ist. Nachdem zuerst die Poesie mit klaren Grenzen auftrat, muss nun die Grenze vom poetischen Kern weiter in die prosaischen Schalen verschoben werden. Nachjustierung um Nachjustierung wird erforderlich. Sie wird mit dem auffälligen Merkmal der „für berechtigt gehaltenen Absichtlichkeitsvermutung“ vorangetrieben. Eine fundamentale Veränderung tritt ein, wenn man von Poesie zur Prosa voranschreitet. Sobald die notae poeseos ins Prosaische ausgreifen, verwandeln sie sich von solchen, die „in den Reden“ offen zutage liegen, zu solchen, die „irgendwie zwischen den Reden“ aufzusuchen sind.22 Zuerst im Drama,23 das der Poesie näherliegt als die Erzählung. Die Kennzeichen der Literatur, zuerst vier, dann drei, dann zwei, werden zwar weniger von Untergruppe zu Untergruppe, tatsächlich aber kumulieren sie sich von Mal zu Mal. Wo liegt im Drama das verborgene, für Prosa charakteristische Zwischen-den-Texten? Wodurch widersteht es dem Versuch, es nichtliterarisch lesen zu wollen wie ein Protokoll? Obschon es im prosaischen Drama nichts gibt, was nicht auch im stenographischen Protokoll stehen könnte, zeigt es sich widersetzlich. Zwar teilt es mit diesem das unveräußerliche Kennzeichen, dass es aus Haupttext und Nebentext zusammengesetzt ist, wobei jener das gesammelte Korpus der Reden, dieser das Sammelsurium der Textstücke enthält, die zur Installierung, Inszenierung der Reden erforderlich sind: Personen-, Verhaltens-, Zeit‑ und Ortsangaben, Zählung von Aufzügen und Auftritten, Vorhang auf, Vorhang zu, und endlich Titel des Stücks samt Name des Autors. Man darf daran erinnern, dass bei der Verschriftlichung von Liturgien zu liturgischen Büchern die Unterscheidung von Haupt‑ und Nebentexten sogar farblich hervorgehoben wird als Nigrum und Rubrum. Hierbei ergibt sich, durchaus noch auf einer Ebene, auf der Drama und Protokoll kaum zu unterscheiden sind, als erstes Kennzeichen, dass der Nebentext in ironischer Verkehrung seiner Benennung insofern Superiorität genießt, als in ihm mehr Wissen vermittelt wird als im Haupttext. Sprechende und handelnde Personen befinden sich in Unwissenheit darüber, was sich in Titel, Anfang, Mitte und Ende des Dramas verbirgt. Und je weiter die Distanz zwischen den in Haupt‑ und Nebentext verwahrten Wissensständen, desto höher die dramatische Spannung. Keine Differenz ist größer als der Widerspruch. Das Drama gewinnt an Literarität, wenn die Spannung zwischen Haupt‑ und Nebentext – absichtlich – bis zum Widerspruch gesteigert wird.24 Allerdings bedarf es weiterer, stützender Kennzeichen, um die Besonderheit des Dramas gegen das Protokoll durchzusetzen; es bedarf des Amendments, der Nachjustierung. Erst wenn der Widerspruch zwi22
Weimar, ebd. § 166 Anm. Weimar, ebd. §§ 116–135. 24 Weimar, ebd. § 128. 23
2. Was ist Literatur?
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schen Haupt‑ und Nebentext durch die Kontradiktion Beteiligung/Nicht-Beteiligung präzisiert – das zweite Kennzeichen, wobei ersteres den Haupt-, letzteres den Nebentext qualifiziert25 – und durch die Voraussetzung eines Autors von Fleisch und Blut gestützt wird – das dritte Kennzeichen, wobei weder Zufall noch Bewusstseinsspaltung den Widerspruch zwischen Haupt‑ und Nebentext verursachen dürfen, sondern allein auktoriale Absicht26 –, sind alle Merkmale beisammen, die erlauben, prosaische Dramen zur Literatur zu zählen. So ausgestattet kann man endlich sicheren Fußes weitergehen zur Erzählung.27 Trotz aller ins Epische hineinreichenden Exkurse aus dem Poetischen und Dramatischen ist sie die Untergruppe, die am stärksten zur Prosa neigt. Die Geschichte des Romans weiß davon. Ist der Roman trivial? Die Reihenfolge Poesie – Drama – Erzählung könnte die Erzählung in eine Richtung drängen, in der sich das Literarische verflüchtigt. Daher ist es erforderlich, die Konkatenation von sieben Kriterien um zwei zu erweitern. Auf der einen Seite reichen zwar die Kennzeichen des Dramas fast aus, um auch die Erzählung als Literatur auszumachen. Sie besteht aus Titel und direkter Rede, weist also im Kern dieselbe Kennzeichenkombination auf wie das Drama, dessen Grundbestand aus Neben‑ und Haupttext soeben dreifach zur Präzision gebracht wurde.28 Auf der anderen Seite ist die Erzählung noch nicht präzis genug, um sichere Handhabe zu bieten. Die Differenz von Haupttext (eines Beteiligten) und Nebentext (eines Nicht-Beteiligten) bleibt nicht auf Titel und direkte Reden beschränkt; sie reicht in die Reden hinein, sofern in ihnen Präsensformen die Beteiligung verraten, Präteritumformen die Nicht-Beteiligung. Also gibt der Wechsel zwischen Präsens und Präteritum in einer Rede zwar Anlass, im Text eine literarische Erzählung zu vermuten, aber noch nicht zwingend. Erst wenn deutlich geworden ist, dass der Tempuswechsel der Rede weder zufällig noch unabsichtlich stattfindet, sondern mit Wissen und Willen einem Erzähler zugeschrieben werden muss, sei es dass dieser im Text tatsächlich erwähnt wird oder wenigstens als solcher vorauszusetzen ist, kommt ein erstes für Erzählungen spezifisches Kennzeichen zum Vorschein. Erzählung ist die „mutmaßlich wissentliche Kombination der miteinander unvereinbaren Haltungen eines Beteiligten und eines nicht mehr beteiligten Erzählers“.29 Mit „nicht mehr“ wird der Grad der Nicht-Beteiligung näher beschrieben; der Erzähler war beteiligt, deshalb kann er erzählen; jetzt ist er es nicht mehr, ist entronnen, hat Distanz gewonnen und deshalb erzählt er. Aber der Nicht-mehr-Beteiligte befindet sich nicht nur im Abstand zum Beteiligten, sondern auch zu dem, der von vornherein der Nicht-Beteiligte ist. Das ist der Autor. Erst seitdem die Erzähltheorie zwischen Erzähler 25 Weimar,
ebd. § 130. ebd. § 131. 27 Weimar, ebd. §§ 136–161. 28 Weimar, ebd. § 138 = § 140. 29 Weimar, ebd. § 161a. 26 Weimar,
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§ 6 Literatur und Liturgie
und Autor zu unterscheiden gelernt hat, steht sie auf sicherem Grund. So ergibt sich das zweite Kennzeichen. Erzählung ist die „mutmaßlich absichtliche Kombination von miteinander nicht vereinbaren Merkmalen bei Autor und Erzähler“.30 Werden durch das erste Kriterium als literarisch identifiziert prosaische und poetische Erzählungen,31 so durch das zweite jede Art von Rollenprosa und Gedicht.32 Und obgleich die poetischen (Vers)Erzählungen und Gedichte bereits durch frühere Kennzeichen aus dem Bereich des Poetischen als literarisch zu erkennen waren, gewinnen sie nunmehr vom Ende her zusätzliche Markierung. Die Kriterien der Erzählung werfen a posteriori ein Licht zurück auf die Poesie. Vermutlich waren Gedichte a priori Rollengedichte.
Literatur Der Durchgang durch die Kriteriologie des Literarischen hat zwei Kräfte verschiedener, aber zusammenwirkender Art zu erkennen gegeben. Die eine entwickelt ihre Wirkung mit dem Fortgang der Argumentation. Hier wird Schritt um Schritt eine anfänglich auf einen einzigen Kernbereich, die Poesie begrenzte, somit intensive Evidenz des Literarischen auf dem Weg der Herleitung vervielfacht in Einzelevidenzen hier und da, im Dramatischen wie im Epischen; dabei werden die Grenzen von Mal zu Mal weiter nach außen getragen. Obwohl sie nicht gänzlich vergeht, entsteht die Besorgnis, die anfängliche Eindeutigkeit und Klarheit könne auf dem Weg der Ableitung abnehmen oder schwinden. Deshalb ist die Wahrnehmung der anderen Kraft von großer Wichtigkeit. Sie macht sich bemerkbar, weil mit dem Fortschreiten der Argumentation zugleich eine Rückwirkung ausgelöst wird. Nicht bleibt es beim Eindruck, der anfängliche Strom der Evidenz verliere sich zunehmend in Rinnsalen, vielmehr verhält es sich so, dass jedes später gewonnene Kennzeichen zurückweist auf die früheren und diese noch einmal in ein neues Licht stellt. Erst wenn mit dem letzten Kennzeichen der Erzählung, der Unterscheidung von Autor und Erzähler, die Liste komplett ist, fällt ein Schlaglicht auf den allerersten Anfang, das alles erhellt. Das anscheinend in seiner Literarität selbstverständliche Gedicht ist jetzt als Rollengedicht von Anfang an erkennbar geworden. Keineswegs verläppern sich Eindeutigkeit und Klarheit der Grenzen der Literatur. Gewiss beginnt die Kriteriologie des Literarischen mit unmittelbarer Evidenz, aber sie endet mit einer Evidenz, die sich selbst durchsichtig geworden ist. Nun kann gesagt werden, was Literatur ist. Nachdem Anfang und Ende sich gegenseitig erhellen, lässt sich die Vielfalt der Kennzeichen kontrahieren in den einen Grund, aus dem sie hervorgehen.33 30 Weimar,
ebd. § 161b. Weimar, ebd. § 150. 32 Weimar, ebd. § 160. 33 Weimar, ebd. §§ 162–183. 31
2. Was ist Literatur?
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Durch neun Varianten hindurch wird die Ohrwurmformel von der mutmaßlichen Absichtlichkeit des Redens und Schreibens präzisiert. Sie zielt nicht etwa auf eine besondere Identität, um nicht zu sagen Integrität des Redenden oder Schreibenden, sondern im Gegenteil auf eine auffällige Differenz, die dieser in sich austrägt. Er ist nur sub persona narratoris Beteiligter und Nicht-mehrBeteiligter zugleich, oder, was mehr ist, sub persona auctoris Beteiligter und Nicht-Beteiligter (womöglich auch Nicht-mehr-Beteiligter) zugleich. Mit dem Auftreten der Autorschaft wird die Differenz, die man sich im Fall des Erzählers noch als Verschiedenheit denken konnte, zum direkten Widerspruch. Schärfer als durch Beteiligung/Nicht-Beteiligung kann der Widerspruch nicht ausfallen. Absichtliche Widersprüchlichkeit, nicht absichtliche Einstimmigkeit liegt der Literatur zugrunde. „Als Ursache der Kennzeichen muß ein Widerspruch im Verhalten beim Schreiben vermutet werden.“34 Ursache von Literatur ist, dass ein und dieselbe Person aus zwei widersprechenden Perspektiven schreibt, aber nicht nur so, dass sie als dieselbe zwei widersprechende Perspektiven einnimmt, was bei einiger Liberalität möglich sein sollte, sondern so, dass die Person sich in zwei personae spaltet, und zwar sosehr, dass zwischen ihnen nicht nur ein Verhältnis von Kontrarietät, sondern von Kontradiktion eintritt. Im zivilen Leben Gegenstand des Verbots, an Rändern und jenseits zivilen Lebens, in Heil‑ und Verwahranstalten, Gegenstand der Ausschließung, hat die Spaltung der Person in eine solche, die als sie selbst, und in eine solche, die als eine andere redet und handelt, ihren Ort ausschließlich in der Literatur. Nur dort ist Spaltung nicht Ausdruck des Mangels, sondern des Reichtums und der Würde. Wenn Platon von der Alterierung der Person durch μανία schreibt, teils erscheine sie als κακόν, teils aber als ἀγαθόν, mehr, als τὰ μέγιστα τῶν ἀγαθῶν, dann muss damit die μανία θείᾳ δόσει διδομένη gemeint sein.35 Und selbst wenn man nicht soweit gehen will, dem Gesichtspunkt des alterierenden Anderen schnellfertig den Akzent des ganz Anderen oder Göttlichen beizulegen, blitzt im Phaidros auf, dass Literatur und Theologie sich unfehlbar darin berühren, dass in beiden, sonst aber nicht, jemand zugleich als er selbst und als ein anderer redet und handelt, womöglich sogar zugleich er selbst und ein anderer ist. Dabei kommt wenigstens so viel ans Licht, dass die etwaige Behauptung, Theologie entstehe an dieser Einsicht vorbei und ohne sie, völlig ins Leere geht. Und was die Literatur anlangt, von der Emil Staiger behauptete: „Die Literatur, wie jede Kunst, verdient nicht als solche schon unsern Respekt“,36 kann nun entgegnet werden: Schon an sich verdient Literatur unseren Respekt. Denn „Literatur ist ein Prädikat, das man 34
Weimar, ebd. § 164. Platon, Phaidr. 244a (Heitsch 28): „Wäre […] der Wahnsinn grundsätzlich etwas Schlechtes, so wäre die Behauptung richtig; nun werden uns aber die bedeutendsten Güter durch Wahnsinn zuteil, sofern er als göttliche Gabe kommt.“ 36 Staiger, Literatur und Öffentlichkeit 1966, 5. 35
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§ 6 Literatur und Liturgie
allen Texten zuspricht, von denen man aufgrund bestimmter Kennzeichen annimmt, der Autor habe sie als er selbst und als ein anderer geschrieben.“37 Der erste Eindruck, die prätendierte Eindeutigkeit und Klarheit der Grenzen der Literatur schwinde im Lauf der Herleitung von Merkmalen zusehends, ist falsch. Was Literatur ist, steht, so Weimar, nunmehr „mit vollständiger Sicherheit“ da.38 Und die eingeholte Frucht verdoppelt sich sogar noch im Moment der Einholung. Denn Literatur, vom Autor verfasst als er selbst und als ein anderer, wird auch vom Leser aufgenommen als er selbst und als ein anderer. Der Leser von Literatur vollzieht die Spaltung mit; er liest als biographische und als literarische Person. Der Spaltung beim Schreiben entspricht die Spaltung beim Lesen. Mit anderen Worten: Nur Lesen unter bestimmten Bedingungen und zu gegebener Zeit, sprich: nur literarisches Lesen ermöglicht dem Leser, ein anderer zu werden. Klarheit und Deutlichkeit der Definition können nur gewinnen, wenn diese durch Autor‑ und Leserseite gestützt wird, durch den Aspekt der Produktion und den der Rezeption. Sie ist nicht nur eindeutig, sondern auch sinnvoll und ausreichend, was heißt: Spaltung bei Schreiben und Lesen begegnen nirgendwo anders als in der Literatur. Zur Spaltung beim Schreiben sind bloße Pseudepigraphie und Ghost-Writing nicht hinreichend, sonst ginge der Aspekt des Schreibens als man selbst über dem Schreiben als ein anderer verloren. Und ebenso reicht es zur Spaltung beim Lesen nicht hin, mit Jorge L. Borges Lesen überhaupt als Denken mit fremdem Gehirn zu bezeichnen;39 über dem Gesichtspunkt des Lesens als ein anderer darf der Gesichtspunkt des Lesens als man selbst nicht vernachlässigt werden. Was Literatur ist, wurde literarisch befestigt; es bedarf dazu weder der ästhetischen noch der moralischen Beurteilung. Literatur kann als sie selbst durch sich selbst definiert werden.
b. Die problematische Antwort Gewiss wird eine definitive Antwort nicht vorgetragen, um von einer problematischen überholt zu werden. Unsere Ordnung folgt nur dem zeitlichen Nacheinander. Die geringfügige Differenz zwischen den Erscheinungsdaten, 1980 und 2000, und zwischen den Autoren, die hätten kommunizierende Zeitgenossen sein können, wird desto größer, je näher man den Texten kommt. Wo bleiben ironisches Spiel und frühromantischer Witz, mit denen Klaus Weimar sich zwischen den großen Enzyklopädien des Idealismus bewegt? Joachim Küppers Essay Was ist Literatur? ist fern davon und besticht gleichwohl durch einen argumentativen Ernst, der sich kein Spiel gestattet.40 Eingelassen in minutiöse Auseinandersetzung mit älteren und zeitgenössischen 37 Weimar,
ebd. § 168; cf. § 171. Weimar, ebd. § 173 Anm. 39 Borges/Ferrari, Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn 1990. 40 Küpper, ebd. 214 u. Anm. 81. 38
2. Was ist Literatur?
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Literaturtheoretikern und ‑theoretikerinnen entspinnt sich sein Text aus einer einzigen, dreifach gegliederten „These“,41 die durch historische Elemente vorbereitet (I), im zentralen Teil ausgeführt (II) und in Korollarien nachgearbeitet wird (III–VI). Und rund um den Haupttext windet sich ein Kranz von Anmerkungen, die weit über Technisches hinausgehen und entscheidende Vertiefungen im Kleingedruckten verstecken. Beschwingt durch den rhetorischen Gestus Klaus Weimars begegnen wir nun einem Denkstil, der verlangt, sich in Gründe und Abgründe der gebrauchten Begriffe hineinzubegeben, besonders deren drei: Hybridität, Narrativität, Figuralität. Die Voraussetzungen
Was veranlasst, die Frage Was ist Literatur? „neuerlich“ aufzugreifen? Antworten wie die vorgestellte definitive, auf Grenzen erpichte, können nicht Schritt halten mit der postmodernen Permeabilität der Grenzen. Nach Inhalt und Stil möchte Küpper nichts „Delimitierendes“ formulieren, nur „einige Aspekte hinzu[..]gewinnen.“42 Bisherige Grenzziehungen sind durch zweierlei untauglich geworden. Das eine Mal scheint, was sie umfassen, zu eng, das andere Mal zu weit. Zu eng, wenn Literatur, wie der Name sagt und die Tradition wollte, an die litterae gebunden bleibt, von denen sie herkommt. Das wird der medialen Wende von der Schrift zu piktographischen und ikonischen Zeichensystemen nicht gerecht, die auf breiter Front im Gange ist. Befindet sich Literaturwissenschaft mit der Evidenz des Faktischen auf dem Weg zur Kulturwissenschaft, dann greifen traditionelle Antworten nicht mehr. Umgekehrt zu weit, wenn im Gefolge der analytischen Geschichtsphilosophie ein, für Küpper das wesentliche Element des Literarischen, die Geschichte, Erzählung, Narration, für Literaturwissenschaft und Historiographie dasselbe sein soll. Dann entfällt die Differenz zwischen factum und fictum.43 So schwankt der Begriff des Literarischen allen Definitionen zum Trotz zwischen Scylla und Charybdis; auf der einen Seite sollte er weiter sein als er ist, auf der andern enger, und aus der Amphibolie dieser Forderungen entsteht die skeptische Grundsituation, auf die Küpper mit Verzicht auf globale Antworten und mit Beschränkung auf Aspekte reagiert. Was er sucht, liegt auf der Ebene des Spezifikums,44 nicht des Generikums, auf der die Wesensfrage abgehandelt wird. Und mehr als das Spezifische: Er sucht das Eigene (ἴδιον) des Literari41 Küpper, ebd. 194, 195 Anm. 28, 200 Anm. 45, 205, 213, 215: „meine“ bzw. „unsere These“. 42 Küpper, ebd. 187, cf. 190, 193. 43 Küpper, ebd. 187 f. 44 Küpper, ebd. 203: „Spezifikum des literarischen Texts“; 196: „Spezifik des literarischen Diskurses“ (cf. 193, 197, 198 Anm. 40); 188: „das Spezifische des Literarischen“; 198: „das Spezifische des Wortkunstwerks“.
262
§ 6 Literatur und Liturgie
schen,45 womit selbst das Spezifische sich noch einmal zuspitzt und verengt, und sich weiter vom Generischen entfernt. In dieselbe Richtung weist, dass für Küpper Termini wie „Partialität“46 und Partikularität47 nicht von vornherein pejorativ besetzt sind. Gerade weil die Aspektivität der Antwort nicht das Ganze, nicht das Genus oder die Gattung in den Blick nimmt, sondern nur Teile, weil also die Antwort, die versucht wird, nur im Modus von Teilen und Teilaspekten erfolgt, entsteht der Gewinn, dass Teile eher imstande sind „teilzuhaben“; nur Partiales und Partikuläres kann sich „partizipativ“ verhalten.48 Dies deutet auf ein ganz anderes Paradigma von Antwort als das, was in Form von Definition und Herleitung erfolgt. Vom Szenario Weimars ist bei Küpper nicht viel wiederzufinden, und wenn, dann in veränderter Form. Als erstes fällt auf, dass das Subjekt unauffindbar bleibt, das bei Weimar teils präsent ist in der Zweiheit von Autor und Leser, teils omnipräsent in der Gestalt des Hodegeten, der den Adepten der Enzyklopädie mit heiterem Selbstbewusstsein von Paragraph zu Paragraph führt. Nicht dass es entfiele, aber an die Stelle des führenden Ichs tritt das gekonnt schwache, dessen Flanken in skeptischer Manier offenstehen nach allen Winden. Mit dem starken Subjekt fällt auch das starke Objekt. Literatur ist bei Küpper kein Objekt. Ferner fällt auf, dass die Differenz von Poesie und Prosa, die im Gefälle von Weimars Argumentation den entscheidenden Katarakt darstellt, bei Küpper nahezu ganz ausbleibt.49 Dies mag damit zusammenhängen, dass er von der Inanspruchnahme der Poesie als paradigmatischer Kernzone des Literarischen von vornherein Abstand nimmt; er bedarf der Eindeutigkeit und Klarheit nicht, die von hier ihren Ausgang nimmt. Damit verzichtet er aber auch auf den Begriff der Prosa als Poesie zweiter Klasse. Von vornherein kennt er nichts als sie. Die meist mit der Unterscheidung Poesie/Prosa verbundene Hegemonie des Poetischen ist ihm völlig fremd. Drittens fällt auf, dass die in Weimars Dreiheit Poesie, Drama und Erzählung durchscheinende klassische Trias Lyrik, Dramatik und Epik als formgebendes Element ausbleibt. Von Dramatik und Epik ist gar nicht die Rede, und dass von der Lyrik dann doch die Rede ist, spricht eher gegen als für sie. Indem der Begriff der Lyrik sich als Restbestand einer vergangenen Formation zu erkennen gibt, wird ihr Ende besiegelt. Zwar nicht völlig ausgeschlossen aus dem Literarischen, übersteigt sie zum größeren Teil dessen Fassungskraft, worauf zurückzukommen sein wird. Fragt man, in welcher Form 45
ze.
46
Küpper, ebd. 188: „Eigene[s] des Literarischen“; 204: „Eigen-Rede“, „Idiotie“ als Gren-
Küpper, ebd. 188: „Partialität“, cf. 193, 211; 209: „partial“. Küpper, ebd. 195: „Partikuläres“. 48 Küpper, ebd. 193: „Literarische scheinen sich im Verhältnis zu nicht-literarischen Diskursen weniger privativ [cf. 204] als partizipativ zu situieren […]. Möglicherweise ist, was wir Literatur nennen, eine diskursive Praxis, deren Spezifik es nachgerade ist, teilzuhaben an anderen, affinen, nicht-literarischen Diskursen […].“ 49 Ausnahme: Küpper, ebd. 214 Anm. 79. 47
2. Was ist Literatur?
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die klassische Dreiheit Lyrik-Dramatik-Epik gleichwohl bei Küpper nachwirkt, so ist klar: Wenn überhaupt, dann in direkter Umkehrung dieser Reihe. Nun ist das Epische allgegenwärtig, das Dramatische wird schwächer belichtet, und das Lyrische, dem eigens ein Teil vorbehalten wird, ist nicht nur vom Epischen am weitesten entfernt, sondern zum Teil sogar so weit, dass der Zusammenhang mit dem Literarischen zu reißen beginnt. „Gäbe es einen literarischen Text“, fragt Küpper, „der nicht an den Bericht einzelner Ereignisse gebunden wäre […]?“50 Er stützt sich auf die aristotelische Definition von μῦθος (fabula) als etwas, was Anfang, Mitte und Ende hat;51 dies bildet den plot des Dramas und die narratio des Epos. Für Lyrik wird es eng. Während Historiographie das Einzelne um des Einzelnen, und Philosophie das Allgemeine um des Allgemeinen willen darstellt, ist es mit Aristoteles Aufgabe der Literatur, das Einzelne um des Allgemeinen willen zu berichten, was sie zwar philosophischer (ϕιλοσοϕώτερον) macht als Historiographie, aber nicht philosophisch im Sinn von Philosophie.52 So ist es die aristotelisch grundierte Narration als Bericht einzelner Ereignisse, die das Gesamtfeld des Literarischen charakterisiert. In dem Maß, wie Texte ihr näher stehen, sind sie als literarische leicht einsichtig, und je weiter sie sich davon entfernen, desto schwieriger wird die Zuschreibung. Dennoch bleibt aus klassischen Beständen „immer noch die Kategorie des Ästhetischen“,53 von der Weimar keinen, Küpper kritischen Gebrauch macht. Ästhetik war es, die der Literatur ihren Ort im System der Künste anwies. Damit werden wir in die Epoche der „klassischen Ästhetik“ versetzt, eine „ephemere[.] Phase unserer Geschichte“, von der uns mehr trennt als verbindet. Orientiert am „kalon [k]agathon“, genauer am pulchrum, bonum und verum, ist von Ästhetik nichts geblieben als die der Transzendentalien beraubte Hohlform, wenngleich eine solche, die die Literatur noch ins Benehmen mit anderen Künsten zu stellen vermag, vor allem mit Ton‑ und Bildkunst. Als Teil von Ästhetik ist Literatur Wortkunst, das einzelne Stück „Wortkunstwerk“, ein von Oskar Walzel übernommener Ausdruck.54 Die Frage Was ist Literatur? bricht zwar erst am Ende dieser Epoche auf, steht aber gleichwohl im „Nachhall[.] der klassischen Ästhetik“. Beantwortet zuerst im essentialistischen, dann im funktionalistischen Sinn, ist sie in unserer Situation aus allen essentialen und funktionalen Antworten herausgefallen und hat sich als hohle Frage selbst überlebt.55 In der Gestalt, in der sie der „Zersetzungsprozess“ seit Ende der Klassik hinterlassen hat, greift Küpper sie auf. Eine starke Antwort ist schon deshalb nicht zu erwarten,
50 Küpper,
ebd. 195. De art. poet. 6, 1450a9; 7, 1450b26 f. 52 Aristoteles, De art. poet. 9, 1451a5–7. 53 Küpper, ebd. 190. 54 Küpper, ebd. 197, 202. Walzel, Das Wortkunstwerk 1926. 55 Küpper, ebd. 190–193. 51 Aristoteles,
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§ 6 Literatur und Liturgie
weil kein „stabiles“ Konzept zur Hand ist.56 Einheit der Literatur gibt es nicht; Literatur heißt „Vielfältigkeit“.57 Die Antwort muss sich der Schwachheit befleißigen, um auf Vielheit elastisch zu reagieren. Die philosophische Ästhetik begleitet die Literaturwissenschaft nur als Leerrahmen. Sie bietet eine Sichtweise von außen, indem sie die Wortkunst mit Ton‑ und Bildkunst zusammenstellt in ein, wie Küpper will, „die Künste integrierende[s] Konzept“.58
Hybridität Hybridität ist das erste von drei Elementen, die zu Küppers „These“ gehören, und gewiss das hervorragendste. Anstatt auf Was ist Literatur? im Stil essentialistischer Klassik normativ zu antworten: Literatur ist das verum, bonum et pulchrum oder eines davon, und dies mit der Absicht, aut prodesse […] aut delectare,59 oder im Stil des Funktionalismus versteckt normativ: Literatur ist, was als Literatur im Kurs steht, oder schließlich im Stil postmoderner Exzesse: Literatur ist die Negativität, das Konterdiskursive, das ganz Andere oder reine Differenz,60 verzichtet Küpper auf dergleichen ebenso wie auf die indikativische Form. Er sagt: „Diskursiv wäre Literatur, so der erste Punkt meiner These, wesentlich ein hybrides Gebilde“.61 Ein Blick über die Diskurslandschaft zeigt zweierlei. Erstens: Der Diskurse sind viel, alltagsweltliche, wissenschaftliche und gesellschaftliche wie Religion, Metaphysik und Philosophie. Im Verfolg ihrer Vielheit befinden sie sich auf einem Pfad weg vom discours général, dessen einstige Einheit in Vielheit zerfiel. Zweitens: Diskurse sind spezifisch, gehen den Weg zunehmender Fachdisziplin, dem zu wünschen ist, er möchte zu immer höherer Perfektion gelangen. Das erfordert Separation von anderen Diskursen und zunehmende Spezialisierung. Spezialistendiskurse verhalten sich im Spektrum der Diskurse als Segmente. Auch die Literatur ist Diskurs. Wie verhält sich ihre Diskursivität zu der der Einzeldiskurse? Ist sie kein Einzeldiskurs, dann fehlt ihr alles, was einen Diskurs qualifiziert. Ist sie aber Einzeldiskurs, dann fehlt ihr alles, was Literatur qualifiziert. Dies ist der paradoxe Extrakt des von Küpper erzählten „Moderne-Prozesses“.62 Er führt zur Einsicht: Literatur hat „keinen ihr eigenen Gegenstand“, besitzt ihren Grund „also nicht im Objekt“. Der Kritik der essentialistischen Antwort folgt die der funktionalistischen. Literatur hat auch „keine im strikten Sinne eigenen ‚pratiques discursives‘“ und erreicht ihre Eigentümlichkeit „auch nicht in der Funktion“. Hat aber Literatur weder ein „stabiles, in allen Zeiten und 56
Küpper, ebd. 191. ebd. 193. 58 Küpper, ebd. 198 Anm. 40; zur Ästhetik: 190 f, 202 Anm. 48. 59 Horaz, Epist. II 3 De arte poetica ad Pisones (Doering 333). 60 Küpper, ebd. 193; cf. 194, 196, 211 f. 61 Küpper, ebd. 194. 62 Küpper, ebd. 208. 57 Küpper,
2. Was ist Literatur?
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auf alle Zeiten sauber delimitiertes Feld“,63 noch eine Diskursivität nach Art der Spezialistendiskurse, dann kann sie nicht „als von anderen Diskursen strikt separierte Textsorte“64 verstanden werden. Nicht Diskurs unter Diskursen, tendiert sie zum Diskurs der Diskurse. „Frei“ von der disziplinierten Bindung anderer Diskurse,65 rangiert sie „oberhalb der Ebene der normalen Textualität“.66 Ohne Not täte sie das nicht. Die Zerfallsgeschichte des klassischen Literaturbegriffs erzählt davon, dass das Bestreben, Diskurs unter Diskursen zu sein, ins Leere läuft und die Nötigung erzeugt, Literatur müsse sich, wie einst die göttliche, von den Gassen und Häusern der Sterblichen fortgewiesene Sapientia, auf eine höhere Ebene zurückziehen, die zwar nicht geschieden ist von der niederen, unterschieden aber wohl.67 Was Literatur fortan kennzeichnet, ist Depragmatisierung. Nicht Depragmatisierung an sich, sondern der wohl unternommene, aber fehlgeschlagene Versuch der Pragmatisierung. Jeder Antwort auf die Frage nach der Literatur unter Bedingungen der Moderne haftet der nur aus der Geschichte erklärliche Wunsch an, zu sein wie die pragmatisch ausgerichteten Spezialdiskurse. Regressionsvermeidung ist somit die elementarste Bedingung, in der die aktuelle Diskussion ausgetragen wird. Dies ist der Ort, an dem der Begriff der Hybridität fällig wird. Abgeneigt aller begrifflichen Hypostasierung belässt es Küpper dabei, das Substantiv ein Mal zu strapazieren.68 Viel häufiger ist der adjektivische, attribuierende oder substantivierende Gebrauch, und wichtiger als das Resultativum ist „Hybridisierung“. Diese bezeichnet, was sich im Gang befindet und nach narrativer oder figurativer Fassung ruft.69 Hier ist zuallererst erforderlich, den theologischen Sprachgebrauch zu reduzieren auf den allgemeinen. Hybrid ist der prometheische Heros nicht als Frevler, sondern weil er irgendwie dazwischen steht, zwischen zwei Merkmalen, die sich ausschließen, sich aber kreuzen in ihm. Das Hybride ist ein Mittleres, aber nicht Mittel schlechthin, das als Instrument gebraucht und wieder abgelegt wird, oder sich als Medium dazu aufschwingt, den zu gebrauchen, der es gebraucht, sondern es ist präzis ein selbst gekreuztes Mittleres, wie Platon das ἑρμηνεῦον bestimmt als μεταξὺ θεοῦ τε καὶ θνητοῦ, als mittelnd zwischen Göttern und Menschen.70 Es geht um μέθεξις (Teilhabe). Ähnliches 63
Küpper, ebd. 193, 196. Küpper, ebd. 190. 65 Küpper, ebd. 193; cf. 202 Anm. 48. 66 Küpper, ebd. 203. 67 Wenn Küpper, ebd. 194, von Literatur sagt, sie gehöre zum discours général „nicht […] nach Art eines Segments, sondern nach einer Pflanze, die ihr Wurzelgeflecht in dem gesamten champ discursif ausdehnen darf, im Unterschied zu den disziplinären Diskursen, denen bei Strafe des Verdorrens auferlegt ist, sich nur in einem je bestimmen Segment des Felds ansiedeln zu dürfen“, schweift der Blick unvermeidlich zum Baum von Ps 1, dem Literaturpsalm unter seinesgleichen, und die Art seiner Pflanzung wird deutlich. 68 Küpper, ebd. 207. 69 Küpper, ebd. 195 Anm. 28, 196, 200 Anm. 45, 213 Anm. 77. 70 Platon, Symp. 202e. 64
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scheint Küpper vorzuschweben; das Hybride ist „weniger privativ als partizipativ zu situieren“, mit anderen Worten, der literarische Diskurs zielt darauf, „teilzuhaben an anderen, affinen, nicht-literarischen Diskursen.“71 Hybrid ist die Literatur, weil sie ihren Sitz in der Kreuzung zwischen Literarischem und Nicht-Literarischem hat. „Literatur ist im Spektrum der Diskurse diejenige Rede, in der viele, wenn nicht alle Dinge verhandelt werden bzw. werden können, die ansonsten, dort aber separat, in den Spezialistendiskursen behandelt werden.“72 Soviel ist deutlich: Es handelt sich bei Hybridisierung, selbst wenn die Textualität das Literarischen „oberhalb“ der normalen angesiedelt ist, und selbst wenn das Wortkunstwerk „über“73 der gewöhnlichen Ästhetik liegt, dezidiert um einen Vorgang von unten. Deduktion, Herleitung von oben ist Küpper völlig fremd. Dies gilt auch für den Terminus der Hybridität selber. Im Gebiet des Ästhetischen herkommend aus elementaren Künsten wie Wort, Bild und Ton, die zur „Verbindung […] in einem und demselben Produkte“74 vermischt werden, kreuzen sich etwa Poesie und Musik zu Lied und Gesang oder Gesang mit malerischer und szenischer Darstellung zur Oper, und es entstehen „Hybrid-Varianten“.75 Dies scheint die sinnenfälligste, erste und unterste Schicht im Gebrauch des Terminus zu sein: Kreuzung zweier oder mehrerer Kunstgattungen. Entscheidend für Küppers Gebrauch ist aber, dass Hybridität nicht zwischen den Künsten, sondern in einer davon, der Wortkunst allein auftritt und hier so, dass ohne sie nicht einmal zu sagen wäre, was Wortkunst ist. Innerhalb der Wortkunst tritt in einer bestimmten Epoche der Roman auf; hier entsteht die Gattung der Gattungen, die für Küppers Ansatz paradigmatisch ist wie keine andere. Der Roman macht der klassischen Gattungspoetik zu schaffen, weil er sich in ihrem Sinn nicht definieren lässt. Potentiell Sammelbecken aller Gattungen, kann er „allenfalls als hybrides, irreguläres und minder hochwertiges Genre“ gelten,76 dafür als Gattung der Gattungen, der große Konjunktur bevorsteht. Hier wurzelt die „These“ Küppers; sie könnte mit der Analogie schließen: Wie der Roman als die Gattung literarischer Gattungen sich als Paradigma von Hybridität etabliert, so auch die Literatur insgesamt; als Diskurs welthaft disziplinierter Diskurse ist auch sie Hybrid-Gebilde, „Hybrid-Diskurs“.77 So gerne man dem Analogieschluss vom Roman auf Literatur überhaupt zustimmen möchte, es bleibt zu fragen: Müssen die Gattungen, die sich im Roman kreuzen, Erzählung, dramatischer Dialog, Gedicht, nicht schon Literatur, also bereits hy-
71
Küpper, ebd. 193. ebd. 194. 73 Küpper, ebd. 199. 74 Kant, KdU § 52, WW 5, 428 f. 75 Küpper, ebd. 198 Anm. 40. 76 Küpper, ebd. 208. 77 Küpper, ebd. 194. 72 Küpper,
2. Was ist Literatur?
267
bride gewesen sein, bevor sie zur Hybridisierung durch den Roman gelangten? Das analogische Argument hat sich in ein zirkuläres verwandelt. Die Hybridität der Literatur muss kräftiger, das heißt aus sich selbst gedacht werden. Weder herzuleiten aus der Hybridität des Romans, die unzweifelhaft, jedoch nicht ursprünglich ist, noch und schon gar nicht aus der Hybridität der Künste, die nur zum Schein einfach ist, in Wahrheit aber die Hybridität der Literatur bereits voraussetzt, muss diese buchstäblich ganz von unten auf‑ und zusammengelesen werden, in beispielloser Elementarität. Was in aller Welt soll zustande kommen, wenn die Ebene der pragmatischen Diskurse überstiegen wird? Was soll durch Verlassen der Fachdisziplin, durch Kreuzung und Mischung der Diskurse Sinnvolles bewirkt werden? Oder mit Küppers nicht zu toppender Frage: „Was aber könnte ein Hybrid-Diskurs, der ein simples cento einer Vielzahl originaler disziplinärer Diskurse wäre, anderes sein als eine Wahnsinns-Rede, ein sinnloses Sammelsurium von Zitaten?“78 Ich verbinde diese Frage, mit der Küpper einen Blick über die Grenze tut, an der das Vielerlei, das zur Literatur gehört, in gestaltloses Chaos zerläuft, mit der anderen Frage, die an der entgegengesetzten Grenze aufkommt, an der Einheit und Eigenheit des Redens und Schreibens dermaßen zunimmt, dass ihm über der forcierten Spezifik des Literarischen die Beziehung zum Nicht-Literarischen abhandenkommt: „müßte dann nicht“, fragt Küpper, „was der jeweilige literarische Text sagt, letztlich Eigen-Rede sein, Idiotie, unverständlich schlechthin?“79 So scheint das Feld des Literarischen polar begrenzt. Während auf der einen Seite Wahnsinns-Rede oder Manie droht, die jeden Satz zum Zitat eines diszipliniert diskursiven Satzes macht, nur unter Abzug der pragmatischen Ausrichtung, droht auf der andern Seite Eigen-Rede oder Idiotie eines entpragmatisierten, nur auf sich selbst bezogenen, entsprechend hermetischen Satzes, der sich von der normalen Diskursivität absondert. Daraus wird klar, dass die Hybridisierung der disziplinierten Diskurse, wie sie in der Literatur stattfindet, weder das eine noch das andere sein kann, aber gerade so ausgerichtet bleibt auf beide Seiten als sowohl zu erstrebende wie zu vermeidende Pole, zwischen denen sich das Feld des Literarischen erstreckt. Begrenzt durch Pole – immerhin durch zwei, nicht bloß durch einen – hat Literatur ihre Wirklichkeit nicht in den Extremen, sondern in der Mitte, worauf zurückzukommen sein wird.
Narrativität und Figuralität Hybridität ist zwar nur der „erste Punkt“ von Küppers These, die Literatur betreffend, aber nicht der einzige. Um nicht in Wahnsinns-Rede oder Idiotie zu kippen, bedarf sie der Präzisierung durch den genaueren „Modus“. 78 79
Küpper, ebd. 194. Küpper, ebd. 203 f.
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§ 6 Literatur und Liturgie
Der Modus ist der der „figuralen Narrativität“,80 was von vornherein klar macht, „daß Figuralität und Narrativität keine zwei unabhängig voneinander gegebenen modalen Merkmale des Literarischen, sondern funktional aufeinander bezogen“ sind.81 In einem anderen Punkt scheint die Aussage weniger klar. Auf der einen Seite ist figurale Narrativität derjenige Modus, der es dem literarischen Text „ermöglicht, jene die übrigen Diskurse integrierende Kapazität zu entfalten,“82 die dem hybriden Text eigentümlich ist. Dafür spricht, dass die aristotelisch bestimmte Narrativität als „Grundform“83 des Literarischen bezeichnet wird, und „Modus“, streng im Sinn von „Modalität“ verstanden, scheint auf die „formale Ermöglichungsstruktur der Hybridisierung literarischer Texte“ zu verweisen, die die Spezifik des Literarischen „begründet“.84 Auf der anderen Seite bildet die Hybridisierung selbst schon die „Ermöglichungsstruktur“ für Narrativität und Figuralität, und sie ist die „vielleicht notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung“,85 die erst durch Hinzufügung der Kriterien Narrativität und Figuralität zur hinreichenden wird. Wie immer Küpper das Schwebende, wenn nicht Widerstreitende seiner Aussagen beseitigen wollte (oder auch nicht), soviel ist klar: Der Narrativität kommt in Hinsicht auf Literarität eine schwer zu übertreffende Bedeutung zu. „Grundform“ ist sie, weil literarische Texte ohne Bindung an erzählte Ereignisse nicht denkbar sind. Damit ist auch schon die aristotelische Theorie der Narration im Spiel, die als literarisch – Aristoteles sagt: poetisch – nur gelten kann, wenn sie das Einzelne der Erzählung nicht um seiner selbst, sondern um des Allgemeinen willen berichtet. Verhält es sich so, dann ist mit der Narrativität, sofern sie als literarische Rede poetisch von Belang ist, zugleich Figuralität verbunden, denn das nicht um seiner selbst willen berichtete Einzelne kann nicht als eigentlich Gemeintes, sondern nur als uneigentlich, figurativ, rhetorisch Gemeintes Gegenstand des Berichtes sein. Gewiss gibt es Narrativität und Figuralität auch außerhalb des Literarischen; es gibt historiographische Narrativität ebenso wie die allgemeine, vorliterarische Semantik des Figuralen, und beide so, dass sie nicht aneinander gebunden sind. Aber sobald sie ins Literarische eintreten, gibt es sie nur zugleich und so, dass durch ihre Zusammenwirkung Merkmale literarischer Rede wie Allusivität, Ambivalenz und Ambiguität auftreten, einerseits negativ so, dass sie als Vagheit und Verschwommenheit, andererseits positiv so, dass sie als Verdichtung, Prägnanz und Komplexivität wahrgenommen werden. Die an die Möglichkeit gebundene Figuralität hat zwar einen „fast unendlich großen“ Spielraum, 80 Küpper,
ebd. 195 f. ebd. 196. 82 Küpper, ebd. 194. 83 Küpper, ebd. 195; „Grundlage“ 202. 84 Küpper, ebd. 196. 85 Küpper, ebd. 201 Anm. 45. 81 Küpper,
2. Was ist Literatur?
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aber eben nur fast. Das narrative Element – dasjenige, das für Theologen der sensus historicus war – sorgt dafür, dass die „oftmals unabschließbare Semiosis“ „begrenzt“ wird durch den Bericht. Das „assoziative Divagieren“ und „Sich ergehen-Können“ des Figürlichen ist also eine Lustreise mit Standort, wie sie durch die Form des Berichts gefordert wird. Freiheit und Begrenztheit ergeben sich daraus;86 der literarische Diskurs hat auf der einen Seite zwar „Freisetzung“ von der Pragmatizität disziplinärer Diskurse zur Folge, auf der anderen aber die „Begrenzung“ durch den Bericht, sodass die Freiheit des literarischen Textes nur relativ sein kann.87 Eine Frage steht am Schluss. Umfasst die in drei Punkte gegliederte Antwort auf die Frage, was Literatur sei, wirklich alles? Widerspruch entsteht von außen, Widerspruch entsteht von innen; jener wird herangetragen, diesen trägt Küpper selbst vor. Der letztere wiegt sogar so schwer, dass ihm ein eigenes Stück des Haupttexts gewidmet wird. Teil V fragt: Und was ist mit der Lyrik? Den von außen herangetragenen Widerspruch hingegen rückt Küpper in einem Nebentext zurecht.88 Und die Lyrik? Wir sahen schon: Küppers Ansatz ist betont ein solcher von unten. Er beginnt bei der prosaischsten Gattung der Literatur, dem Epos, der Narration. In ihrer aristotelischen Fassung ist sie dem Drama so nah wie dem Dithyrambus fern. Unter dem Schutz der Vermutung, selbst der lyrischste Text sei ohne Elemente aus der „Grundform der Narration“ nicht zu denken,89 schiebt Küpper die Thematisierung von Lyrik vor sich her. Dem Antipoden von Weimars Verfahren von oben ist dessen Pointe völlig fremd, ausgerechnet im Epischen als der am weitesten vom Lyrischen entfernten Gattung in plötzlichem Intuitus die Grundform des Poetischen wiederentdecken zu sollen. Letztlich läuft die Alternative von oben/von unten auf eine Entscheidung hinaus. „So wäre wohl die entscheidende Frage, ob die Lyrik mit den drei genannten Merkmalen als 86 Küpper,
ebd. 201. Küpper, ebd. 200 f Anm. 45. 88 Küpper, ebd. 195 Anm. 28. Nicht umfasst scheinen Texte wie Pascals Pensées, die zwar üblicherweise als literarisch gelten, aber weder figural noch narrativ zu nennen sind. Allein das erste Kriterium, die Hybridität, trifft auf sie zu, denn sie gehen mit Stücken pragmatischer Diskurse, mathematischer, geometrischer, theologischer, in entpragmatisierter Weise um. Ihre Reflexionsformen: Maxime, Epigramm, expositorische Erörterung können als literarisch gelten ihrer Hybridisierung wegen. Das regt aber den schon erwähnten Widerstreit oder die Schwebung wieder auf: Ist etwa nicht Narrativität, sondern Hybridität die „Grundform“, die allein über Literarität entscheidet? So Küpper in der genannten Anmerkung. Dann stehen wir wieder vor der Frage: Ist Hybridität selbst schon die „Ermöglichungsstruktur“? Oder bedarf sie, um hinreichend bestimmt zu sein, ihrerseits der Ermöglichung durch die Modi Narrativität und Figuralität? 89 Küpper, ebd. 195. 87
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§ 6 Literatur und Liturgie
Paradigma des Literarischen anzusehen ist (und dementsprechend die anderen Genera tendenziell als Schwundstufen), oder ob Lyrik nicht Paradigma, sondern extreme Realisierungsvariante einer diskursiven Komplexion wäre, wie ich sie in meinen auf Roman und Drama bezogenen Überlegungen exponiert habe.“90 Hier begegnet das zweite Grundmotiv Küppers wieder. Nicht nur beginnt er entschieden von unten, sondern hält sich auch möglichst in der Mitte und meidet Extreme. An postmodernen Thesen wie Literatur als Differenz, als Negativität an sich oder als ganz Anderes liegt ihm nicht. „[V]on diesen extremen Experimenten her das Wesen des Literarischen ergreifen zu wollen, führt in die Irre.“91 Extreme Fälle darf man „nie generalisieren“.92 Aber Lyrik tendiert ins Extrem. Von der naheliegenden Einsicht, eine Entscheidung sei genauso extrem wie die andere, findet sich bei Küpper keine Spur. Nur Lyrik scheint ihm extrem, Dramatik und Epik extrem nichtextrem. Wer wie Weimar mit der Lyrik beginnt, neigt allerdings zum Zugespitzten, dagegen der Beginn bei der Epik, schmeichelt sich Küpper, ist der Beginn mit ganz Unaufgeregtem und steht breit mittendrin. So gelangt Küpper zur Frage: „Wie aber steht es mit der Lyrik?“93 Hier bewährt sich die Stärke seines problematisierenden Denkstils. Zwar ist anzuerkennen, Lyrik sei die „am stärksten rhetorisierte, am meisten depragmatisierte und (…) am wenigsten didaktisierte“ aller literarischer Gattungen, was nichts anderes heißt, als dass sie, die Lyrik, in hervorragender Weise zum Ziel bringt, was Literatur will und vermag. Und dennoch ist sie nicht Paradigma des Literarischen. Sie treibt nur dessen Merkmale, Hybridität, Narrativität und Figuralität ins Extrem und, wie sich zeigt, darüber hinaus. Grund dafür ist, dass die Lyrik „ein möglicherweise höchst heterogenes Ensemble“ darstellt. Unerachtet kleinerer Unterschiede zerfällt sie in zwei Rubriken, von denen nach Küppers Urteil nur eine mit Literatur im vertretbaren Sinn zusammenstimmt. Küpper steht unversehens vor der Frage des Kanons. Ja, es gibt den Kanon der Literatur. Kanonizität ist ein Gesichtspunkt, der keineswegs erst mit den heiligen Schriften aufkommt; er begegnet bereits beim Literarischen. Man wundert sich vielleicht über dezidierte Aussagen zum westlichen Kanon, den Harold Bloom auf drei Autoren beschränkt,94 sieht sich aber alsbald, auch bei abweichender Meinung, im Prinzip vor dieselbe Frage gestellt. Ja, wir haben einen Kanon; der „Gipfel unseres Kanons“ lässt sich bestimmen und besteigen. Unser Kanon, lässt Küpper wissen, ist der „einer geschichtlich denkenden, auf den Gedanken des Progresses fixierten Zivilisation“.95 Wirklich? Stand der unter literaturwissen90 Küpper,
ebd. 213. ebd. 194 Anm. 26. 92 Küpper, ebd. 203 Anm. 50. 93 Küpper, ebd. 213. 94 Küpper, ebd. 193; Bloom, The Western canon 1994. 95 Küpper, ebd. 207. 91 Küpper,
2. Was ist Literatur?
271
schaftlichem Aspekt betrachtete „Moderne/Modernismus-Prozeß“96 wirklich im Zeichen von Progression? Handelte es sich nicht um einen „Zersetzungsprozeß“?97 Jedenfalls schlägt die in Küppers Kanonizitätsvermutung verborgene Gewissheit nun äußerst hart zu. Sie teilt das Lyrische in einen kanonischen und einen nichtkanonischen Teil. Ja, es gibt Lyrik jenseits kanonischer Lyrik. War das Merkmal des Kanonischen in der Lebenswelt das Zivile, im akademischen Bereich das Wissenschaftliche und der Verzicht auf Emphase,98 damit Hegels „denkende Betrachtung“, aus Epik und Dramatik gewonnen, sich auch dem Lyrischen mitteile,99 so besteht das literarische Merkmal der Kanonizität in der „Welthaftigkeit“ der Texte.100 Zwar lockert die Entpragmatisierung die Welthaftigkeit und befreit von ihr, hebt sie aber nicht auf. Auch dadurch wird sie nicht aufgehoben, dass sich mit Annäherung an die Moderne das Beschreiben von Welt immer mehr ins Modellieren von Welt verwandelt. Moderne Lyrik beschreibt keine Erfahrungsräume, sondern entwirft sie. Jedoch selbst darüber geht die Lyrik hinaus und überschreitet somit den Kanon. Es gibt Gedichte – der Name Hölderlin fällt –, die sich nicht mehr innerhalb der Elastizität des semantischen Raums relativer Bindung und relativer Freiheit halten, sondern auf „Transgression“ sinnen. Aus literarischer Sicht gibt es zu ihnen nichts mehr zu sagen, höchstens so viel: Jenseits kanonischer, weltbeschreibender oder weltmodellierender Lyrik liegt die „magische“ oder „rituelle“ Rede, in unserer Kultur die „liturgische“.101 Jedoch soweit, dass hier die Welthaftigkeit überhaupt gekappt wäre, will Küpper nicht gehen. Auch nichtkanonische Formen von Lyrik wie Magie, Ritus und Liturgie müssen wohl oder übel weltbeschreibend oder weltmodellierend bleiben, wenn auch grenzwertig. „Transgression“ ist anders als „Entgrenzung“ nicht zu denken, und Entgrenzung bleibt bezogen auf die Grenze, die sie nicht übersteigt. Gewiss unterliegen Emphase und Suggestion der Kritik, sobald sie als bloße Machination eines meinenden Subjekts durchschaut werden; jedoch dass ein Wort als solches und ein Text als solcher auftritt (das wäre phatisch), oder dass er um seiner selbst willen imponiert und Aufmerksamkeit erheischt (das wäre suggestiv), wollte man eher als Anmutungsqualität verstehen und nicht als Signal dafür, dass ein solcher Text am Rand oder jenseits des Literarischen anzusiedeln ist. Hinzu kommt: Was die indizierten Begriffe Magie, Ritus und Liturgie verbindet, ist eine bestimmte, intensivierte Form der Wiederholung. Wiederholung wird sich aber als ein Phänomen erweisen, das nicht aus der Literatur herausführt, sondern in sie hinein. Ist es also mehr als ein Unbehagen, 96 Küpper,
ebd. 194 Anm. 26, 208. ebd. 191. 98 Küpper, ebd. 214 Anm. 81: „scholarly“. 99 Küpper, ebd. 197, 213; Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, WW 13, 26. 100 Küpper, ebd. 199, 213. 101 Küpper, ebd. 214. 97 Küpper,
272
§ 6 Literatur und Liturgie
das Küpper zum Ausdruck bringt, um nur noch einmal und jetzt an der entscheidenden Stelle zu bekräftigen, dass ihm, dem Liebhaber romanhafter Breite, jede Zuspitzung zu einem „Effekt, der sich aus der maximalen Nutzung jener Code-Elastizität ergibt, welche eine systematisch figurale Rede induziert“,102 verdächtig erscheint? Während auf der einen Seite der Anstoß, den Küpper nimmt, durch Zureden gemildert wird: auch transgressionsgefährdete Formen lyrischen Redens lassen sich zurückbringen ins Kontinuum unendlicher Approximation, deren Verfahren der sicherste Zeuge bleibender Bezogenheit auf die Grenze ist, erhebt sich auf der anderen Seite die Frage: Bleibt ein Rest, der sich eben nicht in die Elastizität des semantischen Raums, und sei es unter Spannung, zurückbiegen lässt? An diesem neuralgischen Punkt fällt auf, dass Küpper ein Argument Roman Jakobsons, von dem ich schon zustimmenden Gebrauch gemacht habe, als „mir bleibend unverständlich“ apostrophiert.103 Der Kern dieses Arguments geht auf Jakobsons Frage Was ist Poesie? zurück, deren systematische Stelle der hier diskutierten Frage Was ist Lyrik? genau entspricht. Die Antwort, die Jakobson gibt, ist die Quintessenz des russischen Formalismus. Poetizität, also das, was Poesie zu einer solchen macht, ist „das Wort als Wort“.104 Hier hakt Küpper ein; ihm erscheint Jakobsons Antwort als einer von „jenen extremen Fällen (von denen ausgehend man nie generalisieren sollte)“.105 Er dürfte unter den extremen Fällen der extremste sein, in der Tat. So endet unsere Analyse der problematischen Antwort auf die Frage Was ist Literatur?, am Ende zugespitzt zu Was ist Lyrik?, mit der Vermutung, dass Küpper die Antwort, die Jakobson unter allen Anzeichen von Gewissheit gab, aus dem Kanon der Literatur ausschließt. Sie überschreitet das Kriterium der Welthaftigkeit.
c. Der literarische Kanon Weder Weimar noch Küpper thematisieren den Begriff des Kanons, der aus vielen Gründen ein heißes Eisen ist, aber sie streifen ihn. Faktisch impliziert das argumentativ erworbene Wissen von der Literatur, einerlei ob definitiv oder problematisch, delimitiert oder nichtdelimitiert, ein Mitwissen vom Kanon. Dieser kann von außen oder innen betrachtet werden, was gegenläufige Blickrichtungen nach sich zieht. Weimar bezeichnet mit Sicht von außen seinen Weg vom Gesamtbestand der Texte zum engeren Gebiet der literarischen Texte als „Ausgrenzung“,106 Küpper spricht beim Versuch der Domestizierung der Lyrik mit Blick von innen von „Entgrenzung“.107 Mit102 Küpper,
ebd. ebd. 203 Anm. 50. 104 Jakobson, Was ist Poesie? 1933/34, TRF 2, 414 f/Poetik, 79. 105 Küpper, ebd. 203 Anm. 50. 106 Weimar, ebd. § 91. 107 Küpper, ebd. 214. 103 Küpper,
2. Was ist Literatur?
273
hin verfügen beide über ein stilles Wissen vom Kanon, wobei jener die Grenze lobt, dieser deren Verlust tadelt. Mit dem Begriff des Kanons tut man sich schwer; er klingt nach einer glücklich überwundenen Welt der Repression. Jedem Besonnenen gilt Kanon als „Manifestation eines Akts der Macht und Instrument von Unterdrückung“,108 den ausgerechnet im Lustgarten der Literatur und der freien Künste wiedererstehen zu sehen degoutant ist. Soll dem Grenzbegriff des Kanons überhaupt Zutritt gewährt werden, dann ist ihm seinerseits eine klare Grenze zu weisen. Es bestehe eine unüberbrückbare Differenz zwischen Imperial-Kanon und Literatur-Kanon, so die meisten. Kanon wird zum Schauplatz der Äquivokation. Auf der einen Seite droht „[d]er monotheistische Sakral-Kanon, so, wie er sich in der kanonisierten Schrift, dem kanonischen Glaubensbekenntnis und dem kanonischen Recht manifestiert“. Er „ist in jeder Hinsicht ein Paradigma für das, was man einen Akt der Macht nennen kann: Er dekretiert verbindlich und auf alle Zeit ein Korpus von Wahrheitstexten.“109 Kein Besonnener wird sich davon nicht abwenden. Auf der anderen Seite steht der literarische Kanon, der mit Macht nichts zu tun hat und somit weder Gegenstand übertriebener Erwartung noch Ursache von Furcht und Schrecken ist.110 Er ist, wie Küpper wünscht, unschuldig, losgekoppelt von Wahrheitsansprüchen, falls nicht das Kriterium der „Welthaftigkeit“, mit dem soeben extreme Formen der Lyrik aus dem Literaturkanon ausgeschlossen wurden, residual die Stelle des referentiellen Wahrheitsanspruchs besetzt. Unter demselben Wort stehen sich zwei höchst verschiedene Begriffe gegenüber, ein harter und ein weicher Kanonbegriff, einer, der sich unablässig in Erinnerung bringt, und einer, der sich selbst vergisst. Welcher von beiden den Vorzug verdient, bedarf keiner Überlegung. „Non vi, sed verbo.“ Diese Parole holt ihre reformatorischen Vertreter, sofern sie selbst dem Imperial-Kanon ergeben gewesen sein sollten, ein und konfrontiert sie mit dem Literal-Kanon, den sie gemeint haben müssten, um nicht mit sich in Widerstreit zu geraten. Das ist das Annehmliche des literarischen Kanons, dass er aus einer intrinsischen Textqualität heraus entsteht, die ihn über bloße Textualität hinaushebt. Der literarische Kanon bildet sich selbst; vielleicht darf man sogar soweit gehen und vermuten, seine Anmutungsqualität lebe davon, dass Anmut ohne Nachklang von χάρις nie gehört werden kann. Hier kommen zwei Sinnzentren von Kanon in den Blick, und beide begehren, nicht dem Macht-Kanon anheimzufallen. Das eine versteht den Kanon als Text, das andere als Ritus; das eine loziert ihn in weitestem Sinn im Bereich der Sprache, das andere im Bereich der Handlung. Von Kanon als Text wird man ver-
108
Küpper, Kanon als Historiographie 1997, 41. Küpper, ebd. 42. 110 Küpper, ebd. 43. 109
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§ 6 Literatur und Liturgie
muten, er könne sich leicht in der Anmutungsqualität des Literarischen halten; schwieriger wird es beim Kanon als Ritus. Kanon als Text
Das ist die conditio sine qua non, um den Begriff des Kanons von Ungunst und Schrecken in Gunst und Annehmlichkeit zu wenden: „Kanon ist Text“.111 Ältere, durch die Etymologie in Erinnerung gebrachte Bedeutungen: Kanon als Messlatte und Richtscheit, sind seit der Bibliothek von Alexandria endgültig literarisiert. Nun ist der Kanon der πίναξ τῶν βίβλων/catalogus librorum, der die Liste der gesammelten Bücher in senkrechter Ordnung verzeichnet. Nur noch die Ausrichtung auf den linken Rand erinnert an die vorliterarische Bedeutung. Zwar ist es unzutreffend, Kanon sei „zuallererst“ Text und besitze „immer schon Textcharakter“,112 aber inzwischen ist Kanon für uns Text, nicht Rohrstock. Kaum jedoch sind wir in Literarisierung des Kanons bedingt erfolgreich und betrachten das Resultat: „Kanon ist Text“, bleibt die Einsicht nicht aus: Die Literarisierung war nicht der Weg, auf dem sich die Ungunst des Begriffs in Gunst verwandelte. Vielmehr hatten sich mit Weimar und Küpper beim Fortgang von Text überhaupt zum literarischen Text Gründe eingestellt, um den annehmlichen, anmutigen Teil von Texten von Texten schlechthin zu unterscheiden. Auch hier gilt als conditio sine qua non, dass sich der Kanon nur als Text bildet, aber als intrinsischer Vorgang von Texten, frei von Machtsprüchen oder Machtakten von außen. Vielleicht darf man soweit gehen: Der literarische Kanon entsteht, sobald man Texte in Freiheit sich selbst überlässt; er entsteht durch Selbstunterscheidung, denen die unsere folgt. Soweit gelangt, wird deutlich: Kanon als Text, was zunächst als einfacher Sachverhalt erschien, begegnet zweifach. Texte kennen Unterschiede. Kanon ist Text anders, wenn seine Textstücke stillschweigend dem literarischen Kanon angehören, und anders, wenn der Text ausdrücklich der Kanon ist, „Kanontext“,113 um den Terminus Achim Hölters aufzunehmen. Es gibt einen impliziten und einen expliziten Kanon. Und während wir vom impliziten Kanon vermuten – oder, um mit dem Wort zu spielen, die Annehmlichkeit annehmen und die Anmut zumuten –, es handle sich um einen Text von der Qualität des Literarischen, ist vom Text, der den Kanon explizit macht, von vornherein klar, dass es sich um keinen literarischen Text handelt. Der πίναξ oder catalogus ist nichts als die senkrechte Reihe von Namen und Titeln und gleicht dem Telefonbuch, von dem vorhin als Kontrast zur Literatur die Rede war. Ist aber der explizite Kanon kein Teil des impliziten, sondern nur dessen beobachtende Beschreibung, so kommt ein systemtheoretischer Ge111
Hölter, Kanon als Text 1997, 22. Hölter, ebd. 21. 113 Hölter, ebd. 22 u. pass. 112
2. Was ist Literatur?
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sichtspunkt ins Spiel, der besagt: Kanon ist das Textsystem der Literatur und ist es nicht. Er ist es, wenn er als Kanon indirekt und verborgen bleibt, er ist es nicht, wenn er direkt als solcher hervortritt. Dass er hervortritt, wird unvermeidlich, wenn das „Reflexivwerden der Traditionen“114 zum Anlass für die „Selbstvergewisserung des Textsystems Literatur“115 wird. Man muss also sorgsam unterscheiden: die Selbstvergewisserung des Systems in Katalog und Liste ist viel ängstlicher, machthungriger als der selbstvergessene Umgang mit der Anmutungsqualität, die vom Textsystem Literatur ausgeht. Kanon als Ritus Wenn also der Begriff des Kanons sosehr mit Text und einer bestimmten Textqualität zusammenhängt, die wir vorläufig mit χάρις bezeichnen, wie kommt es, dass dieser Begriff alsbald ausgreifend wird und mehr als Text umfasst? Man kann sich zwar vorstellen, dass der Terminus Kanon von literarischen Texten sich ausdehnt auf religiöse, rechtliche und medizinische Textsammlungen und von dort weiter auf die dazugehörigen Autoren und Regelwerke, die zur Hervorbringung solcher Texte anleiten. Und kaum soweit gelangt, holt der Kanonbegriff noch weiter aus und ergreift außertextliche Bereiche wie die Herstellung von Bildern und jede Art von Kunstwerken, schließlich über künstlerische Tätigkeiten hinaus Tätigkeiten überhaupt. Alles kann der Kanonisierung unterliegen. Der Kanon durchdringt alle Schichten. Paradigmatisch hierfür ist der Canon missae, den frühe Sakramentarien als actio beschreiben. Das Sacramentarium Gelasianum eröffnet ihn mit der Rubrik „Incipit canon actionis“. Dazu Hubert Cancik: „Kanonisch ist hier also nicht der Text, sondern eine Handlung“.116 Handelt es sich im ersten Fall um einen canon lectionis (Lesekanon), so im zweiten um den canon actionis sacrificii (Handlungskanon), der in Aufnahme des römischen Begriffs ritus genannt wird. Unbeschadet dessen, dass Kanon Text ist, ist er nun mehr als Text. Kanon ist Ritus. Zwar wird nie der falsche Eindruck erweckt, Kanon sei als Ritus im Vergleich zu Kanon als Text begriffsgeschichtlich früher. Aber kaum ist der zweite Fokus des Kanonbegriffs am Tage, kehrt sich das Verhältnis um, und der Kanon als Ritus beansprucht, den Kanon als Text zu umgreifen. Nicht ganz zu Unrecht; er umfasst die Texte mit, die dem rituellen Handeln nur aufliegen. Obgleich der Ritualkanon dem Lesekanon folgt, wartet er nur auf Umkehrung von Grund und Folge. Nach der Erkenntnisordnung folgt der Kanon als Sozialsystem dem Kanon als Textsystem, aber kaum hat er sich als Textsystem etabliert, fragt man sich, ob er nicht ursprünglich ein Sozialsystem war. Das Gemeinsame beider ist die Wiederholung. Man muss sich klarmachen: Von Herkunft her hat der 114
Hahn, Kanonisierungsstile 1987, 28 (dort kursiv). Hölter, ebd. 21. 116 Cancik, Kanon, Ritus, Ritual 1997, 1. 115
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§ 6 Literatur und Liturgie
Kanon mit Wiederholung nichts zu tun; Kanon ist Ausrichtung, Fluchtung in gerader Linie. Sobald aber der rituelle Kanon Übergewicht erhält, verbindet sich mit ihm die Wiederholung standardisierter Sprach‑ und Handlungsformen und somit die Vorstellung des Zirkulären. Wenn man so will: Kanon (als literarisches Phänomen) wird zu Kanon (als musikalisches Phänomen). Wie kommt es, dass zwei so verschiedene Vorstellungen wie Linearität und Zirkularität Platz finden unter demselben Terminus? Der Grund dürfte darin liegen, dass der Kanon von vornherein selbstreflexiv und selbstreferentiell ist, selbstreflexiv, weil im Kanon Text Text und Handlung Handlung begegnet, selbstreferentiell, weil im Kanon der Text als nichts denn Text und die Handlung als nichts denn Handlung begegnet und somit jede andere mundane Referenz suspendiert. Das ist gemeint, wenn gesagt wird: „Ein Kanon ist […] im Grunde nur Sprache“,117 genauer, er ist Sprache der Sprache. Entsprechendes gilt auch für die Handlung.118 Ein Kanon ist im Grunde nur Handlung. Und beide Male wird Kanon sachgemäß wiedergegeben mit Wiederholung, der wir uns jetzt zuwenden.
3. Was ist Wiederholung? Wiederholung ist ein Zwischenbegriff zwischen Literatur und Liturgie. Schon bisher begegnete sie, wenngleich indirekt. Sie steckte in Buchstaben, Schrift, Text, Lesen und deren nichtschriftlichen Pendants. Sie steckte nicht zuletzt in der Literatur und verlangt nun, ans Licht zu treten. Dies ist aber nur die eine Seite. Die andere besteht darin, dass wir – und dies nicht einmal im Unernst – mit Literatur und Liturgie eine Auflösung von LiLi in Vorschlag bringen, die Literaturtheoretiker dem gefühlten Herzstillstand nahebringen dürfte. Ihnen bleibt fröhliche Abkehr: „Kraut und Rüben / haben mich vertrieben.“ Dass Literatur mit Liturgie, mit der sie prima facie wirklich nichts zu tun hat, etwas zu tun haben soll, bedarf gründlicher Untersuchung, um nicht bloß weggewischt zu werden. Die Wiederholung ist Schauplatz dieser Untersuchung. Es genügt nicht, unter dem Stichwort Wiederholung einen philosophischen Begriff, gesplittet in Wiederholung bei Kierkegaard und ihrem Gegenstück bei Heidegger, und einen psychologischen, hervorgegangen aus Freud und fortgeführt von Lacan und Deleuze, nebeneinanderzustellen,119 ohne den Antagonismus freizusetzen, der zwischen Wiederholung als literarischem und rituellem Vorgang auszutragen ist. Wiederholung ist im Grunde nur Sprache. Das ist ein vertrauter Sachverhalt. Zugleich ist Wiederholung nur Handlung. 117
Hölter, ebd. 32. Hierfür ist auf die in Vorbereitung begriffene Differentialdogmatik des Vf.s zu verweisen, die diesen Punkt in Teil B ausführlich erörtert. 119 Theunissen/Hühn, Art. Wiederholung 2004. 118
3. Was ist Wiederholung?
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Unsere Antwort auf Was ist Wiederholung? ist so angeordnet, dass sie vom Vertrauten ins Unvertraute voranschreitet. Solange die Wiederholung im Spagat von § 6 Literatur und Liturgie ein Phänomen der Literatur ist, dürfte sie vertraut sein; neigt sie sich aber auf die Seite der Liturgie, nimmt ihre Fremdheit zu. Wir beginnen mit der literaturtheoretischen Antwort Eckhard Lobsiens, hinter die zurückzufallen unstatthaft ist, fahren fort mit der phänomenologischen von Bernhard Waldenfels und bemühen uns schließlich um Umrisse einer lesetheologischen Antwort. a. Die Antwort der Literaturtheorie Was ist Wiederholung literaturtheoretisch? Offenbar nicht etwas an der Literaturtheorie oder ein bestimmter Teil von ihr; Wiederholung liegt ihr zugrunde und erstreckt sich über Literatur als ganze. Kommen wir nicht von der Literaturtheorie her? Bei Weimar und Küpper verlautete nichts davon. Wenn wir Eckhard Lobsiens Wörtlichkeit und Wiederholung heranziehen, scheint ein dritter Entwurf von Literaturtheorie bevorzustehen, nur diesmal einer, der ausdrücklich im Zeichen von Wiederholung steht. Darum kann es nicht gehen. Von Wiederholung wäre nicht zu handeln, wäre sie nicht implizit in jenen Entwürfen schon mitverhandelt worden. Was Küpper zur Hybridität als Merkmal literarischer Texte vortrug, das heißt: zur Wiederaufnahme pragmatisch-disziplinierter Diskurse auf der Ebene entpragmatisierter Narration und Figuration, war nichts als Wiederholung, auch ohne Terminus. Vielleicht wurde er absichtlich vermieden, weil er, statt literaturtheoretisch handsam zu sein, sogleich in philosophische Diskussion verstrickt. Und ebenso: Was Weimar, mehr subjekt‑ als textorientiert, zu sagen hatte, indem er die Gesamtzahl von Einzelmerkmalen des Literarischen in den einen Gesichtspunkt fokussierte, Literatur entstehe durch Schreiben und Lesen als man selbst und als ein anderer, als biographische und als literarische Person, enthält eine Aussage nicht nur zur Verdopplung, sondern auch zur Logik der Verdopplung – „als ein anderer“. Beides gehört in die Theorie der Wiederholung. Die Differenz im sinnlichen Klang der Termini, hier „Spaltung“ in Schreiben und Lesen, dort „Wiederholung“ in Textproduktion und ‑rezeption, darf nicht wundern; Spaltung und Wiederholung beschreiben dieselben Vorgänge. Also ziehen wir Wörtlichkeit und Wiederholung nicht als dritten Entwurf einer Literaturtheorie heran, was wohl möglich wäre, sondern als Instrument zur Relecture der beiden früheren im Zeichen von Wiederholung. Lobsiens starker, kompromisslos in sich zentrierter Text bedarf des Blicks auf die Seitenreferenten nicht. Aus eigener Kraft durchmisst er die Spanne von der praktischen „Arbeit am Textdetail“ bis zur „theoretischen Spekulation“.120 Die „strikte Limitierung 120
Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung 1995, 17; cf. 32.
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des Vorverständnisses“ auf das Literarische121 erlaubt und erfordert es, die anklingende Spannung von vita practica und theorica, activa und contemplativa zurückzudrängen, solange es geht; „über die metaphorische Beziehung zwischen Lesen und Leben wird noch an späterer Stelle zu reden sein.“122 Der prosaisch-literarische Text Wörtlichkeit und Wiederholung bilden die Kennzeichen literarischer Prosa. Zwar gebraucht Lobsien Prosa nicht, spricht vielmehr von „literarischen Texten“, aber diese können prosaisch oder poetisch ausfallen. Er handelt zuerst vom prosaischen,123 dann ausdrücklich vom „literarisch (poetischen) Text“.124 Diese Sequenz nehmen wir auf. Was ist Wiederholung in literarischer Prosa? Sie ist – mit Küpper – zuerst ein Faktum in Texten, objektiv und objektivierbar. Sie ist aber auch eine Erfahrung der Lektüre und bedarf – mit Weimar – der Aufmerksamkeit des Subjekts. Zwar mag Wiederholung existent sein als factum brutum, und das ist sie ohne Zweifel in der „banalen“ Rekurrenz von Schriftzeichen, deren beschränkter Vorrat zur Wiederholung nötigt, „belangvoll“ wird sie erst, wenn sie wahrgenommen wird und in den Fokus lesender Aufmerksamkeit tritt. Nicht mit jener hat es die Literaturtheorie zu tun, sondern mit dieser, und also: „Erst wo und wenn wir eine Wiederholung als Wiederholung bemerken, gibt es die Wiederholung […].“125 Strikte Limitierung des Vorverständnisses ist erforderlich; Wiederholung ist viel zu viel; hier interessiert nur der Fall literarischer Texte. In der auf Literatur bezogenen Wiederholungserfahrung scheiden sich Primär‑ und Sekundärerfahrung. Und zwar setzt die zur Wiederholung gehörende Sekundärerfahrung erst aus sich heraus, worin die Primärerfahrung bestanden haben muss. Cum grano naivitatis könnte es scheinen, als sei der Text ursprünglich in reiner Gegenwart und Augenblicklichkeit so gegeben, wie er dasteht, und seine Elemente, Wörter, Wortfügungen, Sätze, Textabschnitte (nicht aber die „banalen“ Buchstaben und Laute) würden unmittelbar sich selbst sprechen, sich zeigen, wie sie sich dem lesenden Blick darbieten. Kehrt eines seiner Elemente an anderer Stelle unter veränderten Kontextbedingungen wieder, ist der Textfortgang unterbrochen und das Textelement seiner Singularität beraubt. Sobald eine derartige Wiederholung zum Gegenstand lesender Aufmerksamkeit wird, „verändert sich die gesamte Struktur der Lektüre.“126 Die supponierte Primärerfahrung des Lesens war die der Wörtlichkeit; die Wiederholung hingegen bewirkt, dass die ursprüngliche Präsenz der Wörter zum Verschwinden gebracht wird. Hie121 Lobsien,
ebd. 8. ebd. 22. 123 Lobsien, ebd. 8–13. 124 Lobsien, ebd. 13–18. 125 Lobsien, ebd. 9. 126 Lobsien, ebd. 9. 122 Lobsien,
3. Was ist Wiederholung?
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raus ergibt sich der erste Blick auf das literarische Feld und seine Limitation. „Zwischen den beiden Polen der Wörtlichkeit und der Wiederholung ereignet sich alles, was in und mit Texten überhaupt geschehen kann.“127 Dass „Text überhaupt“128 mit dem literarischen Text fast verschmilzt, mag irritieren. Dass hingegen die Ordnung der Leitbegriffe sowohl „Wörtlichkeit und Wiederholung“129 als auch „Wiederholung und Wörtlichkeit“130 lauten kann, scheint fürs erste der Unterscheidung von Sach‑ und Erkenntnisordnung geschuldet. Mit dieser Eröffnung beginnt der auf‑ oder vielmehr absteigende Weg Lobsiens zu einer Phänomenologie der Leseerfahrung, die ihresgleichen sucht und das zu Text und Lesen bisher Vorgetragene in neuen Schwung setzt. Zunächst scheint es, als ob Wörtlichkeit und Wiederholung sich zueinander im Verhältnis des Antagonismus befänden. In der Tat: „Jede Wiederholung bestreitet die Möglichkeit der Wörtlichkeit.“ Und: „Jede erfahrene Wörtlichkeit ihrerseits desavouiert Wiederholungen […].“131 Sich selbst überlassene Wörtlichkeit strebt danach, den Text in seiner einmaligen Prägnanz zur Erscheinung zu bringen. Prägnanz des Textes besagt, dass dieser sich selbst uneingeschränkt präsent zeigt, ungebrochen und uneingeschränkt durch Repräsentanz. Die Zeit des Texts in seiner Wörtlichkeit ist verdichtete Jetztzeit, erfüllter Augenblick. „Ecce nunc est tempus acceptabile, nunc est dies salutis“ heißt es 2. Korinther 6,2 in Bezug auf den wörtlich genommenen Spruch Jesaja 49,8. – „Gegenläufig“ zur Wörtlichkeit132 bringt die Wiederholung Zeit nicht als nunc stans, sondern in ihrer Zeitlichkeit zur Geltung. Keine Wiederholung, ohne dass die anscheinend exzeptionelle Singularität der Texterfahrung zur bloßen Zeitstelle in der Vergangenheit herabsinkt, die als solche erneut ins aktuelle Bewusstsein zurückgeholt wird. Was sich im Text wiederholt, begegnet an zwei Stellen der linear verlaufenden Sukzessivität; was in der Wörtlichkeit A als schlechthinnige Präsenz erschien, wird bei Wiederholung zu Aº, wobei das Indexzeichen º die Gegenläufigkeit nur dann hinreichend zum Ausdruck bringt, wenn es als Nullzeichen verstanden wird. Die Wiederholung negiert, was sich im Schein von Einmaligkeit und Unmittelbarkeit im wörtlichen A versammelt haben mag: Prägnanz, Präsenz, Affirmation der Interpretation. Die alte Linearität des Textes, sicherste Materialisierung von Zeitlichkeit, gewinnt Oberhand und dekuvriert das solenne Stehenbleiben des Textes in seiner Wörtlichkeit als bloßes Stehengebliebensein. – Soweit kann man die Pointierung des Antagonismus von Wörtlichkeit und Wiederholung treiben, doch entsteht dadurch nicht mehr als eine Abstraktion. Solange man die Verkehrung von „Wörtlichkeit und Wieder127 Lobsien,
ebd. 10. Lobsien, ebd. 22 f. 129 Lobsien, ebd. Titel. 130 Lobsien, ebd. Titel Kap. 1. 131 Lobsien, ebd. 12. 132 Lobsien, ebd. 11; cf. 14, 88. 128 Cf.
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holung“ in „Wiederholung und Wörtlichkeit“ nur aus der Unterscheidung von Sach‑ und Erkenntnisordnung erklärt, verlässt man den Bereich der Abstraktion nicht. Vielmehr muss vom bloßen Antagonismus fortgeschritten werden zur Figur der chiastischen Verschränkung, die beide Seiten gegenwendig vereint. Nie stehen sich Wörtlichkeit und Wiederholung entgegen, ohne dass jede von beiden schon die Gegentendenz in sich trägt. So könnte die erfüllte Wörtlichkeit des gegenwärtigen Augenblicks nicht beschrieben werden, ohne dass Vergangenheit zum Gegenstand von Erwartung und Zukunft zum Gegenstand von Erinnerung wird. Die Zeitverläufe verschränken sich wechselseitig. Die vermeintlich pralle Wörtlichkeit wird dem Verdacht ausgesetzt, sie könne nichts gewesen sein als Ansammlung von Klischees.133 Und wiederum die Wiederholung kann gar nicht gedacht werden, ohne dass sie in eine Wörtlichkeit zweiten Grades ausgeht, die zwar nicht mehr naiv ist wie die erste, aber nicht weniger ereignishaft wie diese. Paul Ricœur sprach von erster und zweiter Naivität,134 und diese Differenz stellt sich ein, sobald Wörtlichkeit und Wiederholung sich nicht bloß in abstracto, sondern als tatsächliche Leseerfahrung gegenseitig verschränken. Resultat: Erst eine Wörtlichkeit durch Wiederholung und eine Wiederholung nach vorgängiger Wörtlichkeit stiften das, was belangvollerweise als Lektüre bezeichnet werden darf. Die wechselseitige Verschränkung von Wörtlichkeit und Wiederholung, ihre sozusagen chiastische Disposition, befördert Texte in den Bereich genuiner, unverwechselbarer Erfahrung.135
Was sich innerhalb dieses Chiasmus zuträgt, ist, wie Lobsien mit einer überraschend idealistischen Wendung sagt, nicht weniger als „das sich wissende Lesen selber“.136 Soviel ist festzuhalten: Sich wissendes Lesen operiert in einem literarischen Feld, das durch Pole begrenzt, aber auch zwischen ihnen ausgespannt ist. Jeder Pol für sich allein wäre ein idealer, bloß abstrakter Grenzwert, aber als Pole tragen sie die Gegentendenz bereits in sich. Was als literarisches Feld erschien, erweist sich als „Kraftfeld“,137 das in seiner Verschränkung Erfahrung konstituiert. Die Phänomenologie literarischer Texte wird im sich wissenden Lesen aktualisiert. Wie nahe sie der Phänomenologie der Erfahrung des Bewusstseins kommt, die unter dem Titel der Phänomenologie des Geistes vorliegt, wird schon daran deutlich, dass Hegel sie als „sich vollbringende[n] Skepticismus“ bezeichnet.138
133 Lobsien,
ebd. 11. umfassend Negel, Welt als Gabe 2013, 280 ff. 135 Lobsien, ebd. 12 f. 136 Lobsien, ebd. 12. 137 Lobsien, ebd. 14. 138 Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, 56,12 f. 134 Dazu
3. Was ist Wiederholung?
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Der poetisch-literarische Text Wir erinnern uns: Klaus Weimar war in seinem Verfahren von oben ausgegangen, von der Poesie, und vermittels von Deduktionen vorgestoßen zur Prosa, Joachim Küpper wiederum von unten, von der Prosa, und war nur widerwillig und unter Vorbehalt bis zur Lyrik gelangt. Hier dagegen, bei Eckhard Lobsien, wird wohl unterschieden zwischen Prosa und Poesie, auch werden nacheinander zwei Ansätze zur Einführung der Leitbegriffe Wörtlichkeit und Wiederholung vorgetragen, von denen der eine im Zeichen der Prosa, der andere im Zeichen der Poesie steht. Bezogen „auf den Fall poetischer Sprache“, sagt Lobsien, was auf Poesie als Kasus eines allgemeinen Gesetzes schließen lässt; aber kaum ist der Kasus da, mutiert er auch schon zum „Modell“, das dem allgemeinen Gesetz weniger untersteht, als es erschließt.139 Damit ist alles Nötige zum Unterschied zwischen Poesie und Prosa gesagt; auf der einen Seite tut der poetische Text nichts als der prosaische, nur in besonderer Weise; insoweit ist er ein Fall; auf der anderen tut er es so, dass er das, was im prosaischen Text geschieht, modellhaft vorführt, offenlegt, reflektiert. Die Grenze bleibt fließend. Zwar kann man sagen: „Was literarische Texte […] zu leisten vermögen, findet sich in poetischen Texten noch einmal gesteigert, verdichtet, potenziert“,140 aber dies schließt nicht aus, dass ein poetischer Text tut was der prosaische tut, nur sichtbar, unübersehbar. Das heißt, dass der poetische Text zwischen den Polen Wörtlichkeit und Wiederholung nicht nur vagiert oder, mit Küppers Lustwort, divagiert, sondern das im Vagieren Implizierte explizit zu Stand und Wesen bringt. Deshalb kommt dem poetischen Text als Fall und Modell in der Sprach‑ und Textwelt eine unvergleichlich hohe Stellung zu – man wollte unverzüglich sagen: die höchste, wenn an Kraftausdrücken gelegen wäre. Angelangt an dieser Stelle, widerfährt Lobsien, der sich nirgendwo nachsagen lassen muss, er sei nicht Herr des Verfahrens, dass plötzlich, wie in einem Augenblick inspiratorischer Ohnmacht, aus seinem Text ein anderer spricht als er selbst. In Ansehung der unvergleichlich hohen Stellung der Poesie repetiert er dreimal: Poesie „aktiviert“ die Segmente der Lebenswirklichkeit; sie aktiviert erstens „sämtliche Modi von Zeit und Zeitbewußstein“, sie aktiviert zweitens „sämtliche Sprachfunktionen“ und aktiviert drittens alle „drei systematischen Peirce’schen Funktionen“, Indexalität, Ikonizität und Symbolizität.141 Das heißt, dass die Poesie auf jeder der drei Ebenen, die wir tentativ Segmente der Lebenswirklichkeit nannten, nicht weniger als alles aktiviert, und man darf in der dreifachen Häufung segmentarischer Ganzheiten eine Tendenz erkennen, die darauf hinausläuft, dass Poesie schlechthin alles aktiviert. Wiederum geht es nicht um Kraftäußerungen, sondern nur darum, den 139
Lobsien, ebd. 13. Lobsien, ebd. 14. 141 Lobsien, ebd. 13 f, 30. 140
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inspirierten Klang der Vokabel „aktiviert“ wahrzunehmen, die nun auf ihre Quelle zurückzuführen ist. Auf dem Höhepunkt seiner Theorie der Poesie versammelt Roman Jakobson alle Facetten des Poetischen in einen einzigen Gesichtspunkt und konstatiert: Das Prinzip des Poetischen – das ist für Jakobson der „durchgehende Parallelismus“ – „aktiviert unausweichlich alle Ebenen der Sprache“, sodass diese „einen autonomen poetischen Wert“ annehmen.142 Angesichts der hohen Komplexion dieses Sachverhalts zögern wir nicht, zwei der drei Aktivierungsebenen einzeln vorzunehmen. Erstens: Der poetische Text ist ein unüberbietbares Modell anthropologischer Befindlichkeiten in dreifacher Hinsicht. Er ist Modell menschlichen Weltbezugs im Allgemeinen. Nicht verhält es sich so, dass die Poesie zu einem an sich schon eröffneten Weltbezug hinzutritt, sei es als verzichtbarer Überschuss oder als schmückende Beigabe, sondern Weltbezug ist ohne das poetische Modell zeichenvermittelter, semiotisch gebrochener Referenz nicht zu denken. Ferner: Der poetische Text ist auch das Modell menschlichen Selbstbezugs. Die Selbstauslegung des Daseins müsste im Leeren stochern, wenn sie nicht Anhalt fände am Modell des poetischen Textes und seiner Auslegungen. Und schließlich ist der poetische Text darin „ein unüberbietbar prägnantes Modell anthropologischer Befindlichkeit, als er sämtliche Modi von Zeit und Zeitbewußtsein reflexiv aktiviert“.143 Gemeint sind die bereits erwähnten Phänomene des Scheins von Präsenz und das übermächtige Versinken in der Vergangenheit durch Retention und Reproduktion bzw. Repräsentanz, was die Figur Präsenz, Entzug der Präsenz und deren Wiederkehr als eingetretene, vollendete Zukunft ergibt. Hier wird in aller gebotenen Verhaltenheit etwas angedeutet zu Lesen und Leben. Anthropologie ist ein aufsässiges Thema und droht stets damit, mehr zu wollen und vor allem: anderes zu wollen als die bloße Lese‑ und Texttheorie, und sei diese noch so abgründig.
142 Jakobson, Grammatical parallelism and its Russian facet 1966, SW 3, 129: „Pervasive parallelism inevitably activates all the levels of language: the distinctive features, inherent and prosodic, the morphologic and syntactic categories and forms, the lexical units and their semantic classes in both their convergences and divergences acquire an autonomous poetic value. This focusing upon phonological, grammatical, and semantic structures in their multiform interplay does not remain confined to the limits of parallel lines but expands throughout their distribution within the entire context […].“/Poetik, 297: „Der durchgehende Parallelismus aktiviert notgedrungen alle Ebenen der Sprache – die distinktiven Eigenschaften, inhärente wie prosodische, die morphologischen und syntaktischen Kategorien und Formen, die lexikalischen Einheiten und ihre semantischen Klassen in ihren Konvergenzen wie Divergenzen nehmen alle einen autonomen poetischen Wert an. Diese Einstellung auf phonematische, grammatische und semantische Strukturen in ihrer vielfältigen Wechselwirkung beschränkt sich nicht auf die Grenzen paralleler Zeilen, sondern breitet sich über den ganzen Kontext aus […].“ Cf. Berlin, The dynamics of Biblical parallelism 1985, 26; dies., Art. Parallelism 1992, 157b: „[the] most famous dictum on the subject“. 143 Lobsien, ebd. 13.
3. Was ist Wiederholung?
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Zweitens: Der poetische Text gewinnt seine unvergleichlich hohe Stellung dadurch, dass er „sämtliche Sprachfunktionen zugleich aktiviert“.144 An dieser Stelle wird Jakobson ausführlicher. Das poetische Prinzip ergreift grundsätzlich alle Strukturen der Sprache, phonematische, grammatische, semantische. Es schränkt sich nicht auf Dinge wie Verdopplungen in Reim, Rhythmus und Zeilenfolge, die Lobsien gern „banal“ nennt, „sondern breitet sich über den ganzen Kontext aus“. Kontext ist nichts als die Bezeichnung für die Summe aller Ebenen der Sprache: die distinktiven Eigenschaften, inhärente oder prosodische, ebenso die morphologischen und syntaktischen Kategorien sowie die lexikalischen Einheiten, ihre semantischen Klassen in Konvergenz oder Divergenz – schlechthin alles, was Jakobson in strukturalistischer Manier den „Aufbau“ der Sprache nennt, schwingt in der Aktivierung durch Poesie mit, und ohne sie schwingt nichts, weder poetisch noch prosaisch. All dies wird durch die Polarität von Wörtlichkeit und Wiederholung umfasst. Motiviert durch Jakobson vermag Lobsien alle von Weimar und Küpper erörterten und geordneten Kennzeichen des Literarischen in einen einzigen Punkt zu kontrahieren: „Die Wiederholung ist das augenfälligste ‚technische‘ Kennzeichen poetischer Texte – ob sie nun als Äquivalenz oder Parallelismus oder metaphorisches Prinzip thematisiert wird“145 –, womit angedeutet ist, dass die Wiederholung sich in diesen wie möglicherweise noch anderen Gestalten verbirgt.
Die Unterscheidung von Poesie und Prosa
Ausgehend von der Opposition von versus als Merkmal von Poesie und von prorsus/proversus als Etymologie von Prosa liegt der Unterschied leicht am Tage: die prosaische Rede geht vorwärts, die poetische, da Rede offenbar (von Krebs und Palindrom abgesehen) nur vorwärts gehen kann, geht in allem Vorwärtsgehen vorwiegend rückwärts, sodass ihre Opposition manifest wird. Und die Art, wie Weimar die Kennzeichen des Poetisch-Literarischen im Gebiet des Prosaischen gegen Widerstand durchsetzt und Küpper die Kennzeichen des Prosaisch-Literarischen im Gebiet des Lyrischen wenigstens durchzusetzen sucht, kann nur aus der Opposition erklärt werden, die zwischen Poesie und Prosa schon vi vocis besteht. Bei Lobsien war davon nicht viel zu spüren; er geht zwischen Prosa und Poesie nach Bedarf hin und her, als ob es sich lediglich um verschiedene Intensitäten, Kondensationen, Potenzen desselben handelte. Daran, dass sie zwischen Wörtlichkeit und Wiederholung ausgespannt sind, ändert die Opposition nichts. Sobald Texte den Pol der reinen Wörtlichkeit verlassen – und dass sie ihn verlassen, ist schon deshalb unvermeidlich, weil Wörtlichkeit immer schon von Wiederholung durchsetzt ist –, befinden sie sich auf einem Pfad, der nicht mehr von vorn144 145
Lobsien, ebd. 14. Lobsien, ebd. 15.
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§ 6 Literatur und Liturgie
herein unpoetisch genannt werden kann. Alle Texte befinden sich auf dem Weg zum Poetischen, aber nicht alle Texte sind poetisch. Unbeschadet dessen, dass alle Texte sich schon im Kraftfeld des Poetischen befinden, gibt es prosaische Texte. So erscheint die Unterscheidung von Prosa und Poesie wie ein Kontinuum, eben ein solches der Intensität, Kondensation, zugleich legt sich Diskontinuität darüber, sobald auf zweiter Ebene reflektiert wird. Es ist ein Unterschied zwischen Lesen und sich-wissendem Lesen, zwischen Text und Text selbst. Mit anderen Worten: Es ist ein Unterschied zwischen Verfahren und Offenlegung des Verfahrens,146 um die обнажение приёма des russischen Formalismus aufzunehmen. Was der prosaische Text macht, macht der poetische als Gemachtes sichtbar. Der prosaische Text wird gelesen mit stillschweigender Wiederholung, der poetische legt die Wiederholung textuell bloß. Er vollzieht, was implizit geschieht, explizit. Er macht, was unthematisch im Gange ist, thematisch. Er bringt, was vorreflexiv ist, zur Reflexion. Somit ist klar: Jeder Text, auch der prosaische, hat seine Transzendentalität, aber nur der poetische stellt seine Transzendentalität zugleich reflexiv dar. Lobsien hält dies mit starken Sätzen fest: Die Bedingungen der Möglichkeit des Textes sind durch die Wiederholung in ihm selber lesbar gemacht, denn jede Wiederholung rückt die temporalen Verhältnisse, denen sich der Text verdankt, in thematische Stellung. Die Wiederholung läßt die Seinsweise zum Verfahren und zum Thema werden – sie etabliert sich als Allegorie des Textes. Der poetische Text ist durch eine besondere Dichte und Vielschichtigkeit von Wiederholungen geprägt; mithin hat er als höchstmögliche Selbstreflexion, als ausgeprägteste allegorische Selbstrepräsentation zu gelten, die überhaupt im sprachlichen Medium erreichbar sind. Vermöge seiner Wiederholungsstruktur, die zu lesen ist als Thematisierung der Bedingung seiner (temporalen) Möglichkeit, ist der poetische Text eo ipso Transzendentalpoesie.147
Für die Unterscheidung von Poesie und Prosa sind daher beide Gesichtspunkte, Kontinuität wie Diskontinuität, in aller Klarheit festzuhalten. Kontinuität deshalb, weil jeder literarische Text sich in einem Mehr oder Minder des Poetischen befindet. Dieses unvermeidliche Quantitieren führt aber mitnichten dazu, die qualitative Kante zwischen Poesie und Prosa aufzugeben. Sie besteht in der Differenz zwischen impliziter und expliziter, verdeckter und bloßgelegter, unthematischer und thematischer Transzendentalität. Wenn also das Merkmal des Poetischen ausgespannt ist zwischen Nie-nicht auf der einen und Dann-und-nur-dann auf der andern Seite, und wenn diese Spannung nicht etwa Schwäche, sondern begriffliche Stärke verrät, dann lässt sich festhalten: Das Poetische hat keine eigene Sprache. Das ist kein Ausdruck von Schwäche, sondern von Stärke. Das Poetische verliert an Qualifikation 146 147
Lobsien, ebd. z. B. 16, 29, 72, 139 Anm. 30. Lobsien, ebd. 72.
3. Was ist Wiederholung?
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nichts, wenn es keine eigene Sprache hat.148 Im Gegenteil. Ihm eigene Sprache zu vindizieren, führte in Enge und Ersticken. Totes Ende von Poesie: das wäre ein antiquierter Bestand lexikalischer Einheiten, der sich aus dem lebendigen Sprachgebrauch verabschiedet und nur noch im poetischen Gebrauch erhält. Die Qualität der Poesie besteht darin, dass sie sämtliche Sprachfunktionen aktiviert und innerviert, und sämtliche zugleich. Poesie behält ihre Eigentümlichkeit nicht für sich, kommuniziert sie vielmehr durch alle sprachlichen Ebenen hindurch. Ihre Eigenheit, keine Eigenheit zu haben, fördert ihre Teilgabe ans weite Feld des Literarischen, das sich zur Poesie in Teilnahme verhält. Nun gibt es aber, wie Küpper betonte, kein klar delimitiertes Feld, keinen besonderen Gegenstand und folglich auch keine eigene Sprache des Literarischen. Gerade darin, dass sich das Literarische im Verhältnis zum Nicht-Literarischen „weniger privativ als partizipativ“ verhält,149 erweist es sich seinerseits als teilhabend am Poetischen, dessen Eigenheit im Teilgeben, also im Dahingeben besteht. Daher die χάρις, von der die Rede war. Es sollte nicht erstaunen, dass, wenn die Frage nach der literarischen Sprache sich als Vorübung für die nach der poetischen Sprache erweist – der nach Lobsien höchstmöglichen Selbstreflexion im sprachlichen Medium –, dann auch die Frage nach der religiösen Sprache ohne Vorübung in der poetischen nicht sinnvoll gestellt werden kann.
Projektion und Reflexion Angelangt bei der bisher höchsten Selbstreflexion, die im sprachlichen Medium stattfindet, treffen wir in deren Entfaltung auf eine charakteristische Differenz zwischen Jakobson und Lobsien. Jakobson spricht von Projektion, Lobsien von Reflexion. Der Richtungssinn ist entgegengesetzt. Jakobson, geleitet von proversus, blickt auf die Entstehung von Prosa, Lobsien, geleitet von versus, auf die von Poesie. Dennoch beschreiben beide Wiederholung, der eine vorzüglich unter dem Stichwort des Parallelismus, der andere vorzüglich, wenn auch nicht ausschließlich unter dem der Wiederholung. Durchgehender Parallelismus sei nichts als „ständige Wiederholung“, will Jakobson sagen;150 Lobsien kehrt um: „Wiederholung bzw. der Parallelismus“.151 Beide sind dabei, zu beschreiben, was Poesie ist und tut; der eine unter dem Stichwort der „poetischen Funktion der Sprache“, sobald sie zwar von referentieller, emotiver, konativer, phatischer und metasprachlicher Funktion unterschieden wird, diese gleichwohl dominiert,152 der andere unter dem Stichwort des „poetischen Prinzips“, womit der erste seine Herkunft aus Strukturalismus und 148 Lobsien,
ebd. 14.
149 S. Anm. 47.
Jakobson, Linguistik und Poetik 1960, Poetik, 111/SW 3, 42: „repetitiveness“. ebd. 29. 152 Jakobson, ebd. 92–96/25–29. 150
151 Lobsien,
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§ 6 Literatur und Liturgie
Funktionalismus, der zweite seine Herkunft aus Transzendentalphilosophie und Phänomenologie zu erkennen gibt. Folgen wir Lobsien zuerst. Der poetische Text stellt, was in den Akten des Lesens an sich schon stillschweigend und implizit geschieht, die im Text explizit erscheinende Wiederholung dar. Er macht genauso lesbar, was im Lesen geschieht, wie er als Text vorführt, was in Texten geschieht. In dieser Doppelaufgabe erweist er sich als Teil von Kunst überhaupt. Wie Kunst die Fähigkeit besitzt, ganz bei sich selbst zu sein, während sie sich auf anderes bezieht, und mit dem, was sie stillschweigend leistet, zugleich die Bedingungen ihrer Leistungen bloßlegt, so auch die Wortkunst, der poetische Text.153 Er arbeitet nach außen im gleichen Modus wie die Wiederholungen in ihm, arbeitet also zugleich auf der Ebene des Durch, auf der er sich äußerlich darstellt und auswickelt, wie auf der Ebene des In, in der er sich entzieht und einwickelt. Beide Ebenen durchkreuzen sich. Der Fundus, mit dem Kunst wie Wortkunst arbeiten, ist der Doppelcharakter der Zeichen. Während der Signifikant vermittels des Zeichens in gegenständlicher Richtung auf das Signifikat weist, verweist der Signifikant im Zeichen auf ein anderes Zeichen, ähnliches oder unähnliches, synonymes oder antonymes. Oder er verweist auf sich selbst. Im Zeichen gehen die Ebenen semiotischer Direktheit und metasemiotischer Indirektheit durcheinander. Sie durchkreuzen sich. „Das Grundprinzip der Zeichenorganisation“ in Kunst und Sprachkunst „ist die Wiederholung bzw. der Parallelismus“.154 Wenn also „[d]as Wiederholungsspiel der Zeichen ist wie das Verweisungspiel ‚in‘ ihnen“, und wenn „das, was ‚im Innern‘ eines Zeichens wirksam ist (und es konstituiert)“, im poetischen Text „ständig dargestellt, outriert wird“,155 dann ist die Grundbewegung, die bei Auffassung des poetischen Textes zu vollziehen ist, die der Reflexion, sodass im Verfolg der semiotischen Ebene die metasemiotische bloßgelegt wird. Das zeigt, dass der poetische Text ausgespannt ist zwischen dem Lesbar-Machen des poetischen Grundprinzips der Sprache auf der einen und der Unlesbarkeit der poetischen Sprache auf der anderen Seite, unlesbar, weil sie der Temporalisierung widersteht und die Aufhebung der linearen und sukzessiven Zeichenordnung anstrebt.156 Der poetische Text gehört als ganzer und in allen Teilen „zwei konträren Ordnungen“ an, „der additiven, linear-syntagmatischen Zeichensequenz und einem simultan-paradigmatischen System.“157 Daher entspricht ihm von allen Arten der Interpretation die paradoxe am besten. Auf den Umstand, dass der Text in sich „einen unlösbaren Konflikt gegenläufiger Prinzipien“ austrägt, antwortet sie, indem sie jedes Textelement doppelt aufzufassen lehrt. Jedes Wort, jede Phrase, jede rhetorische Fügung, jede Strophe 153 Lobsien,
ebd. 16 f. ebd. 29. 155 Lobsien, ebd. 30. 156 Lobsien, ebd. 31. 157 Lobsien, ebd. 75. 154 Lobsien,
3. Was ist Wiederholung?
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steht in der Widerspannung, ganz lesbar zu sein bei Verweisung auf das, was es wörtlich sagt, und ganz unlesbar bei transzendentaler Reflexion auf das, was es wiederholt. „Der Sinn poetischer Texte, so erklärt diese [sc. die paradoxe] Interpretation, sei die Demonstration der Aporie des Sinnes.“158 Entsprechend, nur spiegelbildlich verkehrt, verhält sich Jakobsons Aussage zur Projektion. Projektion ist umgekehrte Reflexion, und Jakobson glaubt von ihr reden zu können unter Verzicht auf transzendentalphilosophische Reflexion, die das Ursprünglichere nur als Zweites und in seiner Gebrochenheit erkennen kann. Jakobsons Aussagen scheinen daher einfacher als die Lobsiens; in Wahrheit operieren sie auf einer de facto schwierigeren, unzugänglicheren Ebene. Man muss, um den Schlüssel zu Jakobsons sogleich zu nennendem Projektionssatz zu finden, von der Entstehungsgeschichte seines Werkes ausgehen. – Auf der einen Seite weist es zurück auf die frühe Epoche des russischen Formalismus, der zur Unterscheidung der poetischen Sprache von der alltäglichen in phänomenologischer Absicht Begriffe wie „Selbstwertigkeit“, „Selbstwindendheit“, „Einstellung auf die Botschaft um ihrer selbst willen“, „Wort als solches“ geprägt hat, die Jakobson sich zu eigen macht.159 Schwächer, weil formaler, ist der Terminus der ästhetischen „Eigengesetzlichkeit“ oder „Autonomie“, der von den Zeitgenossen Jakobsons bevorzugt wird. Ihren nicht zu übertreffenden Höhepunkt findet die phänomenologische Linie im erwähnten Essay Was ist Poesie? Dort fragt Jakobson: „wodurch manifestiert sich die Poetizität?“ Und antwortet: „Dadurch, daß das Wort als Wort […] empfunden wird.“160 – Auf der anderen Seite muss diese erratische161 Einsicht eingefügt werden in den Kontext von Sprachtheorie und Strukturalismus. In die Sprachtheorie so, dass Karl Bühlers dreifaches Funktionsschema der Sprache, bestehend aus sachbezogener Darstellung, senderbezogenem Ausdruck und empfängerbezogenen Appell, Stück um Stück erweitert wird. Während Bühlers Organonmodell sich auf der Ebene pragmatischer Anwendung bewegt, lässt sich Jakobson mit drei zusätzlichen Funktionen, in der Reihenfolge ihrer Entdeckung: poetische, metasprachliche und phatische, auf eine neue Ebene katapultieren. Pilotfunktion übernimmt die poetische Funktion und behält sie. Einerlei ob man sie als ästhetische von den pragmatischen oder als selbstbezogene von den sachbezogenen Funktionen abhebt, in jedem Fall sprengt sie das Organonmodell. Alle sechs Funktionen spielen zusammen, keine kann isoliert werden, auch nicht die poetische. Aber Einzelfunktionen können dominant hervortreten, und dies ist gemeint, wenn abgekürzt von der poetischen Funktion die Rede ist. Die damit gefundene Antwort auf die Frage nach der Poesie wird nicht nur in Bühlers Sprachtheorie, sondern auch in den Strukturalismus eingefügt. Nun wird die phänomeno158 Lobsien,
ebd. 75 f. Jakobson, Новейшая русская поэзия 1919/21, SW 5, 303, 305. 160 Jakobson, Was ist Poesie? 1933/34, TRF 2, 414 f/Poetik, 79. 161 Hansen-Löve, Allgemeine Häretik 1996. 159
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logische Definition der poetischen Sprache – Wort als Wort – in eine strukturalistische übersetzt. In Aufnahme des von Mikołai Kruczeswski und Ferdinand de Saussure entwickelten Zweiachsenmodells der Sprache projiziert Jakobson, was der phänomenologischen Definition zufolge das Erscheinen der Sache selbst war: Wort als Wort, von der Vertikale in die Horizontale. So entsteht Jakobsons vielzitierter162 Projektionssatz: „Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination.“163 An die Stelle der Projektion kann auch der Gesichtspunkt der Überblendung oder Überlagerung treten.164 Indem Wort als Wort in die Zweiachsentheorie des Strukturalismus überführt wird, geschieht Verlagerung des Äquivalenzprinzips auf die Sequenz. Nun wird die in der Sequenzialität des Textes zutage tretende Wiederholung in ihrer Herkunft aus dem phänomenologischen Wort als Wort erkennbar. Aber Wort als Wort, mithin dasjenige, was Lobsien als Wörtlichkeit beschrieben hat, ist in sich selbst schon Wiederholung, allerdings eine solche, die noch nicht in die zeitliche und räumliche Abfolge des Textes eingetreten ist, sondern für sich blieb. Offenbar will Jakobson erzählen, wie es zur Projektion von vertikalem Wort als Wort in die horizontale Sequenz kam. Jakobsons Neigung zum Projizieren bedarf ständiger Disziplinierung durch Lobsiens transzendentalphänomenologische Reflexion. Reflexion ist der wirkliche Ort der Projektion.
Dieser Gott dieses Textes
Dass Gott im Text erscheint, dürfte bei Jakobson auszuschließen sein von vornherein; Gott ist keine Kategorie, die zur Analyse von literarischen und poetischen Texten erforderlich ist. Entbehrlich auf der formalen Ebene, lässt sich gleichwohl auf der materialen nicht ausschließen, dass Gott im Text erscheint. Warum auch nicht; Jakobsons Textwelten sind so weit wie die Welt ist: Literatur, Poesie, Alltagsrede, Werbung, Folklore, Bibel, Mythos. Gott kann also verschieden in Erscheinung treten, wörtlich abwesend wie wörtlich anwesend, wenn letzteres, dann sowohl in erster wie in zweiter Wörtlichkeit, das heißt nichtwiederholt und wiederholt, wenn aber wörtlich abwesend, dann ab162
Cf. Lobsien, ebd. 31, 75. Jakobson, Linguistics and poetics 1960, SW 3, 27: „The poetic function projects the principle of equivalence from the axis of selection into the axis of combination.“/Poetik, 94. Ebenso: Поэзия грамматики и грамматика поэзии 1961, SW 3, 70: поэзия, налагая сходство на смежность, возвoдит эквивалентность в принцип построения сочетаний./Poetik, 242: „daß die Poetik, die die Ähnlichkeit auf die Achse der Kontiguität der Texteinheiten projiziert, die Äquivalenz zum Bauprinzip der Wortkombination macht.“ 164 Jakobson, Poetry of grammar and grammar of poetry 1968, SW 3, 92: „that in poetry similarity is superimposed on contiguity […].“/Aufsätze zur Linguistik 1974, 253: „daß in der Poesie, also dort, wie die poetische Funktion der Sprache über die referentielle dominiert, das Prinzip der Äquivalenz, d. h. die Similarität, der Kontiguität, also der Abfolge der Zeichen im Text, überlagert wird.“ 163
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wesend nicht schlechthin, sondern verschwunden in Retention und bedürftig der Reproduktion. Selbst wenn man sich bei den verschiedenen Formen der Anwesenheit von Gott im Text beruhigen wollte und zum Resultat gelangte, Gott sei irgendwie, wenn nicht auf die eine, dann doch auf die andere Weise im Text, bleibt in Kraft, was in Bezug auf Jakobson gesagt wurde. Dass Gott im Text erscheint, ist auszuschließen von vornherein. Der Grund ist einfach: Zu so etwas wie Text kommt es nur, wenn Gott effektiv ausgeschlossen ist. Mangelt es einem Text an solch ausschließender Kraft, dann ist am Ende weder der Text Text, noch Gott Gott, und somit ist der Befund bei Jakobson kein Zufall, sondern beweist System. Die Ausschließung dessen, dass Gott in einem Text erscheint, schließt zwar nicht aus, dass Gott in einem Text erscheint, schließt aber aus, dass Gott Gott ist, zum Besten des Textes wie zum Besten Gottes. Wenn dagegen Lobsien, mit genau dieser Problemkonstellation vor Augen, dazu gelangt, vom Gott eines Textes auf ebenso seriöse wie ironische Weise zu sprechen, dann deshalb, weil er in Sätzen wie „‚Gott‘ ist Gott“ und „‚Gott‘ ist nicht Gott“ Formen von Wiederholung erkennt, und genau diejenigen, die in der von ihm bevorzugten paradoxen Interpretation am Werk sind. Paradox heißt die Interpretation, die darauf reagiert, dass im Text ein unlösbarer Konflikt gegenläufiger Prinzipien ausgetragen wird, wenn aber gegenläufig, dann nicht ohne Ironie. „Die Wiederholung setzt und streicht in einem Vollzug die Identität von A und Aº, was wiederum nichts anderes heißt, als daß sich die Wiederholung, indem sie sich ereignet, selber ironisch aufhebt. Die Wiederholung behauptet zugleich Aº = A und Aº ≠ A […].“165 Ebendies sind die Formeln, in denen mit Jakobson das Erscheinen Gottes im Text zu denken war, in materialer Hinsicht als faktisch gegebenes und in formaler Hinsicht zugleich als kategorial ausgeschlossenes. Beides fasst Lobsien zusammen, indem er von der „Doppelgesichtigkeit der Wiederholung“ spricht.166 Die entscheidenden Wendungen zum Gott im Text prägt Lobsien im Verlauf seiner Arbeit am Textdetail Genesis. Dies ist der Ort, an dem konkrete Lektürearbeit umschlägt in theoretische Spekulation – und umgekehrt. Die Genesis, gelesen als Literatur, fordert energische Abkehr von einer im Sinn verbreiteter Exegese als Schöpfungsgeschichte gelesenen Genesis. Die literarische Qualität der Genesis beruht nicht darauf, sie als literarische Gattung unter anderen – eben als Schöpfungsgeschichte – zu verstehen und ihr sodann einen bestimmten „Sitz im Leben“ zuzuweisen.167 Die Beziehung einer bestimmten literarischen Gattung aufs Leben kommt prinzipiell zu spät. Mehr: Die Annahme von literarischen Gattungen bedeutet die Austreibung von Literatur, wie die Annahme verschiedener Sitze im Leben die Austreibung von Leben. Man kann, was der 165
Lobsien, ebd. 77. Lobsien, ebd. 74. 167 Lobsien, ebd. 85. 166
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Literatur durch Stillstellung in Gattungen entzogen wurde an innerem Leben, nicht kompensieren durch komfortable Zuweisung eines Sitzes im äußeren. Die Beziehung von Textuellem und Existentiellem, von Lesen und Leben ist früher, als dass sie nachträglich hergestellt werden könnte. Literatur ist die Genesis, weil deren sprachlich-linearer Verlauf die prinzipielle Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit der Sequenz in der Horizontalen (wie man sie von einer Genesis erwarten wollte) manifestiert und durch Wiederholung die Wirkmacht der Vertikalen markiert. Zudem gibt bereits der Titel Genesis zu erkennen, dass ein außerordentlich hoher Grad an Selbstthematisierung des literarischen Prozesses vorauszusetzen ist. Und Leben – gemeinhin verstanden als das Andere des Lesens und der Literatur – ist die Genesis nur deshalb, weil sie die radikal-vertikale Andersheit Gottes nicht einfach setzt oder lehrt, sondern sequentiell in den Verlauf ihres Textes aufnimmt und als Leseerfahrung darbietet, wenn man so will: entrollt. Dementsprechend sieht der Text der Genesis aus. „Von Anfang an muß der lineare Hervorgang aus einem voraussetzungslosen Quellpunkt, so wie ihn jeder Text in Anspruch nimmt, zirkulär deformiert werden;“ er „wird deformiert durch Wiederholungen.“168 Wie jeder Text, entspinnt auch die Genesis – sie allerdings im höchsten Grad von Selbstthematisierung und Selbstreflexion – die chiastische Polarität von Wörtlichkeit und Wiederholung. Allerdings die flotte Behauptung, die Genesis entstehe durch spezifische Interaktion von Wörtlichkeit und Wiederholung als Textualität, „die aufs Genaueste der Lebenslage des vor einen absoluten Gott gestellten Menschen korrespondiert“, reicht an die wirkliche Beziehung von Lesen und Leben nicht heran. Vielmehr gilt: Die in der Genesis inszenierte literarische Gegenläufigkeit von Wörtlichkeit und Wiederholung „ist die textuelle Anwesenheit dieses Gottes aus seiner prinzipiellen Abwesenheit heraus.“169 Wenn nun aber der Doppelgesichtigkeit entsprechend die Wiederholung sich abspielt sowohl horizontal in der Form Aº = A als auch vertikal in der Form Aº ≠ A, dann ergibt sich in der Genesis wie mehr oder weniger in jedem sonstigen Text: „Der Gott dieses Textes hat seinen Ort weder in der Sukzession der Zeichen (Wiederholung Typ 1) noch in den Klammern und Chiasmen, die diese Sukzession überwölben (Wiederholung Typ 2).“ Vielmehr: „Er ist die als sie selber ganz unsichtbare, ja undenkbare reine Wiederholung, das reine Integral aller im Text exekutierten Wiederholungen.“170 Damit hat Lobsien klargemacht: Es tritt uns entgegen der Text „dieses Gottes“171 auf der einen, und der Gott „dieses Textes“172 auf der anderen Seite. Beides ist ein und derselbe Sachverhalt. 168
Lobsien, ebd. 88. ebd. 88 (kursiv Vf.). 170 Lobsien, ebd. 98. 171 Lobsien, ebd. 88. 172 Lobsien, ebd. 98; nicht zu verwechseln mit dem Autor als „Gott des Textes“: Weimar, ebd. § 249 Anm. 169 Lobsien,
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b. Die Antwort der Phänomenologie Schon die Antwort der Literaturtheorie war eine solche der Phänomenologie. Was Lobsien vorlegte, war eine „Phänomenologie poetischer Sprache“, wobei Sprache und Text ineinanderfließen. Die Erhellungskraft seiner Studie ist von solcher Art, dass für eine über Literaturtheorie hinausgehende phänomenologische Untersuchung kein Bedarf ist, geschweige denn Platz. Gerade in ihrer disziplinierten Konzentration auf Lesen und Text unter methodischer Ausschließung von Leben und Welt sagt sie mehr über Leben und Welt, als wenn sie sich der strikten Limitierung auf Literatur nicht unterzogen hätte. Nur indem sie von dieser und nichts anderem spricht, vermag sie von allem zu sprechen. Sie spricht von allem so, dass ihr der Anspruch, von allem gesprochen haben zu wollen, völlig fremd ist. Während durch Lobsiens Disziplin die Spannung des literaturtheoretischen Diskurses in die Höhe getrieben wird, ist schwer sichtbar, wie sich daneben ein phänomenologischer Diskurs installieren und behaupten soll. Bernhard Waldenfels setzt sich diesem Druck aus, weil sein Essay Die verändernde Kraft der Wiederholung in Kenntnis von Lobsiens Arbeit, aber unabhängig von ihr entstanden ist, als Summe seines philosophischen Werks.173 Die Schubkraft dieses Essays folgt eigenem Antrieb und geht mehr an Lobsien vorbei als auf ihn ein. Hinzu kommt, dass Waldenfels’ Text, anders als Lobsiens vorwärts drängender Erkenntniseroberungstext, eher den Charakter des Rückblicks hat. Daher seine Kürze, die sich in Anbetracht dessen, dass sich „die Sache selbst“ auf den letzten von vier Abschnitten beschränkt, an den die drei vorangehenden nur „heranführen“,174 sogar zur Ultrakürze zuspitzt. Geht soweit alles in Bahnen der aus Waldenfels’ Gesamtwerk vertrauten Phänomenologie, und liegt der Schlussabschnitt „Genuine Wiederholung“ durchaus in der Konsequenz dessen, was von Anfang an zur Phänomenologie des Sichwiederholens ausgebreitet war, überrascht Waldenfels mitten in der „genuinen“ Wiederholung mit der Erklärung: „Doch mich interessiert noch etwas anderes.“175 Was? Es sind „die Grenzen der Wiederholung“.176 Die Grenze der genuinen Wiederholung ist die reine Wiederholung. Man kann Grenzen mögen oder nicht; Waldenfels scheut das Lamento oder Tremolo, das an ihnen zu entstehen pflegt, und hält sich fern davon. Als ganzer muss der Essay gelesen werden nicht nur als zur Ultrakürze hineilende Kürze, sondern als gegen alle Gewohnheit zu den Grenzen hineilende Ultrakürze. Sie wird durch drei Umschläge markiert: Umschlag in Mystik, Umschlag in Mythos und Umschlag in Epiphanie. Grenzwertig sind alle drei, dementsprechend unterliegt die Ultrakürze noch einmal einem exzessiven 173 Waldenfels,
Die verändernde Kraft der Wiederholung 2001, 5 Anm. 1. Waldenfels, ebd. 5. 175 Waldenfels, ebd. 14. 176 Waldenfels, ebd. 6. 174
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Galopp. Wir antworten auf die Geschwindigkeitskurve von Waldenfels’ Essay so, dass wir umgekehrt seinen gemächlichen Beginn mit Schnelligkeit, sein rasantes Finale mit Langsamkeit quittieren. Auch Waldenfels beginnt, wie Lobsien, mit der Figur des Minimax, die ihrerseits nur die Gegenseite eines Maximin ist. Das Phänomen des Sichwiederholens ist auf der einen Seite weit, aber nie soweit, dass man es nicht weiter denken könnte. – Auf der Seite des Maximums besteht an Beispielen kein Mangel. Es gibt Wiederholung, soweit man sieht. In der Natur wiederholen sich Blätter und Gesichter, rhythmische Wechsel wie Wellenberg und Wellental. Dem respondieren in der Sprache Reime und Litaneien, in der Musik Variationen, in der Kunst Ornament und Rapport, in den Handlungen Habitualisierung und Institutionalisierung, Politisierung und Ritualisierung. Es sind „Welt‑ und Daseinszustände“ wie Hunger und Sättigung, und fügen wir hinzu: Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht, „die erst so etwas wie Welt und Dasein im ganzen entstehen lassen“ und zu der Einsicht führen, „die Wirklichkeit der Welt und des Daseins bestehe in der Wiederholung.“177 Indem die Reichweite der Wiederholung ihrem Maximum zutreibt, wird deutlich, wie satt sie in der Mitte von Weltgetriebe und Lebenswelt sitzt. „Ohne Wiederholung droht der Rückfall ins Nichts.“178 Mythos, Metaphysik und Transzendentalphilosophie bieten auf verschiedenen Rationalitätsstufen so etwas wie Rettung vor dem Nichts durch Wiederholung.179 – Auf der entgegengesetzten Seite des Minimums empfiehlt es sich, die Vielfalt der Wiederholungen in phänomenologischer Reduktion auf eine „minimale Formel“ zu bringen. Minimal ist, worüber hinaus Kleineres nicht gedacht werden kann. Eine solche Formel lautet: „Etwas wiederholt sich“.180 Jedes Wort ist von Bedeutung. Das „Etwas“ ist ein solches, das weder ein schlechthin Selbes (ταὐτόν, A) noch schlechthin Anderes (ἕτερον, B) ist, sondern „unter anderen Vorzeichen“ wiederkehrt (A – A´). Nicht identisch, taugt es allenfalls zur Identifizierung, und nicht nichtidentisch allenfalls zur Differenzierung.181 Des Weiteren: Dass sich etwas „wiederholt“, bewirkt sowohl zeitliches Nacheinander wie räumliches Nebeneinander; die Wiederholungsformel kann mit dem entsprechenden Index versehen werden. Somit steht A – A´ zwischen der Identität A – A und der Alterität A – B und bewahrt sich vor beiden. Und schließlich: Etwas wiederholt „sich“. Erforderlich hierzu ist „ein Selbst in der Andersheit“, was die Verschränkung von Außen‑ und Innenperspektive voraussetzt. „Im Falle der reinen Außenbetrachtung gäbe es nichts, was sich wiederholt, im Falle der 177 Waldenfels,
ebd. 5 f. ebd. 8. 179 Waldenfels, ebd. 9 f. 180 Waldenfels, ebd. 5. 181 Waldenfels, ebd. 6. 178 Waldenfels,
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reinen Innenbetrachtung gäbe es nichts, was sich wiederholt.“182 Oder mit anderen Worten: Es gäbe nichts, was sich wiederholt, wenn es sich nicht wiederholt. Soweit beschreibt die Minimal-Formel eine Wiederholung, die so satt in der Mitte sitzt, dass ohne Wiederholung nichts ist, was ist. Anders, wenn sie aus der Mitte an die Grenzen getrieben wird. Eine doppelte Grenze taucht auf, sobald mit dem Ersten und Letzten ein anfängliches Nichts ohne Vorher und ein abschließendes Alles ohne Nachher auftaucht, das je nach affektiver Besetzung als Aufstieg oder Abstieg der Zeitläufte erfahren wird. Von der Mitte an die Grenzen verwiesen, erscheint auf der einen Seite der Punkt, an dem sich nichts, auf der anderen Seite der, an dem sich alles wiederholt. Somit droht nicht nur ohne Wiederholung die Regression in Nichts, sondern auch mit Wiederholung der Exzess in Alles.
Die Mystik der reinen Wiederholung Obgleich nun klar ist, dass „genuine“ Wiederholung die extremen Grenzen meidet und sie lediglich nützt, um sich von ihnen wieder abfedern zu lassen hin zur Mitte, und obgleich deutlich ist, dass für genuine Wiederholung die Kürze schon deshalb einzig angemessen ist, weil sie nur kurz und bündig gesagt werden kann, schleicht sich eine Unausgeglichenheit in die Darstellung, die am Ende auch die Ultrakürze in ihren Sog reißt. Zunächst zeigt sich die Unausgeglichenheit nur als „Ambivalenz“,183 wenn die Wiederholung an die doppelte Grenze rührt, dass sich am Anfang nichts, am Ende alles wiederholt. Dies kann verschiedene Färbungen annehmen: Verlust oder Gewinn der Vollendung, die entweder ursprünglich war oder erst schlussendlich eintreten wird. Dann auch – und dies besonders unter dem Druck neuzeitlichen Denkens – Unausgeglichenheit verstärkt zur „Polarisierung“,184 wenn einer der beiden Pole Totalitätsansprüche stellt und die Gegenseite mit Polemik überzieht, sei es als ausschließlicher Regress oder als ausschließlicher Progress der Zeiterfahrung. Alles das ist der genuinen Wiederholung abträglich, und was ihr vom Titel des Essays als „verändernde Kraft“185 zugesprochen wurde, erweist seine Resistenz gegen Ambivalenz und Polarisierung nur, wenn es sich um eine „verändernde und erhaltende Kraft“186 handelt. Wenn also gewiss ist, dass das Extrem der reinen „Urproduktion, bei der sich nichts wiederholt,“ genauso totes Ende ist wie die reine „Reproduktion, bei der sich alles wiederholt“, und ebenso, dass die verändernde und erhaltende Kraft der Wiederholung sich nur „in der Verklammerung beider Produktionsarten“ bewährt 182 Waldenfels,
ebd. 7. ebd. 8, 10. 184 Waldenfels, ebd. 10 f, 13. 185 Waldenfels, ebd. 5, 12 f. 186 Waldenfels, ebd. 12 (kursiv Vf.) 183 Waldenfels,
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und den Gefahren von Ambivalenz und Polarisierung entgegenwirkt,187 und wenn schließlich evident ist, dass die Wiederholung „nicht auf solche Extrembildungen angewiesen ist, um ihre produktive Kraft zu entfalten“,188 dann erstaunt, weshalb immer wieder und durchgehend von Ambivalenz, Polarität, Extrembildung, Grenzerfahrung die Rede sein muss, um „Normalität“189 und „Ordnung“190 überhaupt zu schildern. Dies liegt am „als“, das untrennbar zur Wiederholung gehört. Die Minimalformel „Etwas wiederholt sich“ unterschlug es noch. In der Erweiterung zu „Etwas wiederholt sich als …“ erblickt Waldenfels die ihm geläufige „Wiederkehr des Ungleichen als eines Gleichen“,191 und damit erst wird die Minimalformel hinreichend präzisiert zur „Grundformel“,192 mit der es sich operieren lässt. Erst jetzt rührt man an „den paradoxen Kern“193 der Wiederholung, den alle weiteren Operationen sei’s freilegen, sei’s verdecken. Ohne Als keine Wiederholung. Das Als ist „gleichsam“ die „sprachliche Drehscheibe“, die „Umschlagstelle […], wo die Alchimie der Wiederholung ihre gleichmachende Wirkung ausübt.“ Ohne Bildrede: Es ist die „signifikative Differenz, die das, was erscheint, vom Wie des Erscheinens, das Sein von seinem Sinn scheidet“. Wenn es richtig ist, dass es ohne Als keine Wiederholung gibt, dann folgt daraus, dass, soweit Wiederholung stattfindet, „Was und Wie, Sein und Sinn nie zusammenfallen“.194 Die Ausschließung der Koinzidenz dient der Rettung des Als, das auf doppelte Weise abhanden zu kommen droht, einmal durch Erfahrung schlechthinniger Ungleichheit, das andere Mal durch schlechthinnige Gleichheit. Hier wird sichtbar, wie Wiederholung die gesamte Weltwirklichkeit durchdringt, Ontologie, Sprache und Literatur, Kunst. Die Ontologie so, dass auf der einen Seite der Schock, die Fulguration und das Meer der Unähnlichkeit ein Unwiederholbares in Szene setzen, das auftritt, „ohne daß es als etwas erfahren wird“, auf der anderen Seite die Serie der Ereignisse, in der das zur Wiederholung gehörige „als etwas“ zum reinen Leerlauf geworden ist.195 Die bildende Kunst so, dass sie zwischen den Extremen der Denormalisierung und der Hypernormalisierung hin und her schwankt, vom einen ins andere umschlägt und dadurch verrät, wie sehr sie der genuinen Wiederholung entbehrt.196 Und endlich durchdringt die Wiederholung Sprache und Literatur, wie Waldenfels mit ausdrücklichem Verweis auf Jakobsons Zweiachsentheorie 187
Waldenfels, ebd. 13. Waldenfels, ebd. 14. 189 Waldenfels, ebd. 13. 190 Waldenfels, ebd. 12. 191 Waldenfels, ebd. 7, 12 f. 192 Waldenfels, ebd. 13. 193 Waldenfels, ebd. 7. 194 Waldenfels, ebd. 13. 195 Waldenfels, ebd. 13. 196 Waldenfels, ebd. 14. 188
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erläutert, und zwar so, dass an zwei Extremen Sprechen und Schreiben (bzw. Lesen) zum Erliegen und mit dem Als der Wiederholung zum Verschwinden kommen: einerseits vertikal in der Störung der Kombination, wenn allein aphatische Sprachbrocken vorherrschen, die keinerlei Leistung des Als erkennen lassen, andererseits horizontal in der Störung der Selektion, wenn der übriggebliebene aphatische Sprachfluss davon zeugt, dass er kein Als zu bearbeiten imstande ist.197 Alle Bereiche, Ontologie, Kunst, Sprache und Literatur illustrieren den fundamentalen Sachverhalt, dass Sein und Sinn, Sehen und Gesehenes, Sagen und Gesagtes „nie zusammenfallen“ dürfen, wie sie es tun, wenn sie an den äußersten Grenzen ins Gegenteil umschlagen. Doch kaum ist die Koinzidenz definitiv aus der genuinen Wiederholung ausgeschlossen, fährt Waldenfels fort: „Extreme können nicht nur in ihr Gegenteil umschlagen, sie können auch einer coincidentia oppositorum nahekommen, und zwar ausgehend von der reinen Wiederholung.“198 Koinzidenz wird einmal negiert, das andere Mal gesetzt, was aus der Perspektive des Cusanus nicht erstaunt, der von Koinzidenz ausschließlich in diesem Widerspruch handelt: negiert auf der Ebene der ratio, ist sie gesetzt auf der des intellectus, und zwar desto genauer, je schärfer der Widerspruch ist. Dass Waldenfels darin Cusanus nicht zu folgen gedenkt, erhöht die Komplexität seiner Aussagen. Wie er auf der einen Seite zwar die Koinzidenz negiert und behauptet, dass sie „nie zusammenfallen“ darf, jedoch den Sog wohl wahrnimmt, mit dem ein Pol den andern „nahezu zum Verschwinden“ bringt,199 so affirmiert er auf der anderen Seite die Koinzidenz nicht schlechthin, sondern lediglich so, dass die Pole einer solchen „nahekommen“ können.200 Also befinden sich beide Aussagereihen nicht wie bei Cusanus im Widerstreit schlechthin, sondern sind miteinander verbunden im Bilde des Sogs201 und durch die Regel der kontinuierlichen Approximation,202 die wiederum Cusanus völlig fremd ist. Von der harten Entgegensetzung des Cusanus: Koinzidenz nein mit dem Verstand, Koinzidenz ja mit der Vernunft, bleibt bei Waldenfels die weiche, ein Nahezu-Nein und Nahezu-Ja, ein Mehr oder Minder. Faszinierend auch, dass Jakobsons Zweiachsentheorie ausdrücklich auf beide Seiten gezogen wird, was ihre Stellung im Fokus der Wiederholung nur festigen kann. Während sie auf der einen Seite mit Waldenfels die Koinzidenz negiert und auf die aphatischen Störungen hinweist, die folgen, sobald das Als der Wiederholung kollabiert,203 weist sie auf der andern Seite in die umgekehrte Richtung und zielt mit Cusanus auf Setzung der Koinzidenz. So in Jakobsons 197
Waldenfels, ebd. 13 f. ebd. 14. 199 Waldenfels, ebd. 13. 200 Waldenfels, ebd. 14. 201 Waldenfels, ebd. 13: „aufgesogen“; 15: „Sog“. 202 Waldenfels, ebd. 13: „nahezu“; 14: „nahekommen“; 14 Anm. 14: „nähern“. 203 Waldenfels, ebd. 14 Anm. 12. 198 Waldenfels,
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„Annahme einer poetischen Funktion der Sprache“, die wir in der Formel „Wort als Wort“ kennengelernt haben, jedoch so, dass diese das Als beinahe zum Verschwinden bringt.204 Verschwindet das Als aus „Wort als Wort“, dann steht Wort = Wort in uneingeschränkt göttlicher Majestät und Erhabenheit vor uns. Und in der Tat versteht auch Waldenfels unter dem Begriff der „reinen“ Wiederholung, zu dem er greift, weder die Urproduktion der „bloßen“ noch die Reproduktion der leeren, „nichtssagenden“ Wiederholung, sondern dies, dass „die Wiederholung selbst wiederkehrt“ und damit verwirklicht, was als „reines Zugleich“ schon früher ins Auge gefasst war.205 War bisher Wiederholung im Zeichen des Als ein stets vorwärtsdrängender, zeitigender, identitätsbildender Prozess, erscheint sie nunmehr in Aufnahme der reinen Vertikalität, die der späte Maurice Merleau-Ponty als „wild“ und als „Aufstieg auf der Stelle“ charakterisiert,206 als „Wiederholung auf der Stelle“.207 Als „Beispiel“ für Wiederholung auf der Stelle nennt Waldenfels die islamische Kunst, „die auf etwas antwortet, ohne dieses Worauf auf die referentiellen oder semantischen Bahnen eines etwas als etwas zu lenken.“208 Der angemessene Name dafür wäre wohl Arabeske.209 Ebenso können wir für Wiederholung auf der Stelle an die славословие der Göttlichen Liturgie und deren Rolle im Hesychasmus erinnern, die im Hintergrund von Jakobsons „Wort als Wort“ wirksam ist als Merkmal der poetischen Funktion der Sprache. Sie ist mit Doxologie (δοξολογία) und Theologie (θεολογία) konvertibel.210 Es erstaunt nicht, dass Waldenfels der reinen Wiederholung als Aufstieg auf der Stelle am Ende „eine gewisse Verwandtschaft mit mystischen Versenkungen“ attestiert, „bei denen der Hintergrund zum Abgrund wird.“211
Der Mythos des Fremden Alle drei Grenzmarken der Phänomenologie, deren zweite jetzt darzustellen ist, entstehen durch Exzesse der Zeit, mit denen die „genuine“ Wiederholung bis zum Äußersten getrieben wird. Der erste Exzess so, dass Zeit nicht nur als Träger von Identitätsbildung und Identifizierung dient, sondern selbst noch die letzte Differenz des wiederholenden Als durchstoßen wird und „reine“ Wiederholung aufblitzt. Der zweite hingegen, wenn Differenz die Zeiterfahrung dominiert. Zeit ist nicht nur Generator von Identi204 Waldenfels,
ebd. 14 Anm. 14. ebd. 7. 206 Waldenfels, ebd. 14 Anm. 15. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare 1986, 229. 207 Waldenfels, ebd. 14. 208 Waldenfels, ebd. 15. 209 Vf., Protestantismus und Arabeske 2003. 210 Liturgie (Kallis), 210 f. Vf., Die Emergenz des Namens 2006, 224–226. 211 Waldenfels, ebd. 15. 205 Waldenfels,
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tät, sondern, sobald Fremdes in die Kontinuität einbricht, auch ein solcher für Verschiebungen, Verzögerungen, Aufschübe, Abbrüche. In diesem Fall hat Zeiterfahrung den Charakter des Widerfahrnisses und droht, sich bis zur Widerfahrnis zu steigern; Hypostasierung will die Versachlichung verschlingen. Zwei Zeitformen gehören dazu. Einerseits die Vorvergangenheit, die Unvordenkliches zu bedenken gibt, was als Verhältnisloses allem Verhältnismäßigen vorausgeht. Wie die Geburt als pures Pathos immer schon sosehr vorausliegt, dass sie durch keine Erinnerung eingeholt werden kann, so auch das Urvergessene und Urverdrängte, das uneinholbar allem Wiederholen, Erinnern, Durcharbeiten zugrundeliegt. Andererseits die Form des zweiten Futurs, der Nachzukunft, die genauso uneinholbar ist und nie Gegenwart werden wird. Auch sie hat den Charakter des Widerfahrnisses und droht, zur Widerfahrnis zu werden. In beiden Zeitformen meldet sich die Differenz, die Waldenfels soweit anzuerkennen bereit ist, als „das Fremde in uns“, selbst indem es „uns anrührt, fesselt, verletzt“ und selbst „indem es sich uns entzieht“, nicht die klare Linie überschreitet, die es „in eine fremde Macht“ verwandeln müsste. Das wäre Mythos.212 Die Epiphanien des Unwiederholbaren Wenn nicht alles trügt, verfährt die Ausschließung der Mythologie aus der Phänomenologie schärfer als die Ausschließung der Mystik der reinen Wiederholung und der Epiphanien des Unwiederholbaren. Das geht darauf zurück, dass erste und dritte Zeiterfahrung sich in der Form der Selbstbezüglichkeit treffen, die der zweiten umso fernerliegt, als das dort begegnende Fremde bis zur Uneinholbarkeit aufläuft. War es in der ersten Form das Ich, das sich verdoppelte in ein solches des Aussagens und des Ausgesagten, des Sehens und des Gesehenen, so ist es in der dritten die Zeit selbst, die sich verdoppelt, sodass eine Zeit des Aussagens und eine Zeit des Ausgesagten entsteht. Und wie dort sich reine Wiederholung eingestellt hat, die weder „bloße“ noch leere „nichtssagende“ Wiederholung ist und auf etwas antwortet, was nicht in die Bahnen eines Etwas als etwas gelenkt werden kann, so hier „Unwiederholbares“, die „Wiederholung selbst, die geschieht, ohne daß sie sich in ein wiederholbares Etwas verwandeln ließe.“ Waldenfels nennt es Epiphanie und erinnert mit diesem der Phänomenologie so wenig unvertrauten und gleichwohl unerreichbaren Terminus an den „Überschuß in allen Phänomenen“, der der Phänomenologie der Wiederholung unsichtbar, unhörbar, unsagbar, unberührbar vorausliegt.213
212 213
Waldenfels, ebd. 16. Waldenfels, ebd. 17.
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§ 6 Literatur und Liturgie
Fazit Was ist Wiederholung? Blicken wir zurück auf die Antwort der Phänomenologie, die von Waldenfels vorgetragen wurde. Sie wiederholt auf ihre Weise die literaturtheoretische Antwort, die selbst eine phänomenologische war, wiewohl unter Ausblendung der text‑ und lesetheoretischen Disziplin, der sich Lobsien unterzogen hatte. Ausblendung, nicht Abweisung. Die Bezugnahme auf Jakobsons grundlegende Studien zeigte: Phänomenologie und Literaturphänomenologie sind Verzweigungen aus einem Stamm. Soweit erscheint die Phänomenologie als verallgemeinerte Literaturtheorie, und während die letztere es ist, die die Arbeit am Detail leistet, profitiert die Phänomenologie davon und ergeht sich ins Große und Ganze. Womöglich hat die Literaturtheorie ein schärferes Profil, weil sie ausgehend von ihrer Grundfigur A – Aº in der Wiederholung nicht nur den Antagonismus, sondern den Chiasmus am Werk sah, während die Phänomenologie im Ausgang von ihrer Figur A – A´ die genuine Wiederholung im Feld des Mehr oder Minder belässt, am liebsten im Kontinuum des Approximierens verbleibt und Polarität nur als Extrem zulässt. Kaum hat sie sich etabliert, wird sie in ihrer Tendenz zur Mitte von den Grenzen der Mystik, des Mythos und der Epiphanien herausgefordert und muss zugeben, dass sie von diesen allererst ins Werk gesetzt wird. Die Phänomenologie, die so weit reicht, wie die Drehschreibe des Als ihre Spendungen sendet, kommt desto mehr in Gang, je heftiger sie von den Polen, an denen das Als verschwindet, angetrieben wird. Wiederholung ohne Als nennt die Phänomenologie „reine Wiederholung“, „Wiederholung selbst“ oder „das Unwiederholbare“. c. Die Antwort der Lesetheologie Die Antwort der Lesetheologie bewegt sich innerhalb der Grenzen, die durch die Exposés von Lobsien und Waldenfels gezogen sind. Obgleich beide von phänomenologischer Herkunft, sprechen sie von Wiederholung verschieden. Lobsien so, dass der Blick auf sie von vornherein limitiert ist auf das Literarische; hier gewinnt sie ihre Schärfe, und Anderes als Literarisches, selbst wenn es mehr zu sein verheißt und selbst wenn es Leben heißen sollte, kommt nur in Blick durch die gewonnene Schärfe hindurch. Waldenfels hingegen so, dass Wiederholung von vornherein alle Systeme der Lebenswirklichkeit aktiviert, wenn aber alle, dann auch die Literatur. Selbst wenn seine Aussagen zur Literatur materialiter denen Lobsiens nicht fremd sind, stellen sie sich formaliter anders dar. Da ist als erste Differenz: Lobsien spricht von literarischer Wiederholung, Waldenfels von Wiederholung überhaupt und schlechthin. Also haben wir es zu tun mit einem von vornherein limitierten und einem von vornherein unlimitierten Verständnis. Wie verhalten sich beide zueinander? Subordinatorisch oder reflektierend? Ähnlich oder unähnlich? – Ein zweiter markanter
3. Was ist Wiederholung?
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Punkt kommt hinzu. So unlimitiert Waldenfels’ Ansatz im Vergleich zu dem Lobsiens erscheinen mag, unlimitiert schlechthin ist er nicht. Wiederholung hat Grenzen, von denen sie fort‑ und in die Mitte zurückgetrieben wird. Nur in der Mitte ist sie genuine Wiederholung, die sich innerhalb der Grenzen des vermittelnden Als bewegt. Was ihr allerdings von allen Seiten droht, ist die reine Wiederholung, die sich anschickt, das Genuine zu zerstören, sei es durch Wiederholung schlechthin, sei es durch Unwiederholbares. Von solchen Drohungen war bei Lobsien nichts zu spüren. Er kennt die reine Wiederholung schon deshalb nicht, weil er die reine Wörtlichkeit nicht kennt, die Unwiederholbarkeit für sich in Anspruch nimmt. Hinzukommt, dass die Differenz von „genuin“ und „rein“ zwar verbal geringfügig und gleitend ist, begrifflich aber fundamental und abgründig, was beide Prädikate in einen Zustand des Flimmerns versetzt. Immerhin zeigt die zweite Differenz: Es geht bei der Wiederholung nicht nur um Verständnis eng und Verständnis weit wie in der ersten, sondern auch um das Aufeinandertreffen von Verständnis und Unverständnis in dem einen Wort Wiederholung, Verständnis dann, wenn es sich im Mehr oder Minder des Genuinen hält, Unverständnis dann, wenn es sich zur reinen Wiederholung oder, was gleichbedeutend ist, zur reinen Unwiederholbarkeit paradoxiert. – Damit sind wir schon bei der dritten markanten Differenz, die sich in der Verschiedenheit des Argumentationsstils ausprägt. Wenn nicht zu anderem gezwungen, verweilt Waldenfels am liebsten im Felde des Approximierens. Liegt das stille Pathos darauf, die Wiederholung möglichst in der Mitte zu halten, erstreckt sich die Mitte soweit, wie sich das Approximieren erstreckt. Die Approximation vermeidet direkte Konfrontation mit den kontradiktorischen Formeln der reinen Wiederholung. Solcher Bedachtsamkeit unterwirft sich Lobsien nie. Indem er den Antagonismus von Wörtlichkeit und Wiederholung bis zum Chiasmus steigert, werden Figuren der Koinzidenz nicht nur geduldet, sondern gefordert. Die Wiederholung ist nicht nur aus ihrer Mitte, sondern von ihren Rändern her zu denken. Ist dies der Ertrag aus den Ansätzen zur Wiederholung, sollte er imstande sein, den Fortgang der Lesetheologie von zwei Fehlformen zurückzuhalten. Die erste betrifft einen defizitären Umgang mit Literatur; dieser manifestiert sich in leichtfertigem Hantieren mit der Analogie zwischen engem und weitem Literaturbegriff, zwischen Lesen und Lesen. Die Kritik der Analogie muss vor Schwadronieren bewahren. Die zweite Fehlform betrifft den mangelhaften Umgang mit dem Ritual. Deshalb verfolgt die Kritik des Rituals das Ziel, die Aussicht auf einen noch ausstehenden Begriff des Ritus, der zu § 6 Literatur und Liturgie gehört, nicht von vornherein zu verstellen. Natürlich handelt es sich bei beiden Kritiken nur um Elemente einer Antwort der Lesetheologie, nicht um diese selbst, zu der die fortfolgenden Paragraphen aufgeboten werden. Doch sollen sie über den Ansatz der Antwort soweit Gewissheit verschaffen, als sie verdeutlichen, worin dieser nicht besteht.
300
§ 6 Literatur und Liturgie
Kritik der Analogie
Georg Pichts Antwort auf Was ist Literatur? hätte nominell am Ende des vorigen Abschnitts stehen können, tat es aber nicht, der Antiklimax wegen. Obgleich sie beansprucht, „die Sache, um die es geht, […] was Literatur eigentlich ist“,214 zu Gesicht zu bringen, erblickt sie von der Sache, wie Weimar und Küpper sie vertreten, nichts, aber auch gar nichts. Wollten diese die Erkenntnis der Literatur bis zur Unverwechselbarkeit treiben, strebt Picht nach einem möglichst chamäleontischen Literaturbegriff, der in jedem Moment, in dem er eines ist, zugleich auch ein oder viel anderes sein kann, und darin Methode beweist. Wenn Literatur eng und weit, in eingeschränktem und uneingeschränktem Sinn verstanden wird, so ist für Picht weder das eine noch das andere von Bedeutung, sondern allein die Übertragungsleistung des Literaturbegriffs, selbst wenn dieser dabei mehrdeutig und schillernd wird. Das beginnt bei Picht schon damit, dass zwischen Literatur, Text, Schrift und Buchstaben nicht ernstlich unterschieden wird. Das Sammelwort Literatur bezeichnet von vornherein den Sprung, mit dem Kultur die Natur überlistet.215 Wie Kultur überhaupt, so zeichnet Literatur in das natürliche Gedächtnis die qualitativ neue Gangart des künstlichen Gedächtnisses ein, die die Leistungsfähigkeit kultureller Überlieferung nach oben treibt. Gewiss ist Literatur in engerem Sinn die freie schriftliche Bearbeitung des mündlich bindenden Mythos, aber sie steht von vornherein in weiterem Rahmen; „alle sprachlichen Zeugnisse“, Philosophie, Wissenschaft, Recht, Religion, kurz: „alles ist ‚Literatur‘“.216 Nicht genug damit. Selbst die von Kultur und Literatur in qualitativem Sprung überlistete Natur bleibt nicht außen vor, sondern führt den an sich schon weiteren Sinn von Literatur aufs glücklichste bis zum Maximum, an dem diese auch auf die Natur ausgreift. Sich nicht begnügend, zweite Natur zu sein, wird sie zur ersten. Die Entdeckungen der Genetik zeigen: „Literatur ist als Phänomen in der Natur möglich, weil sie sich durch ihr Medium, die Sprache, in jene Strukturen einfügt, die uns die Natur in der Organisation der Lebewesen anbietet.“217 Das Prinzip, mit dem die Literatur alle diese wundersamen Leistungen vollbringt, nennt Picht „Analogie“.218 Analogie herrscht zwischen den kulturellen Leistungen der Literatur in den Gebieten der Philosophie, der Wissenschaft, des Rechts und der Religion. Dabei wird Analogie nur schwach in Anspruch genommen. Stark wird sie erst, wenn sie zwischen Kultur und Natur, zwischen kollektivem Gedächtnis und genetischer Information ver-
214 Picht, Was
ist Literatur? 1979, 274. ebd. 274 f. 216 Picht, ebd. 278 f. 217 Picht, ebd. 276. 218 Picht, ebd. 282. 215 Picht,
3. Was ist Wiederholung?
301
mittelt. Ähnlichkeiten sind hier „mehr als ein bloßes Gleichnis“.219 Vielmehr zeigt sich „dieselbe“ Gestalt,220 dasselbe Strukturprinzip.221 Je mehr wir Pichts orgiastischem, alle Lebenssphären verschmelzendem Glutkern nahekommen, geschieht es, dass wir vor lauter Wissen, was Literatur ist, immer weniger wissen, was Literatur ist. Über lauter Betrachtung von außen ist die Disziplin der Literaturtheorie, in der Weimar und Küpper sich übten, abhanden gekommen. Was Literatur eigentlich und von innen ist, bleibt Picht fremd. Notwendig ist also Kritik der Analogie. Die Frage lautete nicht Wie ist Literatur? Also ist sie auch nicht zu beantworten mit: Literatur ist wie Kultur, oder „Literatur ist wie die organische Natur“.222 Die Frage Was ist Literatur? kann nur beantwortet werden, indem erklärt wird, worin Literatur analogielos ist. Darauf folgt aber auch – damit kehren wir zur Wiederholung zurück –, dass nicht etwa das dem Literaturbegriff Untersagte, durch analogische Zerdehnung der Wiederholung hinterrücks wieder eingeschmuggelt werden darf. Mit anderen Worten: Wiederholung überhaupt darf nicht dazu missbraucht werden, die Analogielosigkeit der literarischen Wiederholung zu entkräften. Der Fortgang der Lesetheologie hängt an der Kritik der Analogie. Kritik des Rituals Der Kritik der Analogie folgt die des Rituals. Das Ziel der Lesetheologie, Literatur und Liturgie in Bewandtnis zu setzen, scheint sich in Abhängigkeit von der Bewandtnis von Ritual und Literatur zu begeben, wie Wolfgang Braungart sie vorgestellt hat. Er beabsichtigt, „Ritual und Literatur“ – in dieser Reihenfolge – „aufeinander zu beziehen.“223 Ritual gilt als bestimmte Sorte von Wiederholung; es handelt sich um symbolische Wiederholungshandlungen, die zwischen ritualisiertes Verhalten der Biologie und Ethologie einerseits und stereotypisiertes Verhalten der Kultur‑ und Sozialwissenschaft andererseits zu stehen kommen.224 So definiert tritt das Ritual der Literatur gegenüber; es gehe „um Analogien und Parallelen zwischen der symbolischen Bedeutungsordnung des Rituals und jener der Literatur“.225 Also bilden Ritual und Literatur ein Segment aus Pichts analogischem Makrokosmos. Es gilt die Beziehung „Ritual wie Literatur“; die Literatur ist ein „dem Ritual ähnliches Geschehen“.226 Das Primärgefälle verläuft vom Ritual zur Literatur. Ebendies ist die zentrale These; Braungart kommt vom Ritual her und geht zur Lite219
Picht, ebd. 276. Picht, ebd. 284. 221 Picht, ebd. 279. 222 Picht, ebd. 284. 223 Braungart, Ritual und Literatur 1996, 139. 224 Braungart, ebd. 44. 225 Braungart, ebd. 142; cf. 39: „Analogien und direkte Beziehungen“. 226 Braungart, ebd. 17, 20. 220
302
§ 6 Literatur und Liturgie
ratur. Zwar schließt dies die Umkehrung nicht aus: „Wie in Literatur [… so] im Ritual“.227 Aber vom hartnäckigen Widerstreben Küppers, in der Literatur Elemente ritueller oder liturgischer Rede zuzulassen, ist nichts zu spüren. Im Gegenteil, Braungart hat dessen Scheu vor „Entgrenzung, möglicherweise […] Transgression“228 restlos abgelegt oder nie gekannt. An die Stelle der strengen Disziplin, Literatur aus Literatur zu erklären, tritt freizügigster Übergang zwischen Ritual und Literatur, Literatur und Ritual. Während Rilkes Gedicht Der Leser das Verhältnis von Welt und Welt des Lesers bis in die Verhältnislosigkeit treibt, die als gewaltsamer Anstoß und Unterbrechung erfahren wird,229 sinnt Braungart anstelle des harten „Gegensatzes“230 auf weichere Beziehungen, „Kontinuum“,231 „Zusammenhang“,232 „Gemeinsamkeit“,233 durch Rituale vermittelt. Mag auch für Rilke (und Weimar) der Leser genötigt sein, zu einem anderen Ich und gar zu einem ganz Anderen zu werden: so anders ist das Lesen denn doch nicht, als dass nicht beide Welten in Übergänglichkeit stünden. An die Stelle der Anachorese des Rilkeschen Lesers, die ohne Evokation mönchischen Lebens kaum denkbar ist, tritt fließende, wechselseitige Analogie beider. Die Exposition von Ritual und Literatur, die Braungart vorlegt, ist vom Wunsch geleitet, gegen Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus doch wieder die primäre Leseerfahrung in ihre vorreflexiven Rechte einzusetzen. „Die primäre Leseerfahrung sucht und findet im Lesen einen Sinn.“234 Es erstaunt weniger, was Braungart sagt, als wie er es sagt. Die Sache selbst ist aus Lobsiens Beschreibung von Wörtlichkeit als „Primärerfahrung“ des Lesens längst bekannt; sie ist dort sekundiert mit Signalen, die der Dekonstruktion und des Poststrukturalismus unverdächtig sind: Begegnung, Unmittelbarkeit, Verstehen, Präsenz, Augenblick.235 Die Differenz zwischen der Phänomenologie literarischer Sprache und Ritual und Literatur beginnt erst mit der Frage, was auf die Primärerfahrung folgt. Die Antwort Braungarts lautet: Möglichst dasselbe nochmal, und hierzu wird die Analogie des Rituals aufgeboten. Wie schon primäre Leseerfahrung nichts war als „affirmative Zuwendung zum Text“,236 so affirmiert das Ritual die Affirmation, fügt also Ur-Affirmation hinzu. An dieser Stelle widersetzt sich die Phänomenologie in direkter Konfrontation. In der ihr eigenen Disziplin, Phänomene zur Erscheinung zu bringen, nicht aber Phänomene 227
Braungart, ebd. 25. Küpper, ebd. 214. 229 Rainer M. Rilke, Der Leser 1908, SW 1, 636 f. 230 Braungart, ebd. 2,19. 231 Braungart, ebd. 41, 61 f, 73. 232 Braungart, ebd. IX, 17 f, 36, 38 u. ö. 233 Braungart, ebd. 20. 234 Braungart, ebd. 5. 235 Lobsien, ebd. 9. 236 Braungart, ebd. 252. 228
4. Was ist Liturgie?
303
durch weitere Phänomene zu erklären, verharrt sie dabei, Wiederholung nicht als Wiederholung, sondern als Wiederholung ins Werk zu setzen. Dazu genügt es nicht, Affirmation an Affirmation zu reihen, sondern es gilt, die Veränderung/ Veranderung bloßzulegen, die einem Textelement widerfährt, wenn es wiederholt wird, und diese reicht prinzipiell soweit, bis die Negation der Primärerfahrung in Sicht kommt. Damit bildet sich aus dem der Analogie entgegengesetzten Antagonismus von Wörtlichkeit und Wiederholung die Erkenntnis des „Prinzips der Negativität“ als des „Grundprinzips der Sprache“.237 Kritik des Rituals, das ist Unterbrechung der Wiederholung, damit Wiederholung zur Erscheinung komme.
4. Was ist Liturgie? Wenn weder Pichts Analogie von Literatur und Kultur/Natur noch Braungarts Ähnlichkeit von Literatur und Ritual Vorlagen für Literatur und Wiederholung sein können, wenn also überhaupt die Analogie als Übergangsmittel der Kritik verfällt: was ermutigt, zu Literatur und Liturgie voranzuschreiten? Was befähigt zur Liturgie? Nur in Einem scheint unsere Situation der Liturgie gegenüber vertraut. Seit der Beschäftigung mit Buchstaben, Schrift, Text und Literatur trat das durch „und“ Verbundene auf als jeweils Hinausgezögertes, weil durch Analogie Uneinholbares. Der Laut erschien als das Andere des Buchstabens, die Sprache als das Andere der Schrift, die Rede als das Andere des Texts. Und so auch bei der Liturgie, vorausgesetzt, dass die durch das Andere suggerierte Vergleichbarkeit derselben Kritik unterzogen wurde, zu der Pichts und Braungarts Analogie Anlass gab. Dann können wir als erste Antwort auf Was ist Liturgie? festhalten: Liturgie ist das Andere, das Mehr, das Größere der Literatur, aber unvergleichlich, uneinholbar, jenseits von Analogie und Vergleich. Sie ist es deshalb, weil sie anders, mehr, größer ist als was üblicherweise Liturgie genannt wird. Sie begegnet uns meist geschrumpft auf eine gottesdienstliche Binnenwelt geheimnisvoller Verabredungen, den wenigsten zugänglich, für die meisten belanglos. Dagegen besteht das Mehr der Liturgie darin, dass sie die liturgische Sonderwelt überschreitet in Richtung Welt. Nicht umfassend, doch beispielhaft kann in zwei Sequenzen das Eigentümliche von Liturgie ans Licht gebracht werden. Die erste: Liturgie ist das jeweils Größere. Die zweite: Liturgie ist das jeweils Größere als sie selbst. Und schließlich ist drittens zurückzufragen, worin die Rolle der Wiederholung zwischen Literatur und Liturgie besteht.
237
Lobsien, ebd. 31.
§ 6 Literatur und Liturgie
304
a. Die Liturgie als das jeweils Größere Liturgie ist freieste Kultur der Sinne. Als solche schafft sie sich in der Lesetheologie Aufmerksamkeit nicht erst jetzt, sondern seit Herders Ermunterung „Lasset dem Menschen alle Sinne frei!“ erstmals erklang. Liturgie ist das jeweils Größere, weil sie paradigmatisch der je größeren Freiheit der Sinne folgt. Wie eingeschränkt oder verkümmert die Sinnestätigkeit faktisch ist und aus welchen Gründen auch immer, etwa durch äußere Zerstörung, durch Mangel an innerer Bildung oder generelle Diffamierung der Sinne als Minderwertiges – jede faktische Sinnestätigkeit ist angelegt auf jeweils mehr. Wenn es das Denken gewesen sein sollte, von dem die Sinne unterdrückt wurden, bewegen diese sich, wenn freigelassen, darauf zu: Die Sinne denken, sie denken selbst. Das ist der fundamentalste Vorgang der Liturgie. Unnötig zu sagen: Zur Liturgie wird nicht nur benötigt der Sinn des Hörens. Der Übergang von der Rede zur Liturgie wurde bereits beschritten.238 Daher begnügt sich die Liturgie auch nicht mit Hinzufügung des Sehens zum Hören, und die standardisierten Scharmützel innerhalb der oberen Sinne, welcher von beiden der oberste sei, sind aus ihrer Sicht ganz nutzlos und überflüssig. Sondern alsbald tritt Fühlen und Tasten hinzu als die Sinnestätigkeit, die am meisten zwischen oberem und niederem Sensorium vermitteln kann. Und selbst die traditionell als nieder eingestuften Sinne des Riechens und Schmeckens gehören unabdingbar zur Liturgie und stülpen die Sinneshierarchie von unten her um. Nur eines ist der Liturgie fremd: die Unart additiven Hinzufügens von Sinn zu Sinn, wie wir sie soeben übten. Für das Sensorium kommen wir mit solchen Abstraktionen zu spät. Das innere Leben der äußeren Sinne geht ihnen immer schon voraus. Wir wollen es die Liturgie der Sinne nennen. In ihr wird modellhaft wahr, dass die Liturgie das je Größere ist. Selbst die Unterscheidung der Sinne ist bloße Abstraktion; faktisch durchdringen sie sich, überlagern oder ersetzen sich gegenseitig, duplizieren und vikariieren sich, sie kommunizieren ihre Idiomatik mit den anderen, sodass die Farben beginnen zu tönen und Töne farbig werden. Die Liturgie der Sinne erstreckt sich zwischen der Synästhesie auf der einen und ausdifferenziertester Ästhesie auf der anderen Seite, jene im Zeichen übervoller Präsenz, diese im Zeichen entleertester Absenz, die eintritt, sobald ein Einzelsinn die Abwesenheit anderer kompensieren muss. Angelegt mit Herder auf das je Größere und Freiere weist die Liturgie der Sinne alsbald über sich und das Sensorium hinaus; ihr folgen die Gedächtnis-, Erkenntnis‑ und Willenskräfte des Menschen, die ihrerseits die Liturgie der Sinne auf andere Weise fortsetzen. Doch bleibt die Liturgie der Sinne das elementare Paradigma, an dem das jeweils Größere der Liturgie studiert werden kann. Nur zweierlei versetzt es in bestimmte Grenzen. Weder ist Sinn von vornherein gleich Sinn, noch ist Sinn von vornherein 238
§ 6.1.c.
4. Was ist Liturgie?
305
ungleich Sinn. Ersteres nicht, weil die reine Präsenz sinnlichen Sinnes mit Sicherheit den unsinnlichen Sinn ausschließt; sie lässt keine Lücke und keinen Spalt, in die hinein sich die Denktätigkeit entwerfen kann, weshalb gilt: Sinne denken; sie denken, weil und solange sie weniger sind als volle Präsenz. Letzteres nicht, weil, ohne dass selbst im Fall äußerster Differenz Sinn mit Sinn in Berührung gekommen sein muss, und sei es auch nur in der Weise der Berührung durch Nicht-Berührung (attingi inattingibile inattingibiliter),239 weder Sinnbildung noch Sinnenbildung möglich ist, weshalb gilt: Sinne denken, sie denken, weil sie mehr sind als leere Absenz. Aber wenn dies die Liturgie der Sinne ist, in der sie ihr jeweils Größeres zelebriert, dann ist sie darin zugleich paradigmatisch auch für Gedächtnis, Erkenntnis und Willen. b. Die Liturgie als das jeweils Größere als sie selbst Nicht nur ist die Liturgie jeweils das Größere – die Liturgie der Sinne war nur Paradigma hierfür, wenn auch ein hervorragendes –, sie ist auch jeweils größer als sie selbst. Zunächst schien sie dem Verstand der Aufklärung nur die Beigabe zum gottesdienstlichen Kern zu sein, den dieser in der frommen Rede, doctrina oder oratio wiederfand. Aber schon wie aus doctrina (Lehre) doctrina (Predigt) werden soll, kann er nicht vollziehen, geschweige denn wie aus oratio (Rede) oratio (Gebet). Das ist eine gründliche Fehlbestimmung, wenngleich eine solche der harmloseren Art, denn die Liturgie zögert keinen Moment, sich den vermeintlich liturgiefreien Kern anzuverwandeln. Sie erkennt das Liturgische am vermeintlich unliturgischen Kern. Damit verwandelt sie sich aus Beigabe in Gabe. Nicht kommt sie zur frommen Rede hinzu, sondern findet sich in ihr wieder. Nicht werden Texte durch Eingriff von außen der Liturgie zugeordnet oder unterworfen, vielmehr, sobald die Texte zu Literatur werden, lassen sie ihre innere Liturgizität erkennen. Es ist insbesondere das der Literatur eigene poetische, lyrische Element, das sich, bei Weimar willentlich, bei Küpper unwillentlich, als liturgisch identifizieren lässt. Einmal erkannt, lenkt es die Lesetheologie weiter in Richtung Buch, Psalter. Dass die Liturgie auf diese Weise die ihr von der Aufklärung zugewiesene Peripherie verlässt und sich alsbald im Zentrum des Text‑ und Sprachgeschehens wiederfindet, ist der erste, wiewohl entscheidende Schritt, mit dem sie sich größer erweist als sie selbst. Aber das ist nur der Anfang; sie ist je größer als sie selbst. Lange Zeit war liturgia in der westlichen Überlieferung kein gebräuchlicher Terminus, und vor allem kein solcher, dem sammelnde Kraft zueigen gewesen wäre. Bis er im Zentrum gottesdienstlichen Handelns anlangte, musste er sich gegen eine Vielzahl von Konkurrenten wie ritus, caeremonia, munus, officium durchsetzen. Endlich und zögerlich durch Renaissancehumanisten ausgegraben, setzte Liturgie zum Weg der Selbsttranszendenz an. Die Liturgie liest; Lesung (lectio) ist ihr in239
Cusanus, Id. de sap. I, h 5, nr. 7,13 f. Vf., Resonanz 2016, 131 f.
306
§ 6 Literatur und Liturgie
nerstes Element. Aber sie sammelt auch. Das würde ihr nicht gut bekommen, wenn es nur zum Aggregatzustand des Sammelsuriums führte, den sie bei den Meisten hinterlässt. Indem sie sich je größer erweist als sie selbst, sammelt sie über die Poetik hinaus nicht nur Musik und Ikonik, Haptik, Odoratik und Geustik, sondern sammelt jedwede menschliche Leistung, sie sei sprachlich oder handelnd, künstlerisch oder nichtkünstlerisch, wie denn bereits der innerste liturgische Kern des Literarischen, das Lyrische oder Poetische, Leistung einer Rollenhandlung war. Jede Leistung ist zunächst eine Handlung, und insofern etwas anderes als Sprechen und Schreiben. Aber eine Handlung ist nur Leistung, wenn sie sprechend ist. Deshalb halten wir darüber hinaus fest: Jede Leistung geschieht in einem Feld, das sich zwischen sprechender Handlung und Sprachhandlung erstreckt. Liturgiker zeigen sich befremdet von der Herkunft ihres Gegenstands aus dem weitläufigen Zusammenhang der Dienstleistungen (λειτουργίαι), den Marcel Mauss als „System der totalen Leistungen“ (système des prestations totales) durchsichtig gemacht hat,240 und suchen den weiten Sinn zurückzuschneiden auf die Grenzen gottesdienstlicher Sonderwelt. Sogleich erhebt sich die selbsttranszendierende Kraft der Liturgie gegen die Liturgiker und erweist sich als größer denn sie selbst. Und nicht genug damit. Gegen Mauss, der aufs glücklichste die liturgizistische Beengung von Liturgie überschritten und das Feld eröffnet hat, in dem Sprachhandlung und sprechende Handlung sich berühren, erhebt sich noch einmal über die selbsttranszendierende Kraft der Liturgie, überholt die zur Repression neigenden Maussschen Begriffe „System“ und „Totalität“ und weist in eine durch sie noch nicht eingeholte Unendlichkeit. Dieser Grundzug der Liturgie, der der Antwort auf Was ist Liturgie? die Richtung weist, wird erst hinreichend erfasst, wenn die Liturgie nicht nur als jeweils Größeres zum Zuge kommt, sondern als jeweils Größeres als sie selbst. c. Die Wiederholung zwischen Literatur und Liturgie Also doch Wiederholung zum Zweck der Herstellung analogischer Verhältnisse zwischen Literatur und Liturgie? Keineswegs. Was Wiederholung im literarischen Lesen ist, wurde dargestellt: elaborierteste Lesekunst. Daneben steht die Wiederholung im liturgischen Lesen, die von der literarischen so gründlich verschieden ist. Zwar gibt es kein liturgisches Lesen ohne Wiederholung. Sei es der babylonische oder palästinensische Zyklus, sei es Lesung im Jahres-, Monats-, Wochen‑ oder Tageslauf, sei es der Sonnen‑ oder Mondkalender: stets geschieht liturgisches Lesen als Rotation von Texten und Textabschnitten. Hier wird kosmo‑ und chronologische Zyklizität, also Welt, von außen in die Welt der Texte eingetragen und nach zyklischer Kanonizität geordnet, ohne Rücksicht darauf, dass Texte, sofern sie zum literarischen Kanon 240
Mauss, Die Gabe 1968, 22 (dort kursiv).
4. Was ist Liturgie?
307
gehören, von sich selbst her Kanonizität ausbilden, jedoch lineare. Hier stehen sich zwei Arten von Wiederholung gegenüber, zyklische und lineare. Niemand zweifelt daran, dass sie durch lange Kohabitation in Austausch treten, etwa indem eine bestimmte festliche Zeitstelle durch den gewohnten Zusammenhang mit einem bestimmten Text eine charakteristische Färbung annimmt, und umgekehrt. Damit werden aus Festtexten feste Texte, und man mag das als gewohnheitsmäßige Analogie bezeichnen. Das literarische Lesen hat sich von dieser Umklammerung erfolgreich gelöst; es kennt keine Wiederholung außer seiner eigenen. Wenn überhaupt, dann ist diese ihre Liturgie, nicht aber die herkömmliche. Resultat also: Liturgie hier und Liturgie dort sind unvergleichlich. – Und umgekehrt ebenso. Die Evolution des Lesens hat gezeigt, dass literarisches Lesen den anspruchsvollen Grad an Elaboriertheit nur dadurch erreicht, dass es sich vom liturgischen Lesen definitiv löst und nicht dorthin zurückkehrt. Literarisches Lesen setzt voraus, dass das laute Lesen in Gemeinschaft, vorgetragen vom Vorleser, unter Anwesenheit von auf Hörweite versammelten Leibern, längst auf dem Wege ist, sich in Altersasyle zurückzuziehen. Das einzelne legere sibi, reduziert bis zur völligen Lautlosigkeit und gelöst von der Sozialform der Präsenz, hat die Konkurrenz gewonnen. Nur aus ihm entstehen literarische Welten. Nicht mehr muss Lesen bestrebt sein, immer lauter zu werden, um – auch ohne Mikrophon – große Räume und Versammlungen von Menschen zu erreichen, gegebenenfalls sich mit Klangmaterie aufzuladen und zum Gesang zu erheben. Während die akustische Vernehmlichkeit zu-, die Lesemenge und Lesegeschwindigkeit abnimmt, hat sich das literarische Lesen von solchen Unwägbarkeiten freigemacht und sich aus den Kathedralen und Auditorien der Lesungen in den sozial nicht regulierten, eigensinnigen Raum stillen Lesens zurückgezogen: hier entwickelt es allenfalls eigene Liturgie oder Paraliturgie, und nichts in der Welt wird die Evolution zurückdrehen und dem literarischen Lesen mit dem liturgischen winken. Das Resultat lautet daher auch auf dem umgekehrten Wege: Liturgie hier und Liturgie dort sind unvergleichlich. Der sechste Paragraph Literatur und Liturgie endet problematisch. Die Unvergleichlichkeit von Liturgie und Liturgie schließt Analogisieren aus. Daher enthält das problematische Ende allen Stoff zu einem aporetischen. Soweit vorgedrungen, empfinden wir erstmals den Nerv blankgelegt und affiziert. Die Lesetheologie kann ihren Lauf nur fortsetzen, wenn entweder die Literatur zu einem Element der Liturgie wird, oder die Liturgie zu einem Element von Literatur. Das Erstere müssen wir der Liturgie überlassen. Der lesetheologische Weg ist der letztere. Zwei Optionen stehen offen. Erstens: Ist es vertretbar, die Reihe Buchstabe, Schrift, Text, Literatur fortzusetzen mit dem Buch? Was macht das Buch aus der Literatur? Dem widmet sich der siebte Paragraph Buch und Leben. Zweitens: Auf dem zurückgelegten Weg durch die Literatur begegnete Liturgie nur ein Mal; immerhin begegnete sie überhaupt, wenn auch widerwillig und
§ 6 Literatur und Liturgie
308
mit dem Ziel, sie ein für alle Mal aus den Grenzen belangvoller Literatur zu verbannen.241 Der Pferdefuß ist nur, dass mit dem Liturgischen zugleich zentrale Gebiete des Lyrischen mitverbannt würden, und dieser zugegebenermaßen dünne Faden – Lyrik! – ist der argumentative Kern des achten Paragraphen Heilige Schrift und Psalter.
241
S. Anm. 101.
§ 7 Buch und Leben Mit dem Buch kommen querschießende, nicht in direkter Falllinie liegende Gesichtspunkte zum Zuge. Wäre es angemessener, es als irrlichtierendes Nebenthema beiseitezulassen und von der Literatur direkt weiterzugehen zur Heiligen Schrift? Dafür spricht viel; die Bestrebungen unter dem Titel Bibel als Literatur bedürfen der Vermittlung des Buches nicht. Daran, dass es eine Schnittmenge zwischen Buch und Literatur gibt, besteht kein Zweifel. Aber ob Literatur des Buches bedarf, kann bezweifelt werden. Und ob das Buch der Literatur bedarf, ist ebenso zweifelhaft. Es gibt Literaturbücher, aber auch Rechnungsbücher, Hauptbücher, Jahrbücher, Findbücher. Es besteht Anlass zu bezweifeln, ob der Konsequenz der Lesetheologie etwas zugutegetan wird, wenn wir ein Kapitel über das Buch eröffnen. – Inkonzinnität ergibt sich bereits beim Blick auf den Umfang. Der minimale für Literatur erforderliche Umfang ist unvergleichlich kleiner als ein Buch. Niemand wird der Shortstory, dem Gedicht, dem Aphorismus den literarischen Charakter absprechen, keines von ihnen erfüllt ein Buch. Sie müssten erst gesammelt und unter einen Gesichtspunkt gebracht werden. Auch umgekehrt: Ein Buch ist zu wenig, um die Literatur zu fassen, es bedürfte unzähliger davon und Raums für solche, die noch geschrieben werden. Das Verhältnis von Literatur und Buch ist unklar in doppelter Hinsicht. Ihre Mengen kommen nicht überein. Und sollten sie sich überschneiden, ist ungewiss, was das Buch zu den Merkmalen der Literatur hinzubringt, und umgekehrt. – Dies weist darauf hin: Die Inkonzinnität ist nicht nur eine des Umfangs, sondern auch der Passung. Die Buchform scheint der Literatur äußerlich zu sein; sie dürfte Zufälligkeiten wie Handlichkeit, Haltbarkeit, Absatzfähigkeit geschuldet sein, Gesichtspunkten also, die zwar einer eigenen Rationalität und Wirtschaftlichkeit folgen, aber in Hinsicht auf den Inhalt beliebig sind. Ob die Kontingenz der Passung aufgehoben werden kann, ist mehr als fraglich. Wie soll eine Form von Literatur ausgemacht werden, die anders als im Format eines Buches nicht ans Licht treten kann? Umgekehrt, und noch aussichtsloser: Wie soll eine Buchform von anderen unterschieden werden, die eindeutig auf Literatur als Inhalt schließen lässt? Man wird nach der perfekten Vermählung von Buch und Literatur vergeblich suchen. – Damit wird deutlich: Es ist nicht dieselbe Konsequenz, mit der wir Buchstabe, Schrift, Text und Literatur durchliefen und jetzt zum Buch übergehen. Die Parole vom Ende des Buches fällt schon deshalb nicht ganz auf taube Ohren, weil sich die Stringenz, dass wir Buchstaben, Schrift, Text nur
310
§ 7 Buch und Leben
auf das Ziel hin lesen, Literatur zu lesen, nicht so weiterführen lässt, als läsen wir Literatur nur zu dem Ziel, ein Buch lesen zu können. Das Buch hat eine große Vergangenheit. Nicht so sicher ist seine Zukunft. Die Lesetheologie ist auf Zukunft gerichtet. Sie ist es schon durch den einfachen Umstand, dass sie sich forttragen lässt von der Neugier auf das, was kommt. Wer soweit gelangt ist, Texte zu lesen, hat noch gut, Literatur zu lesen – und ähnliches konnte man zu den früheren Übergängen sagen. Was soll guthaben, der gelernt hat, Literatur zu lesen? An dieser Stelle das Buch auszurufen, zögert man und man zögert erst recht, die Heilige Schrift als Gut zu proklamieren, das aussteht. Handelt es sich nicht um Leseformate von gestern, wenn nicht ehegestern? Auch die Heilige Schrift hat eine große, sehr große Vergangenheit, aber ihre Zukunft liegt nicht mit derselben Strahlkraft vor uns. Das kann für die Lesetheologie nicht ohne Folgen bleiben. Bisher folgte unser Gang interner Teleologie. Jetzt sind wir drauf und dran, diesen Pfad zugunsten von Nebenzielen zu verlassen. Muss es das Buch nur zu dem Zweck geben, dass es am Ende so etwas wie Heilige Schrift geben kann? Gewiss, das Buch hat es gegeben. Zum Glück haben wir uns nicht auf Theologie des Buches eingelassen, sondern auf Lesetheologie von vornherein. Was zum Lesen bisher in Erfahrung gebracht wurde, behält seine Kräftigkeit, selbst wenn Buch und Heilige Schrift schwächeln. Lesen wird man auch ohne Buch, ohne Heilige Schrift. Es ist nicht dasselbe, das Ende des Buches oder das Ende des Lesens zu beklagen. Das Lesen wird seinen Weg suchen, auch wenn das Buch auf der Strecke bleibt. Dadurch, dass wir uns ausschließlich der internen Teleologie des Lesens überlassen wollen, ändert sich in den buchorientierten Paragraphen nichts. Aber fortan leben wir mit der Frage, ob nicht das Lesen mit der Literatur ans Ziel gelangt ist und es darüber hinaus nichts mehr zu begehren gibt. Literatur lesen ist sich vollbringendes Lesen, und Lobsiens Ausblick auf „das sich wissende Lesen selber“ beschreibt dies akkurat.1 Entweder gehören Buch und Heilige Schrift in die Phänomenologie des Lesens, oder sie müssen sich damit begnügen, Sonderthemen applikativer Art für einen durch bestimmte Präokkupationen gebundenen Personenkreis zu sein, der sich außerhalb der Teleologie des Lesens befindet und sich dessen Erkenntnisgewinn nur andient. Gegenstimmen werden stark, die klarmachen, auf welch dünnem Eis wir uns bewegen. Niemand kann bezweifeln, dass das Lesen in erstaunlichem Maß vom Buch und von der Heiligen Schrift herkommt; ob es aber auch mit dem Schwung eines sich wissen wollenden Lesens daraufhin getragen wird: das ist offen. Wenn es sich so verhält, dass Buch und Heilige Schrift den Kurs der Lesetheologie in seiner Konsequenz bedrohen, wird es das Beste sein, wenn wir nicht nach Restitution des Verschwundenen suchen und uns nicht an ver1
§ 6 Anm. 136.
§ 7 Buch und Leben
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gangener Pracht berauschen.2 Keine Lesetheologie vermag das Buch noch einmal zurückzurufen als das was es war, geschweige denn die Heilige Schrift. Sie muss vielmehr auf Kurs bleiben. Wir erinnern uns: Auch die Literatur droht zu entschwinden in eine Vergangenheit, deren Bewunderung ideologische Züge annehmen und aus Literaturwissenschaft unverzüglich ein Analogon der Klassischen Altertumswissenschaft machen könnte.3 Hier half nichts, als durch beharrliches Fragen Was ist Literatur? die Dringlichkeit des Literarischen deutlich zu machen, selbst wenn man sie vergessen haben sollte. So auch bei Buch und Heiliger Schrift. Kant hat in einer Epoche expandierenden Buchwesens die Frage gestellt „Was ist ein Buch?“4 Wenn wir sie unter aktuellen Bedingungen aufnehmen, wird sie uns nur dann nicht in die Form Was war ein Buch? entschwinden, wenn wir sie scharfmöglichster Kritik aussetzen. Die Frage heißt jetzt: Was ist ein Buch nach Ende des Buches? Nur dann haben wir das Restitutionsbegehren hinter uns gelassen. Ermutigung hierfür liegt darin, dass bereits die Frage Was ist Literatur? den hintergründigen Sinn mitschwingen ließ: Was ist Literatur nach Ende der (essentialistisch, funktionalistisch definierten) Literatur? Und wenn die Beschäftigung mit dem Buch vorausweist auf Was ist Heilige Schrift?, dann folgt daraus, dass wir diese anders als in der Form: Was ist Heilige Schrift nach Ende der Heiligen Schrift? nicht stellen können. So befinden wir uns beim Buch in Vorübung für die noch ausstehende, die Lesetheologie ins Ziel führende Frage. Die Frage Was ist ein Buch? lässt sich nicht stellen, ohne dass deren hintergründige Gestalt Was ist das Buch? mitschwingt. Weil die Heilige Schrift als das Buch den Büchern im Genick sitzt, wird das Ende des Buches unisono und choraliter als dessen glückliche Enttheologisierung gefeiert. Ob in affirmierendem oder negierendem Sinn: Buch und Heilige Schrift lassen sich kaum voneinander trennen. Spätestens seit Beginn der Neuzeit verbreitet sich die untergründige Frage: Was wäre, „si nulla esset scriptura“,5 „si non esset Biblia?“6 Wenn schon Luther so fragt, um wievielmehr Kant. Mit äußerster Vorsicht erwägt er, ob der bloße „Geschichtsglaube, der, als Kirchenglaube, ein heiliges Buch zum Leitbande der Menschen bedarf, […] selbst aufhören, und in einen reinen, für alle Welt gleich einleuchtenden Religionsglauben übergehen werde“, und rückt in der zweiten Auflage zurecht: „Nicht daß er aufhöre (denn vielleicht mag er als Vehikel immer nützlich und nötig sein), sondern aufhören könne […].“7 Wie der Glaube, so das Wort. In Hinsicht darauf will er nur so viel fragen: „Was würde (Hg.), Pracht auf Pergament 2012. Küpper, Was ist Literatur? 2000, 188. 4 Kant, Metaphysik der Sitten 1797, A 127, WW 4, 404. 5 Luther, De servo arbitrio 1525, WA 18, 719,22. 6 Luther, Predigt 1545, WA 49, 725,19. 7 Kant, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 1793/94, B 205 Anm., WW 4, 802. 2 Fabian/Lange 3
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also geschehen, wenn der Kirchenglaube dieses große Mittel [das Vehikel des heiligen Buches] der Volksleitung einmal entbehren müßte?“8 Inzwischen dürfen wir davon ausgehen, dass das Aufhören des Buches Wirklichkeit ist, wiewohl ohne dass Vernunftreligion eingetreten wäre. Was ist das Buch nach Ende des Buches? Die klassische Antwort lautet: Für den von Luther wie Kant nur mit Fingerspitzen berührten, fast undenkbaren Fall, dass das Buch in Vergessenheit geraten sollte, hat dieses vorgesorgt, indem es Spuren hinterließ. Es hat sich nach Art der Gedächtniskunst (ars memorativa) ausgelagert und eingespeichert in gewisse metaphorische Buchformen, aus denen es in Erinnerung gebracht werden kann. Begreiflicherweise nicht so, dass es nur aufgefunden, ergriffen und wieder zurückgetragen werden könnte wie einst das Deuteronomium, sondern es muss aus dem Zustand der Versetzung rückübersetzt, zurückversetzt werden. Auch nicht so, dass es wiederkehrte als das Ganze und Universale, das es war, sondern es bedarf vieler Anläufe, um es aus der Zerstreuung zusammenzubringen und zu sammeln just am Ort der Leere, die das Verschwinden des Buches hinterlassen hat. Drei gewichtige Gestalten des metaphorischen Buches werden Beachtung finden. Das Buch der Natur, das trotz unvordenklichen Daseins von Natur ohne das Buch in eigentlichem Sinne nicht entstanden wäre, nun aber, nach Ende des Buches, in die unerwartete Lage gerät, es solle, wiewohl nur Schatten des Buches, die Erinnerung ans Verlorene wiedererwecken. Deshalb steht als nächstes das Buch der Geschichte parat, um den mühsamen Gedächtnisprozess zu stützen. Und schließlich muss das Buch des Lebens beispringen, um dem Buch nach Ende des Buches aufzuhelfen und es ins Gedächtnis zurückzurufen. In unterschiedlicher Weise sind Geschichte und Leben unvordenklich älter als das Buch; nun sollen ausgerechnet sie, obgleich das Buch nur angelehnt ist an sie, helfen, die Erinnerung zu festigen. Restituieren werden sie das Buch nicht, aber womöglich werden sie es aus dem Schattenreich hervorholen und ihm nach seinem Ende Zukunft vindizieren.
1. Was ist ein Buch? Kants Antwort: „eine Schrift (ob mit der Feder oder durch Typen, auf wenig oder viel Blättern verzeichnet, ist hier gleichgültig), welche eine Rede vorstellt, die jemand durch sichtbare Sprachzeichen an das Publikum hält“,9 hat ihren Reiz, aller Rede vom Ende des Buches zum Trotz. Zwei Fragen stellen sich. – Angenommen, das Buch sei im Lauf seiner Geschichte dasselbe geblieben, nur seine Umgebung habe sich mehr oder weniger dramatisch verändert, lautet die erste Frage: Wie hat sich die Landschaft verändert, in der 8 9
Kant, Der Streit der Fakultäten 1798, A 112, WW 6, 338. S. Anm. 4.
1. Was ist ein Buch?
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das Buch sich treu blieb? Das Buch ist Medium unter Medien. Also gilt die Frage der Medienlandschaft und ihrer Evolution. Die zweite Frage betrifft das Buch selbst. Wir erkennen durchaus das von Kant beschriebene Buch in unseren Büchern wieder, selbst wenn unsere Beschreibung in jedem Punkt anders ausgefallen wäre. Wir hätten Buch und Schrift nicht in eins geworfen, nicht Skriptographie und Typographie für gleichwertig erklärt; auch hätten wir Schwierigkeiten mit der Rede ans Publikum durch sichtbare Sprachzeichen. – Also lautet die zweite Frage: Gibt es etwas Identisches am Buch, was seine temporären Maskeraden unterfängt, sodass das Wiedererkennen auf einen Kern stößt, der derselbe bleibt? Es scheint sinnvoll, die Reihenfolge der Fragen umzukehren. Bevor man nach dem Buch als Medium fragt, muss nach dem Buch als Buch gefragt werden. Begreiflicherweise regt sich das Bedürfnis, zuerst das Buch selbst kennenzulernen, bevor man sich seinen proteischen Verwandlungen zuwendet. a. Der Anfang des Buches Identischer denn Buch als Buch kann das Buch nicht sein. Nur ist es bereits in seiner einfachsten Form so komplex, dass wir seine Identität aus Elementen zusammensetzen müssen. Es ist bereits Buch als Buch und Buch als Gebrauchsmittel gewesen, bevor die Frage nach seiner allfälligen Identität gestellt werden kann. Was war der Anfang des Buches?10 Buch als Buch Das Buch heißt im Deutschen so, weil es mit der Buche zu tun hat, genauer mit der Bastseite der Buchrinde, die im frischen Zustand als Ritz‑ und Schreibgrund dient und im trockenen das Geschriebene fixiert und konserviert.11 Das Deutsche bleibt nicht allein; englisches book, niederländisches boek, skandinavisches bog/bok nehmen teil und hinterlassen im französischen bouquiniste ihre Spur. Warum Buche? Warum nicht – „Ich schnitt in deine Rinde“ – die Linde? Der Romantik scheint das Wissen, dass die Beschreibung nicht der Vorder-, sondern der Rückseite galt, abhanden gekommen, dafür der Reim geblieben zu sein. In anderen europäischen Sprachen löst sich das Buch von der Buche, nicht aber von Rinde und Bast. So im Griechischen βίβλος und im Lateinischen liber. Isidor von Sevilla sagt: „Liber est interior tunica corticis, quae ligno cohaeret“ (Liber ist das innere Gewand der Rinde, die Verbindung zum Kernholz).12 Ebenso Hugo von St. Viktor: „Liber est interior cortex arboris“ (Liber ist die Innenseite der Baumrinde).13 Noch auf der Schwelle zur 10 Vf., Art.
Buch 2017. DWb 2, 1860, 466–469. 12 Isidor von Sevilla, Etym. VI xiii, 3. 13 Hugo v. St. Viktor, Didasc. IV 16, FChr 27, 314. 11
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Neuzeit weiß der bibliophile Johannes Trithemius vom liber: „hoc est interioris corticis quae ligno cohaeret“ (das kommt von der Innenseite der Rinde, die mit dem Kernholz zusammenhängt).14 Die Baumarten mögen verschieden sein, doch trotz Vergils „alta liber arat in ulmo“ (hoch in der Ulme dörrt der Bast)15 und Venantius Fortunatus’ „barbara fraxineis pingatur rhuna tabellis“ (die barbarische Rune soll auf eschene Bretter gemalt werden)16 entstand im Deutschen kein dem Buch konkurrierendes Ulm oder Esch. Und trotz der altrussischen берестяные грамоты (Birkenrindenschriften) aus Nowgorod hat sich das Russische nicht auf Birk fixiert. Auch hier hinterließ бук (Buche) seine Spuren: буква (Buchstabe), букварь (Fibel). Anstelle des Schreibgrunds scheint die Schreibtechnik im Vordergrund zu stehen: γράϕειν (ritzen/to write). Daher грамота (Schriftstück), das erst durch späteres книга (Buch) die genaue Gestalt des Buches annimmt, während im sprachgeschichtlich älteren Lettischen das Neutrum grāmata für Buch bereits ausreicht. Allerdings muss sich die Orientierung am Schreibgrund einmal von der Rinde ab‑ und dem Kernholz zugewandt haben, das im saftigen Zustand ebenfalls Einschreibung gestattet. Dann können nicht nur Rindenstücke, sondern auch geschnittene tabulae (Bretter) beschrieben und zu Büchern kompaginiert werden. Von hier erklären sich δέλτος (Schreibtafel), δελτίον (Schreibtäfelchen); je nach Zahl schwanken sie zwischen δίπτυχον (Diptychon) oder Polyptychon. Sobald der hölzerne Schreibgrund durch Wachs ersetzt wird, lassen sie sich mehrfach beschreiben. Werden mehrere Holztafeln geschichtet und gebunden, wird unschwer der caudex (Holzblock) erkennbar, Reminiszenz an die vormals unversehrte Gestalt. So kommt es im Lateinischen zum Kodex. Hingegen im Griechischen scheint τὰ βιβλία den Rinden geblieben zu sein, auch hier gebunden zum Stoß oder Block. Vorgänge wie Öffnen und Schließen, ἀνοίγειν und πτύσσειν, explicare und plicare, aperire und claudere gehören zum Buch, sei es als Rollen oder Klappen; das Auf und Zu wird hörbar und sichtbar, Duft entströmt. Selbst der entsinnlichste Laptop übt Mimikry, und dessen Aufklappen wird gelegentlich, wiewohl dysfunktional, mit der Andeutung einer theatralisch ausholenden Geste verbunden. Buch als Gebrauchsmittel Das Buch ist im Sprachgebrauch, aber auch im Gebrauch. Als Gebrauchsmittel bleibt es nicht auf die Urszenen fixiert, die die Etymologie vor Augen malt. Vier Gestalten hat es im Lauf seiner Geschichte angenommen: die Buchrolle auf Papyrus, den Buchkodex auf Pergament, den Buchdruck mit beweglichen Lettern auf Papier und das digitale e-book auf elektronischer 14
Trithemius, De laude scriptorum 1494, cap. 12, fol. 13b. Vergil, Bucol. X 67. 16 Venantius Fortunatus, Carm. VII 18,19, MGH.AA 4/1, 1881, 173. 15
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Basis. Die Mediengeschichte ordnet ihnen Altertum, Mittelalter, Moderne und Postmoderne zu.17 Nun fällt auf, dass die vier Epochen des Buches nicht mit den drei Epochen der Schrift übereinstimmen, die von derselben Mediengeschichte als Skripto-, Typo‑ und Elektrographie bestimmt werden, der jeweiligen Schlüsseltechnologie entsprechend.18 Hier wie dort gibt es Überschneidungen. Johannes Trithemius will den Streit, ob die älteste Buchepoche vom liber (Kodex) oder vom volumen (Rotulus) bestimmt wird,19 nicht schlichten; aus seiner Perspektive ist die Geschichte des Buches geprägt von der Differenz von scriptura (handgeschriebenes Pergament) und impressura (bedrucktes Papier).20 Ebenso ist darauf zu achten, Medien‑ und Buchgeschichte nicht zu harmonisieren. Die Mediengeschichte nennt fünf Epochen: Oralität, skripto‑ und typographische Literalität, analoge und digitale Postliteralität.21 Mit ihnen hat das Buch nur teilweise und verschieden intensiv zu tun. Resultat: Die Diskrepanz von Medien-, Schrift‑ und Buchgeschichte warnt vor vorschneller Konkordanz. Zudem unterliegen die Angaben zur Zäsur zwischen den Buchepochen meist der Logik des obscurum per obscurius. So die Zäsur zwischen Rotulus und Kodex: sie könne „nur mit der Erfindung des Buchdrucks und dem Beginn des EDV-Zeitalters verglichen werden“.22 So die Zäsur zwischen Skripto‑ und Typographie: „The difference […] is nearly as great as that between the non-literate and the literate“.23 Und so die Zäsur zwischen dem e-book der neuen Medien und allen früheren Buchformen insgesamt: „sie sind relativ belanglos im Vergleich zu der Medienrevolution, die innerhalb der letzten 30 Jahre stattgefunden hat und die die Bedeutung der Erfindung der Typographie wahrscheinlich übertrifft.“24 Das Gebrauchsmittel Buch erscheint in verschiedenen Gestalten, Epochen, Materialitäten von Schrift, aber sobald Zäsuren genannt werden, erhebt sich ein Widerstreit von Vergleich‑ und Unvergleichbarkeiten, der nicht zu besänftigen ist. Die The Gutenberg Galaxy 1962. Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit 1991, 58. 19 Trithemius, ebd., cap. 12, fol. 13b: [liber,] hoc est interiori corticis quae ligno cohaeret, quia ante usum carthae vel membranae de libris arborum volumina compaginata fiebant, sicut in vetustissimis bibliothecis adhuc hodie reperiuntur quandoque vestigia. Ebd. fol. 14a: Volumen liber est a volvendo dictus. So schon Isidor von Sevilla, Etym. VI xiii, 2; Hugo v. St. Viktor, Didasc. IV 16. Dementsprechend revolvere teils für Lesen Lc 4,17, teils für wiederholtes Lesen zum Zwecke der Gedächtnisübung; RP 6: de scripturis quidpiam revolvens memoriter. 20 Trithemius, ebd., cap. 1, fol. 3a: Impressura enim res papirea est et brevi tempore tota consumitur. Scriptor autem membranis commendans litteras et se et ea quae scribit in tempus longinquum extendit. Der Zusatz mancher Bibliothekskataloge De laude scriptorum manualium findet sich nicht nur nicht im Original, sondern ist auch überflüssig. Anders als bei den Reformatoren bleibt bei Trithemius sacra scriptura an Handschriftlichkeit gebunden. 21 Kogler, Schrift, Druck, Post 1998, 31. 22 Jakobi-Mirwald, Das mittelalterliche Buch 2004, 113. 23 McLuhan, ebd., 90. 24 Schulte-Sasse, Art. Medien 2002, 29. 17 McLuhan, 18
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Unterscheidungen von Gebrauchsformen des Buches begegnen bisher überwiegend als gefühlte. Buch als Buch
Es gibt Gestalten des Buches – gibt es auch die Gestalt? Also eine Einheit der Buchform, die von der Vielfalt ihrer Erscheinungen abstrahiert werden kann? Gibt es das Buch? Die geläufige Bestimmung: Druckwerk, gebunden, geheftet oder gelumbeckt, mit steifem oder biegbarem Einband, sofern es die Seitenzahl 48 übersteigt und in Buchhandlungen zu gebundenen, in Antiquariaten zu freien, an Knappheit orientierten Preisen mit reduzierter Mehrwertsteuer gehandelt wird, kann leicht aus den Angeln gehoben werden. Wurde die Kernzone getroffen oder nur die Streuzone? Die Begriffsform, die fordert, Essentials und Accessoires zu unterscheiden, greift nicht. Dem Buch kommt eine vertrackt chamäleontische Gestalt zu. Der flotte Spruch, das Rad habe nur einmal in der Geschichte erfunden werden müssen, lässt sich auf das Buch nicht tel quel übertragen.25 Das Buch ist nicht Idee, nicht Substanz, nicht Zentrum; zentripetale und zentrifugale Aspekte überschneiden sich. Sammelt das Buch oder zerstreut es, colligere oder dissipare? Übt es Semination (σπείρειν) oder Dissemination (διασπείρειν)? Die Antwort fällt geteilt aus. Im ersten Fall will das Buch den Text für sich halten, ihn umklammern durch Anfang und Ende, Incipit und Explicit sowie durch Vorder‑ und Hinterdeckel; es will den stabilen, endlichen Text. Im andern Fall setzt der Text die vermeintliche Buchsubstanz in Bewegung und destabilisiert sie durch Unendlichkeit. In beiden Fällen bleibt das Buch hinter der naiven Begriffsform zurück. b. Das Buch als Medium
Es gibt nicht das Buch, aber verschiedene Gestalten des Buches, entsprechend den verschiedenen Gebrauchsweisen. Als Gebrauchsmittel ist das Buch wenigstens Mittel. Mittel verhalten sich entweder still oder werden auffällig. Wenn letzteres, sind sie mehr als Mittel: Medien. Medien setzen eine bestimmte Mittelhaftigkeit voraus; jedoch nicht darauf liegt der Akzent, sondern auf dem unbestimmten Mehr, das den Mitteln anhaftet. Es klingt ominös: Ein Mittel sollte sich zweckmäßig, in Zuordnung auf seinen Zweck möglichst passiv verhalten; sobald es aus dieser Rolle herausfällt und aktiv wird, wird es auffällig und in seiner Mittelhaftigkeit meldet sich ein Mehr, die Medialität. Nicht selten wird die Gelegenheit zur terminologischen Differenzierung verspielt. Heißt es, das Buch sei „mehr als ein Medium zur Informationsspeicherung“,26 dann wird Medium im Sinn von Mittel gebraucht, was un25 26
Eco/Carrière, Die große Zukunft des Buches 2010, 6 f, 14. Zintzen, Vorrede 2011, 6.
1. Was ist ein Buch?
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zweckmäßig ist. Das Medium ist mehr als Mittel, das es auch ist; daher kommt es, dass es sich durch sein lateinisches Outfit von ihm absetzt. Es ist bereits das Mehr, über das hinaus zu denken schon deshalb unsinnig ist, weil mit ihm schon alles Mehr und Mehr des Mehrs gedacht wird. Medium ist dasjenige Mehr des Mittels, über das hinaus mehr nicht gedacht werden kann. So verschiebt sich der Akzent vom Buch als Buch zum Buch als Medium. Während der erste Aspekt dazu neigt, das Buch als einziges Medium oder als Medium schlechthin zu betrachten, was es selbst in vormodernen Epochen nie war, stellt der zweite Aspekt das Buch in den Zusammenhang mit anderen und überlässt es der inneren Teleologie der Medien, die durch die Differenz von Mittel und Medium und dem in ihr wirksamen Mehr angetrieben wird. Nicht für sich, sondern nur im Zusammenhang mit den Medien lässt sich fortan die Frage nach dem Buch als Buch sinnvoll stellen. Schwache und starke Medien
In der Einleitung zur Phänomenologie hat Hegel gezeigt, dass die Auffassung illusionär ist, das Erkennen verhalte sich zur Sache wie ein dazwischentretendes Mittel oder Medium und sei deshalb „im Resultate abzuziehen“.27 Zwischen Mittel und Medium muss differenziert werden. Allenfalls das Mittel erlaubt den Irrtum, es könne vom Zweck wieder abgezogen werden, dagegen der Begriff des Mediums ist erst angebracht, wenn das vermeintlich passive Mittel Selbsttätigkeit zeigt. Diese ist das Mehr, das das Mittel zum Medium macht. Im selben Sinn unterscheidet Georg Christoph Tholen zwischen dem schwachen „Medium als ‚Mittel‘“ und dem starken „Medium als ‚Vermittlung‘“,28 wobei das Mehr der Vermittlung über das Mittel hinaus in der Selbsttätigkeit besteht. Die Selbsttätigkeit hat den Charakter von Selbstbezüglichkeit – Hegel: „das reine sich auf sich beziehen, oder das Medium“29 –, und diese ist es, durch die das Mittel seine ominös mediumistische und spektrische Medialität gewinnt und zum Medium wird. Ebenso hat Walter Benjamin in Hinsicht auf Sprache unterschieden zwischen dem, „was wir durch sie“ mitteilen, und dem, „was sich in ihr“ mitteilt;30 das erste nennt er „Verhältnis des Mittels“, das zweite ein solches „des Mediums“31 „im reinsten Sinne“.32 So hebt die Unterscheidung von schwachen und starken Medien das Buch zu einer unvermuteten Bedeutung empor: Selbstbedeutung, Selbstauslegung. 27 Hegel,
Phänomenologie des Geistes 1807, GW 9, 53,26 f; 54,3. Tholen, Art. Medium/Medien 2005, 151. 29 Hegel, ebd., 72,19. 30 Benjamin, Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen 1916, GS II/1, 141,20.22 (Kursivierung wie 142,5). 31 Benjamin, ebd. 144,39–145,1. 32 Benjamin, ebd. 142,36. 28
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Alte und neue Medien Auch in Hinsicht auf die vier Gestalten des Buches im Lauf seiner Geschichte ist die Unterscheidung von schwachen instrumentalen Medien einerseits und starken medialen andererseits nicht zu hintergehen. Kant zufolge lässt die Buchrolle das apokalyptische Ende des Himmels vorstellen als „Entweichen desselben als eines eingewickelten Buches“.33 Der Buchkodex nimmt den Charakter des Doomsday Book an: „Liber scriptus proferetur.“34 Ebenso schaffen Buchdruck und E-Book je ihre entsprechende Welt. Dennoch kommt damit allenfalls eine Medientheorie avant la lettre zum Zuge, die angesichts der Neuen Medien schnell alt aussieht. Um das Buch wirklich in der Welt der Medien zu situieren, ist es nötig, den Gegensatz von schwachen und starken mit dem von alten und neuen Medien zu kreuzen. Hegel hatte vor Augen Sprache und Licht, Benjamin Schrift, Druck, außerdem Fotografie, Film, Radio. Aber eine neue Qualität geht auf, wenn analoge Medien wie Telefon, Television durch digitale wie CD, PC und PCM-Telefon getoppt werden. Mit dem PC tritt nicht nur ein Medium unter anderen, sondern das offenbar gewordene Medium aller Medien auf den Plan, und mit ihm scheint das Plus der Medien ins Nonplusultra überzuspringen, was den herkömmlichen Anspruch des Buches auf ebendiesen Rang in äußerst bescheidene Grenzen verweist. Wurde das Buch als Medium durch die Unterscheidung von schwachen und starken Medien unendlich zur Selbstbedeutung erhoben, so wird es durch die Unterscheidung von alten und neuen Medien in seiner Bedeutung unendlich erniedrigt. c. Das Ende des Buches Schon immer hat das Ende zum Buch gehört; einmal ist die Rolle abgerollt, einmal der Kodex zur letzten Seite gelangt. Das Kolophon vollzieht sich selbst: τέλος/finis/конец (Ende). Aber Ende des Buches heißt nicht nur, dass das Buch sich aus inneren Gründen zu Ende bringt, den Blick zurücklenkt zum Anfang und somit innere Geschlossenheit (clôture) zu erkennen gibt, die sich bis zur Verschlossenheit steigern kann. Sondern ein Ende hat das Buch auch, weil ihm ein solches von außen widerfährt, sei es destruktiv durch Vernichtung, sei es konstruktiv durch Verinnerlichung, Verspeisung,35 Vergeistigung.36 Feuer, physisches wie pneumatisches, bewirkt Ende des Buches. In jedem Fall ist das von außen geschehende Ende gemeint, wenn nicht nur vom Ende, sondern vom Tod des Buches die Rede ist. Hatte sich die vormoderne Ästhetik, die 33
Kant, Das Ende aller Dinge 1794, A 498, WW 6, 176. Jes 34,4; Apk 6,14. Thomas von Celano, Dies irae, in: The Oxford book of Medieval Latin verse 31946, 150,13. 35 Ez 3. 36 2. Kor 3. 34
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Ästhetik vor der Ästhetik, am Paragone der Künste erfreut, in dem um des Gesamtauftritts willen eine der anderen den Vortritt lässt, verknappt sich dieser unter Bedingungen von Moderne und Postmoderne zum Agon, zum offen ausgetragenen Krieg. Dieser folgt Victor Hugos Ankündigung: „Ceci tuera cela.“37 Dass das Buch zu töten vermag, hat man schon längst geahnt. Die Gnome 2. Korinther 3,6 handelt nicht, wie es das weitverbreitete Missverständnis will, vom toten, sondern vom tötenden Buchstaben. In diesem Sinn prophezeit Ceci tuera cela der gotischen Kathedrale, sie werde vom heraufziehenden Zeitalter des gedruckten Buches getötet. So setzt die Parole vom Ende des Buches das Buch als Inbegriff des Buchstabens, der tötet, selbst dem Tod aus. Die Affinität von Medientechnologie und Krieg,38 über deren kausalen Zusammenhang seit den Kriegen des 20. Jahrhunderts kein Zweifel mehr besteht, ist für das Ende des Buches von Bedeutung, indem sie dieses als Tod präzisiert. An sich bloße Metapher, setzt Tod zum Sprung aus Uneigentlichkeit in Eigentlichkeit an. – So zeigt sich: Die Parole vom Ende des Buches, sei es äußeres oder inneres, dürfte so alt sein wie dieses selbst. In welchem Sinn auch immer „hört das Buch […] nicht auf aufzuhören.“39 Die Parole vom Töten und Getötetwerden verschärft den Akzent. – Drei Thesen zum Ende des Buches sind bemerkenswert: Marshall McLuhans Galaktisierung des Buches, Jacques Derridas Ende des Buches als Anfang der Schrift und Niklas Luhmanns Codierung des Buches. Galaktisierung
Marshall McLuhan hat das ursprünglich mit dem Titel The End of the Gutenberg Era geplante Werk unter dem Eindruck der Lektüre von Harold A. Innis zu The Gutenberg Galaxy verändert.40 Unter Galaxis versteht er die „mosaikartige Konfiguration“, die sich als Technik von allem unterscheidet, was die Lesetheologie im Gefolge der Textilmetaphern zu Text und Literatur aufgeführt hat. Galaxis umfasst drei Aspekte.41 Erstens: Die Ära des Buchdrucks wird nicht durch kausal-lineare Abfolge, sondern durch „simultanes Zusammenspiel“ kultureller Faktoren, deren „Konstellationen“ und „Resonanzen“ bestimmt. Dem folgen zweitens „Perspektivenwechsel“ und „Sondierung“ als vorherrschende methodische Verfahren. Drittens: Als Galaxis erscheint der Buchdruck erst im Rückblick; die eben erwähnten heuristischen Kategorien stammen bereits aus der Welt der Neuen Medien, die die Epoche des Buchdrucks ablöst. Wie dieser in den Inkunabeln, erkennt sich die Gegen37 Victor Hugo, Notre-Dame de Paris 1482, V 2 (seit 1832): „Ceci tuera cela“; „le livre tuera l’édifice.“ 38 McLuhan/Fiore, War and peace in the global village 1968; Virilio, Guerre et cinéma I 1984. 39 Wetzel, Die Enden des Buches 1991, iii. 40 McLuhan, The Gutenberg Galaxy 1962. 41 Höltschl, Art. Gutenberg-Galaxis, 77–81.
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wart in der Galaxis in ihren ersten Anfängen. Daher muss die durch Gutenberg ausgelöste Galaktisierung nur vollends überschritten werden in die „neue elektrische Galaxis“, die in Understanding Media vorgestellt wird. Hier ist der Buchdruck nur noch eines von 26 Elementen.42 Damit begnügt McLuhan sich nicht. Nicht nur die Ära des Buchdrucks wird von den neuen Medien angemessen fortgeführt, sondern auch die vorausgehende Geschichte der Schrift; auch sie strebte schon nach Galaktisierung. Einerseits ist die Erfindung beweglicher Lettern durch Gutenberg lediglich „Verstärkung“ dessen, was durch die Alphabetschrift bereits ins Werk gesetzt war; der Buchdruck befreit sozusagen under cover die Schrift vom Buche, intensiviert die Auswirkung der Kräfte, die durch die Form des Buches lange Zeit eingeschränkt war. Andererseits will McLuhan als Vertreter des starken Medienbegriffs nicht nur zeigen, wie sich mit dem Buchdruck der Alphabetisierungsprozess quantitativ steigert, sondern muss auch zeigen, wie sich der Buchdruck zu einem Agens formiert, das qualitativ Neues bewirkt. Das geschieht, indem die Neuen Medien die alten ablösen und die geschlossene Welt des Buches durch Perspektivierung, Distanzierung, Segmentierung, Elementarisierung aufbrechen. Die Gutenberg-Galaxis, die zwischen 1750 und 1850 zur maximalen Streuung auflief, wird schließlich von der Marconi-Galaxis überholt, mit der der Weg zum Global Village beginnt.43 Aber McLuhans Geschichtserzählungen variieren nicht wenig. Teils soll die elektronische Galaxis die Printgalaxis zum Verschwinden bringen, teils sie nur durchdringen, teils wird gefragt, welche Resilienz das Buch beweist, wenn es nicht untergehen will. Immerhin ist Buchkritik ständig von Paradoxierungen bedroht. Wie die Schriftkritik seit Platon durch Schrift tradiert wird, so eröffnet die Tatsache, dass McLuhan seine Buchkritik der Form des Buches anvertraut, ein weites Feld von Nachfragen, darunter die, ob sich nicht ein Buch über das Ende des Buches erst recht der Rache des Buches schutzlos aussetzt. Ende des Buches als Anfang der Schrift Die Disziplin Jacques Derridas ist nicht die Medientheorie mit ihren Geschichtserzählungen und Zwangsmythologien, sondern die Philosophie, die sich gegen Metaphysik und Ontotheologie als Grammatologie konstituiert. Sein Gegenstand ist auch nicht der Buchdruck, sondern das Buch selbst, dieses jedoch nicht im pragmatischen Sinn der Sammlung von Schrift in bestimmter Menge und so, dass nichts als die Zweckmäßigkeit von Schriftverwaltung zur Diskussion steht. Sondern er konzipiert das Buch von vornherein als Antipoden der Schrift. So verkehrt es klingt: Das Ende des Buches ist der 42 43
McLuhan, Understanding Media 1964, ch. 18. Baltes, Art. Global Village 2005.
1. Was ist ein Buch?
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Anfang der Schrift.44 „Ende“ bei Derrida ist nicht dasselbe wie bei McLuhan; er versteht darunter nicht das Ende von Gutenbergs Buchdruck, sondern fundamentaler das Ende des Buchs überhaupt, sofern es sich in Buchstabenschrift darbietet, einerlei in welcher medialen Gestalt. Die Zäsur verläuft nicht wie bei McLuhan und den frühen Medientheoretikern zwischen Schrift und Nicht-Schrift, Literalität und Oralität, sondern zwischen zwei Arten von Schrift, phonetischer Alphabetschrift und Schrift überhaupt. Das Ende des Buches wird bewirkt durch „die Schrift vor dem Buchstaben“ (l’écriture avant la lettre),45 womit nicht nur die Ära des Buches, sondern auch die Ära der Buchstabenschrift in Klammern gesetzt wird. Derrida weist den stolzen Satz Hegels zurück, die Buchstabenschrift sei „an und für sich die intelligentere“,46 und beklagt den seit Aristoteles festgetretenen eurozentristischen Sonderweg, der die phonetische Schrift gegenüber der Sprache in den Status des bloßen Zeichens des Zeichens und somit der Sekundarität versetzt.47 Erst wenn das semiotische Dreieck von Dingen, Vorstellungen von Dingen und den stimmlichen Verlautbarungen von Vorstellungen der Dinge, der die Schrift nur äußerlich anhaftet, aufgebrochen wird, erst wenn die Schrift nicht nur die Stimme, sondern die Vorstellungen von Dingen, gar die Dinge selbst bezeichnet, denen sie eingeschrieben ist: erst dann rückt sie in die ihr zustehende Funktion ein. Damit bereitet sie dem Buch das Ende. Das Buch ist für Derrida Hort aller Kennzeichen von Metaphysik und Ontotheologie: des Buchstabens, des Zeichens und seiner scharfen Trennung von Signifikat und Signifikant, Sinn und Sinnlichkeit, der Stimme, die immer nur sich selbst sprechen hören will, des absoluten Logos, der auf Totalität sinnt und die Zeichen in geschlossene Zirkulation bannt. Nicht das gedruckte Buch hat Derrida im Blick, das für McLuhan schon auf gutem Wege war, sondern den mittelalterlichen Kodex und gewesenen Holzblock. Er ist der Ort, an dem „Theologie“ entsteht, und anders als da entsteht keine Theologie.48 Die These Derridas, vielmehr die von Edmond Jabès „Si Dieu est, c’est parce qu-Il est dans le livre“,49 scheint allem Gesagten nach weniger erstaunlich als die Tatsache, dass sie zum wiederholten Male gesagt wird. Erst jüngst begegnete sie bei der Literatur, deren Wiederholungsstruktur den Gott des literarischen Textes freilegte.50 Schon der bloße Text bot, wie wir uns erinnern, Veranlassung, den Derrida, Grammatologie 1974, 16: „Das Ende des Buches und der Anfang der Schrift“. Derrida, ebd. 9. 46 Derrida, ebd. 11, 45 ff; Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 459, WW 10, 274. 47 Derrida, ebd. 24; Aristoteles, De int. 1, 16a4. 48 Derrida, Edmond Jabès und die Frage nach dem Buch 1964, 117: „Gott selbst entspringt im Buch, das somit den Menschen an Gott und das Sein an sich bindet. ‚Wenn Gott ist, dann weil er im Buche ist.‘ “ So Jabès, Le livre des questions 1, 1988, 36. 49 Derrida, Grammatologie, 13, 25, 28, 35. 50 § 6 Anm. 171 f. 44 45
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Gott im Text zu bedenken.51 Nicht genug damit, auch Schrift und Buchstabe, weit entfernt davon, das zu tun, was Derrida ihnen auferlegt, boten in ihrer Weise Anlass, den Satz von Jabès zu bewahrheiten. Wenn Gott ist, dann weil er in der Schrift, in Buchstaben wie im Buchstaben ist.52 Gewiss ist das, was Derrida vorträgt, nichts weniger als ein Frontalangriff auf die Konstellation, die in § 1 Theologie des Lesens in programmatischer Absicht vorgestellt wurde. Und Derrida ist darin völlig korrekt. Vor Augen hat er die frühmittelalterliche lectio divina als Mutter der Theologie und die sacra pagina als das, was vom fortlaufenden Buche stehen bleibt53 und in der Frühscholastik zum Synonym von theologia wird. In der Tat: Es ist dieses unvermeidlich Theologie hervorbringende Buch, das sich „gegen den sprengenden Einbruch der Schrift“ wehrt; ihm widerfährt Schrift als „Gewalt“, die ihrerseits auf die „Gewalt“ antwortet, die vom Buch ausgegangen war, und es dem „Untergang“ weiht.54 Ceci tuera cela. Aber zugleich gibt es Gründe, den Frontalangriff ins rechte Verhältnis zu rücken. Nicht erst beim Buch, bereits bei Buchstaben, Schrift, Text und Literatur war Anlass, von Gott zu sprechen. Codifizierung und Codierung
Anders als Derrida, aber gleich wie McLuhan kennt Niklas Luhmanns Die Gesellschaft der Gesellschaft keine Rede vom Buch, die sich vom Buchdruck unterschiede. Der Buchdruck hat seinen Ort in Sprache, Schrift, Druck, Elektronik, die Luhmann als „Verbreitungsmedien“ von den „Erfolgsmedien“ Recht, Macht, Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst, Religion unterscheidet.55 Daher sucht man bei ihm die direkte Rede vom Ende des Buches vergeblich. Das heißt aber nicht, dass das Buch lebt und überlebt, vielmehr ist der Buchdruck, der als „Spätzündung“56 von Verschriftlichung überhaupt und als finaler „Umschlag von Quantität in Qualität“57 erklärt wird, selbst bereits als Ende zu verstehen. Vorausgesetzt wird das Ende des Buches bei Luhmann allenthalben. Er spricht davon in Form des rekurrenten Anschlusses,58 die Zäsuren unter Restzitaten verbirgt. Nicht nur war beim Aufkommen des Buchdrucks das Buch bereits nicht mehr an die hieratische Gestalt des Buches gebunden, in 51
§ 4.3.a–c. § 2.2.c; § 3.3.c. 53 Frühwald, Gutenbergs Galaxis 2011, 18: „Die Folianten der Frühen Neuzeit waren nicht auf das Lesen eines Fließtextes ausgerichtet. […] Ein solches Folioblatt ist gleichsam autonom, das Buch wird im Stehen gelesen und studiert.“ 54 Derrida, ebd. 35. 55 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft 1997, 202–205. 56 Luhmann, ebd. 299. 57 Luhmann, ebd. 291. 58 Knapp, Staatliche Theorie des Geldes 1905, 12: „Das neue Zahlungsmittel hat […] stets einen rekurrenten Anschluß an das alte; nur durch diesen Anschluß wird das neue Zahlungsmittel brauchbar für den Verkehr […].“ 52
1. Was ist ein Buch?
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dessen Dienst zu stehen Gutenberg trotz aller erstrebten Rationalisierungsgewinne vorgab.59 Schon vor Erfindung des Buchdrucks war der Codex weit über seine liturgischen und paraliturgischen Grenzen hinaus wirksam. Dank rationellerer Handhabbarkeit – Gliederung, Markierung, Auffindbarkeit sowie Vollständigkeit, die durch Seitenzahlen und Kustoden nachgeprüft werden kann – wird er zum Paradigma für Buchführung überhaupt;60 in der Wirtschaft als Geschäfts‑ oder Rechnungsbuch bis zum Buchgeld, das Geld nicht nur verzeichnet, sondern Geld ist; in Administration und Justiz als Urkunden‑ oder Gesetzbuch, das auf Vollständigkeit angelegt ist. Aber auch in der privaten Lebensführung breitet sich der Codex als Jahrbuch, Tagebuch, Briefbuch aus. Zuerst handschriftlich, dann in gedruckter Form erstreckt er sich potentiell auf alle Lebensgebiete. Die Weise, in der er dies tut, ist Codifizierung. Erst durch die Technik der Codifizierung erfasst der heilige Codex, der in der Liturgie getragen, zur Schau gestellt, geküsst, eröffnet, inzensiert und gelesen wird, das Leben in allen Bereichen. Wovon Luhmann handelt, ist aber nicht Codifizierung, sondern Codierung. Codierung ist Codifizierung nach Ende des Buches. Der rekurrente Wortanschluss signalisiert Ambivalenz. Betont man den harten Schnitt, mit dem die Codierung an die Stelle der Codifizierung und der Code an die Stelle des Codex tritt, ist auch das Ende des Buches hart. Folgt man aber in Code und Codierung dem Verbalanschluss und den verführerischen Wortklängen, dann ist ein Irgendwie-Fortleben des Buches nicht völlig von der Hand zu weisen. Der Terminus Code entsteht im 19. Jahrhundert im Zuge der Marconi-Galaxis im Fernmeldewesen und militärischer Nachrichtentechnik und bezeichnet Regeln der Ver‑ und Entschlüsselung von Nachrichten.61 Dementsprechend drängt Codierung auf den Übergang vom Analogen zum Digitalen. Spätestens mit Luhmann hat die Codierung alle Lebensgebiete – in seinen Begriffen: alle Systeme der Gesellschaft – erfasst. Jedes System folgt einem binären Code. Tertium non datur. Beim elementarsten Verbreitungsmedium, der Sprache, handelt es sich um den Ja/NeinCode. Für Schrift und Druck bleibt Luhmann die Angabe eines spezifischen Codes schuldig. Sie bleiben in Abhängigkeit vom sprachlichen Code, den sie nur verbreitern.62 Umso eindeutiger sind Erfolgsmedien durch binäre Codes definiert. Wissenschaft bildet sich durch die Binarität wahr/falsch, Moral durch gut/schlecht, Politik durch mächtig/machtlos, Kunst durch schön/hässlich, Religion durch immanent/transzendent. Von allen Systemen oder Teilsystemen gilt, dass sie in dem Maß, in dem sie ihrem spezifischen Code folgen, das Ende des Codex immer schon voraussetzen. Der harte Kern ist, dass die 59
Giesecke, ebd., 134–167. Keller, Vom ‚hl. Buch‘ zur ‚Buchführung‘ 1992; ders., Einleitung 1996. 61 Roesler, Art. Code/Codierung 2005. 62 Zwar wird der Code in 2/III Sprache (221 ff, 225 ff) erwähnt, nicht aber in 2/V–VII Schrift, Buchdruck, Elektronische Medien. 60
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§ 7 Buch und Leben
Zäsur stattgefunden hat; Systeme wie die Wissenschaft der Gesellschaft, Religion der Gesellschaft markieren mit ihren Codes ebenso das Ende der Codices, wie das e-book mit seiner binären 1/0 Codierung das Ende des Buches vollzieht. Allenfalls als Reminiszenz an einen rekurrenten Anschluss wird man sich gestatten, den Zusammenhang stark zu machen gegen die Zäsur. Dann erscheinen Die Wissenschaft der Gesellschaft, Die Religion der Gesellschaft selbst als Bücher oder Nachfolger der Bücher, Die Gesellschaft der Gesellschaft hingegen als Buch der Bücher oder dessen Nachfolger, wie sie das in Luhmanns Bibliographie denn auch tatsächlich tun. d. Die Buchmetapher, schwach und stark Während das Buch nach Ende des Buches metaphorisch wird im Sinn einer ornamentalen, aber dysfunktionalen Reminiszenz, ist gleichwohl nicht zu übersehen, dass es bereits vor dem Ende metaphernbildend gewirkt hat, nicht aus einer Position der Schwäche, sondern der Stärke. Ist Buch nach Ende des Buches schwache oder starke Metapher? – Es ist schwach, wenn dem Buch von vornherein mehr Vielfalt als Einheit zugebilligt wird. Dann mag das Buch zwar eines sein, wie seine Benennung eine ist, zugleich aber so viel Zäsuren umfassen, wie die Buchgeschichte kennt. Buchgeschichte, das ist die Geschichte einer Ablösung. In ihr lernt das Buch selbständiges Gehen unter Verzicht auf substantiellen Zusammenhang mit seiner Etymologie. So schließt die Epoche des Codex, die den Rotulus ablöst, indem sie ihn ausschließt, diesen nominell ein; es gibt die Exsultet-Rolle, den Fleckenrodel, die Adels‑ und Urkundenrolle, wenn auch in längst kodifizierter Form. So auch die Epoche des Buchdrucks. Ist der Druck „nur ein Zusatz zur Kunst des Schreibens, in der Art, wie es das Auto zum Pferd war“,63 dann bedarf er der Schrift nur noch wie das Auto der Pferdestärken. Ablösung ist stets doppeldeutig, umfasst ein Vor und Zurück und macht Worte doppelsinnig. Genauer, sie kräftigt die Worte, indem sie ihre Elasitizität steigert. Nur als elastische bieten sie rekurrenten Anschluss. Wenn Johannes Trithemius zu Beginn des Zeitalters der Druckschrift zugunsten von Handschrift argumentiert: „Scriptura autem maioris industriae est“ (Die Handschrift benötigt größeren Fleiß),64 dann kippt aus heutiger Sicht die Vokabel industria sogleich und wird unter rekurrentem Wortanschluss zu Industrie im Sinn der modernen Produktionsweise, die nach Elizabeth Eisensteins These durch den Buchdruck entstanden sein soll.65 Sie verkehrt die Wahrheit der Aussage von Trithemius ins Gegenteil, bei identischem Wort. Darf man in derselben Logik rekurrenten Anschließens fortfahren: So auch das e-book? Dann muss selbst der Übergang von der McLuhan, Die magischen Kanäle 1968, 171. Trithemius, ebd., cap. 7, fol. 10v. 65 Eisenstein, The printing press 1979. 63 64
1. Was ist ein Buch?
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Buch‑ zur Informationsgesellschaft, erstere gebunden an Buch‑ und Texthermeneutik, letztere endlich so frei geworden, dass sie in den symbolischen Reproduktionsprozess der Gesellschaft ohne Bedarf an Hermeneutik einzugreifen in der Lage und willens ist, sich der Rekurrenz bedienen, und sei sie noch so schwach und bloß nominell: e-book als Buch nach Ende des Buches. Aber einerlei ob Print oder Electronics, einerlei auch ob Ende des Buches: es gibt die Medien und ihr Markt behauptet sich. – Dagegen wirkt das Buch als starke Metapher, wenn ihm so große Durchschlagskraft zugebilligt wird, dass selbst Lebensbereiche, die evidentermaßen nicht als Buch verfasst sind, begehren, Buch zu sein, um an dessen maßgebender Verfasstheit teilzuhaben. Das geschieht, wenn das Buch sich seiner Ablösungsgeschichte gegenüber widersetzlich erweist und seine Einheit nicht der Vielfalt preisgeben will. In diesem Fall wird man die Einmaligkeit des Buches betonen, die sich allenfalls selbst vervielfältigt, nicht aber der Vervielfältigung ausgesetzt ist. So hat das Buch aus einer Position der Stärke starke Metaphern hinterlassen: das Buch der Natur, das Buch der Geschichte und das Buch des Lebens. Stark sind sie deshalb, weil sie zwar vielfältig sind, aber jede einzelne Einheit für sich beansprucht. Es gibt nur eine Natur, eine Geschichte, ein Leben. Anders als bei den schwachen Buchmetaphern verbindet sich mit den starken das Versprechen, sie vermöchten für den Fall des Ausfalls des Buches – „etsi scriptura non daretur“66 – eine Marke hinterlassen zur Erinnerung an das Buch. Ist auch mit der Restitution des Buches nicht zu rechnen, so zeigen doch die in Erinnerung gebliebenen starken Buchmetaphern, was das Buch nach Ende des Buches ist. Weshalb dem Buch im eigentlichen drei Bücher im metaphorischen Sinn folgen, weshalb gerade in dieser Ordnung und weshalb sie auf die älteste Buchmetapher, das Buch des Lebens hinauslaufen: darüber sind vorläufig nur Vermutungen zu äußern. Die Absicht ist die, die metaphorischen Spuren, die das Buch hinterlassen hat, so anzuordnen, dass sie als Gedächtnisorte des verschwundenen Buches dienen können. Aber als Spuren im Sand sind sie selbst vom Verschwinden bedroht. Es ist nicht auszuschließen, dass am Ende keines der metaphorischen Bücher seiner Gedächtnisfunktion gerecht wird, vielleicht mehr oder weniger, definitiv aber nie. Der Gang durch die prominenten Buchmetaphern findet im tentativen Modus statt. Obwohl die Vorstellungswelten, die durch die Buchmetaphern erweckt werden, groß, weit und unerschöpflich sind, könnte ihr Gehalt vergleichsweise gering ausfallen. Dass Buchmetaphern ihre Kraft beziehen aus der Kräftigkeit des wirklichen Buches: diese Richtung des Plausibilitätstransfers leuchtet ein. Wir dagegen befinden uns in der Situation umgekehrten Transfers, die uns zwingt, wegen Ausbleibens des Buches aus den übriggebliebenen Spuren Plausibilität dafür zu beziehen, was es wohl 66
S. Anm. 5 f.
326
§ 7 Buch und Leben
gewesen sein müsse, wenn aber muss, dann wohl auch ist oder mehr und mehr sein wird. Hier von Kräftigkeit zu sprechen, verbietet sich. Die anzustellende Überlegung ist eine solche der Schwäche, die sich glücklich fühlen darf, wenn sie nicht in nichts ausgeht. Vermutlich hat in diesem Sinn das Buch der Geschichte einen längeren Atem als das Buch der Natur, und das Buch des Lebens wiederum einen längeren als das Buch der Geschichte. Während das Buch der Natur mit dem grandiosen Versprechen beginnt: Natur, das ist geradezu alles; Buch der Natur, das ist alles verfasst in ein Buch. Das Versprechen ist zu groß. Wir beginnen mit dem Buch der Natur, weil, wenn es gelingen würde, das Buch der Natur aufzuschlagen und darin zu lesen, auch die Fragen des Buchs der Geschichte und des Lebens beantwortet sein würden. Wir enden mit dem Buch des Lebens, weil dieses das konzentrierteste Reduit des Versprechens ist, das mit dem Buch der Natur und dem Buch der Geschichte gegeben war. Wenigstens soviel lässt sich erwarten, dass durch vergleichende Studien zu den drei Büchern, ihrem Zusammenhang und ihren Unterschieden, ein Fingerspitzengefühl für das Mehr oder Weniger an Plausibilität entstehen wird.
2. Das Buch der Natur Davon, dass dem Buch der Natur Eindeutigkeit und fester Umriss zukommt, kann keine Rede sein. Nicht nur, dass der liber naturae ununterschieden vom liber mundi und liber creaturarum auftritt, sondern auch die Unterscheidung vom Buch der Geschichte und des Lebens ist notorisch schwach. Das Buch der Natur will alles und jedes sein. Das schlägt sich darin nieder, dass die Buchmetapher gegenüber Aussagen von der Schriftförmigkeit der Natur kein klares Profil zeigt. Und ebenso bewegt man sich im Bereich des Buchs der Natur, wenn man der Natur Sprachfähigkeit zuschreibt: natura loquitur. Es entsteht ein Dickicht ineinander verschlungener Vorstellungen. Ein Mal legen wir den Schwerpunkt auf das Buch der Natur, das andere Mal auf die Sprache der Natur. Und einmal erscheint beides fast als dasselbe. Es gibt offenbar Bedingungen, unter denen uns dieses Syndrom aus Natur, Welt, Schöpfung einerseits, Buch und Sprache andererseits näher erscheint, greifbarer, einleuchtender, dann solche, unter denen es unwahrscheinlicher wird, unvorstellbarer, fremder. Und es scheint, als habe das Buch der Natur samt anverwandten Themen seine Zeit gehabt, sodass Bedingungen des Aufkommens des Buchs der Natur von solchen des Niedergangs zu unterscheiden sind. Daraus ergibt sich ein grober Prospekt dessen, was vor uns steht. Nicht nur das Buch, sondern auch das Buch der Natur gliedert sich in Anfang und Ende. Es gibt eine Epoche, in der das Buch der Natur erblüht, und eine solche, in der es vergeht. Aber wie soll es zur Spur des Buches werden, wenn es selbst vergeht?
2. Das Buch der Natur
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a. Die Anfänge des Buchs der Natur Die Anfänge von Buch und Sprache der Natur liegen im Mönchtum, genauer im Anachoreten‑ und Eremitentum. Diese These schwankt zwischen singulärem und paradigmatischem Sinn. Singulär dann, wenn sie historisch einmaligen Sinn annimmt. Dazu bemerkt Jacob Burckhardt: „Die Geschichte, welche sonst die Ursprünge großer Dinge gern verhüllt, überliefert ziemlich genau die Art und Weise, wie das Einsiedlerwesen und aus demselben das Mönchswesen entstand.“67 Das ist richtig; die Idiorhythmie ging dem Koinobitentum voraus, und sie ist es, die singuläre Vorstellungen vom Buch der Natur hervorbringt und dem Mönchtum mitteilt. Aber auch umgekehrt. Das anachoretische Leben entsteht mit einer gewissen Konsequenz aus dem koinobitischen und besteht neben ihm, wie Burckhardt ebenfalls festhält: „Allein daneben dauerte das ächte Anachoretenthum fort, und diesem müssen wir, der damaligen Welt gegenüber, eine hohe Berechtigung zugestehen.“68 Dies ist der paradigmatische Sinn der These. Sie beschreibt nicht nur einen historisch einmaligen Vorgang, sondern einen solchen, der eintritt, wenn nicht allein Anachorese übergeht in Mönchtum, sondern aus dem gemeinschaftlichen Mönchtum wiederum das Bedürfnis der Anachorese entsteht. Diese Umkehrung wird durch die Regula Benedicti zum Regelfall erhoben. Was zuerst das Anachoretentum als Ursprung des Mönchtums anlangt, so ist an die Weisheit des Eremiten Antonius zu erinnern, die nach dem Urteil der Vita Antonii die Weisheit heidnischer Philosophen übertrifft.69 Seiner Gestalt in einer Lesetheologie Erwähnung zu tun, erstaunt, weil Antonius, wie die Vita berichtet, der Buchstaben unkundig war.70 Statt sie zu lernen, folgte er mit Aufmerksamkeit der liturgischen Lesung der heiligen Texte und suchte sie im Gedächtnis zu halten. Als Antipode der Lesetheologie hielt er sich allein auf deren rechter, durch Laut, Sprache, Rede, Liturgie, Leben, Psalter gebildeten Reihe auf, ohne jedoch die linke Reihe für andere zu negieren. Dass Antonius als ἀγράμματος71 bekannt ist, heißt nicht, er sei Analphabet gewesen; er war nur ohne Kenntnis philosophischer Literatur. Unfähig, sich über das Koptische hinaus zu verständigen, bedurfte er zum Disput mit griechischen Philosophen des Dolmetschers.72 Und ungebildet im Buchwissen, musste er sich durch einen Sophismus aus der Klemme ziehen. Τί πρῶτόν ἐστιν, νοῦς ἢ γράμματα; (Was ist das erste, Geist oder Buchstaben?), fragt er die Philosophen. Καὶ τί τίνος αἴτιον […]; (Und was ist Ursache wovon?) Natürlich ist der Geist Erfinder der Buchstaben und der literarischen Bildung. Wir erinnern uns, dass die Lesetheologie Die Zeit Constantin’s des Großen 21880, 383. ebd. 394. 69 Athanasius von Alexandrien, Vita Antonii, c. 72–80, SC 400, 320–340. 70 Athanasius, ebd. c. 1,2–3, SC 400, 130; c. 72,1, 320; c. 73,1, 322. 71 Athanasius, ebd. Anm. 1 zu c. 73,1, 323. 72 Athanasius, ebd. c. 72,3, 320. 67 Burckhardt, 68 Burckhardt,
328
§ 7 Buch und Leben
aus der Problematisierung ebendieser Antwort hervorging.73 Hier dagegen werden Philosophen gezwungen, die Weisheit des Eremiten zu bestaunen und den Charme seiner Weisheitsrede – ἠρτυμένον τῷ θείῳ ἅλατι (gewürzt mit einem Gran göttlichen Salzes Kolosser 4,6) – anzuerkennen. Soweit nimmt das Buch der Natur seinen Ausgang beim ἰδιώτης, dem illiteraten Laien.74 Dieser Passus der Vita Antonii bildet den Hintergrund für das Apophthegma des Antonius, das Evagrius Ponticus im Logos praktikos überliefert. Von einem Philosophen gefragt, wie er es aushalten könne in der Wüste ohne Zuspruch aus Büchern, antwortet Antonius: τὸ ἐμὸν βιβλίον, ϕιλόσοϕε, ἡ ϕύσις τῶν γεγονότων ἐστί, καὶ πάρεστιν ὅτε βούλομαι τοὺς λόγους ἀναγινώσκειν τοὺς τοῦ Θεοῦ.
Mein Buch, o Philosoph, ist die Natur des Seienden, und sie ist zur Stelle, sobald ich die Worte lesen will, die von Gott sind.75
Dass die spätere Tradition des Buchs der Natur von diesem Apophthegma ausgegangen ist, kann man nicht behaupten.76 Die Bezugnahmen sind spärlich.77 Und der mittelalterliche Kontext unterscheidet sich vom patristischen. Dort steht das Buch der Natur im Verhältnis zum Buch der Schrift; hier steht es als göttliches Buch,78 in dem Antonius liest, im Missverhältnis zu menschlichen Büchern, im Gegensatz zur paganen Philosophie. Der metaphorische Transport verläuft von den vielen Büchern zum einen Buch. Als Opposition zu den menschlichen Büchern hätte man die göttlichen erwartet, genannt τὰ βιβλία (die Bibel), jedoch von diesen ist keine Rede. Ist aber vom Buch der Natur die Rede, ohne dass vom Buch der Schrift nur ein Ton laut wird, scheint das Buch der Natur an der Stelle zu stehen, die sonst das erstrangige Buch Gottes einnimmt. In der Tat, für Antonius ist das Buch der Natur Gottes einziges Buch. Deshalb passt der Antonius-Spruch nicht in den Mainstream.79 Was das Anachoretentum als ein solches betrifft, das aus dem Mönchtum allererst (wieder)ersteht, bietet die Regula Benedicti, auch ohne dass sie den liber naturae eigens erwähnt, die Plattform aller weiteren Entwicklung. Sie betrachtet die Anachorese nicht als Voraussetzung, sondern als Folge des Lebens 73 § 2.3.b.
74 Athanasius,
ebd. c. 73,1–4, 322–324. Evagrius Ponticus, Logos praktikos 92, SC 171, 694. 76 Johannes Chrysostomus’ gleichzeitige Buchmetapher: Ohly, Neue Zeugen des ‚Buchs der Natur‘ 1994, 548–550. 77 Im Osten: Sokrates, Historia ecclesiastica IV 23, PG 67, 516C; im Westen: De vitis patrum VI: Verba seniorum IV 16, PL 73, 1018BC; später Picinelli/Erath, Mundus symbolicus, s. Anm. 144; Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt 1981, 58 Anm. 47. 78 Evagrius Ponticus, In ps. 138,16, PG 12, 1661CD: das Körperliche und Unkörperliche ist τὸ βιβλίον Θεοῦ. 79 Die Opposition zwischen Literat und Illiterat (ἰδιώτης) findet sich auch bei Augustin, En. in ps. 45,7, CChr.SL 38, 522: Liber tibi sit pagina diuina, ut haec audias; liber tibi sit orbis terrarum, ut haec uideas. In istis codicibus non ea legunt, nisi qui litteras nouerunt; in toto mundo legat et idiota. 75
2. Das Buch der Natur
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in klösterlicher Gemeinschaft. Ist diese die Schule, so jene die hohe Schule des an beiden Orten auszufechtenden mönchischen Lebens. Es ist ein Unterschied, ob der Kampf in monasterio oder in eremo, gemeinsam mit anderen oder einzeln geführt wird, dort unter dem Zuspruch vieler (multorum solacio), hier unter niemandes Zuspruch (sine consolatione alterius).80 Zum solacium, womit die παραμυθία des Antonius aufgenommen wird,81 gehört nicht nur die Anwesenheit anderer nach bestimmter Ordnung und Regel, sondern auch die Ordnung des Umgangs mit scriptura und anderen codices, die öffentlich in liturgischer Lesung82 oder privat in stiller Lektüre83 wieder und wieder memoriert werden und die Vergesellschaftung aller Beteiligten prägen. Wer jetzt aus der Gemeinschaft heraustritt, ist durch die regula magistra84 schriftlich und mündlich belehrt, selbst wenn er sich einer Situation ausgesetzt sieht, die nicht durch Regel (nulla regula), sondern durch Erfahrung (experientia magistra) strukturiert ist.85 An die Stelle des Lesens im Text des Buches, sei es der Schrift, der Schriften oder der Regel tritt Lesen im Text der Welt – aber nicht explizit. Weder zur Schrift noch zur Buchförmigkeit der Natur oder Welt verliert die Benediktsregel ein Wort. Dass die Regel außer semantischem Lesen, das sich auf Heilige Schrift, Psalter, Kommentare,86 Regeln,87 Auslegungen von Regeln88 und Hagiographie89 bezieht, auch das mantische Lesen fordert, geht nur daraus hervor, dass ebenderselben Regel zufolge Nicht-Lesen in keinem Moment und an keinem Ort denkbar ist. Darin sind die Mönchsregeln einig: Alle sollen lesen, alle sollen Lesen lernen und sollen, wenn sie in Gemeinschaft für sich lesen, nicht nicht lesen. Ist, wer nicht liest – um das Unmögliche zu denken –, ein neglegens,90 ein frater acediosus91 oder desidiosus,92 kann er, selbst wenn er aus der Text‑ und Lesegemeinschaft heraustreten sollte, nicht nicht lesen, nicht etwa aus manischem Lesezwang, sondern wegen eines selbst und gerade im semantischen Lesen sich meldenden mantischen Lesens,93 das nach Wegfall der Welt der Bücher sich als Buch der Welt bewährt. Das ist die Leseordnung, die in der Regula Benedicti durch das Schema der vier Mönchsarten etabliert wird, von denen die ersten 80
RB 1, 5. Evagrius Ponticus, Log. prakt. 92; Sokrates, Hist. eccl. IV 23, PG 67, 516C/518AB: ἡ ἐκ τῶν βιβλίων παραμυθία/librorum solatium. 82 RB 9, 5.8; 10, 2.3. 83 RB 48, 15. 84 RB 3, 7. 85 RB 1, 6. 86 RB 9, 8. 87 RB 58, 9.12; 66, 8; 73, 5. 88 RB 42, 3.5; 73, 5. 89 RB 42, 3; 73, 5. 90 RB 48, 23; 73, 7. 91 RB 48, 18. 92 RB 48, 23; 73,7; cf. prol. 2. 93 Platon, Phaidr. 244c. 81
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§ 7 Buch und Leben
beiden nur deshalb im Stand des Lesens verbleiben, weil das zweite Genus, das anachoretische, um den Preis am Lesen bleibt, dass die Lesemetapher zugelassen wird, die zum Zweck der Literalität auszuschließen gewesen wäre. Keinesfalls soll der Regula Benedicti zugeschrieben werden, sie habe den liber naturae, mundi oder orbis terrarum hervorgebracht, aber sie hat für ihn die Prädisposition geschaffen. Nun hat sich im Vergleich zum Spruch des Antonius der Rahmen gründlich geändert. Während dort das Buch der Natur mit der Auszeichnung des Illiteraten vor dem Literaten direkt an die Stelle der menschlichen Bücher und selbst des göttlichen Buches tritt, geht es hier um Auszeichnung eines Literaten innerhalb von Literaten. Zum Leser im Buch der Natur wird man nicht an sich, sondern durch einen Exzess beim und vom Lesen in den Büchern der Schrift und vor allem in dem Buch der Schrift. Ohne Schule im Lesen der Schrift keine hohe Schule im Lesen in der Erfahrung oder im Buch der Natur.
Der liber naturae Beim Buch der Natur, der Welt, der Schöpfung war von Anfängen schon deshalb zu reden, weil beide, Antonius im Osten und Benedikt im Westen, es verschieden und unter entgegengesetzten Vorzeichen platzierten. Dass terminologisch vom liber naturae gesprochen würde oder in argumentativer Form, erwarten wir vergeblich. Gesucht ist eine gewisse Regelmäßigkeit, in der mit dem Buch der Natur zu rechnen ist. Hier gilt: Der liber naturae konsolidiert sich nur zusammen mit der Verstetigung des allegorischen Schriftsinns. Zwar reicht die allegorische Praxis weit zurück, ohne dass ihr die Vorstellung vom Buch der Natur zur Seite getreten wäre. Poesien wie die des Alanus de Insulis, der die Gesamtheit der Schöpfung als liber bezeichnet, die zur lectio ansteht, sie aber zugleich und unterschiedlos auch pictura, speculum, signaculum nennen kann,94 ändern daran nichts. Zu einer gewissen Regelmäßigkeit der Spiegelung von liber scripturae auf der einen und liber naturae auf der andern Seite kommt es, wenn im Zuge dessen, was in § 1 Theologie des Lesens vorgetragen war, die ältere monastische Theologie mit den Anfängen der scholastischen Theologie zusammentrifft. Während die monastische Elemente des Nichtnicht-lesen-Könnens und des Exzesses des geistlichen Sinns über alle weltliche Bindung hinaus mit sich bringt, sucht die scholastische die zwei Arten des Lesens, semantisches und mantisches, in einem einzigen, durchgehenden Duktus der Lesekunst zusammenzuführen. Sie tut dies, indem sie das Aufeinandertreffen des Buchs der Schrift mit der Welt lesemetaphorisch abfedert und abmildert durch die Metapher des Buchs der Welt, der Schöpfung, der Natur, sodass nicht Lesen auf Nicht-Lesen, nicht Buch auf Nicht-Buch stößt, sondern dasselbe nochmal begegnet, nur anders. Zum wiederholten Male ist 94 Alanus de Insulis, Rhythmus de rosa, PL 210, 579A. Vf., Melancholie und Metapher 1990, 72 Anm. 231.
2. Das Buch der Natur
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Bezug zu nehmen auf Hugo von St. Viktor, den ersten Lesetheologen, gefolgt von Richard von St. Viktor; bei beiden stellt sich die Metapher vom Buch der Natur mit einer gewissen Regelmäßigkeit ein. Friedrich Ohly hat die Fäden dieser Komplexion in der Antrittsvorlesung Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter in zwei Grundsätzen entwirrt. – Der erste ist der von der Differenz zwischen weltlicher und geistlicher Literatur. Während alle profane Schrift nur den buchstäblichen Sinn kennt, enthält die heilige Schrift außer dem literalen auch einen spiritualen Sinn. Wie Augustin vorgezeichnet hat: Während allgemein gilt, dass Zeichen bedeuten, und ebenso, dass alle Zeichen Dinge sind, kann nicht allgemein behauptet werden, dass alle Dinge Zeichen seien. Zwischen Zeichen und Dingen herrscht Asymmetrie: „omne signum etiam res aliqua est; […] non autem omnis res etiam signum est.“95 Symmetrisch spiegelnd wird diese Asymmetrie nur im Ausnahmefall der Heiligen Schrift. Hier gilt, was Hugo von St. Viktor ausspricht, „quod in divino eloquio non tantum verba, sed etiam res significare habent, qui modus non adeo in aliis scripturis inveniri solet.“96 Und Richard von St. Viktor wiederholt den ersten Grundsatz von der Vorzüglichkeit der Heiligen Schrift: „et in hoc valde excellentior est divina Scriptura scientia saeculi, quod in ea non solum voces sed et res significativae sunt.“97 Während der Philosoph sich als Leser mit Wortbedeutungen (vocum significatio) begnügen muss, die durch Konvention zustandekommen, dringt der theologische Leser zur Dingbedeutung (rerum significatio) vor, die die Wortbedeutung übertrifft, weil sie von der Natur selbst diktiert ist. Durch Wortbedeutungen spricht der Mensch zum Menschen, aber in der Dingbedeutung spricht Gott zum Menschen.98 Keine Dingbedeutung ohne Allegorie. Und ebenso: Ohne Andersrede keine Gottesrede. Andersrede ist ein umstrittenes Gebiet; sie ist nicht auf die Heilige Schrift beschränkt. Sie kann poetische Hervorbringung sein wie in der profanen, am klassischen Altertum orientierten Literatur. Sie kann aber auch anderen als menschlichen Ursprungs sein, und diesen prekären Unterschied beschreibt Ohly: Geht es bei der poetischen Technik der Allegorese um willkürliche dichterische Veranschaulichung einer Idee durch Personifizierung oder Verdinglichung, so innerhalb der christlichen Wortauslegung umgekehrt um die Enthüllung des bei der Schöpfung in der Kreatur versiegelten Sinns der Sprache Gottes, […] die aus der stummen Welt der Dinge die Sprache göttlicher Verkündigung vernimmt.99 –
95
Augustin, De doctr. christ. I 2,2, CChr.SL 32, 7; cf. II 10,15, CChr.SL 32, 41. Hugo v. St. Viktor, Didasc. V 3, FChr 27, 322. 97 Richard v. St. Viktor, Excerptiones allegoricae II 3, Op. omn. 1, 493BC/PL 177, 205B. 98 Hugo v. St. Viktor, Didasc. V 3, FChr 27, 322: Philosophus solam vocum novit significationem, sed excellentior valde est rerum significatio quam vocum, quia hanc usus instituit, illam natura dictavit. Haec hominum vox est, illa vox Dei ad homines. 99 Ohly, Vom geistigen Sinn, 13. 96
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§ 7 Buch und Leben
Der zweite Grundsatz geht davon aus: Die Wortbedeutung ist einfach, um nicht zu sagen einfältig, die Dingbedeutung vielfältig und – wie die biblische Sprache von der Frucht sagt – vielfach, mindestens aber vierfach. Der vierfache Schriftsinn ist nichts als maßvolle Regulierung des an sich vielfachen Dingsinns. „Das Ding hat so viele Bedeutungen, wieviel Eigenschaften es hat.“100 An dieser Stelle erhebt sich eine nicht geringe Konkurrenz von geistlichem und weltlichem Wissen. Die Eigenschaften des Dinges werden sowohl durch das Quadrivium als auch durch die Heilige Schrift bestimmt. Selbst wenn man einschränken und die Dingbedeutung ausschließlich durch die in der Heiligen Schrift nachweisbaren Eigenschaften eines Dinges bestimmt haben will, konkurriert das alltägliche und fachliche Wissen. Ein Amalgam tut sich auf, das auf der einen Seite nach Sonderung ruft, auf der anderen gerade in seiner Mischung nicht ohne Reiz ist. Selbst wenn man Ohlys Exposition des allegorischen Schriftsinns folgt, die ihr Zentrum in der platonisch-symbolistischen Welt der Viktoriner hat, stößt man nicht zwingend auf die Idee des Buches der Welt oder der Natur. Und doch ist es derselbe Hugo von St. Viktor, der zwar nicht im Didascalicon, aber in affinen Texten davon spricht. Man erkennt die Merkmale wieder, die bereits den allegorischen Schriftsinn als Gottes eigene Sprache und Schrift auszeichneten. Die Vorstellung vom Buch der Welt entsteht ausschließlich durch Allegorie. Universus enim mundus iste sensibilis quasi quidam liber est scriptus digito Dei, hoc est virtute divina creatus, et singulae creaturae quasi figurae quaedam sunt non humano placito inventae, sed divino arbitrio institutae ad manifestandam invisibilium Dei sapientiam. Quemadmodum autem si illiteratus quis apertum librum videat, figuras aspicit, litteras non cognoscit: ita stultus et animalis homo, qui non percipit ea quae Dei sunt (I Cor. ii), in visibilibus istis creaturis foris videt speciem, sed intus non intelligit rationem. Qui autem spiritualis est, et omnia dijudicare potest, in eo quidem quod foris considerat pulchritudinem operis, intus concipit quam miranda sit sapientia Creatoris.101
Eine selbständige Erkenntnisquelle bietet das Buch der Welt nicht. Es befindet sich in bleibender Abhängigkeit nicht nur vom Buch der Schrift, sondern auch davon, dass es nicht von einem illiteratus betrachtet wird, der nicht Lettern und Figuren zu unterscheiden weiß. Das macht klar, dass das Buch der Welt nie an die Stelle der Biblia pauperum treten kann, die des Lesens Unkundige durch Bilder unterrichtet. Vielmehr stellt es ein Lesepensum dar, das einzig dem Leser der Schrift aufgeht. Lesen im Buch der Welt ist Folge des Lesens im Buch der Schrift, nicht umgekehrt. Dass durch das Buch der Welt der Rückfall in den Romantizismus des Nicht-lesen-Könnens propagiert werden solle, wovon das Antonius-Apophthegma nicht frei ist, ist ausgeschlossen. Auch bei Hugo von St. Viktor herrscht die Leseordnung, die Benedikt von Nursia 100 101
Ohly, ebd. 6, cf. 9. Hugo v. St. Viktor, Eruditio didascalica VII 4, PL 176, 814B.
2. Das Buch der Natur
333
grundgelegt hat. Wie hier die Reihenfolge vom ersten zum zweitem genus monachorum verläuft, so dort die Reihenfolge vom ersten zum zweiten Lesepensum: zuerst das Buch der Schrift, dann das der Natur. Dem widerspricht nicht, dass das erste in der Leseordnung zum zweiten in der Sachordnung wird, wie es der Fall ist, wenn Hugo von St. Viktor das weisheitliche Buch der Welt als prima, das Buch der Schrift als secunda scriptura bezeichnet.102 Die zweite Schrift erhellt die erste, nicht umgekehrt.103 Zwei Modelle des Leseprozesses stoßen aufeinander, das eine ausgehend von Antonius, das andere von Benedikt, das eine antiliterarisch als Bruch im Leseprozess, das andere konsequent literarisch, als Leseprozess durch und durch. Unvereinbar wie sie sind, treffen sich beide in widerstreitenden Interpretationen von Psalm 70,15 (Vg) „non cognovi litteraturam.“ Und sie treffen sich im Verständnis von ein und demselben Text, Hugos Didascalicon. Eine Inkongruenz wird sichtbar. Ausgerechnet in dem Werk, das für die Lesetheologie paradigmatisch ist, will Hugo sich die Aussage des Psalms in einem gegen Lesen gerichteten Sinn zueigen machen.104 Der Herausgeber Thilo Offergeld zögert nicht, seine generellen Beobachtungen von Ambivalenzen und Diskrepanzen zwischen erstem und zweitem Teil, zwischen literal-profanem und metaphorisch-spirituellem Lesen dahin zu vertiefen, dass er der „Unvereinbarkeit der beiden Ansätze“ das letzte Wort gibt.105 Dagegen steht, dass Hugo von St. Viktor stets als ein in beiderlei Literatur hervorragender Autor rezipiert wurde.106 Will man gegen den Bruch die lesetheologische Konsequenz vom ersten zum zweiten Lesen stark machen, dann muss die Aussage des Psalms als Konsequenz des Lesens und nicht als dessen Preisgabe begriffen werden. Wie docta ignorantia nichts mit Nicht-Wissen zu tun hat, sondern mit Wissen des Nicht-Wissens, so hat non [cog]novi litteraturam nichts mit Nicht-Lesen zu tun, sondern mit Lesen des Nicht-Lesens. Und wie jene kein Zustand außerhalb des Wissens ist, so ist auch diese kein Nicht-Lesen außerhalb des Lesens. Ohne die extensive und intensive Rezeption Hugos durch den Franziskaner Bonaventura wären dessen Andeutungen zum Buch der Natur womöglich genauso unbeachtet geblieben wie bei den Dominikanern. Bonaventura bringt sie zum Erblühen, gar zum Überblühen. So im Breviloquium, in dem zwar die Formel Hugos nahezu wörtlich zitiert wird: „creatura mundi est quasi quidam 102
Hugo v. St. Viktor, De sacramentis fidei I 6,5, PL 176, 266D–267A. Hugo v. St. Viktor, De arca Noe morali II 12 De tribus libris, PL 176, 643D–644A: Primus [liber] est quem fecit homo de aliquo, secundus, quem creavit Deus de nihilo; tertius quem Deus genuit de se Deo […], sapientia aeterna: Et hic est liber vitae. 104 Hugo v. St. Viktor, Didasc. V 7, FChr 27, 342: non novi litteraturam. 105 Offergeld, Einleitung, ebd. 72. 106 So eine Laudatio des 12. Jh.; Offergeld, ebd. 37 Anm. 58: vir […] in utraque litteratura adprime desertus. Zur Herkunft des Modells der beiderlei Literatur: Cassiodor, Institutiones divinarum et saecularium litterarum. 103
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§ 7 Buch und Leben
liber“,107 aber es ist nicht die Welt, die gelesen wird, sondern die Spur der hohen göttlichen Trinität. Hinzu kommt, dass die Rede vom zweifachen Buch sich auf verschiedene Sachverhalte beziehen kann. Einerseits bilden die aeterna Dei ars et sapientia und ihre Erscheinung in der kreatürlichen Welt einen duplex liber, beschrieben sowohl innen wie außen,108 andererseits, dann aber zur geschöpflichen Welt gehörig, ist das Buch zweifach als liber creaturae und liber scripturae, jener principium effectivum, dieser principium reparativum.109 Hier bewahrheitet sich, was Bonaventura eingangs gesagt hat: Der liber creaturae ist, obgleich dazu da, den Menschen in die ewige Heimat zu führen, nicht lesbar für sich, sondern wird es erst, wenn ihn die sacra scriptura „annimmt“ (assumit), indem sie ihn durch den allegorischen Schriftsinn zur Kenntnis bringt.110 Kombiniert man beide Schemata vom doppelten Buch, so erstaunt nicht, dass eine alles umfassende Dreiheit von Büchern vorgestellt wird: Das ewige Buch der göttlichen Weisheit als erstes, vor aller Schöpfung und identisch mit dem liber vitae; danach die beiden kreatürlichen Bücher, der liber creaturae und liber scripturae.111 Die gleichbleibende Form schließt jedoch nicht aus, dass bei jeder neuen Entfaltung eine andere Applikation Gefallen findet. Der allegorische Sinn erweist sich als furchtbar fruchtbar.112 Wir könnten fortfahren und Einfälle zum Buch der Natur sammeln, bei Meister Eckhart,113 bei Nikolaus von Kues.114 Aber waren wir nicht ausgegangen von der Erwartung, nach Ende des Buches vermöge das Buch der Natur noch einmal eine Gedächtnisspur des abgegangenen Buches zu bieten? In der Tat: Das Buch der Natur nimmt reale Buchgestalt an. So bei Konrad von Megenberg, so bei Raimundus Sabundus. Dass das metaphorische Buch rücküberführt wird in ein wirkliches, bleibt nicht ohne Rückwirkung auf die Allegorie, die bei Hugo von St. Viktor und Bonaventura die Idee des Buchs der Natur entstehen ließ. Das remetaphorisierte Buch neigt dazu, die Allegorie beiseite zu setzen. – Von Konrad von Megenbergs Buch der Natur ist sogleich einschränkend zu bemerken, dass es sich um „kein Buch der Natur“ handelt, sondern um ein „Puoch von den natürlichen ding“ oder „von der eigenchait der ding“, kein liber natu-
107
Bonaventura, Breviloquium II 12, Op. omn. 5, 230a. Bonaventura, ebd. II 11, Op. omn. 5, 229a. 109 Bonaventura, ebd. II 5, Op. omn. 5, 222b. 110 Bonaventura, ebd. prooem. § 4, Op. omn. 5, 206b. 111 Bonaventura, De mysterio trinitatis q 1 a 2 c, Op. omn. 5, 54b: triplex testimonium […:] liber creaturae, liber Scripturae et liber vitae. 55b: providit divina Sapientia aeternum testimonium, quod quidem est liber vitae. 112 Bonaventura, Collationes in hexaemeron XII 14–17, Op. omn. 5, 386b–387b; XIII 12, Op. omn. 5, 390a: metaphorae rerum. 113 Meister Eckhart, Pr. 9, DW 1, 156,9/WW 1, 114,19. 114 Cusanus, De fil. Dei II, h 4 nr. 57,8; De gen. IV, h 4 nr. 171,6; De sap. I, h 5 nr. 4,7; De ber., h 11/1 nr. 66,3 u. ö. 108
2. Das Buch der Natur
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rae, sondern liber de natura rerum.115 Nun kommt Ohlys zweiter Grundsatz von seiner zwischen geistlich und weltlich schillernden Seite zum Zuge. Wenn das Ding so viele Bedeutungen wie Eigenschaften hat, neigt das Buch der Natur dazu, dem weltlichen Naturwissen den Vorrang zu geben. Die herkömmliche Allegorie wird nicht aufgehoben, vielmehr dahingestellt.116 – Im selben Konflikt steht Raimundus Sabundus’ umfangreicher Liber naturae sive creaturarum,117 der auf der einen Seite den alten, von Hugo von St. Viktor und Bonaventura erhobenen Anspruch voll übernimmt, im Buch der Natur entscheide sich der allegorische Schriftsinn und damit das Zustandekommen von Theologie, auf der anderen Seite aber die anthropozentrische Orientierung, die bei Megenberg zu beobachten war, uneingeschränkt zum Zuge bringt. Sein Buch enthält die „Scientia libri creaturarum sive libri naturae“ am Leitfaden der „Scientia de homine, qua est propria homini, in quantum homo est.“118 Aus dem Buch der Natur soll alles, was einst der allegorische Schriftsinn aus der sacra scriptura zu Glaube, Liebe, Hoffnung erhoben hat, wiedererworben werden, leichter, unfehlbarer.119 Gewiss gilt: „duo sunt libri, nobis dati a Deo, scilicet liber universitatis creaturarum sive liber naturae; et alius est liber Scripturae sacrae.“120 Aber zwischen beiden hat sich eine Verschiebung zugetragen. Das Buch der Natur ist fortan nicht bloß erstes in der Sache, zweites in der Erkenntnis, sondern erstes schlechthin, und das Buch der Schrift schlechthin zweites. Erforderlich ist die Schrift nur wegen der Unfähigkeit, im ersteren zu lesen.121 Jenes steht allen offen, ist nicht zu fälschen, lässt keinen Spielraum zur Häresie; dieses bietet einen unsicheren, schwerverständlichen Text, nur Klerikern zumutbar.122 Daraus folgt nicht, dass das Buch der Schrift überflüssig wäre. Vielmehr erinnert es daran, dass Lesen im Buch der Natur nur demjenigen möglich ist, der von Gott erleuchtet ist und sich nicht im Stand der Erbsünde befindet.123 Dies vorausgesetzt, ist die Lektüre leichter, unfehlbarer, gewisser, demütiger, elementarer. Jede Kreatur, besonders der Mensch, ist ein Buchstabe darin: „quaelibet creatura non est nisi quaedam littera, digito Dei scripta,“124 und aus der Verbindung der Buchstaben entstehen Wörter, Sätze, am Ende ein ganzes Buch.125 Soweit 115 1. Fassung ca. 1350, 2. Fassung ca. 1360. Spyra, Das ‚Buch der Natur‘ 2005, 3 Anm. 1, 5, 36. 116 Spyra, ebd. 35. 117 Sabundus, Theologia naturalis 1964/66; verf. ca. 1435 als Liber naturae sive creaturarum, seit 1485 gedruckt als Theologia naturalis. Neuedition des seit 1584 indizierten Prologs: Stegmüller, ebd. 26*–39*. 118 Sabundus, ebd. prol. 26*. 119 Sabundus, ebd. prol. 27*. 120 Sabundus, ebd. prol. 35*. 121 Sabundus, ebd. prol. 35*–36*. 122 Sabundus, ebd. prol. 36*–37*. 123 Sabundus, ebd. prol. 38*. 124 Sabundus, ebd. prol. 35*. 125 Sabundus, ebd. prol. 36*.
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§ 7 Buch und Leben
der Prolog. Ob allerdings das ausgeführte Werk dem im Prolog Angekündigten entspricht, ist mehr als fraglich. Zwar wird daran festgehalten, dass das Buch der Natur dem der Schrift jederzeit vorangeht und erstes bleibt,126 aber zugleich steht dem Buch der Schrift in Fragen der Autorität und des Gehorsams das Übergewicht zu.127 Im Unterschied zum Prolog, der Ursprung und Fundament des Wissens ausschließlich im Buch der Natur sucht und das Buch der Schrift ohne Schaden zu ersetzen beansprucht, begnügt das ausgeführte Werk sich mit einem Verhältnis beider Bücher, das überschwenglich als summa concordia, summa convenientia gepriesen wird.128 Nimmt man den Prolog ernst, bedarf es allegorischer Weltauslegung nicht mehr. Die einzelnen Kreaturen sind nicht bedeutungstragende Dinge wie im Kontext der Allegorie, sondern Elemente von Dingen, litterae, die für sich und als solche zwar nicht bedeutungstragend, aber bedeutungsfähig sind.
Die Sprache der Natur Unter den Schriftmetaphern ist die des Buches nur eine. Hier stellt sich die Frage: Warum gerade Buch, warum nicht Buchstabe, Chiffre, Hieroglyphe oder Schrift schlechthin? Auch diese sind häufig dokumentiert. Darüber hinaus ist das Buch für die Äußerungen der Natur nur eine Metapher unter vielen; warum nicht Bild, Abbild, Abglanz, Spiegel, Angesicht, Kleid, Nachklang, Nachhall? Fokussiert auf das Buch der Natur, stoßen wir darauf, dass die Konzentration auf eine Metapher nicht von langer Dauer ist; eine ruft die andere, und je weiter man gelangt, desto mehr gleicht eine der anderen. So würde es auch der Sprache der Natur gehen, die wir dem Buch der Natur als Parergon nachschicken, wenn sie nicht über einen Punkt aufklären könnte, der auch dem Buch der Natur zugutekommt. Warum, fragen wir, soll überhaupt etwas anderes als der Mensch sprechen? Ist nicht am Tag, dass Sprachfähigkeit niemandem und nichts zukommt als dem Menschen? Wer an der Delimitierung der Sprache rüttelt, zieht alsbald einen ganzen Schweif irrisierender Sprachmetaphern nach sich, unter denen Sprache der Natur nur eine ist. Es gibt deren unendliche: die Sprache des Herzens, des Gefühls, des Angesichts, der Passionen und Affekte, aber auch die Sprache der Kunst, Töne und Musik, Bilder, Architektur, sodann die Sprache der Landschaft, der Steine, der Dinge. Am Ende taucht die Sprache des Schweigens auf – und die Sprache der Sprache. Das und unendlich vielmehr handelt man sich ein, wenn man bereit ist, von der strengen Begrenzung auf die Sprache der Menschen abzuweichen. Als ob man mit ihr nicht schon genug zu tun hätte, bringt sie doch die Vielheit der Sprachen der Nationen, Gesellschaften, Bereiche, Fächer, Disziplinen, Stile. 126
Sabundus, ebd. tit. 211. Sabundus, ebd. tit. 212. 128 Sabundus, ebd. tit. 211. 127
2. Das Buch der Natur
337
Nicht nur Sprachmetaphern, wenn man sie, wie fahrlässig oder unachtsam auch immer, zulässt, eröffnen eine ganze Fülle von Unendlichkeit, sondern allein der mit aller Aufmerksamkeit festgehaltene strenge, unmetaphorische Sinn von Sprache eröffnet die Unendlichkeit der Sprachsinne. Hier liegt der Punkt, um den es geht. Er ist Schnittpunkt zweier Unendlichkeiten, die je für sich und alleine nicht zur Klarheit gebracht werden können. Klarheit entsteht nur in dem Punkt, in dem sie sich schneiden. Die entscheidende Frage lautet: Was geschieht im Schnittpunkt von Sprachmetaphern und Sprache im eigentlichen Sinn? Warum treffen sie überhaupt aufeinander? Es ist leicht, der Sprachmetapher aufzuerlegen, dass sie sich durch Beziehung zur Sprache in eigentlichem Sinn präzisieren soll. Aber warum sollte es umgekehrt der Sprache in eigentlichem Sinn auferlegt werden, dass sie nur durch Relation zur Sprachmetapher zur Präzision gelangt? Ich spreche von einem präzisen Punkt, in dem beide Begriffe sich überschneiden, und vermeide dadurch, von einem prägnanten Punkt zu sprechen, was der Punktualität des Punktes entgegenstünde. Aber der präzise Punkt ist kein anderer als der prägnante. Nicht nur gibt es keine Präzision ohne Prägnanz (und umgekehrt), sondern der Punkt der Überschneidung von Sprache in eigentlichem und in metaphorischem Sinn ist dadurch einzigartig klar und deutlich, dass in ihm Präzision Prägnanz ist und Prägnanz Präzision: Präzision vonseiten der Eigentlichkeit, Prägnanz vonseiten der Metaphorizität, aspektiv verschieden, prospektiv dasselbe. Für diesen generellen Sachverhalt ist die Sprache der Natur nur das Paradigma, allerdings ein geeignetes. Jetzt, beim Buch der Natur, ist die Probe anzustellen, die sich nachher, beim Buch der Geschichte oder des Lebens nicht mehr so klar ergibt. Sprache der Geschichte ist eine Sprachmetapher von geringerer Spannung, weil Geschichte schlecht von anderer denn sprachlicher Natur sein kann. Und in der Sprache des Lebens kollabiert die metaphorische Spannung vollends, weil Sprache und Leben sich gegenseitig erläutern. Hingegen zeichnet sich die Sprache der Natur, die ja die Sprache der Steine und der Dinge mitumfasst, dadurch aus, dass sie die Spannung in die Höhe treibt. Sie sagt Sprachlichkeit von etwas aus, was manifest keinerlei Sprache hat. Darin kann man nicht weit genug gehen. Deshalb scheint die Sprache der Natur, obgleich nur eine aus dem unendlichen Schweif der Sprachmetaphern, nicht wenig geeignet, mit Sprache im eigentlichen Sinn zur Überschneidung gebracht zu werden, damit der Punkt in Erscheinung tritt, an dem Präzision und Prägnanz, das heißt: Schärfe und Unschärfe, Leere und Fülle koinzidieren. Natura loquitur,129 natura loquax130 waren bereits Stichworte des mittelalterlichen Symbolismus, aber nie gelangten sie zu markanterer Stellung als in der Moderne, die sie gegen ihre Unwahrscheinlichkeit, ja Unmöglichkeit be129 130
v. Bormann, Natura loquitur 1968. Harms/Reinitzer (Hg.), Natura loquax 1971.
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§ 7 Buch und Leben
hauptet. Dass die Natur nicht spricht, ist so klar, dass es keiner besonderen Erklärung bedarf; erklärt werden muss vielmehr, warum sie spricht, wenn sie nicht spricht. – Trotz manifester Unmöglichkeit verfehlt die Sprache der Natur nicht, ihre Spur in Kants Werk zu hinterlassen. Trotz „der allgemeinen Stille der Natur“ hört sie nicht auf, „eine unnennbare Sprache“ zu reden und spricht „unausgewickelte Begriffe, die sich wohl empfinden, aber nicht beschreiben lassen.“131 Auch in späteren Werken kehrt sie wieder, wobei schriftliche und mündliche Gestalt kaum voneinander zu trennen sind. Einerseits „gleichsam eine Sprache, die die Natur zu uns führt“, ist sie andererseits eine „Chiffreschrift“, jedoch, wie Kant ungesäumt anfügt, eine solche, „wodurch die Natur in ihren schönen Formen figürlich zu uns spricht.“132 Nicht nur nimmt die Sprache der Natur Züge einer bestimmten Art von Schrift an, sondern auch solche des Buches. Nicht nur in der Ästhetik, auch in der Moral bleibt die Idee des liber naturae ein ortloser Ort; zwar kann sie nicht doktrinal mit Anspruch auf Lehre auftreten, aber doch authentisch, das heißt mit dem unbedingten Anspruch moralischer Autorität. Dies ist der Fall, wenn die Natur, die „für uns oft ein verschlossenes Buch“ ist, als Schöpfung aber jederzeit das älteste, ihre Auslegung in einem anderen „alten heiligen Buche“ findet. Kant meint das Buch Hiob, das es, wenn „allegorisch“ verstanden, vermag, als „Stimme Gottes“ dem „Buchstaben seiner Schöpfung“ Sinn zu verleihen.133 – Kant kennt nicht nur die Sprache der Natur, sondern auch die Sprache der Kunst. Es gibt Künste, „die zu den Augen reden“;134 bildende Kunst macht Dinge „gleichsam mimisch sprechen“.135 Daran schließen Wilhelm Heinrich Wackenroders Herzensergießungen an. Sie geben den flüchtigen Randbemerkungen Kants in der frühromantischen Gestalt des Klosterbruders Stand und Wesen.136 Zwar will diesem auch die „Sprache der Worte“ als göttliche Schöpfungsgabe erscheinen, doch von ihr handelt er umso weniger, als nicht sie, sondern „zwey wunderbare Sprachen“ seine Begeisterung wecken, die nicht nur irdischen, sondern himmlischen Dingen zugewandt sind und ohne „die Hülfe der Worte“ zu sprechen vermögen. „Die eine dieser wundervollen Sprachen redet nur Gott; die andere reden nur wenige Auserwählte unter den Menschen, die er zu seinen Lieblingen gesalbt hat. Ich meyne: die Natur und die Kunst.“ Der Anschluss an die vorästhetische symbolische Tradition ist evident. Während die Natur als hinreichend deutliches „Erklärungsbuch“ für göttliche Dinge dient, erhebt die Kunst den Betrachter durch ihre „Hieroglyphenschrift“ vom Sinnlichen zum 131 Kant, Allgemeine
Naturgeschichte und Theorie des Himmels 1755, A 200, WW 1, 396. Kant, Kritik der Urteilskraft 1790/93, B 170, 172, WW 5, 398 f. 133 Kant, Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee 1791, A 212 f, WW 6, 116 (ohne die Sperrungen Kants). 134 Kant, KdU B 221, WW 5, 434. 135 Kant, ebd. B 211, WW 5, 426. 136 Wackenroder, SWB 1, 97–100: „Von zwey wunderbaren Sprachen, und deren geheimnißvoller Kraft“. Sörensen (Hg.), Allegorie und Symbol 1972, 136–139. 132
2. Das Buch der Natur
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Unsinnlichen. Allerdings verrät schon der Titel „Von zwey wunderbaren Sprachen, und deren geheimnißvoller Kraft“ eine gewisse Inkonzinnität. Ist nicht faktisch von drei Sprachen die Rede, von denen nur zwei „wunderbar“ sind? Wo bleibt die Sprache der Musik? Und warum gilt die Sprache der Worte zwar als „Wohlthat“ und Schöpfungsgabe und bleibt dennoch zurück hinter der Gnadengabe der wunderbaren Sprachen, die ebenso bei der Schöpfung gegeben, „vergönnt“ wurden? Wenn erst alle zusammen den vollen Sinn der lingua adamica erfüllen: ist dann der von Wackenroder geschilderte Zustand ein solcher post lapsum? Bei ihm ist eine doppelte Unterscheidung zu beachten. Es ist ein Unterschied zwischen der Sprache mit Worten und den Sprachen ohne Worte; nur diese sind „wunderbar“ und voll „geheimnißvoller Kraft“, jene dagegen leere Schälle, zwar herrschend, aber nicht menschliches Wesen ergreifend. Und es ist ein Unterschied zwischen den Sprachen ohne Worte. Es gibt die Sprache der Natur, der Kunst, möglicherweise auch der Musik: aber warum weist nur eine von ihnen auf Gott als Sprecher, die andere(n) auf Menschen, wenn auch auf geniale? Die Aufstellungen Wackenroders drängen über sich hinaus. Wie wäre es, alle Sprachen, eigentliche und uneigentliche, einzig und allein dem Menschen zuzuordnen, nicht nur mit Wackenroder die allgemeine instrumentale, sondern auch die wunderbaren, geheimnisvoll medialen, die sich in der Sprache des Menschen überschneiden? In der Tat: Nicht nur die Sprache der Kunst überschneidet sich, wie Wackenroder andeutet, mit der Sprache der Wörter, sondern auch die Sprache der Natur und Gottes eigene Sprache, die ohne Beziehung auf die menschliche keine göttliche sein kann. So überschneiden sich in der Sprache des Menschen alle Sprachen, literale ebenso wie metaphorische; mit anderen Worten: sie überschneiden sich ebenso präzis wie prägnant.
b. Die Enden des Buchs der Natur Sprache und Buch der Natur sind an die Allegorie gebunden, die Sprache, weil Dinge ohne allegorischen Sinn keine Sprache führen, das Buch, weil ohne Wörterbücher des allegorischen Schriftsinns, die ihrerseits dem Buch der Schrift zugeordnet sind, kein stabiler Zusammenhang entsteht. Daher setzt Ohly die Grenzmarke: „Wo immer die Gemeinsamkeit der Völker in der pfingstlichen Sprache der Allegorie zerbrach, da schlug dem Mittelalter seine Stunde.“137 Zwar spielt dabei die Abneigung der Reformation gegen die Allegorie eine hervorragende Rolle,138 aber dem Buch der Natur war nicht nur ein Ende bereitet. Ohne Zweifel entscheidet sich die Idee des Buches der Natur daran, ob allegoriegestützt oder ohne Allegorie verfahren wird. Selbst mit der Ohly, Mittelalterliche Bedeutungsforschung 1977, 29, cf. 18, 395. Allerdings Wiederkehr in der protestantischen Mystik: Johann Arndt, Vier Bücher vom wahren Christenthum 11608, 4. Buch: „Liber naturae. Wie das große Welt-Buch der Natur von GOtt zeuget, und zu GOtt führet.“ 137 138
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Allegorie zeichnen sich signifikante Verschiebungen ab, die sie aus dem privilegierten Sitz im Buch der Schrift vertreiben. So im Mundus symbolicus und in der Emblematik, den Nachfolgeformen der biblischen Allegorie. Wenn aber ohne Allegorie, dann entweder so, dass von vornherein unter Verzicht auf sie verfahren wird wie in der Lehre von den Signaturen, oder so, dass durch Literalisierung der Allegorie auch das Ende des Buches der Natur besiegelt wird, und dies dürfte der Modellfall sein. Der Mundus symbolicus Symbolik und Emblematik sind nah beieinander, wie die Etymologien zeigen: ἀπὸ τοῦ συμβάλλειν die eine, ἀπὸ τοῦ ἐμβάλλεσθαι die andere.139 Beide können füreinander stehen, wenngleich die Emblematik mit der sehr viel weiteren Geschichte der Symbolik nur die Epoche gemeinsam hat, die durch das Emblem, das heißt durch eine bestimmte Art des Verbunds von Inscriptio (Lemma oder Motto), Pictura (Imago oder Symbolon) und Subscriptio (Epigramm) geprägt ist. Sie beginnt mit Andrea Alciatis Emblembuch 1531 und endet Mitte des 18. Jahrhunderts mit Johann Joachim Winckelmanns Invektive gegen das emblematische Zeitalter. Der Mundus symbolicus hingegen, den Augustin Erath 1681 aus Filippo Picinellis Mondo symbolico 1653 ins Lateinische übersetzt und mit weiterem Symbolwissen bereichert, beschränkt sich auf schriftliche Verweise auf emblematische Sammlungen, die zur gleichen Zeit in Blüte stehen. Mit dem Titel Mundus symbolicus werden zwei Ansprüche erhoben, die wie Kehrseiten einer Medaille aufeinander bezogen sind. Auf der einen Seite beansprucht die Symbolik, die ganze Welt zu umfassen, die universitas aller Embleme oder Symbole. Mundus, das kann nicht geleugnet werden, ist die geschlossene Welt, und darauf zielt die Sammlung, selbst wenn das Symbol als einzelnes mit Motto oder Pictura in eine unabgeschlossene, unendliche Interpretation führt. Er habe, so Erath, nur ein anmutiges Manipel von Symbolen in Handbuchgröße zusammenstellen wollen, aber unter der Hand sei es ihm ausgewachsen zur wüsten Masse, und die von allen Seiten strömenden Bächlein symbolischen Wissens hätten sich zum ungeheuren Ozean des vorliegenden Bandes gesammelt:140 Folio, doppelspaltig, Buch I mit 738 den natürlichen, Buch II mit 237 den artifiziellen Dingen gewidmeten Seiten, und gut 200 Seiten Indizes, die über die Unendlichkeit des Meeres ein endliches Netz der Verweise spannen. Dazu gehört der Index lemmatum, der symbolische Motti nach Sachgruppen erfasst, der Index applicationum, der von den Lemmata auf dazugehörige Dingbedeutungen verweist, der Index rerum notabilium, der die zerstreuten Symbole unter gebräuchliche Namen und Begriffe ordnet, und der Index locorum sacrae scripturae, der die Konkordanz von Schriftbuch und 139 140
Picinelli/Erath, Mundus symbolicus 11681, Tract. de nat. symb. I 4. Picinelli/Erath, ebd., Praef. ad lect., 2.
2. Das Buch der Natur
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Weltbuch nachzuweisen unternimmt. Gerade der letzte Index zeigt, worin der Mundus symbolicus über mittelalterliche Enzyklopädien und Vokabularien des allegorischen Schriftsinns hinausgeht. Halten diese wie etwa die Silva allegoriarum totius scripturae141 des Hieronymus Lauretus 1570 oder die Theologia symbolica142 des Andreas de Acitores 1597 sich innerhalb der Grenzen der Heiligen Schrift, so beansprucht der Mundus symbolicus, nicht nur den Symbolismus der Heiligen Schrift, sondern auch den des Schrifttums der Antike und der Moderne zu umfassen. Dies mit dem einzigen Ziel, in Erfüllung von Römer 1,20 „Invisibilia Dei per ea quae facta sunt intellecta conspiciuntur“143 dem Buch der Schrift gleichwertig das Buch der Welt zur Seite zu stellen. Erath versäumt nicht, als dessen erste Zeugen Antonius und Augustinus eigens zu zitieren.144 Ist also der mundus symbolicus, als emblematum universitas und somit schlechthin alles, ein liber mundi oder orbis terrarum, so enthält der vorliegende Mundus symbolicus, den sein Verfasser spielerisch meus Mundus symbolicus nennt, dies alles, indem er die Buchmetapher in das reale Buch überführt, das er dem benevolens lector darbietet. Indem er also auf der einen Seite alles umfasst, umfasst er auf der andern wenigstens nicht nichts. Als Nicht-Nichts ist er dem reinen Nichts knapp entronnen. Die barocke Welt, die durch Enzyklopädien und Vokabularien wie den Mundus symbolicus neu belebt wird, geht auf der der Überfülle abgewandten Seite über die Gräue und Leere der Welt hinweg, die sich am Ende als stärker erweist und in die sie verschwindet. Der maximalistische Anspruch auf Totalität und Universalität des Mundus symbolicus kann nicht erwogen werden ohne das minimalistische Gegengewicht des NichtNichts. Wir erinnern an Moriar ne moriar als Quintessenz symbolischen Wissens.145 Dass in nichts nichts zu finden sei, was nicht zu denken, zu sprechen und zu lesen gibt: dieser Minimalwunsch ist es, der, um seine unwahrscheinliche Erfüllung wahrscheinlicher zu machen, nicht weniger als der Maximalbemühung eines erblühenden – angstblühenden – Mundus symbolicus bedarf. Der Emblematum liber Das erste Emblembuch 1531 – sein Verfasser Andrea Alciati galt als „Emblematum Pater & Princeps“146 – mit zunächst 103 Emblemen, bis 1781 in rund 150 Auflagen wiederholt, wurde zunächst liber genannt, dann libellus (buechle), was, zumal im Vergleich zum Mundus symbolicus, zutreffender ist. Oktav statt Folio: das ist das Manipel, von dem Augustin Erath träumte. Hier kommt dem Buch eine andere Stellung zu. Embleme können überall zu finden sein, auf Silva allegoriarum 1971. Acitores, Theologia symbolica 1597. 143 Picinello/Erath, Titelkupfer; II. Epist. dedic. 144 Picinello/Erath, II. Epist. dedic. 145 § 5 Anm. 222. 146 Balbinus 1687, bei Henkel/Schöne (Hg.), Emblemata 1967, xvii. 141 Lauretus, 142 de
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natürlichen wie auf künstlichen Dingen, auf Bildern, Gerätschaften. Generell gilt: „Nulla res est sub Sole, qvae materiam Emblemati dare non possit.“147 Nicht nur kommt dem Buch kein privilegierter Status zu, sondern es drängt sich auch nicht in den Vordergrund. Was die Buchemblematik zur Einholung des Anspruchs, Weltbuch zu sein, in Richtung der Maximierung schuldig bleibt, sucht sie durch Minimierung wettzumachen. Ein Emblem, wenn es stark und gelungen ist, würde genügen. Jedenfalls darauf, in dieser spezifischen Weise als liber naturae oder mundi zu fungieren, verzichtet das Emblembuch in keinem Fall. Der Ansatz Alciatis ist fast der Augustins. „Verba significant, res significantur,“ erklärt er, „tametsi et res quandoque etiam significent, […] cuius argumenti et nos carmine libellum composuimus, cuius titulus est Emblemata.“148 Augustin und Emblematik stammen aus der gemeinsamen Wurzel der Allegorie. Auffällig ist nur, worauf Maria Moog-Grünewald hinweist,149 dass anstelle von Augustins Indikativ significant der Konjunktiv significent steht: Ausdruck des Wunsches wie im Mundus symbolicus? In der Tat zeigen Embleme nicht einfach Dinge, denen Bedeutsamkeit zukommt, sondern rätselhafte, seltsame Dinge; sie bilden Dinge nicht ab, sodass zu konstatieren wäre res significant, sondern bieten Zusammenstellungen von Dingen, die ans Unmögliche streifen. „Impossibile“ lautet denn auch das Motto eines der Embleme Alciatis.150 Nicht geht es darum, den wohlgeordneten Kosmos der Dinge mit Römer 1,20 in seiner sublimen Verweisungskraft zu vernehmen, sondern im Gegenteil sehenden Auges den Riss wahrzunehmen, der zwischen den Dingen verläuft. Genauer: Nicht durch Dinge, sondern durch die feine Fissur, die durch sie hindurchgeht, wird so etwas wie Dingbedeutung ausgelöst. Deshalb erscheint Dingbedeutung nicht im Indikativ wie bei Augustin und im Mittelalter, sondern ist in Affinität zur Moderne auf Konjunktiv oder Optativ gesetzt. Und nie ist der Riss stärker, als wenn die Dinge und ihnen folgend die Worte in direktem Widerspruch aufeinander stoßen. Moriar ne moriar. Zahlreiche Motti der Emblematik zeugen von der Vorliebe für sachlichen oder wortspielerischen Widerspruch. Aber ein einziges treffliches Motto unter den im Büchlein versammelten Emblemen würde genügen, um alle anderen ins gehörige Licht zu setzen. Die Aufgabe des Buches der Welt oder der Natur wird nicht nur durch allseitige Komprehensivität und Universalität gelöst, sondern auch durch exemplarische Exposition, und dies ist der Modus, in dem Emblembücher zur Hand genommen werden. Sie erheben keinen Anspruch darauf, das Weltbuch als universalen Symbolismus vorzustellen, dessen Verweisungszusammenhang so eng geknüpft ist, dass niemand seinem Netz entfallen kann, sondern begnügen sich damit, ihn paradigmatisch und möglichst 147 Balbinus,
bei Henkel/Schöne, ebd. xii. Alciati, De verborum significatione 1530, 102b. Augustin, De doctr. chr. I 2,2; II 10,15. 149 Moog-Grünewald, Zwischen Kontingenz und Ordo 2000, 195 f. 150 Alciati, Emblematum libellus, Nr. 84; Henkel/Schöne, ebd. 1087. 148
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träf zu erfüllen. Die auffällige Neigung der Emblembücher zur Fokussierung auf bestimmte Bereiche der Weltwirklichkeit wie religiöse, höfisch-politische und Liebes-Emblematik darf nicht als Absicht missverstanden werden, Teile des Weltbuches darzubieten, sondern überall gilt, dass die Aufgabe erfüllt ist, wenn auch nur ein Emblem gelang. Wie Sileni Alcibiadis des Erasmus,151 nur ein Adagium unter Tausenden, dasjenige ist, das alle beleuchtet, so ist Moriar ne moriar nur eins unter Tausenden, gleichwohl das, das alle mit einem Schlag erhellt. Was hier als Verhältnis von Mundus symbolicus und Emblematum liber zutage trat, wird sich in § 8 als Verhältnis von Heiliger Schrift und Psalter auf seine Weise wiederholen. Die Signaturen Zwar wird die Lehre von den Signaturen nicht selten im Zusammenhang gesehen mit dem Buch der Natur, wie es in der neuzeitlichen Symbolik und Emblematik entwickelt wurde, auch die Quellen fördern diese Sicht. Aber im Unterschied zu den Symbolen, die der langen Vorgeschichte der biblischen Allegorie entwachsen sind, ist diese eine Hervorbringung der Renaissance. Sind Symbole und Embleme entstanden aus der Übung des Lesens in einem Buch, das als so prägend empfunden wurde, dass es in nichts nicht mitgedacht und deshalb als Lesen im Buch der Natur gedacht werden konnte, so stammen die Signaturen aus einem Akt der Bezeichnung der Dinge, der die Entsprechung von Makro‑ und Mikrokosmos teils stiften, teils als gestiftete zum Ausdruck bringen soll. Selbst wenn diese sich auf dasselbe beziehen wie jene, auf die Natur, und selbst wenn beide für sich beanspruchen, der Sprache der Natur teilhaftig zu sein, tun sie es in Kontexten, die sich nur teilweise überlappen. Die Lehre von den Signaturen will innere Kräfte der Dinge durch äußere Kennzeichen erkennen und setzt voraus, jedes Ding äußere sich von innen durch ein wesentliches Zeichen, das ihm nicht durch einen Akt konventioneller Bezeichnung zugewiesen wird wie das significans dem significatum, sondern von sich selbst her signiert ist. Eine Signatur ist ein signum signatum, was besagt, dass die Bezeichnung vonseiten des Bezeichnenden auf ein Zeichen trifft, das dem Bezeichneten bereits eingezeichnet ist.152 Zwischen signum und signatum herrschen Analogie, Harmonie, Stimmigkeit, Verwandtschaft, wie sie gemeinhin für das Verhältnis von Mikro‑ und Makrokosmos angenommen werden. Zwar hat die Signaturenlehre ihren Schwerpunkt in Medizin und Pharmazie, similia similibus curantur, beansprucht aber universellere Bedeutung und philosophische Valenz. Damit ist am Tag, worin sie sich der Art nach von Symbolik und Emblematik unterscheidet. Sie wird durch keine Allegorie gestützt. Friedrich Ohly urteilt zurückhaltend: „Das Buch 151 152
Erasmus, Sileni Alcibiadis 1515, Adagia III iii, 1, ASD II/5, 1981, 159–191. Meier-Oeser, Art. Signatur, Signaturenlehre 1995, 751.
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der Natur wird nach der Lehre von den Signaturen oder Bezeichnungen (…) gelesen auf seinen intramundanen Sinn, nicht auf eine die Natur übersteigende Spiritualität hin“,153 die sich der Allegorie verdankt. In Wahrheit wird weder gelesen, noch liegt ein Buch vor. Vielmehr handelt es sich um das Buchstabieren einzelner Buchstaben, denen aufgrund des Einklangs von mikrokosmischer und makrokosmischer Welt magische Kraft zugesprochen wird. Jedoch: „Die Dimensionen des magischen Bezeichnens der Eigenschaften und Qualitäten der Buchstaben der Welt weisen nicht [wie in der Allegorie] aus der geschaffenen Welt auf Spirituelles, sondern deuten das Natürliche aus der Natur auf die Natur hin.“154 So häufig sich die Signaturenlehre unter dem Buch der Natur als Hülle versteckt, so wenig hat sie mit ihm zu tun. Nicht erst ihr Verblassen im Lauf des 18. Jahrhunderts, sondern bereits ihre Kräftigkeit in den Jahrhunderten zuvor ist eines der mannigfachen Enden des Buches der Natur. Buchstabe, Punkt, Komma, Strich Das Buch der Natur kommt zu Ende durch Vernachlässigung der Allegorie, kommt aber auch zu Ende durch deren Literalisierung. Eines ist es, die Allegorie nicht zu kennen, weil man sie wie die Signaturenlehre von vornherein nicht benötigt, ein anderes, sie zwar zu kennen und zu benötigen, aber gegen den Strich nicht zum spiritualen, sondern zum literalen Zweck zu gebrauchen. Literalisierung geschieht schon bei Raimundus Sabundus und verbreitet sich von hier aus. – Literalisiert wird die Allegorie erstens dadurch, dass das Buch der Natur, das sonst in Andacht zu den Dingen selbst zu betrachten, das heißt zu lesen war, die Gestalt eines realen Buches annimmt. Der vorliegende liber creaturarum reliteralisiert den metaphorischen liber naturae und tritt als zweites wirkliches Buch neben das erste, den liber scripturae, und dies mit dem Anspruch, in Tat und Wahrheit der primus liber zu sein, der den secundus liber scripturae an Eindeutigkeit, Unfehlbarkeit, Gewissheit übertrifft. Indem neuzeitliche Symboliken und Emblematiken diesen Ansatz fortsetzen, erneuern sie, mit welcher Vehemenz auch immer, denselben Anspruch. – Literalisierung des Buches der Natur, wiederum zu beobachten bei Raimundus Sabundus, geschieht zweitens dadurch, dass die Dinge der Natur, die bisher spirituelle Bedeutung kundgaben, zu bloßen Buchstaben im Buche der Natur werden, von denen es zwar feierlich heißt, sie seien von Gottes Finger geschrieben, die aber Bedeutung erst erlangen, wenn sie kombiniert werden mit anderen Dingen zu Wörtern, Sätzen, Texten und am Ende zum Buch, das zu lesen ist. Die Literalisierung verkürzt ursprünglich selbständig bedeutende Dinge in unselbständige, mit dem Resultat, dass ihre Zuordnung zum Buch 153 154
Ohly, Ausgewählte und neue Schriften 1995, 723; ders., Zur Signaturenlehre 1999, 5–14. Ohly, ebd. 719.
3. Das Buch der Geschichte
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der Natur sich in weite Ferne entzieht. – Drittens – wie schon bei Raimundus Sabundus – unterliegt die Stellung des Menschen keiner geringen Verschiebung. War dieser bisher der andächtige Betrachter, genauer, der Leser des Buches der Natur, der darin dessen Autor begegnete, und dies mit der Folge, dass nicht nur der mittelalterlichen Allegorie, sondern auch den neuzeitlichen Symboliken und Emblematiken der Mensch zwar als Leser, nicht aber als Thema willkommen war, so verlässt er seinen Ort gegenüber und wird zum Teil des Buchs der Natur, genauso literal wie andere Kreaturen. Er wird selbst zum Buchstaben im Buch der Natur. „In quo libro etiam continetur ipse homo, et est principaliter littera ipsius libri.“155 Der frühere Leser des Buches entdeckt im Buch sich selbst – als Buchstabe. Zwar hört er nicht auf, dem dergestalt in Einzelbuchstaben elementarisierten Buch mit Leseerwartung gegenüberzutreten, aber indem diese ins Leere geht, zeigt sich: Wie das literalisierte Buch der Natur am Ende kein Buch ist, keinen Leser und keinen Autor hat, so ist der zum Buchstaben im Buch der Natur literalisierte Mensch am Ende nicht einmal Buchstabe.156 Schon für Joseph Hall zum kleinen, kaum wahrnehmbaren Punkt geworden – „a little insensible dagesh-point“157 –, will er Johann Gottfried Herder erscheinen wie ein „kleines Komma oder Strichlein im Buche aller Welten!“158 Und Jean Paul hält fest: „Der sonderbare Mensch ist im Buche der Natur der lange — Gedankenstrich.“159
3. Das Buch der Geschichte Wenn das Buch der Natur ausgeht in Unlesbarkeit, ja das Buch selbst verschwindet samt allem, was zu ihm gehört, scheint die Basis entzogen zu sein, die eine solche Vorstellung hervorbringen konnte. Woher die erstaunliche Energie, so etwas wie ein Buch der Natur zu imaginieren? Das Produzieren-Müssen der Buchmetapher ist stärker und überdauert deren Produkte. Kant hat trotz fälliger Destruktion des Buchs der Natur von der Buchmetapher nicht gelassen, weil er sie zur Situierung der praktischen Vernunft im Weltgefüge nicht missen wollte. Das schützt nicht davor, nicht nur die jeweiligen Hervorbringungen der Buchmetapher, sondern auch das Hervorbringen-Müssen selbst für illusionär zu halten. Niemand und nichts garantiert, dass das transzendentale Bedürfnis der Zusammenstimmung von Ich und Welt, Freiheit und Natur, Buch der Schrift und Buch der Natur, Lesen und Lesen 155
Sabundus, prol. 36*. Ausgewählte und neue Schriften 777 f, 845–851. 157 Hall, Serm. 29, WW 5, 450. 158 Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte 1774, SWS 5, 561. 159 Jean Paul, Auswahl aus des Teufels Papieren 1789, XII. Witziger Anhang, Nr. 15, SW (Miller) II/2, 241. 156 Ohly,
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nicht nur in einzelnen Äußerungen unangemessen ist, was hingehen mag, sondern auch in seinem innersten Kern. In dieser Situation behelfen wir uns vorläufig mit einer Unterscheidung, die schon stillschweigend im Spiel war, jetzt aber aktiviert werden muss. Es konnte nicht unbemerkt bleiben, dass sich häufig neben die Metapher vom Buch der Natur die vom Buch der Welt gesellt. Die Gründe waren solche der Opportunität. Das liegt an der manifesten Instabilität des Begriffs der Natur, der soweit zerfranst ist, dass er zwischen Natur und Unnatur geradezu alles bezeichnen kann. Das Grundproblem ist: Wer von Natur redet, nimmt für sich den Bonus in Anspruch, der ihn wenigstens in seinen Augen auf die richtige Seite stellt. Daher bestehen, zumindest für die mittelalterliche Begriffsbildung, keine Bedenken, das Buch der Natur mit dem der Welt zu identifizieren. Natur ist die universitas rerum, was einschließt, dass sie – um mit dem engeren Naturbegriff zu sprechen – nicht nur natürliche Dinge umfasst. Die Natur ist, die Naturen sind die Welt. Jedoch bleibt nicht aus, dass noch im Kontext des Mittelalters die Differenz zwischen Dingen und Ereignissen eintritt, dementsprechend auch zwischen Dingbedeutung und Ereignisbedeutung, und es bedarf einer dieser Unterscheidung folgenden Beschränkung, die festlegt, dass nur die Dingbedeutung, nicht aber die Ereignisbedeutung gemeint ist, wenn vom Buch der Natur die Rede ist.160 Und schon ist eingetreten, dass das Buch der Natur, das mit guten Gründen für das Ganze gehalten wurde, mit besseren Gründen auf den bestimmten Teil beschränkt wird, der sich unter Ausschluss von Ereignisbedeutungen mit Dingbedeutungen befasst. Was das Ausgeschlossene in seiner Eigentümlichkeit ist, ist schwer zu sagen. Die Dingbedeutungen und ihre Ordnungen erfüllen den Raum; soll nun der Aspekt der Zeit hinzugefügt werden? Von einem Pendant zum Buch der Natur im Sinne eines Buches der Geschichte ist im Mittelalter nicht die Rede; nirgends erscheint neben dem liber rerum naturalium ein gleichwertiger liber rerum gestarum. Wir sind es, die Ort und Stelle eines solchen Buches erschließen. Hinzukommt, was die Differenzierung zusätzlich erschwert, dass das Instrument, mit dem die Dingbedeutung ins Werk gesetzt wird, die Allegorie, auch das Instrument ist, mit dem die Ereignisbedeutung ins Werk gesetzt wird. An dieser Stelle drängt sich ein paralleler Terminus vor, die Typologie, im Vergleich zur Allegorie ein Neologismus, der nichts als eine der Dingallegorie auf ihrem Gebiet entsprechende Ereignisallegorie besagen will. Also besteht aller Anlass, die Identifizierung von Buch der Natur und Buch der Welt preiszugeben. Das Buch der Natur umfasst nicht alles, nur res, keine facta. Wenn dem so ist, dann impliziert die Einsicht in das 160 Ohly, Vom geistigen Sinn, 8 f, markiert die Weichenstellung: „Wir sehen im folgenden davon ab, von der Wortbedeutung und der Dingbedeutung eine mit dieser grundsätzlich verwandte Ereignisbedeutung, auf der das Typologische […] beruht, zu unterscheiden, um uns hier im Rahmen […] der Bedeutungskunde zu halten.“
3. Das Buch der Geschichte
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Ende des Buchs der Natur noch nicht das Ende des Buches der Welt. Diese ist weiter als jene, und das Hervorbringen-Müssen der Buchmetapher, von dem wir sprachen, mag das Hervorgebrachte, bisher das Buch der Natur, schon deshalb zu überdauern, weil die Metapher des Buches der Welt die Kritik am Buch der Natur übersteht. So scheint es angemessen, zuerst der Ereignisallegorie, genannt Typologie, die der Dingallegorie gegenüberliegt, nachzugehen, bevor wir bei der Geschichtsbibel, dem Pendant zur Naturbibel, nach dem Status des Buchs der Geschichte fragen.
a. Allegorie und Typologie Mit der Typologie betritt man nahezu exterritoriales, offenbarungstheologisches, im Kern christologisches Gebiet. Dass die Geschichtswissenschaft die Typologie unter ihre Kategorien zählt, darf man ausschließen; deren Aufgabe besteht vielmehr darin, typologische Figuren, wo immer sie sich finden, zu dekonstruieren. Dass Wissenschaften wie Sprach-, Literatur‑ und Kunstwissenschaft, Psychologie und Soziologie, in denen von Typologie Gebrauch gemacht wird, an der besonderen Form, die hier zur Diskussion steht, Interesse hätten, kann man ebenfalls ausschließen. Sowohl Gebrauch wie Abweisung des Gebrauchs reichen nicht an die theologische „Sonderform“161 heran, die seit ältester Zeit gelehrt und in der neueren Zeit teils destruiert, teils restauriert wird. Von allen anderen Auffassungen von Typologie ist die theologische „strikt zu unterscheiden“.162 Als Terminus jüngeren Datums, belegt im Deutschen seit dem 18., im Englischen seit dem 19. Jahrhundert, blickt sie bereits zurück auf eine Epoche, in der ihre Sache in Kraft stand. Die theologische Typologie kam ohne den Terminus Typologie aus; ihr genügten τύπος und ἀντίτυπος, die eine klare Opposition von Prägendem (τύπος) und Geprägtem (ἀντίτυπος) zum Ausdruck bringen, wenn auch im Neuen Testament nie paarweise. Herrscht die Abfolge von Prägestock und Prägestück, kann die Wertung verschieden sein. Einmal im Sinn von Primärem und Sekundärem wie in der Beziehung auf das Stiftszelt des Alten Bundes: τύπος/exemplar Hebräer 8,5 als Urbild und Modell und ἀντίτυπος/exemplar 9,24 als von Händen gefertigtes irdisches Heiligtum. Aber das Verhältnis von τύπος und ἀντίτυπος ist nicht nur ein solches des Rückbezuges; Typologie führt rückwärts wie vorwärts, sie kennt das Zweite auch als eine das Erste überbietende Steigerung. So gilt Adam Römer 5,14 als τύπος τοῦ μέλλοντος/forma futuri des zukünftigen Adam, Christus; Ereignisse des alttestamentlichen Exodus wie Wolke, Meer, Manna und Wasser aus Stein gelten 1. Korinther 10,6.11 als (eher moralische) Vorbilder τύπος/figura für die geistliche Lebensführung im neuen Bund; 161 162
Suntrup, Art. Typologie 2009, 842. Suntrup, ebd.
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§ 7 Buch und Leben
und die Sintflut ist 1. Petrus 3,21 alttestamentliches Vorbild für die neutestamentliche Taufe als deren Gegenbild (ἀντίτυπος/similis forma). Hinzukommt, dass Typus und Antitypus entweder einander gegenüberstehen wie Stück und Gegenstück, so bei Adam/Christus, Sintflut/Taufe, oder, wenn das Prägende des Typus unscharf selbst schon als Geprägtes aufgefasst wird und der Antityp als Geprägtes zu Geprägtem hinzutritt, als Analogie.163 So Johannes 3,14 f: Wie die Schlange in der Wüste, so der Menschensohn am Kreuz, Steigerung also, nicht Entgegensetzung; so Matthäus 5,17: Nicht Auflösung von Gesetz und Propheten, sondern Erfüllung. Die theologische Typologie, teils schwankend zwischen Antithese und Analogie, teils beides zugleich, wie es zur Deutung des Christusereignisses unerlässlich ist, hat ihr Zentrum in Christus. „Typologie ist christozentrisch.“164 Sie ist im Kern Christologie, und von daher unterscheidet und verbindet sie Einst und Jetzt, Alt und Neu, Anfang und Ende, Erstes und Letztes, Schöpfung und Gericht.165 Buch der Geschichte? Eine erste Beziehung zwischen Typologie und Buchmetapher166 kann nicht unentdeckt bleiben. Selbst wenn vom Buch der Geschichte im Umkreis der theologischen Typologie nie die Rede gewesen sein sollte – wofür das Fehlen eines lateinischen Äquivalents spricht –, wird deutlich, weshalb die Buchmetapher sich nur allzu rasch aufdrängt. Gerade dem Buch als Form und Gattung wird ja, und zwar speziell aus der Perspektive der Dekonstruktion, in kritischer Absicht nachgesagt, es beanspruche etwas Ganzes zu sein, nicht weniger umfassend als Anfang und Ende, τὰ πρώτιστα und τὰ ἔσχατα, und darin kopiert es die Form der Bibel, die der Geschichte zwischen Schöpfung und Jüngstem Tag Anfang und Ende setzt, samt der Zeitenmitte als Peripetie zwischen der Altzeit, dem Typus, und der Neuzeit, dem Antitypus. Die Grenzen des Buches sind die Grenzen der Welt der Geschichte. Also ist das Buch der Geschichte überraschenderweise schon da in Gestalt dieses bestimmten, literalen Buches, der Heiligen Schrift, bevor es zur Buchmetapher wird. Es bindet die Metapher an dieses im Literalsinn gegebene, vor‑ und daliegende Buch. Daraus erwächst eine nicht geringe Differenz zum Buch der Natur, von dem wir herkommen. Anders als die Metapher vom Buch der Natur, die des vorhandenen Buches der Schrift bedarf, um überhaupt ausgelöst, gefordert, herausgefordert werden zu können, wird die Metapher des Buchs der Geschichte durch das vorhandene Buch der Schrift unterdrückt, verunmöglicht, weil dem metaphorischen Buch der Geschichte das wirkliche Buch der Heili163 Suntrup,
ebd. Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, 323. 165 Ohly, Ausgewählte und neue Schriften, 449, 458. 166 Demandt, Metaphern für Geschichte 1978, 379–393. 164
3. Das Buch der Geschichte
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gen Schrift schon zuvorgekommen ist. Die Annahme, das Buch der Geschichte bediene einfach den Teil von Welt, der im Buch der Natur nicht aufgeht, nämlich Ereignisse, nicht Dinge, geht von vornherein fehl. Wenn das metaphorische Buch der Natur durch das literale Buch der Schrift hervorgerufen wird: wird das metaphorische Buch der Geschichte durch ebendasselbe nicht blockiert?167 Symmetrie zwischen Allegorie und Typologie Dem ist entgegenzuhalten, dass die bemerkenswerte Fremdheit der Typologie unter den Wissenschaften darauf zurückgeführt wird, sie sei der „Form der Allegorie […] grundsätzlich vergleichbar“ und ihre Sonderlichkeit beruhe auf „ihrer strukturellen Verwandtschaft mit der Allegorie“,168 und mehr als vergleichbar, mehr als verwandt. Die „Typologese“ sei, so Ohly in strenger Symmetrie, „eine auf die Geschichte gerichtete Art der Allegorese“.169 Mit anderen Worten: Typologie ist Allegorie, nur eine solche, die sich auf ein anderes Gebiet bezieht. Wenn aber zwischen Typologie und Allegorie grundsätzliche Symmetrie herrscht, kann auch das Verhältnis zwischen dem Buch der Natur und dem der Geschichte nicht in die Asymmetrie ausgehen, in der es soeben erschien. Worin besteht das Verhältnis dieser beiden Bücher? Geht die Idee des Buches der Natur aus dem Grundsatz der Allegorie non solum voces sed et res significativae sunt hervor, dann muss als Grundsatz der Typologie erschlossen werden: non solum dicta sed et facta significativa sunt. Wie in der Allegorie den Dingen zukommt, dass sie beginnen zu sprechen, so in der Typologie den Geschehnissen; beide beginnen zu weissagen oder zu prophezeien – falls es erlaubt ist, den auf Zeit fixierten Sinn der Prophetie soweit zu öffnen, dass der generische Unterschied zwischen Prophetischem und Mantischem entfällt. Zudem muss mit äußerster Genauigkeit mitvollzogen werden, dass die Prophetie, einerlei ob Ding‑ oder Geschichtsprophetie, nicht primär von Worten ausgeht, sondern von Dingen und Ereignissen. Beide stehen sich im Lateinischen näher als im Deutschen; sie sind res, nur einmal res naturales, das andere Mal res gestae. Die Rede ist von Realprophetie, nicht von Wortprophetie.170 Wie das Weissagen der Dinge in der Allegorie seine Pointe darin hat, dass kein menschlicher Mund geredet hat, so fordert das Weissagen von Geschehnissen in der Typologie, es geschehe „wortlos“,171 in einer stummen Sprache,172 der Geschichte“ ein Mal bei Blumenberg, Die Lesbarkeit, 128. Suntrup, ebd. 169 Ohly, ebd. 447. 170 Suntrup, ebd.; Ohly, ebd. 446, 451, 475; ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungskunde, 220. 171 Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungskunde, 318. 172 Ohly, ebd. 13, 32 f, 194, 216. 167 „Buch 168
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die von der menschlichen Wortsprache klar zu unterscheiden, wenn auch nicht zu trennen ist. Realprophetie geschieht im Modus des „Schweigens“.173 Die prinzipielle Exposition einer Symmetrie von Ding‑ und Geschehnisprophetie – bei Real-, nicht bei Wortprophetie – ist festzuhalten, selbst wenn sich Überschneidungen beobachten lassen, sei es als Typologie der Natur auf der einen oder als Allegorie der Geschichte auf der anderen Seite. Folgt daraus nicht, dass das Buch der Natur und das zu konjizierende Buch der Geschichte in Parallelität zueinander zu stehen kommen und so, dass das Buch der Natur zwar durch das Buch der Schrift gefördert, das Buch der Geschichte aber nicht blockiert wird? Und fordert nicht die Parallelität von Allegorie und Typologie, dass ebenso wie das Buch der Schrift und das Buch der Natur in ein labiles, spannungsreiches liber librum explicat gefügt werden, auch das Buch der Schrift und das Buch der Geschichte? Aber wie beim Buch der Natur offenbleibt, ob sein Inhalt, die res, res scripturae, Bedeutungen sind oder res realiter sic dictae, oder beides, so ist auch beim Buch der Geschichte offen, ob sein Inhalt, die facta, res scripturae sind und ins wirkliche Buch oder facta realiter sic dicta und in ein metaphorisches Buch gehören, in dem nach mantisch-prophetischen Regeln gelesen und vernommen wird, oder beides. Und so ist klar, dass der Terminus des Buches der Geschichte, anders als das Buch der Natur, den Doppelsinn bereits in sich trägt, zu dessen Explikation aufseiten der Allegorie zwei Begriffe, Buch der Schrift und Buch der Natur, zur Verfügung stehen. Das Buch der Natur trägt schon als sprachliche Wendung seine metaphorische Spannung vor sich her, denn es ist unmöglich, dass die Natur zu einem Buch verfasst wird. Das Buch der Geschichte weicht davon ab durch Ausbleiben jeglicher Spannung. Wie anders als in einem Buch soll Geschichte verfasst sein? Und wenn die Form der Geschichte seit Aristoteles gekennzeichnet wird durch Anfang, Mitte und Ende:174 was wäre geeigneter dieses Textgebilde zu fassen, als das Buch, dem Anfang und Ende wesentlich sind? Wenn also das Buch der Geschichte, entgegengesetzt zum Buch der Natur und seiner metaphorischen Hochspannung, mit einer Nullstufe von Spannung auskommt, dann erklärt sich daraus, weshalb die Einsicht in die Typologie so befremdlich ist. Um zu erkennen, was sie ist und tut, muss das Buch der Geschichte erst aus seiner literalen Normallage in metaphorische Spannung versetzt, angetrieben, hochgepuscht werden. Das kommt nur zustande, wenn es aus seinem literalen in den ihm an sich fremden Zustand des metaphorischen Buches gelangt und der Leser anstelle der Geschichte eines Erzählers, Epoden oder Aöden, diejenige vernimmt, die die Ereignisse in ihrer stummen Sprache selbst sprechen. Erst dann beginnt das Buch der Geschichte über den vertrauten Sinn des liber scripturae hinaus den unvertrauten Sinn der Typologie anzunehmen: liber rerum 173 174
Ohly, Ausgewählte und neue Schriften, 446. Aristoteles, De art. poet. 7, 1450b26 f.
3. Das Buch der Geschichte
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gestarum. Jetzt führen die Ereignisse ein Gespräch untereinander; eines sagt’s dem anderen, ohne Sprache und Worte Psalm 19,3–4. Dies führt mit Ohly zu „einem wechselseitigen Sichanleuchten der Zeiten, das beide unauflöslich aneinander bindet, denn die Neuzeit wäre diese nicht ohne die Altzeit, und die Altzeit findet die Vollendung ihres Sinnes in der Neuzeit.“175 Zwei Schichten von Wechselseitigkeit sind zu unterscheiden. Einerseits das bekannte liber librum explicat.176 Wie das Verhältnis von liber scripturae und liber naturae dem „Grundsatz“ folgt, „daß die beiden Bücher Gottes, sein Werk und sein Wort, sich wechselseitig zu erklären haben“,177 so wird es auch für das Verhältnis von Buch der Schrift und Buch der Geschichte gefordert. Andererseits unterhalten sich die Ereignisse selbst untereinander, und zwar nicht bloß in wechselseitiger Reziprozität, sondern in Steigerung, Erfüllung, Vollendung. Das ist Realprophetie.
Typologie eng und weit Hier liegt der Grund dafür, dass es nicht bei Typologie im engeren Sinn einer auf die Bibel bezogenen Methode bleiben kann. Es gibt nicht nur die innerbiblische Typologie, vorzüglich zwischen den Testamenten,178 sondern auch inneralttestamentlich179 und innerneutestamentlich,180 und ebenso die halbbiblische und außerbiblische; halbbiblisch, wenn Typus oder Antitypus ein Ereignis des Mythos, der Antike oder Kirchengeschichte aufnehmen,181 außerbiblisch, wenn sowohl Typus wie Antitypus des biblischen Bezuges entbehren.182 Zudem gibt es nicht nur zweigliedrige Typologien; bereits die theologischen Adaptionen kennen dreifache, innerbiblische wie ante legem, sub lege, sub gratia, oder sub lege, in Christo, sub gratia, teilbiblische Dreiecktypologien wie Orpheus, David, Christus usw. „Erweiterung des Typologie-Begriffs auf die halb‑ und außerbiblische Typologie“183 heißt nichts als Ausdehnung einer Lesepraxis auf andere Textmassen nach Maßgabe des an der Bibel paradigmatisch Erlernten. – Aber warum findet, wenn es sich bloß um die quantitative Erweiterung einer Textpraxis handelt, die Ausweitung über die Bibel hinaus so energischen Widerstand?184 Dies mag daran liegen, dass 175
Ohly, ebd. 452. Ohly, ebd. 474. 177 Ohly, ebd. 453. 178 Adam/Christus; Eva/Maria; Durchzug durchs Rote Meer/Taufe; Opferung Isaaks/ Christi Kreuzesopfer; Passa/Abendmahl; Eherne Schlange/Kreuzigung; Jona im Walfisch/ Christus im Grab. 179 Arche/Stiftshütte/Tempel; Sintflut/Rotes Meer. 180 Hirte/Herde. 181 Odysseus am Mastbaum/Christus am Kreuz; Sokrates-/Christus; Moses/Benedikt; Salomo/Konstantin; David/Karl der Große. 182 Alexander der Große/Antichrist; Pantheon/Peterskirche. 183 Suntrup, ebd. 844. 184 Cf. Ohly, Ausgewählte und neue Schriften, 473 Anm. 1. 176
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streng genommen der Begriff der innerbiblischen Typologie ein Ding der Unmöglichkeit ist. Der liber scripturae, der gemäß seinem Anspruch zwischen Anfang und Ende alles enthält, lässt keine Außenperspektive zu, die nicht schon zur Binnenperspektive eingeholt wäre. Ein Buch als Ganzes kennt überhaupt nur die Binnenperspektive. Ausweitung der Typologie über den liber scripturae hinaus kann auf dieser Ebene nicht stattfinden. Stattfinden kann sie nur, wenn dem Buch durch Ebenenwechsel der metaphorische liber gestarum entgegentritt in seiner doppelten Wechselseitigkeit, sowohl der zwischen den Büchern, als auch der, die das Buch der Geschichte als Gespräch in sich selbst führt. Nur so ist es zu erklären, dass Vorgänge wie halb‑ oder außerbiblische Typologien nicht etwa beeinträchtigt werden, sondern erst recht angestachelt. Ohne außerbiblische Typologie gibt es auch keine innerbiblische, weil die innerbiblische Typologie für sich allein nicht hinreichend typologisch ist. Wie die innerbiblische Allegorie noch nicht hinreichend allegorisch ist, solange sie nicht die Vorstellung eines zweiten, in Wahrheit aber ersten Buches, des Buchs der Natur, aus sich heraussetzt, sodass zwei Bücher sich wechselseitig erklären, so wäre die innerbiblische Typologie geradezu die Verhinderung des wahren Sinnes von Typologie, der erforderlich macht, dass der liber scripturae ein metaphorisches Buch der Geschichte aus sich heraussetzt, ohne welches sie keine ernstzunehmende Typologie ist. „Typen sind Geschehnisse“,185 facta, nicht dicta, Real-, nicht Wortprophetie. Erst die außerbiblische Typologie ist recht eigentlich Realprophetie. Sie erst versetzt die Wortprophetie der innerbiblischen Typologie in den Status einer ernstzunehmenden Typologie. Diesen pointierten Sinn von außerbiblisch, der von der hier vorausgesetzten strengen Parallelität von Allegorie und Typologie erzwungen wird, lässt die Rede von halb‑ oder außerbiblischer Typologie vermissen, die so tut, als gelte es nur auf der Ebene der dicta fortzufahren, indem an die Stelle von biblischen dicta durch Erweiterung nunmehr unbiblische dicta treten. Der Begriff des Außerbiblischen wird erst scharf, wenn parallel zum Buch der Natur, das das Modell des Außerbiblischen ist, ein gleichartiges Buch der Geschichte tritt, das facta, nicht dicta zum Inhalt hat, und zwar solche, die die Sprache der Fakten sprechen. Daher ist es nicht angemessen, das Entstehen von halb‑ und außerbiblischer Typologie als bloße Erweiterung zu charakterisieren, die der innerbiblischen „im Lauf ihrer Geschichte“186 widerfährt, sozusagen als Auslaufen, wenn nicht Verwässern der einstmals biblisch fokussierten Typologie, gegen das sich Widerstand erhebt. Vielmehr muss der innerbiblischen Typologie von Anfang an die außerbiblische entgegengesetzt werden, damit überhaupt von einem zum Buch der Schrift hinzutretenden zweiten Buch, in Wahrheit dem ersten, die Rede sein kann, dem Buch der Geschichte. 185 186
Ohly, ebd. 451. Suntrup, ebd. 843.
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Ende der Typologie? Wenn nun die „Erweiterung“ der Typologie über einen „zunächst“ engeren Sinn hinaus mit der obigen Argumentation den Zufällen geschichtlicher Entwicklung entrissen und in deren allerersten, wesentlichen Kern hineinversetzt wurde: folgt daraus, dass Typologie gar nicht unterlassen werden kann, einerlei ob sie in biblischen oder nichtbiblischen Texten angetroffen wird? Dass, wie das Beispiel der lutherischen Reformation lehrt, die Kritik an der Allegorie zwar kräftig und überlaut nach Art eines Rundumschlags geübt, die Kritik an der Typologie aber nicht mit derselben Schärfe vorgetragen wird, passt zu dieser Vermutung. Indem der Protestantismus Luther als neuen Moses preist, setzt er die Typologie fort. Wie verhält sich gegenüber der so rekonstruierten wesentlichen Typologie deren tatsächliches Erscheinen im Gang der europäischen Geschichte, die „Aufleben“ wie „Ableben“187 kennt, daneben auch „Fortleben“188 und „Weiterleben“?189 Auf der einen Seite erscheint die Typologie geradezu als zeitloses Wesen, wenn aber zeitlos, dann zugleich als ein unvermeidliches hermeneutisches Instrument. Jedoch: „Als geschichtliches Phänomen bisher schon zwei Jahrtausende überdauernd, wurde die Typologie vom Wandel alles Geschichtlichen im Gang der Zeiten auch betroffen.“ Selbst ihre säkularisierte, satirische oder parodierende Erweiterung kann „über das Ableben der Typologie, wie alles Geschichtlichen, nicht hinwegtäuschen.“190 Wenn also einerseits die Erweiterung der Typologie über den biblischen Kern hinaus nicht deren Überleben garantiert, und wenn sie andererseits kein Vorgang der geschichtlichen Entwicklung ist, sondern ein solcher, der von Anfang an stattfindet und stattfinden muss, damit so etwas wie Typologie in ernstzunehmendem Sinn entsteht, dann stehen wir vor einem erstaunlichen Phänomen. Einesteils nämlich hat die Typologie ein Ende, wie es schon aus Gründen der Symmetrie zur Allegorie naheliegt, andernteils hat sie kein Ende, und dies ist der Sinn der in ihrer Form paradoxen Beobachtung Ohlys. Das Ende ist kein Ende. Als leere Form kann sie mit Unterschiedlichem gefüllt sein. „Das Ende des Mittelalters setzte der Typologie kein Ende“.191 Das Ende der Allegorie im Protestantismus konnte der Typologie nichts anhaben. Darin ist impliziert: Das Ende des Buchs der Natur, von dessen Ausgang in Unlesbarkeit Ohly berichtet, ist nicht das Ende der Typologie. Vielleicht dürfen wir, das Paradox auf die Spitze treibend, hinzufügen: Das Ende der Typologie ist nicht das Ende der Typologie. Selbst wenn es sich so verhält, dass das Ende der Allegorie auch das Ende des Buches der Natur impliziert, so impliziert es 187 Ohly,
ebd. 470. ebd. 461. 189 Ohly, ebd. 463. 190 Ohly, ebd. 470. 191 Ohly, ebd. 463. 188 Ohly,
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doch nicht das Ende des Buchs der Geschichte, das überraschende Zählebigkeit zeigt. Und selbst wenn die angenommene strenge Symmetrie zwischen Allegorie und Typologie dazu führen sollte, dass das Ende des Buchs der Geschichte mit dem Ende des Buchs der Natur zu ein und demselben Schicksal verknüpft wird, dann ist das Ende des Buches der Geschichte kein Ende dieses Buches. Welchen Sinn diese kryptische Formulierung hat, bedarf eigener Untersuchung, die den Kontext der Typologie überschreitet. b. Chronik und Geschichte
Die alte Unterscheidung von sensus literalis und sensus spirit(u)alis, die auch als eine solche von sensus historicus und sensus allegoricus geläufig ist, scheint allen (reformatorischen) Parolen zur Reduktion auf den sensus simplex und primarius Widerstand zu leisten. Mit Recht. Sie setzt sich fort; im deutschen Sprachgebiet in der Unterscheidung von Historie und Geschichte, erstere eine Art Asservatenkammer historischer Fakten, die als facta bruta bezeichnet werden, letztere von Sinn erfüllt und Sinn an Sinn weitergebend; im angelsächsischen Umkreis in der Unterscheidung von Chronik (chronicle) und Geschichte (history) mit den wertenden Konnotationen, Chronik sei die bloße Darstellung dessen was geschieht und nichts weiter, vorbereitende Übung für die eigentliche Geschichte, die den Fakten Bedeutung beizulegen versteht. Die Terminologie beider Sprachgebiete überschneidet sich in Historie (history), ein Wort, das in bonam wie in malam partem gelesen werden kann; sie überschneidet sich ferner in Geschichte, was einmal für history stehen kann, das andere Mal für story, ersteres mit steter Neigung zum Kollektivsingular: die Geschichte, letzteres mit Tendenz zum kleinen Format der Erzählung und deren uneingeschränkter Vielzahl: Geschichten. Im Kern geht es in beiden Sprachwelten um die Frage Arthur C. Dantos: Ist die „Unterscheidung zwischen Historie und Chronik – oder boshafter noch: bloßer Chronik und eigentlicher Geschichtsschreibung“ zutreffend? Oder ist daran festzuhalten, „daß Geschichte ein einheitliches Ganzes, aus einem Guß ist“?192 Letzteres ist das erklärte Ziel Dantos, daher seine Polemik gegen die in der angelsächsischen wie der deutschen Geschichtstheorie steckenden Suggestion einer Zweiheit von niederer und höherer Geschichte. Es fällt leicht, darin die Nachwirkung der mittelalterlichen Exposition des Schriftsinns wiederzuerkennen, die auch der Typologie zugrundelag. Wohl deshalb fand die Typologie trotz Endes kein Ende, weil sie in sublimster Weise in den elementaren Annahmen in Hinsicht auf Geschichte fortlebt. „Chroniken“ – sagt man – „wären demgemäß einfache Erzählungen; und eigentliche Historie würde sich in signifikanten Erzählungen ausdrücken.“193 Signifikante Erzählungen unterscheiden sich 192 193
Danto, Analytische Geschichtsphilosophie 1974, 190, cf. 227. Danto, ebd. 192.
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von einfachen, indem sie diesen eine „Art der Bedeutung“194 beilegen, die man am besten mit Hans Blumenberg „Bedeutsamkeit“195 nennt. Bedeutsamkeit oder Signifikanz ist nichts als der alte allegorisch-spirituale Ereignissinn, und Danto wird denn auch nicht müde, eine Liste des vierfachen Sinnes von Signifikanz vorzulegen, die den vierfachen Schriftsinn wiederbelebt. Zu unterscheiden seien: Die pragmatische Signifikanz, die sich alsbald als moralische entpuppt: Geschichten, die nicht einfach, sondern zu einem bestimmten moralischen Zweck erzählt werden; die theoretische Signifikanz, die im Blick auf einen bestimmten Erkenntniswert eine Geschichte für signifikanter hält als die andere; die Konsequenz-Signifikanz, die ein Ereignis in Hinsicht auf ein anderes für signifikanter hält als ein anderes – womit die Bedeutung von Bedeutung von significance überwechselt zu importance, es geht um Wichtigkeit; endlich die erhellende Signifikanz, die umgekehrt verfährt und zu einem gegebenen Ereignis dasjenige vergangene Ereignis entdeckt, das diesem gegenüber erklärende, sprich: erhellende Funktion einnimmt.196 Unterstützt das Register der vierfachen Signifikanz die Dichotomie von einfacher Chronik und signifikanter Geschichtsschreibung? Danto löst die beiden ersten Signifikanzen, die außergeschichtliche Zwecke verfolgen, von den beiden letzten, die sich der erklärenden Funktion von Geschichten zuordnen lassen. Erklärende Geschichten sind aber sowohl einfach wie signifikant, und so sieht Danto sich veranlasst, „ein für allemal zu erklären, daß es nicht zwei Arten von Erzählungen in der Geschichtsschreibung gibt“.197 Mit anderen Worten: „jede historische Erzählung [ist] unterschiedslos einfach oder signifikant.“198 Was zu Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Zweiheit von Chronik und Geschichte zu erörtern ist, interessiert hier nur, soweit Bezug zur Form des Buches besteht. Einerseits muss die Frage nach dem Buch müßig erscheinen, da beide, Chronik wie Geschichte, regelmäßig in der Form eines Buches erscheinen. Andererseits verhält es sich so, dass das Buch der Chronik anders aussehen wird als das der Geschichte, und wie nach der vorangegangenen Untersuchung zum Buch der Natur, ausgehend vom Buch der Schrift, modellhaft eine Zweibücherlehre in die Welt gesetzt wurde, das erste literal, das zweite metaphorisch, könnte man jetzt geneigt sein zu argumentieren, es gebe auch im Bereich der Ereignisse, parallel zu den Dingen, zwei Bücher: das eine ein Buch in literalem Verstand und im sensus historicus, dies sei das Buch der Chronik, ohne das in der Geschichtsschreibung nichts geht; das andere ein Buch in übertragenem Sinn, das überdies von der Bedeutung der Ereignisse berichtet, also von dem, was die Ereignisse von sich selbst her sagen wollen, was nicht denkbar ist ohne 194 Danto,
ebd. 195. Arbeit am Mythos 1979, 68 ff. 196 Danto, ebd. 216–221. 197 Danto, ebd. 227. 198 Danto, ebd. 226. 195 Blumenberg,
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Wahrnehmung des sensus allegoricus oder typologicus – und dies sei das Buch der Geschichte. Dann hätte die Zweibücherlehre, die bis ins Buch des Lebens fortwirkt, auch auf dem Gebiet des Geschichtlichen ihr Pendant gefunden. Wenn überhaupt, dann hat das Buch viel größere Affinität zum Geschichtlichen als zum Natürlichen. Was soll in einem Buch zur Darstellung kommen, wenn nicht Geschichte, also Vergangenes? Es besteht eine grundsätzliche Asymmetrie zwischen der Art, wie sich das Buch auf Vergangenes oder auf Zukünftiges bezieht. Dass es Bücher über Vergangenes gibt, wird niemand bestreiten. Die Frage ist nur, wieweit sie nachträglicher Vervollständigung fähig sind. Des Weiteren lässt sich nicht sinnvoll bestreiten, dass es Bücher über Zukunft gibt; das „Büchlein“ aus Apokalypse 10 ist ein solches. Dass solche Bücher im selben Sinn wahr sind wie Bücher über Vergangenes, ist allerdings zu bestreiten. Die Asymmetrie zwischen Büchern über die Vergangenheit und Büchern über die Zukunft liegt an ihrer Wahrheitsfähigkeit. Selbst wenn sie falsch sind, könnten sie wahr sein. Aber Bücher, die kommende Jahre beschreiben, werden womöglich geschrieben, doch haben sie keine Chance, in dem Sinn wahr zu werden, wie Bücher über Vergangenes allenfalls wahr sind. Es sei denn, dass sie im Lauf der Zeit zu Büchern der Vergangenheit werden und unter Verlust der Zukunftsbezogenheit ihre Wahrheitschance verbessern. Das macht deutlich, wie sehr die Form des Buches mit der Geschichte verwandt ist, sodass jetzt nur noch die Frage gestellt werden muss, woher die merkwürdige Zweiheit der Bücher kommt, Buch der Chronik hier, Buch der Geschichte dort, bei aller Fragwürdigkeit, die diese Zweiheit von Anfang an umgibt, wie bei Danto zu sehen war.
Die Chronik und das Buch Chroniken gibt es nur als Buch; im Unterschied zur Geschichte, die auch und vor allem im Mündlichen vonstattengeht, haben sie die Form des Schriftlichen für sich. Chroniken gibt es als Zeitschreibung (χρονογραϕία) oder Jahrschreibung (annales, летописание). Worin sich Annalistik von Chronistik unterscheidet, ob eine Schreibart einen höheren Organisationsgrad für sich in Anspruch nehmen darf als die andere, wird kontrovers diskutiert. Für uns ist dies umso weniger von Bedeutung, als wir mit Chronistik und Annalistik nicht mehr suchen, als dass Ereignisse zu Papier (oder was sonst der Schreibgrund sei) gebracht werden. Es handelt sich um eine Minimalforderung. Wir fordern weder eine besondere Stilistik, noch eine besondere Gattung von Geschichtsschreibung, sondern nur das Elementarste, dass verschriftlicht wird. Dies aber möglichst ganz und vollständig. Selbst das Minimum erlaubt Fehlstellen nicht. Das Format der Weltchronik muss die Chronik nicht von vornherein übersteigen; das Ganze und Vollständige gehört zur Minimalforderung hinzu. Was allerdings das Ganze und Vollständige sei, darüber herrscht Unsicherheit. Die Weltchroniken des Mittelalters bemühen sich um Vollständigkeit, indem sie
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mit der Schöpfung beginnen und bis zur Gegenwart führen, und manchmal werden sie von einem nachfolgenden Schreiber fortgeführt. Einige wenige, an ihrer Spitze die Ottos von Freising, reichen bis zu Weltende und Weltgericht. Spätestens hier zeigt sich, dass dem Ganzen und Vollständigen Grenzen gesetzt sind, die es hindern, totalitär zu werden. Eindeutig ist die Grenze zur Zukunft, die nicht überschritten werden kann. Es geht nicht um das Ganze der Geschichte, sondern nur um das Ganze der Vergangenheit. Nicht so eindeutig ist die andere Grenze, bei der die Vergangenheit beginnt, nachdem sich die Schöpfung als ein in die Zeit fallendes Ereignis zurückgezogen hat. Daraus ergibt sich, dass die Minimalanforderung an die Chronik nicht notwendig auf eine Weltchronik hinausläuft, diese sogar ausschließt, dass sie aber den Anspruch aufs Ganze und Vollständige durchaus einschließt, wiewohl so, dass er nicht von vornherein ins Unerfüllbare entgleitet. Arthur C. Danto erfindet zur Lösung der chronistischen Aufgabe die Figur des Idealen Chronisten wie eine Puppe an den Fäden des Spielers und versachlicht sie alsbald zur Idee der Idealen Chronik. Sie solle die Gabe besitzen, alle Ereignisse in dem Moment, da sie geschehen, in den Text einer Chronik zu übersetzen, einerlei wie, am sichersten mechanisch und maschinell, wie ein Webstuhl, der die Transkription von Geschichte-als-Wirklichkeit in Geschichte-als-Text leistet. Die Transkription solle instantan geschehen: factum, scriptum; zudem vollständig: eine Weltchronik ist im Entstehen; schließlich muss die Ideale Chronik, um der 1 : 1-Wiedergabe von Ereignissen gerecht zu werden, untilgbar sein: was geschehen ist, ist geschehen, was geschrieben ist, geschrieben.199 Wenn also zur Idealität der Chronik gehört, dass sie simultan, komplett und definitiv ist, wird man erstaunt fragen: Versammelt sie nicht alle genannten Kennzeichen des Buches in sich? Ist nicht die Ideale Chronik das Musterexemplar eines Buches, das in seiner Einheit, Geschlossenheit, Gültigkeit, Wahrheit alle Welt umfasst, alles ein‑ und nichts ausschließt, das totale Buch, das dasselbe bleibt auf Erden wie im Himmel? Man träumt, die Ideale Chronik sei „irgendwo im Himmel des Historikers ordentlich aufbewahrt“.200 Erweist sich die Ideale Chronik als ideales Buch? Als irdisches Buch, dem in seiner Vollkommenheit nichts anderes übrig bleibt als zugleich das himmlische Buch zu sein? Jedoch, selbst wenn die Ideale Chronik auf gutem Wege sein sollte, das idealtotale Buch zu werden, ist es dort noch nicht angelangt. Die Produktion von Fließtext aus dem Webstuhl der Idealen Chronik hält weltweit an. So vollendet sie in jedem Moment ist, so unvollendet ist sie. Von der Zukunft trennt sie nicht nur eine Grenze, sondern eine Schranke. Im universalen Maßstab widerfährt ihr, was im individuellen dem todkranken Hiskia in der Mitte seiner Tage geschah: „prae-
199 200
Danto, ebd. 241. Danto, ebd.
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cisa est velut a texente vita mea.“201 Sogar in jedem einzelnen Moment ist die Ideale Chronik abgeschnitten von dem Webstuhl, der sie hervorgebracht hat. Sie ist tot. Totgeburt? „Womit wir in voller Absicht den Idealen Chronisten nicht ausgestattet haben, war das Wissen von der Zukunft.“202 Fehlt dies, dann ist nicht nur das Buch, dessen Idee sich in eindrücklicher Weise vor uns aufgebaut hat, an seiner Buchwerdung und Vollendung gehindert, sondern bereits, was noch tiefer in die Gestalt der Chronik eingreift, der Text dieses Buches. Von ihm ist zu fragen, was die Textqualität unter gegebenen Bedingungen überhaupt hergibt. Zum Text und zum Lesen eines Textes gehört wiederholtes Vor und Zurück, was in der Idealen Chronik von vornherein auf das Unidealste blockiert ist. Es muss sogar bezweifelt werden, ob die Ideale Chronik es überhaupt zu einem Produkt namens Text bringt. Mit der fehlenden Zukunft fehlt ihr aller Anhalt für Signifikanz; jedes einmal verzeichnete Ereignis ist „gleich bedeutsam oder gleichermaßen bedeutungslos“.203 Mit der fehlenden Zukunft fehlen ihr auch alle Substantive und Verben, die eine zeitliche Spannung von der Art in sich austragen, dass das vergangene Ereignis vom Licht eines zukünftigen, wenngleich inzwischen ebenso vergangenen Ereignisses beleuchtet wird. Alltägliche Kennzeichnungen von Personen wie „der Verfasser der Kritik der reinen Vernunft“ oder von Sachen wie „das Unglücksschiff Titanic“ und Projektverben wie Tun, Machen, Handeln scheiden aus dem Vokabular der Idealen Chronik von vornherein aus. Gibt es Gründe, der Idealen Chronik die einfachste Textqualität abzusprechen, dann umso mehr Gründe, ihr das Format des Buches zu verweigern, in das sie ungehindert hineinzuwachsen schien. Gerade indem sie die Erwartungen an ein Buch buchstäblich zu erfüllen sich anschickt, verfehlt sie das Ziel. Die Ideale Chronik – Danto nennt sie „eine ganz und gar heimtückische, hinterhältige Gabe“204 – führt das Buch der Chronik buchstäblich vor in seinem unausweichlichen Debakel.
Die Geschichte und das Buch Gibt es zwei Arten von Geschichtsschreibung, bloße und eigentliche, Chronik und Geschichte? Chronik in des Wortes strengstem Sinn, als Ideale Chronik, ist reine Fiktion; man muss durch sie hindurch, um sie definitiv hinter sich zu lassen. Sie bringt weder mehr noch weniger als wir wissen wollten; nicht mehr, weil ihre Vollständigkeit in die Leere läuft, nicht weniger, weil sie nicht nur geringere Signifikanz enthält, sondern gar keine. Sie ist keine unbedarfte Art von Geschichtsschreibung, sondern überhaupt keine. Buch wäre anders, Text wäre anders, Weben ginge anders, bedürfte des Vor und Zurück. Das 201 Jes
38,11; PsMon 139: convolvit sicut textor vitam meam / de stamine succidit me. Danto, ebd. 245. 203 Danto, ebd. 257. 204 Danto, ebd. 243. 202
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Resultat ist also, dass die vermeintliche Differenz zwischen einfach chronistischer und signifikant geschichtlicher Darstellung dahinfällt; die einfachste Erzählung ist die signifikante, oder sie ist keine Erzählung.205 Als Doublette zur Geschichte-als-Wirklichkeit ist die Ideale Chronik, die alles Geschehene vollständig in Geschichte-als-Text transkribiert, eine Chimäre. Weniger wäre mehr. Die Erzählung, bloße Geschichte unter Geschichten, keinesfalls aber die Geschichte, weder Weltgeschichte von Anfang bis Ende, noch Universalgeschichte der gesamten Vergangenheit, ist weniger und zugleich mehr. Unfähig, das Ganze der Geschichte zu sein, ist sie gleichwohl fähig, das Ganze dieser Geschichte zu sein, und dies nach dem jeweiligen Kenntnisstand fehlerfrei. Das geschieht, wenn die Erzählung nicht fabuliert, sondern sich der Disziplin unterzieht, zu erklären, wie es kommt, dass ein und dieselbe Sache oder ein und dieselbe Person zwischen zwei Zeitpunkten, einem früheren und einem zukünftigen, wiewohl inzwischen auch zur Vergangenheit gehörenden, der Veränderung unterlag. Was Danto zur Erzählung als historischer Erklärung in Analogie und Differenz zur Kausalität entwickelt hat, ist hier nur soweit aufzunehmen, als es das Verhältnis von Geschichte und Buch betrifft. Von der „Idee des Buches“ hat Jacques Derrida kritisch behauptet, sie sei „die Idee einer endlichen oder unendlichen Totalität des Signifikanten“, ermöglicht dadurch, dass „vor ihr eine schon konstituierte Totalität des Signifikats besteht“.206 Wir haben diese Beschreibung der Idealität des Buches insoweit aufgenommen, als tatsächlich ein Buch nicht gedacht werden kann ohne Anfang und Ende, principium und finis, Incipit und Explicit. Wo immer Bücher auftauchen, kann nicht ausbleiben, dass sie an die Idee des Buches erinnern, das nicht nur beginnt, sondern mit In principio beginnt, und nicht nur endet, sondern dies in grandioser Inszenierung des Endes tut. Und wenn es ein Buch gibt, das eröffnet „Ich bin der Anfang und das Ende“, dann spricht die persona loquens dieses Buches – falls es erlaubt ist, eine solche zu imaginieren. Erscheint wie in der frühen Romantik die Idee eines solchen Buches unerlässlich, müsste man also eine Bibel erfinden, wenn es keine gäbe,207 sind Ideen wie Weltgeschichte, was die Totalität des Signifikats, und Weltliteratur, was die Totalität der Signifikanten anlangt, unausweichlich. Überall drückt das Buch in der von Derrida nicht ohne Grund kritisierten Auffassung nach. Ebenso drückt es in Dantos 205
Danto, ebd. 213. Derrida, Grammatologie, 35. 207 Friedrich Schlegel an Novalis 20. 10. 1798, NS 4, 501,26 f: „das Ziel meiner litterarischen Projekte [ist] eine neue Bibel zu schreiben“. Ders. an Novalis 2. 12. 1798, NS 4, 506,41 f: „daß [die] Bibel die litterairische Centralform und also das Ideal jedes Buches sei.“ Cf. Schleiermacher, Über die Religion 1799, KGA I/2, 242,15–17; 323,9–12. Schlegel, Ideen Nr. 95, Athenäum 3, 1800, 20 f: „die Idee eines unendlichen Buchs […] als Bibel, Buch schlechthin, absolutes Buch“. Cf. Novalis, Randbemerkungen zu den Ideen 1799, NS 3, 491,25–29: „[…] Eine Bibel schreiben zu wollen – ist ein Hang zur Tollheit, wie ihn jeder tüchtige Mensch haben muß, um vollständig zu seyn.“ 206
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Philosophie der Geschichte nach, die in ihren Grundzügen als Kritik der Idee des Buches gelesen werden kann. Das Buch der Geschichte, wenn es denn ein solches in wörtlichem Sinn gibt, wäre gewiss die ganze Geschichte von Anfang bis Ende in dem Sinn, wie Danto die substantialistische Philosophie der Geschichte der analytischen entgegensetzt, die er selbst zu betreiben gedenkt. Nur substantialistische Geschichtsphilosophie erbringt ein Buch von ernstzunehmendem Sinn, das die Formel dreifacher Prophetie – Ilias 1, 70; cf. Hesiod, Theogonie 32 τά τ᾽ ἐόντα τά τ᾽ ἐσσόμενα πρό τ᾽ ἐόντα; Ovid, Metamorphosen 1, 517 f „quod eritque fuitque estque“ – erfüllt. Indem er dem Schreibbefehl Apokalypse 1,19 γράψον οὖν ἃ εἶδες καὶ ἃ εἰσὶν καὶ ἃ μέλλει γενέσθαι μετὰ ταῦτα folgt, wird der Verfasser der Apokalypse zum Schreiber eines Buches, das seinem göttlichen Autor in dreifacher Offenbarung 1,4.8; 4,8 ὁ ὤν καὶ ὁ ἦν καὶ ὁ ἐρχόμενος aufs Genaueste entspricht. Die ganze Geschichte umfasst die Zeiten ganz. Indem jedoch Bücher, die prognostisch die Geschichte der Zukunft vortragen, bereits im Ansatz verfehlt sind,208 und Bücher, die instantan und simultan die Ereignisse berichten, sich noch nie in den Händen derer befanden, die in ebendiese Ereignisse handelnd und leidend involviert waren,209 bleibt als einziges Buch der Geschichte das der Vergangenheit, das aber bestenfalls ein abgerissenes Fragment der Geschichte ist.210 Vor diesem Hintergrund wird der Druck verständlich, das Buch der Geschichte solle doch, wenn schon Fragment, wenigstens ganzes Fragment sein und die gesamte Vergangenheit umfassen. Der Umweg über die Ideale Chronik lehrt: Das Buch der Geschichte ist nicht zufällig, sondern wesentlich unvollständig.211 Was die Vollständigkeit einer Geschichte ist, ist etwas anderes als vollständige Beschreibung eines Ereignisses in dem von der Idealen Chronik vorgegaukelten Sinn. Nun geraten alle Begriffe in Verwandlung. Wie vollständig nicht mehr vollständig ist, und die Geschichte nicht mehr die Geschichten, so ist Buch nicht mehr Buch. Und wie sich die Vollständigkeit lösen muss von der Vollständigkeit, und die Geschichten von der Geschichte, um ihre eigene Ganzheit zu finden, so muss sich das Buch lösen vom absoluten, totalen Buch. Sobald es sich löst, entsteht die Metapher des Buches. Selbst die zur story gewordene history, die dem Format des idealen Buches so entgegengesetzt ist wie nur möglich, trägt immer noch oder erst jetzt die Kennzeichen des Buches an sich. „Wenn es nicht Anfang und Ende gibt,“ zitiert Danto Virginia Woolf, „dann gibt es keine Geschichten.“212 Ebenso gilt: Wenn es keinen Anfang und kein Ende gibt, dann gibt es kein Buch. Aber der Sinn von Anfang und Ende hat sich gründlich verschoben. Nicht mehr sind sie im Sinn von A Iove principium oder Et respice 208 Danto,
ebd. 119. ebd. 277–290. 210 Danto, ebd. 23. 211 Danto, ebd. 37 f. 212 Danto, ebd. 247. 209 Danto,
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finem Erklärungen für etwas, was in der Mitte der Geschichte zwischen Anfang und Ende liegt und nach Erklärung verlangt. Sondern Anfang und Ende werden aus der Mitte heraus zu solchen erklärt. Die Mitte der Geschichte ist das explanans, Anfang und Ende sind die explananda.213 Damit werden die substantialistischen Begriffe in Bewegung versetzt. Gewiss ist die Geschichte auch als story ein Ganzes, aber ein temporales Ganzes, das das Ganze noch vor sich hat.214 Gewiss gehört zu einer Geschichte die Einheit ihres Subjekts, von dessen Veränderung sie erzählt, aber nur eine temporale Einheit des Subjekts, das seine Einheit noch vor sich hat.215 Gewiss erzählt eine Geschichte, indem sie sich Anfang und Ende setzt, aber Anfang und Ende sind nur Vergangenheitskontingenzen, die die Kontingenzen der Zukunft noch vor sich haben. Die Metapher vom Buch der Geschichte bewirkt, dass die Geschlossenheit, die wir mit dem Buch verbinden, nur noch wahrgenommen werden kann in ständiger Exposition ins Offene. Denn die vermeintlich geschlossene Signifikanz einzelner Geschichten ist einer noch ausstehenden Signifikanz größerer Offenheit exponiert, die nicht vorweggenommen werden kann.
4. Das Buch des Lebens Die Thematisierung des Buchs des Lebens folgt nicht im selben Sinn wie das Buch der Geschichte dem der Natur folgte. Diese beiden waren verbunden durch den Rahmen der Theorie der zwei Bücher, deren eines immer und zuerst der liber scripturae ist und mit seinen res oder facta/gesta auf dem Weg der Allegorie oder Typologie das zweite metaphorische Buch in Gang setzt. Obgleich beide Bücher, wie stets betont wird, durchaus zur ewigen Welt vor aller Schöpfung gehören, das Buch der Natur, weil die darin zutage tretende Weisheit der geschaffenen Dinge zurückweist auf die ungeschaffene, aeterna Sapientia, die nicht nur von Anfang an bei Gott wohnt, sondern Gott selbst ist,216 und das Buch der Geschichte, weil die zutage tretende Signifikanz der geschaffenen Ereignisse zurückweist auf die ungeschaffene ewige Vorsehung, die nicht nur von Anfang an zu Gott gehört, sondern Gott selbst ist, liegt der Schwerpunkt beider Buchmetaphern in der Relation zur Schrift und der Zugehörigkeit zur geschaffenen Welt. Anders das Buch des Lebens.217 Es konfrontiert nicht Buch mit Welt, sondern Buch mit Leben, was weniger ist an Allgemeinheit, mehr an Spezifikation. Zudem ist das Buch des Lebens das einzige, das im Alten und Neuen Testament Erwähnung findet, was zur Folge hat, 213 Danto,
ebd. 372. ebd. 190, 227, 391–394. 215 Danto, ebd. 396 ff. 216 Cusanus, Serm. 141, 5, h 18, 95 f; cf. Serm. 8, 16,16 f, h 16, 155. 217 Cusanus, Serm. 48, 17,10–14, h 17, 207; Serm. 152, 12,41–45, h 18, 150. 214 Danto,
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dass es als Teil des Buches der Schrift nicht zugleich die ganze sein kann, sodass deren bisherige Stellung als Vorlage für das metaphorische Buch entfällt; außer seiner Erwähnung bringt die Heilige Schrift dem Lebensbuch nichts. Das literale Buch der Schrift und das literale Buch des Lebens sind zwei von vornherein verschiedene Dinge.218 Zur ersten Verschiebung kommt eine zweite hinzu. Zwar bekommt man es auch beim Buch des Lebens mit zwei Büchern zu tun, einem literalen und einem metaphorischen, aber nicht gehören beide wie bisher zur geschaffenen Welt. Nur der liber vitae in wörtlichem Sinn gehört hierher, während der metaphorische Sinn in die Welt vor aller Zeit weist. Also findet sich auch hier eine Lehre von zwei Büchern, aber eine andere. Sie ist geprägt durch die Unterscheidung von irdischem und himmlischem Buch. Zweibücherlehre hieß bisher Polarität zweier Bücher, jetzt Polarität eines einzigen, des Buchs des Lebens, das als wirkliches und metaphorisches Buch zu denken gibt, einmal als irdisches Buch Teil der geschaffenen Welt, das zweite Mal als himmlisches Buch, das der zu schaffenden Welt vorangeht.219 Beginnen wir also beim Buch des Lebens nicht mit zwei Büchern, die gegeben sind, sondern mit einem, das in zweifacher Gestalt gegeben ist, so ist der Punkt aufzusuchen, an dem die Zweifachheit aufbricht.220 Der Ausdruck Lebensbuch setzt Buch und Leben in Bewandtnis, was erstaunt. Ist doch zwischen Buch und Leben „eine alte Feindschaft gesetzt“.221 Das Leben macht Miene, sich jederzeit vom Buch davonzustehlen; vor dem Buch gewesen, wird es nach dem Buch sein. Und ebenso wartet das Buch auf das Leben nicht. Das Buch wird gelesen. Das Leben wird gelebt. Jedes gelangt für sich zum Ziel. Allerdings bei Durchführung des Versuchs, Buch und Leben jeweils ohne Oppositum zu vollenden, entstehen Bedenklichkeiten auf beiden Seiten. Die Feindschaft zwischen Leben und Buch kann sich in doppelter Weise auswirken. Entweder unter Vorgabe unmittelbarer Freundschaft zum Leben, welche sich über die Lebensferne des bloßen Lesens mokiert. Besehen wir die Formel, die im Verfolg eines solchen Argumentationsziels entsteht. Sie spottet über die Gestalt, mehr noch über das Gespenst des „reinen Lesers“, der von sich behauptet, dass „er lese und lesend lebe“.222 Offenbar kommt der reine Leser nicht zu sich, indem er das Leben links liegen lässt, sondern indem er es für sich reklamiert: je reiner gelesen, desto lebendiger gelebt. Lesen-Wollen kann nicht aktiviert werden ohne Leben-Wollen. Die Feindschaft zwischen Buch und Leben wird ausgelebt als entschiedene Freundschaft zum Buch, Bibliophilie. Ihr Spott gilt dem leselosen Leben, das sich erkühnt, insula oder eremus aufzusuchen ohne Buch, und beansprucht, Leben geschehe nicht als Lesen im toten Buchstaben, sondern im Sir/Eccli 24,32 liber vitae = hl. Schrift; Thomas von Aquin, STh I q 24 a 1 ob 1. von Aquin, De ver. q 7 a 1 c: liber vitae dicit quid increatum. 220 Vf., Und ein anderes Buch ward aufgetan 2000. 221 Blumenberg, Irdische und himmlische Bücher 1979, 619; ders., Die Lesbarkeit, 17. 222 Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters 1807, SW 7, 90. 218 Anders
219 Thomas
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lebendigen Geist, der nichts anderes sein soll als der Geist des Lebens. Alsbald wird deutlich: Wie es dort nicht gelang, Lesen zu schildern unter Absehung von Leben, so hier nicht, Leben zu schildern unter Absehung von Lesen. Vielmehr ist zu vermuten: Das hätte das Leben wohl gerne, dass die Dinge so nett beieinander sind wie im Buche. Leben will Lesen sein, und umgekehrt. Die Feindschaft zwischen Buch und Leben entpuppt sich als Spiegelphänomen; die Spiegelung verweist auf die Isosthenie der Gegensätze, die dem Antagonismus zwischen Buch und Leben zugrundeliegt. Dagegen erheben sich Einwände. Weniger wird man den selbst für den Zustand „reinen“ Lesens behaupteten Rekurs auf Leben in Zweifel ziehen; Leben ist schwer abwählbar. Dass aber Leben, gerade um lebendiges Leben zu sein, des Rekurses auf Lesen bedürfe, wird man nicht ebensoleicht zugeben. Daher ist genauer zuzusehen. – Das Buch als Leben: ein im Umkreis von Schrift‑ oder Buchreligionen nicht außergewöhnliches Thema. Hier sind nur wenige Stücke in Erinnerung zu rufen. Man muss durchaus nicht darauf warten, das schriftliche Wort zur mündlichen Verlautbarung zu bringen, dem illusionären Romantizismus des Ursprünglichen folgend. Die Schrift allein (sola scriptura) ist bereits lauter Leben. Die Schriftrolle, in geschlossenem Zustand, aufrecht gehalten und bekrönt, beginnt zu tanzen. Der heilige Kodex, wenn geöffnet und aufgeschlagen, wird ins Angesicht geküsst. Gerade im Zustand von Schrift wird das Wort verinnerlicht und verspeist,223 nicht nur zur Bizarrerie. Wer darin sucht, findet „ewiges Leben“.224 Also können wir uns gegen den Versuch, den „lebmeister“ am „lesmeister“ vorbei und über ihn hinaus zu bestimmen,225 ebenso verwahren wie gegen die Idee, der Leser von Schrift finde „nicht Lesewort, […] Sondern eitel Lebewort drinnen“.226 So geht es nicht, vielmehr: „Lire, c’est vivre.“227 – Das Leben als Buch: Wenn also gilt, dass Lesen dem Leben nichts schuldig bleibt, ist dann die Umkehrung, dass das Leben sein entsprechendes Lesen hervorzubringen nicht verfehlen wird, ebenso einsichtig? An dieser Stelle droht eine fundamentale Asymmetrie. Zwar springt die Umkehrung fix und fertig geprägt aus Novalis entgegen: „Leben, als Buch“,228 aber sie entwickelt eine Dynamik, dass die klassischen Beispiele dafür erscheinen, als würden sie die buchstäbliche Einlösung von Leben als Buch unnötig vor sich herschieben. In der frühen Romantik, bei Novalis, bezieht sich die Formel auf den Roman, der als wahre Übergattung die Erwartung auf sich zieht, er enthalte die Gattung aller Gattungen oder das Leben. Jedoch mit dem Roman konkurriert die Biographie mit demselben Anspruch, sie sei das Buch, wie das Leben es schreibt. Die An223 Ez
2,8; 3,1; Apk 10,9 f. 5,39. 225 Meister Eckhart, Sprüche Nr. 8 (Pfeiffer 599,19 f). Tauler, Pr. 45 (Vetter 196, 28–30). 226 Luther, Vorrede zum schönen Confitemini 1530, WA 31/1, 67,24 f. 227 Levinas, Jenseits des Buchstabens 1996, 148 Anm. 2: Sendung RTF 14. 8. 1978. 228 Novalis, Teplitzer Fragmente Nr. 22, 1798, NS 2, 599. 224 Joh
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§ 7 Buch und Leben
mutungsqualität ist größer als die Präzision. Nachbesserung wird verlangt und geliefert. Mehr als Romane und Biographien vermöge die ärztliche Anamnese im Buch des Lebens zu lesen; hier finde sich „der ganze frühere Mensch, seine ganze frühere Lebensgeschichte offen dargelegt, ein aufgeschlagenes Buch voll Irrtümer und Fehler“.229 Und schon wird eine Biographie jenseits von Biographie und Roman freigelegt und beansprucht den Titel des Lebensbuches für sich. Aber Leben ist keineswegs auf individuelles Leben beschränkt, sondern Teil von Leben überhaupt. Zu dessen Lesbarmachung sind Büchersammlungen, ganze Bibliotheken erforderlich.230 Und es werden Formen des Buches der Bücher entwickelt, sei es Bibel oder Enzyklopädie, die in der Idee des absoluten Buches gipfeln.231 Das sind Versuche, das Programm Leben als Buch solange fortzuführen, bis das Buch, das alles umfasst, nichts Lebendiges mehr außer sich hat. Indem sich das Totalisierende, ja Wahnhafte der Idee vom Leben als Buch ins Unermessliche steigert, kommt die Frage nicht ungelegen: Was ist mit dem genetischen Code? Könnte nicht dieser den individuellen und allgemeinen Aspekt des Lebensbuchs vom Kopf auf die Füße stellen zu einer dem Wahn widerstehenden Schrift, Text oder Buch?
a. Das Buch als Leben Dass das Buch zum Leben führt, diese Annahme ist unwahrscheinlich von vornherein. Erkennbar liegt ihr die Verwechslung von Mittel und Zweck zugrunde. Lebensmittel dienen dem Leben, das sie nicht sind, und bei Lebensmitteln buchlicher Art verhält es sich nicht anders. Jedoch die Formel Buch als Leben will mehr. Sie behauptet nicht nur, dass das Buch zum Leben führt, was den Abstand wahrt, sondern dass es Buch ist. Die Verstiegenheit dieser Annahme bedarf nicht vieler Worte; Aleida Assmann belässt es bei einem: „Deutungswahn“. Während die neuzeitliche Hermeneutik fordert, „daß die Welt und der Text, Leben und Lesen geschiedene Erfahrungsformen sind, die nichts mehr miteinander zu tun haben“, neigt der Deutungswahn dazu, „jene Sphären, die in der Kulturgeschichte mit großer Anstrengung getrennt wurden, nämlich Welt und Text, Leben und Lesen, wieder in einer undifferenzierten Einheit zusammenfallen zu lassen.“232 Damit ist die Grenze für das Buch als Leben deutlich markiert, und nur bei Strafe des Wahns wird sie überschritten. Gleichwohl ist die Grenze nicht von der Art einer Schranke. Sie erlaubt ein Wähnen im Wahn, von dem sogleich zu zeigen sein wird, 229 Binswanger d. Ä., Psychopathologische und psychiatrische Aphorismen 1851, 29 (Kursivierung getilgt). 230 Jochum, Die Bibliothek als locus communis 1998, 20 f: „Das Zauberwort […] ist das Wort ‚Leben‘.“ Die Bibliothek hat „die Aufgabe […], ebendieses Leben als Buch in die Regale zu stellen“. 231 Blumenberg, Die Lesbarkeit, 267 ff. Tilliette, La Bible ou le Livre Absolu 1992. 232 A. Assmann, Deutungswahn 1995, 166.
4. Das Buch des Lebens
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dass es sich um Erwähnen handelt. Zunächst ist festzuhalten: Buch und Leben sind zweierlei. Das schließt nicht aus, dass das Buch sein eigenes Leben entfaltet. Aber dies ist etwas κατὰ γένος anderes als Leben, und von dieser Differenz müssen wir ausgehen. Als Grenze, nicht als Schranke läuft sie durch Leben hindurch. Der Unterschied, der beachtet sein will, um Wahn zu vermeiden, liegt im Selben; er liegt im, nicht außerhalb des Lebens; hier ist die Grenze zu ziehen, die vor dem Absturz bewahrt; sie liegt außerdem im, nicht außerhalb des Wähnens. Im Wähnen liegt die Grenze zwischen Erwähnen und Wahn. Auf diese Differenzierungsaufgabe lassen wir uns ein, wenn wir nach dem Buch des Lebens fragen. Der liber vitae, liber viventium Das Buch des Lebens ist nicht nur Gegenstand von Vorstellungen, etwa solcher des Alten und Neuen Testaments,233 sondern Realität. Lebensbücher – die großen Verbrüderungs-, Toten‑ und Professbücher der monastischen Memorialkultur – ließen sich zum Blättern und Lesen in die Hand nehmen, wären sie nicht gehütete Schätze ihrer Bibliotheken. Man hielt „das Verbrüderungs‑ oder Gedenkbuch für das ,Buch des Lebens‘, den liber vitae oder liber viventium, und bezeichnete es nicht selten auch so.“234 Bücher dieser Art, aus Pfäfers, St. Gallen, Salzburg und der Reichenau,235 bestehen aus Namensreihen, die endlos wären, hätte die Sammlertätigkeit nicht geendet. Ursprünglich dem Himmelsbuch vorbehalten, ist ihre Bezeichnung als libri vitae nur entlehnt. Beim himmlischen Buch ist die Trennung von Lesen und Leben, die Aleida Assmann für die Neuzeit gefordert hat, aufgehoben. Hier gilt: Lesen ist Leben. Gewiss ist zu Namenskatalogen oder Onomastiken nur rudimentäres Lesen erfordert, dem man nach allem, was zum elaborierten Lesen, insbesondere dem literarischen, gesagt wurde, den Titel des Lesens am liebsten vorenthalten würde. Alle Maßstäbe werden unterboten: καταλογάδην-Lesen, Aufzählen, Herunterbeten. Mehr: Es geht um bloßes Nennen, Erwähnen, also allerschwächste Formen des Gedenkens auf der Schwelle zwischen Anonymität und Nennung. Jedoch im Lebensbuch entscheiden sie über Sein und Nicht-Sein, Leben und Tod. Erwähnung ist erste oder, wenn man so will, letzte Lebensspur vor der völligen Verlorenheit. Mit einiger Zuverlässigkeit weist sie voraus auf den fernsten Horizont des Leseprozesses, das Ende des Lesens, das, selbst wenn es hochelaboriert gewesen sein sollte, im letzten verschwebenden Erwähnen den Grad seines Anspruchs auf Realität wiedererkennt. Mit einem Terminus aus der Notarsprache wird die Verzeichnung im 233 AT: Ex 32,32 f; Ps 69,29; Jes 4,3. NT: Phil 4,3; Apk 3,5; 13,8; 17,8; 20,12.15; 21,27; 22,19 (v.l.); cf. Lk 10,20; Hb 12,23. 234 Schmid, Wege zur Erschließung 1979, lx. 235 Erhart/Kuratli Hüeblin (Hg.), Bücher des Lebens – Lebendige Bücher 2010.
§ 7 Buch und Leben
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Lebensbuch als notitia bezeichnet.236 Keine Ontologie des Lesens ohne Wissen vom Status der Notiz. Die Notiz verhält sich zum Namen, diesem Nahezu-Nichts, als Erwähnung: Erwähnen als einzig zulässige Form von Wähnen und Wahn, der Lesen mit Leben verwechselt.237 Das himmlische und das irdische Buch
Primär ist der liber vitae ein himmlisches Buch. Nun wird aber, wie geschildert, der vor Augen liegende, mit Händen zu greifende Kodex ebenso genannt, obwohl dieser nur ein irdisches Buch ist. Also wird der Terminus weitergezogen über die Grenzen seiner „ursprünglichen Bedeutung“ hinaus.238 Karl Schmid hat diesen Sachverhalt beschrieben: „,Liber vitae‘, ,Buch des Lebens‘, bezeichnet […] das liturgische Gedenkbuch ebenso wie auch das himmlische Buch des Lebens“.239 Was heißt „ebenso wie“? – Wie sehr der liber vitae ausschließlich ein Himmelsbuch ist, macht die synagogale Liturgie von Rosh ha-shana deutlich. An Neujahr öffnet sich die Spanne von Schöpfung und Gericht, und indem das menschliche Gedächtnis sowohl durch alles Vergessene hindurch stürzt bis in den Anfang, die Schöpfung, als auch in der Erwartung ausgreift bis ans Ende, zum Gericht, tut sich die Reichweite des göttlichen Gedächtnisses auf. Nicht als bildliche Umschreibung, vielmehr als Notiz des göttlichen Gedächtnisses, steht das Buch des Lebens für zehn Bußtage zwischen Neujahr und Jom Kippur offen. Wessen Name wird fürs kommende Jahr eingeschrieben?240 In diesen Tagen wird ins Achtzehngebet eingeschaltet:241 זכרנו לחיים מלך חפץ בחיים וכתבנו בספר החיים למענך אלהים חיים ׃
Gedenke unser zum Leben, König, der Wohlgefallen hat am Leben, und schreibe uns ein im Buche des Lebens um deinetwillen, Gott des Lebens.
Hier ist Lebensbuch eindeutig ein Buch bei Gott, und obschon es nicht das einzige ist, das in diesem Moment offensteht, wiewohl das einzige, das zum Leben führt, ist ebenso eindeutig, dass das himmlische Buch Notiz oder Notifikation genug ist und es im Judentum eines irdischen Buches nicht bedarf. – Anders in der kirchlichen Liturgie. Hier hat das Buch des Lebens, als Diptychon auf dem Altar liegend, seinen liturgischen Ort im Canon missae. Was vorliegt, ist ein reines Namensbuch, jedoch mit Unterscheidung des 236 Thomas von Aquin, STh I q 24 a 1 ad 4: dicendum quod secundum rationem differt liber vitae a praedestinatione. Importat enim notitiam praedestinationis. 237 § 5 Anm. 43; § 8 Anm. 376. 238 Koep, Das himmlische Buch in Antike und Christentum 1952, 115. 239 Schmid, Probleme einer Neuedition 1974, 40. 240 Machsor 1995, 4, 22: טוֹבה ִתּ ָכּ ֵתב ָ ( ְל ָשׁנָ הMögest du zu einem glücklichen Jahre eingeschrieben werden!). 241 Sidur sefat emet 1995, 40.
4. Das Buch des Lebens
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Gedächtnisses der Lebenden und der Toten. Das eine erfolgt vor (Memento, Domine), das andere nach (Memento etiam, Domine) der Wandlung; ersteres als Gedächtnis zunächst für Anwesende, dann erweitert auf Abwesende, letzteres als Gedächtnis für Verstorbene. Im Diptychon schlägt sich die Zweiortigkeit des Messgedächtnisses nieder als Lebendengedächtnis auf der linken, Totengedächtnis auf der rechten Seite. Jedoch widerspricht der Beständigkeit des Geschriebenen die Unbeständigkeit des Irdischen, weil die linken Namen die Seite tauschen; aus nomina vivorum werden „früher oder später“242 nomina defunctorum. Gewinnt das irdische Lebensbuch Untilgbarkeit erst als Totenbuch, so erhält der liber vitae jetzt „erst recht“ seinen „vollen Sinngehalt“.243 Nur das Totenbuch ist zuverlässig Lebensbuch. Die vitalistische Erwartung, libri vitae erfüllten das Verlangen „nach pulsierendem Leben“,244 verkennt deren liturgische Kondition völlig. Im liber vitae begegnet vielmehr die von irdischem Werk und Wesen entkleidete Nacktheit des Verstorbenen, sein Name, notiert, gelesen, erwähnt und dem ewigen Gedächtnis Gottes empfohlen.245 So in der Oration des Salzburger Verbrüderungsbuchs, die auf die Namenrezitation folgt: Dignare domine in memoriam sempiternam commemorare et refrigerare animabus quas de hoc sęculo pacifica adsumptione migrare iussisti omnium Christianorum catholicorum quique confessi defuncti sunt quorumque nomina scribta sunt in libro vitae et super sancto altario sunt posita adscribi iubeas in libro viventium ut a te domine veniam peccatorum consequi mereantur.246
Als irdisches und himmlisches Buch hat der liber vitae seinen Sitz in der Liturgie, nirgends sonst. Sie geschieht als irdische und himmlische, teils mit unendlichem Abstand und eigens hervorgehobener Unähnlichkeit, teils mit Teilhabe und ohne Ähnlichkeit undenkbar. Der liber vitae hat seinen Ort im prekären Punkt der Berührung beider. Er geschieht in der liturgischen Erwähnung. Einzigartigkeit und Einzigkeit des Lebensbuches
Himmlische Buchführung ist in der Religionsgeschichte ein weites, nicht nur das Buch des Lebens umschließendes Gebiet. Selbst wenn der liber vitae unter den Himmelsbüchern einen einzigartigen Rang einnehmen sollte, bleibt offen, ob ihm nicht der liber mortis wie sein Schatten folgt. Damit wird nach Einzigartigkeit und, davon zu unterscheiden, Einzigkeit des Lebensbuches gefragt. – Die gängige Ordnung der himmlischen Bücher lautet: Zwei Typen himmlischer Buchführung seien aus den Religionen der Antike bekannt: das 242 Schmid,
Mönchtum und Verbrüderung 1989, 122. ebd. 123. 244 Beyerle, Das Reichenauer Verbrüderungsbuch 1925, 1107b. 245 Ohly, Bemerkungen eines Philologen zur Memoria 1991, 15, 29 ff. 246 Liber confraternitatum vetustior Salisburgensis, MGH.N 2, 1904, 42,35–39. 243 Schmid,
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§ 7 Buch und Leben
Schicksalsbuch,247 das die fata der Menschen, und das Buch der Werke,248 das deren facta verzeichnet. Und in biblischer und außerbiblisch-jüdischer Tradition sei, unableitbar aus diesen, das Buch des Lebens hinzugetreten.249 Es verzeichnet weder fata noch facta, vielmehr nomina, von fata und facta gelöst. Das Schicksals‑ und Werkebuch schreibt ganze Sätze, das Lebensbuch bloß Namen.250 Es ist im Prinzip ein reines Onomastikon. Obgleich drei Buchtypen unterschieden werden, bleibt in der synagogalen Liturgie beim himmlischen Buch unklar, ob es sich um ein Taten-251 oder Schicksalsbuch252 handelt, jenes der Idealen Chronik, dieses der prophetischen Himmelstafel nahe, auf welcher die Zukunft verzeichnet ist, auch die vergangene. Man sollte meinen, die Zahl möglicher Himmelsbücher sei mit diesen zwei Typen erschöpft; mehr als fata oder facta gibt es nicht. Ein Anhalt für das darüberhinausgehende Buch des Lebens wäre unerfindlich, wenn sich nicht die Aufmerksamkeit vom inhaltlichen Was des Schreibens ab‑ und der reinen Form des Schreibens zuwendete. Dann thematisiert das Schreiben nicht etwas, sondern sich selbst. Sobald die Erzählungen der Taten und Geschicke, guten oder bösen, verblassen, bleibt pures Geschrieben-Sein als Notiz für Leben. Nicht-einmal-mehr Geschrieben-Sein, also Gelöscht-Sein ist Lebensverlust. Dem von erzählenden Inhalten getrennten Schreiben entspricht der von Werken und Geschicken gelöste Personenname, geschrieben ins Lebensbuch zum Leben, ewigem Gedächtnis anbefohlen. Darin ist das Lebensbuch unter den himmlischen Büchern einzigartig. – Aber Einzigartigkeit des Lebensbuchs ist nicht identisch mit der Einzigkeit, die eigener Argumentation bedarf. Auf der Ebene des Buches der Namen sind zwei Arten denkbar, liber vitae253 und liber mortis.254 Die Doppelseitigkeit des Diptychons, das für die Messliturgie vorausgesetzt 247 Schicksalsbuch: Ps 56,9; 139,16; Dan 10,21; äthHen 91,12–97; 93,1 f; Apk 5,1–5.7.9 Buch mit 7 Siegeln; Apk 10,2.8–10 βιβλαρίδιον. 248 Werkebuch: Jes 65,6; cf. Jer 22,30; Mal 3,16 sefär zikaron/βιβλίον μνημοσύνου/liber monumenti; Dan 7,10; äthHen 81,1 f „Buch aller Werke der Menschen“; 81,4 „Buch der Ungerechtigkeit“; 89,61–64 u. ö.; 4. Esr 6,20; syrBar 24,1; Apk 20,12. 249 Lebensbuch: Ex 32,32 f; cf. 1. Sam 25,29; Jes 4,3; cf. 56,5; Ps 69(68),29 sefär chajim/ βίβλος ζῶντων/liber viventium; 87,6; Dan 12,1; Jub 30,22 „Buch des Lebens“; 36,10 „Buch des Lebens“; äthHen 47,3 „Bücher der Lebendigen“; Lk 10,20; Phil 4,3 βίβλος ζωῆς/liber vitae; Hb 12,23; Apk 3,5; 13,8; 17,8; 20,12.15; 21,27 βίβλος bzw. βιβλία ζωῆς/liber vitae; 1. Clem 53,4 βίβλος ζῶντων. 250 Koep, ebd. 18; Aune, Revelation, 224. 251 Machsor 4, 52 sefär zikaron, enthaltend die Taten der Heiligen; 107 sefär hazichronot (cf. Est 6,1), enthaltend alle Taten samt Unterschrift der Täter; es liest sich selbst vor; 133 sefär zikaron Mal 3,16; Machsor 5, 108. 252 Machsor 4, 120: Buch der Lebenswege (sefär tahaluchot). 253 Der liber vitae wäre dann – um dem Reichenauer Verbrüderungsbuch zu folgen – identisch mit dem liber viventium (Ps 69[68],29) und enthält nur Nomina vivorum fratrum insulanensium: MGH.LMN. NS 1, 1979, Facs. pag. 4 f: Diptychon, links. 254 Der liber mortis wäre dann identisch mit dem Katalog der Nomina defunctorum fratrum insolanesium, ebd. Facs. pag. 6 f: Diptychon, rechts.
4. Das Buch des Lebens
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wird, scheint die Doppelgestalt des Namensbuches sogar direkt zu stützen. Aber sehen wir genau zu. Wenn es sich so verhält, dass das Register der Lebenden links über kurz oder lang zu einem solchen der Toten rechts und dies erst kraft liturgischer Erwähnung zum Lebensbuch wird, dass also das Register der Lebenden durchaus nicht identisch ist mit dem der zum Leben Bestimmten, wie es zum Lebensbuch gehört, dann ist der liber vitae am Ort der Liturgie zwischen Himmel und Erde das einzige Buch, und ihm steht kein gleichwertiger liber mortis gegenüber.255 Zwischen beiden Büchern besteht eine fundamentale Asymmetrie. Der Bestimmung zum Leben entspricht der liber vitae, aber der Tod kennt keine Notiz.256 Wiederum geschieht, was bereits bei der Einzigartigkeit geschah. Jetzt aber beruht die Einzigkeit des Lebensbuches darauf, dass Geschrieben-Sein nicht nur das neutrale Medium bietet für beides, Gut und Böse, Leben und Tod, sondern die verschiedenen Inhalte des Geschriebenen treten hinter dem Dass des Geschrieben-Seins zurück. Die Notiz ist das Leben. Das Namensbuch zum Leben ist nicht nur einzigartig unter den konkurrierenden Himmelsbüchern; es ist einzig, weil unter den Namensbüchern ohne Konkurrenz. Der liber vitae ist das einzige Paradigma für das Buch als Leben. b. Das Leben als Buch Wir sind dabei, vom Buch als Leben überzuwechseln zum Leben als Buch. Wie stets im metaphorischen Geschiebe droht der glücklich-unglückselige Moment, in dem das Bewusstsein schwindet, was wohin verschoben wird. Demjenigen, der soeben das Buch in eine Gestalt von Leben geschoben hat, begegnet das Verschobene, das Buch, wieder, als verschiebe es auch das Leben in eine bisher unbekannte Gestalt von Buch. Glücklich ist die Verschiebung, solange sie als Reziprozitätstausch oder, mit einer alten Metapher für die Metapher, als „admirabile commercium“ oder „fröhlicher Wechsel und Streit“ betrachtet wird; unglückselig, sobald sie als illusionäres Gebilde durchschaut wird. In jedem Fall macht sich das Herannahen dieses Momentes dadurch bemerklich, dass im Verfolg des einen, Buch als Leben, sich das andere, Leben als Buch, einstellt. So kommt es, dass Helmut Schanze, der sich vornimmt, über Leben als Buch zu schreiben, an keiner Stelle seines Textes deutlich machen kann, ob er de facto nicht vielmehr über Buch als Leben schreibt und damit seinem Gegenstand, Novalis, nicht einmal untreu wird, der auf der einen Seite behauptet: „Ein Roman ist ein Leben, als Buch“,257 auf der andern: „Das Leben 255 Thomas von Aquin, STh I q 24 a 1 ob 3: praedestinationi opponitur reprobatio. Si igitur liber vitae esset praedestinatio, inveniretur liber mortis, sicut liber vitae. 256 Thomas von Aquin, STh I q 24 a 1 ad 3: dicendum quod non est consuetum conscribi eos qui repudiantur, sed eos qui eliguntur. Unde reprobationi non respondet liber mortis, sicut praedestinationi liber vitae. 257 Schanze, ‚Leben, als Buch‘ 1987.
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soll kein uns gegebener, sondern ein von uns gemachter Roman seyn“258 – also Roman, Buch als Leben. Das meint Schanze wohl, wenn er die Romantik des Lebensbuches als „unauflösliches Paradox“ bezeichnet.259 Romantik ist Romanlehre, was mit Novalis voraussetzt: „Wer das Leben anders, als eine sich selbst vernichtende Illusion, ansieht, ist noch selbst im Leben befangen.“260 Moriar ne moriar. Dieser Selbstauflösung des Lebens um des Lebens willen entspricht aufseiten des Buches dessen Selbstauflösung, die geschieht, wenn das Buch, wie im Bibelprojekt Schlegels und Novalis’ tatsächlich der Fall, kein gegebenes ist, sondern ein gemachtes oder zu machendes. Womit erkennbar wird, wie Leben als willkürliche Selbsterzeugung und Selbstvernichtung Hand in Hand geht mit dem Buch in seiner widersprüchlichen Erscheinung als ebenso vernichtetes wie erst recht zu bildendes, ersteres verwirklicht in der Bibelkritik, die um 1800 im Prinzip vollendet ist, letzteres als zu verwirklichend im Bibelprojekt, das in den Brouillons der frühen Romantiker brodelt und gärt. So ist der romantische Anspruch auf Vereinigung von Leben und Buch, Buch und Leben, wie es in den Parolen der progressiven Universalpoesie und der zu romantisierenden Welt zum Ausdruck gebracht wird, unvergangen und allgegenwärtig. Er bringt zum Ausdruck, dass das Verschieben sich als bereits verschoben erfährt. Zwar hat das Lebensbuch am metaphorischen Geschiebe in beide Richtungen teil, geht darin aber nicht auf. Die Spannung der Metapher bewegt sich, wie beim Buch der Natur und beim Buch der Geschichte zu sehen war, nur innerhalb des Geschaffenen. Dagegen vom Lebensbuch gilt mit Thomas von Aquin: „liber vitae dicit quid increatum.“261 Damit nimmt er auf, dass Augustin die memoria Dei als liber bezeichnet. Das Lebensbuch ist vis divina und als solche ungeschaffen.262 Die metaphorische Spannung wird überwölbt durch den Gegensatz himmlisch/irdisch, der stärker ist. Der liber vitae kehrt unsere Erwartung um und nimmt das himmlische, nicht das irdische Buch als Ausgang des Übertragungsweges in Anspruch. Zwischen increatum und creatum besteht keine metaphorische Spannung, oder umgekehrt: die metaphorische Spannung, die auf eine noch so geringe Ähnlichkeit oder Analogie nicht verzichtet, erleidet den Bruch, dass der liber vitae in seiner ewigen Bedeutung mit dem liber viventium im Sinn eines Registers von Lebenden nichts zu tun hat. Erst als liber mortuorum oder defunctorum vermag er liber vitae zu sein. Die Paradoxie tritt auch hier ein. Handelt es sich um ein himmlisches Buch, dann ist es mit Sicherheit kein himmlisches gewesen. Handelt es sich dagegen um ein himmlisches Buch, dann kann es kein Buch gewesen sein. Wenn gilt, dass die metaphorische Be258 Novalis,
Logologische Fragmente, Poëticismen 1798, Nr. 187, NS 2, 563. ebd. 237, cf. 239, 241, 249. 260 Novalis, ebd. 261 S. Anm. 219. 262 Augustin, De civ. Dei XX 14, CChr.SL 48, 724,43–47. 259 Schanze,
4. Das Buch des Lebens
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wegung des Buches als Leben nur zum Ziel gelangt mit dem himmlischen Buch, also durch Bruch mit und Sprung aus der Reichweite der Metapher, dann gelangt umgekehrt die metaphorische Richtung von Leben als Buch nur dadurch zum Ziel, dass sie zum irdischen Buch führt. Dieses, von dem wir zu wissen meinen, was es ist, gerät darüber selbst in eine innere Spannung, die zu Bruch und Sprung führt. So zu beobachten bei demjenigen Buch des Lebens, das sich nicht wie bisher in seiner Ungeschaffenheit, sondern in seiner Geschaffenheit durch nichts übertreffen lassen will. Es handelt sich um den genetischen Code, oder, wie wir ihn auch nennen können, den Code des Lebens, der der maximalen Spiritualisierung des Buches zum himmlischen die maximale Materialisierung zum irdischen entgegensetzt. Mit der Folge, dass dem irdischen Buch, das klar und deutlich vor Augen zu liegen schien, ebenso Bruch und Sprung drohen, nur in entgegengesetzte Richtung.
Der Code des Lebens Bereits Erwin Schrödinger hat die Metapher des Lebensbuches in Anspruch genommen, um die Erbsubstanz der lebendigen Zelle und deren Chromosomen durch eine Vorstellung aus alter Tradition zu plausibilisieren; im Buch des Lebens sei zu lesen wie in einer verschlüsselten Schrift.263 Kein Rückblick auf die Metapher des Lebensbuches versäumt, darauf hinzuweisen.264 Unvergleichlich stärker hat diese Metapher die biochemische Forschung der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts inspiriert. Nicht mehr begnügt man sich mit der Sprache des Lebens, die George und Muriel Beadle 1966 nicht ohne Zuversicht in Szene setzten. Was während des letzten Jahrzehnts in der Genetik geschah, ist mit der Entdeckung des Steins von Rosetta vergleichbar. Die unbekannte molekulare Sprache war in der DNS niedergelegt. […] Man könnte auch sagen, die Entzifferung des DNS-Codes hat zutage gebracht, daß wir im Besitz einer Sprache sind, die älter als die Hieroglyphen ist, einer Sprache, die so alt ist wie das Leben selbst, einer Sprache schließlich, die die lebendigste aller Sprachen ist – auch wenn ihre Buchstaben unsichtbar sind und ihre Worte tief in den Zellen unseres Körpers verborgen liegen.265
Die Spannung in der Wendung Sprache des Lebens hat sich seit Vor‑ und Frühromantik aufgebaut. Wilhelm Martin Leberecht de Wette machte von ihr Gebrauch, um in einem Umfeld, in dem vom Hebräischen als einstiger lingua sacra so viel geblieben war, dass die je ältere Sprache ihr näher kommt als jede spätere, eine fundamentale Sonderung in den biblischen Psalmen einzuführen. Ich möchte die Behauptung wagen: je schwerer, unbeholfner in der Sache, je gehaltvoller, kühner, gedrungener in Gedanken, desto älter sey ein Psalm; je leichter, gefälliger, Schrödinger, Was ist Leben? 21951, 70. Blumenberg, Die Lesbarkeit, 373–378; Kay, Das Buch des Lebens 2001, 22, 61, 406. 265 Beadle/Beadle, Die Sprache des Lebens 1969, 215. 263 264
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§ 7 Buch und Leben
fließender in der Sprache, je durchsichtiger, geordneter, planer im Inhalt, desto später. Nämlich die späteren Psalmen sind in einer künstlich erlernten Sprache, nicht in der Sprache des Lebens verfaßt.266
Wir müssen uns nicht damit aufhalten, dass die Metapher der Sprache des Lebens offenbar sehr Verschiedenes unter einen Hut bringen will, hier älteste Psalmen, die seit Johann Gottfried Herder immer noch, wenn auch abklingend, im Geruch stehen, sie seien der ältesten Sprache der Menschheit nicht fern, dort älteste DNA, die durch nichts Älteres übertroffen werden kann, sondern es genügt völlig, die dem Exegeten und selbst de Wette zugängliche Einsicht in den illusionären Charakter der Unterscheidung von natürlich-lebendiger und künstlich-erlernter Sprache auch vom Genetiker zu fordern, wenn dieser wie de Wette sich in einem Moment der Begeisterung selbst vergisst. Gewiss scheint schon die älteste Sprache der Psalmen uralt, wenn über ihr der abziehende Hauch von lingua sacra liegt. Selbst wenn der genetische Code mit seinen 4 Milliarden Jahren alle Vorstellung noch einmal sprengt und der Sprache des Lebens nahekommt wie keine andere, so hat sich in der Logik des Metaphorischen nichts geändert. Die Sprache des Lebens droht ins Illusionäre abzugleiten, wenn sie aus ihrer metaphorologischen Spannung heraustritt und als bare Münze genommen wird. DNA ist keine natürliche Sprache. Obgleich bestehend aus Worten mit drei Buchstaben, Tripletts, entbehrt sie jeglicher Phonematik, Syntaktik, Semantik. Es war Robert L. Sinsheimer, der Initiator des Human Genome Project, der über Sprache des Lebens hinaus 1967 das Buch des Lebens in großzügigem Gebrauch aufnahm. Es verhalte sich wie ein Maya-Codex: zwar vollständig entziffert im Prinzip, nur unvollständig im Umfang, warte das Bündel menschlicher Chromosomen darauf, als Buch des Lebens vollends ausgelesen zu werden. Um 2000 sah man sich dem Ziel nahe. Sinsheimer prophezeit, im Buch des Lebens fänden sich Instruktionen von so wunderbarem Code, dass er fähig sei, menschliches Wesen hervorzubringen.267 Hieraus geht hervor: Buch ist Buch des Lebens im Sinn des Codes. Zwar ist der Verbalanschluss von Code an Codex einleuchtend, aber im 19. Jahrhundert ging Code in zwei Bedeutungen auseinander. Einerseits bezeichnet er das Ensemble von Zeichen, das nicht oder nur unter ganz bestimmten Bedingungen vermindert oder vermehrt werden darf, so beim Code Napoléon; diese Richtung zielt auf die Geschlossenheit des Buches, Code in des Wortes suffizientem, Vollständigkeit ausdrückendem Sinn. Andererseits wandert der Terminus in die Fernmelde‑ und Verschlüsselungstechnik, und hier geht es um Encodieren und Decodieren, um Code in kryptographischem Sinn; die zweite Richtung zielt mithin auf die Verschlossenheit des Buches, die es zu entziffern, ja zu knacken gilt. Gewiss erhält der Code des Lebens dadurch 266 267
de Wette, Commentar über die Psalmen 21821, 23. Sinsheimer, The book of life 1967, 5–6.
4. Das Buch des Lebens
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einen mehr oder weniger rhetorischen, zu heuristischen Zwecken geeigneten Überhang. Aber erweist er sich auch belastbar in beschreibungssprachlichem Sinn? Hier ist erstens und im Blick auf die von Lily E. Kay ausgewiesene erste Phase268 der Erforschung des genetischen Codes festzuhalten: Hat sich der Code auch in dem Sinn zur Leitmetapher der Molekularbiologie entwickelt, dass er Entschlüsselung verlangt, so ist gleichwohl unübersehbar, dass Verschlüsselung gar nicht vorliegt. Der genetische Code ist nicht Code in des Wortes kryptographischem Sinn. Er besteht nur aus einer Tabelle, die zeigt, wie die vier Grundbasen der RNA, permutiert zu Dreiergruppen, 64 Tripletts ergeben, die die Zusammenstellung von 20 Aminosäuren zu unzähligen, höchst spezifizierten Proteinen bestimmen.269 Das heißt, dass die Metapher des Codes mit hohem rhetorischem Überschuss gebraucht wird, der nicht kleiner wird, wenn sich die Traditionslast des Buchs des Lebens daran hängt. Hier ist zweitens und im Blick auf Kays zweite Phase270 des Forschungsprozesses festzuhalten: War es das Bestreben, über eine vollständige Kartierung des menschlichen Genoms zu verfügen, deren Erzielbarkeit schon früh, deren Erzielung aber noch für die Jahrtausendwende prophetisch verkündet wird, so ist auch diese Phase nicht zu denken ohne Antrieb und Befeuerung durch die Metapher des Codes, der nicht aufhört zu wirken in des Wortes anderem Sinn, der Geschlossenheit, Suffizienz und Perfektion fordert, alles alte affectiones scripturae. Damit ist klar: Der genetische Code ist kein Codex im bisherigen Sinn. Hier wird nur der Code, eigentlich Metapher des Codex, wörtlich genommen und katachrestisch missbraucht.271 Katachresen sind ehemalige Metaphern, auf deren Verschiebungsleistung keine besondere Aufmerksamkeit mehr fällt. Das heißt auch hier, dass Code mit einem rhetorischen Überhang gebraucht wird, der, wenn er mit dem traditionellen Topos vom Buch des Lebens an Wohlklang noch zulegt, vollends ins Chimärische treibt.272
c. Schöpfung und Offenbarung
Lässt sich der Spagat, den das Lebensbuch, das vom ungeschaffenen liber vitae auf der einen bis zum geschaffenen, genetischen Code des Lebens auf der anderen Seite reicht, zum Aufklaffen bringt, noch einmal auffangen? Beide Enden, so entgegengesetzt sie sind, gleichen einander; sie erhalten ihre durchschlagende Wucht jeweils dadurch, dass das Lebensbuch aus der Reichweite des Metaphorischen heraustritt und zum katachrestischen Selbstläufer wird, durch radikale Theologisierung einerseits, die das Lebensbuch zu einer 268 Kay,
ebd. 27–32, 424 ff: 1953–1961. ebd. 19–21. 270 Kay, ebd. 32–35, 426: 1961–1967. 271 Kay, ebd. 19, 62. 272 Kay, ebd. 26, 411–419. 269 Kay,
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§ 7 Buch und Leben
Sache reiner Offenbarung macht, andererseits durch ebenso radikale Enttheologisierung, die das Lebensbuch allein und ausschließlich in der natürlichen Sprache oder Schrift der Schöpfung kennt, falls Schöpfung überhaupt angemessen ist. Und selbstverständlich neigt der Code des Lebens als Inbegriff des irdischen Lebensbuches dazu, für sich in Anspruch zu nehmen, seine Verwirklichung durch die Schöpfung sei bereits alle Offenbarung und schließe darüberhinausgehende Offenbarung aus, gleich wie dem liber vitae als Inbegriff des himmlischen Lebensbuches in der aeterna memoria Dei nicht weniger zuzumuten ist, als dass er mit seiner Verwirklichung von Offenbarung zugleich alles zur Schöpfung Gehörende umfasst – wobei allerdings nicht verborgen bleibt, dass die Schöpfung stillschweigend und unter der Hand den Charakter von Neuschöpfung (oder zweiter Schöpfung) annimmt. Diese beiden Themen, Schöpfung und Offenbarung, gehen mit so elementarer Gewalt vor uns auf, dass der Wunsch um Verschonung, das heißt: innerhalb der metaphorischen Spannung verbleiben zu dürfen und weder nach der einen noch nach der anderen Seite aus ihr vertrieben zu werden, wohlbegreiflich wird. Wir haben aber die Finalisierung des Lebensbuches nicht durchgeführt, um deren Vermeidbarkeit zu suggerieren. Vielmehr treibt die Metapher des Lebensbuches von sich her das eine wie das andere Ende aus sich hervor. Dass die sich gegenseitig vernichtenden Enden in ihrer Zusammengehörigkeit erkannt werden, nimmt dem Gegensatz nichts an Schärfe und Kontur, in die hinein uns der siebte Paragraph nunmehr entlässt.
§ 8 Heilige Schrift und Psalter Warum Heilige Schrift jetzt? Von Büchern handelnd, handelten wir unversehens von dem Buch und von den Metaphern, mit denen es sich im Gedächtnis hält. Und wie die Heilige Schrift zurückweist auf den vergangenen Paragraphen, so auch auf den vorvergangenen, bereits bei der Literatur handelten wir von ihr. Gewiss wird sich niemand Sakralisierung der Literatur nachsagen lassen wollen. Gleichwohl waren bei der Literatur Gesichtspunkte der Heiligen Schrift mit im Spiel. Kanonisierung, Hybridisierung von Texten, Schreiben und Lesen als man selbst und als (ganz) anderer sind Elemente, die ungesäumt auf die Heilige Schrift deuten. Wir können zurückgehen, soweit wir wollen, vom vorvergangenen in die vorvorvergangenen Paragraphen, so wiederholt sich die Beobachtung. Von Lesen, Text, Schrift und Buchstaben war nicht zu handeln, ohne dass die Heilige Schrift bereits mit in den Blick kam. Beim Lesen, sofern Lesen zweiten Grades sich nicht unterdrücken ließ, beim Text, sofern mit dem poetisch-theologischen Text der Gott des Textes nicht zuverlässig auszuschließen war, bei der Schrift, sofern sie des Schriftprinzips bedurfte, endlich beim Buchstaben, sofern der heilige Buchstabe keineswegs etwas Verqueres, sondern – mit Friedrich Schlegel – den „Zauberstab“ darstellte, der die Lesetheologie in Gang setzt. Also darf man, wenn es darum geht, mit der Thematisierung der Heiligen Schrift zu beginnen, es nicht beim Rückverweis auf das Buch belassen, man muss bis zu den Buchstaben zurückgehen, von denen sie ihren Namen hat: ἱερὰ γράμματα. Die Heilige Schrift war von Anfang an mit im Spiel. Müssten wir sie durch einen nachträglichen, liebedienerischen Akt der Sakralisierung gewinnen, hätten wir sie verloren. Die Theologie des Lesens besteht nicht darin, die Theologisierung ganz untheologischer Dinge zu erstreben, um sie in einem Moment allgemeiner Ermüdung zu lancieren. Theologisierung wäre der Sündenfall der Theologie. Theologie des Lesens gibt es nur, wenn es einer solchen an keiner Stelle bedarf. Sie ist von Theologisierung wie von Enttheologisierung gleichermaßen unabhängig. Diese mögen stattfinden so viel sie wollen, die Theologie des Lesens geht mitten durch sie hindurch. Warum Psalter jetzt? Warum nicht mit derselben Willkür Hohes Lied? Warum nicht Klagelieder? Soviel ist klar: Nicht nur die linke, auch die rechte Seite der Überschriften drängt voran. Um zum Elementarsten zurückzugehen: Der Laut drängt voran, seitdem wir ihn als lauten Laut haben liegen lassen. Er will laut werden. Es wird Zeit, das auf der rechten Seite Zurückgedrängte, im Schatten des Leseprozesses Liegende eigens zu sammeln. Den Psalter, die Sammlung der
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
Psalmen, verstehen wir als Sammlung lauter Laute, gebrochen-ungebrochener Sprache und ausgearbeiteter Rede. Von Sprache und Rede ist der Psalter voll. Und wie die Metaphern des Lesens und des Buches, und vor allem: wie die Liturgie mit dem Psalter zusammenhängt, das muss nun sichtbar werden. Im Rückblick will es sogar scheinen, als hätten wir die Liturgie der Literatur nur der Psalmen wegen aufs Auge gedrückt. Denn Psalter, das ist Einbruch von Laut, Sprache, Rede, Liturgie mitten in Buchstaben, Schrift, Text, Literatur. Oder umgekehrt: Wenn die Heilige Schrift im puren Verfolg von Schrift und nichts als Schrift mit dem Psalter die Schrift überschreitet und transgrediert, dann ist der Psalter Ausbruch von Lesen in Lesen, von Literatur in Liturgie, von Buch in Leben. Aber einerlei ob Ein‑ oder Ausbruch: suggestive Worte wie diese haben in unserem Zusammenhang nur die Funktion von Einladungen zu denken, was in der Berührung von Psalter und Heiliger Schrift geschieht. Um es anzudeuten: Da streift reine Wiederholung an genuine; Koinzidenz blitzt vom Rande her, selige Fremde geht auf, Unwiederholbares wird epiphan. Und etwas ganz anderes als Literatur, eben Liturgie, hebt zu feiern an. Soviel wenigstens darf vorweg behauptet werden: Wie wir von der Heiligen Schrift fordern, sie solle die Erfahrung der linken Seite im Zusammenhang sichtbar machen, so richtet sich auch an den Psalter die Forderung, er möge, ohne seine fortbestehende Zugehörigkeit zur linken Seite zu leugnen, ein Gleiches für die Erfahrung der rechten Seite leisten, die bisher unterbelichtet blieb. Und die Frage, warum gerade Psalterium und nicht Canticum, Lamentationes oder ein anderes kostbares Stück, lässt sich fürs erste dadurch beantworten, dass mit dem Psalter nichts auf den Schild gehoben wird, was andere Dichtungen ausschließt. Er steht für das Poetische überhaupt, sofern es sich von der Prosa der Heiligen Schrift unterscheidet. Aber besteht denn genug Abstand zwischen Heiliger Schrift und Psalter, um ihnen eine Differenz von dem Ausmaß aufzuerlegen, wie es das „und“ unserer Überschriften erfordert? Die Differenz ist mit einem einzigen Wink erledigt: Der Psalter ist ja Teil eben der Heiligen Schrift, von der er sich eklatant absetzen sollte, zudem ein kleiner und nachgeordneter. Gewiss wird er nachträglich auch als Buch (ספר תהלים/βίβλος τῶν ψαλμῶν/liber psalmorum) bezeichnet, aber zunächst und zuerst nur als Psalmen (תהלים/ψαλμοί/psalmi). Buch ist in erster Linie die Heilige Schrift; sie ist das Buch. Aber nun tritt ein, dass der Terminus Buch sich verdoppelt. An sich dem Ganzen zugehörig, meldet er sich plötzlich wieder als Bezeichnung eines Teils, und dies nicht nur bei den Psalmen, sondern auch beim Buch der Könige, der Chronik; bald werden sogar einzelne Faszikel des Alten Testaments durchweg als Liber Geneseos, Liber Exodi etc. bezeichnet, und das Neue beginnt mit dem Liber generationis Matthäus 1,1. Die Verdopplung ist in Wahrheit Vervielfachung, stets mit der Grundstruktur, dass die Bezeichnung Buch sowohl auf der Ebene des Ganzen wie auf der von Teilen des Ganzen begegnet. Ob die Verdopplung glücklich ist, stehe dahin; beunruhigend ist sie in jedem Fall. Sie ist es, die vom siebten zum achten Paragraphen weitertreibt, und
1. Die Verdopplung des Buches
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sie ist der einzige Stoff, aus dem die Fäden der folgenden Reflexion gesponnen sind. Bisher waren wir von der Singularität des Buchbegriffs ausgegangen. Er galt dem Buch, und dieses brachte die Metaphern des Buchs der Natur, der Geschichte und des Lebens hervor. Und was als Zweibücherlehre bezeichnet wurde, war im Grund nur Ausdruck, Nachhall, Respons, Resonanz der unvergleichlichen Einzigartigkeit und Einzigkeit des Buches, um das es hier ging. Aber kaum haben wir die Singularisierung des Buchbegriffs, seiner ungemeinen Wucht wegen, mehr erduldet als geliebt, setzt er zur Duplizierung an. Der Verdopplung eignet nicht die weiche Art des metaphorischen Nachklangs, hier stoßen sich zwei Gebrauchsweisen in aller Härte, weil auf derselben Ebene; nicht geht es um wörtliche und übertragene Bedeutung, sondern um zwei wörtliche Bedeutungen, die als Menge unverträglich und gleichwohl zusammengespannt sind. Aus der beunruhigenden Härte dieses Zusammenstoßes geht der Gedankengang des gesamten achten Paragraphen hervor. Wir können nicht beim Buch schlechthin stehenbleiben; es kann sich dem Verdacht der Totalisierung und Verabsolutierung nicht entziehen, und heiße es noch so ehrfürchtig Heilige Schrift. Zwar nicht falsch im einen Sinn, ist es nicht richtig im anderen, und dies ist der Grund der Beunruhigung, die uns antreibt. Gewiss ist die Heilige Schrift oberflächlich ein Buch, das das Ganze umfasst, aber kaum blickt man genauer hin, erkühnt sich ein Teil von ihr, in unserem Fall der Psalter, und beansprucht, das Ganze zu sein. Das hat zur Folge, dass das Ganze der Heiligen Schrift weniger wird als das Ganze. Als ob ein Spalt offen bliebe, den sie nicht schließen kann, aber auch nicht loswird, um endlich doch noch das Ganze, Totale, Absolute zu werden, das sie sein wollte. Sie kann es nicht, weil sie die Ursache einer Beunruhigung in sich trägt. Schon dabei, sich zur Ganzheit zu vollenden, trägt sie in sich, was sie an der Vollendung der Ganzheit hindert. In dem Moment, in dem sie sich zur Ganzheit des Buches schließen will, tritt aus ihr das Büchlein der Psalmen hervor, zeigt Flagge, winkt, will selbst Buch sein. Wollen wir uns dem Thema Heilige Schrift und Psalter zuwenden, müssen wir die Formen unterscheiden, in denen die Verdopplung des Buchbegriffes geschieht.
1. Die Verdopplung des Buches Dass der Bücher viel sind: das ist eine Klage, so alt wie die Bücher selbst. Insoweit kommt die Vervielfachung zu spät; ihrer waren immer schon viele. Dagegen die Verdopplung des Buches ist eine bestimmte Art des Umgangs mit der Vielfalt der Bücher; sie ist nicht einfach Zulassung von Unendlichkeit schlechthin, schlechter Unendlichkeit, sondern Suche nach bestimmter, also endlicher Unendlichkeit. Und diese ist es, um die es bei dem Buch geht. Soviel ist klar: Von Verdopplung des Buches sprechen wir nicht im Sinn der Gegenüberstellung von literalem und metaphorischen Buch wie im letzten
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
Paragraphen. Die verschiedenerlei Versionen des metaphorischen Buches erscheinen nunmehr wie ein gespenstischer Nachklang der mittelalterlichen Allegorie, der sein mag oder nicht. Hingegen die Verdopplung nimmt zwei literale Bücher an, die sich auf derselben literalen Ebene treffen und dem monolithischen, monothematischen einen Buch entgegentreten, indem sie sich vervielfältigen. Verdopplung ist das absolute Mindestmaß der Vervielfältigung. Dabei sind zwei Aspekte zu unterscheiden, interner und externer. Das vorgeblich eine Buch, die Bibel, erweist sich bereits in sich als vielfach, und vielfach ist es auch, wenn es zu anderen, nichtbiblischen Büchern in Relation tritt. Von niemandem werden die Aspekte von Vervielfältigung und Verdopplung des Buches lebendiger vorgetragen als gegen Ende eines großen literarischen Jahrhunderts von Johann Gottfried Herder. Herders Briefe, das Studium der Theologie betreffend sind eine Hauptstation auf der Strecke der Lesetheologie zwischen Hugo von St. Viktor und Klaas Huizing. Es geht um Lesetheologie unter Bedingungen von Modernität. Herder scheut sich nicht, den Titel der alten Theologie, den wenig später Schleiermacher in einem Zug mit Buchstaben, Kodex und Buch beiseitesetzen wird, aufs Tapet zu bringen und ihn nochmals in altprotestantischem Sinn durch Gottesgelehrsamkeit zu erläutern. Aber zugleich unterwirft er das altprotestantische Vokabular unumkehrbar der Transformation. Alle widerstrebenden Kräfte werden bereits im Eingangssatz des ersten Briefes ausgetragen. Es bleibt dabei, mein Lieber, das beste Studium der Gottesgelehrsamkeit ist Studium der Bibel, und das beste Lesen dieses göttlichen Buches ist menschlich.1
Was Herder formuliert, bringt einen „ersten Grundsatz“2 zum Ausdruck. Da kein zweiter folgt, handelt es sich um den einzigen. Man vernimmt darin sogleich die Nachwirkung des primum principium aus Luthers Assertio omnium articulorum,3 und in der Tat hebt Herder mit einem auf Tradition pochenden Ton an. „Es bleibt dabei“, sagt er, und man könnte, den Wortklang aufnehmend, beim Rückgang auf das lutherische Erbe stehenbleiben, wenn nicht derselbe Gedanke bereits in De studio legendi des Hugo von St. Viktor ausgesprochen worden wäre, zwar im Detail verschieden, aber im Grundsatz gleich. Allerdings bietet das vertrauenserweckende, wenn auch ein wenig einschläfernde Vokabular der alten Lesetheologie: Studium, Theologie, Bibel, Lesen nur die äußere Hülle, um mit „und“ dann doch einen zweiten Grundsatz einzuschließen, der so tut, als erläutere er nur den ersten. In Wahrheit kehrt er ihn um: „das beste Lesen dieses göttlichen Buches ist menschlich.“ Nachdem unsere Lesetheologie ihre Zuneigung zur lectio divina an keiner Stelle ver1
Herder, Briefe, das Studium der Theologie betreffend 1780/81, WW 9/1, 145,2–4. Herder, ebd. 145,20 f; 165,16. 3 Luther, Assertio omnium articulorum 1520, WA 7, 97,28.31; 98,4.9. 2
1. Die Verdopplung des Buches
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leugnet hat, muss der nunmehr propagierte Grundsatz „Menschlich muß man die Bibel lesen“4 als völlige Verkehrung der Ordnung erscheinen, die einmal Theologie, Studium und Lesen hervorgebracht hatte. Nimmt man hinzu, dass Herder das der lectio divina entsprechende göttliche Lesen als „[w]irklich ein böser Grundsatz“5 erscheinen will, dem seinen direkt entgegengesetzt, dann wird deutlich, dass im Eingangssatz unter der Hülle der Fortführung von Tradition eine Innovation unabsehbaren Ausmaßes eingeleitet wird. Nun heißt es, „die Folgen dieses Grundsatzes, recht gefaßt und im ganzen Umfange erwogen,“6 zu entfalten, und dieser Aufgabe widmen sich die Briefe zum Studium der Theologie. Das göttliche Buch menschlich zu lesen, heißt, es zu lesen wie jedes andere auch. Das ist die schlichte technische Version des ersten Grundsatzes. Sie überführt das göttliche Buch in ein Buch wie alle anderen, das heißt aber: in schlechte Unendlichkeit, die nicht genügen kann. Deshalb schließt Herder die Überlegung an, die bloße Vervielfachung in Verdopplung, mithin in bestimmte Unendlichkeit zu überführen. Was folgt für die Figur des Buches der Bücher? Und speziell in Hinsicht auf das Thema Heilige Schrift und Psalter: Was folgt aus „ein Buch wie alle anderen“ für die Figur des Buches im Buche? a. Das Buch unter Büchern Soll das göttliche Buch menschlich gelesen werden, kann es nur als Buch unter anderen gelesen werden. „Vergleichung“7 ist damit angesagt, mehr, es muss Vergleichbarkeit bestehen, denn die Negation von Vergleichbarkeit bewirkte die Blockierung der menschlichen Geisteskräfte. Jedoch die Rhetorik, die aus der Bibel als ein Buch unter anderen folgt, bekommt darunter zu leiden, dass sie in der Affirmation schwach ist: ihre These ist zu banal; stark ist sie in der Negation, solange der übermenschliche, engelische oder göttliche Ursprung gegen bessere Einsicht aufrechterhalten wird. Man kann die Auffassung, die Bibel sei „kein Buch, wie andre Bücher“,8 bestreiten und für sich beschließen: „ich mag kein Buch lesen, was kein Buch, wie andre Bücher sein soll“9: in negativis besteht rhetorischer Spielraum, in affirmativis nicht. Hier droht die rednerische Nullstufe von Sätzen wie: Buch ist Buch oder: Ein Buch ist wie das andere. Seltsam: zur These, das göttliche Buch sei ursprünglich menschlich, gibt es einerseits nur etwas zu sagen, solange sie noch nicht erreicht; andererseits nur, sobald sie schon wieder verlassen wird. An sich ist sie kaum der Rede wert. Noch während die Göttlichkeit der Schrift destruiert 4 Herder,
ebd. 145,7. ebd. 145,31. 6 Herder, ebd. 145,20 f. 7 Herder, ebd. 145,28 f. 8 Herder, ebd. 146,21. 9 Herder, ebd. 147,17 f. 5 Herder,
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
wird, beginnt die Suche nach einer besonderen Auszeichnung innerhalb der Vergleichung, und schnell kehrt der übermenschliche Superlativ als menschlicher wieder. So Herder. Nicht ist das Bibelbuch nur „schlicht“,10 sondern alsbald das „schlichteste“;11 nicht nur ist es alt, sondern sehr schnell „beinahe das älteste“;12 nicht bleibt es beim Grundsatz, es sei „menschlich“, sondern flugs ist es „gewissermaßen das menschlichste von allen Büchern“.13 Was es an übernatürlichen Superlativen abgegeben hat, legt es an natürlichen zu; nur der bloße Positiv erweist sich als rhetorische Nullität. Ebendies tritt zutage, wenn man die Vergleichbarkeit des heiligen Buches extern wie intern durchführt. – Extern steht es nach Alter und menschheitlicher Bedeutung im Vergleich mit Homer und Herodot;14 David ist zu messen an Horaz, Hiob an Aischylos.15 Aber kaum ist ausgesprochen, dass es sich überall nur um Bücher unter Büchern handelt, erhebt sich der Wettstreit zwischen alt und älter, menschlich und menschlicher. Er wird zum Wettstreit zwischen Sprachen. Hier zeigt sich, dass das Hebräische, einstmals lingua sacra, in seiner nahezu vollständigen Abstraktionslosigkeit wohl die allermenschlichste Sprache gewesen sein muss, die selbst die antikeste Poetik durch Urpoesie unterläuft. Vom Hebräischen gilt: „Seine Poesie war nicht Kunst, sondern Natur“,16 eine kryptische Formel, die impliziert, dass das Natürliche nur als das „natürlichste“17 sein argumentatives Ziel erreicht. – Intern tritt Vergleichung in die Bibel ein, weil diese, als τὰ βιβλία, weniger „Ein Buch“18 ist als „Sammlung von Büchern,“19 eine „Bibliothek“20 vieler Bücher. In der Praxis des Lesens nimmt der erwähnte erste Grundsatz „man müsse die Bibel menschlich lesen“ die Gestalt an: „teile! lies jedes Buch für sich“, und fortan kann dieser Imperativ als „der erste Grundsatz“ gelten.21 Allerdings hat die Teilung des einen Buches in viele nur zum Ziel, durch Vergleichung des Unvergleichlichen ansichtig zu werden. – So erweist sich die Vervielfachung des Buches, sei es extern durch Vergleichung mit der außerbiblischen oder intern durch Vergleichung mit der biblischen Vielfalt, nur als leerer Durchgangspunkt, der nach neuen vergleichsweisen Superlativen strebt.
10
Herder, ebd. 253,26. Herder, ebd. 149,6. 12 Herder, ebd. 146,30; 149,6; 257,16; cf. 264,12.28.32. 13 Herder, ebd. 146,28 f. 14 Herder, ebd. 159,35; 170,27; 257,13 f. 15 Herder, ebd. 152,21 f. 16 Herder, ebd. 153,8; cf. 164,34–165,3; 261,6 f. 17 Herder, ebd. 260,10. 18 Herder, ebd. 165,25 f; 252,15. 19 Herder, ebd. 165,35. 20 Herder, ebd. 262,37. 21 Herder, ebd. 252,16–18. 11
1. Die Verdopplung des Buches
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b. Das Buch der Bücher Dass Herder der hergebrachten Wendung vom Buch der Bücher nichts Gutes beimisst, ergibt sich daraus ebenso, wie dass er sich ihrer nicht gänzlich entledigen kann. „Buch der Bücher“22 bezeichnet ja das göttliche Buch, nicht das menschliche, um das es Herder geht. Es sei denn, der Sinn der Wendung werde umgekehrt, weil ihm, wenn es schon Buch der Bücher sein soll, nicht versagt bleiben kann, was andern schätzbaren Büchern zusteht: „stiller Fleiß“ des Lesens, und mehr: des „Sammelns“,23 „der Biene gleich, die ihren Honig von allerlei Blumen sammelt“.24 Indem sich in verdächtiger Weise die Lesemetapher und das Bild der Biene aus der Metaphorik des sensus spirit(u)alis25 Zutritt verschaffen, erstaunt nicht, dass der sensus spirit(u)alis wiederkehrt als der Geist des ganzen Buches. „Jedes Buch muß in seinem Geist gelesen werden, und so auch das Buch der Bücher, die Bibel“.26 Kann also dem Buch der Bücher Geist schon deshalb nicht versagt werden, weil in Umkehrung vormoderner Verhältnisse Geist jedem Buch zusteht, so mag nun auch aufgehen, dass der Geist dieses Buches „offenbar Geist Gottes ist, von Anfange bis zum Ende, der seinen Ton und Inhalt von der höchsten Höhe bis zur tiefsten Tiefe stimmet“.27 So ist die Heilige Schrift immer noch die cithara28 des geistlichen Schriftsinns, die als das Saitenspiel, das sie ist, das „Saitenspiel“29 der menschlichen Seele vom Höchsten bis zum Tiefsten zum Erklingen bringt. Beim Buch der Bücher liegen Abweisung und Wiederherstellung unter verkehrten Bedingungen ganz nahe beieinander. Nach Funktion und Funktionsorten dieser Formel ist zu fragen. Ihr Unterschied zu Formeln wie: Ein Buch wie das andere oder: Das Buch unter Büchern ist deutlich. Sie vervielfältigt nicht ins Unendliche; sie verdoppelt. Sie tut dies auf so ersichtliche Weise, dass man nicht sagen kann, das Buch der Bücher sei das eine Buch, also dasjenige, dem unliebsame Dinge wie Absolutheit und Totalität nachgesagt werden. Das Buch der Bücher aktiviert eine Eigentümlichkeit des Hebräischen. Gerade was Bücher anlangt, kennen wir das Hohelied als ( שׁיר השׁיריםᾆσμα ᾀσμάτων/canticum canticorum), und ihm kommt 22
Herder, ebd. 146,15. Herder, ebd. 263,26–264,4. 24 Herder, ebd. 148,30 f. 25 Hugo v. St. Viktor, Didasc. IV 1, FChr 27, 270 f; V 2, FC 27, 320 f. Spitz, Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns 1972, 76 Anm. 11; 89 f. Illich, Im Weinberg des Textes 1991, 58. 26 Herder, ebd. 257,4–6. 27 Herder, ebd. 257,6–9. 28 Hugo v. St. Viktor, Didasc. V 2, FChr 27, 318 ff. Spitz, ebd. 225 Anm. 5. 29 Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1769‑)1772, WW 1, 697,24.26; 705,30; Viertes kritisches Wäldchen 1769, WW 2, 347,37; 348,18; 353,26; 406,8; Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1775‑)1778, WW 4, 349,15; 351,24 f; Über die Wirkung der Dichtkunst 1777/78, WW 4, 154,25; Briefe, das Studium der Theologie betreffend, WW 9/1, 229,33. 23
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
offenbar zu, ein Buch der Bücher zu sein, irritierenderweise nach dessen eigenem Zeugnis. Auch ohne Bezug auf Bücher ist die Formel gebräuchlich, קדשׁ קדשׁיםExodus 26,33, κύριος κυρίων Apokalpyse 19,16. Man würde sich mit der Auskunft zufriedengeben, es handle sich um „a periphrasis for the superlative“,30 wenn man nur wüsste, wie im Hebräischen der Superlativ ohne sie ausgesagt werden kann. Folglich bedient sich, wer vom Buch der Bücher spricht, nur eines hebräischen Superlativs. Und ferner trifft diese Wendung nicht nur auf die Heilige Schrift zu, bei der sie hängen blieb, sondern bezeichnet jeden Fall, in dem sich ein Buch andern gegenüber auszeichnet, auf die es sich gleichwohl bezieht, sei es im Rechtswesen das Corpus, das Teilsammlungen umfasst, im Rechnungswesen das Hauptbuch, das die Buchführung zum Überblick zusammenführt (und sei es als Kontobuch), im Archivwesen das Findbuch, das unüberschaubar viele Bücher erschließt, im Bibliothekswesen der πίναξ oder catalogus, der seine Verwandtschaft zum κανών nie verleugnet.31 Zwei Merkmale ergeben sich. Erstens: Gewiss kann das Buch der Bücher als realer Gegenstand in eine Reihe gestellt werden mit anderen, tritt aber gleichwohl aus der Reihe heraus, weil es sich auf alle bezieht, häufiger benutzt und dementsprechend abgegriffener ist. Zweitens: Die Bezeichnung Buch der Bücher mag zwar speziell mit der Bibel verbunden sein, greift aber darüber hinaus. Sie trifft auf alle Verhältnisse zu, wo Buch auf Buch stößt: eins auf viele. Die Verdopplung unterscheidet sich von Vervielfachung durch Unterbrechung von Serialität; sie bricht die erste Ebene durch Erschaffung einer zweiten, die sich durch klare Bruchkante unterscheidet. Gilt also das Superbuch als solches, das viele, womöglich alle Bücher erschließt, umschließt, ersetzt, erspart, dann folgt es dem Motto „In uno omnia“. So in der Theologie, sobald sich nach dem Gleichnis von der kostbaren Perle (una pretiosa margarita) alle Schätze konzentrieren in einem.32 So seit Gregor Reischs Margarita philosophica in Topik und Enzyklopädik, sobald sich nach dem emblematischen, auf Elia in der Wüste bezogenen Motto „Ex uno omnia“ das Wissen von Vielem verdichtet im Wissen des Einen.33 Allerdings sind Unterscheidungen zu beachten, die uns fortan begleiten werden. Es macht erstens einen Unterschied, ob das Buch der Bücher als gegebenes gilt oder als allererst zu bildendes. Während die Theologie die Perle als gefundene präsentiert, erscheint sie der Enzyklopädie als noch und immer erst zu findende, und so nimmt das in Aussicht genommene Superbuch, das in der Ferne liegt, utopische Züge an.34 Während die zeitliche Ausrichtung des Aune, Revelation 17–22, 1998, 911. Außerdem Schäfer, König der Könige 1974. Jochum, Kleine Bibliotheksgeschichte 1993, 28–30, 48–50. 32 Luther, Op. in ps. 1,1, WA 5, 27,11–13/AWA 2, 29,7–9: Mt 13,45 f. 33 Reisch, Margarita philosophica 11503. Das Elia-Emblem bei Schmidt-Biggemann, Topica universalis 1983, X. 34 J. V. Andreae, Confessio fraternitatis R. C. 1615, cap. 4, GS 3, 202: sic legere in uno libro, ut quidquid omnes libri, qui fuerunt, sunt, prodibunt, habuerunt, habent, atque habituri sunt, legas. J. A. Comenius, Der Weg des Lichtes 1997, 4 [dort kursiv]: „ein universales Buch […], 30 31
1. Die Verdopplung des Buches
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Buchs der Bücher in entgegengesetzte Richtungen weist, bleibt seine Form für sich genommen dieselbe. Dass auch die zeitliche Ausrichtung dieselbe wird, geschieht erst, wenn, wie bei Herder zu sehen, die Wendung vom Buch der Bücher sich von der Bibel löst. Im selben Moment verwandelt sich die Bibel aus der Gabe in eine Aufgabe, die noch zu bilden ist.35 Dann wechselt die Bezeichnung Bibel vom gegebenen Buch zum zu schreibenden. In der Generation nach Herder betrieb einerseits Friedrich Schlegel das „Bibelprojekt“, indem er anstelle der abgegangenen Bibel den Roman als Gattung der Gattungen und Form der Formen in die Lage bringen wollte, den Bogen von Anfang bis Ende zu spannen, der dem der vormaligen Bibel gleichkomme,36 während andererseits Novalis, der sich kritisch hierzu äußerte, im Zeichen der Idee des Buches die Enzyklopädistik vorantrieb.37 Allerdings vermieden beide, vom Buch der Bücher ausdrücklich zu sprechen. Zwei Resultate sind daraus zu ziehen. – Einmal: Die Wendung vom Buch der Bücher ist unabhängig von der Bibel, auf die sie gleichwohl meist sprichwörtlich bezogen wird. Wo immer Bücher sind, stellt sich die Frage nach dem Buch der Bücher, unabhängig von der zeitlichen Ausrichtung. Nicht gebunden an die Vergangenheit, vielmehr unbefriedigt, ungesättigt geblieben durch sie, neigt sie der Zukunft zu und nährt die Erwartung, das Buch der Bücher sei in dem Maß, in dem es nicht gegeben ist, keine Sache der Rezeption, sondern der Produktion. Als solche nehmen wir diese Wendung in die Lesetheologie auf. Da aber faktisch Lesetheologie nur stattfindet unter Bedingungen eines Überhangs von Rezeption, ist genauer zu formulieren: Das Buch der Bücher erinnert an die noch ausstehende Seite der Produktion, deren Bedeutung unermesslich im Steigen ist. – Zudem: Die Wirksamkeit der Wendung vom Buch der Bücher ist sogar unabhängig von ihrer faktischen Erscheinung. Sie wirkt auch so. Novalis und Schlegel folgen ihr, ohne von ihr Gebrauch zu machen. Folglich kommt ihre Wirkung selbst dann zum Zuge, wenn sie nominell verschwunden ist. Wo immer Bücher sind, kann die Suche nach dem Buch der Bücher nicht unterbleiben. Es macht zweitens einen Unterschied, ob das Buch der Bücher, einerlei ob gegeben oder aufgegeben, ein solches ist, das als eigenes Buch zu den Büchern hinzutritt, wie es bei Bibel oder Enzyklopädie der Fall ist, oder ob es einfach die unter dessen Anleitung der menschliche Geist allmählich aus der Finsternis ans Licht gelangen könne“. 35 Fichte, Deduzierter Plan 1807, § 21, SW 8, 128: Idee eines „grossen Buches“. 36 F. Schlegel an Novalis, 2. 12. 1798, NS 4, 506 f. Zum Roman als Bibel: Fragmente zur Litteratur und Poesie 1797–1801, V 423, FSKA 16, 120; 460, FSKA 16, 123; IX, 135, FSKA 16, 265; 186, FSKA 16, 269; Philosophische Fragmente 1798, II 598, FSKA 18, 78. 37 Novalis an F. Schlegel, 7. 11. 1798, NS 4, 262 f: „Du schreibst von Deinem Bibelproject und ich bin auf meinem Studium der Wissenschaft überhaupt – und ihres Körpers, des Buchs – ebenfalls auf die Idee der Bibel gerathen – der Bibel – als des Ideals jedweden Buchs. […] Dies soll nichts anders, als […] die Einleitung zu einer ächten Encyklopaedistik werden.“ Ders., Das allgemeine Brouillon 1798/99, Nr. 557, NS 3, 363; Nr. 571, NS 3, 365.
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
Summe der Bücher darstellt, die es umfasst, ohne ein selbständiges Buch zu bilden. Hier ist genauer hinzuschauen. Im ersten Fall entsteht eine Konfiguration, in der die Bibel die Bücher, deren Buch sie zu sein versucht, außerhalb ihrer selbst hat und bei diesem Versuch sich durchsetzt oder scheitert. Dann sprechen wir von Bibel und Literatur und meinen damit, dass zur Bibel etwas hinzukommen muss quantitativ und qualitativ, wenn von Literatur die Rede ist. So wird das Verhältnis von Bibel und Literatur häufig verstanden: hier Bibel, dort Literatur. Oder umgekehrt: hier Literatur, dort Bibel. Im zweiten Fall entsteht die Konfiguration, dass die Bibel unerachtet dessen, was sich außerhalb ihrer an möglichen Textmengen von Literatur anhäuft, in sich selbst bereits Literatur und in diesem Sinne Buch der Bücher ist, sodass nichts mehr hinzukommen muss, um ein Verhältnis von Bibel und Literatur am Werk zu sehen, nur in diesem Fall ein solches, das sinnvollerweise Bibel als Literatur genannt und von Bibel und Literatur gebührend abgehoben wird. Natürlich soll damit nicht geleugnet werden, dass es auch außerhalb der Bibel Literatur gibt, nur wird festgehalten, dass die Bibel schon Anlass genug ist, um innerhalb ihrer von Literatur zu sprechen. Es wäre unzweckmäßig, die beiden Konfigurationen miteinander zu vermischen; in dem leicht ins Unübersichtliche entgleitenden Gebiet, in dem sich Bibel und Literatur berühren, wird die Markierung von Nutzen sein. Deshalb soll inskünftig zwischen dem externen und internen Sinn des Buchs der Bücher unterschieden werden, indem der erste mit Bibel und Literatur, der zweite mit Bibel als Literatur gekennzeichnet wird, was Verschränkungen nicht ausschließt, sondern erst ermöglicht. Diese Unterscheidung ist unabhängig davon, ob die Bibel gegeben oder aufgegeben ist. Damit sollte deutlich sein, dass die Form des Buchs der Bücher zwar an der Bibel ein hervorragendes Paradigma besitzt, nicht aber daran gebunden ist. Sondern, Gegebenheit hin, Gegebenheit her, hält es über dem Aspekt des Suchens in der Schrift, die gegeben ist, den Aspekt des Findens einer Schrift, die aufgegeben ist, offen. So steht die Formel Buch der Bücher zwar für eine Suchlehre, steht aber ebenso, wenn nicht mehr für eine Findlehre.
c. Das Buch im Buche Es möchte scheinen, als sei mit den beiden Gegensätzen, die vorgetragen wurden, dem zwischen Gegebenem und Aufgegebenem und dem zwischen Extern und Intern, die sich in Kreuzung zum Quadrupel zusammenfügen lassen, das Feld des zwischen Bibel und Literatur Möglichen insgesamt beschrieben. Die Aufgaben, die vor uns stehen, sind dann so klar wie unauslotbar. Nicht nur bleibt das Schweben zwischen Gegebenem und Aufgegebenem eine ständige Hängepartie, auch das Buch der Bücher in seinem doppelten, externen wie internen Verstand stellt vor Unabsehbares. Ist schon Bibel als Literatur ein unüberschaubares Thema, so Bibel und Literatur erst recht. In beiden Feldern
1. Die Verdopplung des Buches
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kann es höchstens darum gehen, allererste Anfänge einer bevorstehenden Aufgabe präzis zu erfassen. In dieser heiklen Situation taucht zu allem Überfluss eine dritte Konfiguration auf, die weder der ersten noch der zweiten zugehört. Denn mit aller nötigen Schärfe ist festzuhalten: Mehr als Bibel und Literatur auf der einen und Bibel als Literatur auf der anderen Seite gibt es nicht. Prinzipiell erschöpfen die beiden Formen der Explikation und Implikation alle zwischen Bibel und Literatur möglichen Verhältnisse. Grundsätzlich sind Verhältnisse entweder Fremd‑ oder Selbstverhältnisse. Schattierungen dazwischen sind zwar möglich, aber erst dadurch, dass die Eckpunkte so klar sind, wie eben formuliert. Wenn also ein Drittes gegeben sein soll, obwohl es ausgeschlossen ist, entsteht ein Konflikt zwischen den beiden Grundsätzen der klassischen Widerspruchslehre des Aristoteles, dem Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten auf der einen und dem Prinzip Tertium non datur auf der andern Seite. Zwischen beiden besteht eine Differenz, die es nicht erlaubt, durch Erledigung des einen zugleich das andere für erledigt zu halten. Nicht Gleichsetzung regiert zwischen beiden; die Ausschließung des Dritten, wenn sie vollzogen ist, heißt noch nicht, dass das Dritte nicht gegeben ist, sondern eröffnet – wie Elena Esposito argumentiert38 – den paradoxen Sachverhalt, dass das nicht gegebene Dritte allerdings gegeben ist. Genau dies tritt in der Formel vom Buch im Buche ein. Das Buch im Buche beschreibt weder ein Fremd‑ noch ein Selbstverhältnis, sondern ein Selbstverhältnis im Fremdverhältnis. Das ist ein Fall, der durch das Buch der Bücher von vornherein ausgeschlossen ist. Und nur weil er ausgeschlossen ist, wird überhaupt erst bemerklich, wenn er eintritt. Als Drittes wird das Buch im Buche schon daran erkannt, dass es die verschiedenartigen Verhältnisse von Bibel und Literatur hinter sich lässt. Es lässt überhaupt die Zweiheit von Bibel hier, Literatur dort hinter sich. Es ist völlig einerlei, ob auf der einen Seite formuliert wird: Bibel in der Bibel oder auf der anderen: Literatur in der Literatur. Beide Male ist dieselbe Konfiguration am Werk, und deren paradoxe Schärfe würde missachtet, wenn stattdessen formuliert wird: Literatur in der Bibel oder umgekehrt. Solche Formeln fallen sträflich hinter die Paradoxie des ausgeschlossenen und gleichwohl gegebenen Dritten zurück. Angesichts dieser Situation ist zu vermuten, dass die Differenz von Bibel und Literatur, die sich bisher stark, wenn nicht dogmatistisch aufgedrängt hat, auf dem besten Wege ist, vergleichgültigt zu werden. Einerlei, ob Bibel in der Bibel oder Literatur in der Literatur: das grundsätzliche Verhältnis des Buches im Buche bleibt dasselbe. Genau das ist es, was die Formel vom Buch im Buche anstrebt. Erst sie treibt die Verdopplung des Buches auf die Spitze, indem sie den Begriff des Buches sowohl auf etwas bezieht als auch auf sich selbst. Und dies ist die Basis dafür, dass das Buch im Buche sowohl in referentiellem Sinn einen Teil 38
Esposito, Paradoxien als Unterscheidungen 1991, 37 f, 47.
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
des Ganzen wie in selbstreferentiellem Sinn das Ganze und mehr als das bezeichnet, dessen Teil es nach wie vor ist. Martin Luther hat den Psalter in der zweiten Vorrede bekanntlich „ein kleine Biblia […] yn der gantzen Biblia“ genannt. Jedoch bedarf die Art seines Enthalten‑ bzw. Nichtenthaltenseins schärferer Fassung. Ginge es nur darum, ein „Enchiridion odder handbuch“ zu gewinnen, hätte es genügt, die große Bibel in octavo statt in folio zu drucken – ein bemerkenswertes Ereignis in Zürich 1683, wo das Haus Zur kleinen Bibel an den Ort dieses Geschehens erinnert.39 Einerlei ob „kleine Biblia“ oder „kürtze Bibel“, die Ausdrücke dürfen nicht ausschließlich referentiell verstanden werden; erst wenn zugleich selbstreferentiell verstanden, ergibt sich die Paradoxie des Psalters, der, wiewohl Teil „der gantzen Biblia“, so verschieden von ihr ist, dass er „die gantze summa“ enthält, „verfasset yn ein klein büchlin.“40 Ein solches Buch im Buche bleibt nicht ohne Auswirkung aufs Lesen. An sich ein Vorgang, der immerzu nichts als weitergehen kann, gibt es nichts, was das Lesen auf dem Weg ins Unendliche zum Halten bringen könnte. Auch das Buch im Buche wird gelesen, wie sollte es anders sein. Dementsprechend wird, folgt man Luther, auch der Psalter, zumal er aus nichts als der Textmasse der Psalmen besteht, gelesen.41 Zugleich überrascht, dass Luther das Lesen des kleinen Büchleins auch solchen empfiehlt, die das Bibelbuch als ganzes „nicht lesen“,42 was deutlich macht, dass das Lesen, während es an sich ins Unendliche ginge, zugleich ein Nicht-Lesen voraus‑ und aus sich heraussetzt, Nicht-Lesen von durchaus Lesbarem. Also werden wir beim Lesen des Buches im Buche eines Lesens in Potenz ansichtig, das nicht nur liest, sondern im Lesen und um des Lesens willen nicht liest, wobei das Nicht-Gelesene an Menge das Gelesene weit übersteigt. Für das, was im Nicht-Lesen geschieht, zögert Luther nicht, eine ganze Reihe von Tätigkeiten aufzuzählen: Riechen,43 Schmecken,44 Brennen,45 Hören,46 Sehen,47 Sinnestätigkeiten also, die an sich durch die Abstraktionsleistung des Lesens auf Distanz gehalten werden sollten und deren Verbandelung mit Nicht-Lesen schon deshalb keinen geringen Anspruch auf Evidenz hat. Der vormoderne Psalter ist ein Buch reichster Sinne und unterscheidet sich dadurch vom bloßen Buche, das in aller Regel sinnenarm ist. Darin dürfte der Sinn der Konfiguration des Buchs im Buche liegen. Hier kann es nicht darum gehen, bereits alle Gesichtspunkte zu erfassen, 39 Storchengasse 19. Gleichenorts und gleichzeitig aber auch: Die kleine Bibel: Das ist / Der Psalter Davids 1673, Rudolf Gwalthers Standardwerk, bis ins 19. Jahrhundert vielfach gedruckt. 40 Luther, Vorrede auf den Psalter 1528, WA.DB 10/1, 98,22–100,2. 41 Luther, ebd. 100,6; 104,15. 42 Luther, ebd. 100,1. 43 Luther, ebd. 98,9; 100,6 44 Luther, ebd. 104,18 f. 45 Luther, ebd. 102,21. 46 Luther, ebd. 100,28.30; 104,16. 47 Luther, ebd. 100,23.29; 102,9 ff.13 ff; 104,16.
2. Was ist Heilige Schrift?
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die damit auf uns zukommen. Nur darauf ist aufmerksam zu machen, dass das Buch im Buche im Fortgang des Lesens eine Markierung setzt, die besagt, dass es mit Lesen, das an sich ins Unendliche weitergeht, nicht bis ins Unendliche weitergeht. Gerade im Fortgang des Lesens und nur auf diese Weise, das heißt lesenderweise, kommt so etwas wie Nicht-Lesen in den Blick, und zwar dadurch, dass das Lesen des Buches im Buche, wiewohl nur Lesen von wenigem, mit dem Nicht-Lesen des Buches, das viel mehr zu lesen gegeben hätte, in einer Kollusion steht, die weiterer Aufklärung bedarf.
2. Was ist Heilige Schrift? Wenn Schrift Näherbestimmung von Buchstabe, Text Näherbestimmung von Schrift, Literatur Näherbestimmung von Text ist, und Buch Näherbestimmung von Literatur, dann ist Heilige Schrift wohl eine Näherbestimmung dieser Näherbestimmungen. Sie bringt den lesetheologischen Prozess zum Ziel. Dieser geht soweit, bis er eine Heilige Schrift gefunden hat. Seine Gangart ist eine solche in Asymmetrien des Lesens. Je weiter er gelangt, je größer sein Blick wird, desto kleiner das umschlossene Feld. Mit Luther: Wie der Psalter Klein-Bibel in der Bibel ist, Buch im Buche, so die Heilige Schrift Klein-Literatur in der Literatur. Das Kleinere ist das Umfassendere. Und mit der Ausschließung dessen, was nur Literatur ist, tut die Heilige Schrift, was bereits die Literatur getan hat, als sie ausschloss, was nur Text war, usw. usf. Aber wie kommt es, dass in der Heiligen Schrift die ἱερὰ γράμματα wiederkehren, obwohl sie ausgeschlossen sind? Und wenn ἱερὰ γράμματα noch einmal, dann auch Schrift, Text, Literatur noch einmal. In der Tat, sie kehren wieder als ausgeschlossene, nicht als solche, die sie für sich waren. Wollen wir das Widerspiel zwischen den Kräften der Ausschließung und den Kräften der Wiederkehr und Wiederholung genauer betrachten, scheint es sinnvoll, vom Einfacheren zum Schwierigeren, vom Klareren zum Vertrackteren voranzugehen. In Aufnahme der gefundenen drei Konfigurationen beginnen wir mit der einfachsten, Bibel und Literatur. Hier darf man sicher sein, dass die Bibel alles, was bloß Literatur ist, soweit möglich außerhalb ihrer hat. Anders bei Bibel als Literatur. Hier tritt die Literatur der Bibel, der sie fern sein sollte, unerwartet nah. Als ausgeschlossene zieht sie in die Bibel ein. Und erst recht und in unübertrefflicher Weise, wenn zwischen Bibel in der Bibel und Literatur in der Literatur gar nicht mehr unterschieden wird, sondern eins ist wie das andere. Mit dieser Anordnung von Typen48 hoffen wir den Punkt zu treffen, an dem die Doppelaufgabe Heilige Schrift und Psalter Gestalt gewinnt. In ihr wieder48 Schmidt/Weidner (Hg.), Bibel als Literatur 2008, stellvertretend für die Forschungsrichtung Bible as literature; Weidner, Bibel und Literatur um 1800 2011, stellvertretend für zahlreiche Werke derselben Ausrichtung, und Polaschegg/Weidner, Das Buch in den Büchern
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
holt sich, was zu Literatur und Bibel vorbereitet wurde. Obgleich der Psalter von der Heiligen Schrift mitumfasst wird, muss er als das Umfassendere aus der Heiligen Schrift hervortreten. Wo bleibt das Buch? Lässt sich die lesetheologische Linie vom Buchstaben zur Heiligen Schrift durchziehen ohne Berücksichtigung des Buches? Zwar konkurrieren am Ende die beiden Begriffe Heilige Schrift und Bibel um dasselbe, und damit ist das Buch (τὰ βιβλία) zur Stelle, sei es als die Bücher oder das Buch. Aber im Rückblick ist klar, dass das Buch keine starke Funktion in der direkten Falllinie der Lesetheologie gewinnt. Es liegt daneben. Literatur kann die Gestalt eines Buches annehmen, muss nicht. Ein Buch kann Texte umfassen, die nicht qualifiziert literarisch sind, auch Schriften und Buchstaben. Und was hinzukommt: Es gibt nicht nur Textbuch, sondern auch Telefonbuch, Kursbuch, Bilderbuch, Gesangbuch und dergleichen mehr. Deshalb sprechen wir der Buchform eine gewisse Unabhängigkeit von der Heiligen Schrift zu. Sie überschneidet sich, deckt sich aber nicht mit ihr. Das Buch hat eigene Formgesetze, denen zufolge es als Buch unter anderen, Buch des Buches und Buch im Buche erscheint. Auch unterliegt das Label Bibel keinem Schutz, sondern kann, gemäß dem Formgesetz des Buches, auf Bücher übertragen werden, die keine heiligen Schriften sind, Schriften aber gleichwohl, wie es etwa bei den Bibeln des Bergsteigens, des Autofahrens, des Gartenbaus – oft auch ABC genannt – der Fall ist, dazu metaphorische Bücher wie Natur‑ und Geschichtsbibel. Also kommen in der Heiligen Schrift zwei Stränge zusammen, die nicht von Anfang an beieinander waren, der literarische und der buchförmige. Es scheint, als ob keiner allein genügt. Völlig klar ist auf der einen Seite, dass das Buch nicht genügt, um Heilige Schrift zu bestimmen; es ist zu leer, und selbst das Buch der Bücher reicht nicht hin, um Heilige Schrift zu beschreiben; es könnte sich um ein Handbuch oder eine Enzyklopädie handeln. Also bedarf das Buch der Bücher zusätzlicher Qualifizierung, um als Heilige Schrift identifiziert zu werden. Diese bezieht es aus der Reihe Buchstabe, Schrift, Text, Literatur. Nicht in derselben Weise klar ist auf der anderen Seite, weshalb Heilige Schrift nicht genügen sollte, um das Buch der Bücher zu bestimmen. Im jetzigen Stand der Überlegung hängt dies daran, dass noch zu wenig geklärt ist, was in aller Welt die Literatur dazu nötigen solle, zur Heiligen Schrift voranzuschreiten. Das ist eine Zumutung, zu der sie sich zu Recht auf Distanz begibt. Und doch streift sie immer daran, was sie vielleicht lieber unterlassen sollte. Sie streift daran, weil sie Fragen des Kanons und der Kanonbildung nicht den Heiligen Schriften überlässt, sondern selbst schon beantwortet, indem sie sich von bloßen Texten unterscheidet. Sie streift daran, indem sie allen Verdikten zum Trotz von selbst an so etwas wie heilige Literatur, sacra poesis, rührt oder sich durch die Heftigkeit 2012 – Titel, die jedoch nicht beabsichtigen, sich der hier in Vorschlag gebrachten strengeren Differenzierung zu unterwerfen.
2. Was ist Heilige Schrift?
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der Aversion verrät. Und sie streift daran, indem sie mit dem Allerweltswort des Poetischen, ποιεῖν, ein Grundwort des Theologischen in Gebrauch nimmt, was konfliktuöse Berührung unvermeidlich macht. Für uns ist die Frage Was ist Heilige Schrift? nur soweit von Belang, als sie aus Was ist Literatur? hervorgeht. Aus dem buchgesetzlichen Gesichtspunkt allein ist sie nicht zu beantworten. Die Antwort, die Heilige Schrift sei diejenige, die die Form des Buchs der Bücher erfüllt, ist für sich allein ein unsinniger Oktroi. Stattdessen ist zu fragen, was die Literatur nötigt, die Asymmetrie einer Heiligen Schrift aus sich herauszusetzen.
a. Bibel und Literatur Lesen hat seine eigene Unendlichkeit, und es ist weit und breit nichts sichtbar, was sie beschneiden könnte. Wird sie beschnitten, erweist sich Lesen allein schon als Technik stärker und setzt sich durch. Zwar ist die Einrichtung eines Lesekanons möglich, wird aber schon durch die bloße Technik des Lesens unterlaufen. So betrachtet ist der biblische Kanon obsolet von vornherein. Wird er behauptet, bleibt nichts als Flucht in die Literatur. Nur in ihr darf man hoffen, der Willkürlichkeit der Begrenzung zu entgehen. Bibel und Literatur treten einander entgegen wie Kanonisches und Unkanonisches, und vor die Wahl gestellt, welches von beiden man zu lesen wünscht, legt die Technik des Lesens, die wir als unabwählbar voraussetzen, nahe, nur Unkanonisches zu lesen. Das heißt, auch Kanonisches kann nur gelesen werden als Unkanonisches, wenn es denn tatsächlich gelesen werden soll. So ist bei der Konfiguration Bibel und Literatur klar, wer Verursacher der Lesebeschränkungen ist. Es ist die Bibel, die den Kanon mutwillig in die Welt setzt. Die Bibel steht für Gebundenheit des Lesens, Literatur für Ungebundenheit. Kaum ist die Unterscheidung ausgesprochen, die der Bibel eine Stellung irgendwo zwischen Anmaßung und Ungeheuerlichkeit zuschiebt, wendet sich die Betrachtung. Solange die Literatur der Bibel entgegengesetzt ist, behält sie ihr Markenzeichen, die Ungebundenheit; sobald sie aber auf sich allein gestellt sagen soll, was Literatur ist, macht sie selbst vom Kanon Gebrauch.49 Gelesen wird viel, gelesen wird alles, was Text ist, aber nicht alles, was Text ist, ist Literatur. Die Ungeheuerlichkeit, die auf der Bibel lastet, ist auch der Literatur nicht fremd. Wenn Kanon etwas zu tun hat mit Wiederholung, dann ist Kanonbildung der Literatur schon deshalb nicht fremd, weil ihr die Wiederholung nicht fremd ist. Etwas Ähnliches würde man auch für die Bibel in Anspruch nehmen. Nur insofern darf man ihr Kanonbildung zubilligen, als ihr die Wiederholung nicht fremd ist. Die Folge ist, dass sich die Differenz zwischen Bibel und Literatur, die gravierend schien, nivelliert. Jede von beiden tut Vergleichbares. Die Frage lautet, ob Gründe namhaft zu machen sind, die verhindern, dass die Vergleich49 Weimar, Enzyklopädie der Literaturwissenschaft, §§ 71 f, 87 f: „Gruppe von Texten“; Küpper, Was ist Literatur? 193, 207: „canon“/„Kanon“.
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barkeit sich zur Selbigkeit steigert. Dann wäre die Differenz nicht nur nivelliert, sondern aufgehoben. Dann würde in Bibel und Literatur ein Element überflüssig. Ist nichts Unterschiedenes zu verbinden, entfällt das „und“. Dann verschwindet die Differenz und Bibel als Literatur kommt in Sicht. Kanonisierung Bekanntlich hat Athanasius von Alexandrien die Dreiheit des Kanonizitätsgrads modifiziert, die vor ihm in Gebrauch war. Hatte Origenes unterschieden zwischen ὁμολογούμενα (allgemein anerkannte), ἀμϕιβαλλόμενα (in ihrer Echtheit umstrittene) und ψευδῆ (von Häretikern unterschobene Schriften), Euseb ihm folgend zwischen ὁμολογούμενα (allgemein anerkannte), ἀντιλεγόμενα (umstrittene) und νόθα (als unecht zu verwerfende Schriften), so hat nach Auffassung Wilhelm Schneemelchers Athanasius die Dreizahl der Rubriken auf zwei reduziert. Er unterscheidet nur noch zwischen kanonischen und apokryphen Stücken.50 Die Terminologie ist verwirrend. Während wir Apokryphen eine Textgruppe zwischen Altem und Neuem Testament nennen, die minderen Ranges, aber nicht schlechterdings zu verwerfen ist, sind die ἀπόκρυϕα des Athanasius identisch mit den ψευδῆ des Origenes und den νόθα des Euseb: sie sind schlechthin zu verwerfen. So wäre die athanasianische Zweiteilung eine direkte Basis für die zeitgenössische Zweiteilung von Bibel und Literatur und hätte nicht nur Kirchengeschichte, sondern Geschichte gemacht. Jedoch die verlorene mittlere Rubrik findet sich bei Athanasius rasch wieder. Er unterscheidet in den nichtkanonischen Schriften eine Gruppe, die weder kanonisch noch apokryph genannt zu werden verdient. Nach der Auflistung der kanonischen Schriften beider Testamente fährt er fort: Ἀλλ᾽ ἕνεκά γε πλείονος ἀκριβείας προστίθημι δὴ τοῦτο γράϕων ἀναγκαίως, ὡς ὅτι ἔστι καὶ ἕτερα βιβλία τούτων ἔξωθεν, οὐ κανονιζόμενα μέν, τετυπωμένα δὲ παρὰ τῶν Πατέρων ἀναγινώσκεσθαι τοῖς ἄρτι προσερχομένοις καὶ βουλομένοις κατηχεῖσθει τὸν τῆς εὐσεβείας λόγον· Σοϕία Σαλομῶντος, καὶ Σοϕία Σιράχ, καὶ Ἐσθήρ, καὶ Ἰουδίθ, καὶ Τωβίας, καὶ Διδαχὴ καλουμένη τῶν Ἀποστόλων, καὶ ὁ Ποιμήν. Καὶ ὅμως, ἀγαπητοί, κἀκείνων κανονιζομένων, καὶ τούτων ἀναγινωσκομένων, οὐδαμοῦ τῶν ἀποκρύϕων μνήμη· […].
Aber um der größeren Genauigkeit willen muss ich, wenn ich dieses schreibe, notwendigerweise noch hinzufügen, dass es auch noch andere Bücher außer diesen gibt, die zwar nicht kanonisiert sind, aber von den Vätern zur Lektüre für diejenigen bestimmt wurden, die neu hinzutreten und in der Lehre der Frömmigkeit unterwiesen werden wollen: die Weisheit Salomos, die Weisheit Sirachs, Esther, Judith, Tobias, die sogenannte Lehre der Apostel und der Hirte. Und wiewohl jene, ihr Lieben, kanonisiert sind und diese der Lektüre dienen, so sind die Apokryphen nirgendwo erwähnt […].51
50 Schneemelcher, Art. Bibel III 1980, 42,15 ff; 43,38 ff; 44,45 ff. Vf., Kanon, Kanon und Wiederholung 2003, 262–267. 51 Athanasius von Alexandrien, Ep. 39 (Osterfestbrief 367), PG 26, 1437C–1440A/ NTApo (Schneemelcher) 1, 40.
2. Was ist Heilige Schrift?
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Für die eröffnete Mittelgruppe hat Athanasius keinen selbständigen Terminus. Was er aufzählt, verbleibt in der Ambivalenz zwischen κανονιζόμενα und ἀπόκρυϕα, erstere genannt, letztere nicht einmal das. Die zwischen dem Kanon der Bibel und der Apokryphizität der Literatur angesiedelte Gruppe stört die Schärfe der Unterscheidung. Davon handelt der Satz mit dem charakteristischen und, wie zu sehen sein wird, formbildenden μὲν/δέ (zwar/aber). Seiner Ambivalenz entsprechend handelt es sich um einen Schaukelsatz. Die mittlere Gruppe von Texten, sagt Athanasius, wird zwar gelesen, aber nicht kanonisiert. Zwar/aber ist ein Element der Asymmetrie, dem für den Fortgang der Lesetheologie allergrößte Bedeutung zukommt. Entweder hat Hieronymus die Wendung des Athanasius direkt aufgenommen oder neu erfunden. In der Vorrede zu den Büchern Salomons, die auch als Vorrede zu den Hagiographen insgesamt gilt, schreibt er: Fertur et παναρετος Iesu filii Sirach liber, et alius ψευδεπιγραϕος, qui Sapientia Salomonis inscribitur. […] Sicut ergo Iudith et Tobi et Macchabeorum libros legit quidem Ecclesia, sed inter canonicas scripturas non recipit, sic et haec duo volumina legat ad aedificationem plebis, non ad auctoritatem ecclesiasticorum dogmatum confirmandam.52
Hieronymus wiederholt die athanasianische Formel οὐ κανονιζόμενα μέν, τετυπωμένα δὲ […] ἀναγινώσκεσθαι unter Umstellung der Glieder: „legit quidem Ecclesia, sed inter canonicas scripturas non recipit.“ Lesen erscheint somit dreifach: es gibt, stillschweigend vorausgesetzt, Lesen-Können überhaupt; es gibt Lesen im Umkreis der Kirche, für Proselyten und Katechumenen bei Athanasius, zur Erbauung des Volkes bei Hieronymus; es gibt schließlich, aber nur innerhalb der Kirche, kanonisches Lesen, und dieses hat seinen Ort in der Versammlung der Gläubigen, in der Liturgie. Sehr präzis hat Hugo von St. Viktor das zwar/aber des Athanasius und Hieronymus im Ohr, wenn er die Liste der kanonischen Bücher Alten und Neuen Testaments zwischen den Testamenten mit den Worten unterbricht: Sunt praeterea alii quidam libri, ut Sapientia Salomonis, liber Iesu filii Sirach, et liber Iudith, et Tobias, et libri Machabaeorum, qui leguntur quidem, sed non scribuntur in canone.53
Gewiss wäre es am einfachsten, wenn die Menge des Lesbaren mit der des Kanonischen zusammenfiele, weil entweder nur Kanonisches für lesbar gilt, oder das Lesbare bestimmt, was für kanonisch zu halten ist. Unsinnig wie beides ist, wird klar: Kanonisierung gibt es nur als Unterscheidung zwischen Lesbarem und Lesbarem. Dieser Aufgabe hat Hugo von St. Viktor sich im Didascalicon gewidmet. Im Unterschied zu den Wissenschaftslehren Augustins, Cassiodors, 52
Hieronymus, Prol. in libr. Sal. (ca. 398), in: Biblia sacra (Weber) 2, 957,13–21. Hugo v. St. Viktor, Didasc. IV 2, FChr 27, 274 (1125/27). Der Text aus der Vorrede des Hieronymus wird IV 8, FChr 27, 294 zitiert. 53
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Isidors von Sevilla und des Hrabanus Maurus beansprucht das Didascalicon, im bloßen Verfolg von Lesen (lectio) zur Einsicht in die Kanonizität von Schrift zu gelangen und dementsprechend auch zur Einsicht in Theologie. Theologie entsteht durch Auffindung von Heiliger Schrift in den Schriften; theologia ist sacra pagina. Theologie entsteht im Verfolg von Lesen oder – mit dem Untertitel des Didascalicon – durch studium legendi. Im Lesen geschieht der Überschritt von der lectio saecularium artium lb. I–III zur lectio divinarum scripturarum lb. IV–VI. Letztere werden nicht gelesen schlechthin, sondern göttlich gelesen, nicht nur im literalen, sondern auch im spiritualen Sinn, nicht nur ein-, sondern vielsinnig.54 Der lectio kommt eine begrenzte Aufgabe zu. So sehr sie zur Erreichung von Theologie alles ist, ist sie nur Teil. Sie initiiert den Weg, der über meditatio, oratio, operatio zur contemplatio führt.55 Doch ihre Aufgabe als Initium erfüllt sie nur, wenn sie bereits zuunterst göttliches Lesen unterscheidet von Lesen überhaupt, Heilige Schrift von Schrift überhaupt. Auch Martin Luther steht in der Tradition des zwar/aber, nicht wörtlich, jedoch dem Sinn nach. Seit 1534 findet sich in der Deutschen Bibel beim Übergang zu den Apokryphen die folgende Notiz: APOCRYPHA: DAS SIND BÜCHER: so der heiligen Schrifft nicht gleich gehalten / vnd
doch nützlich vnd gut zu lesen sind / Als nemlich / I Judith. II Sapientia. III Tobias. IIII Syrach. V Baruch. VI Maccabeorum. VII Stücke in Esther. VIII Stücke in Daniel.56
Im Unterschied zu den Kanonlisten zu Beginn von Altem und Neuem Testament dürfte diese Notiz der einzige Kanontext57 sein, den Luther selbst formuliert hat. War bereits bei Athanasius auffallend, dass die Erfordernis der Genauigkeit (ἀκρίβεια), die an sich dem Kanon vorbehalten ist, sich auch auf die Mittelgruppe erstreckt, so erstaunt erst recht Luther, der durch senkrechte Anordnung und Bezifferung den Eindruck einer formvollendeten Kanonliste erweckt, wiewohl am falschen Platz. Nun läuft nicht nur der Begriff des Lesens quer durch alle Rubriken hindurch, was anginge, sondern der Kanon 54 Während die Hauptstrukturen ordo und modus legendi sich wiederholen (säkular III 1.8 f; theologisch IV 2 ff; V 1 ff; VI 1 ff.12), entsteht die Differenz zwischen Lesen überhaupt und göttlichem Lesen durch die kleinere oder größere Anzahl der Schriftsinne (V 2 ff; VI 1 ff). 55 Hugo v. St. Viktor, Didasc. V 9, FChr 27, 348 ff. 56 Luther, WA.DB 12, 2,1–4: waagrechte Anordnung; ders., Die gantze Heilige Schrifft 1972, 1674,1–11: senkrechte Anordnung. 57 Hölter, Kanon als Text 1997, 22: der „Kanontext“ installiert den „kanonischen Text“.
2. Was ist Heilige Schrift?
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verlässt seinen Ort und dehnt sich auf Nichtkanonisches aus. Jetzt oszilliert nicht nur die Lesbarkeit, sondern auch die Kanonizität. Und es zeichnet sich eine Hierarchie von Textgruppen ab, denen mit absteigendem Gefälle Prädikate zuzuordnen sind wie Unbedingt zu lesen, Nützlich und gut zu lesen und Zu lesen, und während die ersten beiden in kanonischen Listen erfasst sind, geht die letzte in Unübersichtlichkeit aus. Wo liegt die Grenze zwischen Kanonischem und Nichtkanonischem? Einerseits aus dem Kanon ausgeschlossen, andererseits seiner Form unterworfen: das macht Luthers Apokryphen so interessant. Luthers Vorreden auf die Apokryphen enthalten eine erstaunlich konsistente Kriteriologie. Unterscheiden sie sich vom Kanon des Alten Testaments dadurch, dass sie nur griechisch überliefert sind, müssen sie auch mit Kategorien griechischer Poetik gelesen werden. Für den Aspekt der Produktion bemüht Luther den Schulkatalog klassischer ars dicendi oder scribendi. Wer ist der Autor? Welcher Inspirationsgrad kommt ihm zu? Geht der Text auf einen Autor zurück oder ist er zusammengeflickt aus vielen? Eine Grenze übersteigen die Apokryphen nicht; sie kennen nur menschliche Autorschaft, nicht die des Heiligen Geistes. Gerade deshalb werden poetische Elemente gerühmt: nomina loquentes und prosopopoietische Rede sub persona alicuius. Und welche Gattung? Mit Aristoteles unterscheidet Luther zwischen Tragödie und Komödie, Gedicht und Geschichte. Für den Aspekt der Rezeption liefern die Vorreden lesepraktische und lesetheoretische Hinweise in großer Zahl. Anders als kanonische Schriften unterliegen die Apokryphen den Kriterien klassischer Poetik; Qualitätsgefälle ist erkennbar; sie sind mehr oder weniger nützlich und gut zu lesen. Sie stehen unter der Konkurrenz der klassischen Antike; besser Äsop als schlechte Apokryphen.58 So bilden sie den Vortrupp einer größeren Textgruppe, die zwar nicht in die Bibel gelangte, es aber könnte. Zwischen den Kanon Heiliger Schrift und der unübersichtlichen Menge von Texten überhaupt tritt, nach Luthers Vorreden zu den Apokryphen, präzis das Gebiet, das wir Literatur nennen. Dass wir diese nicht mehr nach Gesichtspunkten des Nützlichen (utile, prodesse), Guten (bonum) und, wie wir hinzufügen, des Schönen (pulchrum) beurteilen, hindert nicht, dass sie im entscheidenden Punkt mit Luthers Kriteriologie übereinkommt. Sie ist selbst eine Art Kanon am Rande und außerhalb des Kanons. In Luthers Deutscher Bibel erhebt sich der Kanon Heiliger Schrift nicht unvermittelt aus Texten überhaupt, sondern wird durch eine Textgruppe präludiert, die als Apokryphen teils in, als klassische Literatur teils außerhalb der Bibel steht. Sie heißt Literatur. Was Heilige Schrift ist, kann somit nicht bestimmt werden ohne Rücksicht auf Literatur, jenes Zwischengebiet, das „zwar“ eingeschlossen, „aber“ ausgeschlossen ist.
58
Nachweise: Vf., Kanon, Kanon und Wiederholung, 266 f.
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
Entkanonisierung Kanonische Schriften sind τὰ κανονιζόμενα; zur Kanonbildung bedarf es menschlicher Energie. Seit Athanasius von Alexandrien entsteht Kanon durch Kanonisierung. Wo Kanonisierung, da ist auch Entkanonisierung. Die freie Untersuchung des Kanons hat sich erst seit Johann Salomo Semler etabliert,59 der Sache nach muss sie aber dem Kanon von Anfang an eigen gewesen sein. Probe auf Kanonisierung ist die Entkanonisierung. Hier zeigt sich: Entkanonisierung der Heiligen Schrift, die zur Folge hat, dass von Bibel und Literatur die Bibel abhandenkommt, gibt die Kanonisierung ungesäumt an die Literatur weiter, wo sie sich wiederholt. Meist werden Kanonisierung und Entkanonisierung als unumkehrbares Gefälle vorgestellt; Ausdrücke wie Säkularisierung, Modernisierung, Dechristianisierung sind in aller Munde. Wo Bibel war, soll Literatur werden; wo kanonische Bindung, da literarische Freiheit. Nun zeigte sich aber von Athanasius bis Luther, dass Kanonisierung nicht nur nach innen, sondern auch nach außen wirkt und Entkanonisierung aus sich heraussetzt. Apokryphen, die Stellvertreter von Literatur in der Heiligen Schrift, werden nicht ausgeschieden, sondern erhalten Platz. Ihre Qualifikation als nützlich und gut zu lesen, die wir durch schön zu lesen ergänzten, dürfen wir als frühneuzeitliche Formulierungen dafür nehmen, dass es sich um Texte handelt, die literarisch zu lesen sind. Sie sind mit dem Ausdruck der Orthodoxie ἀναγινωσκόμενα (Lesenswertes) oder mit dem unseren Literatur. Wenn Kanonisierung von Anfang an Entkanonisierung aus sich heraussetzt, dann ist zu erwarten, dass spiegelbildlich die Entkanonisierung Kanonisierung aus sich heraussetzt; bei Semler ruft der entkanonisierte Kanon erneut nach dem Kanon. Daniel Weidner hat Recht: „Über das Verhältnis von Bibel und Literatur zu arbeiten kann nun nicht darauf abzielen […], die Bibel zur ‚bloßen‘ Literatur oder die Literatur zum ‚Ersatz‘ für die Bibel zu erklären. Weder diese Retheologisierung der Literatur noch jener Versuch einer feindlichen Übernahme der Religion haben sich in der Vergangenheit als fruchtbar erwiesen“.60 Warum? Weil die Beziehung zwischen Bibel und Literatur nicht eine solche von „Paralleluniversen“61 ist. Vielmehr, wie die Bibel die von ihr auszuschließende Literatur in sich schließt, dürfte auch die Literatur die Bibel bereits in sich tragen, besser: aus sich heraussetzen. Der Grund hierfür liegt beim Kanon, der sich, einerlei ob durch Kanonisierung oder Entkanonisierung, unvermeidlich bei Bibel wie Literatur aufdrängt.
59
Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon 1771–1775. Weidner, Bibel und Literatur 2011, 20. 61 Weidner, ebd. 18. 60
2. Was ist Heilige Schrift?
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Deuterosis
Wenn also Bibel und Literatur keine sekundäre Verbindung von primär unverbundenen, für sich bestehenden Textgruppen darstellt, sondern eine solche, in der die Bibel, je mehr sie zur Bibel wird, desto mehr Literatur, und die Literatur, je mehr sie zur Literatur wird, desto mehr Bibel als zu Unterscheidendes wie zu Verbindendes aus sich heraussetzt, wird sichtbar, dass die Verbindung beider gerade in ihrer manifesten Sekundarität primär ist. Die Zweiheit beider ist das Erste. Oder umgekehrt: Das Erste ist, dass es Einheit beider nicht gibt. Dies führt auf den Begriff der Deuterosis (δευτέρωσις). Aus der entschwundenen Welt der Patristik kommt er auf uns zu; Deuterosis ist, was als das Sekundäre das Verlangen nach Primärem stört. Es handelt sich um einen polemischen Begriff; von Hause aus nennt er etwas Minderwertiges minderwertig. Jedoch wir befinden uns in der Lage, dass wir ohne seine freundliche Mithilfe nicht einmal sagen könnten, was Heilige Schrift ist. Zwar kommen wir aus einer Welt, die genau zu wissen glaubte, was Heilige Schrift ist und deshalb von δευτέρωσις nur polemischen Gebrauch machte; die Akzeptanz der Heiligen Schrift in der christianisierten Welt schloss δευτέρωσις direkt aus. Ihre Erforschung befindet sich erst am Anfang.62 Deuterosis galt als Merkmal jüdischer Auslegungspraxis; der christliche Umgang mit der Heiligen Schrift neigt zur Vernichtung von δευτέρωσις, Verbrennung. Dementsprechend rar ist die Kenntnis, die der Neuzeit durch Johannes Buxtorf d. J. vermittelt wurde. Buxtorf hält erstens lapidar fest: „ ִמ ְשׁנָ הDeuterosis.“ Zweitens erklärt er: „Sic dicitur Textus Talmud, quasi Legis divinæ repetitio et latior explicatio.“63 Um mit dem Zweiten zu beginnen: δευτέρωσις ist ein wesentliches Element der Überlieferung der Thora; es gibt erste Thora, die Israel am Berge Sinai erhielt, diese ist lex scripta; es gibt aber auch zweite, ָ (secundaria lex), die Mose aus Gottes Mund empfangen hat, und die תּוֹרה ְשׁנִּ ייָּ ה diese ist lex oralis. Man kann streiten, wo die Wiederholung des Gesetzes beginnt. Beginnt sie nach der geschriebenen Thora? Oder, wenn der Bruch der ersten Tafeln infolge des Goldenen Kalbs die Erneuerung des Gesetzes erforder62 Const. Apost. II 5 (Lagarde 17): νόμον καὶ δευτέρωσιν . Euseb, Dem. evang. VI 18, GCS 6, 280 f: ἰουδαικαὶ δευτερώσεις. Hieronymus, Ep. 121, CSEL 56, 48 f. Augustin, En. in ps. 118, 20,6, CChr.SL 40, 1732; ders., Contra adversarium legis et prophetarum, CChr.SL 49, 88.95. Corp. iur. civ. 3: Novellae, nr. 146,1 (Schöll/Kroll 716): τὴν […] παρ᾽ αὐτοῖς [τοῖς Ἑβραίοις] λεγομένην δευτέρωσιν ἀπαργορεύομεν παντελῶς. C. del Valle Rodríguez, Los primeros contactos 2005. 63 Nachdem J. Buxtorf d. J., Lexicon chaldaicum et syriacum 11622, 594, nur kurz bemerkt: „ ִמ ְשׁנָ הchald. Repetitio, Lectio: Mischna, sic vocatur Textus legis non scriptae apud Judaeos“, erklärt er im Lexicon chaldaicum, talmudicum et rabbinicum 21640, 2474 f: „ ִמ ְשׁנָ ה Deuterosis. Sic dicitur Textus Talmud, quasi Legis divinæ repetitio et latior explicatio. In Aruch in lit. מ in ִמ ְשׁנָ הscribitur: למה נקראת משׁנהQuare vocatur Mischna? propterea quòd est שׁנייהsecundaria Lex, vel secunda à Lege. Nam Lex illa, quam audivit totus Israël in monte Sinai, est Lex scripta. Moses autem audivit Mischnam ex ore Potentiæ (Dei) שׁנייהvice secundâ, et haec est Lex oralis. Manifesta igitur res est, quod sit שׁנייה לראשׁונהSecundaria prioris, vel secunda â priore.“
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
lich machte, schon in der geschriebenen Thora? Während einmal zwischen Thora und Mischna zu unterscheiden ist, hebt das andere Mal die Mischna schon in der Thora an. Aber einerlei wie, die Erläuterung Buxtorfs geht über den speziellen Sinn hinaus und will mit ( ִמ ְשׁנָ הδευτέρωσις) generell die jüdische Auslegungsweise charakterisieren. Jetzt wird deutlich: δευτέρωσις, dieses so unwiderstehlich griechisch klingende Wort, ist nichts als die möglichst akkurate Übersetzung von ( ִמ ְשׁנָ הVerzweiung, Verdopplung), und das hebräische wie das griechische Wort wird lateinisch wiedergegeben mit repetitio (Wiederholung). So kommt es, dass die Deuterosis, die unter der Dominanz der christlichen Auslegung der Heiligen Schrift – das heißt aber auch: unter Herrschaft der Theologie, wie wir sie seit § 1 kannten – an den Rand gedrückt war und deren Rinnsal erst mühsam wiederentdeckt werden muss, in einen Begriff mutiert, ohne den wir in unserer Situation nicht einmal sagen könnten, was Heilige Schrift ist. Denn Bibel und Literatur ist nichts anderes als eine Anordnung zweier Textgruppen, die nur mit Hilfe des Begriffs Deuterosis erschlossen werden kann. Dass Deuterosis nur polemisch gebraucht wird, ist schon dadurch ausgeschlossen, dass sie in der griechischen Bibel erkennbar Spuren hinterlassen hat. Man gebraucht den Terminus des Deuterokanonischen, um die Wiederholung des Kanons in den Apokryphen zu benennen. Ist deuterokanonisch der nichtkanonische Kanon, dann handelt es sich um ein Merkmal von Literatur. Deuterosis dringt sogar in den Kanon ein; Deuterojesaianisches, Deuteropaulinisches wird unterscheidbar. Und nicht genug mit Termini, die dem gelehrten Umgang mit der Schrift entstammen; schließlich findet sich Deuterosis in der Bibel selbst: Deuteronomium. Zwar sind die Phänomene, die als Deuterosis bezeichnet werden, disparat; bald handelt es sich um Literarisierung wie bei den Apokryphen, bald um Pseudepigraphie wie bei Jesaja und Paulus, bald um ein hochtheologisches Programm wie beim Deuteronomium. Aber stets verhält es sich so, dass in den Varianten von Deuterosis Bibel und Literatur aufeinandertreffen, zunächst extern wie in der Differenz von Kanonischem und Deuterokanonischem, dann intern wie bei den Beispielen innerkanonischer Deuterosen, schließlich programmatisch wie im Deuteronomium, welches das Zweite als das Frühere vorstellt. Deuterosis, so zeigt das Deuteronomium, fördert in einer Ekstase des kulturellen Gedächtnisses das Allererste zutage, das ָ ֵס ֶפר ַה2. Könige 22,8.11) oder des Bundes ( ֵס ֶפר ַה ְבּ ִר ית Buch der Thora ( תּוֹרה 23,2), das nach seiner Stellung im Kanon klar als Buch im Buche zu identifizieren ist. Wenn sie unserer Hypothese zufolge auf das Verhältnis von Bibel und Literatur zutrifft, und wenn dieses Verhältnis verschiedene Intensitäten aufweist, äußerliche, innerliche und schließlich die Umkehrung zum ὕστερονπρότερον, kann nicht nur der Fall eintreten, dass die Literatur der Bibel angehängt, und nicht nur, dass sie innerhalb der Bibel aufzufinden ist, sondern sogar der, dass manifest deuterotische Literatur die biblischere Bibel verspricht. So im Fall des Deuteronomiums. Das veranlasst, das Verhältnis von Bibel und
2. Was ist Heilige Schrift?
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Literatur nicht nur einseitig vom Standpunkt der Bibel aus zu betrachten und beim ersten Gewahrwerden von bloßer Literatur über Deuterosis zu klagen, sondern umgekehrt auch den Standpunkt in die Literatur zu verlagern, von hieraus die Bibel zu betrachten und nach dem δεύτερον-πρώτερον zu fragen, das der Kern der Deuterosis ist.64 Die Frage Was ist Heilige Schrift? ist nicht zu beantworten ohne Rücksicht auf Bibel und Literatur. Bibel und Literatur lehrt, dass der Versuch, die Heilige Schrift von Schriften schlechthin zu unterscheiden wie die Bibel von der Literatur, dazu führt, dass das Unterschiedene in verschiedener Intensität in das, wovon es unterschieden war, wiedereintritt und nicht ruht, bis es, ohne jemals der Unterscheidung abzusagen, sich an seine Stelle setzt. Was als δευτέρωσις mit dogmatistischer Blindheit nach außen projiziert wurde, schlägt bei genauerer Beobachtung nach innen zurück und beginnt so erst seine Wirkung. Also werden wir weitergeschickt zu intrikateren Verhältnissen als dem des bloßen „und“. Wir gelangen zu Bibel als Literatur und zu Bibel in der Bibel, Literatur in der Literatur.
b. Bibel als Literatur
Im Unterschied zu Bibel und Literatur hebt Bibel als Literatur die zwischen beiden bestehende Differenz tendenziell auf. Dann kann die Lesetheologie ihre Arbeit einstellen mit dem Resultat, dass es eine solche zwar zur Zeit Hugos von St. Viktor gegeben haben mag, jetzt aber nicht mehr. Bibel als Literatur winkt mit einer Entlastung, die man sich auf dem Weg der Lesetheologie nicht entgehen lassen sollte. Unter der Voraussetzung, dass „als“ streng verstanden und mit „und“ nicht verwechselt wird, kann man sich die Heilige Schrift sparen. War bisher die Frage nach der Heiligen Schrift an die Konfiguration Bibel und Literatur und also an die prinzipielle Zulassung von Deuterosis gebunden, so neigt Bibel als Literatur dazu, die Deuterosis zu unterlaufen und für unnötig zu erklären. Beide sind eins. Das dazugehörige Forschungsgebiet ist notorisch weit, für David Norton so weit, dass es reicht „from antiquity […] to the present day“.65 Uns dagegen geht es um ein möglichst enges, präzises Verständnis dessen, was mit Bible as literature angeregt wird. Deshalb verfolgen wir diese Konfiguration zurück bis zu dem Punkt, an dem sie im englischsprachigen Bereich zu einer ganz bestimmten Parole geworden ist, die andere Möglichkeiten ausschließt.
64 Pallesen, Og 2010, 26 spricht von dem „deuteronomistiske gentagelsestvang, som Ricœur med P. Beauchamps kalder ‚deuterose‘“; er bezieht sich auf Beauchamp, L’un et l’autre testament 1977, 150–163: „La ‚deutérose‘“ und Ricœur, L’enchevêtrement de la voix et de l’écrit dans le discours biblique 1992, in: Lectures 3, 307–326. 65 Norton, A history of the Bible as literature 1993.
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
Bibelwissenschaften und Literaturwissenschaften Davon ist auszugehen, sobald man den Impuls von Bibel als Literatur angemessen platzieren will: „Bibelwissenschaft und Literaturwissenschaft bilden einander wechselseitig ignorierende Paralleluniversen.“ Dieser Zustand hat sich im 19. Jahrhundert herausgebildet und in den Fakultätsgeschichten festgeschrieben. Die allgemeine Philologie „spaltet sich […] in eine ‚Literaturwissenschaft‘ einerseits, die sich bald von der Historie unterscheidet und in Nationalphilologien ausdifferenziert, und in die Bibelwissenschaft andererseits, deren Methoden, Modelle und Fragestellungen sich stark von denen der Literaturwissenschaft unterscheiden.“66 Die beiden Fachrichtungen „trennen“ sich, statt sich zu „begegnen“ und zu „berühren“. Aus Sicht der Bibelwissenschaft geht die Literaturwissenschaft andere Wege, weil sie sich mit den Textbeständen potentiell aller Sprachen beschäftigt und zur Selbstbeschränkung auf alte tote Sprachen keinen Anlass sieht. Aus Sicht der Literaturwissenschaft hat sich die Bibelwissenschaft durch die Überlast an Historie – Stichwort: historisch-kritische Methode als Ruhmestat des Protestantismus – von ihr getrennt. Statt einfach zu lesen, bindet sie den Zugang zu den Texten an besondere Kenntnisse des historischen Kontextes, und, nicht genug damit, an detaillierte Kenntnisse der Wirkungsgeschichte, was freie Kapazitäten bindet und in Spezialdiskurse führt. Hier schreitet die Literaturwissenschaft ein und fordert Beachtung des literarischen Charakters biblischer Texte. Daniel Weidner scheint sie „ein leichterer und breiterer Zugang“ zu sein, weil sie durch Propagierung der lectio facilior die in der Theologie verbreitete Hochachtung der lectio difficilior und durch Eröffnung der porta spatiosa den Dogmatismus der via angusta bricht. Er hofft zwischen den Paralleluniversen „eine Art Mittelfeld“ aufzutun, in dem sich die Fragen und Methoden der verschiedenen Disziplinen „begegnen“ können.67 Priorität kommt weder der einen noch der anderen zu. Weder kann die Bibelwissenschaft die Bibel für sich reklamieren, noch soll sich Literaturwissenschaft zur feindlichen Übernahme aufwerfen. Wenn also Bibel als Literatur den Dogmatismus der Bibelwissenschaft ins Offene führt, darf auch die Literaturwissenschaft nicht ihrerseits in Dogmatismus verfallen und Literatur „als Zweck um ihrer selbst willen“ verstehen.68 Das Mittelfeld, das Weidner vorschlägt, heißt Kulturwissenschaft, die sich zur Vermeidung von Dogmatismus beidseits bestens empfiehlt. – Zwei Fragen werden angestoßen. Die erste: Ist Bibel als Literatur hinreichend unterschieden von Bibel und Literatur? Weidner ist um einen weichen Gegensatz besorgt; Bibel als Literatur steht schon im Verdacht feindlicher Übernahme. Deshalb setzt er, wohl zu Recht, Weidner, Bibel und Literatur, 18. Weidner, in: Schmidt/Weidner (Hg.), Bibel als Literatur, 7. 68 Weidner, ebd. 8. 66 67
2. Was ist Heilige Schrift?
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sein unter dem Titel Bibel als Literatur begonnenes Forschungsvorhaben mit Bibel und Literatur fort. Die zweite: Löst die Ausrufung von Kulturwissenschaft als Mittelfeld die Probleme von Bibel und Literatur? Daran, dass mit ihr eine der Begegnung günstige Atmosphäre eröffnet wird, besteht kein Zweifel. Aber wie auf der einen Seite die Frage Was ist Literatur? nicht ernsthaft zu beantworten ist, wenn die Sicht auf Literatur um ihrer selbst willen als von vornherein dogmatistisch ausgeschlossen wird, so wird auch die Frage Was ist Heilige Schrift? keine Antwort finden, wenn die Frage nach der Bibel um ihrer selbst willen und im Unterschied zur Literatur von vornherein des Dogmatismus verdächtigt wird. Kulturwissenschaft scheint so betrachtet nichts anders zu sein als die Vermeidung ernsthafter Fragen. Bible as literature Unter diesem Titel kommt zuallererst diejenige Forschungsrichtung amerikanischer, englischer und israelischer Autoren in Sicht, zu der seit Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts Autoren wie Robert Alter,69 Frank Kermode,70 Meir Sternberg71 und James L. Kugel72 beigetragen haben. Bible as literature reicht jedoch weit ins 19. Jahrhundert zurück.73 Um die Kontur zu finden, müssen wir dorthin zurück. Es ist nicht dasselbe, ob von Bible as literature oder von the Bible, as literature die Rede ist. Im letzten Fall kommt eine Restriktion zum Ausdruck, die sich als Vorbehalt niederschlägt: wiewohl an sich keine Literatur, wird die Bibel für jetzt als Literatur – bloße Literatur – betrachtet.74 Im Kontrast hierzu erscheint Bible as literature als Formel ohne einschränkenden Vorbehalt, und als solche wird sie hier verstanden. Es ist ferner nicht dasselbe, ob von Bible as literature oder von The Holy Bibel as literature die Rede ist. Letztere Wendung bezieht sich nur auf die King James Bible von 1611 und deren über 250 Jahre andauernde Dominanz im liturgischen und literarischen Leben.75 Entscheidet man sich etwa dafür, „The Holy Bible als einen originären Text der englischen Literatur des frühen 17. Jahrhunderts und nicht als Übersetzung“ zu behandeln, so entscheidet man sich für eine bestimmte Variante, nicht aber für den Sinn von Bible as literature, wie er in der gleichnamigen Forschungsrichtung der 1970er hochgehalten wurde.76 Die Alter, The art of biblical narrative 1981; ders., The art of biblical poetry 1985. Kermode, The genesis of secrecy 1979; Alter/Kermode, The literary guide to the Bible 1987. 71 Sternberg, The poetics of biblical narrative 1985. 72 Kugel, The idea of biblical parallelism 1981. 73 Norton, A history of the Bible as literature 1993, rev. A history of the English Bible as literature 2000. 74 Norton, A history of the Bible as literature 2, 274. 75 Nicolson, Power and glory 2003; Norton, A textual history of the King James Bible 2005; ders., The King James Bible 2011. 76 Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung, 107 Anm. 16 u. 86 Anm. 1. 69 70
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
Differenzen betrafen bisher nur das erste Glied von Bible as literature. Um zu präzisieren, muss auch das zweite zu Varianten und Oppositionen in Kontrast gesetzt werden. Es ist nicht dasselbe, ob formuliert wird Bible as literature oder the Bible as a classic. Ist die Bibel „as truly a classic as Homer or Virgil, Xenophon or Cicero, Milton or Addison“,77 so wird Kanonbildung innerhalb von Literatur und werden Kriterien vorausgesetzt, die es erlauben, Literatur von Literatur zu unterscheiden, etwa höhere und niedere. Mit Bible as literature leisten wir Verzicht auf derlei Wertungen. Die härteste Differenz wird ohne Zweifel durch Bible as literature und Bible as religion gesetzt. Sie markiert die Situation, in der die Parole ursprünglich entstand und in der sie das schärfste Profil aufweist. Nachdem mit dem ersten Amendment zur Verfassung der USA 1791 die Religionsfreiheit Verfassungsrang erhielt, wird the Bible as religion, nachdem sie sich aus Gründen der Aufklärung schon von selbst verboten hat, nun auch de iure verboten. Das daraus folgende Verbot der Lektüre von Bibel as religion an öffentlichen Schulen schließt aber die Lektüre as literature nicht aus, wenn sie sich dem Bildungsziel Literatur einordnen lässt.78 Dabei kann die Gewichtung changieren. Während in Amerika Bible as literature als verkappte Bible as religion praktiziert wird, ist die Intention Matthew Arnolds, eines der Nachfolger Robert Lowths auf der Oxforder Poetikprofessur, der die Parole „The Bible as Literature“ erstmals geprägt hat, genau umgekehrt zu verstehen; hier ist die Bibel als Religion die Verkappung der Bibel als Literatur.79 Soweit die Skizze des Hintergrunds, der im englischsprachigen 19. Jahrhundert zur Modellszene für Bible as literature führt. Am Ende des Jahrhunderts taucht die Parole tatsächlich als Buchtitel erstmals auf.80 Ein letzter Gesichtspunkt zur Profilierung von Bible as literature ist hinzuzufügen; er betrifft sowohl die englisch‑ wie die deutschsprachige Tradition. Die angedeutete Linie von Robert Lowth zu Matthew Arnold lässt erkennen, dass Bible as literature sich erst gegen eine ältere Version durchsetzen musste, die, wenn es die Parole gegeben hätte, Bible as poetry geheißen hätte. Was die englische Seite anlangt, wird dies an John Jebb deutlich, der sein Werk Sacred literature bereits im Titel als Revision von Lowths sacra poesis Hebraeorum ankündigt und durch Ausweitung des Parallelismus, der bei Lowth auf die in engerem Sinn poetischen Partien beschränkt war, auf alle Bücher des Alten und Neuen Testaments durchführt.81 So hat Jebb bewirkt, dass in der Heiligen Schrift erstens sacred literature an die Stelle von sacred poetry tritt, und zweitens die Unterscheidung von Poesie und Prosa hinfällig wird, Poesie für Prosa stehen kann, und dass via Poesie der poetisch aufgeladene Sinn von literature entsteht, mit dem erstmals J. Halsey, The literary attractions of the Bible 1858; zit. nach Norton, ebd. 2, 266. ebd. 2, 267 f. 79 Norton, ebd. 2, 272, 274. 80 Moulton, The Bible as literature 1899; nach Norton, ebd. 2, 277. 81 Jebb, Sacred literature 1820.
77 Leroy
78 Norton,
2. Was ist Heilige Schrift?
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die literarische Exzellenz der Gesamtbibel in den Blick treten kann.82 Dem ist die deutschsprachige Entwicklung zur Seite zu stellen, die auch einmal, selbst wenn sie sich die Parole Bibel als Literatur aneignet, bei Bibel als Poesie begonnen hat.83 Es war Johann Gottfried Herder, der sich Lowths Programm nicht ohne Kritik, aber unter steter Wahrung der Differenz zwischen Poesie und Prosa zueigen machte. Der Geist der Ebräischen Poesie kann mit dem Geist der Literatur niemals verwechselt werden. So kommt unsere Absicht, sowohl Bible as literature wie Bibel als Literatur rückwärts zu verfolgen bis zum frühesten Profil, erst zum Ziel, wenn beide Parolen in ihrer Abkunft aus Bible as poetry und Bibel als Poesie erkannt werden. Sie fordern eine Präzision, die über den Begriff der Literatur hinausgeht. Literatur muss durch Poesie präzisiert werden.
c. Bibel in der Bibel, Literatur in der Literatur
Nachdem Bibel und Literatur in Richtung Zweiheit, Bibel als Literatur in Richtung Einheit beider wies, scheint die Folge zu sein, man solle zwischen beiden Konfigurationen wählen, oder, was auf dasselbe hinausläuft, einen Mix beider anstreben. Gegen die in dieser Form praktizierte Liberalität gibt es schon deshalb kaum Einwendung, weil sie selbstverständlich ist. Nur bleibt richtig, dass das in § 8.1 zur Verdopplung und § 8.2 zur Deuterosis Vorgetragene nicht besagen will, was getan werden kann oder nicht, sondern was getan werden muss, weil es sich, falls ungetan, selbst tut. Wir blicken in Wirklichkeit auf Selbstverdopplung und Autodeuterosis, was im Opaken bliebe, wenn es sich nicht zeigt. Wir sprechen von Bibel und Literatur. Es genügt nicht, auf der gegenständlichen Ebene allein von deren Zweiheit zu reden. Zweiheit ist nicht Verzweiung. Also gilt es, auf jeder Seite nachzuweisen, wie sie sich verzweit und verdoppelt, die Bibel zur Bibel in der Bibel, die Literatur zur Literatur in der Literatur. Zwar ist unbenommen, Bibel und Literatur in direkten Vergleich zu bringen und in liberaler Weise Ähnlichkeiten oder Unähnlichkeiten zu betrachten. Aber im Grunde ist ihre Begegnungsweise nicht die eines Verhältnisses und seines Mehr oder Minder, sondern die eines Verhältnisses von Verhältnissen, weil die proportionierten Seiten je für sich schon ein Selbstverhältnis enthalten. Sie sind in sich gespannt, bevor sie zueinander in Spannung treten. Auch findet der Vergleich zwischen ihnen nicht direkt, sondern indirekt statt, weil sich der Vergleichspunkt von der kategorialen Ebene zur transzendentalen verschiebt. Genau das ist es, was in der Verdopplung bzw. Deuterosis geschieht. Nachdem sie zunächst auf einer Ebene angetroffen wurden, in der sie sein können oder nicht, sind sie nun auf eine Ebene gehievt, in der sie sein müssen. Und die Evidenz hierfür lässt auf beiden Seiten nicht lange auf sich warten. 82 83
Norton, ebd. 2, 192–196. Weidner, Bibel und Literatur, 18 f.
402
§ 8 Heilige Schrift und Psalter
Im Blick auf dieses Selbstverhältnis im Verhältnis sind vielfache Gestalten möglich. Was die Bibel in der Bibel anlangt, liegt die Variante des Buches im Buche nicht fern. Was die Literatur in der Literatur betrifft, wird man an die Variante des Romans denken, der mit der Gattung der Gattung als Prinzip operiert. Jedoch eine Variante derselben Konfiguration dürfte beide umfassen, sofern sie Gegenstand des Lesens sind. Auch Lesen erfordert Selbstverdopplung und Autodeuterosis. Es wird zu Lesen im Lesen. Ein solches ist weder einfach noch zweifach. Vom einfachen Lesen unterscheidet es sich durch seine bereits hör‑ und sichtbare Verzweiung. Vom zweifachen Lesen unterscheidet es sich, weil es von Lesemetaphern keinerlei Gebrauch macht. Vielmehr ist es das eigentliche, buchstäbliche Lesen, das sich verdoppelt. Lesen im Lesen ist etwas anderes als der „Doppelsinn des Wortes Lesen“,84 von dem § 5.4 die Rede war. Es ist der Einsinn, der sich verdoppelt. Jedoch geht es nicht darum, die Zweiheit von literalem und metaphorischem Lesen, die § 7 zur Betrachtung stand, zu beseitigen oder zu vernichten, sondern darum, sie durch die Zweiheit des einen literalen Lesens zu unterfüttern. Bevor überhaupt die Zweiheit des Lesebegriffs eintritt, erweist sich der eine literale Lesebegriff bereits als verdoppelt, nämlich als Lesen im Lesen. Es ist ein und dasselbe Lesen, das sich in zwei nebeneinanderherlaufenden Akten vollzieht, in zwei Velozitäten, zwei Intensitäten, zwei Frequenzen. Um ein einfaches Beispiel zu geben, nehme ich die Lesetechnik des Book of Common Prayer in seiner Fassung ab 1662 zu Hilfe und werfe einen Blick auf die Rubriken dieses Buches. Angaben zur Lesetechnik gehören nicht in das Buch, das sie voraussetzt, nicht ins Nigrum, sondern ins Rubrum. Hier wird expliziert, wie sich das Lesen des Nigrum, obgleich buchstäblich dasselbe, selbst verdoppelt. Nicht mit Literatur, sondern mit der Bibel befasst, erkennen die Rubriken des Book of Common Prayer das Ineinander von Bibel in der Bibel und Lesen im Lesen, indem sie zwei Leseordnungen unterscheiden, auf der einen Seite „The order how the Psalter is appointed to be read“, auf der anderen „The order how the rest of Holy Scripture is appointed to be read.“85 So wird erläutert, was Bibel in der Bibel heißt. Das postulierte Verhältnis der Bibel zu sich selbst ist konkret das Verhältnis des Psalters zum Rest der Heiligen Schrift. – Gefordert ist aber nicht nur das Selbstverhältnis der Bibel, sondern auch ein solches der Literatur. Hier können wir, in Erinnerung an die Vorgeschichte von Bible as literature in der Bible as poetry, die Parallele wagen und Literatur in der Literatur konkretisieren durch das Verhältnis der Poesie zum Rest der Literatur. Beiden gemeinsam ist die Konfiguration des Lesens im Lesen, die die Textkorpora Bibel und Literatur verbinden, einerlei wie verschieden oder verwandt sie sind.
84 85
Benjamin, Über Sprache überhaupt, GS II/1, 209. The Book of common prayer, 15 f.
2. Was ist Heilige Schrift?
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Der Psalter und der Rest der Heiligen Schrift Die Psalmen gehören in der hebräischen Bibel nach Thora und Propheten zum dritten und letzten Teil, den Schriften. Wie stark man es gewichten will, dass sie dort die erste Stelle einnehmen und durch Einteilung in fünf Bücher zu einer zweiten Thora redigiert sind, rührt viele Aspekte auf. Aber in keinem Fall erreichen sie die Exzellenz, die ihnen seit patristischer Zeit zugemessen wird. Hier beginnen die Psalmen den Weg zu dem Psalter. Hier tritt das Buch der Psalmen aus dem Buch der Heiligen Schrift, wiewohl nach wie vor dessen Teil, heraus und ihm gegenüber. Ohne patristische Vorgeschichte sind die Rubriken des Book of Common Prayer nicht zu denken. Drei klassische Texte haben das Gedächtnis geprägt. Obwohl verschiedener Gattung, einmal Brief mit paränetischer Absicht, dann Vorrede mit allen Standardelementen eines accessus ad auctorem, schließlich Traktat theor(et)ischen Anspruchs, verfolgen sie das Ziel, den Psalter in Relation zum Rest der Heiligen Schrift zu stellen. – Athanasius von Alexandrien hat in der Epistola ad Marcellinum das Psalmbuch dem Ganzen der Heiligen Schrift gegenübergestellt und seine Vorzüge hervorgehoben: Πᾶσα μέν, ὦ τέκνον, ἡ καθ᾽ ἡμᾶς Γραϕή, παλαιά τε καὶ καινὴ, θεόπνευστός ἐστι καὶ ὠϕέλιμος πρὸς διδασκαλίαν, ὡς γέγραπται [2. Tim 3,16]· ἔχει δέ τινα πιθανὴν παρατήρ ησιν τοῖς προσέχουσιν ἡ τῶν Ψαλμῶν βίβλος. Ἑκάστη μὲν γὰρ βίβλος τὸ ἴδιον ἐπάγγελμα διακονεῖ καὶ ἀπαγγέλει· οἷον ἡ Πεντάτευχος […]· ἡ Τρίτευχος […]· αἱ Βασιλεῖαι καὶ Πα ραλειπόμεναι […]· καὶ ὁ μὲν ῎Εσδρας […]· οἱ δὲ Προϕῆται […]. Ἡ δέ γε βίβλος τῶν Ψαλμῶν, ὡς παράδεισος τὰ [τῶν πάντων] ἐν αὑτῇ ϕέρουσα μελῳδεῖ, καὶ τὰ ἴδια δὲ πάλιν μετ᾽ αὐτῶν ψάλλουσα δείκνυσι.86
Zwar ist die ganze bei uns verbreitete Schrift, mein Sohn, die alte wie die neue, von Gott eingegeben und nützlich zur Lehre, wie geschrieben steht [2. Tim 3,16]. Aber das Buch der Psalmen gewährt den Aufmerksamen eine Beobachtung, die sie anspricht. Zwar bedient jedes Buch seine eigene Aufgabe und tut sie kund, so der Pentateuch […], der Triteuch […], die Bücher der Könige und der Chronik […], und Esra; so auch die Propheten […]. Aber das Buch der Psalmen trägt wie ein Mustergarten in sich, was aller ist, und besingt es, und zeigt wiederum, was ihm eigen ist, indem es Psalmen singt.
Zwei Besonderheiten zeichnen die Psalmen aus. Einerseits enthalten sie die ganze Schrift noch einmal, als Muster, nach Art des omnia in uno, von dem bereits die Rede war. Andererseits bieten sie, was nur ihnen eigentümlich ist. Komplexer: Wie dies, dass sie das Ganze enthalten, ihr Eigenes ist, so ist ihr Eigenes, dass sie Gesang sind, das Ganze. – Basilius bezieht sich entweder auf diesen Text oder eine unbekannte, beiden gemeinsame Quelle, wenn er in der Vorrede zu den Psalmenhomilien formuliert: 86 Athanasius von Alexandrien, Ep. ad Marc. 2, PG 27, 12BC; cf. 10, 20B–21B; 11, 21BC–24A; 14, 25C (ca. 360/63).
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
Πᾶσα Γραϕὴ θεόπνευστος καὶ ὠϕέλιμος
[… 2. Tim 3,16]. Ἄλλα μὲν οὖν προϕῆται παιδεύουσι, καὶ ἄλλα ἱστορικοί, καὶ ὁ νόμος ἕτερα, καὶ ἄλλα τὸ εἶδος τῆς παροιμιακῆς παραινέσεως. Ἡ δὲ τῶν Ψαλμῶν βίβλος τὸ ἐκ πάντων ὠϕέλιμον περιείληϕε. Προϕητεύει τὰ μέλλοντα· ἱστορίας ὑπομιμνήσκει· νομο θετεῖ τῷ βίῳ· ὑποτίθεται τὰ πρακτέα· καὶ ἁπαξαπλῶς κοινὸν ταμιεῖόν ἐστιν ἀγαθῶν δι δαγμάτων, τὸ ἑκάστῳ πρόσϕερον κατὰ τὴν ἐπιμέλειαν ἐξευρίσκουσα. Τὰ τε γὰρ πα λαιὰ τραύματα τῶν ψυχῶν ἐξιᾶται, καὶ τῷ νεοτρώτῳ ταχεῖαν ἐπάγει τὴν ἐπανόρθωσιν, καὶ τὸ νενοσηκὸς περιποιεῖται, καὶ τὸ ἀκέραιον διασώζει· καὶ ὅλως ἐξαιρεῖ τὰ πάθη, καθ᾽ ὅσον οἷόν τε, τὰ ποικίλως ταῖς ψυχαῖς ἐν τῷ βίῳ τῶν ἀνθρώπων ἐνδυναστεύοντα· καὶ τοῦτο μετά τινος ψυχαγωγίας ἐμμελοῦς καὶ ἡδονῆς σώϕρονα λογισμὸν ἐμποιούσης.87
Die ganze Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich [… 2. Tim 3,16]. Zwar verhält es sich so, dass Propheten eines, Geschichtserzähler anderes lehren, das Gesetz wieder anderes, und noch einmal anderes lehrt die Gattung der Ermahnung in den Sprüchen. Aber das Buch der Psalmen hat aus allem was nützlich ist übernommen. Es weissagt die Zukunft, erinnert die Geschichte, gibt Lebensregeln, begründet, was zu tun ist. Es stellt in jeder Hinsicht eine allgemeine Vorratskammer guter Lehren dar; es findet je, was für jeden in seiner Bedürftigkeit zuträglich ist. Es heilt alte Seelenwunden und verschafft dem jüngst Verwundeten rasche Wiederherstellung; es rettet, was erkrankt, und bewahrt, was unversehrt ist. Und überhaupt erregt es, soweit ihm möglich, die Leidenschaften, die im menschlichen Leben auf verschiedene Weise die Seele beherrschen, und dies mittels einer gewissen taktvollen Seelenführung und Lust, die besonnene Denkungsart verbreitet.
Dieser Text, oft anonym zitiert, in anderen Kontexten fortformuliert, fand reichste Nachwirkung in Ost und West, in Spätantike, Mittelalter und Neuzeit.88 Er wiederholt das Theorem von der doppelten Exzellenz des Psalters, auf textlicher Ebene durch Wiederholung des Ganzen als Teil ebendieses Ganzen, auf metatextlicher Ebene durch die psychagogische Wirkung, die von seinem Erklingen ausgeht. Athanasius wie Basilius ist gemeinsam, dass sie der Beschreibung der „ganzen Schrift“ im Sinn von 2. Timotheus 3,16 gegen den Sinn von 2. Timotheus 3,16 die Hervorhebung des „Buches der Psalmen“ entgegensetzen. Das geschieht durch das bekannte Asymmetrie-Element μὲν/ δέ (zwar/aber), hier bezogen nicht auf die Schnittlinie zwischen Deuterokanon und Kanon, sondern auf die von Kanon und Kanon. – Dasselbe asymmetrische Element strukturiert auch, wiewohl weitauseinandergezogen und bei verblassendem Bezug auf 2. Timotheus 3,16, den Passus der Ecclesiastica hierarchia, in dem Dionysius Areopagita den Kanon Alten und Neuen Testaments in Gänze nur zu dem einzigen Zweck durchläuft, um ihm die Psalmen – und Oden – entgegenzusetzen:
87 88
Basilius von Caesarea, Hom. in ps. 1,1, prooem., PG 29, 209A–212A (vor 370). Z. B. Ambrosius, Expl. psalm. 1, 4, CSEL 64, 4,19 (ca. 390).
2. Was ist Heilige Schrift? Ἡ δὲ τῶν ψαλμῶν ἱερολογία συνουσιωμένη πᾶσι σχεδὸν τοῖς ἱεραρχικοῖς μυστηρίοις οὐκ ἤμελλεν ἀπηρτῆσθαι τοῦ πάντων ἱεραρχικωτά του. Πᾶσα μὲν [2. Tim 3,16] γὰρ ἱερὰ καὶ ἁγιόγραϕος δέλτος ἢ τὴν ἐκ θεοῦ τῶν ὄντων γενητὴν ὕπαρξίν τε καὶ διακόσμησιν ἢ τὴν νομικὴν ἱεραρχίαν καὶ πολιτείαν ἢ τῶν τοῦ θείου λαοῦ κληροδοσιῶν διανεμήσεις καὶ κατασχέσεις ἢ κριτῶν ἱερῶν ἢ βασιλέων σοϕῶν ἢ ἱερέων ἐνθέων σύνεσιν ἢ παλαιῶν ἀνδρῶν ἐν ποικιλίᾳ καὶ πλήθει τῶν ἀνιώντων ἀκατάσειστον ἐν καρτερίᾳ ϕιλοσοϕίαν ἢ τῶν πρακτέων σοϕὰς ὑποθήκας ἢ θείων ἐρώτων ᾄσματα καὶ ἐνθέους εἰκόνας ἢ τῶν ἐσομένων τὰς ὑποϕητικὰς προαναρρήσεις ἢ τὰς ἀνδρικὰς Ἰησοῦ θεουργίας ἢ τὰς τῶν αὐτοῦ μαθητῶν θεοπαραδότους καὶ θεομιμήτους πολιτείας καὶ ἱερᾶς διδασκαλίας ἢ τὴν κρυϕίαν καὶ μυστικὴν ἐποψίαν τοῦ τῶν μαθητῶν ἀγαπητοῦ καὶ θεσπεσίου ἢ τὴν ὑπερκόσμιον Ἰησοῦ θεολογίαν τοῖς πρὸς θέωσιν ἐπιτηδείοις ὑϕηγήσατο καὶ ταῖς ἱεραῖς τῶν τελετῶν καὶ θεοειδέσιν ἀναγωγαῖς συνερρίζωσεν, ἡ δὲ τῶν θείων ᾠδῶν ἱερογραϕία σκοπὸν ἔχουσα τὰς θεολογίας τε καὶ θεουργίας ἁπάσας ὑμνῆσαι καὶ τὰς τῶν θείων ἀνδρῶν ἱερολογίας τε καὶ ἱερουργίας αἰνέσαι καθολικὴν ποιεῖται τῶν θείων ᾠδὴν καὶ ἀϕήγησιν πρὸς πάσης ἱεραρχικῆς τελετῆς ὑποδοχὴν καὶ μετάδοσιν ἕξιν οἰκείαν ἐμποιοῦσα τοῖς ἐνθέως αὐτὴν ἱερολογοῦσιν.89
405
Der Vortrag der geheiligten Worte der Psalmen, wesentlich fast allen geheimnisträchtigen Vorgängen der Hierarchie verbunden, sollte erst recht von dem wichtigsten Element der Hierarchie nicht ausgeschlossen bleiben. Zwar führte nämlich jedes geheiligte Buch heiliger Schrift [2. Tim 3,16] die zur Gottwerdung Geeinigten ein in die von Gott erzeugte Existenz des Seienden und seine Gliederung [Gen], oder in die Hierarchie und Verfassung unter dem Gesetz [Ex/ Lev/Deut] oder die Verteilung und Besitzergreifung der Losgeschenke an das Gottesvolk [Num/Jos], die Verständigkeit von geheiligten Richtern [Iud] oder weisen Königen [Reg] oder gotterfüllten Priestern [Par/Esdr/Neh], oder in die in Selbstbeherrschung unerschütterliche Philosophie früherer Männer [Prov/Eccl] in der Mannigfaltigkeit und Fülle der Anfechtungen [Iob], die klugen Ratschläge zum praktischen Handeln [Sap/Sir], die Lieder und inspirierten Bilderreden von göttlichen Liebeserfahrungen [Cant] oder in prophetische Vorhersagen der Zukunft [libri prophetici] oder die göttlichen Werke Jesu als Mensch [Mt/Mc/Lc], die von Gott gegebene, der Nachahmung Gottes dienende Lebensweise seiner Schüler [Act] und ihre geheiligten Lehren [Epp] oder die verhüllte, mystische Schau des von seinen Schülern Geliebten, von Gott Inspirierten [Ioh] oder die den Bereich unserer Welt überschreitende Kunde von Jesus als Gott [Apc]. Alle diese Bücher [VT/NT] sprossen aus derselben Wurzel wie die geheiligte und gottgemäße Symbolsprache der Weihehandlungen. Der geheiligte Text der göttlichen Gesänge [Pss/Od] jedoch, der die Worte [VT] und Werke [NT] Gottes insgesamt preisen und die geheiligten Worte [VT] und Werke [NT] der göttlichen Männer insgesamt loben will, bildet einen zusammenfassenden Lobpreis und
89 Dionysius Areopagita, EH III Θ 4, PG 3, 429C–432A/PTS 36, 83,11–84,6/BGrL 22, 113 (um 500).
406
§ 8 Heilige Schrift und Psalter
Kommentar der Wirkungen Gottes und bewirkt in denen, die ihn von Gott erfüllt singen, die angemessene Einstellung zu Empfang und Weitergabe jeder Weihe, die die Hierarchie vermittelt.
Die Äußerungen des Dionysius Areopagita lassen einen textlichen wie liturgischen Hintergrund erkennen, dessen Doppelaspekt sehr genau dem entspricht, was bei Athanasius und Basilius zur doppelten Exzellenz der Psalmen vorgeprägt war. – Was den textlichen Aspekt anlangt, darf für Dionysius eine Textbasis vorausgesetzt werden, wie sie im Codex Alexandrinus vorliegt. Dort fällt auf, dass das Buch der Psalmen unter dem Titel ΨΑΛΤΗΡΙΟΝ ΜΕΤ ΩΔΩΝ eingeführt wird. Die Titel Ψαλμοί bzw. Βίβλος τῶν ψαλμῶν haben sich seit Athanasius und Basilius nicht nur fortentwickelt zu Ψαλτήριον, ein Titel, der auf Anhalt am hebräischen Text verzichtet und zur Metapher eines Musikinstruments übergeht, sondern auch der Verlauf des hebräischen Textes insgesamt wird missachtet, indem er durch ΩΔΑΙ unterbrochen wird, die dort nicht zu finden sind. Ob sie als eigenes Buch gedacht gelten sollen oder als Fortsetzung der Psalmen, bleibt offen. Bei den ᾠδαί (cantica) handelt es sich um die Sammlung 14 verstreuter Psalmen von außerhalb des Psalmbuchs.90 Wie sehr die Septuaginta die christliche Bibel ist, springt ins Auge. Mit den Oden überschreitet Codex A nicht nur die Grenzen des Übersetzens und fasst anderswo Übersetztes nach eigenen Gesichtspunkten zusammen, sondern überschreitet auch, mitten im Alten Testament, die Grenzen des Alten Testaments, indem er mit den lukanischen cantica Mariae, Zachariae und Simeonis neutestamentliche Stücke ans Ende des Psalmbuchs transferiert. Ja, er überschreitet die Grenzen, die durch die Kanonformel „Nichts hinzufügen, nichts wegnehmen“ gesetzt sind, und beschließt die Reihe der Oden mit dem lukanischen canticum angelorum, das durch Anrufung der Trinität und Jesu Christi zur δοξολογία μεγάλη (славославие великое/gloria maior) erweitert wird. Unter textlichem Aspekt heißt das: Wie schon ψαλτήριον als Kompendium der ganzen Bibel begriffen wurde, so erfüllen die ᾠδαί erst recht die Funktion eines Kompendiums des Kompendiums. Mit dreifacher Transgression treiben sie die Sonderstellung des Psalters vollends auf die Spitze. Mitten im (an sich hebräischen) Alten Testament bringen sie den Verlauf des Texts aus den Fugen. Der Text explodiert. 90 Codex Alexandrinus (1. H. 5. Jh.): Die ΩΔΑΙ umfassen 14 Stücke (https://www.symeonanthony.info/BibleCanon/Alexandrinus/CodexAlexandrinus.html; Rahlfs’ Ordnung abweichend): Ωδη Μωυσεως εν τη Εξοδω α´ Ex 15,1–19 – Ωδη Μωυσεως εν τω Δευτερονομιω β´ Dt 32,1–43 – Προσευχη Αννας μητρος Σαμουηλ γ´ 1. Sam 2,1–10 – Προσευχη Εζεκιου [Ησαιου] δ´ Jes 26,9–20 – Προσευχη Ιωνα ε´ Jon 2,3–10 – Προσευχη Αμβακουμ ς´ Hab 3,2–19 – Προσευχη Εζεκιου ζ´ Jes 38,10–20 – Προσευχη Μαννασση η´ apokryph (cf. 2. Chr 33,9–13) – Προσευχη Αζαριου θ´ Dan 3,26–45 – Υμνος των πατερων ημων ι´ Dan 3,52–88 – Προσευχη Μαριας της θεοτοκου ια´ Lk 1,46–55 – Προσευχη Συμεων ιβ´ Lk 2,29–32 – Προσευχη Ζαχαριου ιγ´ Lk 1,68–79 – Υμνος εωθινος ιδ´ Lk 2,14 (Große Doxologie, cf. Const. Apost. VII 47 [Lagarde 229]).
2. Was ist Heilige Schrift?
407
Das heißt unter liturgischem Aspekt, der zweiten Eigentümlichkeit des Psalters: Das Textarrangement macht klar, wie sehr Erfordernisse der Liturgie den Codex A lenken. Es erstaunt nicht, dass er den Psalmen die Epistola ad Marcellinum voranschickt, gefolgt von Rubriken zur liturgischen Psalmodie, eine für den Tag, eine für die Nacht. Auch erstaunt nicht, dass die 14 Oden Texte und Textordnung wiedergeben, deren es großenteils zur Feier des ῎Ορθρος (Morgenlob) bedarf.91 Resultat: Codex A ist ein einzigartiges Paradigma für Literatur und Liturgie. Er macht sichtbar, wie das ΨΑΛΤΗΡΙΟΝ ΜΕΤ ΩΔΩΝ das bloße Lesen literarischer Texte soweit über sich hinaustreibt, bis Lesen zweiter Ordnung auftaucht, das analog zum Buch im Buche oder Kanon im Kanon als Lesen im Lesen geschieht. Und indem sich dies paradigmatisch an Psalter und Oden bildet, entsteht erstmals die Konfiguration Psalter und der Rest der Heiligen Schrift. – Ist für die Aussagen des Dionysius zur Stellung des Psalters im und gegenüber dem Kanon der Schrift eine textliche und liturgische Situation wie in Codex A vorauszusetzen, dann erklärt sich, weshalb dieser von Psalmen/Oden und Lesung in stereotyp zweigliedriger Wendung spricht.92 Beide sind Lesung, aber nicht so, dass nicht eine der anderen gegenübertreten könnte. Es sind zwei liturgische Orte, an denen sie zur Aufführung kommen, ψαλμῳδία (psalmodia) und ἀνάγνωσις (lectio), und zwei Tätigkeitsprofile, die in den alten Ämterordnungen unterschieden werden, ψάλτης (psalmista) und ἀναγνώστης (lector). Der Psalmist singt, der Lektor liest. Jedoch eine Lesetheologie, die darauf hält, allein der Spur zu folgen, die durch Lesen gelegt wird, kann sich nicht damit zufriedengeben, das Lesen im Lesen allein wie beim Psalter durch das Merkmal des Gesangs auszuweisen, kann daher auch nicht den drei Vätertexten einfach folgen, die die Eigentümlichkeit des Psalters im Gesang erblicken. Sie muss von der liturgischen Ebene zurück auf die textliche, und vom Kanon im Kanon bzw. Buch im Buche zurückgehen zum Text im Text. Dieser ist es, der der Konfiguration Der Psalter und der Rest der Heiligen Schrift zugrundeliegt. – Nachdem die biblische Seite mit den prinzipiellen Aussagen von Athanasius, Basilius und Dionysius vorgestellt wurde, begeben wir uns für die literarische Seite aufs freie Feld der Literatur und fragen nach Entsprechungen. Die Poesie und der Rest der Literatur Literatur kennt – in Variation der Wendung Klaus Weimars – Unterschiede. Weimar nennt Poesie, Drama und Erzählung/Epos, wobei letztere fester miteinander verbunden sind als beide mit der ersteren, der Poesie. Poesie ist von Herkunft ein Allerweltswort und nur künstlich auf den Umgang mit Worten Onasch, Lexikon Liturgie und Kunst der Ostkirche 1993, 289–291. Psalmen und Lesung: EH III, PG 3, 25BC; III 5, 432BC; IV, 473A; VII, 556C (umgekehrt); Oden und Liturgie: EH III 1, 428B; IV 3, 476D; VII 3, 556BC; VII 2, 557B. 91 92
408
§ 8 Heilige Schrift und Psalter
zu beschränken. Und selbst wenn soweit beschränkt, kann sie alles umfassen, Epos, Drama und Poesie, was deutlich macht: Poesie kommt zweimal vor, einmal bezogen auf alles, was literarisch ist, das andere Mal auf das Poetische in engerem Sinn. Des Weiteren kommt hinzu: In erster Linie steht sie im Kontrast zur Prosa; vielleicht sitzt sie deshalb in Weimars Trias so locker. Seit dem 18. Jahrhundert wird anstelle der notorisch vieldeutigen Poesie Lyrik bevorzugt; die klassische Dreiheit Lyrik, Dramatik, Epik bleibt in dieser Reihenfolge meist nicht ohne Beimischung einer Hierarchie der Literaturgattungen. Diese wirkt auch bei Weimar nach, der zuerst die Poesie mit ihren Kennzeichen: Reim, Rhythmus, Abweichung von Normalgrammatik, Zeilenbruch nachweist und erst dann, umständlich und über längere Wege, dieselben Kennzeichen oder ihre Derivate auch bei Drama und Erzählung aufsucht, sodass am Ende alle drei Gattungen zur Literatur gezählt werden, und zwar einer solchen, deren Kriterien zuvörderst in der enger verstandenen Poesie festgelegt wurden. Wiewohl Teil der Literatur, dirigiert Poesie die ganze. Wir erinnern uns: „Literatur schreibt und liest man als man selbst und als ein anderer, als biographische und als literarische Person.“93 Also sind es zwei Haupttätigkeiten, die sich auf Literatur beziehen, rezeptiv Lesen, produktiv Schreiben, ersteres entfaltet in einer Leselehre oder „Literaturtheorie“, letzteres in einer Schreiblehre oder „Poetik“,94 womit der weite Sinn aufgenommen wird, nicht der in der Literaturtheorie bevorzugte enge. Beide, Leser und Schreiber, tragen einen „Widerspruch“95 in sich, eine „Spaltung“,96 tragen sie nicht nur als zu ertragende, provozieren sie vielmehr als zu erprobende. Zwar geschieht dies in aller Literatur, aber in der Poesie intensiver; „Poesie“ – so Weimar – „ist eine gemachte Sondersprache mit eigenen Regeln auf der Basis der normalen Sprache“, und er fügt hinzu: das Schreiben von Poesie ist „eine besondere Art des Schreibens, ein simultanes Schreiben in zwei Sprachen.“97 An dieser Stelle fällt bei Weimar das Wort „Verdoppelung“,98 das erlaubt, die Linie wiederzuerkennen, die in der Lesetheologie als Wiederholung, Deuterosis, Verzweiung fast allgegenwärtig war. So ist im Sinne Weimars zu folgern: Poesie, obgleich nur Teil der Literatur, regiert deshalb den Rest der Literatur, weil in ihrer Schreibart die Verdopplung am direktesten zum Zuge kommt, die zwar aller Literatur gemeinsam ist, aber nirgends so sichtbar wird wie in der Poesie. Ist aber Verdopplung ein Ereignis sowohl der Leser‑ wie der Autorperspektive, geschieht sie einmal als Lesen im Lesen, das andere Mal als Schreiben im Schreiben. 93 Weimar,
ebd. § 171. ebd. §§ 71–183, §§ 184–280. 95 Weimar, ebd. § 164. 96 Weimar, ebd. §§ 176 ff, § 214. 97 Weimar, ebd. § 213 Anm. 98 Weimar, ebd. § 215. 94 Weimar,
2. Was ist Heilige Schrift?
409
Das ist nur die eine Seite der Betrachtung; sie steht im Zeichen der klassischen Hierarchie Lyrik, Dramatik, Epik, eine Betrachtung offenbar von oben nach unten, um nicht zu sagen: von weit oben. Über der Nachwirkung des 18. Jahrhunderts darf die Pilotfunktion, die Erzählung und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert angenommen haben, nicht vergessen werden. Daher liebt Joachim Küpper die welthaltigen Gattungen und bevorzugt die Betrachtung von unten. Als Markenzeichen des Literarischen nennt er Narrativität, Figuralität, Hybridität. Hier stellt sich „die entscheidende Frage, ob die Lyrik mit den drei genannten Merkmalen als Paradigma des Literarischen anzusehen ist (und dementsprechend die anderen Genera tendenziell als Schwundstufen), oder ob Lyrik nicht Paradigma, sondern extreme Realisierungsvariante einer diskursiven Komplexion wäre, wie ich sie in meinen an Roman und Drama bezogenen Überlegungen exponiert habe.“99 Die Ausrichtung von unten scheint Weimars Konfiguration von Poesie bzw. Lyrik und dem Rest der Literatur gründlich auszuhebeln; sie diskreditiert deren Hierarchiegläubigkeit, die der Ordnung des Dionysius Areopagita naheliegt. Küpper, der Antipode Weimars, bleibt der Stachel im Fleisch der Anschauungen von Poesie und Psalter und dem Rest der Literatur und der Heiligen Schrift. Er decouvriert deren Gehabe und gibt zu bedenken, was für Rest gehalten wird, könnte in Wahrheit das Erste sein. Er stärkt aufseiten der Literatur eine Umgewichtung, die aufseiten der Bibel dadurch bewirkt wird, dass sich die rabbinisch-jüdische Ordnung von Thora, Nebiim und Ketubim wieder als ursprüngliche gegen die patristisch-christliche Sonderrolle der Psalmen erhebt und diese in Reih und Glied zurückstellt. Aber so antipodisch die Modelle von Weimar und Küpper auch sind, darin berühren sie sich: Was bei Weimar mit „Spaltung“, „Verdoppelung“ ausgesagt war, kehrt bei Küpper als „Hybridität“ wieder. Literatur, so heißt es, ist „wesentlich ein hybrides Gebilde, ein Diskurs […] anderer Diskurse“, ein Mischdiskurs also, der seiner Aufgabe desto eher gerecht wird, je mehr inkorporierende, integrierende Kraft von ihm ausgeht. Zwar reden beide, Weimar und Küpper, vom Selben, von Verdopplung und Wiederholung, aber ihre Differenz manifestiert sich geradezu sinnlich und atmosphärisch in der verschiedenen Art, wie sie es tun. Küppers Terminologie steht im Zeichen von Integration und zielt auf Mischung; Weimars Terminologie steht im Zeichen der Spaltung, also Entmischung, und dies ist es, was Küpper befürchtet. „Was […] könnte ein Hybrid-Diskurs,“ sich selbst überlassen, „anderes sein als eine Wahnsinns-Rede“?100 Eine Extremisierung der Hybridität also, die „in die Irre“ führt?101 Eines muss in jedem Fall vermieden werden, dass Hybridität hybride wird (das Wort theologisch verstanden). Zwar nicht in Epik und Dramatik steht dies zu befürchten, wohl aber in der Lyrik. 99
Küpper, ebd. 213. Küpper, ebd. 194. 101 Küpper, ebd. 194 Anm. 26. 100
410
§ 8 Heilige Schrift und Psalter
Sobald die Lyrik ihre Bindung an die hybriditätszügelnden, weil der Welt zugewandten Modi der Narrativität und Figuralität verliert, droht sie die Grenzen zu überschreiten. Dann „werden Ressourcen der Sprache mobilisiert, wie sie auch die magische oder, in disziplinierterer Form, die rituelle, in unserer Kultur die liturgische Rede nutzen, ein suggestives Potential, […] das eben deshalb zum Faszinosum werden kann.“ Küppers Ansatz von unten gipfelt darin, vor lauter Dominanz des Rests der Literatur dasjenige, wovon dies der Rest ist (und sei er noch so groß), auszublenden. Dadurch macht er deutlich, dass es offenbar Texte in der Literatur gibt, in denen die Grenzen der Literatur explodieren. „Ich meine hier etwa Texte von Hölderlin“, sagt er. Und: „Elastizität schlägt um in Entgrenzung, möglicherweise in Transgression.“102 Somit kommt, wenn auch nur durch die Hintertür und um den Preis von „Irre“ und „Wahnsinn“, in den Blick: Ja, es gibt Literatur in der Literatur, nicht nur elastisch, sondern entgrenzt, und allenfalls sie, die magische, rituelle, liturgische Lyrik, bringt eine Konfiguration hervor wie die von Poesie und dem Rest der Literatur.103 Es war unsere Aufgabe, nach Bibel und Literatur und Bibel als Literatur, diversifizierend das eine, unifizierend das andere, zu Konfigurationen zu gelangen, die nicht bloß mit einem dogmatistischen Wissen, was Bibel oder was Literatur sei, operieren, sondern beschreiben, wie die Bibel sich in sich, und die Literatur sich in sich verdoppeln, das heißt, fragwürdig werden in sich selbst. Soviel ist gewiss, dass es nicht in erster Linie um das Verhältnis von Bibel und Literatur geht, sondern um das Verhältnis der Verhältnisse, die je für sich in Bibel und Literatur anzutreffen sind. Das ermutigt dazu, den Phänomenen, zu denen unserer (und Küppers) Behauptung zufolge die Heilige Schrift oder die Literatur der Rest sein soll, näherzutreten, in Hinsicht auf die eine dem Psalter, in Hinsicht auf die andere der Poesie oder Lyrik. Und da in diesem Paragraphen der Psalter das Ziel der Überlegung ist, ordnen wir beide Seiten so an, dass zuerst gefragt wird Was ist Poesie? Und dann Was ist Psalter?
3. Was ist Poesie? Dass Poesie quodammodo omnia ist, liegt allzusehr am Tag. Es kann nicht darum gehen, nach dem langen Weg der Lesetheologie jetzt, nachdem das Feld des vermeintlich Unpoetischen durchschritten scheint, zu erklären, was Poesie ist. 102 Küpper,
ebd. 214. den Anspruch, den ganzen Rest zur Literatur zu depotenzieren, rivalisieren Poesie und Bibel; erstere: Verlaine, Art poétique 1882, Z. 36, ŒC (Borel), 326 f: „Et tout le reste est littérature.“, letztere: Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse 1886, VIII, 247, KGW VI/2, 199: „Gegen Luther’s Bibel gehalten ist fast alles Übrige nur ‚Litteratur‘.“ Verschiebt sich aber die Grenze in die Bibel selbst, dann deklariert das Book of Common Prayer, die Bibel, gehalten gegen die Liturgie und Poesie des Psalters, zu „the rest of Holy Scripture“. 103 Um
3. Was ist Poesie?
411
Alles war quodammodo poetisch: das Buch, die Literatur, der Text, die Schrift. Selbst der Buchstabe, der bloße Buchstabe – man denke an Я und seine Wirkung – war schon poetisch. Gewiss ist mit den wenigen Themen der Lesetheologie nicht erschöpft, was der Satz, Poesie sei in gewisser Weise alles, zu denken gibt. Für die Infinitisierung des Poetischen ist schon gesorgt. Worum wir uns sorgen, ist die Definition. Anders als durch Definition ist Was ist Poesie? nicht zu beantworten. Nur mit der Definition darf nicht eingeschränkt werden, was ohne diese schon im Gang ist. Die Definition darf die Infinition des Definierten nicht ausschließen, soll sie im Gegenteil befördern. Daher steht unser Umgang mit Was ist Poesie? im Schnittpunkt widerstrebender Kräfte gerade dann, wenn wir in diesem Abschnitt einseitig den Versuch der Definition vorantreiben. Wie lässt sich definieren, ohne das Oppositum zu kennen, das die Grenze setzt? Herkömmlich gilt Prosa als Gegensatz zu Poesie, und dies wird die erste Ebene sein, auf der nach einer Antwort zu suchen ist. Auf einer zweiten Ebene soll, was auf der ersten gewonnen wurde, in seiner intrinsischen Instabilität beobachtet werden. Nicht nur erleidet es, es verlangt Inversion. Dann aber scheint die dritte Ebene erreicht zu sein, auf der die Antwort auf Was ist Poesie? in der Weise versucht werden kann, dass die Definition der Poesie deren Infinition freisetzt. a. Poesie und Prosa Von zwei Voraussetzungen gehen wir vorläufig aus. Die erste: Poesie und Prosa sind als Gegensatz konzipiert; opposita magis sese illucescunt; dementsprechend wird mit steigendem Gegensatz die Klarheit beider Begriffe steigen. Es handelt sich bei ihnen um eine Distinktion; diese wird desto klarer, je mehr sie in Richtung Antithese präzisiert wird, sei es als Disjunktion, sei es als Antinomie. Die zweite Voraussetzung: Poesie und Prosa haben im Lauf ihrer Geschichte weitgestreuten Sinn angenommen; mannigfache Ausweitung und Übertragung fand statt; man spricht von Poesie und Prosa in anderen als sprachlichen Künsten, nämlich in Musik und Malerei; darüber hinaus kennt man Formeln wie Poesie oder Prosa der Welt und des Lebens. Metaphorische Spannung wird spürbar, mal mehr, mal weniger. Im Duktus der Lesetheologie ist es unser Interesse, den metaphorischen Bogen möglichst flach zu halten und das Begriffspaar auf das Feld zu beschränken, in dem es ‚ursprünglich‘ zuhause ist, also auf Texte und Reden, wobei Texten der Vorrang zukommt, wie stark auch immer die Mündlichkeit diktieren will, was poetisch oder prosaisch zu sein habe. Von Herkunft her wird die Antithese Poesie/Prosa durch die Fachgebiete Poetik und Rhetorik geprägt, das heißt durch die Unterscheidung zweier Arten des Redens und Schreibens. Daher wird es im Interesse eines möglichst unmetaphorischen Sinns darum gehen, die Termini Poesie und Prosa möglichst auf Vorgänge des Redens und Schreibens, Hörens und
§ 8 Heilige Schrift und Psalter
412
Lesens zu begrenzen. Zwar ordnet die Tradition die schriftlichen Äußerungen den mündlichen unter und nach, aber im Zug der Lesetheologie fällt auf sie die allererste Aufmerksamkeit. Beiden Voraussetzungen, der ersten wie der zweiten, haftet eine gewisse Vorläufigkeit an; sie werden sich als Abstraktionen erweisen, die vor allem gut dazu sind, so schnell wie möglich zu verblassen, sobald wir uns den Phänomenen zuwenden. Was die erste Voraussetzung anlangt, werden Überschneidungen, Verschränkungen, Verwirrungen eintreten, weil die reine Antithese sich nicht in jedem Fall halten lässt; sie ist nur dazu da, um alsbald zu starten in einen komplexeren begrifflichen Prozess. Und was die zweite Voraussetzung anlangt, wird sich zeigen, dass der möglichst nichtmetaphorische Sinn beider Termini weit entfernt davon ist, eigentlich zu sein, vielmehr nur einen Durchgangspunkt darstellt in den metaphorischen Ausschlägen, zu denen er selbst gehört, wenn auch einen geringen. Die Sorge ist nicht, wie man das Begriffspaar freihalten soll von metaphorischen Ausweitungen, sondern wie umzugehen sei mit der unaufhaltsamen Neigung von Poesie und Prosa, sich zur Metapher zu erweitern. Mythologie, Etymologie Beide Voraussetzungen für Poesie und Prosa, deren Gegensatzstruktur wie deren Neigung zur Metapher, weisen in die Region von Mythologie und Etymologie, deren Zusammenhang seit Platons Kratylos als eng betrachtet werden darf. Wir fragen nach dem etymologischen Hintergrund, um die mythologische Bedingtheit zu erkennen, die Poesie und Prosa anhaftet und deren Neigung zur Metapher bewusst oder unbewusst lenkt. In der Tat lassen sich mythische Überbleibsel namhaft machen, wobei einmal die griechische, das andere Mal die römische Mythologie zu befragen ist. Dass die Poesie ihre unvergleichlich hohe Stellung der Herkunft von den Musen verdankt, dass die Musen als Töchter von Zeus und Mnemosyne olympischen Ursprungs sind und von Apoll als Gott des Gesangs und Saitenspiels geleitet werden: das macht die Poesie zur göttlichen Gabe und hebt sie über menschliche Tätigkeit hinaus.104 Die Namen der Musen, allesamt sprechende, bieten, wie Bruno Snell bemerkt, „in theologischer Form eine Poetik“105 und zeigen: Eine Poetik ohne theologische – oder gleichviel: mythologische – Form wäre nicht, was sie sein soll: Musenkunst. Jedoch der mythologische Zusammenhang von Theologie und Poetik, der selbst wenn negiert nachwirkt, ist stärker als der etymologische. Sucht man nach dem Namen der Muse, die der Poetik am nächsten steht, so zeigt sich, dass alle neun Musen Aspekte des Poetischen vertreten, und des Weiteren, dass keine Muse allein in der Lage ist, unter Ausschließung der anderen das Poetische in seiner göttlichen Ab104 105
Koller, Musik und Dichtung 1963. Snell, Die Entdeckung des Geistes 41975, 46.
3. Was ist Poesie?
413
kunft durchsichtig zu machen. Überhaupt verhält sich ποίησις, herkommend vom Allerweltswort ποιεῖν, spröde gegen Versuche der Mythologisierung und ist als Bezeichnung der alltäglich-handwerklichen Tätigkeit des Verfertigens dem Enthusiasmus göttlicher Begabung so entgegengesetzt wie nur möglich. Treffender wäre μουσική, nicht ποιητική gewesen, denn sie ist unter allen Arten von τέχνη oder ἐπιστήμη die einzige, die einen Götternamen trägt. Soll Poesie an die mythische Herkunft erinnern, darf Musik nicht weit entfernt sein. Wilhelm von Humboldt hat Wert darauf gelegt, „dass die Poesie in ihrem wahren Wesen von Musik unzertrennlich ist, die Prosa dagegen sich ausschliesslich der Sprache anvertraut.“106 Weshalb die so verstandene Poesie in scharfem Gegensatz zur Prosa steht, ergibt sich daraus ebenso wie ihre unvermeidliche Neigung zur Metapher. Wie nämlich die Poesie durch die Höhe ihrer Abkunft die Prosa überragt, so auch durch ihre Ausdehnung und Übertragung aus der Sprache in Gesang und Tanz – aber dies ist nur der Anfang ihrer multimetaphorischen, multimedialen Ausdehnung durch alle Bereiche von Wirklichkeit hindurch. Statt dem Ungleichgewicht – hier hohe Poesie göttlicher Abkunft, dort niedere Prosa von menschlicher Hand – stattzugeben, schickt Karlheinz Barck sich an, auch der Prosa göttliche Herkunft zu vindizieren.107 Geleitet vom Gesetz der römischen Sondergötter erkennt er in prosa kurzerhand die Göttin Prosa, von der man weiß, dass sie dem Kind während des Geburtsvorgangs zur Lage kopfvoraus verhilft. Aber nirgendwo wird sie in Verbindung zur rhetorischen oder literarischen Figur der Prosa gebracht, trotz gemeinsamer Benennung. Anders als bei der Poesie, wo der mythologische Zusammenhang stark und der etymologische schwach war, ist bei Prosa der etymologische Zusammenhang stark, der mythologische schwach. Prosa als sprachliches oder schriftliches Phänomen hat mit der Göttin nur die Etymologie gemein: prorsa, proversa bzw. provorsa, die vorwärtswendende im Falle der Göttin,108 die vorwärtsgewandte im Fall der Rede oder des Textes: prosa oratio.109 Während der Vergleich von Poesie und Prosa unter mythologischem Aspekt auf Ungleichgewicht zugunsten der Poesie hinausläuft, zeigt sich die Prosa imstande, ein Gleichgewicht zu erzeugen, indem sie von sich aus bestimmt, was ihr Oppositum sein soll, und nicht wartet, bis es von anderswoher diktiert wird. Weit entfernt davon, mythisches Relikt zu sein, ist Prosa als oratio pro(ver)sa das Gegenstück zu versus, also das dem Rückwärtsgewandten entgegengesetzte Vorwärtsgewandte. Eine solche Etymologie von Prosa erweckt gewiss keine apollinische Theologie, stellt vielmehr Verhältnisse des Ackerbaus vor Augen. Als Furche, Linie oder 106 W.v. Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachenbaues 1830/35, GS 7, 195/WW 3, 587. 107 Barck, Art. Poetisch – prosaisch 2003, 88b. 108 Hederich, Gründliches mythologisches Lexicon 1770, 2099. 109 Quintilian, Inst. or. I 5,18; XI 2,39.
414
§ 8 Heilige Schrift und Psalter
Zeile bezeichnet versus den Umstand, dass beim Pflügen ebenso wie bei den ältesten europäischen Schriften gewendet wird, dort an der Anwand, hier am Zeilenende, wovon im Griechischen wie im Lateinischen Ausdrücke erhalten geblieben sind: beide Verfahren sind βουστροϕηδόν (ochsenwendig), beide sind versura (Wende). Während die prosa geradeaus geht, wendet sich der versus zurück. Stärker könnte der Gegensatz nicht sein. Aber er impliziert keine Über‑ und Unterordnung. Vers und Prosa werden etymologisch durchsichtig als entgegengesetzte Richtungen, und die Bezeichnung für Rückwärtsgewandtheit bleibt dem Vers selbst dann erhalten, wenn er sich vom Boustrophedon löst und dieselbe Richtung wie die Prosa einschlägt, von der er sich nachwievor durch den Zeilensprung unterscheidet. Anders als in Platons Kratylos gehen Mythologie und Etymologie bei Poesie und Prosa verschiedene Wege. Die Mythologie lehrt etwas von der Höhe der Poesie und der Niedrigkeit der Prosa, die Etymologie zeigt fern aller Subordination den Gegensatz von rückwärtsgewandtem Vers und vorwärtsgewandter Prosa. Das hat Giorgio Agamben veranlasst, unter dem Titel „Idee der Prosa“ den „Kern des Verses“, „den Wesenszug der poetischen Rede“, zur Darstellung zu bringen.110 Wovon er ausgeht, ist „die zweideutige Bewegung, die gleichzeitig in entgegengesetzte Richtung weist, rückwärts (Vers) und vorwärts (pro-vorsa, Prosa).“ Das Verlangen nach „Definition“ von Poesie in den Wind schreibend, blickt er auf Definitionsversuche zurück und lässt sie definitiv hinter sich. Das „Wesen“ der Poesie und des Verses wird etwa in „Wesenszügen“ wie Quantität, Rhythmus oder Silbenzahl gesucht, aber vergeblich: es sind Elemente, die in der Prosa genauso auftauchen können. Darauf basierte ja Weimars Bestimmung der Literatur, dass Kennzeichen von Poesie auf Prosa übertragen werden.111 Ist aber die Differenz zwischen Poesie und Prosa nicht dingfest zu machen, da sie der Definition entgleitet, so orientiert Agamben sich an der „Möglichkeit des Enjambements“, von der so viel deutlich ist, dass sie gegebene Definitionen hinter sich lässt. Es ist keine Definition, wenn gesagt wird, dass das Enjambement der Prosa ermangelt. Daraus folgt aber nicht, dass es aus diesem Grund dem Vers eigentümlich wäre. Vielmehr: „jeder Vers, in dem es kein wirkliches Enjambement gibt, ist ein Vers mit Null-Enjambement“. Petrarca wird hierfür genannt. Die Definition des Verses als Null-Enjambement implementiert dem Definierten eine Unendlichkeit, die es aus dem Stand in Bewegung versetzt. Verhält es sich aber so, dass die Möglichkeit des Enjambements nicht nur dem Vers, sondern auch der Prosa mangelt, dann dürfen wir über Agambens Wortlaut hinaus selbst bei Prosa von Null-Enjambement sprechen, das eintritt, sobald diese Möglichkeit entfällt. Und hier geschieht dasselbe, dass in die Definition von Prosa eine Infinition implementiert wird, die sie aus 110 111
Agamben, Idee der Prosa 2003, 21–24. Weimar, ebd. §§ 114–115.
3. Was ist Poesie?
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dem Stand in Bewegung versetzt. Die Frage wird sein, ob Unendlichkeit der Prosa und Unendlichkeit der Poesie sich gleichen oder nicht. Der eigentliche Kern des Poetischen ist nun soweit entkernt, dass er gleichsam in der Luft hängt. Was das Lautwerden anlangt, so liegt er in der außergewöhnlichen atmosphärischen Spannung, was das Geschriebensein anlangt, im ungewöhnlich weiten weißen Zwischenraum. Hier spielt sich das Enjambement ab. Es geschieht, indem die Differenz zwischen syntaktischer und metrischer Grenze offengehalten wird. Dazu braucht es Entgrenzung; kollabiert die Differenz, so kollabiert das Enjambement. Es kollabiert, wenn dem „weitverbreiteten Vorurteil“ zufolge das Gedicht auf „vollkommene Übereinstimmung von Klang und Bedeutung“ reduziert wird. Das mag zwar auf das schöne Gedicht zutreffen, nicht aber auf dasjenige, das durch das „erhabene Zögern zwischen Bedeutung und Klang“ geprägt ist. Kurz: L’enjambement esibisce una non-coinciden za e una sconnessione fra elemento me trico e elemento sintattico, fra ritmo so noro e senso, quasi che, contrariamente a uno diffuso pregiudizio, che vede in essa il luogo di una raggiunta, perfetta adesione fra suono e senso, la poesia vivesse, invece, soltanto del loro intimo discordo. Il verso, nell’atto stesso in cui, spezzando un nesso sintattico, afferma la propria identità, è, però, irresistibilmente attratto a inarcarsi sul verso successivo, per afferrare ciò che ha rigettato fuori di sé: esso accenna un passo di prosa col gesto medesimo che attesta la propria versatilità. In questo gettarsi a capofitto sull’abisso del senso, l’unità puramente sonora del verso trasgredisce, con la propria misura, anche la propria identità.
Das Enjambement offenbart die Nicht- Koinzidenz und Unverbundenheit der metrischen und syntaktischen Elemente, von Lautrhythmus und Bedeutung, gleichsam als ob das Gedicht – entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil, das in ihm die vollkommene Übereinstimmung von Klang und Bedeutung verwirklicht sieht – sein Dasein nur deren innigster Zwietracht verdankte. Der Vers bestätigt in eben dem Augenblick, da er die syntaktische Verbindung sprengt, seine Identität: er wölbt sich, unwiderstehlich angezogen, in den folgenden Vers hinüber und sucht zu erreichen, was er zuvor aus sich stieß. Er spielt auf einen Prosaduktus an, durch eben die Bewegung, die seine Versatilität bezeugt. In diesem Sturz in den Abgrund der Bedeutung überschreitet die rein lautliche Einheit des Verses ihr eigenes Maß wie ihre Identität.112
Es fällt auf: Agamben spricht von Nicht-Koinzidenz in ebendemselben Sinn, in dem Cusanus von Koinzidenz sprach. Die Idee der Prosa ist die Poesie oder der Vers. Dies erinnert daran, dass umgekehrt Walter Benjamin für die „Idee der Poesie“ in der Frühromantik in Anspruch genommen hat, sie kenne „keine tiefere und treffendere Bestimmung für sie, als Prosa.“ Mit anderen Worten: „Die Idee der Poesie ist die Prosa.“113
112 113
Agamben, Idea della prosa 2002, 20 / Idee der Prosa 2003, 23. Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik 1920, GS I/1, 100 f.
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
Sprache, Schrift Die Entgegensetzung von Vorwärts und Rückwärts zur Unterscheidung von Poesie und Prosa, unterstützt durch das Bild des Boustrophedon, legt eine besondere Beziehung zur Schrift nahe, und zwar beider. Das Pflügen der Furche und das Ritzen der Zeile, die Wendungen geradeaus und zurück folgen denselben Vorstellungen. Dagegen Wilhelm von Humboldt hat darauf geachtet, die Differenz von Poesie und Prosa nicht der Schrift allein zu überlassen, sondern sie zuerst der Sprache zuzuordnen, dann der Schrift.114 Er ist weit entfernt davon, den versus oder die oratio pro(vor)sa als hinreichendes Unterscheidungsmerkmal gelten zu lassen oder auch nur zu erwähnen, und begnügt sich nicht damit, Poesie und Prosa lediglich als Ordnungsmerkmal literarischer Gattungen zu definieren. Er setzt tiefer an und erkennt in beiden „Erscheinungen“, die zur „ursprüngliche[n] Anlage“ der Sprache gehören, ja die „zuerst Entwicklungsbahnen der Intellectualität selbst“ sind.115 Die Sprache selbst also differenziert sich in Poesie und Prosa als „Gattungen“,116 noch bevor einzelne Gattungen als poetisch oder prosaisch bezeichnet werden. Tiefer als von Humboldt wurde die Differenz von Poesie und Prosa nie angesetzt. Sie entsteht durch eine Differenz des menschlichen Geistes im Umgang mit „Wirklichkeit“ und – wie Humboldt sich änigmatisch vernehmen lässt – „einem ihr nicht angehörigen Etwas“, das doppelt in Erscheinung tritt. Während die Poesie Wirklichkeit auffasst, sie aber als Wirklichkeit zurückstößt und deren sinnliche Erscheinung durch die Kraft der Einbildung zur subjektiven „Anschauung eines künstlerisch idealischen Ganzen“ verknüpft, verknüpft die Prosa die Wirklichkeit als Wirklichkeit durch intellektuelle Begriffsbildung zum objektiv-realen Zusammenhang in einer Idee. Geschieht somit Differenzierung bereits auf der Ebene der Intellektualität, kann auf der sprachlichen Ebene zwar die „prosaische Richtung in gebundener und die poetische in freier Rede“ ausgeführt werden, jedoch „meistentheils“ gehören beide zu beiden, sodass auf der einen Seite „das poetisch ausgedrückte Prosaische“, auf der anderen die „in Prosa gekleidete Poesie“ die sprachliche Ausführung bestimmt.117 Gibt es daher Poesie und Prosa in jedem einzelnen Fall in verschiedenen Anteilen gemischt, schlägt sich dies darin nieder, dass es höhere und niedere Formen gibt. In der Prosa so, dass es in der gewöhnlichen Prosa nur um „Mittheilung von Sachen“ geht, während die „höhere Prosa“118 sich 114 Humboldt, ebd. 193–206, 206–209/584–599, 599–603. Steinthal, Die sprachphilosophischen Schriften 1884, 531 fügt der ersten Überschrift „Poesie und Prosa [der Sprache]“ die zweite hinzu: „Poesie, Prosa und Schrift“. 115 Humboldt, ebd. 193/584; dem folgt Steinthal, Poesie und Prosa 1869, 352. 116 Humboldt, ebd. 209/603. 117 Humboldt, ebd. 193 f/585. 118 Humboldt, ebd. 196/588; cf. GS 5, 36.
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der „Anregung von Ideen oder Empfindungen“ widmet;119 in der Poesie so, dass deren wahres Wesen, die hohe Poesie, eingelassen ist in die vielschichtige Resonanz des außersprachlichen, musischen Kontexts, während sie sich, sobald sich die Sprache aus diesem Kontext entfernt, dem gewöhnlichen Leben verfällt und sich schlichter Prosa nähert. Erst nach Abschluss der Beziehung von Poesie und Prosa zur Sprache gelangt Humboldt – wie zur Nachholung eines bislang Vergessenen – zur „Beziehung beider auf die Schrift.“120 Schon diese Anordnung des Textes muss das alte Vorurteil nähren, wie die Aufmerksamkeit auf die Schrift erst nachträglich zur Sprache hinzukommt, so komme auch die Prosa erst nachträglich zur Poesie hinzu.121 In der Tat verstärkt die Passage über Schrift die Widerspannung, in der sich bereits die Passage über Sprache befunden hatte. Ging es bei der Sprache darum, die Übermacht des Gefälles von der hohen Poesie zur gewöhnlichen Prosa dadurch zu brechen, dass beide sowohl hoch wie niedrig sind und gleichursprünglich als elementarste Gattungen der Sprache und als Gefährten in Erscheinung treten, so geht es bei der Schrift darum zu zeigen, dass Poesie und Prosa gleichursprünglich sind wie Sprache und Schrift und sich trotz der Verschiedenheit ihrer Wege auf denselben Zweck richten. Humboldt wendet sich gegen das Vorurteil, in der Prosa verhalte sich „alles ganz anders“122 als in der Poesie; Poesie sei aus primärem Sprachgeist und eigener Gedächtniskraft, Prosa aus sekundärer Schriftlichkeit und zerstörter Mnemosyne entstanden. Daher: Obgleich das Thema Schrift äußerlich als Nachtrag zur Sprache eingeführt wird, ist es das innere Ziel der Argumentation, das Verhältnis von Poesie und Prosa selbst gegen Widerstand als gleichursprünglich in Sprache und Schrift durchzusetzen. Ist damit das Argumentationsziel Humboldts richtig erfasst, hat es sich gegen zwei Seiten zu bewähren. – Die eine Seite ist die These vom Vorrang der Poesie vor der Prosa, die, wie zu sehen war, tief in griechischer Mythologie verankert ist. Jedoch schon der Denker der delphischen Theologie, Plutarch, konnte sie nur noch in der Form weitergeben, einst habe Apoll im Orakel zwar poetisch gesprochen, jetzt spreche er prosaisch.123 Das ist der Hintergrund, wenn in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Anciennität der Poesie emphatisch wiederholt wird. So Jean-Jacques Rousseau; wie beim Menschen die Sprache der Affekte der des Verstandes vorausging, so auch: „La poesie fut trouvée avant la prose“.124 Der Ursprung der Sprache geschah in eins mit der Musik. Ebenso Johann Georg Hamann, zwar unter Verzicht darauf, Poesie und Prosa, 119 Humboldt,
ebd. 194/586. Humboldt, ebd. 206/599. 121 Humboldt, ebd. 196/588. 122 Humboldt, ebd. 206/600. 123 Plutarch, De Pyth. orac. 23 f, 405D–406F; Poesie: μέτρον, μέλος, ᾠδή, τὸ ἔμμετρον; Prosa: καταλογάδην, τὸ πεζόν. 124 Rousseau, Essai sur l’origine des langues (nach 1756), 12 (Porset 141). 120
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
Sprache und Schrift in direkten Vergleich zu bringen, dafür mit umso stärkerer schöpfungstheologischer Betonung: „Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts“.125 So endlich Johann Gottfried Herder; er übernimmt in sinnesphysiologischer Absicht die These Thomas Blackwells,126 „,daß nemlich Poesie älter gewesen, als Prosa!‘“127 Gegen die eindrückliche Übermacht dieses Vorurteils argumentiert Humboldt: „Genau genommen lässt sich nie sagen, dass die Prosa aus der Poesie hervorgeht.“ Selbst wenn die zeitliche Differenz zwischen beiden nicht von der Hand zu weisen ist, bleibt gegen die Voreingenommenheit der griechischen Mythologie wahr: „Der Keim zur Griechischen Prosa lag, wie der zur Poesie, schon ursprünglich im Griechischen Geiste“.128 Aber das ist nur die eine Seite, deren Humboldt sich zu erwehren hat. – Auch die entgegengesetzte These vom Vorrang der Prosa hat sich, wenngleich seltener, zu Wort gemeldet. Mit Anspielung auf die griechische Bezeichnung für Prosa, πεζόν/pedestre, hat Gerardus J. Vossius gemeint, bevor der Mensch sich aufs hohe Ross setze, sei er zu Fuß unterwegs; daher: „Satis […] liquet, homines priùs prosâ locutos, quàm metro.“129 Diese These erhält eine neue Qualität, wenn ihr Derridas Grammatologie unter die Arme greift und als Gegengewicht zum griechischen Mythos vom Vorrang der Mündlichkeit der Poesie an die unauflösbare Verbindung von Schriftlichkeit und Prosa erinnert und behauptet: „Die Schrift im herkömmlichen Sinn ist […] selber prosaisch. Sie ist die Prosa.“130 Von Derrida wird man daher auf Was ist Dichtung? keine andere Antwort erwarten als die: Allein schon die Frage „,Was ist …?‘ beweint das Verschwinden des Gedichts […]. Indem sie das, was so ist, wie es ist, ankündigt, begrüßt eine Frage die Geburt der Prosa.“131 Hiergegen zu argumentieren, fällt Humboldt deutlich schwerer, und dennoch tut er es mit derselben Konsequenz wie gegen das poetische Vorurteil. Wie er auf der Seite der Poesie bestrebt ist, die beiden Epochen der ursprünglich „natürlichen“ und der späteren „kunstvollen“ Poesie tunlichst einander anzunähern, so bemüht er sich für die Seite der Prosa, die nach allgemeinem Vorurteil „nicht auf dieselbe Weise und noch weniger in denselben Perioden“ zur Darstellung gebracht werden kann wie die Poesie, zu behaupten: „Allein in anderer Art ist dasselbe auch bei ihr der Fall.“132 Auch sie gliedert sich, analog zur Poesie, in eine Epoche der ursprünglich „natürlichen“ und späteren „kunstvolleren“ Entwicklung, sodass mit dem ersten Vorurteil auch das zweite fällt. Verläuft die Argumentation 125 Hamann, Aesthetica
in nuce 1762, SW 2, 197,15. enquiry into the life and writings of Homer 21736, 38: Zu ᾄδειν: „hence came the ancient Opinion, which appears so strange to us, ‚That Poetry was before Prose‘.“ 127 Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, WW 1, 740,13. 128 Humboldt, ebd. 196/588. 129 Vossius, De artis poeticae natura 1647, 2. 130 Derrida, Grammatologie 1974, 493. 131 Derrida, Was ist Dichtung? 1990, Schluss. 132 Humboldt, ebd. 208/602. 126 Blackwell, An
3. Was ist Poesie?
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Humboldts als Kritik nach beiden Seiten, dann ist als Extrakt festzuhalten, dass die Unterscheidung von Poesie und Prosa, die allerdings stattfinden soll, weder durch den Vorrang einer dieser beiden, noch durch den prinzipiellen Vorrang von Schrift oder Sprache stabilisiert wird. Verhält sich die Unterscheidung von Sprache und Schrift neutral zu der von Poesie und Prosa, weil beide in beiden wirksam sind, und erweist sich die Behauptung des Vorrangs von Poesie oder Prosa als falsch, dann ist deren Unterscheidung aus andern als den bisherigen Gründen zu erklären.
Wende Wenn also – folgt man Humboldt – hinreichend dargetan ist, dass Poesie und Prosa gleichursprünglich sind und die Distinktion zwischen ihnen sich gleichermaßen auf Sprache und Schrift bezieht, sodass die Poesie weder einseitig die Prosa beherrscht, noch einseitig in Prosa ausgeht, sei es als Prosa der Welt oder als unvermeidlich voranschreitende Rückschritte der Poesie, wenn es sich ferner so verhält, dass die beiden Geschlechter Sprache und Schrift sowohl in einem poetisch ausgedrückten Prosaischen als auch in prosaisch gekleideter Poesie,133 das heißt, ebenso als poetische Prosa wie als prosaische Poesie in Erscheinung treten können, und wenn sich des Weiteren zeigt, dass Prosa zwar in strenger Antithese zum Vers steht, nicht aber zur Poesie überhaupt, und umgekehrt, dass die Poesie nicht in gänzlicher Disjunktion zur Prosa steht, vielmehr beide sich in Wechselwirkung durchdringen: warum soll diesem auf Ausgleich bedachten und soweit stabilen System einer Differenz eine Wende bevorstehen? Das ist die These, die Karlheinz Barck in Hinsicht auf die Frühromantik formuliert: Es handle sich um „eine (wo nicht die entscheidende) Wende“.134 Der Grund hierfür liege bereits in der Differenz als bloßer Form. Wo immer Differenz ist, auch wenn es sich um eine wohletablierte wie die von Humboldt ins Lot gebrachte von Poesie und Prosa handelt, setzt sie immer schon sich selbst voraus. Molières Monsieur Jourdain widerfährt, als er auf die Disjunktion der französischen Klassik zwischen Vers und Prosa aufmerksam gemacht wird, dass er den Begriff der Prosa verdoppeln muss, um den Unterschied von Poesie und Prosa erklären zu können. Offenbar liegt Prosa der vorliterarischen Alltagsrede der Differenz von Vers und Prosa als Kunst oder Literatur immer schon voraus, und ohne diese könnte die Differenz nicht vollzogen werden. Die begriffliche Differenz von Prosa und Poesie erweist sich als Wiederholung – das Re-entry – einer unbegrifflichen Differenz, mit der die begriffliche erst ins Werk gesetzt wird. Barck spricht vom Eintritt einer Paradoxie.135 Sie ist es, die die Wende im Begriff erzwingt. 133
S. Anm. 117. Barck, Art. Prosaisch-poetisch, 97a, 100b. 135 Barck, ebd. 88a; cf. 97b, 98a. 134
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
Was aufseiten der Prosa geschieht, ist prinzipiell ebenso aufseiten der Poesie möglich. Auch diese kann, ja muss sich verdoppeln, um die begriffliche Differenz von Poesie und Prosa zu ermöglichen. Ein latentes Bewusstsein dafür war bei Humboldt zu beobachten; er konnte weder von Poesie noch von Prosa reden, ohne dass sich die eine wie die andere in höhere Poesie oder höhere Prosa verdoppelte.136 Beide Verdopplungen werden in der Frühromantik explizit durchgeführt. – Auf der Seite der Poesie hat Novalis gefordert, der endliche, durch Strenge von Regeln bestimmte Begriff der Poesie sei – das ist die Wende – in Hinsicht auf einen höheren Begriff zu erweitern; er spricht von der „erweiterte[n]“ und „höhern Poësie“, deren Grundsätze sich zur niederen verhalten wie Grundsätze der höheren zur niederen Messkunde. Gerade die erweiterte Poesie ist „das höchste Problem des practischen Dichters“, welches „nur durch Annäherung gelößt werden“ kann. Damit ist das Verfahren gemeint, das in der Leibnizschen Geometrie als kontinuierliche Approximation und Exhaustion des Unendlichen gelehrt wird. Novalis beschließt seine Beobachtungen zur Verdopplung von Poesie: „Hier ist noch ein unermeßliches Feld – ein, im eigentlichsten Sinn, unendliches Gebiet – Man könnte jene höhere Poësie die Poësie des Unendlichen nennen.“137 Dass damit die Unendlichkeitsfigur Poesie der Poesie im Raum steht, ergibt sich von selbst. – Auf der Seite der Prosa hat Friedrich Schlegel das Problem an diesem Punkt aufgenommen. Primär interessiert an der Theorie des Romans sucht er die begriffliche Differenz von geregelter Poesie und geregelter Prosa zu unterlaufen, einerlei ob die dadurch zu erschließende Ebene als „Prosa“ oder als „Poesie der Poesie“ bezeichnet wird.138 In jedem Fall tritt Paradoxierung des Begriffs der Prosa ein. Schlegel hat sie schon früh beobachtet. „Was Prosa eigent.[lich] sei, hat noch niemand gesagt.“ Es gibt zwar Naturprosa und Kunstprosa, es gibt Poesie ohne Metrum wie Goethes Meister und metrische Prosa wie Lessings Nathan, aber Prosa eigentlich setzt eine Wende voraus, die den Gegensatz übersteigt. Deshalb arbeitet Schlegel an der Verunendlichung des Prosabegriffs. „Die Grundlage der Prosa ist dialektisch“, heißt es.139 Und ebenso: „Alle π[Poesie] soll Prosa, und alle Prosa soll π[Poesie] sein. Alle Prosa soll romantisch sein.“140 Indem Schlegel für die Verunendlichung ein klares Sowohl-Als auch namhaft macht, kommen wir in die Nähe des Weder-Noch, mit dem Agamben die Idee der Prosa beschlossen hat: „weder poetisch noch prosaisch“, „weder Poesie noch Prosa“, sagt er.141 Dieses Zusammentreffen des Sowohl-Als auch und des Weder-Noch, Zusammentreffen einer Kontradiktion 136 S. Anm. 118. 137 Novalis
an A. W. Schlegel, 12. 1. 1798, NS 4, 247. zur Poesie und Literatur II 1800/01, X, Nr. 101, FSKA 16, 354. 139 F. Schlegel, Fragmente zur Litteratur und Poesie 1797, V, Nr. 588, FSKA 16, 134. 140 F. Schlegel, ebd. Nr. 606, FSKA 16, 136. 141 Agamben, Idee der Prosa, 23 f. 138 F. Schlegel, Fragmente
3. Was ist Poesie?
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und einer Neutrodiktion, ist es, was Novalis eher Poesie nennt: „Die Poësie ist die Prosa unter den Künsten“,142 Schlegel eher Prosa: Prosa ist die Poesie der Poesie. Natürlich wollte man Wendungen dieser Art lieber vermeiden. Man muss es versuchen, um zu erkennen: sie wenden sich von selbst.
Mise en abîme
Bekanntlich hat Aristoteles in der Rhetorik die Art der Prosarede so bestimmt oder un-bestimmt, dass er sie zwischen ein Weder-Noch stellt. Während dies in Hinsicht auf den Rhythmus in III 8 geschieht, folgt in III 9 ein Kapitel, das in Hinsicht auf die Periodenstruktur dieselbe Überlegung durchführt, nur anders. Er argumentiert nicht wie früher mit Weder-Noch (μήτε-μήτε), sondern mit Entweder-Oder (ἤ-ἤ), was die beiden Kapitel, das erste über den Rhythmus, das zweite über die Periode, unvergleichlich macht, trotz Parallelen im einzelnen. Die Eingangsthese von III 8 fordert: Τὸ δὲ σχῆμα τῆς λέξεως δεῖ μήτε ἔμμετρον εἶναι μήτε ἄρρυθμον (Die äußere Gestalt der Sprache darf weder metrisch gebunden noch arhythmisch sein).143 Hingegen III 9 beginnt mit der Feststellung, τὴν δὲ λέξιν ἀνάγκη εἶναι ἢ εἰρομένην […] ἢ κατεστραμμένην (die sprachliche Form [müsse] entweder fortlaufend sein […] oder gegliedert),144 was trotz Ähnlichkeit im Einzelnen eine andere Argumentationsstruktur nach sich zieht. Die Berührung zwischen beiden Kapiteln besteht darin, dass die Prosarede, gerade weil im Vergleich zur Poesie ungebunden, davon bedroht ist, ins Unendliche fortzulaufen, und dies sowohl in Hinsicht auf den Rhythmus wie in Hinsicht auf den Periodenbau. Mit dem Verlust an Rhythmizität droht der Prosarede Unbegrenztheit (ἀπέραντον); „droht“ deshalb, weil das Unendliche (ἄπειρον) unangenehm und unerkennbar ist.145 Der Verlust der Periodizität ebenso: läuft eine Rede ohne Gliederung durchaus fort, ist sie unangenehm ihrer Unendlichkeit (ἄπειρον) wegen;146 angenehm wäre sie gewesen, wenn sie sich dem Unbegrenzten (ἀπέραντον) entgegensetzt, und wohlfasslich, wenn sie sich dem Gedächtnis einprägt.147 Beide Kapitel wenden sich gegen die Gefahr, dass die Prosarede sich im Unendlichen verliert, aber tun es mit verschiedener Argumentationsstruktur. Das Kapitel über die Periode setzt dem ins Leere Fortlaufenden die Gliederung durch Anfang, Mitte und Ende entgegen und bedient sich der Form der Disjunktion: Entweder-Oder. Hingegen das Kapitel über den Rhythmus sticht hervor, weil es in der Form der Neutrodiktion argumentiert: Weder-Noch. Das bringt mit sich, dass die Ant142 Novalis,
Das Allgemeine Brouillon 1798/99, Nr. 382, NS 3, 309. Rhet. III 8, 1408b21 f; AWD 4/1, 140. 144 Aristoteles, Rhet. III 9, 1409a24.26; ebd. 141. 145 Aristoteles, Rhet. III 8, 1408b26–28. 146 Aristoteles, Rhet. III 9, 1408a31. 147 Aristoteles, Rhet. III 9, 1409b1–6. 143 Aristoteles,
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wort auf die Gefahr des Verlusts der Periode in Form einer Setzung erfolgt, während diejenige auf die Gefahr des Verlusts des Rhythmus – τὸ ἄρρυθμον τὸ ἄϕθεγκτον – nur in Form einer Schwebung gegeben werden kann. Genau dies ist es, weshalb dem Kapitel über den Rhythmus vorzüglich die Aufmerksamkeit gebührt. Davon, dass das Periodenkapitel etwas zur Lösung vortrage, was im Rhythmuskapitel ungelöst, weil in der Schwebe bleibt, kann keine Rede sein. Vielmehr erringt erst das Rhythmuskapitel einen Komplexitätsgrad, den sich das Periodenkapitel erspart. Sehen wir genauer zu. Dass die Prosarede – und für Aristoteles nur sie – von Unendlichkeit bedroht wird, liegt in der Natur der Sache. Bestimmt als das Ungebundene im Gegensatz zum Gebundenen, ereilt diese Bestimmung selbst, womit sie vollzogen wurde: die Ungebundenheit. Sie droht alsbald die vorgetragene Bestimmung zur Unbestimmtheit zu machen, oder die Definition zur Infinition. Ist Prosa das Ungebundene, dann ist sie das per se Unbestimmte, das sich ins Unendliche verläuft. Nichts ist bedrohlicher für die Prosa, als wenn es genauso weitergeht. Die Bedrohung entsteht durch eine Art von Unendlichkeit, die den Charakter der Endlosigkeit hat. Das kann auf der Ebene des Rhythmus geschehen, dann durch Entrhythmisierung bis zum ἄρρυθμον, oder auf der Ebene der Periode, dann durch Entperiodisierung bis zur εἰρομένη λέξις, der Sprechweise, die geradeso fortläuft. Und leicht wird man andere Parameter der Sprache anführen können, in denen sich dieselbe Gefahr meldet: Entsemantisierung, Entsyntaktisierung, Entphonetisierung. Kein Parameter der Sprache, dem nicht dieselbe Gefahr droht. So kann es nicht weitergehen. Die Prosarede, wenn bestimmt durch die Unbestimmtheit der Ungebundenheit, bedarf des Halts, wenn sie sich nicht selbst ad absurdum führen soll. Das Periodenkapitel verfügt über eine Antwort, indem es setzt: nicht ungegliedert, sondern gegliedert. Aber das Rhythmuskapitel verfügt über keine Antwort, stellt nur zur Erwägung: nicht ungebunden, auch nicht gebunden. Warum nicht ungebunden, dürfte klar sein. Aber warum nicht gebunden? Die Wortwahl des Aristoteles macht klar, dass es sich um keinen direkten Gegensatz handelt – dieser hätte ἔμμετρον/ἄμετρον oder ἔρρυθμον/ ἄρρυθμον gelautet –, sondern um einen indirekten, gekröpften. Genauer, es handelt sich um Kreuzung zweier Gegensätze, mit der Folge, dass nicht zwei gegenüber-, sondern zwei nebeneinanderliegende Termini das Gegensatzpaar bilden, nicht als gesetzte, sondern als negierte. Und beide so, dass auch deren Alternativen, ἄμετρον auf der einen und ἔρρυθμον auf der anderen Seite, bereits abgewählt sind. Noch einmal: Warum nicht metrisch gebunden? Die Antwort des Aristoteles ist wie die vorige dem alltäglichen Leben so nah wie nur möglich. Sie nennt zwei Gründe: Das metrisch Gebundene wäre in der Prosarede teils unüberzeugend (ἀπίθανον), teils bringt es aus der Fassung (ἐξίστησι). Das erste, weil es gekünstelt scheint (πεπλάσθαι γὰρ δοκεῖ), was gegen das rhetorische Gebot des celare artem verstößt; dass man die Kunst verbergen muss (δεῖ λανθάνειν ποιοῦντας), heißt nicht weniger als dass Rhetorik die Poetik in sich
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verbergen muss.148 Das zweite, weil das Versmaß die Aufmerksamkeit von den Sachen abzieht und auf die sprachliche Form fokussiert; man fragt: wann wird das Ähnliche wiederkehren? Die Verschiebung der Aufmerksamkeit von der Extension auf die Intension wird als Verlust der Fassung erfahren, als ob entgegen der gewohnten Sprechweise (εἰωθυία διάλεκτος) der Redende nicht mit eigener Stimme, sondern mit fremden Stimmen rede, das heißt: als ob er als er selbst und als ein Anderer redete.149 Verhält es sich aber bei beiden Gründen so, dass die Prosarede genauso, wie sie zuerst ihre Prosaisierung abwehren musste, sich jetzt der Poetisierung zu erwehren hat, durch die ihr gänzliche Alterierung und Verfremdung drohen, dann stellt sich die Frage: Wenn es im Fall unerwünschter Prosaisierung die Unendlichkeit dessen war, dass sich weiter und weiter eins ans andere reiht, ist es dann im Fall unerwünschter Poetisierung nicht ebenfalls Unendlichkeit, die nämlich, dass es nicht so weitergeht, dass vielmehr die gewöhnliche Aufmerksamkeit ein‑ und Fassungslosigkeit ausbricht und sich in der eigenen Stimme wie in einer fremden Ähnliches ständig wiederholt? Aber selbst wenn Unendlichkeit hier und Unendlichkeit dort eintritt, so gleichen sich die beiden nicht. Die Unendlichkeit der Prosaisierung, die von der Beziehung der Sprache auf Welt vorangetrieben wird, nannten wir eine solche der Endlosigkeit. Hegel hätte sie schlechte Unendlichkeit genannt. Dagegen Unendlichkeit der Poetisierung entsteht durch Wendung der Sprache auf sich selbst, und die Selbstbeziehung, die daraus entsteht, manifestiert sich nicht im Fortlaufen, sondern in der Wiederholung, die in die gewöhnliche Sprechweise wie etwas Fremdes einbricht. Wenn aber, wie wir sahen, die Argumentation des Aristoteles auf einem gekröpften Gegensatz, das heißt auf der Kreuzung zweier Gegensätze beruht, dann löst sich auch die Widersinnigkeit, zwei Unendlichkeiten anzunehmen, die entgegengesetzt sein sollen. Sie liegen einander nicht direkt entgegen, sondern kreuzen sich – in der Vorstellung die Prosa waagrecht, die Poesie senkrecht – als Elemente zweier zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit ausgestreckter Achsen, die sich zwar überschneiden, aber nie in eine zusammenfallen. Fielen sie zusammen, entstünde auf der einen Seite Prosa ohne jegliche Beimischung von Poesie: endlose Unendlichkeit dessen, was sich alles ausdenken lässt, auf der anderen Poesie ohne jede Beimischung von Prosa: unendliche Unendlichkeit dessen, was nicht auszudenken ist. Dass sich zwei Unendlichkeiten in der gemutmaßten Weise schneiden, vermag Licht zu werfen auf Psalm 42(41),8 abyssus abyssum invocat, eine Phrase, um deren Verständnis seit der Patristik gerungen wurde.150 Weshalb von zwei Abgründen die Rede sein muss, findet eine überraschende Erklärung. Jede lebendige Rede und jeder lebendige Text steht zwischen zwei Abgründen ebenso wie Aristoteles, Rhet. III 8, 1408b22 f → III 2, 1404b18–20. Aristoteles, Rhet. III 8, 1408b22–24 → III 2, 1404b23–25. 150 Vf., Resonanz 2016, 136–141. 148 149
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zwischen zwei Unendlichkeiten, die sie, wenn sie eintreten, auf verschiedene Weise zerstören, aber eben auch ermöglichen. Nur deshalb läuft das mit abyssus abyssum Bezeichnete nicht ins Leere. Es schafft Einsicht, weshalb das Geschehen zwischen den Abgründen invocare heißt. Zwischen zwei Abgründen befindet sich, wer mit den Psalmen spricht: invocavero te.151 Was meint Agamben, wenn er eben diesen sprachlichen Vorgang als „Sturz in den Abgrund“ bezeichnet? Die mise en abîme geschieht darin, dass sich in jedem wirklichen Sprechen zwei Abgründe treffen, die den sprachlichen Akt destruierten, wenn sie ihn nicht konstituierten. Das ist es, was Lucien Dällenbach als „dédoublement paradoxal“ analysiert152 und Agamben als Schwebung von Klang und Bedeutung beschreibt.
b. Inversionen des Platonismus Von platonischer Poetik zu sprechen bedarf angesichts der Tatsache, dass es eine aristotelische Poetik gibt, eine platonische aber nicht, eigener Begründung. Manfred Fuhrmann hat sich mit guten Gründen entschieden, von einer etwaigen Kunst‑ oder Dichtungslehre Platons nicht selbständig zu handeln, sondern die dazu gehörigen Elemente der aristotelischen Poetik als „Vorgeschichte“ zu inkorporieren.153 Bei Aristoteles werden sie dann leicht vernachlässigt: so die produktionsästhetischen Aspekte der Theorie des Enthusiasmos und des Schönen, oder sie werden in Umdeutung übernommen: so die Mimesistheorie und die Klassifizierung der Dichtungsgattungen, oder sie fallen der Differenz zwischen den Ontologien und Ethiken hier und dort anheim: so in Hinsicht auf Wirklichkeitsbezug, Inhalt und Wirkung der Poesie.154 Spricht man dagegen weiterhin von platonischer Poetik oder von der Poetik Platons, so kann dies einerseits mit Blick auf die Wirkungsgeschichte geschehen, die sich mit dem Strom der aristotelischen Poetik kreuzt. Wir werden sehen, welche Rolle Ps.-Longins Vom Erhabenen spielt; mit diesem Werk tritt erstmals, vermutlich im postaugusteischen Zeitalter, von Platon inspirierte Poetik als selbständiges Werk neben das Werk des Aristoteles und Horaz’ De arte poetica, und die Wiederentdeckung Longins im 18. Jahrhundert macht, dass man sich die Poetik der Psalmen ohne die Impulse der platonischen Poetik nicht denken kann. Andererseits sind es Texte Platons oder des Platonismus, deren Aussagen Anlass dazu geben, bedingt von einer platonischen Poetik zu sprechen. Platons Werk wird stets damit verbunden sein, dass es eine solche schon deshalb nicht geben kann, weil seit Politeia Buch X Kunst und Poesie der „ontologische[n] Nichtigkeitserklärung“ unterliegen.155 Vermögen 151 Ps
102(101),3; 138(137),3. Le récit spéculaire 1979, 142 f. 153 Fuhrmann, Einführung in die antike Dichtungstheorie 1973, 71, 73. 154 Fuhrmann, ebd. 87–90. 155 Fuhrmann, ebd. 81. 152 Dällenbach,
3. Was ist Poesie?
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schon Handwerker nur Abbilder von Ideen zu fertigen, so bleibt den Künstlern, sich mit Abbildern der Abbilder zu begnügen. Nach der Ordnung der Mimesis gehört ihnen der dritte und letzte Rang. Und währenddessen, weit entfernt davon, dass sich die ποίησις zur göttlichen Begeisterung aufschwingt, stürzt ihre Valenz als bloßes Herstellen ins Bodenlose. Fuhrmann löst sich von diesen Aspekten: „Es erübrigt sich, auf diese Sophismen des näheren einzugehen.“156 Nachhängen werden sie doch. Was ist platonische Poetik, wenn nur platonische Anti-Poetik zu Gesicht kommt? Zwei Rubriken sind es, in die man Platons Aussagen gliedern kann. Die eine gehört unter das Stichwort Mimesis (Darstellung); dabei verfällt Platon schnell einem dichtungskritischen Ton, während Aristoteles hierbei erst recht zur Sache kommt. Die andere gehört unter den Titel des Enthusiasmos; Hermann Gundert hat ihn durch Apologie und frühe Dialoge, Ion,157 Menon hindurch verfolgt bis zum Phaidros,158 in dem der Enthusiasmos, der an sich außerhalb der Philosophie steht, in die Philosophie eintritt und den Aufschwung der Seele zum göttlich Schönen bewirkt. In diesem Bereich finden sich die Elemente, aus denen zusammenzustellen ist, was hier als platonistische Poetik und zunächst als die Platons bezeichnet wird. Platons zwiespältige Poetik An diese Unterscheidung zweier thematischer Schwerpunkte der platonischen Poetik, Unterscheidung aber auch zweier Wertungen, wahr/falsch, positiv/ negativ, schließt Maria Moog-Grünewald an, wenn sie in Hinsicht auf die von der Antipoetik der Mimesis Betroffenen von „Mimetikern“, in Hinsicht auf die von der Poetik des Enthusiasmos Betroffenen, einen Terminus des Symposion aufnehmend,159 von den „Heuretikern“ spricht, erstere dem Verdikt Platons verfallend, letztere solche, die zwar philosophisches Wissen nicht erreichen, in ihrer Begeisterung jedoch in der Lage sind, wenigstens die richtige Meinung (ὀρθὴ δόξα) wiederzugeben, meinend, nicht wissend. Während jene, die Mimetiker, nicht aufhören, in Tragödien, Komödien und Epen sinnlich Wahrnehmbares darzustellen, nur Schein des Scheins und vom Sein nichts verstehen, sodass sie aus dem Staate zu entfernen sind,160 kann diesen, den Heuretikern, zugebilligt werden, dass sie in den Grenzen richtigen Meinens Gutes tun. Ihnen steht nach Drama und Epos das dritte Genus der Dichtung zu Gebote, in Wahrheit das erste:161 Hymnen und Lobgesänge dithyrambischer Art, ohne Mimesis, der seligen Schau nahe, dargebracht in Chören 156 Fuhrmann,
ebd. 82. Die Aufgabe des Hermeneuten 2010. 158 Gundert, Enthusiasmos und Logos 1949. 159 Platon, Symp. 209a: εὑρετικοί. 160 Platon, Rep. X 601b12. 161 Platon, Rep. II 379a; III 392c–394c. 157 Vf.,
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
und Chorreigen.162 Damit ist das Gesamtgebiet gegliedert; teils heißt es Poesie (ποίησις),163 teils auch, ohne Sinnänderung, Mythologie (μυθολογία),164 teils sogar Theologie (θεολογία), mit dem Hapaxlegomenon Platons.165 Das würde schon genügen, um an den archaischen Begriff von Dichtung als göttlich inspirierter Musenkunst zu erinnern. Dass aber Platon den Heuretikern zutraut, sie vermöchten nicht allein mit Worten (λόγος), sondern mit Tönen (ἁρμονία) und Zeitmaß (ῥυθμός) hervorzubringen, was man als Gesang (μέλος) bezeichnet,166 macht sie, die Heuretiker, zu außergewöhnlichen Vertretern musischer Bildung im Staate.167 Wenn nun der im Zeichen des Enthusiasmos stehende Aussagenkomplex mit allen Bedingtheiten, Einschränkungen und Zuspitzungen als Poetik Platons aufgefasst werden darf, die sich von der Anti-Poetik im Zeichen der Mimesis abhebt und alsbald ihre großartige Wirkung in Antike und Renaissance beginnt: Was ist dann, um den Terminus Moog-Grünewalds aufzunehmen, deren Inversion,168 Subversion?169 Teils sind die Veränderungen zu beachten, denen Platons archaisierende Poetik in Platonismus und Neuplatonismus unterlag, teils aber auch die Poetik der Moderne, die der Hypothese Moog-Grüne walds zufolge „e negativo zum ‚Platzhalter‘ des platonischen Idealismus“170 wird, „antiplatonisch und platonisch zugleich“ verfährt,171 „mit und zugleich gegen Platon“:172 „Kontinuität im Bruch“.173 Warum die Lesetheologie an diesem epochalen Antagonismus teilhat, wird man fragen. Die Antwort ergibt sich leicht. Nicht nur steht sie von Anfang an in der Tradition, die mit der ersten Nennung von θεολογία im Kontext von Platons Poetik und Musik beginnt, nicht nur braucht sie Begriffe aus platonischer Tradition wie ποίησις und μουσική, um mit Heilige Schrift und Psalter reflektiert umgehen zu können, sondern genauso bedarf sie der Inversion des Platonismus, um nicht zu einem rückwärtsgewandten Unternehmen zu werden mit tendenziell nostalgischem Einschlag. Sie muss sich den Konditionen aussetzen, die Maria Moog-Grüne wald „Moderne“ nennt. Nur eine solche Inversion verspricht der Lesetheologie Zukunft, und in diesem Sinn muss sie sich nicht nur platonisch, sondern auch antiplatonisch profilieren. 162
Platon, Phaidr. 250b, cf. 247a. Platon, Rep. III 394b10. 164 Platon, Rep. II 379a2; 382d1; III 394b10 f. 165 Platon, Rep. II 379a5 f. 166 Platon, Rep. III 398d1 f. 167 Platon, Rep. III 400de. 168 Moog-Grünewald, Was ist Dichtung? 2008, 15, 38, 45 f, 58. 169 Moog-Grünewald, ebd. 77. 170 Moog-Grünewald, ebd. 27, cf. 21. 171 Moog-Grünewald, ebd. 89. 172 Moog-Grünewald, ebd. 92. 173 Moog-Grünewald, ebd. 28; cf. 96. 163
3. Was ist Poesie?
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Inversion der platonischen Poetik
In Hinsicht auf die direkte Wirkung wird man zuerst auf die aristotelische Poetik verweisen, in der Motive Platons zum Zug kommen, etwa die Differenz von Tragödie und Komödie, die Klassifizierung der drei dichterischen Gattungen, die zentrale Bedeutung der Mimesis, wobei überall, besonders bei letzterer, die Umdeutung radikal ist. Nicht nur wirkt die aristotelische Kritik der Ideenlehre, nicht nur schlägt die produktionsästhetische Ausrichtung Platons um in die wirkästhetische des Aristoteles, sondern von zentralen Motiven Platons, dem Enthusiasmos und der Idee des Schönen, scheint es gar, als würden sie von Aristoteles übergangen. Woher kommt es aber, dass wir in der Rhetorik der Ekstasis begegneten, ausgelöst durch zu viel Metrum in der Rede,174 und dass ebenda auch ἐξιστάναι und μαίνεσθαι als Synonyme auftraten?175 Das sind platonische Relikte. Und selbst in der Poetik findet sich die parallele Aussage, dort mit geringerem antiplatonischem Einschlag.176 So gesehen beginnt die Inversion des Platonismus bei Aristoteles. Aber auch die Neuplatoniker bleiben ihrer Schule nicht ohne Inversion treu. Allen voran Plotin; er löst das Kunstschöne vom mimetischen Bezug auf das ideale Sein und überführt es in die innere Form (ἔνδον εἶδος)des Künstlers;177 so wird es, auf Kosten seiner enthusiastischen Natur, zum intelligiblen Modell, dem der Künstler sinnliche Gestalt verleiht. Proklos hat Plotins Umschichtung von Platon fortgeführt zu einer Theorie von Dichtung, deren Bedeutung nach Maria Moog-Grüne wald „weit über das neuplatonische Verständnis von Dichtung hinausgeht, ja die […] für Poetik und Poetologie der modernen Dichtung grundlegend ist.“178 Tragend sei hierfür der Begriff des Symbols (σύμβολον, σύνθημα); der Poetik der Moderne liege der Symbolbegriff zugrunde, den bereits der Neuplatoniker Proklos formuliert hat.179 In der Tat gibt Proklos Anlass, die Figur der Inversion des Platonismus zu schärfen.180 Er weiß genau, was in der platonischen Ontologie den ersten Rang einnimmt und was den letzten, und indem er dem in Politeia X vorgelegten dreistufigen Aufbau folgt, unterscheidet er von der obersten Ebene der wahrhaft göttlichen Ideen (τὰ πρώτιστα) eine zweite, auf der die intelligiblen Ideen als deren Abbilder ihren Sitz haben, gefolgt von den Abbildern der Abbilder, die als Drittes nach der Wahrheit (τρίτα
174
Aristoteles, Rhet. III 8, 1408b23; III 17, 1418a29. Aristoteles, Rhet. II 15, 1390b27 f. 176 Aristoteles, De art. poet. 17, 1455a32–34. 177 Plotin, Enn. I 6,3, Opera (Henry/Schwyzer) 1, 107. 178 Moog-Grünewald, ebd. 93. 179 Moog-Grünewald, ebd. 99, 103. 180 Ich folge Proklos, Theol. plat. I 29 (Saffrey/Westerink) 1, 123–125, Moog-Grünewald folgt Proklos, In rem publ. VI (Kroll) 1, 177,4–192,3, woraus sich minimale Differenzen ergeben. 175
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
[…] ἀπὸ τῆς ἀληθείας)181 der obersten Ebene so entgegengesetzt sind wie nur möglich (τὰ ἔσχατα). Hier erst hat die Kunst ihren Ort, aus deren Bereich Proklos die sprachbildnerische und bildnerische eigens erwähnt. Und hier hat der Symbolbegriff seinen Ort, dem im Aufbau der Ontologie der wirklich letzte Rang (ἐσχάτως) zukommt. Jedoch angelangt an diesem Punkt vollzieht Proklos die Wende, dass er – gegen Platon – den sinnlichen Abbildern der Abbilder, der Erscheinung der Bildwerke, der Lautmaterie des Wortes (und, wie wir hinzufügen, auch der Klangsinnlichkeit der Gesänge) die symbolische Kraft der ἔλλαμψις (und der ἔκστασις) zuspricht, die noch im untersten Rang des Seins an den obersten erinnert und Betrachter oder Hörer in einen Zustand von Ehrfurcht und Andacht versetzt. Einerlei, ob man mit Theologia platonica I, 29 Dichtung ausschließlich der untersten oder mit In rem publicam VI182 allen drei Regionen des Seins zuordnet: in jedem Fall zeigt sich, dass Proklos, trotz strenger Exekution der platonischen Vorlage, durch provokante Äußerungen über die sinnliche Wirklichkeit von Kunst und Dichtung zur Inversion des Platonismus alle Voraussetzungen bietet. Und es wird greifbar, was Inversion heißt: das Unterste (τὰ ἔσχατα) wird nach oben (τὰ πρώτιστα) gekehrt. Inversion der modernen Poetik In Hinsicht auf die Poetik der Moderne wäre es unterkomplex, diese einfach der Poetik des Platonismus als Inversion entgegenzustellen. Der Platonismus kennt vielmehr selbst seine Inversion, und nirgendwo tritt sie deutlicher zutage als bei Dionysius Areopagita, der an Proklos anschließt, indem er in dessen Inversion von Vorgang (πρόοδος) und Rückkehr (ἐπιστροϕή) die entgegengesetzten Bewegungen von Abstieg (κάθοδος) und Aufstieg (ἄνοδος) einzeichnet und ihnen Bejahung (κατάϕασις) und Verneinung (ἀπόϕασις) zuordnet.183 In diese Gesamtbewegung sind auch Kunst und Dichtung eingebunden, sodass die Poetik zwar noetisch das letzte, aber symbolisch das erste ist. Ebenso verhält es sich in der Poetik der Moderne. Statt bloß als Kontrapost zum Platonismus zu figurieren, ist sie Kontrapost zu einem Gebilde, das selbst schon aus Post und Kontrapost besteht, und dies bringt mit sich, dass auch die Poetik der Moderne, eine ihr eigene Inversion schon aufweist. Somit besteht zwischen platonischer und moderner Poetik nicht nur ein Verhältnis, sondern ein Verhältnis zweier Verhältnisse von Inversionen, und dies macht es ratsam, das Verhältnis der Verhältnisse nicht noch einmal als Inversion, sondern mit
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Platon, Rep. X 597e7; Proklos, Theol. plat. I 29, 124,7. Proklos, In rem publ. VI, 177,4–6: „Die drei Erkenntnishaltungen der Seele und wie man beweisen kann, daß die Dichtung gemäß dieser drei Erkenntnishaltungen in uns dreigeteilt ist.“ Übersetzung: Bernard, Spätantike Dichtungstheorien 1990, 35. 183 Dionysius Areopagita, MT 3, PG 3,1032D–1033D. 182
3. Was ist Poesie?
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Moog-Grünewald als Platzhaltung184 oder Ersatz185 zu bezeichnen. Das dürfte der spezielle Sinn sein, der der „Subversion“186 zukommt. Blickt man auf die Poetik der Moderne, so zeigt sich, dass sie zwei inverse Bewegungen zugleich vollzieht. Einerseits inszeniert sie gegen Platon die „Immanentisierung der Transzendenz“187 und richtet ihre Aufmerksamkeit dem platonischen „Idealismus“188 entgegen auf die Dinge und selbst auf Sprache als Ding. Als sprachbildnerische Kunst kann sie nicht beim so gearteten „Materialismus“189 stehenbleiben. Andererseits schlägt sie mit Platon die umgekehrte Richtung ein und vollzieht die „Transzendierung der Immanenz“,190 allerdings eine solche „in“ der Immanenz.191 Das heißt, sie geht in der Sprache an die Grenzen der Sprache und setzt dem kataphatischen Sprechen mit der Sprache das apophatische Sprechen gegen die Sprache entgegen.192 „Ziel ist reine, ist absolute Poesie, in der Zeichen und Bezeichnendes übereinzukommen suchen, in der Referentialiät auf ein Minimum schwindet“.193 Ein solches Minimum erstrebt die reine Selbstbezüglichkeit der Sprache, die zwar, wie Paul Valéry in Poésie pure gezeigt hat, nirgends existiert, aber als Pol unendlicher Annäherung höchst wirksam ist: Si ce problème paradoxal pouvait se résoudre entièrement, c’est-à-dire si le poète pouvait arriver à construire des œuvres où rien de ce qui est de la prose n’apparaîtrait plus, des poèmes où la continuité musicale ne serait jamais interrompue, où les relations des significations seraient elles-mêmes perpétuellement pareilles à des rapports harmoniques, où la transmutation des pensées les unes dans les autres paraîtrait plus importante que toute pensée, où le jeu des figures contiendrait la réalité du sujet, – alors l’on pourrait parler de poésie pure comme d’une chose existante. Il n’en est pas ainsi: la partie pratique ou pragmatique du langage, les habitudes et les formes logiques et […] le désordre, l’irrationalité qui se recontrent
184
Moog-Grünewald, ebd. 27. Moog-Grünewald, ebd. 42. 186 Moog-Grünewald, ebd. 77. 187 Moog-Grünewald, ebd. 34, 42. 188 Moog-Grünewald, ebd. 27, 98. 189 Moog-Grünewald, ebd. 98, 103. 190 Moog-Grünewald, ebd. 41, 87, 89. 191 Moog-Grünewald, ebd. 38, 98. 192 Moog-Grünewald, ebd. 99, 103. 193 Moog-Grünewald, ebd. 41. 185
Wenn dieses paradoxe Problem sich vollständig lösen ließe, wenn es dem Dichter gelingen könnte, Werke zu konstruieren, wo nichts mehr von allem, was Prosa ist, in Erscheinung träte, Gedichte, in denen die musikalische Kontinuität niemals unterbrochen wäre, in denen sogar die Bedeutungsbeziehungen fortwährend den harmonischen Verhältnissen entsprächen, Gedichte, in denen die Umwandlung eines Gedankens in einen anderen wichtiger erschiene als jeder einzelne Gedanke, Gedichte, in denen das Spiel der Bilder die Wirklichkeit des Themas enthielte – dann könnte man von reiner Poesie sprechen wie von etwas, das es gibt. So ist es aber nicht: Der praktische oder pragmatische Teil der Sprache,
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
dans le vocabulaire […], rendent impossible l’existence de ces créations de poésie absolue; mais il est aisé de concevoir que la notion d’un tel état idéal ou imaginaire est très précieuse pour apprécier toute poésie observable.
La conception de poésie pure est celle d’un type inaccessible, d’une limite idéale des désirs, des efforts et des puissances du poète …194
die Gewohnheiten und die logischen Formen und […] die Unordnung und die Irrationalität, die man im Wortschatz vorfindet […], machen die Existenz solcher Schöpfungen absoluter Poesie unmöglich; aber es ist leicht zu begreifen, daß der Begriff eines solchen idealen oder imaginären Zustandes für die Beurteilung jeder feststellbaren Dichtung von höchstem Wert ist. Die Konzeption einer reinen Poesie ist die eines unerreichbaren Typus, eines idealen Grenzwertes der Wünsche, Bemühungen und Fähigkeiten des Dichters …
Im Verfolg der Inversion der platonischen Poetik dort und der modernen hier sind wir zurückgelangt zur Opposition von Poesie und Prosa. Beide erscheinen als inverse Pole, die zwar in ihrer jeweiligen Unendlichkeit nicht real existieren, aber als solche durchaus nicht nachlassen, die sprachliche – und so auch die textliche – Wirklichkeit unausgesetzt aus zwei entgegengesetzten Richtungen zu gestalten. c. Poetizität „Gewinnt in einem Wortkunstwerk die Poetizität, die poetische Funktion, richtungweisende Bedeutung, so sprechen wir von Poesie.“195 Während Maria Moog-Grünewald von dieser Antwort, die Roman Jakobson auf die Frage Was ist Poesie? gegeben hat, ausgeht,196 gehen wir auf ebendiese erst zu. Die Differenz mag vernachlässigt werden; zunächst geht es darum, die abstrakte Leere von Jakobsons Definition zu füllen, genauer, sie in ihrer eigenen Fülle aufzunehmen. In der Tat bleibt über Jakobson hinaus „ein kleiner Rest mehr zu sagen“.197 Es geht nicht um Dichtung, sondern um „Dichtung im durchaus emphatischen Sinne“.198 Droht ein vornehmer Ton? „Emphatisch“ steht für den platonischen Rest, der sich selbst aus einer noch so aristotelischen Grundorientierung in Sachen Poetik nicht vertreiben lässt. Denn obgleich Jakobson auf die Frage nach dem Wesen der Poesie natürlich nicht antwortet mit der Substanz, der Poetizität, sondern mit der poetischen Funktion, ist und bleibt die von ihm gegebene, auf die Poetizität bezogene Antwort eine ideale Antwort, die auf dem langen Weg durch Phänomenologie und Formalismus vor194 Valéry, Poésie pure 1927/28, Œuvres (Hytier) 1, 1463/„Poesie pure“, WW (SchmidtRadefeldt) 5, 73 f. Moog-Grünewald, ebd. 41–43, 87, 103. 195 Jakobson, Was ist Poesie? 1933/34, TRF 2, 414 f/Poetik, 79. 196 Moog-Grünewald, ebd. 25 f. 197 Moog-Grünewald, ebd. 20, 27, 42, 87. 198 Moog-Grünewald, ebd. 25, cf. 20 f.
3. Was ist Poesie?
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bereitet wurde.199 Selbst wenn der Inhalt des Begriffs Poesie jederzeit „labil“ und „zeitgebunden“ ist, und selbst wenn seine Form, die Poetizität, durch ihre Verbindung mit komplexen sprachlichen wie außersprachlichen Strukturen „ein wandelbares Element“ darstellt, bleibt es „ein Element sui generis“ und ein solches, „das sich nicht mechanisch auf andere Elemente zurückführen läßt“. Gewiss ist Poetizität nichts an sich. Auch die „Autonomie der ästhetischen Funktion“ ist nichts für sich.200 Sie ist nur, wenn sie sich „manifestiert“, manifestiert als das, was sie ist. Hier fällt die Formel, die uns beschäftigt: „Wort als Wort“.201 Gerade weil die poetische Funktion der Sprache nur vermischt mit anderen gegeben ist, mit der von Karl Bühler202 unterschiedenen referentiellen Funktion, soweit es den Bezug auf die objektive Wirklichkeit, oder mit der emotiven und konativen Funktion, sofern es den Bezug auf die subjektive Wirklichkeit anlangt, gilt es deutlich zu machen, dass Poetizität weder mit der objektiven noch mit der subjektiven Seite zu tun hat. Vielmehr muss sie mit gehöriger Rücksichtslosigkeit ihre eigene Wirklichkeit zum Zug bringen, und diese besteht in „Wort als Wort“ von „eigene[m] Gewicht und selbstständige[m] Wert“.203 Kein Wort als Wort ohne Umgewichtung und Umwertung. Nun wird klar, was Dichtung „im emphatischen Sinne“ sein soll. Weder darf die Emphase verwechselt werden mit Pochen auf äußere, noch und schon gar nicht mit der Berufung auf innere, gefühlte oder empfundene Wirklichkeit – dies ist es, was Kant mit dem vornehmen Ton als platonisierend, nicht platonisch disqualifiziert –, sondern es geht um diejenige Emphase, mit der die Dichtung sich von sich selbst her imponiert. Sie manifestiert sich emphatisch: Wort als Wort. Nicht von außen wird die Emphase an die Definition Jakobsons herangetragen, sondern sie ist der Stoff, aus dem diese gemacht ist. Die phänomenologische Definition „Was ist Poesie? Wollen wir diesen Begriff definieren, so müßten wir ihm das gegenüberstellen, was Poesie nicht ist.“ Potentialis oder Irrealis? „Doch zu sagen, was Poesie nicht ist, fällt heute gar nicht so leicht.“204 Warum ‚heute‘? Weil die früheren Antworten, die sich auf bestimmte poetische Inhalte oder Mittel beriefen, hinfällig geworden sind. Poesie erstreckt sich von höchster Lyrik bis zu Werbespots. Die Demarkationslinie ist zur offenen Grenze geworden.205 An die Stelle von Definierbarkeit ist unendlicher „Schwindel“ ge199 Jakobson, Новейшая русская поэзия 1921, SW 5, 299–354. Vf., Die Emergenz des Namens 2006, 220 Anm. 92. 200 Jakobson, ebd. 413/78. 201 Jakobson, ebd. 415/79. 202 Bühler, Sprachtheorie 1934. 203 Jakobson, ebd. 415/79. 204 Jakobson, ebd. 393/67. 205 Jakobson, ebd. 395/69.
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
treten.206 Die Bestimmbarkeit von Poesie durch Abgrenzung zur Nicht-Poesie nähert sich dem Irrealis. Von Prosa ist im ganzen Text nie die Rede, außer einmal, wo Molières Monsieur Jourdain auftritt, nur um zu erklären, dass er nicht weiß, dass er in Prosa spricht.207 Er kann es schon deshalb nicht wissen, weil selbst Jakobsons Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Poesie – „Wort als Wort“ – gezwungen ist, mit den negierten Antworten die Form zu teilen. Denn „wodurch manifestiert sich die Poetizität? – Dadurch, daß das Wort als Wort, und nicht als bloßer Repräsentant des benannten Objekts oder als Gefühlsausbruch empfunden wird.“ Selbst „Wort als Wort“ (slovo […] jako slovo),208 unter allen Beschreibungen von Poesie, die Jakobson gegeben hat, die zugespitzteste, teilt mit den negierten Definitionen das „als“. Worauf unfehlbar folgt, dass die gegebene Beschreibung von Poesie, so singulär sie in Jakobsons Werk dasteht und so sublim sie sich geriert, nicht ohne Beimischung von Prosa auskommt, und sei sie noch so gering. Das war es, was Paul Valéry als Kritik an der poésie pure zum Ausdruck bringen wollte. Der Grund liegt darin, dass Sprache nur soweit reicht, wie „das Zeichen nicht mit dem bezeichneten Gegenstand verschmilzt“. Weshalb? Weil neben der reinen Identität „A gleich A1“ die unvollkommene Identität, sprich die Differenz „A ungleich A1“ erforderlich ist, wenn Bewegung, nicht Stillstand der Zeichen, und Leben, nicht Tod des Bezeichneten eintreten soll.209 Was Jakobson als Poesie definiert, ist ein Grenzbegriff; er definiert Poesie, indem er sie in Wahrheit infinitisiert. Das „als“ in „Wort als Wort“ steht für Gleich und Ungleich, wobei im Blick auf Jakobsons Gesamtwerk zu beachten bleibt: Näher an die Gleichheit und damit an den poetischen Kern reicht keine seiner Beschreibungen der Poesie. Rezipienten der phänomenologischen Formel von 1929 sind daher leicht in der Gefahr, sie mit Tautologie zu verwechseln. Die strukturalistische Definition Wenden wir uns der Definition der poetischen Funktion zu, die Jakobson in Linguistics and poetics gegeben hat: „The poetic function projects the principle of equivalence from the axis of selection into the axis of combination.“210 Zwei Vorbemerkungen. – Erstens: Jakobson nennt sie „nichts anderes als eine entfaltete Tautologie“.211 „Entfaltete“, nicht Tautologie schlechthin. Ebendiese Explikation unterschied schon „Wort als Wort“ von Tautologie schlechthin. Der Grad der Entfaltung ist geringer in der phänomenologischen, größer in 206 Jakobson,
ebd. 397/69. Jakobson, ebd. 417/80. 208 Jakobson, ebd. 414 f/79. 209 Jakobson, ebd. 415/79. 210 Jakobson, Linguistics and poetics 1960, SW 3, 27/Poetik, 94. 211 Jakobson, Беседы 1980, SW 8, 542: ни что иное, как развернутая тавтология; Poesie und Grammatik 1982, 116. 207
3. Was ist Poesie?
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der strukturalistischen Definition. Letztere ist Entfaltung der Entfaltung. Im Vergleich zur unüberhörbaren Poetizität von „Wort als Wort“ befindet sich die strukturalistische Definition auf dem Wege fortschreitender Prosaisierung. – Zweitens: Eine weitere Anknüpfung an die frühere Definition stellt Jakobson her, allerdings unter Betonung der Differenz. Während es dort um die Beziehung von Zeichen und Bezeichnetem ging, dargestellt im Fall der Identität durch „A gleich A1“, im Fall der Differenz durch „A ungleich A1“, geht es hier um die Beziehung zwischen Zeichen und Zeichen, dargestellt im Fall der Synonymie durch „A = A“, im Fall der Antonymie durch „A ≠ A“.212 Jetzt geht es, angeregt durch das Resultat der phänomenologischen Antwort „Wort als Wort“, nicht um die „Beziehungen zwischen Wort und Welt“, sondern um die zwischen dem Diskurs und dem Universum der Diskurse, in der reinen Wortkunst also um die Beziehung zwischen Wort und Wort, ohne Rücksicht auf außersprachliche Größen.213 Wenn aber die Poesie eine Gleichung in die Sequenz von Verschiedenem hinein entfaltet, betreibt sie dann bereits die Geschäfte der Prosa? – Beide Vorbemerkungen weisen in dieselbe Richtung: Mit dem Entfaltungsgrad der Tautologie nimmt die Prosaisierung der Poesiedefinition zu. Die strukturalistische Definition wird von Jakobson in drei Varianten vorgelegt. – Die älteste und ausführlichste ist die eben zitierte. Sie operiert mit den Grundkräften des Sprechens, Selektion und Kombination. Jede von beiden tut, was die andere nicht tut; die Selektion wählt ab, verbindet nicht; die Kombination verbindet, wählt nicht ab. Um ein früheres Oppositionspaar Jakobsons aufzugreifen: Die Selektion verfährt paradigmatisch, die Kombination syntagmatisch. Während die Selektion aus dem Vorrat gleichwertiger Nomina und Verba das passende wählt, verbindet die Kombination die gewählten durch sprachliche Verkettung. Selektion geschieht auf der Basis von Gleichwertigkeit oder Äquivalenz, die ihrerseits auf Ähnlichkeit wie Unähnlichkeit, auf Synonymie und Antonymie beruht; nur reine Tautologien oder Heterologien würden Selektion verunmöglichen von vornherein. Dagegen die Kombination, der Aufbau der sprachlichen Kette oder Sequenz, geschieht auf der Basis von Berührung oder Kontiguität, und wir dürfen hinzufügen: Berührung ihrerseits beruht auf der Basis des Zusammenspiels von Nähe und Ferne; nur Nähe ohne Abstand oder Ferne ohne Bezug würden sie verunmöglichen von vornherein. So vorbereitet bildet Jakobson, indem er die Elementartätigkeiten Selektion und Kombination in die Zweiachsenlehre des Strukturalismus einzeichnet, den klassischen Satz: „Die poetische Funktion“ – wir erinnern uns: Wort als Wort – „projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination.“ In zwei Punkten wird über die phänomeno212 213
Jakobson, Linguistics and poetics, 27/95. Jakobson, ebd. 19/85.
434
§ 8 Heilige Schrift und Psalter
logische Definition hinausgeführt. Erstens: Das „als“ ist Projektion, also Werfen. Was wird geworfen? Zweitens: Die Projektion macht aus der Äquivalenz eine Sequenz. Oder, um die ältere Definition noch einmal aufzugreifen: Wort als Wort wird durchsichtig als seligierte Äquivalenz, projiziert in eine kombinierte Sequenz. Und nun verfährt der weitere Text von Linguistics and poetics in komplexer Einfachheit so, dass er die klangfigürliche Taktung der Dichtwerke von Akzent zu Akzent, von Länge zu Länge, von Kürze zu Kürze, von Wort zu Wort, von syntaktischer Pause zu syntaktischer Pause, von Reim zu Reim fortverfolgt, bis schließlich der Parallelismus in Sicht kommt, das allgemeinste und fundamentalste Phänomen der Dichtung, das ist – wie am Ende der Ausfaltung summarisch formuliert wird – „Äquivalenz, die als konstitutives Prinzip auf die Sequenz projiziert wird“.214 – In Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie kommt Jakobson auf die klassische Definition zurück. Da heißt es: Die Poesie macht die Äquivalenz zum Bauprinzip der Sequenz, indem sie die Achse der Ähnlichkeit (сходство/similarity) auf die Achse der Berührung (смежность/ contiguity) projiziert.215 Hier tritt insofern Verkürzung ein, als Äquivalenz mit Similarität, und Sequenz mit Kontiguität geradezu vertauschbar wird, womit Jakobson zu der Begriffsordnung zurückkehrt, die er schon in Two aspects of language and two types of aphasic disturbances entworfen hatte.216 – Bereits in Linguistics and poetics hat Jakobson eine noch kürzere dritte Variante ins Spiel gebracht. „Jede Sequenz ist ein Simile.“217 Dass diese Definition, die die Vertauschbarkeit von Äquivalenz und Similarität ebenso voraussetzt wie die von Sequenz und Kontiguität, die sich aus jedem Paar einen beliebigen Terminus herausgreift, überrascht nicht. Es überrascht allerdings, dass sie die bisherige Verlaufsform direkt auf den Kopf stellt. Ging es bisher um die Projektion der vertikalen Achse auf die horizontale, so kehrt sich die Richtung um: die horizontale Achse der Sequenz wird zurückgeworfen auf die vertikale und an die Stelle von Projektion tritt mit dem Terminus von Eckhard Lobsien „Reflexion“.218 Die Reflexion wirft nicht, sondern beugt sich zurück. Und wenn beim Projizieren eine Richtung eingeschlagen wird, die wir soeben als Prosaisierung charakterisierten, dann dürfte die umgekehrte Richtung des Reflektierens wohl eine solche sein, die sich im Ausgang von der Prosa der Poesie annähert. Auch durch ein weiteres wird die Umkehrung von Projektion in Reflexion bedeutsam. Während die phänomenologische und die beiden strukturalistischen Definitionen, gelenkt von Poesie als ποίησις, so verfahren, dass sie unter dem Aspekt der Produktion 214
Jakobson, ebd. 40/108. Jakobson, Поэзия грамматики и грамматика поэзии 1961, SW 3, 63–86 / Poetik, 233– 263, 70/242: поэзия, налагая сходство на смежность, возводит эквивалентность в принцип построения сочетаний. 216 Jakobson, Two aspects of language and two types of aphasic disturbances 1956, SW 2, 239–259/Aufsätze zur Linguistik und Poetik 1974, 117–141. 217 Jakobson, Linguistics and poetics, 42: „anything sequent is a simile“. 218 Lobsien, Wörtlichkeit und Wiederholung, 31 f, 74 f. 215
3. Was ist Poesie?
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der Projektion folgen, verfährt die Reflexion, sei es von der Rede oder, wie im Fall der Lesetheologie, vom Text her, im Modus der Rezeption. Die Reflexion liest die horizontale Achse der Sequenz so, dass sie sie auf die vertikale zurückbeugt, und anders als so ist Lesetheologie wohl nicht denkbar.
Durch und In Indem Jakobsons Definition der Poesie als eine Seite einer Doppelbewegung sichtbar geworden ist, sodass, wo von Projektion die Rede ist, auch von Reflexion die Rede sein muss, gewinnen wir Anschluss an die fundamentalen Aussagen, die seit Jakobsons Aphasie-Aufsatz im Raum stehen. Sie sind durchgängig polarer Natur. Grundsätzlich ist vom „Doppelcharakter der Sprache“219 auszugehen; das sprachliche Zeichen, darin von anderen Zeichen unterschieden, „gehört zwei verschiedenen Systemanordnungen an:“ Selektion und Kombination. Und während Ferdinand de Saussure, dem linearen Charakter der Sprache folgend, der Ansicht huldigte, es sei unmöglich, zwei Elemente zugleich auszusprechen, geht Jakobson davon aus, sprachliche Zeichen unterschieden sich von anderen, dass sie zwei Dinge zugleich nicht nur aussprechen können, sondern müssen.220 Diese Polarität zieht sich durch alles durch. Auch Störungen der Sprache sind polar: Similaritätsstörung als Unfähigkeit zur Wort-, Kontiguitätsstörung als Unfähigkeit zur Satzbildung. Es folgt die Polarität der Tropen Metapher und Metonymie, die bedingt, dass im besten Fall „jede Metonymie leicht metaphorisch und jede Metapher leicht metonymisch gefärbt“ ist.221 Stärker kann nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass es nicht genügt, dass die Similarität Kontiguität projiziert, sondern erforderlich ist ebenso, dass Kontiguität Similarität reflektiert. Dementsprechend gehört auch – wie Humboldt zeigte – die Polarität von Poesie und Prosa zu den fundamentalen Voraussetzungen des Sprechenkönnens, die Poesie, weil sie dem Prinzip der Similarität, die Prosa, weil sie dem Prinzip der Kontiguität folgt. „Deshalb ist für die Poesie die Metaphorik und für die Prosa die Metonymie der Weg des geringsten Widerstandes.“222 An dieser Stelle berührt sich Jakobson mit einer Polarität, die der frühe Walter Benjamin entwickelt hat. Er unterscheidet zwischen dem, was „wir durch […] die Sprache“ zum Ausdruck bringen können, und dem, was „sich in der Sprache“ mitteilt.223 Die Polarität von Durch und In, von Benjamin eingeführt in einem Kontext, den man Sprachmystik zu nennen pflegt, fügt sich ohne Überhang in Jakobsons Polarität, die jeder Sprachmystik unverdächtig 219 Jakobson, Two
aspects, 241/119. ebd. 243/121. 221 Jakobson, Linguistics and poetics, 42/110. 222 Jakobson, Two aspects, 259/138. 223 Benjamin, Über Sprache überhaupt 1916, GS II/1, 141,20; 142,5. 220 Jakobson,
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und eher der Geometrie des Koordinatensystems verpflichtet ist. Ja, sie fördert sogar das präzise Verständnis der Aussagen Jakobsons, die sich dadurch als prägnant erweisen. „Jede poetische Mitteilung ist eigentlich zitierte Rede“,224 sagt dieser, gewiss um nur die eine Seite der Polarität zum Ausdruck zu bringen, die poetische. Wenn es der Sprache eigentümlich ist, zwei Dinge zugleich aussprechen zu können, dann kann doppelt mit ihr verfahren werden. Je mehr sie dies unterdrückt, nähert sie sich dem prosaischen Pol, der darauf dringt, statt zwei nur ein Element zum Ausdruck zu bringen, das Durch der Sprache, das Jakobson mit einer glücklichen Wendung als „Prosastraße“225 bezeichnet, die offenbar Einbahnstraße ist. Umgekehrt aber, je mehr der Zitatcharakter der Rede hervortritt, nähert sie sich dem poetischen Pol, der verlangt, die „Rede innerhalb der Rede“ (speech within speech) zu vernehmen, das In der Sprache, an dem Benjamin vorzüglich gelegen war. Und indem dieser seinem Erstaunen über den „Doppelcharakter des Wortes Λόγος“226 freien Lauf lässt – Λόγος großgeschrieben –, überfällt uns die göttliche Reminiszenz: das war Wort als Wort, Λόγος als λόγος – einmal nebeneinander auf der syntagmatischen Achse und so auf dem Wege zum prosaischen Durch, dann aber auch ineinander auf der paradigmatischen Achse und so auf dem Weg zum poetischen In, jenes der Weg der Projektion, dieses der Weg der Reflexion. Wenn aber mit Jakobson die Rede in der Rede das Kennzeichen von Poesie ist – das war die Frage des nun endenden Abschnitts Was ist Poesie? –, dann wird, angezogen von deren magnetischer Kraft, der ganze Schwarm früherer Themen wieder aufgerührt: nicht nur die Sprache in der Sprache, sondern auch der Text im Text, die Literatur in der Literatur, das Buch im Buch, die Kleinbibel in der ganzen Bibel, und ganz gewiss auch der Psalter in der Heiligen Schrift. Alle befinden sich in Attraktion durch ein und denselben poetischen Pol.
4. Was ist Psalter? Zurück zum übergreifenden Zusammenhang. Noch steht der Psalter aus. Das ist klar: Mit Heilige Schrift und Psalter kommt der Psalter nicht zur Schrift hinzu wie B zu A. Wenn es sich so verhält, dass er in der Heiligen Schrift, deren Teil er ist, schon mitbesprochen ist, dann ist vorauszusetzen, dass er auch bereits Teil des Buches war, der Literatur, des Textes, der Schrift, des Buchstabens. Das heißt, dass er immer schon mitbesprochen war und wieder hinausgeschoben. Nun muss sich zeigen: Wenn überhaupt die Lesetheologie mit ihrer Grundgeste des Sammelns etwas taugen soll, dann dazu, dass die Dinge durchaus 224
Jakobson, Linguistics and poetics, 42/111. Jakobson, Randbemerkungen 1935, SW 5, 416/193. 226 Benjamin, ebd. 141,36. 225
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nicht zerfallen müssen in Teile und die Teile in Teile. Nicht, weil es die Teile nicht gibt, sondern weil die Teile des Ganzen gerade im Zerfallen das Ganze noch einmal trefflicher zur Darstellung bringen, was es als Ganzes war, hätte sein sollen und können. Weiterhin der Bloßlegung des Verfahrens (обнажениe приёма) folgend, erwartet also die Lesetheologie vom Psalter, er vermöge vollends zur Erscheinung bringen, was uns seit Beginn angetrieben hat. Uns trieb, was wir vor uns herschoben. Es ist der hinausgeschobene Psalter, der uns schon die ganze Zeit am Lesen hielt. – Aber Vorsicht. Inzwischen hat sich so viel Behauptungsdruck aufgestaut, dass es angezeigt scheint, in Distanz zu treten und Unstimmigkeiten zu erwägen, die im Übergang zum Psalter lauern. Eine erste Unstimmigkeit entsteht aus der Art und Weise, wie § 8.4 Was ist Psalter? an § 8.3 Was ist Poesie? anschließt. Eine zweite Unstimmigkeit – an dieser hängt der Gesamtaufbau der Lesetheologie – liegt in der Art, wie das Doppelthema Heilige Schrift und Psalter in die Reihe der Doppelthemen seit Buchstabe und Laut eingefügt wird. Ohne Kenntnis im Umgang mit diesen Unstimmigkeiten wäre es nicht aussichtsreich, auf die Einzelheiten des Psalters einzugehen. Die erste Unstimmigkeit liegt darin, dass Heilige Schrift und Psalter sich nicht so einfach an die Rede in der Rede anschließen, wie es das Ende von § 8.3 suggeriert. Rede in der Rede ist ein Paket, das sich selbst verdoppelt, dagegen Heilige Schrift und Psalter stellt, wie das verbindende „und“ anzeigt, zwei Pakete dar, äußerlich zusammengeschnürt zu einem einzigen. Selbst wenn man die Verpackung des Psalters durch die Heilige Schrift und damit den Gesichtspunkt der Einheit beider stark machen wollte, bleibt die Differenz, dass der Psalter in der Heiligen Schrift die Rede, die hätte bloß Rede in der Rede sein sollen, und den Text, der hätte bloß Text im Text sein sollen, als selbständige Rede und Text eigens vorstellt und damit die Indirektheit der Poesie durch prosaische Direktheit stört. Und selbst beim Buch im Buche, das oberflächlich mit der Figur des Psalters in der Heiligen Schrift sehr wohl übereinstimmt, überwiegt das Nebeneinander das Ineinander; gerade vom Buch im Buche sollte man erwarten, dass dieses oblique geöffnet und nicht einfach recte als Buch neben Büchern aufgeschlagen wird. Es ist klar: Eine Textorganisation von der Art des Prosimetrums löst nicht, was die Poesie zu denken aufgegeben hat. Wenn tatsächlich die Heilige Schrift als ganze und an ihrer Oberfläche als Prosimetrum bezeichnet werden darf, dann reicht sie die Frage Was ist Poesie? an den Psalter weiter. Sie kehrt in der Gestalt von Was ist Psalter? wieder. Der Psalter ist es, der prosimetrische Verfahren der Heiligen Schrift aufdecken muss, und in ihm kann sich die Figur der Rede in der Rede und des Texts im Text in stimmiger Weise abbilden. Worin soll also die Unstimmigkeit bestehen? Gerade ihre Anerkenntnis führt direkt auf den Psalter zu, weil er, als Teil des Ganzen, zugleich aber auch als Ganzes im Teil, die Bloßlegung des Verfahrens verspricht. Die zweite Unstimmigkeit ist von widerspenstigerer Art. Sie betrifft nicht nur den vergleichsweise lokalen Übergang von § 8.3 zu § 8.4, sondern den
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
Aufbau der Lesetheologie insgesamt. Gerade wenn die Implikationsverhältnisse des Psalters zurückreichen nicht nur bis zur Heiligen Schrift, sondern bis zu Buch, Literatur, Text, Schrift und Buchstabe, ist nicht zu übersehen, dass sich ein kategorialer Fehler einzuschleichen droht, der das gesamte Unternehmen in Misskredit ziehen könnte. Es war die linke Seite der mit „und“ arbeitenden Überschriften, die im Früheren schon das jeweils Spätere implizierte, das sodann selbständig aus ihm hervortrat und sein eigenes Licht zurückwarf. Die Schrift fügte dem Buchstaben nichts hinzu, der Text, die Literatur, das Buch und endlich die Heilige Schrift fügten auch nichts hinzu und ließen es gleichwohl, indem gelesen und erst richtig gelesen wurde, in neuem Licht erscheinen. So bildete sich eine Konkatenation von Asymmetrien, die das Lesen steuerte. Es ist klar: die Bloßlegung des Verfahrens wurde gewonnen, weil die Abstraktion von den Themen der rechten Seite nicht nur zugelassen, sondern methodisch gewollt war. Sie war gewollt, weil die Themen zur Rechten mit Lesen im buchstäblichen Sinn nicht so leicht zu verbinden waren wie die Themen zur Linken. Hier jedoch, in § 8, geschieht plötzlich, dass die Konsequenz der linken Seite einbricht und von selbst auf die rechte Seite schwenkt. Mit Heilige Schrift und Psalter wird allen Ernstes behauptet, dass nicht nur ein nachfolgendes Element der linken Reihe im vorangehenden bereits enthalten war, was anginge, sondern dass ein Element der rechten Reihe in Konsequenz nachfolgen soll, der Psalter. Wie sehr der Psalter an sich in die Konsequenz der rechten Reihe gehört, mag man sich vergegenwärtigen, indem man die Themen Laut, Sprache, Rede, Liturgie bis zum Leben durchmemoriert; vom Laut an wird die Tür zu ihm eröffnet und mit dem Leben – Psalm 42,9 „ich bete zu dem Gott meines Lebens“ – steht sie offen. Und wiederum: wie sehr der Psalter in die Konsequenz der linken Seite und ihrer Elemente gehört, die die Reihe buchstäblichen Lesens voranbringen, liegt ebenso am Tag. Sein Text hat an allen Elementen des Lesens teil. So kommt dem Psalter eine Doppelrolle zu. Als solcher, der aus der Heiligen Schrift heraus‑ und ihr gegenübertritt, das heißt, als der Teil, der selbst das Ganze ist, gehört er zur Rechten; als solcher, der als Teil des Ganzen in der Heiligen Schrift steht, gehört er zur Linken. Über diese seine Doppelrolle muss der Psalter selbst Auskunft geben.
a. Die Namen des Psalters Den Namen des Psalters wollte man sich gefallen lassen, wenn er nur einer wäre; faktisch aber begegnet der Name des Psalmbuchs nur in Gestalt von vielen Namen. Den Namen gibt es nicht. Schon in der jüngeren europäischen Tradition verhält es sich so, dass nur der lutherische Sprachgebrauch den Titel Der Psalter bevorzugt, während es der reformierte bei den Psalmen belässt und Psalter den Gesangbüchern vorbehält, dem Straßburger, Genfer, Lyoner Psalter. Sie enthalten Psalmlieder, keine Psalmen. Blickt man auf den älteren Sprachge-
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brauch, dann herrscht grosso modo im Hebräischen תהליםvor, im Griechischen und Lateinischen ψαλμοί/psalmi; ψαλτήριον/psalterium kommt sehr viel später. Weder gehört die Vielfalt der Namen in eine wirkungsgeschichtliche Spätzeit, noch ist sie auf Diversifizierungen zurückzuführen, die das Psalmbuch durch Streuung in verschiedene Sprachen und Kulturen erfahren hat. Schon im Hebräischen ist die Überlieferung weit entfernt davon, sich auf einen Namen festlegen zu wollen. Wie vielfältig der Gebrauch, so vielfältig die Benennung. Die üblich gewordene Überschrift ְתּ ִה ִלּים, auffällig wegen des „dissimilirten Plurals “תהליםanstelle von grammatisch korrektem תהלות,227 lässt zwar das Streben nach einer technischen Bezeichnung erkennen, ist aber nicht die einzige. Anfänglich konkurriert die qumranische, also vormasoretische התהלים ( ספרBuch der Lobgesänge), der bisher älteste Beleg eines Titels.228 Ihr gegenüber ist תהלים später, wenngleich ebenso vormasoretisch. Vielfalt regiert von Anfang an. Selbst die Masora unternimmt keinen Versuch, sie zu beschneiden; sie überliefert überhaupt keinen Titel. Dies dürfte die wichtigste, den Namen des Psalters betreffende historische Erkenntnis sein: Die Stelle des Titels ist unbesetzt. Die zahlreichen Bezeichnungen, die sich anschicken, das Vakuum zu füllen, können entweder wie bisher von außen stammen und spiegeln den Gebrauch des Psalmbuchs wider. Oder sie stammen von innen und werden aus den Überschriften von Einzelpsalmen gewonnen; dort sitzen sie schon aus kodikologischen Gründen fester, wenngleich um den Preis, dass sie nur Namen einzelner Psalmen, nicht des Psalmbuchs als ganzem sind. – Hier zeigt sich: Das Nomen ( תהלהLoblied, Hymnus), das sich in den hebräischen Bezeichnungen, einerlei ob תהליםoder ספר תהלים, durchgesetzt hat, findet sich als Überschrift eines Einzelpsalms nur ein einziges Mal Psalm 145, als Unterschrift am Ende von Psalm 148, offenbar mit dem Ziel, den Gesichtspunkt des Hymnus, der gegen Ende der Psalmensammlung an Übergewicht gewinnt, aber durchaus nicht der Mehrheit der Psalmen entspricht, in einer übersummativen Geste in den Vordergrund zu spielen. Gerade so bleibt der Psalter in den alten Sprachen in Erinnerung, wenn sie auf seine hebräische Gestalt Bezug nehmen; im Griechischen Hippolyt/Origenes: Ἑβραῖοι περιέγραψαν τὴν βίβλον Σεϕρὰ Θελείμ,229 im Lateinischen Hieronymus: „titulus ipse hebraicus Sephar Thallim, quod interpretatur Volumen hymnorum,“230 Isidor von Sevilla: „Titulus […] in psalmis Hebraicus ita est, Sepher Thehilim, quod interpretatur volumen hymnorum.“231 Indem wir Delitzsch, Biblischer Commentar über die Psalmen 41883, 5; cf. 2. Sam 22,5. Seybold, Die Psalmen 1996, 2. 229 Hippolyt, En. in ps., arg. 1, PG 10,712C; Origenes, De CL psalm., in: Analecta sacra (Pitra) 2, 428. 230 Hieronymus, Praef. in lib. ps. iuxta Hebr., in: Biblia sacra (Weber) 1, 768,15 f. Demnach der Titel im Cod. Parisinus lat. 15467 (Ωss; 1270): incipit liber hymnorum seu soliloquiorum prophete dauid de xpristo. 231 Isidor von Sevilla, Etym. VI ii,15. Luther, Erste Psalmenvorlesung 1513, WA 55/1, 1,1–3: liber laudum sive hymnorum. Op. in ps. 1519, WA 5, 23,26/AWA 2/1, 15,5 f: liber 227 228
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beobachten, wie תהלה, das Hapaxlegomenon aus Psalm 145, im Hebräischen mit Riesenschritten zum Titel des Gesamtbuchs avanciert, sind wir schon beinahe bereit, Franz Delitzsch zuzustimmen: „dieser Gesamtname der Ps. ist statthaft,“ sagt er, „denn alle [Psalmen] haben Theil am Wesen des Hymnus, nämlich dem Zwecke desselben, der Verherrlichung Gottes.“232 – Begreiflicherweise hat es der Gegenbegriff zu תהלה, ( תפלהKlage, Gebet), trotz seiner Abstraktionsleistung vom Klagegebet zu Gebet überhaupt, nicht so weit gebracht; er bleibt an der Teilsammlung 2–72 hängen: Psalm 72,20 ( ְתּ ִפלּוֹת ָדּוִ דdie Gebete Davids). – Umso erstaunlicher, dass der im Vergleich zu תהלהund תפלהsehr viel häufigere Name eines Einzelpsalms, ( ִמזְ מוֹרLied mit Instrumentalbegleitung), sich im Hebräischen nicht als Gesamttitel durchsetzen konnte; auch hier schwankt die Pluralbildung, wie bei תהלים/תהלות, zwischen מזמוריםund מזמורות. Aber was מזמורim Hebräischen verfehlt, hat es in der Septuaginta mit ψαλμός erreicht; nicht ὕμνοι, ψαλμοί treten dort an die Stelle des Titels. Kein Wort hat die kirchliche Rezeption der Psalmen mehr gelenkt als dieses; gestützt durch das Nomen ִמזְ מוֹר (ψαλμός/psalmus) und das Verb ( זִ ֵמּרψάλλειν/psallere) (mit Saitenspiel singen) hat es Ost und West das Lehnwort Psalm beschert. – Während der von der jüdischen Tradition bevorzugte Titel תהליםdirekt auf die תהלהdes hebräischen Texts Bezug nimmt, und die von der christlichen Tradition als Titel bevorzugten ψαλμοί via Septuaginta wenigstens indirekt dem מזמורdes hebräischen Texts verpflichtet bleiben, geht der dritte Gesamttitel, ψαλτήριον/psalterium (Der Psalter), eigene Wege. Er verlässt den Bezug zur jüdischen Überlieferung, sei es der Masora, sei es der Septuaginta. Zwar findet sich ψαλτήριον auch im Septuaginta-Psalter, aber nur im Text,233 nicht in Überschriften von Einzelpsalmen, sodass man zögert, von einer internen Benennung zu sprechen. Warum fällt die Wahl unter den vielen Musikinstrumenten des Psalters gerade auf dieses? Ruft man die hebräischen Äquivalente für ψαλτήριον herbei, meist נֵ ֶבלoder ( נֶ ֶבלHarfe), seltener ( ִכּנּוֹרZither), dann ist evident, dass diese als Titel des hebräischen Psalmbuchs unbekannt, ja undenkbar sind. Ψαλτήριον/psalterium ist ein später, in jeder Hinsicht externer Name. Das Neue Testament kennt ihn nicht; als Titel wird er, wie wir sahen, erst im Codex Alexandrinus greifbar. Obgleich die Vielfalt der Psalternamen damit nicht erschöpft ist, halten wir inne und wenden uns zwei der gebräuchlichsten zu, soweit sie über Psalmen hinausgehen: dem Buch der Psalmen und dem Psalter. Diese zwei Namen sind für uns von besonderer Wichtigkeit. In ihnen spiegelt sich, dass der Psalter durch seine Zugehörigkeit zur rechten wie zur linken Themenreihe doppelt konnotiert sein muss. Psalmen sind sowohl Buch der Psalmen wie Psalter. hymnorum. Summarien über die Psalmen 1531–33, WA 38, 18,6: „‚Sepher Tehillim‘ das ist ‚ein lobe buch‘, oder ‚danck buch‘“. 232 Delitzsch, ebd. 5. 233 Ps 33(32),2; 49(48),5; 57(56),9; 81(80),3; 92(91),4; 108(107),3; 144(143),9; 149,3; 150,3; (151,2: ψαλτήριον, das Musikinstrument Davids).
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Buch der Psalmen Ob die Psalmen tatsächlich ein Buch sind oder nur so genannt werden, ist Gegenstand eines Streits, der schwer befriedet werden kann. Das Interesse, die 150 Einzelstücke nicht nur als solche – oder gar als solche, die ihrerseits noch weiter in Teile zerfallen – lesen zu müssen, sondern in übergreifendem Zusammenhang, zunächst nur der benachbarten Stücke, dann auch in größeren Clustern, die ihrerseits wieder von umfassenderen Strukturen überwölbt werden, bis endlich das vielstockige Hochhaus des Sinnes aufgeführt ist, das die Gesamtheit der Psalmen beherbergt, fordert, dass das auf ein solches Sinngebäude gerichtete Interpretationsinteresse die Idee des Buches der Psalmen hochhalten wird. Wie sehr die Einzelheiten eines Psalms oder ein Psalm selbst als Einzelheit unter anderen erscheinen mögen: am Ende gelangt die kanonische Interpretation durch die minutiöse Beobachtung von Konkatenationen, Serialitäten und Agglomerationen zur Endgestalt des Psalters als durchgehendem Lesetext, der die Bezeichnung Buch rechtfertigt. Und ebenso ist klar, dass eine Leseweise, die aus naheliegenden Gründen die Einzelheiten für interessanter hält und nur ungern die Buntheit der Psalmen gegen das Grau in Grau der kontinuierlichen Lesung eintauschen wollte, zumal wenn diese mönchischen Anstrich annimmt, die Bezeichnung der Psalmen als Buch für keine gute Idee hält. „Von kontinuierlicher, meditativer Verwendung des Psalters […] fehlt jede biblische Nachricht“, stellt Erhard S. Gerstenberger fest234 und schließt: „Der Psalter ist kein ‚Buch‘“.235 „Der Psalter ist kein Buch, sondern eine Sammlung“.236 Das Buch erfordere strenge Geschlossenheit und Einheitlichkeit: lauter holistische Merkmale, die dem Psalter fremd sind. Hingegen Sammlung bezeichne den Modus, der Kritik der Geschlossenheit mit Akzeptanz einer gewissen Aggregation verbindet. Vor dem Hintergrund dieses fundamentalen Antagonismus der neueren Psalmenexegese erhält der Umstand, dass Buch der Psalmen der älteste bekannte Psaltername ist, erst recht Brisanz. Gerstenberger muss ihn fortwünschen, wenn das Buch mehr sein sollte als bloße Sammlung. Dagegen liegt der Psalter als Buch satt in der Konsequenz einer Lesetheologie, deren Weg vom Buchstaben zum Buch wir verfolgt haben. Wenn überhaupt Psalmen nach diesem Anmarsch in den Blick kommen sollen, dann in Gestalt des Buchs der Psalmen. Ja, selbst die Frage des Kanons wird den Psalmen keineswegs von außen auferlegt, sondern erwächst, wie David Willgren detailliert nachweist, aus ihnen selbst.237 Im übrigen bleibt die Aversion gegen monastisches Lesen, die Gerstenberger zu erkennen gibt,
234 Gerstenberger,
Der Psalter als Buch und als Sammlung 1994, 10. Gerstenberger, ebd. 9. 236 Gerstenberger, ebd. 12. 237 Willgren, The formation of the ‚Book‘ of Psalms 2016. 235
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ohne Eindruck auf eine Lesetheologie, die von ihrer Herkunft aus ebendiesem noch nie einen Hehl gemacht hat. Jedoch, sobald man sich dem Buch der Psalmen in den alten Sprachen zuwendet, entsteht ein Bild, das durchaus nicht auf den Psalter als Buch im Sinne von Geschlossenheit und Einheitlichkeit hinausläuft. – Der hebräische ]ה[תהלים ספרist nicht nur der älteste, sondern auch der unverfänglichste Psaltername. Keineswegs steht er monarchisch über dem Psalmtext, als wolle er herrschen. Weder erzeugt er Rivalität zu einem möglicherweise übergeordneten Buch, sei es der Schriften oder der Schrift als ganzer, noch hat er Macht, die Vervielfältigung zu Büchern innerhalb des Buchs der Psalmen zu unterbinden. Sobald die am Ende von Psalm 41, 72, 89 und 106 nachgetragenen Rubriken aus synagogalen Eulogien samt respondierendem Amen als Markierung von Teilsammlungen verstanden werden, die später selbst Bücher heißen (א ספרbis ה ספר, wobei das Kleine Hallel Psalm 146–150 als Schluss des fünften Teilbuchs gelten mag), hat sich das Buch verfünffacht, ohne dass der Charakter des Ganzen als Buch in Gefahr gerät. Dem hebräischen ספרsind Rang‑ und Typenprobleme so völlig fremd. Es handelt sich um die Schriftrolle; eine verhält sich zur anderen in hohem Grad parataktisch; hypotaktische Erwägungen, die Schärfung des Profils erforderten, werden vergeblich gesucht. Wenn schließlich die fünf Psalmbücher in Analogie gesetzt werden zu den fünf Büchern des Pentateuchs, dann bewirkt das die Schwächung des Buchbegriffs, sofern dieser durch Geschlossenheit und Einheitlichkeit definiert wird. Nicht nur wiederholt der Pentateuch seinerseits die Friktion von fünf Büchern innerhalb des einen Buches noch einmal, sondern allein schon der Vergleich zwischen Pentateuch und Psalmen verschiebt die Erwartung eines geschlossenen und einheitlichen Buches ins Unabsehbare. – Ähnliches gilt für die βίβλος ψαλμῶν Lc 20,42; Act 1,20. Βίβλος ist Einzelschrift; es stört nicht, dass die Einzelschrift in weitere Bücher zerfällt, wie bei Βασιλείων Α´-Δ´ oder Παραλειπομένων Α´-Β´. Das Buch sammelt, das Buch teilt. – Die Beobachtungen zum lateinischen liber psalmorum Lc 20,42; Act 1,20 verstärken den bisherigen Eindruck, setzen aber auch einen deutlichen Gegenakzent. In der Vulgata des Hieronymus erhält nahezu jede alttestamentliche Schrift, beginnend mit Liber Genesis und endend mit Liber Macchabeorum, den Titel eines Buches, was bewirkt, dass der Liber psalmorum nur einer ist unter vielen; außerdem, dass der Gebrauch von liber völlig unberührt davon bleibt, ob er sich auf das Ganze oder auf den Teil des Ganzen bezieht. Es gibt den Liber Malachim, den Liber Paralipomenon trotz der Mehrzahl der darunter befassten Bücher, jedoch die Libri Salomonis als Obertitel, der seinereits den Liber proverbiorum, Liber Ecclesiastes und Liber canticum canticorum umfasst. Aber ausgerechnet beim Liber psalmorum hat Hieronymus die Fünfteilung unterdrückt. Zur Begründung pocht er auf Einheitlichkeit und Geschlossenheit dieses Buches. „Nos
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autem […] unum volumen adserimus.“238 Allenfalls hier taucht bei Hieronymus die Spur des Buchbegriffes auf, von dem Gerstenberger sich vehement absetzt; sonst jedoch, soweit wir תהלים ספר, βίβλος ψαλμῶν und liber psalmorum überblicken, rennt Gerstenberger offene Türen ein. Die Buchrolle im Unterschied zum Kodex mag dazu beigetragen haben. In alten Sprachen ist der Psalter Buch nur in unscharfem Sinne; er ist Buch unter Büchern oder Buch der Bücher ohne Hypotaxe. Nur eins ist er nie: Buch im Buche. Man müsste den Buchbegriff profilieren und präzisieren, um dem mengentheoretischen Paradox des Psalters zu begegnen.
Psalter Beide für unseren Zusammenhang bedeutsamen Psalternamen überschneiden sich: Buch der Psalmen teilt mit Psalter den griechischen Wortstamm (während im Hebräischen verschiedene Stämme zugrundeliegen; für ψαλμός ִמזְ מרund ִשׁיר, für ψαλτήριον נֵ ֶבלund ;) ִכּנּוֹרPsalter wiederum teilt mit Buch der Psalmen die Lesbarkeit. Jedoch in allem Übrigen liegen sie weit auseinander. Buch der Psalmen dürfte die älteste, Psalter die jüngste Benennung sein, zudem eine solche, bei der man nach dem Fundament im Hebräischen vergeblich fragt. Mit Psalter entfernen wir uns, anders als mit Buch der Psalmen, aus der direkten Wirkung des hebräischen Originals und stellen uns auf den Boden der Septuaginta, als ob sie das Original wäre. Der Makel, der Parole „Ad fontes!“ nicht gefolgt zu sein, bleibt an Psalter haften. Zwar ist es üblich, darüber hinwegzugehen durch die schnelle Rückführung von ψαλτήριον auf Psalterinstrumente wie נֵ ֶבלbzw. כּנּוֹר, als dürfe man wählen, was man will. Das ist ein Kurzschluss, der die komplexe Entstehung dieses Titels überspringt. Erst der 151. Psalm, der im Zug der Davidisierung dem Psalmencorpus als ψαλμὸς ἰδιόγραϕος εἰς Δαυιδ καὶ ἔξωθεν τοῦ ἀριθμοῦ angehängt wurde, stilisiert das Psalterium zu dem Musikinstrument und David zu dem Orpheus der Psalmen:239 11Q5(4) ידי עשו עוגב ואצבעותי כנור
LXX Ps 151,2 αἱ χεῖρές μου ἐποίησαν ὄργανον, οἱ δακτυλοί μου ἥρμοσαν ψαλτήριον.
Auch wenn es gelungen ist, für den 151. Psalm eine hebräische, genauer: qumranische Vorlage nachzuweisen,240 bleibt davon unberührt, dass die Psalmen als Psalter eine Wendung nehmen, die sie der Welt des Hebräischen entfremdet und dem Griechischen öffnet. Der Problemknäuel der Hellenisierung kann hier weder entfaltet noch aufgelöst werden; nur so viel scheint evident, dass die Schwäche des Bezugs zum Hebräischen die kirchliche Adaption von 238
Hieronymus, Altera praef., in: Biblia sacra (Weber) 1, 768,4–6. The Dead Sea Scrolls, IV A, 1997, 166 f. 240 Sanders, The psalms scroll of Qumrân cave 11 1965. 239
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ψαλτήριον/psalterium stärkt. Kaum ist mit Psalm 151 der hebräische Rahmen des Psalmbuchs überschritten und mit 151,2 ψαλτήριον zu dem ὄργανον der Psalmodie avanciert, setzt der Hellenisierungsschub ein, der im Codex Alexandrinus seinen Höhepunkt erreicht. Dieser nimmt Psalm 151 zum Anlass weiterer Zusätze. Ohne Respekt vor dem hebräischen Bestand fügt er 14 Oden ein. Der Leser alttestamentlicher Psalmen wird in einen Aöden verwandelt, einen Sänger von Oden, die erst im Morgengebet (῎Ορθρος), dann in Abendgebet (Ἑσπερινόν) und Nachtwache (Παννυχίς) zum Vortrag kommen. Das ist der Kontext, in dem Codex A wohl erstmals den Titel Ψαλτήριον in den Textbestand aufnimmt als jüngsten Psalmentitel. Im Übrigen war ψαλτήριον längst im Gebrauch, in der Septuaginta wie in der Antike. Man muss mit dem Musikinstrument gleichen Namens beginnen, das zur Gattung der Saiteninstrumente gehört. Als Hapaxlegomenon begegnet ψαλτήριον (dreiseitige Harfe) erstmals im Corpus Aristotelicum,241 und ψάλλειν (anschlagen, zupfen) ist nicht weit entfernt.242 Als Instrumentenname gelangt ψαλτήριον ins Alte Testament, erscheint Genesis 4,21, findet den Weg in die Psalmen. Während der eigentliche Sinn, ψαλτήριον als Zupfinstrument, von hier durch die Musikgeschichte geht und sich in verschiedenerlei Musikinstrumenten niederschlägt, gestattet die Abweisung paganer Instrumente den Zutritt des Psalters zur Liturgie nur unter der Bedingung der Allegorisierung. Allegorisch ist der Psalter nach der Zahl seiner Saiten und nach der Lage seines Resonanzkastens; der Topos, ψαλτήριον erklinge von oben her, κιθάρα von unten, gehört zum Standard.243 Sind allein Stimme und Sprache der Doxologie angemessen, dann ist der menschliche Odem die reale Basis, die den Psalterinstumenten von Psalm 150 zum allegorischen Fortleben verhilft. Hierzu gehört auch die Allegorie des Psalteriums.244 Durch Verlust des Wortsinns wachsen ihm bildliche Bedeutungen in großer Zahl zu; teils bildet es das Wesen des Menschen,245 teils die Eintracht der Gemeinde ab.246 Von der Allegorisierung, die vom Sichtbaren ins Unsichtbare weist, ist die Metaphorisierung zu unterscheiden; sie überträgt den Psalter von Sichtbarem auf Sichtbares. So, wenn das Buch der Psalmen Psalter genannt wird. Während Athanasius von Alexandrien247 und Basilius
241 Ps.-Aristoteles,
Probl. phys. 23, 919b12. Ps.-Aristoteles, ebd. 24, 918b15; 42, 921b14. 243 Hippolyt, En. in ps., arg. 6, PG 10, 716D; Origenes, De CL psalmis, in: Analecta sacra (Pitra) 2, 432 f; Basilius von Caesarea, Hom. in ps. 1,2, PG 29, 213BC; Gregor von Nyssa, Inscr. ps. II 3, GNO 5, 75,12–14. 244 Clemens von Alexandrien, Paed. II 4, 41,4–5, GCS 1, 182 f; ΧΡΩΜΑ ΘΕΟΥ Nr. 90; Music in early Christian literature Nr. 32. 245 Athanasius von Alexandrien, Ep. ad Marc. 28, PG 27, 40B. 246 Clemens Alexandrinus, Paid. II 4, 42,1–3, GCS 1, 188; ΧΡΩΜΑ ΘΕΟΥ Nr. 91; Music in early Christian literature Nr. 53. Gregor von Nyssa, Inscr. ps. I 9, GNO 5, 65,22–67,9. 247 Athanasius von Alexandrien, Ep. ad Marc. 1, PG 27, 12A. 242
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von Caesarea248 ψαλτήριον ohne weiteres auf das Psalmbuch übertragen, übt Gregor von Nyssa Zurückhaltung; nie nennt er das Buch so,249 ψαλμῳδία dagegen wohl.250 Ob ψαλτήριον als Metapher oder Metonymie zu verstehen ist, bleibt offen.251 Die Implementierung von Psalter als Psalmentitel wäre ohne das Mönchtum schwer zu denken. Wer sich des Psalteriums, verstanden als Gesamtheit von 150 Psalmen, als eines Saiteninstruments bedient, spielt, indem er liest,252 und schreibt ins Gedächtnis.253 Zwar geschieht Lesen von der Pike auf nach Buchstaben, Silben, Verba und Nomina,254 und nur der so Erzogene ist des Lesens mächtig: psalteratus litteratus.255 Die Psaltermetapher bewirkt ihrerseits Metaphorisierung des Lesens. Lesen wird zu einer Art Anschlagen und Zupfen von Saiten, seien es solche des Buches oder der Seele, biblisch: von Saiten des Herzens. Das ist es, was Augustin mit Davidicum psalterium meint.256 So erklärt sich, weshalb Ψαλτήριον/Psalterium seit Codex A zum Titel des Psalmbuchs werden konnte und in Bibelausgaben Verwendung findet, die Lutherbibel allen voran. Und so tritt Ψαλτήριον/Psalterium in Kanonlisten und Kanontexten auf.257 Kirchliche Konzilien und kaiserliche Kapitularien schreiben den so gebrauchten Psalter als Pensum für Mönche, Bischöfe und Priester fest.258 Man sollte auch nicht vergessen, dass die Metapher des Psalters sich im Kontext von Bußleistungen zum Zahlungsmittel verdinglicht.259
248 Basilius von Caesarea, Hom. in ps. 1,2, PG 29, 213B: πάντα, ὥσπερ ἐν μεγάλῳ τινὶ καὶ κοινῷ ταμιείῳ, τῇ βίβλῳ τῶν Ψαλμῶν τεθησαύρισται, ἣν, πολλῶν ὄντων ὀργάνων μουσικῶν, πρὸς τὸ λεγόμενον ψαλτήριον ἥρμοσεν [Ps 151,2] ὁ προϕήτης. 249
Gregor von Nyssa, Inscr. ps. II 3, GNO 5, 75,12–15. Gregor von Nyssa, Inscr. ps. II 10, GNO 5, 109,27 f. 251 Michael Psellos: Metonymie; Euthymius Zigabenus: Metapher; Vf., Psalterspiel 2009, 33 Anm. 135. 252 RP 17 (Koch 91): legente psalterium. RB 8,3: psalterii vel lectionum aliquid; 18,23 f: psalterium ex integro numero centum quinquaginta psalmorum. 253 RP 140 (Koch 101): Et omnino nullus erit in monasterio, qui non discat litteras et de scripturis aliquid teneat: qui minimum, usque ad novum testamentum et psalterium. 254 RP 139 (Koch 101): scribentur ei elementa[,] syllabae, verba ac nomina, et etiam nolens legere compelletur. 255 RM 57,6.11. 256 Augustin, Conf. X 33,50. 257 Isidor von Sevilla, Etym. VI ii,15: Psalmorum liber Graece psalterium, Hebraice nabla, Latine organum dicitur. Vocatus autem Psalmorum [liber] quod, uno propheta canente ad psalterium, chorus consonando responderet. Titulus autem in psalmis Hebraicus ita est, Sepher Thehilim, quod interpretatur volumen hymnorum. Hugo v. St. Viktor, Didasc. IV 8. 258 Concilium Nicaenum II (787), can. 2, COD 21962, 115,34–39. Admonitio generalis (789), § 72, in: Kapitularien 1968, 16 f. 259 Sacramentarium Rhenaugiense 1970, 281, Nr. 1370b: Pro I solido C psalmus [sc.psalmos] aut III missas. Pro I untia CL psalmus [sc. psalmos] aut III missas. Pro VI untias VI psalterios et missas III. Pro I libra XII psalterios et XII missas. Anselm von Canterbury, Ep. 247,14, Op. omn. (Schmitt) 4, 157: Unum psalterium pro omnibus peccatis. 250
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
Die doppelte Determiniertheit des Psalters und die Differenz von Prosa und Poesie
Buch der Psalmen und Psalter, die gebräuchlichsten Titel, stehen für die doppelte Determiniertheit des Psalters. § 8 Heilige Schrift und Psalter zeigt: Der Psalter gehört in beide Reihen, die mit § 2 begannen. Einerseits Teil der Schrift, des Buches, das in Konsequenz des Lesens bis zum Buch der Psalmen führt und selbst den Status des Buches beansprucht, ist der Psalter andererseits gerade nicht Teil der Schrift, nicht Buch im Buche, tritt vielmehr aus der Schrift heraus, ihr entgegen und erhebt, obwohl nur Teil, den Anspruch, das Ganze zu sein und mehr als die Summe ihrer Teile. Dieser Anspruch wird durch Psalter proklamiert. Auf beiden Seiten können wir uns nicht einfach der Tradition überlassen. Was die Seite des Buches der Psalmen anlangt, zeigt der Blick auf die Geschichte dieses Titels, dass der Buchbegriff in den alten Sprachen weit entfernt davon ist, sich zum mengentheoretisch bedingten Paradox des Buchs im Buche zuzuspitzen. Wir selbst müssen die Zuspitzung vollziehen, suchen also die Bequemlichkeit vergeblich, uns bloß der Tradition hinzugeben; diese ist undeutlich, umspielt den Problemkern nur und verwischt die Konfliktlinie, die sie hätte schärfen sollen. Was die Seite des Psalters anlangt, scheint sich der Frevel der Überschreitung der hebräischen Basis bitter zu rächen. Weil der Psalter Lesen im buchstäblichen Sinn überschreitet, öffnet er gar zu bereitwillig die Schleusen zu Allegorie und Metapher. Nicht mit dem Buch der Psalmen, erst mit dem Psalter lässt sich allerhand anderes machen als Lesen: Singen, Spielen, Zupfen, Zahlen. So droht die Lesemetapher, die durch die Psaltermetapher nicht bloß Zulassung, sondern kräftige Unterstützung erfährt, den Faden der Lesetheologie zu zerreißen und sie ins Anarchische zu entlassen: Kraut und Rüben. Damit nicht verfehlt wird, was als doppelte, sich in den Titeln Buch der Psalmen und Psalter manifestierende Determiniertheit des Psalters richtig getroffen ist, bedarf es mehr als der Historie; es bedarf des systematischen, am Lesevorgang orientierten Zugriffs. Also muss, was über der Historie zu entgleiten droht, in lesetheologische Disziplin zurückgeholt werden. Deren letzter Stand war § 8.3 die Unterscheidung von Poesie und Prosa. Bei Aufnahme der Polarität dieser beiden erscheint der Lese‑ und Textbestand der Psalmen ausgespannt zwischen zwei Enden, dem prosaischen und dem poetischen. Gewiss gehört das Psalmbuch zu den poetischen Büchern der Heiligen Schrift, daraus folgt aber keineswegs, die Psalmen seien der Uniformität von Regelpoesie zu unterwerfen. Also muss man folgern, sie seien mehr oder weniger poetisch; mehr, wenn sie sich auf dem Weg der Poetisierung befinden, weniger, wenn Signale der Prosaisierung überwiegen. Bereits bei Psalm 1, dem Prolog zum Psalmbuch, ist zu fragen, ob dieser sich des Poetischen hinreichend befleißigt habe, und spätestens bei Psalm 125 und 137 intensiviert sich diese Frage. Aber nicht nur, dass es Psalmen gibt, die von
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Anfang an eher prosaisch wirken, sondern es finden sich auch solche, die im Lauf der Überlieferung dem „Trend der Prosaisierung“ unterlagen. Sie müssen, obgleich von anfänglich poetischer Art, „im Prozess der Relektüre offensichtlich einer Prosaisierung“ ausgesetzt gewesen sein.260 Dann war das Buch der Psalmen einmal poetisch verfasst; nun läuft es aus in Prosa. Es trägt die Rückschritte der Poesie in sich, die Carl Gustav Jochmann beschrieben261 und Walter Benjamin zugespitzt hat.262 Doch zugleich bleibt unwidersprochen, dass auch die Tendenz der Poetisierung am Werk gewesen sein muss, nicht nur als Gegengewicht zur Prosaisierung, sondern ursprünglich. Wenn etwa der singuläre Psalm 29 als Paradigma für Prosaisierung in Anspruch genommen wird,263 entsteht umgekehrt, je weiter man sie aufdeckt, der überwältigende Anblick der Poetizität dieses Psalms, wie sie einmal gewesen sein muss. Kann die Freilegung der Prosaisierung nicht geschehen ohne Kontrast zur Poesie, dann ist Poetisierung im Grunde nichts anderes als die im Rücken von Prosaisierung wachsende Einsicht in die ursprüngliche Poesie eines Psalms. Die Poesie eines Psalms verläuft nicht einfach in Prosa, selbst wenn seine Überlieferung dahin auslaufen sollte. Oder anders: Poesie ist die indirekt über die Rückschritte der Poesie erzeugte Einsicht in den Fortschritt der Poesie. Noch einmal anders: Wenn über die Rückschritte der Poesie nicht geredet werden kann ohne die für Jochmann so charakteristische Melancholie, dann zögern wir nicht, die von ihr aufgeregten Fortschritte, allem zur platonischen Dichtungstheorie Gesagten zufolge, Manie zu nennen. Das melancholische Treiben der Prosaisierung setzt Kräfte manischer Poetisierung frei. Unter diesem Aspekt wird der Textbestand eines Psalms nicht daraufhin befragt, ob er poetisch oder prosaisch ist. Er ist der Durchgangspunkt vom einen zum andern und in beiderlei Richtung. Weder Poesie, noch Prosa, liegt der Psalm ausgespannt zwischen beiden. Daher die doppelte Determination, die bewirkt, dass er nach der einen Seite ausgeht ins Buch der Psalmen, nach der anderen in den Psalter. Läge der den originalen Textbestand mutwillig überschreitende Titel Psalter nicht schon vor, hätten wir ihn erfinden müssen. Wir erblicken jetzt nicht nur einen historischen Befund, sondern einen systematischen Kalkül. Und während das Buch der Psalmen melancholisch schwächelt, ist der Psalter imstande, die Vermutung zu wecken, hier geschehe manische Apallage,264 Exallage,265 Ekstasis.266 Aber beide, wenn zu fassen als Prosa und Poesie, bleiben gebunden an die Disziplin des Lesens, der wir uns jetzt zuwenden. Seybold, Poetik der Psalmen 2003, 347. Jochmann, Ueber die Sprache 1828, 247–320. 262 Benjamin, Einleitung zu Jochmann, Die Rückschritte der Poesie, 1937/39, GS II/2, 572–585. 263 Seybold, ebd. 347–350. 264 Platon, Phaidr. 244e. 265 Platon, Phaidr. 265a. 266 Platon, Phaidr. 249c; Paulus, 2. Kor 5,13; Dionysius Areopagita, DN IV 13, PG 3, 712A. 260 261
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b. Die Poesie des Psalters Biblische Poesie, darunter auch die Poesie der Psalmen, gibt es als nicht nur behauptetes, sondern argumentativ durchzusetzendes Phänomen erst seit Robert Lowths Oxforder Vorlesungen De sacra poesi Hebraeorum.267 Dabei steht Heilige Poesie nicht wie bei Klopstock programmatisch für eine jetzt erst zu bildende nachbiblische Dichtung,268 sondern für die älteste, biblische Dichtung, dem Ursprung der Menschheit so nahe wie keine andere. Das elegante Schwergewicht von Lowths Monumentalwerk fand ein Äquivalent erst jüngst in Frederick W. Dobbs-Allsopps On Biblical poetry, ein Schwergewicht seinerseits, gelehrt von der Epigraphik bis zur Poetologie.269 Beide stimmen überein, und darin unterscheiden sie sich vom Mainstream: Was die biblische Überlieferung überhaupt erst erschließt, ist die Poesie; was die Poesie überhaupt erst erschließt, ist die Lyrik.270 Im Übrigen besteht Differenz, obgleich auch hier die Verwandtschaft überwiegt. Während Lowth nicht zu Unrecht, aber litaneihaft die Entdeckung des Parallelismus zugeschrieben wird, wollte Dobbs-Allsopp sein Werk zuerst unter den Titel Beyond parallelism stellen.271 Selbst wenn dieser lowthkritische Grundton sich bei seinem Autor nicht durchgesetzt hat, charakterisiert er den Impuls, der die Studien hervorgebracht hat. Biblische Poesie, mithin auch die der Psalmen, ist bereits in ihrer bloßen Existenz umstritten. Während Lowth alles auf eine Karte setzt und argumentiert: Wenn es überhaupt ausweisbar biblische Poesie gibt, dann in Form des Parallelismus, weist Dobbs-Allsopp bei allem Respekt über diese Engführung hinaus. Biblische Poesie lässt sich nicht auf die Parallelismusthese reduzieren, sondern es gibt, wie Lowth selbst in seinem späteren Isaiah bemerkt, über den Parallelismus hinaus weitere Kennzeichen des Poetischen in der Bibel.272 Umso mehr kann Dobbs-Allsopp zur Ergänzung des Parallelismus aufrufen, als Lowth selbst dazu aufgerufen hat. Und nicht nur das spätere Werk, bereits die Praelectiones dürfen so aufgefasst werden, dass sie einladen, die biblische Poesie nicht auf den harten Kern des Parallelismus zu reduzieren. In vier ineinander verwobenen Einzelstudien hat Dobbs-Allsopp sein „beyond parallelism“ durchgeführt; zuallererst in „The Line in Biblical Poetry“ als Überschreitung der distichischen, am Parallelismus orientierten Form biblischer Poesie hin zur Einzelzeile, der Linie: beyond distichs;273 in „The Free Rhythm of Biblical Hebrew Poetry“ als Überschreitung der metrischen 267
Lowth, De sacra poesi Hebraeorum 11753 (Michaelis 21770); zit. nach beiden Auflagen. Heilige Poesie 1997, 2 f. 269 Dobbs-Allsopp, On Biblical poetry 2015. 270 Und was die Lyrik erschließt, ist der göttliche Name. 271 Der Werkstatttitel wird zum Titel der Einleitung: „Biblical poetry beyond parallelism“. 272 Lowth, The preliminary dissertation, in: Isaiah 21779, i-lxxiv, iv-li: Kennzeichen des Parallelismus; li: sonstige Kennzeichen. 273 Cf. Dobbs-Allsopp, ebd. 8 f, 93. 268 Jacob,
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Bindung: „beyond meter“;274 in „The Idea of Lyric Poetry in the Bible“ als Überschreitung der narrativen oder mimetischen Prägung: beyond epics and dramatics,275 und in „The orality in Biblical Poetry“ als Überschreitung der Festlegung Lowths auf Schriftlichkeit und Literarität: beyond textuality and literacy.276 Alle diese Bewegungen mit Lowth über Lowth hinaus befinden sich in unterschiedlichen Graden des Widerspruchs zu Lowth, in geringerem in den beiden letzten, in stärkerem in den beiden ersten Kapiteln. Aber nirgends meldet sich der Widerspruch so stark wie im zweiten Kapitel, in dem Dobbs-Allsopp Lowths These von der Prägung biblischer Poesie durch Metren direkt entgegentritt und den freien Rhythmus auf den Schild hebt. Weil hier das Programm „beyond parallelism“ am schärfsten zum Gegensatz aufläuft, wollen wir damit beginnen. Rhythmus, nicht Metrum In diesem Punkt berühren sich Lowth und Dobbs-Allsopp in tiefster Übereinstimmung und höchstem Gegensatz. Beide arbeiten sich ab an denselben Beobachtungen, die gegen die Existenz von so etwas wie hebräischer Poesie sprechen, aber jeder zieht daraus einen Schluss, der dem anderen direkt widerspricht. Lowth erklärt in der fundamentalen dritten Vorlesung, der im Gesamtaufbau seines Werkes das Gewicht des ersten von drei Teilen zukommt, die hebräische Poesie sei metrisch (Poesin hebraeam metricam esse).277 Dobbs-Allsopp hält dagegen: „Biblical Hebrew poetry is not metrical.“278 In keinem anderen Kapitel spitzt sich der Gegensatz zu Lowth bis zum frontalen Widerspruch zu. Dabei besteht Einigkeit darin, dass alle von Philo, Origenes, Hieronymus bis Francis Hare unternommenen Versuche, der biblischen Poesie klassische Versmaße wie Hexameter, Pentameter zu unterstellen, definitiv gescheitert sind. Für Lowth deshalb, weil das Fundament der Metrik, die hebräische Prosodie, verloren ist; seit Jahrtausenden ist der sermo Hebraeus verstummt (mutus omnino) und liegt sprachlos (elinguis) darnieder.279 Entfällt das Zeugnis der Ohren (aurium judicium) zugunsten von Metrik, bleibt nur der Augenschein (aspectus).280 Nirgendwo dürfte die Hinwendung zur Litera274
Dobbs-Allsopp, ebd. 115, 176; cf. 9 f. Dobbs-Allsopp, ebd. 10 f, 179, 184 f, 229. 276 Cf. Dobbs-Allsopp, ebd. 11 f. 277 Lowth, ebd., Prael. III, 25/39. 278 Dobbs-Allsopp, ebd. 99 f, 102, 177. 279 Lowth, ebd., Prael. III, 30/53. Ders., Isaiah 21779, viii f: „But the true pronunciation of Hebrew is lost: lost to a degree far beyond what can ever be the case of any European language preserved only in writing: for the Hebrew language, like most of the other Oriental languages, expressing only the Consonants, and being destitute of its vowels, has lain now for two thousend years in a manner mute and incapable of utterance: the number of syllables is in a great many words uncertain; the quantity and accent wholly unknown.“ 280 Lowth, ebd., Prael. III, 26/41. 275 Cf.
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rität, unter Abwendung von Oralität, gar deren Ausschluss, schrofferen Ausdruck finden als hier. Und mit Blick auf die Lesetheologie ist festzuhalten, dass unser eigener Ansatz auf der Seite des Schriftlichen unter Beiseitelassung des Mündlichen nirgendwo genauere Resonanz findet als bei Lowth. Beide Male wird auf eine Erfahrung von Verlust mit äußerster Sensibilität reagiert; die Welt geatmeter, lautgewordener, leibhafter Worte ist kompensationslos verstummt; nun gilt es mit einem Entschluss rationaler Desperation die Welt der Buchstaben und Schrift als das zu nehmen, was nach Ausbleiben des Zeugnisses ersten Ranges wenigstens nicht nicht Kunde gibt von sonst definitiv Verlorenem. Nur durch Augenschein, und hier auch nur durch den Schlitz weniger akrostichischer Stücke, die sich in Psalmen, Proverbien und Lamentationen finden, zeigt sich, was sich nicht hören lässt. Wie die nach dem Alphabet geordneten Satzanfänge belegen, können hebräische Sätze eine Formation annehmen, in der sie sowohl als ganze wie als Teile zu erkennen sind; als ganze sind sie sententiae, als Teile membra. Oder näher beim Poetischen: als ganze sind sie versus, als Teile versiculi.281 Hier liegt, ohne dass schon der Terminus eingeführt ist, das Fundament des Parallelismus, der darauf basiert, dass hebräische Versbildung nicht immer, aber überwiegend dem Prinzip der Binarität folgt. Parallelismus ist eine „poetische Zusammenstellung von Sätzen mit einer gewissen Gleichheit, Ähnlichkeit – oder in einem Parallelismus – der Glieder in jeder Periode, so dass in den beiden Gliedern meist Dinge den Dingen und Wörter den Wörtern in einer Weise antworten, als befänden sie sich in einer Art Gleichmaß und Entsprechung.“282 Über dem Abgrund des definitiven Verlusts hebräischer Metrik wird durch den Parallelismus der einzigmögliche Grund einer solchen gelegt: Satz‑ und Gedankenmetrik anstelle der Regelmetrik betonter oder unbetonter, langer oder kurzer Silben, zwar nicht metrum schlechthin, doch eine Art Metrum (metrum aliquid).283 Soviel ist klar: Lowth kennt keine Poesie als die klassische; soll es hebräische Poesie geben, dann nur, sofern sie metrische Struktur besitzt. Der Parallelismus ist, unter desperaten Bedingungen, der Platzhalter des klassischen Metrums und als solcher der harte Kern der Poetizität hebräischer Dichtung. Der Schluss, den Dobbs-Allsopp aus denselben Beobachtungen zieht, biblische Poesie sei nicht metrisch, verschiebt Lowths Koordinaten gründlich. Man kann die Differenz nicht deutlich genug profilieren. – Erstens: Was nun selbst zum Verschwinden gebracht wird, ist der vorromantische Goût von Verschwinden und Verlust, der bei Lowth weht; er hat sich in nichts aufgelöst. Ist, 281
Lowth, ebd., Prael. III, 30 f/58. Lowth, ebd., Prael. XIX, 180/365: Poetica sententiarum Compositio maximam partem constat in aequalitate, ac similitudine quadam, sive parallelismo, membrorum cujusque periodi, ita ut in duobus plerumque membris res rebus, verbis verba, quasi demensa et paria respondeant. 283 Lowth, ebd., Prael. III, 25/40. 282
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wie Dobbs-Allsopp betont, der biblische Vers in keinem Moment metrisch gewesen,284 dann wendet sich die Trauer des Verlusts in die Zuversicht, dass nichts fehlt. Die Grundstimmung von Absenz von fast allem und jedem, was zur Erkenntnis von Poesie in der Bibel erforderlich ist, der Schmerz, dass diese nur eben noch an ein paar letzten, an Äußerlichkeit kaum zu übertreffenden Reliquien, den wenigen akrostichischen Texten, ergriffen werden kann, die Stilisierung des Parallelismus zum Notprogramm, das sich auf dem Weg der Analogie auf andere Texte verbreitet, um sie als poetisch zu erweisen, weicht einer ihrer selbst sicheren Präsenz. Heiterkeit umgibt die Poetik von Dobbs-Allsopp von vornherein. – Zweitens: Die bei Lowth bedrückende, wiewohl methodisch bewusst eingegangene Beschränkung auf das Sinnesvermögen des Sehens – „looking and not listening“285 – entfällt. Weder findet Resektion des Sensoriums statt, noch wird sie in Kauf genommen. Im Gegenteil: Zur vollen Wahrnehmung hebräischer Poesie muss nicht nur Sehen durch Hören ergänzt werden, sondern die mit Hören hinzukommende Leiblichkeit und Gemeinschaftlichkeit bilden die Basis einer unresezierten Sinnlichkeit, in der Gesang, Tanz, leibgespeichertes Gedächtnis und gestische Bewegung in allen individuellen und sozialen Formen und Riten ihren Ort finden, wie von Marcel Jousse eindrücklich gelehrt.286 – Drittens: Was Dobbs-Allsopp dem Ansatz Lowths entgegenstellt, ist ein völlig anderer Umgang mit Literarität. Nicht nur werden die Standards hoher Literatur, die Lowth in seiner klassischen Bindung aufrecht zu halten gezwungen war, abgesenkt, sondern an die Stelle der herauspräparierten, totgestellten Literarität tritt deren Einbettung in ebenso vorgängige wie begleitende Oralität. – Viertens und hauptsächlich: An die Stelle von Metrum als Merkmal der Poesie tritt der freie Rhythmus (free rhythm). Damit wählt Dobbs-Allsopp einen Terminus, der im Unterschied zum französischen verse libre und englischen free verse dem deutschen „freien Rhythmus“ folgt.287 Diesen hat Wolfgang Kayser con brio den „fast […] einzige[n] Beitrag“ genannt, „den die deutsche Lyrik zum Formenschatz der Weltliteratur geliefert hat.“288 Dobbs-Allsopp sieht dies weniger eng. Ihm schwebt eine weltweite Sicht vor, in der die europäische Poetik in ihrer Bindung an griechische und lateinische Metren nur einen Sonderweg darstellt, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts, als Lowth die sacra poesis schrieb, dadurch ans Ende gelangt, dass mit der Entdeckung freier Rhythmen nur wiederentdeckt wird, was außerhalb Europas schon lange als Poesie galt.289 Dass Lowth noch 1753 an der metrischen Formpflicht für biblische Dichtung festhielt, muss umso mehr als Unfall der Geschichte (almost entirely an accident of history) aufgefasst 284 Dobbs-Allsopp,
ebd. 15, 97, 183. ebd. 29 (Zitat M. P.O’Connor). 286 Jousse, Le style oral 1925. 287 Dobbs-Allsopp, ebd. 120 f. 288 Kayser, Geschichte des deutschen Verses 1960, 53. 289 Dobbs-Allsopp, ebd. 115. 285 Dobbs-Allsopp,
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werden, als wenig später im Deutschen Friedrich Gottlieb Klopstock und im Englischen James Macpherson beginnen, Verse in freien Rhythmen zu bilden, dieser vorgeblich in Übersetzung des Ossian, jener in Berufung auf die Psalmen der Lutherbibel. Nun gewinnt eine Poetik Aktualität, die antiker ist als die antike. Sie setzt die europäische so in Klammern, dass diese zur überschaubaren Epoche wird. Rhythmus, nicht Metrum lautet die Zauberformel; an der Schwelle um 1750 wird die Poesie der Psalmen, nachdem deren fast gänzliche Absenz als Geschichtsunfall erkannt ist, ungezwungen in fast gänzliche Präsenz überführt.
Linie, nicht Parallelismus Die Form des Nichtmetrischen (nonmetrical),290 direkte Opposition zur Annahme von Metrizität, setzt sich fort im Nichtparallelistischen (nonparallelistic)291 als direkter Opposition zur Annahme des Parallelismus als Prinzip hebräischer Poesie. Allerdings ist der Gegensatz hier weicher als bei der Abweisung des Metrums. Diese gilt schlechthin, dagegen die Abweisung des Parallelismus gilt, schon in Anerkenntnis des Umstands, dass weitaus das Meiste der hebräischen Dichtung in Parallelismen verfasst ist, nur soweit, wie dieser beansprucht, alleinige Erklärung zu sein. Man muss tiefer bohren, muss hinter den Parallelismus zurück, um zur Basiseinheit zu gelangen, die die hebräische Dichtung als Dichtung identifiziert. Nur wenn der Parallelismus nicht wie bei Lowth als Erklärendes, sondern als zu Erklärendes aufritt, besteht Hoffnung, der Vielfalt der Möglichkeiten gerecht zu werden. Hebräische Dichtung besteht nicht nur, wiewohl überwiegend, aus Distichen,292 sondern auch aus Tristichen und mehr;293 ferner besteht sie, wenn auch in geringerem Maß, aus Monostichen, isolierten Zeilen also.294 Hinzu kommen in beachtlicher Zahl Enjambements,295 die der Form des Parallelismus entgegenstehen wie eine syntaktische Einheit in zwei Zeilen zweien in zwei. Die Frage nach der elementarsten Einheit der hebräischen Dichtung, die über Lowths Parallelismus hinaustreibt, spitzt sich zu auf die Linie (line). Die Annahme: Linien machen Dichtung (lines make poetry)296 ist nicht falsch, aber auch nicht richtig; ihr fehlt die Zusammenstellung von Linien. Soviel ist richtig: Die Linie macht, dass unsere Erfahrung von Dichtung als Dichtung zur Unterscheidbarkeit gebracht wird (line is what distinguishes our experience of poetry as poetry).297 Was Linie ist,
290
Dobbs-Allsopp, ebd. 9 f, 96 f. Dobbs-Allsopp, ebd. 56, 79. 292 Dobbs-Allsopp, ebd. 74–79. 293 Dobbs-Allsopp, ebd. 80–84. 294 Dobbs-Allsopp, ebd. 84–89 295 Dobbs-Allsopp, ebd. 46–48, 79 f, 137–139. 296 Dobbs-Allsopp, ebd. 92 (Zitat J. Longenbach). 297 Dobbs-Allsopp, ebd. 18 (Zitat J. Longenbach). 291
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darf nicht durch Beobachtung von außen bestimmt werden,298 sondern bedarf innerer Evidenz.299 Dobbs-Allsopp will zeigen: Nicht Linien, erst die Linie ist das basale Element hebräischer Dichtung, und dies selbst dann, wenn die einzelne Linie meist in Verbindung mit Linien begegnet und das ganze Gedicht mehr ist als die Summe seiner Linien.300 Die Vielfalt der Formen: Parallelismus, Enjambement, Distichen, Tristichen usw. kann nur erklärt werden, wenn sich die Einzellinie aus innerer Evidenz bestimmen lässt. Ist aber die Linie das Kriterium der Poesie, dann geht das vermeintliche Kontinuum von Prosa und Poesie, von dem wir ausgingen, in nichts auf.301 Hier stellen sich schwere Fragen. Bedarf es einer Linie oder mindestens zweier, um Dichtung als Dichtung zu identifizieren? Herrscht zwischen Prosa und Poesie ein Kontinuum unendlicher Approximation, oder ereignet sich ein Sprung, wenn Poesie in Prosa einfällt? Und wie verhalten sich beide Fragen zueinander? Bedingt die Entscheidung der einen die Entscheidung der andern oder ist jede unabhängig von der andern zu beantworten? Lyrik, nicht Epik und Dramatik Die kritische Attitüde gegen Lowth flacht beim Thema Lyrik weiter ab, wandelt sich gar in Bekräftigung und Zustimmung. Nicht nur bleibt der Parallelismus im Lyrik-Kapitel unangetastet, auch die Abweisung von Epik und Dramatik, die nun stattfindet, setzt nur fort, was Lowth bereits ins Werk gesetzt hat. Trotz Exposition aller drei Dichtungsarten gleich zu Beginn,302 entfällt in der weiteren Darstellung die epische Dichtung und am Ende die herkömmliche Erklärung des Hohen Liedes und Hiobs aus dem Drama,303 und Lowth beschränkt sich auf nichtnarrative, nichtmimetische Dichtungsarten wie Elegie, Ode und Hymnus.304 Allerdings steht ihm der emphatische Sammelbegriff Lyrik noch nicht zur Verfügung; erst die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bringt die Substantivierung des Lyrischen und den Aufstieg der Lyrik zum Namen der dritten, nach Rang und Wesen aber ersten Dichtungsart.305 Doch Lowth schafft die Grundlage, die es der Epoche von Wilhelm M. L. de Wette 1811 bis Hermann 298
Dobbs-Allsopp, ebd. 57–67. Dobbs-Allsopp, ebd. 67–94. 300 Dobbs-Allsopp, ebd. 92, 327. 301 Dobbs-Allsopp, ebd. 91 f. 302 Lowth, ebd., Prael. I, 5–8/8–14; cf. XXX, 290/593. 303 Lowth, ebd., Prael. XXX und XXXIII: Canticum Salomonis/Poema Jobi non esse justum drama. 304 Lowth, ebd., Prael. XXII–XXIII Elegie; XXV–XXVIII Ode; XXIX Hymnus. 305 Lowth gebraucht ‚lyricus‘ z. B. ebd., Prael. XXV, 248/504; XXVI, 255/522; XXIX, 281/580. Gregorys englische Übersetzung setzt darüber hinaus ‚lyric‘ auch selbständig; wo Lowth von der Ode sagt, „vim habe[.]t hoc genus Poeseos“ (Prael. I, 9/15), spricht der englische Text von „the amazing power of Lyric poetry“ (41839, 10). 299
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Cohen 1914 gestattet, zum Jahrhundert der Lyrik der Psalmen zu avancieren.306 Allerdings liegt Dobbs-Allsopp nichts daran, den im Umkreis des deutschen Idealismus und der Romantik gepflegten Lyrikbegriff zu erneuern. „There are no such things.“307 Auch hier strebt Lyrik über ihre Definition in der westlichen Poetik hinaus zu einem umfassenderen, mehr als westlichen, weltweiten, zugleich die klassische Antike sowohl umschließenden wie in Klammern setzenden Sinn.308 Der Sachverhalt verdient Erstaunen. Zuerst negativ: Biblische Dichtung ist im Kern weder narrativ noch imitativ. Sie ist nichtnarrativ (nonnarrative),309 dann auch nichtepisch. Angenommen, es gäbe ein Poesie-Prosa- Kontinuum, dann besetzten Narration und Lyrik die äußersten Pole, diese ganz biblische Poesie, jene ganz biblische Prosa. Des Weiteren muss biblische Dichtung als in der Regel nichtdramatisch (nonmimetic, nondramatic)310 betrachtet werden. Hierzu gehört der auffallende Mangel an Geschichte (lack of story) wie der auffällige Mangel an Rollen (lack of character).311 Sodann erstaunt affirmativ: Von der Erzählung setzt sich die Lyrik ab, denn sie erzählt nicht von einem Ereignis, sondern ist es. Und von der Aufführung setzt sich die Lyrik ab; sie begibt sich nicht nur in eine Rolle, sondern ist sie. Somit ist die Lyrik bei Dobbs-Allsopp auf dem besten Wege, zu dem zu werden, was sie Küpper so verdächtig machte (§ 6.2.b). Weder primär befasst mit dem Gegenstand der Rede, von dem die Kunst der Erzählung berichtet, noch primär mit dem Gegenstand der Rede, von dem die Kunst der Erzählung handelt, beansprucht Lyrik die Sprache selbst (language itself, word itself )312 als einzige Ressource des Sprechens. Schaffen mit und aus Sprache selbst – ποίησις oder ַמ ֲע ַשׂיPsalm 45,2313 – ist Fokus der Sprachkunst.314 Leider nur spärlich lässt Dobbs-Allsopp Einsicht in die spekulative Macht der Lyrik durchblitzen, die ihm über den Lamentationes Ieremiae zugefallen war und seitdem seine poetologische Aufmerksamkeit begründete.315 Statt der Lyrik selbst wendet er sich lieber deren Erscheinungsformen zu, die greifbarer sind: Lyrisch sei besser gesagt melisch.316 Nur zeigt sich bald, dass gesungene Lyrik, so original sie sein mag, sich aus dem literalen rasch in den metaphorischen Sinn zurückzieht; sie wird zu Gesang ohne Gesang. Wenn aber der Gesang nicht mehr an die reale Performation gebunden, sondern zu einer 306 Vf., Was
ist Psalmenpoesie? 2014. ebd. 179. 308 Dobbs-Allsopp, ebd. 179, 228–232. 309 Dobbs-Allsopp, ebd. 185. 310 Dobbs-Allsopp, ebd. 179, 185. 311 Dobbs-Allsopp, ebd. 214. 312 S. Anm. 340, 341. 313 Dobbs-Allsopp, ebd. 59, 326. 314 Dobbs-Allsopp, ebd. 191. 315 Dobbs-Allsopp, Lamentations 2002, 12–14; 21, 36, 45: „language itself“. Vf., Die Hadesfahrt des Logos 2018, 162–165. 316 Dobbs-Allsopp, ebd. 179. 307 Dobbs-Allsopp,
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Metapher der Sprache und des Wortes geworden ist,317 führt die Erscheinungsform des Lyrischen auf schnellstem Wege wieder zurück zur Sprache und zum Wort selbst, und plötzlich wird sichtbar, dass sich in den greifbaren Erscheinungen etwas Ungreifbares meldet, eben die Lyrik selbst, die Dobbs-Allsopp nur berührt, nicht entfaltet.
Oralität, nicht Textualität und Literarität Ohne Zweifel ist unter den Kennzeichen von Poesie Lyrik das Merkmal, das aus dem allgemeineren Bereich von sacra poesis Hebraeorum bzw. biblical poetry am direktesten zum Psalter hinführt, poetisch (§ 8.4.b) wie theologisch (§ 8.4.c). Wie Lyrik zunächst das zum Lyraspiel gesungene Wort meint, dann aber das poetische ohne Lyra und Gesang, so könnte mit Blick auf den Psalter der Neologismus Psaltik durchaus an die Stelle von Lyrik treten, um das Allgemeine der Poesie mit dem Besonderen der Psalmen zu verbinden: Psaltik als auf Psalmen bezogene Lyrik. Und wie Lyrik, um an Johann Gottfried Herders Gedichtsammlung Die Lyra anzuschließen, eine Dichtart ist, die wohl ursprünglich Gesang unter Begleitung eines Saiteninstruments meinte, jetzt aber „ohne wirklichen Gesang“ stattfindet, „ohne Lyra“, „ohne Lyra und Cither“,318 so könnte Psaltik, um an den gebräuchlichen Namen Der Psalter anzuknüpfen, sehr wohl den Spagat zwischen Liedern, zu Psalter und Kithara gesungen, und Psalmtexten ohne Gesang und Instrument umgreifen. Gestattet man diesen Spagat, trifft das Merkmal lyrisch genau dann zu, wenn es nicht zutrifft. Und wie in der Lyrik, so in der Psaltik. Lyrik und Psaltik sind Präsenzbegriffe, die bereits durch ihren Wohlklang eine überwältigende Erinnerung an die ursprüngliche Oralität des zu Lyra oder Psalter gesungenen Wortes erwecken. Unter Bedingungen der Moderne sind sie faktisch Absenzbegriffe, die das Ausbleiben des Erinnerten bezeichnen. Auf diese Herausforderung hat Lowth angemessen reagiert, indem er die verbliebenen Überreste biblischer Dichtung in ihrer nackten Textualität und Literarität betrachtete. Wenn dagegen Dobbs-Allsopp sich nach einer Lowth unbekannten, aber seit der Romantik anhaltenden und in der Postmoderne zum Standard gewordenen Oralität/Literalitäts-Debatte anschickt, den zum Buchstaben abgemagerten, ausgezehrten Parallelismus (emaciated parallelism)319 mit Fleisch und Blut zu bekleiden, ihm zur Begleitung leibhaftes Kopfnicken, Fingerzeigen, Fußtappen beizugeben und auf ursprüngliche, alle individuellen und sozialen Schichten des Lebens durchgestaltende Oralität zu dringen, nicht auf Textualität und Literarität, dann ist der dadurch entstehende Anblick lyrischer Lieder und Psalmen gewiss hochwillkommen. Nur tritt im selben Moment auch eine In317
Dobbs-Allsopp, ebd. 184, 227. Herder, Die Lyra 1795, WW 8, 117,12.14; 121,11; 123,33. 319 Dobbs-Allsopp, ebd. 271. 318
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differenz zutage, die den Status der gewonnenen Einsichten über die Oralität von vornherein prägt. Während die gegen Lowth gerichtete Parole Oralität, nicht Textualität und Literarität die Unmittelbarkeit, Dichtigkeit, Stimmhaftigkeit, Leiblichkeit, Geselligkeit, Ritualität der vollen Kommunikation in Präsenz wiederherzustellen sucht und die Schriftlichkeit in den Status der Epiphänomenalität (epiphenomenality) verweist,320 kann nicht verborgen bleiben, dass, soweit die historischen Kenntnisse reichen, die Entdeckung primärer Oralität sich der Textualität und Literarität verdankt. Der einzigmögliche Zugang zur Oralität besteht durch Texte, in denen die verschiedenen Formen von Literarität niedergelegt sind.321 So wird unvermeidlich das Zweite zum Ersten und umgekehrt, Unentscheidbarkeit tritt ein, und über diese Endlosschleife gelangt die Reflexion nicht hinaus. Dadurch erklärt es sich, dass mit Dobbs-Allsopps viertem und letztem Punkt die Kritik an Lowth sowohl auf die Spitze gelangt, als auch in sich zusammenfällt. Mit Oralität lassen sich keine Erkenntnisse gewinnen, die nicht durch Literarität bedingt sind. Es ist nur angemessen, wenn Dobbs-Allsopp Lowths Klage über den im jetzigen Status der hebräischen Poesie zutage tretenden Verlust ursprünglicher Mündlichkeit zurückweist. Nichts ist verloren. Absenz ist die einzigmögliche Weise von Präsenz. Zugleich fällt ein Licht auf die Diastase, die mit der Lesetheologie von Anfang an einherging. Sie hielt uns einseitig auf der Seite des Schriftlichen und hieß uns ebenso einseitig Gesichtspunkte des Mündlichen beiseite zu stellen. Die biblische Poesie und besonders die der Psalmen baut eine Brücke von der einen zur anderen Seite, indem sie sowohl die vorherrschende Situation der Absenz bis zum letzten ausgezehrten Gebein der alphabetischen Akrosticha vertieft, wie die Präsenz des vollen Psalters bis zum äußersten preist. Stets bleibt Absenz der einzigmögliche Zugang zur Präsenz, an der nichts verloren ist. c. Die Theologie des Psalters Gibt es einen Grund, der veranlassen könnte, über Poesie hinaus eigens die Theologie des Psalters in Betracht zu ziehen? Ja, antwortet Lowth, als öffentlicher Prälektor im Fach Poetik Angehöriger der philosophischen Fakultät, unter gebührendem Respekt vor der starken Institution der theologischen: Es gibt Theologie.322 Dobbs-Allsopp seinerseits, Glied einer theologischen Fakultät, also institutionell schwach, antwortet: Nein, soweit biblische Poetik reicht, gibt es keine Theologie; es sind immer andere, die von Theologie reden.323 Die Antworten, entgegengesetzt wie Ja und Nein, sind wohl nicht ganz 320 Dobbs-Allsopp,
ebd. 37, 42, 92 (Zitat T. V. F. Brogan). Dobbs-Allsopp, ebd. 235. 322 Lowth, Prael. II, 24/38. 323 Dobbs-Allsopp, ebd. 201: „theology“ als Hapaxlegomenon und als Zitat. 321
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zum Nennwert zu nehmen. Lowth macht wahrscheinlich, und seine eminente Wirkung quer durch Europa beruht darauf: In der Mitte des 18. Jahrhunderts ist der Niedergang der Theologie in ihrer altprotestantischen Verfassung so offenkundig, dass nicht zu befürchten steht, er werde durch die Verschiebung des Interesses von Theologie auf Poesie beschleunigt. Sie hält ihn eher auf. Lowths Frage lautet im Grunde: Wäre, was über Poesie hinaus als Theologie des Psalters gewonnen wird, überhaupt Theologie? Und er antwortet: Ohne sacra poesia wüsste man von Theologie nichts.324 Ist also Theologie des Psalters bloß der Double der Poesie des Psalters? Darauf reagiert Dobbs-Allsopp, der zwar in direkter Fortführung von Lowth vollends keine Theologie kennt ohne Poesie, sich dann aber, im Gegensatz zu Lowth, der Rede von Theologie konsequent entschlägt. Pluralitas non est ponenda sine necessitate. Allerdings wird dadurch nicht aus der Welt geschafft, dass sich biblische Poesie, besonderes die Psalmen, an einen Namen richtet – jhwh –, der unverbunden, erratisch und fremd im Text steht. Sein Rätsel wird durch die zumal in den Psalmen extrem häufige Wiederholung eher gesteigert als gelöst.325 Und dennoch, sei es in Lob und Hymnus,326 Klage und Lamentation:327 dieser Name ist der Adressat, an den sich die Psalmen wenden.328 Ob poetische Rede eine solche von, zu oder über Gott sei, ist eine Frage, die reichlich spät kommt. Wie im Mündlichen der Bezug auf jhwh nur dann nicht unverbunden bleibt, wenn er dem Sprechen, Singen, Rufen, Schreien, Flehen, Jubeln samt den seelischen und leiblichen Resonanzen nicht erst als Gegenstand hinzugefügt wird, sondern ihrer Selbstbezogenheit, das heißt ihrem sprechenden Sprechen bereits innewohnt, so bleibt auch im Schriftlichen der vierbuchstabige Name nur dann kein erratischer Fremdkörper, wenn er nicht als Gegenstand zum Schreiben hinzukommt, sondern diesem in seiner Selbstbezogenheit, das heißt dem schreibenden Schreiben, den Schrifttechniken wie Linearität,329 Anapher,330 Akrostichon331 bereits inhäriert. Ohne dass im Mündlichen sich Sprache auf Sprache und im Schriftlichen sich Schrift auf Schrift bezieht, bleibt jhwh sowohl gesprochen wie geschrieben erratisch. Und wenn, wie in Psalm 29, die Verknüpfung von Mündlichem und Schriftlichem, Sprache und Schrift sogar reflektiert wird, dann dürfte ein paradigmatisches Nonplusultra erreicht sein, an dem sich zeigen lässt, wie der erratische Name in Text und Rede gelangt332 – und Theologie entsteht. 324
Fritz, Von der heiligen Poesie 2011, 105–111. ebd. 281. 326 Dobbs-Allsopp, ebd. 187, 211. 327 Dobbs-Allsopp, ebd. 206 f, 213. 328 Dobbs-Allsopp, ebd. 196 f. 329 Ps 19,8–10. 330 Ps 146,7c–9a. 331 Ps 40,15–18; 70,3–5; 72. 332 Dobbs-Allsopp, ebd. 156 f. 325 Dobbs-Allsopp,
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Um derartigen Fragen näherzutreten, kapriziert sich Dobbs-Allsopps durchaus nicht auf den archaischen Psalm 29, sondern wendet sich dem leichtfüßigen, keiner Theologie verdächtigen Psalm 133 zu. Soll man, um über Poesie hinaus partout Theologie darin zu finden, so verfahren wie Klaus Seybold? Dieser sammelt zuerst weisheitliche Elemente: das brüderliche Zusammenleben, das Salböl und den Tau, alles Stücke von erstaunlichster Poesie, um ihnen sodann durch „redaktionelle Bearbeitung“ Theologie aufzuerlegen, die sich dem Kult verdankt: so im „brüske[n] Übergang“ vom salbtriefenden Bart zum Hohepriester Aaron, so in der „abrupt[en]“ Benennung des Berges als Zion, so im aaronitischen Segen, der zum guten Schluss rite von dort her gespendet wird, worauf vollends der Name fällig ist: jhwh.333 Hierzu bemerkt Dobbs-Allsopp in nichttheologisch-poetologischer Absicht: Wie sich überhaupt die literale Absenz von jhwh stärker erweisen dürfte als die literale Präsenz,334 so wäre wohl das Ausbleiben von Theologie die stärkere Theologie gewesen. Sein Grundsatz lautet: Zur Theologie bedarf es keiner Theologie. Es bedarf nur – immer Dobbs-Allsopp folgend – der Lesekunst (art of reading) und sonst gar nichts. Lesekunst unter Verzicht auf Theologie ist die theologischere Theologie. Sie hält sich in den Grenzen von Poesie. Gründlich-abgründiges Lesen (close reading) wird gewahr, dass sich der Weg der Poesie (the way of poetry) in mindestens zwei Wege (two principal ways) gabelt,335 wovon der zweite sich alsbald in eine Vielzahl von Wegen (other ways) weiterverzweigt, in Laut‑ und Wortklänge, Wiederholungen, Verschiebungen, insgesamt nichts als Variationen des zweiten Weges.336 Der Beginn des Lesens geschieht mit dem ersten Weg, der zur Aufgabe hat, das, wovon die Rede ist, so nahe wie möglich an die Welt heranzuführen, von der die Rede ist. Bei älteren Gedichten wie Psalm 133 ist der Weg zur Welt sogar notorisch lang, bedarf detaillierten Wissens, das durch detailreicheres verbessert werden kann. Auf diesem Weg wird der Text nach außen gewendet, weist auf die Welt außerhalb seiner (extratextual),337 sein Sinn ist äußerlich (extrinsic).338 Der zweite Weg beginnt mit der Wendung des Texts auf sich selbst, das heißt nach innen (intrinsic). Nun geht es nicht nur um Dichtung, sondern um Dichtung als Dichtung (poetry as poetry, poetry per se).339 Gesucht ist nicht Sprache und Wort, sondern Sprache selbst (language itself)340 und Wort selbst (word itself).341 Nun wird in den Worten nicht nur das Gesagte, sondern das Ungesagte, und in den Texten nicht nur der beschriebene, sondern der unbeschriebene Raum wahr Seybold, Die Psalmen 1996, zu Ps 133. ebd. 188 f. 335 Dobbs-Allsopp, ebd. 326. 336 Dobbs-Allsopp, ebd. 327, 345. 337 Dobbs-Allsopp, ebd. 327, 349. 338 Dobbs-Allsopp, ebd. 327. 339 Dobbs-Allsopp, ebd. 28 f (Zitat J. Longenbach), 326 (Zitat E. L. Greenstein). 340 Dobbs-Allsopp, ebd. 151, 189, 215; cf. 191. 341 Dobbs-Allsopp, ebd. 325, 344, 348. 333
334 Dobbs-Allsopp,
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genommen.342 Ist der erste Weg buchstäblich (literal) und weltbezogen (mundane), so der zweite metonymisch oder metaphorisch, in jedem Fall aber so, dass die Worte über sich selbst hinaus (beyond words and beyond the sense of words)343 sich auf sich selbst beziehen. Beide Wege liegen im Verfolg von Lesekunst. Fragt man, in welcher Weise die vier lowthkritischen Argumente, von deren Entfaltung Dobbs-Allsopp herkommt, dessen Lesart von Psalm 133 lenken, dann zeigt sich: Das vierte Argument Oralität, nicht Textualität und Literarität kommt nur soweit zum Zuge, als es die höhere Literatur abweist und die Schicht aufsucht, in der sich alle drei gegenseitig nahezu vollständig überlappen.344 Vom dritten Argument Lyrik, nicht Epik und Dramatik wird ebenso wie vom zweiten Rhythmus, nicht Metrum kein argumentativer Gebrauch gemacht. Und das erste, Linie, nicht Parallelismus, vor dessen abstrakter und hypostasierter Anwendung bereits einleitend gewarnt wurde,345 spielt schon deshalb keine Rolle, weil die poetische Lesung von Psalm 133 erst an Schwung gewinnt, wenn zwei oder mehr Linien vorliegen. Sind also die vier Merkmale biblischer Poesie eher stillschweigend vorausgesetzt, dann tritt ein fünftes, bisher ungenanntes Argument desto stärker hervor. Auf die Frage, was Psalm 133 zur Poesie macht, genügt es nicht, vier Merkmale zu nennen; das ist nur der erste Weg (first way). Aber die Lesekunst kennt prinzipiell zwei Wege, und der Überschritt vom einen zum andern – das fünfte Merkmal – ist ihr Knackpunkt. Ohne konsistente Lesekunst keine Poesie, aber mit ihr nur so, dass eine Poesie wie Psalm 133 erst Poesie wird, wenn sie zu Poesie als Poesie wird. Dann springt im Vorgang des Lesens das erste, die Arbeit langsamen Lesens, das nie weltbezogen genug sein kann, plötzlich ins zweite um, von dem Dobbs-Allsopp sich nicht scheut, es Feier des Lesens (celebration of reading) zu nennen.346 Die Armut des ersten Weges, Armut deshalb, weil, soviel vom Gedicht gewusst wird, nie genug gewusst wird von seiner tatsächlichen Weltbezogenheit, schlägt auf dem zweiten Weg (second ‚way‘) um in schwelgerisches Luxurieren,347 das einsetzt, sobald das Wort sich statt auf Welt auf sich selbst bezieht. Das Wort selbst, Wort als Wort, ist das Herz der Sache (the heart of the matter),348 die Wortfeier das Herz des Lesens (the heart of […] reading).349 Wie Dichtung nur zum Zuge kommt, wenn sie zur Dichtung als Dichtung (poetry as poetry) wird, so Lesen erst, wenn es zum Lesen als Lesen (reading […] as a reading) wird.350 So auch beim vorliegenden Psalm. In zwei Gleichnissen spricht er vom Überschwang 342
Dobbs-Allsopp, ebd. 327. ebd. 341 f (Zitat R. P. Blackmur). 344 Dobbs-Allsopp, ebd. 327, 349, cf. 5. 345 Dobbs-Allsopp, ebd. 12. 346 Dobbs-Allsopp, ebd. 12, cf. 327, 349. 347 Dobbs-Allsopp, ebd. 13, 349. 348 Dobbs-Allsopp, ebd. 348. 349 Dobbs-Allsopp, ebd. 12. 350 Dobbs-Allsopp, ebd. 327. 343 Dobbs-Allsopp,
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des Öls und des Taus (V. 2–3a) und rahmt dieses sein Korpus ein mit einem hyperbolischen Eingangsdistichon (V. 1b) und einem überhängenden Schlusstristichon (V. 3b). Nachdem auf diese Weise der Leser den ersten Weg bis zum Ende des Psalms gegangen ist, wird er von dort auf dem zweiten Weg durch eine Anzahl repetitiver Laut-, Wort‑ und Phrasenketten, die sich teils waagrecht, teils noch mehr senkrecht und im Übermaß durch die Zeilen schlingen,351 wieder bis zum Anfang zurückgeschickt, sodass vom Segen, auf den das Gedicht hinausläuft, nicht nur kommt, was von ihm in vorwärtsgerichteter Intention gesagt wird, sondern wie er sich buchstäblich in Lauten, Worten und Phrasen rückwärts durch die Zeilen ergießt, als wolle er sich spenden. Wollte man in Anlehnung an die jüdische Mystik den göttlichen Namen ( יהוהV. 3b), der schon in Gefahr stand, als bloß theologische Bearbeitung „vergeblich geführt“ zu werden, als Komplexion aller Klänge und omnitudo vocalitatis verstehen, dann dämmert, weshalb er in einem Gedicht nicht nicht emergieren kann, das vom Überschwang nicht nur durch Worte spricht, sondern in dessen Worten er als Klang überschwänglich fließt.352 Glück einer Erkenntnis, ַא ְשׁ ֵרי ָה ִאישׁ. Anders als durch close reading, art of reading, das heißt durch Lesen als Lesen, wie für Dichtung als Dichtung angemessen, dürfte Theologie unerschwinglich sein.
Rekapitulation Im Übergang zur Theologie bündeln sich alle Fäden. Wir wollen sie wieder aufnehmen. – Zuerst und grundsätzlich: Besteht Lesekunst (art of reading) hauptsächlich aus zwei Wegen, besteht sie aus Lesen und Lesen. Die alles beherrschende erste Rekapitulation ruft Lesen und Lesen erneut auf. Wenn überhaupt, dann führt Lesekunst zu Theologie. Das bedeutet einerseits, dass Theologie ohne und außerhalb von Lesekunst ihres Namens nicht wert ist, und andererseits, dass Lesekunst ohne Theologie es an der nötigen Konsequenz fehlen lässt. Führt Lesekunst unausbleiblich zu Theologie, dann wird es Zeit, Dobbs-Allsopps vier Anstrengungen in Sachen biblischer Poesie zur Barauszahlung (cashing out)353 zu veranlassen. In seinen vier Punkten: Linie, Rhythmus, Lyrik, Oraler Stil muss Theologie aufgehen.354 – Im einzelnen: Was den oralen Stil anlangt, ist festzuhalten, dass Theologie schon vi vocis einen solchen verlangt. Von Anfang an droht der Lesetheologie Ungemach; wie soll ausgerechnet das text‑ und literaturgebundene Lesen auf ein durch und durch orales Ereignis hinführen? Oder bringt es Lesen nur zur Theographie? Die unterschlagene, ja unterdrückte Seite der Oralität mahnt daran, dass – nach351
Dobbs-Allsopp, ebd. 344 f u. pass. Die Differenz von ‚durch‘ und ‚in‘, die auf Benjamins frühen Sprachaufsatz zurückgeht, erscheint bei Dopps-Allsopp, ebd. 327, 341, 349 in der Variation einer Differenz von ‚in the words‘ und ‚because/between the words‘ (Zitat R. P. Blackmur), die ich nicht berücksichtige. 353 Dobbs-Allsopp, ebd. 326. 354 Dobbs-Allsopp erwähnt die Beziehung explizit nur bei den ersten zwei: ebd. 94, 176. 352
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dem mit Buchstabe, Schrift, Text, Literatur, Buch, Heilige Schrift die Regionen der Absenz hinlänglich durchschritten wurden – Präsenz, Stimmlichkeit, Sprachlichkeit, Leiblichkeit, Liturgie, Leben erneut zu thematisieren sind.355 Der orale Stil fungiert als Platzhalter der Theologie, nicht als erinnerte, sondern als zu erwartende. Was die Lyrik anlangt, hat Joachim Küpper ihr mit eindrucksvoller Argumentation die Gefahr der Transgression zu Ritual und Liturgie, Magie und Suggestion vorgehalten, und genauso wird man den Übergang zur Theologie zu denken haben; Übergang ist Transgression. Dabei dürfte man es belassen, wenn nicht die Lyrik ihren Platz in der Literatur weiterhin reklamierte. Indem Dobbs-Allsopp biblische und psalmische Lyrik von Epos und Drama scharf scheidet, zugleich aber der Literatur (und der Musik), jedoch nicht der Theologie zuordnet, fördert er deren theologisches Profil. Lyrik wird zum Platzhalter der Theologie. Was den Rhythmus anlangt, so ist seit Klopstock, worauf Max Kommerell hingewiesen hat,356 der freie Rhythmus besonders dazu angetan, auf Theologie zu verweisen. Der Einbruch des Unermesslichen wird wahrgenommen als Befreiung vom metrischen Maß. Nicht mehr steht der Satz unter dem metrischen Versrhythmus, sondern der Satzrhythmus lenkt den Vers. Rhythmus anstelle von Metrum wird als „rhythmischer Fortriß“ erfahren.357 So avanciert der freie Rhythmus zum Platzhalter der Theologie. Was endlich die Linie anlangt, die Dobbs-Allsopp gegen das Poesie-Prosa-Kontinuum ins Feld führt, und von der Aristoteles klarmacht, dass sie weder der prosaischen noch der poetischen Unendlichkeit anheimfallen darf und deshalb in eben diesem Kontinuum steht, so ist deutlich, dass hier genau der systematische Ort der Theologie liegt. Vielleicht sollte man von vornherein nicht die Linie von Parallelismus und Enjambement trennen, wenn aber, dann ist sie einzuzeichnen in die Theorie der Zweiachsigkeit von Schrift und Sprache. Indem aber die beiden Achsen ausgespannt sind zwischen zwei Unendlichkeiten, sind sie bereits Platzhalter der Theologie in Schrift und in Sprache. Nachdem wir endlich rekapitulieren, dass diese Gesichtspunkte nur auftauchen, weil wir uns mit biblischer und insbesondere psalmischer Poetik beschäftigen, wenden wir uns Psalm 29 zu,358 in dem sich alle Fäden bündeln. Achse und Parallelismus Psalm 29, wie er in Schriftform vorliegt, ist ein lineares Gebilde von zunächst waagrechter Ausrichtung. Soweit erscheint die Schrift einfach, und sie läuft im Fall des Hebräischen von rechts nach links. Wir können den unpunktierten 355 Platon,
Phaidr. 275a: μνήμη, nicht ὑπόμνησις. Kommerell, Die Dichtung in freien Rhythmen 1943. 357 Frey, Verszerfall, 33–35; 42–46. 358 Vf., Was ist Psalmenpoesie? 2014. 356
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Buchstabenbestand am PC unbeschadet seiner Menge so fassen, dass er ein vorgegebenes Format vollständig ausfüllt; wir können zudem die Spatien zwischen den Wörtern und den syntaktischen Einheiten aufheben. Nichts geht verloren. Es entsteht eine waagrechte Achse in scriptio continua und Blocksatz, gebrochen nur durch das Format des Textspiegels. מזמורלדודהבוליהוהבניאלימהבוליהוהכבודועזהבוליהוהכבודשמוהשתחווליהוהבהדרתקדש קוליהוהעלהמימאלהכבודהרעימיהוהעלמימרבימקוליהוהבכחקוליהוהבהדרקוליהוהשברארז ימוישבריהוהאתארזיהלבנונוירקידמכמועגללבנונושרינכמובנראמימקוליהוהחצבלהבותאשק וליהוהיחילמדבריחיליהוהמדברקדשקוליהוהיחוללאילותויחשפיערותובהיכלוכלואמרכבודיה והלמבולישבוישביהוהמלכלעולמיהוהעזלעמויתניהוהיברכאתעמובשלום
Fig. 1
Diese Formatierung entspricht zwar keiner Handschrift des masoretischen Texts, doch ist deutlich, dass sie es darauf anlegt, deren Gewohnheit, Psalmen unpoetisch zu schreiben, ins Extrem zu treiben. Das ist Prosa, die, indem sie einfach läuft, sich ins Unendliche verläuft. Sie folgt dem Prinzip der Einachsigkeit, und dass der Textbestand faktisch in einer Folge von Zeilen dargeboten wird, ist nur der Einrichtung der Seite geschuldet. Niemand wird bestrebt sein, den Psalm nach Fig. 1 zu überliefern. Nichts Ungünstigeres kann dem Leser widerfahren, als wenn der Text läuft und läuft. Wir erinnern uns: Dagegen hat die Schrift an sich schon Vorsorge getroffen, indem sie nach etwa 25 Buchstaben wieder von vorne beginnt. Also bildet sie, selbst wenn sie waagrecht dahinläuft, schon aufgrund der Verknappung des Zeichenvorrats Rekurse und Wiederholungen. Ohne Gegenläufigkeit, präziser: Gegenwendigkeit, muss sich der Text im Unendlichen (ἄπειρον) verlieren, wie Aristoteles befürchtet hat.359 Das Prosaisch-Unendliche ist unerkennbar, unangenehm, lustlos; es führt in eine Müdigkeit, die alle unterscheidbaren Grade von Ermüdung übertrifft. Zum Glück können wir in Aufnahme von Darbietungsformen ältester masoretischer Codices, Codex Aleppensis und Codex Leningradensis, eine Formatierung des Psalmtexts dagegensetzen, die dem Fortlaufen der Zeilen Einhalt gebietet. Sie ordnet jeden einzelnen Vers einer einzelnen Zeile zu und schreibt die parallelen Vershälften teils rechts-, teils linksbündig, das Ganze in Blocksatz (Fig. 2). Nun wird der Text nicht mehr durch externe, sondern interne Gründe geformt und gefügt. Nicht nur wird er Zeile für Zeile, Vers für Vers gestoppt und Anfang und Ende sind dem Zufall entrissen, als Ganzes auf Linie gebracht und ausgesteift, sondern es zieht ein Zwischenraum von Ungeschriebenem unregelmäßig durch das Geschriebene hindurch, von oben nach unten, wie eine Schneise, Spalt, Hiat, Blitz oder Fulguration, oder wie immer man das Weiß in Schwarz bezeichnen will. Beides lässt im waagrecht geschriebenen Verlauf 359
Aristoteles, Rhet. III 8, 1408b27 f.
4. Was ist Psalter?
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ִמזְ מוֹר ְל ָדוִ ד ָהבוּ ַליהוָ ה ְבּנֵ י ֵא ִלים ָהבוּ ַליהוָ ה ָכּבוֹד וָ עֹז׃ ָהבוּ ַליהוָ ה ְכּבוֹד ְשׁמוֹ ִה ְשׁ ַתּ ֲחווּ ַליהוָ ה ְבּ ַה ְד ַרת־ק ֶֹדשׁ׃ ל־ה ָמּיִ ם ַ קוֹל יְ הוָ ה ַע ל־מיִ ם ַר ִבּים׃ ַ ל־ה ָכּבוֹד ִה ְר ִעים יְ הוָ ה ַע ַ ֵא קוֹל־יְ הוָ ה ַבּכּ ַֹח קוֹל יְ הוָ ה ֶבּ ָה ָדר׃ קוֹל יְ הוָ ה שׁ ֵֹבר ֲא ָרזִ ים ת־א ְרזֵ י ַה ְלּ ָבנוֹן׃ ַ וַ יְ ַשׁ ֵבּר יְ הוָ ה ֶא מוֹ־עגֶ ל ְל ָבנוֹן ֵ וַ יַּ ְר ִק ֵידם ְכּ ן־ר ֵא ִמים׃ ְ וְ ִשׂ ְר י ֺן ְכּמוֹ ֶב קוֹל־יְ הוָ ה ח ֵֹצב ַל ֲהבוֹת ֵאשׁ׃ קוֹל יְ הוָ ה יָ ִחיל ִמ ְד ָבּר יַ ִחיל יְ הוָ ה ִמ ְד ַבּר ָק ֵדשׁ׃ חוֹלל ַאיָּ לוֹת ֵ ְקוֹל יְ הוָ ה י יכלוֹ ֻכּלּוֹ א ֵֹמר ָכּבוֹד׃ ָ וּב ֵה ְ וַ יֶּ ֱחשׂף יְ ָערוֹת יְ הוָ ה ַל ַמּבּוּל יָ ָשׁב עוֹלם׃ ָ וַ יֵּ ֶשׁב יְ הוָ ה ֶמ ֶל ְל יְ הוָ ה עֹז ְל ַעמּוֹ יִ ֵתּן ת־עמּוֹ ַב ָשּׁלוֹם׃ ַ יְ הוָ ה יְ ָב ֵר ֶא
Fig. 2
einen senkrecht ungeschriebenen zum Vorschein kommen, der nahelegt, er sei es gewesen, der das Gesamtgebilde so und nicht anders gefügt hat. Der Leser, ermattet durch Fig. 1, erfährt dies als Belebung und Glück, sodass noch einmal an Psalm 1 zu erinnern ist, der als Prolog die Pforte zum Lesepensum eröffnet. „O Glück des Mannes“, übersetzt Martin Buber, und wenn es zutrifft, dass der erste Psalm auf der Metaebene von bevorstehendem Leseglück spricht, dann besteht es darin, dass der Zustand „wie Spreu, die ein Wind verweht“ glücklich vermieden wird; der Leser „verliert sich“ nicht, wie Buber das letzte Wort des Psalms wiedergibt. Gewiss: der Parallelismus für sich allein beweist schon Struktur (was von der Linie, dem Halbvers, nur bedingt gesagt werden kann), um wievielmehr die Fügung der Parallelismen: Struktur der Struktur, Gedicht. Wird Schrift, wenn sie nicht nur geradeaus läuft, sondern gebrochen wird, zum Text – Text ist wesentlich Schriftbruch –, und wird der Text, wie Psalm 29 zeigt, nicht nur gebrochen aus externen, sondern aus internen Gründen, durch Verwobenheit, Gewebe, Gewand, Wand oder, mit Franz Rosenzweig, durch Zettel und Einschlag,360 dann springt Lesen erster Ordnung um in ein solches zweiter Ordnung. Oder: der nach außen gewendete, mundane Weg springt um in den nach innen gewandten, poetischen Weg. Waren es in Psalm 133 Phoneme und Morpheme, seltene Lexeme, die sich senkrecht durch den Text zogen, so sind es in Psalm 29 ausschließlich Wörter und Kombinationen von Wörtern, die senkrechte Achsen bilden. Ordnet man die Parallelismen wie Lowth und Buber halbzeilig, kommen untereinander zu stehen: „Bringet dar dem Herrn“ (ליהוה )הבוdreimal, wovon zweimal am Versanfang; „und“ plus Verb ( ו־als Einbuchstabenwort) fünfmal im zweiten Halbvers; die „Stimme des Herrn“ ( )קול־יהוהsiebenmal.361 Außerdem überrascht der Textbestand durch die außergewöhnlich hohe Frequenz des Gottesnamens jhwh, der 18mal senk360 Rosenzweig,
311.
361
Kleinere Schriften 1937, 211; Benjamin, Zum Bilde Prousts 1929, GS II/1,
Mit erweiternden Störungen in V. 3, 5 f, 8 f.
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter
recht geschrieben werden kann.362 Setzt man für יהוהdie Abbreviatur ″י, dann ergibt sich eine senkrechte Achse, die von der ersten bis zur letzten Psalmzeile verläuft, teils als Buchstabe, teils als Laut. ″י ″י ″י ″י ″י ″י ″י ″י ″י ″י ″י ″י ″י ″י ″י ″י ″י ″י Fig. 3
Diese Formatierung macht den archaischen Psalm 29 ebenso singulär wie paradigmatisch, singulär durch die einzigartige Präsenz des Gottesnamens in Schrift und Text, paradigmatisch in Beziehung zu anderen Psalmen und Gedichten, die auf seinem Hintergrund durchsichtig werden. Der viel jüngere, in Text und Kontext unvergleichbare Psalm 133 wird plötzlich vergleichbar. Während der Name sich in Psalm 133 als Fülle des Klangs erweist, die vom Ende her das ganze Gedicht segnet, signiert und zeichnet, ist in Psalm 29 ″י (Jod) die Macht, welche die Psalmzeilen durchgehend auf kanonische Achse bringt und als Laut sie pervasiv durchschallt. Es war wohl im Blick auf Texte wie Psalm 29, in denen sich die Stringenz der senkrechten Achse bis zur Übermacht steigert, dass Aristoteles ausrief: „Das wäre ja ein Gedicht!“ (ποίημα γὰρ ἔσται).363 Der Gefahr der Prosa, dass der Leser dem waagrecht Unendlichen erliegt (Fig. 1), tritt die Gefahr gegenüber, dass er vom senkrecht Unendlichen – der Wiederholung auf der Stelle – fortgerissen wird (Fig. 3). Ist das erste Ermüdung, so das andere Enthusiasmus. Aber Psalm 29 gibt nicht nur Achsen zu erkennen, sondern auch Parallelismen. James L. Kugel, durch Kritik des Parallelismus mit Dobbs-Allsopp verwandt, 362 Bei statistischem Vergleich dürften Psalm 29 als ganzer oder Vorstufen davon Passagen der höchsten Dichte des Gottesnamens im Alten Testament sein; Spieckermann, Heilsgegenwart 1989, 285 f; Seybold, Poetik der Psalmen 2003, 48–51. 363 Aristoteles, Rhet. III 8, 1408b30 f.
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kann ihm gleichwohl als Grundphänomen die Anerkennung nicht versagen. Er räumt ein: In Schrift und Text erscheint ein Kontinuum zwischen der Nullstufe an wahrnehmbarer Korrespondenz und der Beinahe-Nullstufe an wahrnehmbarer Differenz.364 Aber als Nullstufe wahrnehmbarer Korrespondenz darf man selbst Fig. 1 nicht bezeichnen. Wir können uns Kugels Satz nur mit der Korrektur zueigen machen, dass auch auf der Seite der Korrespondenz nur eine Beinahe-Nullstufe vorliegt. Also ist Parallelismus im weitesten Sinn, noch ehe er von einem bestimmten taxonomischen System vereinnahmt wird, die textliche Bandbreite, die von der Bindung des poetischen Pols – nennen wir sie Beinahe-Wiederholung oder Beinahe-Tautologie – bis zur Ungebundenheit des prosaischen Pols reicht, an der beinahe kein Zusammenhang erkennbar ist und fast von Heterologie gesprochen werden muss.365 In dieses Kontinuum zwischen Poesie und Prosa ist Psalm 29 eingelassen, ein‑ und ausgespannt zwischen der beinahe nicht mehr zu erkennenden Korrespondenz der Waagrechten und der beinahe nicht mehr erkennbaren Differenz der Senkrechten. Und wie der 29. Psalm genau darin zu verorten ist, ist – mit Kugels wichtigstem Terminus – eine Sache der „Nuance“.366 Nuance, das ist nichts als Wahrung von Kontinuität unter überwiegenden Bedingungen von Diskontinuität. Oder umgekehrt: Nuance ist das Merkzeichen der Diskontinuität in der Kontinuität. Folglich ist festzuhalten: Parallelismen umfassen alle Nuancen, die zwischen dem Sich-Schneiden im Unendlichen und dem Sich-Verlieren im Unendlichen vorfallen. Aber was ist der Unterschied zwischen Achse und Parallelismus? Fällt etwa die Zweiachsigkeit mit dem Parallelismus zusammen? Keineswegs. Sondern der Parallelismus verhält sich zur Zweiachsigkeit, die unsichtbar ist, als deren Sichtbarmachung, Bloßlegung (обнажение).
Lyrik und Rhythmus Lyrik ist unter den Dichtarten die theologieaffinste. Dass Psalm 29 seit Wilhelm M. L. de Wette unter die lyrischen Gedichte gezählt wird, mag überraschen. Zwar fehlt das lyrische Ich, und dennoch herrschen nicht nichtlyrische Narration, Deskription oder Argumentation, vielmehr Preisung und Rühmung. Der Psalm ist lyrisch, weil er im Ganzen ein Hymnus ist. Lyrisch sind auch die Details. Lyrische Elemente stammen, der Selbstbezogenheit lyrischer Rede entsprechend, aus sprachlichen Ressourcen. Hier ist es das Wort Stimme, das der Veränderung unterliegt, der Personifizierung, wenn man den 364 Kugel, The idea of Biblical poetry 1981, 7: „the ways of parallelism are numerous and varied, and the intensity of the semantic parallelism established between clauses might be said to range from ‚zero perceivable correspondence‘ to ‚near-zero perceivable differentiation‘ (i. e., just short of word-for-word repetition).“ Vom „continuum“ zwischen Maximum und Minimum und von der unendlichen Approximation spricht Kugel selbst 85, 94, 292. 365 Cf. Platon, Soph. 257b, 258b. 366 Kugel, ebd. 52, 97, 101, 103, 289, 291, 301.
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mythischen, der Metaphorisierung, wenn man den poetischen Aspekt betont.367 Und indem sich die „Stimme des Herrn“ ( )קול־יהוהjedem semantischen Sinn entwindet, übersteigt sie das menschliche Maß. So steht der Hymnus, der auch unter dem Vorzeichen des Schönen stehen könnte, unter dem des Erhabenen. Einerlei ob erhaben oder schön, der Hymnus bildet die Spitze des lyrischen Sprechens (a quintessential specimen of lyric discourse)368 und besitzt höchste Theologieaffinität. – Auch der Rhythmus gehört unter die prätheologischen Phänomene. Aristoteles und Dobbs-Allsopp stimmen zwar im Argument überein, aber nicht im Schluss, den sie daraus ziehen. Aristoteles stellt fest: „Der Logos braucht Rhythmus, kein Metrum“ (ῥυθμὸν δεῖ ἔχειν τὸν λόγον, μέτρον δὲ μή)369 und folgert daraus, rhythmische Rede sei Prosa. Dobbs-Allsopp führt den nichtmetrischen Rhythmus ein, um daraus zu schließen, Rhythmen seien poetisch. Rhythmus kann durch Wiederholung sensueller Elemente, Laut-, Silben-, Wort-, Satzrhythmus, oder durch Wiederholung noetischer Elemente, Gedankenrhythmus, erzeugt werden. – In Psalm 29 dominiert der Aspekt des Wortrhythmus. Man darf mit Martin Buber den anaphorischen Satzanfang „Bringet dar“ das periphere Leitwort nennen, die „Stimme des Herrn“ das zentrale.370 Nur seltsam, dass sich niemand entschließen konnte, die rhythmisch und lyrisch ungleich zentralere Stellung des Namenswortes jhwh ( )יהוהin Acht zu nehmen. Es ist rhythmisch zentraler, weil es nicht nur den Psalm in 18facher Wiederholung von Anfang bis Ende durchrhythmisiert und auf Achse bringt, sondern, weil es aus seiner anfänglichen Stellung als Dativ‑ und Genitivobjekt vordringt in die Stellung des Subjekts und am Ende gar akolytisch und anaphorisch den Satzanfang markiert. Und es ist lyrisch zentraler, weil es nicht wie in Psalm 133 bis zum letzten Satz in Abwesenheit verharrt und anwesend nur wird durch einzelne Klangketten, die vom Ende her als Nachwirkung des Namens begriffen werden, sondern von Anfang bis Ende prall präsent ist. Zieht schon die Personifikation der Stimme Aufmerksamkeit auf sich, wie viel mehr Aufmerksamkeit verlangt der nichtpersonifizierte Name der Person selbst, auf den sich die Lyrik in ihrer vortrefflichsten Gattung, dem Hymnus, bezieht. Schrift und Stimme Noch in anderer Hinsicht ist Psalm 29 dazu angetan, lyrische Dichtung als Theologie durchsichtig zu machen. Die Schrift von Psalm 29 will nicht verbergen, dass sie zu spät kommt. Obwohl einer der ältesten Psalmen, war die Stimme, von der der Psalm handelt, zuerst. Aber das Erste in der Sache ist das 367 Dobbs-Allsopp,
ebd. 156 f, 188. Dobbs-Allsopp, ebd. 187. 369 Aristoteles, Rhet. III 8, 1408b30. 370 Dobbs-Allsopp, ebd. 156 f. 368
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Zweite in der Erkenntnis. Deshalb spricht Dobbs-Allsopp einerseits von der wesentlichen Epiphänomenalität (epiphenomenality) der Schrift,371 andererseits aber von der wesentlichen Ephemerizität (ephemerality) der Stimme,372 die verloren wäre,373 würde sie nicht durch Schrift fixiert. So sind Schrift und Stimme im Psalm präsent, aber unterschiedlich. Präsent ist strenggenommen nur die Schrift; die Stimme ist so absent wie ihr Verursacher. Und absent ist sie aus gutem Grund. Hören Sie denn nichts? hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit und die man gewöhnlich die Stille heißt?374
Wäre die Stimme nicht absent, müsste sie zur Absenz gebracht werden. Aber durch ihre Stille bleibt Schrift bezogen auf die Stimme. Die Schrift ist Wahn‑ oder Wahrsagung375 der Stimme. Die Stille der Schrift erwähnt die Stimme.376 Die Schrift von Psalm 29 erwähnt die Stimme so, dass, während sie sich vor unseren Augen in die waagrecht verlaufenden Schriftzeilen hineinsenkt, sie diese durch Wiederholung in lotrechte Ordnung zwingt und so das Gebilde, das Text genannt zu werden verdient, allererst erzeugt. Das ist gewiss bloß eine Sache des Auges, bei der das Ohr sich entlastet fühlen dürfte. Eben dadurch wird aber einsichtig: Noch vielmehr ist es eine Sache des Ohrs, weniger des Ohrs als eines schon vorhandenen, das sich der Stimme nur noch zuneigen müsste und sich ihr zu leihen hätte, sondern so, dass die Stimme, die sich hier hören lässt, das hörende Ohr erschafft, indem sie ihren Trichter in es hineinbohrt.377 Wenn aber schon die Stimme siebenmal auftritt, um wievielmehr der, von dem sie ausgeht und dessen Name den Text am meisten strukturiert. Wenn schon die Schriftform von Psalm 29 zu der Anerkenntnis führt, ohne Schrift und Text wüsste man von Gott nichts, so bewirkt die dem Namen zugeordnete Stimme dieses Psalms, dass alles, was als Rede von Gott feilgeboten wird, wie nichts hinweggefegt ist. Freilich ist es von der Stimme schlechthin (קול/ϕωνή) bis zur artikulierten Stimme (ϕωνὴ σημαντική) ein weiter Weg, und gewiss kein kontinuierlicher. Vielmehr ein Bruch findet statt. Und wie von der Schrift zu sagen war, sie sei nicht nur Schriftlauf, sondern wesentlich Schriftbruch, und nur durch die Verflechtung (συμπλοκή) beider komme es dazu, dass ein Text (textus) entsteht, so ist jetzt zu sagen: Die Stimme ist nicht nur phonischer Stimmfluss, der fortläuft, sondern wesentlich phonetischer, phonematischer Stimmbruch, ohne den nicht gelingt, dass die laute Stimme 371
Dobbs-Allsopp, ebd. 42. ebd. 236, 324. 373 Dobbs-Allsopp, ebd. 233–236. 374 Georg Büchner, Lenz 1835/39, WuB 84. 375 Platon, Phaidr. 244c: Schleiermachers Wiedergabe von μαν[τ]ική. 376 § 7 Anm. 237. 377 Ps 40,7: ; ָא זְ נַ יִ ם ָכּ ִר ָית ִלּיDelitzsch, Biblischer Commentar, z. St.: „Ohren hast du mir gegraben.“ 372 Dobbs-Allsopp,
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übergeht in Stimmlaute und bedeutungsvolle Rede entsteht, wie es im Psalm der Fall ist. Stimme und Schrift, jede für sich, vollziehen einen Bruch. Vielleicht geht man nicht fehl in der Vermutung, die Brechung der Stimme könne abgebildet sein in der senkrechten Reihe des 18fachen ″י, das als reine Vokalität einen Exzess an Laut darstellt, der durch vielfache Wiederholung vom unförmigen Laut bis zur bedeutungsfähigen Lautform Jod heruntergebrochen wird. Und wie in Psalm 29 die Stimme auf den Waagbalken gebracht wird vom Schrei zum Ruf, vom lauten Laut zum Bedeutungslaut als Ursprung der Sprachbewegung, so mag es auch sein, dass diejenigen Recht haben, die dem winzigen Buchstaben יseiner Zweiflügeligkeit wegen dieselbe Ambivalenz zusprechen und in ihm den Ursprung der Schriftzeichen erkennen.378 Name und Unendlichkeit Es ist der göttliche Name, der sich in Texten, sofern sie poetisch sind, Bahn bricht. In extrem unterschiedlicher Weise, wie bei den Psalmen 29 und 133 sichtbar wurde, von denen einer dem ältesten, der andere dem jüngsten Stratum des Psalmbuchs angehört: durch Präsenz und Überpräsenz im einen, durch (im Schlussvers aufgelöste) Absenz im anderen Fall. Und ebenso: Durch Schrift im einen, durch Stimme und deren (im Schlussvers in Schriftform komprimierte) Lautklänge im anderen Fall. Aber sogleich potenziert sich die Komplexität. Die Schrift handelt in Psalm 29 nicht von sich selbst, sondern von der Stimme, die einmal als ein und dieselbe, dann wieder als siebenfach unterschiedene auf der Schwelle vom Schrei zum Ruf in die Zeilen einfällt, während in Psalm 133 die Stimme nicht in reiner Vokalität vorliegt, sondern in vielfältigen Lautketten, die sich in Schriftform senkrecht durch die Zeilen ziehen und schließlich im schriftlichen Namen zur Bündelung gelangen. Man muss darauf achten, die beiden Achsen nicht in allzu großer Abstraktion auseinanderzureißen, von der waagrechten zu behaupten, sie sei die Achse der Literalität, und von der senkrechten, mit ihr falle reine Vokalität in den Text ein. Schon das zwischen Vokalität und Textualität changierende monogrammatische Jod ( )יsollte davor warnen. Es ist die Komplexion des tetragrammatischen Namens, genauso, wie der tetragrammatische Name die Komplexion des poetischen Texts ist. Also findet sich in beiden beides; beide 378 Scholem, Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala 1970, 38 f: Für Jod ist „das Schriftbild dieses Konsonanten im Hebräischen, nämlich ein fast nur punktförmiges Häkchen י, ebenso ausschlaggebend […] wie seine Stelle als erster Konsonant des Tetragramms. Das Jod stellt in einem sichtbaren Symbol den Urpunkt der Sprache dar, aus dem alle anderen Formen sich bilden.“ Die Gestalt des Jod wird „von zwei rechtwinklig zusammentreffenden Häkchen gebildet […]. Das sind die Schwingen, die sich aus dem Ursprung des Jod, aus der Bewegung des Urpunktes entfalten. Das Jod ist […] der ‚sprudelnde Quell‘ aller Sprachbewegung, die sich ins Unendliche differenziert und verzweigt, aber dann in dialektischem Umschlag wieder in ihr Zentrum und ihren Ursprung zurückkehrt.“
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Achsen sind durch beides geprägt, Vokalität und Textualität. Und beide sind durch beides, Präsenz und Absenz bestimmt. In diesem verschränkten Sinn gilt: Es ist der göttliche Name, der sich in Texten, sofern sie poetisch sind, Bahn bricht. Es ist aber auch die Unendlichkeit, die sich im Psalmtext manifestiert. In extrem unterschiedlicher Weise bestimmt sie den Text von Psalm 29 und 133 von zwei entgegengesetzten Seiten her, sowohl vom poetischen wie vom prosaischen Pol. Der Begriff der Unendlichkeit ist seit Lowth im emphatischen Sinn mit der Psalmenpoesie verbunden. In ihm versammelt sich, was durch Longin zur negativen Theologie der Erhabenheit in Anregung gebracht wurde.379 Es sind Stücke wie Psalm 148,5; 33,9; 36,6 f; 139,7–10, in denen Lowth Longins vieldiskutiertes Genesis-Zitat am Werk sieht, und die ihn zu der summarischen Bemerkung veranlassen, hier komme der Begriff der Unendlichkeit Gottes zum Ausdruck: „Exprimitur […] notio Infinitatis.“380 Aber Lowth bewegt sich nur auf der gegenständlichen Ebene des Textes, die Dobbs-Allsopp als mundane kennzeichnet. Hier dagegen geht es nicht um den beschriebenen, sondern den unbeschriebenen Raum, nicht um das Gesagte, sondern das Sagen selbst, das ungesagt bleibt. Erforderlich ist also der Überschritt von dem nach außen zu dem nach innen gewandten Weg, sodass Schrift und Sprache sich auf sich selbst beziehen. Dann tritt Unendlichkeit in extrem unterschiedlicher Weise ein; einmal als prosaische wie in Fig. 1, das andere Mal als poetische Unendlichkeit, wie in Fig. 3; auf der einen Seite die leere, endlose Unendlichkeit, die Hegel die schlechte nannte,381 auf der anderen die gefüllte, von der mit Kant gilt, dass sie „schlechthin nicht bloß komparativ groß“ ist.382 Sie mit Totalität zu verknüpfen, wie Kant es tut, entfällt schon deshalb, weil die beiden paradigmatischen Psalmen in ihrer (was die Schrift anlangt) Epiphänomenalität und (was die Stimme anlangt) Ephemerizität keinen Anlass dafür geben. So sehr Grund bestehen mag, von einem Kontinuum zwischen Sprache und Schrift zu sprechen, so sehr erweist sich die Hypothese des Poesie/Prosa-Kontinuums – als könnte man nach der einen Seite poetisieren, was man nach der anderen prosaisiert – als Chimäre. Ist die gefüllte Unendlichkeit des göttlichen Namens nicht komparativ, sondern schlechthin (nicht „schlecht“) unendlich, dann wird sie auch nicht erreicht durch unendliche Annäherung und Approximation, sondern geschieht durch einen Sprung, der auf der Seite der Rezipienten den außerordentlichen Bruch wiederholt, mit der auf der Seite des Produzenten der Name in den Text einbricht. 379 Fritz, Vom Erhabenen 2011; ders., Von der heiligen Poesie 2011, 102. Gottlieb, Aesthetics and the infinite 2012, 337. 380 Lowth, Prael. XVI, 149/320. 381 Hegel, Nürnberger Schriften, WW 4,16; Wissenschaft der Logik, WW 5, 155, 264. 382 Kant, KdU B 92, WW 5, 341.
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Dass der göttliche Name mit Unendlichkeit zusammengehört, liegt daran, dass er ohne Vergleich groß ist. Man wird nicht zögern, hinzuzufügen: Es liegt auch daran, dass er ohne Vergleich klein ist. Nicht die binären Eigenschaften sind ausschlaggebend, sondern die Art ihres theologischen Gebrauchs, mit Kant: ihrer Unvergleichlichkeit. Quis ut deus? Im hebräischen Gottesnamen, dem Tetragramm, das einmal ganz als Buchstabe gelesen werden kann und dann als durchgehender Konsonantenbestand, das andere Mal ganz als Laut und dann als durchgehender Vokalbestand, versammelt sich zum einen die Fülle der Vokalität, zum andern die Fülle der Literalität. Also treffen sich im Namen die beiden Reihen der Lesetheologie, sowohl die hier einseitig verfolgte der Schriftlichkeit und des Lesens, wie die jeweils zurückgehaltene, wenn nicht zurückgedrängte der Stimmlichkeit, die spätestens jetzt mit Macht auf sich aufmerksam macht. Vom tetragrammatischen Namen wird – darin sind sich Hieronymus und Maimonides einig – verlangt: Er wird nicht ausgesprochen (non dicitur),383 nicht weil er an sich schon ausgesprochen werden könnte, aber nicht ausgesprochen wird mit Rücksicht auf eine bestehende religiöse Regulierung, sondern er ist prinzipiell unaussprechlich (ineffabile).384 Darin ist auch enthalten, dass er nicht gelesen wird (non legitur), nicht etwa weil er zwar an sich wohl gelesen werden könnte, nur faktisch nicht gelesen wird aus Gründen der Abstinenz und Reverenz, sondern weil er beim besten Willen nicht gelesen werden kann. Einmal Komplexion aller Vokalität, einmal Komplexion aller Literalität, ist der tetragrammatische Name Grenze des Sprechens, Grenze des Lesens. Er kann nur geschrieben werden, um nicht zu sagen: geritzt (scribitur).385 In doppelter Weise ist der geschriebene Name Ziel der Lesetheologie, und deshalb kann die Theorie des Lesens nicht stehenbleiben, ohne an Theologie des Lesens zu rühren. Er markiert nicht nur die Komplexion von Vokalität und Literalität je für sich, sondern signalisiert deren Einheit als die Fülle der Schrift, die zugleich die Fülle der Vokalität ist. Ebendies ist in Psalm 29 der Fall. Er ist die Fülle der Schrift/ Literalität, wie in Fig. 1 dargestellt. Gewiss werden sich Leser auf einem ersten Weg daran machen, diese von jeglicher Vokalität entblößte, daher tote und des Zusammenhalts der Buchstaben beraubte Schrift entlang der waagrechten Zeile zu entziffern und zu lesen. Von unvergleichlich größerem Gewicht ist aber, auf einem zweiten Weg die Buchstaben nicht nur nach ihrem Nacheinander, sondern ihrem Statteinander zu ordnen. Dann rückt Buchstabe zu Buchstabe, Element zu Element, Gebein zu Gebein. Wie Jakobson am Ende von Was ist Poesie? zu Sätzen gelangt, die an die Vision aus Ezechiel 37 erinnern, aber auf poetologische Weise: 383
Maimonides, Dux dubitantium 1520, I 60, fol. XXIVv lin. 11. Hieronymus, Ep. ad Marc. 25,3, CSEL 54, 219,13: tetragrammum […] ἀνεκϕώνητον, id est ineffabile. Hasselhoff, Hieronymus und die Aussprache des Hebräischen 2016, 49 f. 385 Maimonides, ebd., I 60, fol. XXIVv lin. 10. 43; I 62, fol. XXVIr lin. 11. 384
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Erst wenn eine Zeit tot und vergangen und der enge Zusammenhalt ihrer einzelnen Elemente zerfallen ist, erst auf dem vielzitierten Friedhof der Geschichte überragen die literarischen ‚Denkmäler‘ feierlich-erinnerungswürdig den mannigfaltigen archäologischen Plunder. […] Erst jetzt suchen wir das menschliche Gerippe in der Gruft, erst – wenn es schon zu nichts mehr taugt. Es hat sich der Beobachtung entzogen, […] und man könnte es höchstens künstlich mit Röntgenstrahlen zum Leuchten bringen, höchstens unablässig forschen: Was ist Rückgrat? Was ist Poesie?386
So verfahren wir mit dem Röntgenblick von Fig. 3. Psalm 29 ist die Fülle der Vokalität nicht nur, indem er von ihr Satz für Satz ausdrücklich handelt, sondern indem er sie mit dem göttlichen Namen als Rückgrat eindrücklich vollzieht. Von welcher Art ist die Unendlichkeit, die mit dem göttlichen Namen verbunden ist? Wir haben mit zwei polaren Unendlichkeiten zu tun, der poetischen und der prosaischen. Eine der beiden, die poetische, werden wir dem Namen sofort und ohne Bedenken zuordnen. Der göttliche Name, die Komplexion aller Sprache und Schrift, ist ohne Vergleich unendlich. Seine vier tetragrammatischen Buchstaben rücken zusammen in einen, und seine vier sei’s vokalischen, sei’s konsonantischen Laute schmelzen ganz von selbst zusammen in einen einzigen, die Stimme, von der Psalm 29 spricht. Nicht mit derselben Bedenkenlosigkeit würden wir dem Namen auch die prosaische Unendlichkeit zuordnen. Doch führt kein Weg daran vorbei. Gehen wir noch einmal zurück zum Parallelismus als dem Kennzeichen, das nach Lowth wie seinen Kritikern unisono die hebräische Poesie am meisten prägt. Wenn das Korpus dieser Poesie sich ausstreckt zwischen dem poetischen und dem prosaischen Pol, dann muss der Name mit beiden verbunden sein, wenn auch verschieden.387 Was die Seite des poetischen Pols anlangt, so ist deutlich, dass die Parallelismen sich auf ihn hin komplizieren. Wie diese, was den Rückgang anlangt, an den Namen als deren Implikation rühren, so sind, was den Fortgang anlangt, Parallelismen nichts anderes als die Explikation des Namens. Kaum ist in Exodus 3 der Name genannt, wird er auch schon in Parallelismen aufgefangen. Den ersten, אהיהIch bin, אשר אהיה ׃der ich bin
könnte man für eine Tautologie halten, wenn nicht seine Wiederholungsstruktur eine infrageringe Differenz voraussetzte, die ihn glücklicherweise daran hindert, in bloße Tautologie auszugehen. So hat bereits das erste Nachaußentreten des Namens die Gestalt eines Parallelismus, wenn auch noch so gering. Und sogleich findet der erste Parallelismus Responsion in einem zweiten: 386 387
Jakobson, Was ist Poesie? 1933/34, 417/80 f. Vf., Name und Parallelismus 2011.
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§ 8 Heilige Schrift und Psalter זה שמי לעלםDas mein Name in Ewigkeit, וזה זכרי לדר ודר ׃und das mein Gedächtnis für Geschlecht und Geschlecht.
Was immer der Name ist, יהוהoder אהיה, er entfaltet sich mit poetischer Energie von Anfang an in Parallelismen, und sicher entfaltet er sich in Parallelismen über den Anfang hinaus. – Und was die Seite des prosaischen Pols anlangt, so lehrt die jüdische Tradition, den Namen nicht nur am Werk zu sehen in der Verkürzung der tetragrammatischen Form zur monogrammatischen, sondern auch in der Erweiterung vom vier‑ zum vielbuchstabigen Namen, der am Ende so weitläufig sein kann wie das Gewebe der gesamten Thora. Ist dem ersten Parallelismus die Grenze gesetzt, dass er sich nicht erhebt in bloße Tautologie, so dem letzten, dass er sich nicht verflacht in bloße Heterologie. Daran, dass er implodiert in Tautologie, wird der Parallelismus gehindert durch seine infrageringe Differenz. Dass er aber explodiert in Heterologie, verhindert seine infrageringe Identität. Mit beiden Unendlichkeiten ist der Name in unterschiedlicher Weise verbunden, mit der poetischen in unendlicher Fülle, mit der prosaischen in unendlicher Leere, und während wir diese als Endlosigkeit bezeichnen, nennen wir jene Unendlichkeit in qualifiziertem Sinn. Damit ist eröffnet, was man poesis sacra, Poesie der Psalmen nennt. Mit nicht mehr als einer Nuance schreibt die Diskontinuität ihre Spur in die Kontinuität.
§ 9 Lesen und Nicht-Lesen Angelangt auf der Spitze der Theologie des Lesens, halten wir Umschau. Führt Lesen unausbleiblich zur Theologie? Diese These klingt absonderlich in der Gesellschaft der Lesenden und steht im Verdacht, sie betreibe etwas Forciertes, lasse es an der nötigen Liberalität des Lesens mangeln und neige dazu, sich selbst zu exkommunizieren. Sie klingt absonderlich auch in der Zunft der Theologen, die demjenigen, der meint, auf dem Wege des Lesens zu so etwas wie Theologie gelangen zu sollen, rasch bedeutet, es sei keine nennenswerte Theologie, die so entsteht. Bleibt die Lesetheologie zwischendrin hängen, indem sie sich aus der community der Lesenden ebenso mutwillig entfernt wie sie in der der Theologietreibenden nie anlangt? Das ist das Gefahrenszenario. Die Hoffnung, beide Gefahren mit ein paar kräftigen Argumenten aus der Welt zu schaffen, trügt. Sind sie nicht aus der Welt zu schaffen, bleibt nur, mit ihnen umzugehen. Zwei Möglichkeiten gibt es. Die eine betrachtet Gefahr als Übel (κακόν). Wenn sie schon nicht zu beseitigen ist, bleibt unbenommen, wenigstens so zu handeln, als ob sie zu beseitigen sei. Man kann Gefahren besänftigen, indem man ihnen gut zuredet, also im hier vorliegenden Fall bestrebt ist, auf die schon formierten Gesell‑ oder Gemeinschaften beschwichtigend einzuwirken, sie möchten den, der zwischen ihnen hängen zu bleiben droht, nicht ausschließen. Ein Flair von Paränese verbreitet sich; ihr Inhalt ist die Bitte um Nachsicht. Die andere Möglichkeit folgt Sokrates: „Schön ist die Gefahr“ (Καλὸς γὰρ ὁ κίνδυνος).1 Nicht die Gefahr zu besänftigen ist ihr Ziel, sondern sie zu schrecken. Kein Schrecken ohne die Grundfigur des Schreckens des Schreckens. Und kein Schrecken des Schreckens ohne acutezza/agudeza. Auf ihr spitzestes Paradigma stießen wir bereits: Moriar ne moriar.2 Angelangt auf der Spitze der Theologie des Lesens bedarf es der Schärfe. Eine Gefahr kann nur geschreckt werden durch eine gleichgroße oder größere. Wer weiß, ob es Gemeinschaften der Lesenden und der Theologietreibenden, von denen die Rede war, überhaupt gibt. Die Gefahren, die ihnen von außen drohen, sind unvergleichlich geringer als die von innen. Den Gemeinschaften der Theologietreibenden droht, dass es mit der Positivität von Theologie, die sie für sich in Anspruch nehmen, nichts sein dürfte. 1 Platon, Phaid. 114d. Sokrates empfiehlt, mit der Gefahr umzugehen, indem man sie bei sich selbst besingt: ἐπᾴδειν, und nimmt damit ein Motiv auf, das quer durch den Dialog hindurchgeht: 77e; cf. 60e, 84e–85b, 86e. Wenn schon nicht als ἐπᾴδειν, so doch als ᾆδειν gelangt die Empfehlung des Sokrates bis in die ψαλμῳδία. 2 § 5 Anm. 222.
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§ 9 Lesen und Nicht-Lesen
Und genauso: Die Gefahr, die der Gemeinschaft der Lesenden droht, kommt nicht von außen, indem sich jemand aus ihr entfernt, sondern von innen, indem die in Anspruch genommene Positivität des Lesens in sich zusammenfällt und sichtbar wird, dass Nicht-Lesen gerade unter Lesenden unvergleichlich verbreiteter ist als Lesen. Das ist die Gefahr, der wir auf der Spitze der Lesetheologie gegenübertreten sollten. Im distanzierenden Gestus des Gegenübertretens liegt aber nicht nur, Gefahren von außen namhaft zu machen, was stets auf Schwächung hinausliefe, so stark man ihnen auch begegnet. Stärkung entsteht erst, wenn das Gegenübertreten der Gefahr gilt, die von innen droht. Sie ist es, die Distanz verlangt. Also gilt es, auch in Distanz zu treten zu den zugespitzen Aussagen, die am Ende der Lesetheologie stehen. Ihre Gefahr besteht mit einem Wort darin, dass Lesen im Lauf der Lesetheologie (zu) feierlich geworden sein könnte. Wenn ja, kann man sich vor seiner eigenen Positivität selbst nicht mehr retten. Womöglich hat sich das Lesen zu einer Art Frömmigkeit des Lesens aufgeschaukelt, die die verschiedenen Facetten des Lebens von vornherein dadurch kupiert, dass sie sie dem Lesen anverwandelt und einverleibt mit dem Ziel, dass alles Leben im Lesen sei und außerhalb von Lesen von Leben nicht mehr sinnvoll gesprochen werden kann. Wenn das Frömmigkeit des Lesens sein sollte, dann ist sie von Frömmlichkeit nicht zu unterscheiden. Sie treibt das Lesen ins Absolute; nichts mehr soll es geben außerhalb seiner, Lesen soll anhalten Tag und Nacht. Ein solches Lesen, von dem an solenner Stelle Psalm 1 handelt, muss, um nicht hochideologisch zu werden, der harten Wirklichkeit des Nicht-Lesens ausgesetzt werden. Nicht-Lesen ist das einzige Außen, dessen Anerkenntnis das Lesen auf Dauer bei Kontur halten kann. Vielleicht ist man geneigt, das Nicht-Lesen für einen zwar notwendigen, im Ganzen aber nur gelegentlichen Unfall auf dem Weg des Lesens zu betrachten. Jedoch Heike Gfrereis vertritt mit Blick auf die Bestände des Deutschen Literaturarchivs Marbach die gegenteilige These. „Einen Text zu lesen“, sagt sie, „ist die Ausnahme unserer Literaturerfahrung, nicht der Regelfall.“3 Also ist es unsere Aufgabe, das Lesen, das im Zug der Lesetheologie monomanisch zu werden droht, dem realistischen Übergewicht des Nicht-Lesens auszusetzen. Nur eingehaltene oder wiedergewonnene Distanz zum Lesen hilft zu vermeiden, dass dieses selbstwindend und selbstdrehend wird und dem Leser Besinnung und Umsicht raubt. Der feierlich gewordene Begriff des Lesens rückt Nicht-Lesen in die Nähe zum Sakrileg.4 Was dagegen nötig ist, ist der Blick auf die Realität des Nicht-Lesens.
3 4
Gfrereis, Nicht-Lesen 2013, 4. Gfrereis, ebd. 2.
1. Nichtlesendes Nicht-Lesen
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1. Nichtlesendes Nicht-Lesen Nicht-Lesen zu bestimmen sollte an sich leicht sein, ist doch Lesen nur eine bestimmte Tätigkeit unter vielen. Potentiell gibt es daher zum Nicht-Lesen unendlich viel zu sagen. Alles was nicht Lesen ist, dürfte ihm nahekommen. Aber wird es auch Nicht-Lesen sein? Zwischen Nicht Lesen und Nicht-Lesen besteht eine Differenz wie zwischen Negation und Privation. Probieren wir es paradigmatisch mit derjenigen Tätigkeit, die nach allen Regeln öffentlichen Lesens, etwa im Lesesaal, am strengsten vom Lesen ausgeschlossen ist, beim privaten dagegen weniger, dem Essen. Beim Lesen isst man nicht. Und umgekehrt. Beim Essen, sofern es bei Tisch geschieht und Tisch verstanden wird als Vorgabe sozialer Ordnung, liest man nicht. So scheint es schon auf Anhieb gelungen zu sein, Nicht-Lesen zu bestimmen. Aber kaum ist die Grenze deutlich gezogen, verwischt sie wieder von beiden Seiten. Das Lesen, ferngehalten von allem Essen, hält nicht lange Abstinenz. Das seltsam atmosphärische Vakuum des Lesesaals ruft nach Auffüllung. Es scheint, als ob Lesende Äsende wären, solange sie sich über das Buch beugen; erheben sie aber ihren Blick daraus, so bleibt dieser stumpf, geht nirgendwo hin und es liegt ein Hauch von Rumination in der Luft. Leser werden zu Buchschluckern, Buchtrinkern. Und auch das Essen, das auf dem langen Weg seiner Bedingtheit bestimmte Akte der Zubereitung voraussetzt, ist, ohne dass immer intensiveres Sammeln stattgefunden hätte, nicht zu denken. Während hier das Lesen, das eigentlich klar und deutlich ausgeschlossen war, mit seiner mythisch-archaischen Metapher zurückschlägt, kehrt es dort mit seiner poetisch-theologischen Metapher wieder, einmal die vorliterarischen, das andere Mal die nachliterarischen Aspekte des Lesens untermalend. Und, wie bekannt, können sich an die Metaphorisierungen in beiderlei Richtung ganze Sinnwelten anschließen. Mit dem Decken des Tisches mit Speisen wird zugleich die Aufgabe, den Tisch des Wortes reichlicher zu decken, wirksam untermalt. Und umgekehrt: Das buchstäblich Gelesene wird zur geistlichen Speise (manducatio spiritalis). Nachdem wir es erklärtermaßen satthaben, die ganze Welt mit Lesen zu füllen: Genügt es zum Zweck der klaren und deutlichen Definition des Nicht-Lesens, einfach die Lesemetapher zu beschneiden? Keineswegs. Daher muss eigens hervorgehoben werden, es handle sich um ein nicht-lesendes, keine Kollusion mit dem Lesen eingehendes Nicht-Lesen, und dies wollen wir dem Lesen entgegenhalten. Ist Lesen nur eine unter unendlich vielen Tätigkeiten, dann ist das Übergewicht des Nicht-Lesens über dem Lesen von vornherein evident. Will man das Lesen schärfen, um das Nicht-Lesen scharf zu bekommen, kann man sich mit der Regel behelfen: „Lesen selbst“, das buchstäbliche, eigentliche, „scheint spurlos zu geschehen.“ Wenn Bücher aus nachgelassenen Bibliotheken im Literaturarchiv Marbach „mehr vom Nicht-Lesen als vom
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Lesen“ zeugen,5 dann nur deshalb, weil lektürefremde Handhabungen, Lagerungen, Umzüge, Umnutzungen ihre Spuren hinterließen – von Mörike, dem Verfasser der Classischen Blumenlese, ist bekannt, dass er das lateinische Wörterbuch als Untersatz für Blumentöpfe missbraucht hat. Aber wie steht es mit willentlich applizierten Eselsohren und Einritzungen mit dem Daumennagel, diesen alten Markierungstechniken ohne Verwendung von Griffel und Stift? Und wie mit Glossen, Marginalien, Bezifferungen, Trenn‑ und Verbindungstrichen? Sind sie, klare Spuren, die sie sind, etwa lektürefremd? Von zwei Seiten her gerät die Regel der Spurenlosigkeit reinen Lesens in Bedrängnis. Dass ein Buch keine Spuren aufweist, lässt sich auf der einen Seite am einfachsten dadurch erklären, dass es ungelesen blieb, während auf der anderen Seite selbst der dem Zweck der Bücher noch so entgegengesetzte Missbrauch keine Spuren hinterlassen muss – vom Herausgeber von Herders Sämmtlichen Werken wird berichtet, er habe die 32 Bände seiner Ausgabe als Piedestal benützt, um seinem Leben durch Erhängen ein Ende zu setzen, indem er sie mit den Füssen fortstieß. Aber in dem Maß, in dem die Differenz zwischen Spur und Spurlosigkeit sich von der Differenz zwischen Nicht-Lesen und Lesen entkoppelt, kehrt die Frage Was ist Nicht-Lesen? erneut als die alte wieder. Selbst durch die Beteuerung, es handle sich um nicht-lesendes Nicht-Lesen, wird das Nicht-Lesen nicht etwa bestimmt, sondern nur um ein weiteres Mal verschoben usw. usf. Zu deutlich bleibt Nicht-Lesen auf das Lesen bezogen als dessen Privation, nicht als dessen Negation.
2. Lesendes Nicht-Lesen Es ist daher angezeigt, das Nicht-Lesen von vornherein im Lesen zu situieren. Wir wollen dem Nicht Lesen den Abschied geben; die zwei zum Besten gegebenen Anekdoten genügen. Nicht Lesen wird nie und nimmer zu Nicht-Lesen. Es ist ein Unterschied zwischen nichtlesendem6 und lesendem7 Nicht-Lesen. „Das Nicht-Lesen“ – damit biegen wir wieder in die Linie von Heike Gfrereis ein – „ist ein […] Teil des Lesens.“8 Das auferlegt der Dissoziation von Nicht-Lesen und Lesen, und sei sie noch so erwünscht, sehr enge Grenzen. „Die poetischen Existenzen, die die Literatur selbst entwirft – alles deutliche Gegenbilder zum Mönch, Kunstgelehrten und Literaturwissenschaftler: Musensöhne, göttliche Kinder, Abenteurer und Taugenichtse, Dandys und Bohemiens –, lesen nicht.“9 Und gleichwohl werden sie durch Lesen 5 Gfrereis,
ebd. 1 f. Anm. 42. 7 § 1.2.b; § 7.2.a. 8 Gfrereis, ebd. 2, ebenso 4. 9 Gfrereis, ebd. 10. 6 § 8
2. Lesendes Nicht-Lesen
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erst hervorgebracht. Dies weist dem Literaturwissenschaftler, dem Kunstgelehrten und nicht zuletzt dem Mönch, der für die Theologie des Lesens konstitutiv ist, seine Aufgabe zu; er muss das Gegenbild seiner selbst erzeugen, ohne welches es ihn nicht gibt. Das klassische Itinerarium kennt kein Stehenbleiben im Selbstgenuss, kein Lesen um des Lesens willen. Allenfalls dient Lesen als Wegzehrung (viaticum), zu verzehren von solchen, die sich im Modus des Dahineilens (porro properando) befinden. Hier ist, gerade um des lesenden Nicht-Lesens willen, höchste Differenzierung geboten. – Auf der einen Seite setzen wir voraus, jeder, der sich als in statu legendi befindlich bezeichnet, wolle damit zum Ausdruck bringen, dass er nur ein Erstes betreibt, dem alsbald ein Zweites, Drittes usf., in jedem Fall aber etwas anderes als Lesen folgt. Du texte à l’action, setzt Ricœur als Parole und Titel. So wollte auch Hugo von St. Viktor lectio nur als erste Stufe verstanden wissen, der meditatio, oratio, operatio, contemplatio folgen, wobei jene den Anfängern (incipientes), diese den von Mal zu Mal Vollkommeneren (perfecti) angehört.10 Das Lesen hat den Charakter bloßen Vorgeschmacks (praegustatio), dem voller Genuss (fruitio) folgt. Es ist eine Art Angeld auf etwas, was sich noch auszahlen wird. Somit ist dem Lesen die Aussicht auf Anderes-als-Lesen von vornherein eigen. Jemand muss nur sagen Ich lese, um die Frage auf sich zu ziehen: Und was dann? Wozu? Dass Lesen unausbleiblich zur Theologie führe, wie die Lesetheologie behauptet, entpuppt sich zwar als ein nicht in jeder Hinsicht falscher, zumindest aber irreführender Satz. Nur indem Lesen zu Anderem-als-Lesen, zum Nicht-Lesen führt, führt es zur Theologie. Wohl von niemandem wurde dieser sich selbst zum Verschwinden bringende Sinn von Lesetheologie schärfer pointiert als von Martin Luther. Das Schema Hugos von St. Viktor aufnehmend und es zugleich umstülpend formulierte er: „Vivendo, immo moriendo et damnando fit theologus, non intelligendo, legendo aut speculando.“11 Daraus ergibt sich eine erste extreme Möglichkeit, vom lesenden Nicht-Lesen zu sprechen. Sie besteht darin, legendo bereits vorwegnehmend das non legendo zu vollziehen, mit dem die der Theologie wesentlichen Dinge – vivendo, immo moriendo – geschehen. Das klingt beinahe so, als solle im lesenden Nicht-Lesen mit aller Kraft das nichtlesende Nicht-Lesen restituiert werden, von dessen Abschied wir soeben herkommen. – Auf der anderen Seite war es begreiflicherweise der Tenor der Lesetheologie, dass Lesen und nichts als Lesen zur Theologie führe. Gewiss ist Lesen, um besser lesen zu können, etwas anderes als Lesen um des Lesens willen und mit diesem nicht zu verwechseln. Es arbeitet, während dieses feiert. Hieraus ergibt sich ein zweiter extremer Typ lesenden Nicht-Lesens, wenigstens sofern ihm der Rückfall ins nichtlesende Nicht-Lesen definitiv verwehrt ist. Nicht nicht lesen, sondern Nichts-als-Lesen und immer noch intensiveres 10 11
Hugo v. St. Viktor, Didasc. V 8–9; FChr 27, 346–353. Luther, Op. in ps. 1519, WA 5, 163,28 f/AWA 2, 296,10 f.
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Lesen wird imstande sein, sein Nicht-Lesen hervorzutreiben. Sein Nicht-Lesen, nicht Nicht-Lesen überhaupt, vielmehr genau das Nicht-Lesen, das ihm und nur ihm entspricht. Nicht einer, vielmehr zwei Sätze werden zur Durchführung von Lesetheologie benötigt, zwei antithetische zudem. Der eine Satz „Lesen führt unausbleiblich zur Theologie“, den wir zur Lesetheologie bisher ausschließlich in Anspruch nahmen, trifft zwar zu, beschreibt aber faktisch ein von zwei Sätzen bestimmtes Gebiet. – Ein erster Erklärungsversuch unterscheidet zwischen Sequenz und Konsequenz. Auf der einen Seite wird zu Lesetheologie nichts anderes verlangt als die Sequenz ununterbrochenen Lesens. Von ihm ist zu erwarten, es könne sein Ziel nicht verfehlen. Auf der anderen Seite wird nicht weniger verlangt als der Abbruch fortgesetzten Lesens als dessen eigene Konsequenz. Das heißt durchaus nicht, dass das Lesen, von dem in jenem einen Satz der Lesetheologie die Rede war, ein Drittes zu diesen beiden Sätzen darstellt, in dem die Antithese bis zur Unauffälligkeit entkräftet wird. Ein solches Drittes ist ausgeschlossen. Der eine Satz der Lesetheologie befindet sich vollständig und ohne Rest im Griff der beiden Antithesen. Lesetheologie entsteht überhaupt nur auf dem Wege der Sequenz, denn sie kennt einzig Lesen und nichts als Lesen. Und zugleich entsteht sie erst auf dem Wege der Konsequenz, die über das Lesen hinausweist. Man erkennt: Als Antithesen sind beide Sätze weit entfernt voneinander, aber als Verwirklichungen des einen Grundsatzes der Lesetheologie sind sie nahe beieinander, ja stehen einander so nah und so fern wie nur möglich. Das ist es, was wir durch die Differenz zwischen Sequenz und Konsequenz zum Ausdruck zu bringen versuchen. – Ein weiterer Versuch schließt sich an. Er unterscheidet zwischen Mehr-Lesen und Mehr-als-Lesen. Wenn Lesen wie behauptet unausbleiblich zur Theologie führt, dann ist es eine einzige Parole, die den Gang der Untersuchung lenkt. Sie lautet: Mehr lesen! Kaum ist sie lautgeworden, zerfällt sie auch schon in jedem Moment der Befolgung in zwei gegensätzliche Vorgehensweisen, ohne dass für die Einheit etwas übrig bleibt. Mehr-Lesen: das signalisiert auf der einen Seite die Aufgabe, mehr zu lesen, das heißt: noch genauer, noch mehr ins Einzelne und ins Ganze gehendes Lesen, close reading, und dies in unendlicher Annäherung, Approximation, Exhaustion. Wir nannten dies Sequenz des Lesens. Sequenz ist nichts anders als kontinuierlich mehr zu lesen. Auf der anderen Seite wird Mehr-Lesen keineswegs erfüllt durch mehr Lesen, sondern einzig und allein durch Mehr-als-Lesen. Die Konsequenz des Lesens, so dürfen wir vermuten, ist nichts anderes als Mehr-als-Lesen. Das letzte Epigramm im Cherubinischen Wandersmann des Angelus Silesius hat dies in die Form gebracht: Beschluß Freund es ist auch genug. Jm fall du mehr wilt lesen / So geh und werde selbst die Schrifft und selbst das Wesen.12
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Silesius, Cherubinischer Wandersmann 1675, VI 263 (in der Gesamtzählung Nr. 1675).
2. Lesendes Nicht-Lesen
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Mehr lesen nicht mehr als Mehr-Lesen, sondern als Mehr-als-Lesen. Der Gang der Lesetheologie geschieht nicht mehr in Form des Fort-, sondern des Weggangs, sei es vom Lesen zum Wesen, oder vom Lesen zum Leben. „Der Leser dae nke aber weiter nach / und lebe in betrachtung […].“13 Wie wenig sich das Cherubinische – der Übergang in denkende Betrachtung – oder das Seraphinische – der Übergang in brennende Liebe – von der Allgemeinheit der Leseerfahrung absondert, macht Heike Gfrereis klar. Ihre These „Lesen heißt viel mehr als Lesen“,14 und: „Lesen selbst bedeutet […] sehr viel mehr als einen Text zu lesen“15 zeigt, was die Konsequenz aus der Sequenz des Lesens ist, und ihr Zusammenhang lässt nur einen Schluss zu: Mehr-als-Lesen, Sehr-viel-mehrals-Lesen heißt nicht mehr zu lesen, sondern Nicht-Lesen, und zwar präzis lesendes Nicht-Lesen. Dieses hat zwei zeitliche Aspekte, Noch-nicht-Lesen und Nicht-mehr-Lesen.
a. Noch-nicht-Lesen Es ist klar, in welcher Weise Gfrereis das Noch-nicht-Lesen verstanden haben will. Von ihm gilt, dass es „unumgänglich Teil des Lesens ist“.16 In einem ersten und einfachen Sinn so, dass jeder beim Lesen erreichte Punkt des Anhaltens, etwa zum Zweck des Markierens, Rubrizierens, Glossierens, von dem Urteil betroffen wird, dass nicht wie gesollt zu Ende gelesen wurde. Bei jeder Unterbrechung des Lesens steht das Meiste noch aus. So ist jeder Moment der Lektüre, der als solcher aus der Reihe heraustritt, insofern Teil des Lesens, als er auf eine stets größere Zukunft des Lesens zugeht, die noch im Verborgenen liegt, obwohl sie prinzipiell lesbar ist. Dem Anhalten des Leseflusses haftet insoweit ein Bewusstsein des Mangels an, aber nicht nur. Aus ihm kann Innehalten erwachsen, und mit ihm avanciert Noch-nicht-Lesen zum „notwendigen hermeneutischen Bestandteil des Lesens“.17 So etwa, wenn Techniken des Kreuz-und-quer-Lesens den sukzessiven Fortgang zum Erliegen bringen. Hierbei entsteht „ein potenziertes Lesen, ein Lesen hoch drei, eine legitime, weil heuristisch motivierte Methode der Lektürevermeidung.“18 Dann verwandelt sich das Noch-nicht-Lesen aus einem Mangelzustand auf der ersten Ebene in einen Überschuss auf der potenzierten. Der Verzicht auf fortlaufendes Mehr-Lesen erzielt einen Gewinn von Mehr-als-Lesen. Das ist es wohl, was mit der These gemeint war, Lesen bedeute sehr viel mehr als einen Text zu lesen. Hier schlägt bloßes Anhalten in die neue Qualität des Innehaltens um, und die durch Reduktion der Lesemenge hervor13 Silesius,
ebd. 23: „Erinnerungs Vorrede an den Leser“. ebd. 5. 15 Gfrereis, ebd. 2. 16 Gfrereis, ebd. 4. 17 Gfrereis, ebd. 18 Gfrereis, ebd. 14 Gfrereis,
§ 9 Lesen und Nicht-Lesen
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gebrachte Verarmung erzeugt Bereicherung der Leseintensität. Einerlei ob als verurteilend oder erst recht freisprechend empfunden: Nicht-Lesen in Gestalt von Noch-nicht-Lesen ist nun so sehr zu einem teils hemmenden, teils belebenden Teil des Lesens geworden, dass der Negation der Zahn gezogen wurde. Es gibt härtere Negationen des Lesens als die erwähnten, die selbstverständliche Bestandteile des Leseprozesses sind. Wenn Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Schwere, Leid, seien sie reaktiver oder endogener Herkunft, die Begegnung mit einer Textseite, die an sich hätte quecksilbrig sein können, in Stumpfheit ausgehen lässt, wird deutlich: Mit Lesen überhaupt beginnen zu können, ist ein steiles Gut (bonum arduum). Noch-nicht-Lesen erscheint dann bereits als eine erste Linderung des Horrors des Nicht-Lesens, das in Wahrheit Nicht-lesen-Können ist. Offenbar darf man über den lichteren, immer schon vom Lesen domestizierten und fruktifizierten Formen des Nicht-Lesens die dunkleren nicht vergessen, denen gegenüber nicht nur das Innehalten, sondern sogar auch das Anhalten als Gewährung von Komfort erscheint. Nochnicht-Lesen erscheint dann als eine Form von Nicht-Lesen, der der Vorgeschmack künftiger Süßigkeit nicht fern ist. b. Nicht-mehr-Lesen Auch hier verhält es sich so, dass drei verschiedene Ebenen unterschieden werden können. Obgleich vom Noch-nicht-Lesen und seiner Ausrichtung auf die Vergangenheit unterschieden durch Ausrichtung auf die Zukunft, berühren sich beide Formeln auf einer ersten Ebene so sehr, dass gefragt werden kann, ob sich die Ausrichtung auf die verschiedenen Zeiten nicht gerade umgekehrt verhalte. Denn derselbe Vorgang, der soeben beim Noch-nicht-Lesen in den Blick zu nehmen war, das Stehenbleiben im Lesefluss, der Versuch, die Struktur des Textes zu markieren, nummerieren, rubrizieren, „entzieht den Text der Lektüre und führt dazu, dass wir ihn nicht mehr lesen.“19 So gibt es einen Punkt, an dem Nicht-mehr-Lesen und Noch-nicht-Lesen bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander fallen und der Aspekt der Zukunft mit dem der Vergangenheit zusammenfällt und umgekehrt. Aber nur in einem Punkt verhält es sich so, in allen weiteren wollen beide Formeln sehr wohl etwas Verschiedenes sagen. Selbst wenn das Nicht-mehr-Lesen sich vom Nochnicht-Lesen getrennt hat, ist es von Eindeutigkeit weit entfernt. Mindestens zwei Verständnismöglichkeiten sind auseinanderzuhalten. – Man kann akzentuieren: Nicht mehr lesen. Das würde heißen, auf die ständige Schwebung, die durch das Nicht-Lesen als Bestandteil des Lesens ins Spiel kommt, das heißt: auf die ständige Interferenz des Lesens selbst, das mehr zu sein begehrt als Lesen, so entschieden wie möglich zu verzichten, die Interferenz zu sistieren und die Schwebung wegzustimmen, also nicht mehr lesen zu wollen 19
Gfrereis, ebd. 3.
3. Lesen und Nicht-Lesen
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oder mehr als lesen, vielmehr nur noch lesen, reines Lesen ohne Beimischung von Nicht-Lesen. Dass diese Weise des Verständnisses von Nicht-mehr-Lesen streng beachtet werden will, wird niemand sinnvoll bestreiten. Obwohl Lesen stets zwischen Lesen und Lesen schwebt, ist völlig evident, dass jederzeit dem buchstäblichen Sinn des Lesens der Vorzug vor dem metaphorischen zu geben ist. Ob er sich rein für sich verwirklichen lässt, ist eine ganz andere Frage. Geht man ihr nach, wird deutlich, dass zwischen Anspruch und Verwirklichung des Anspruchs eine Kluft besteht, die sich zwar verringern, aber nicht beseitigen lässt. Es gibt kein reines, buchstäbliches Lesen für sich, ohne dass es nicht immer schon mit abweichendem Lesen, das heißt: mit Mehrals Lesen, Nicht-Lesen vermengt wäre. – Man kann aber auch akzentuieren: Nicht mehr lesen, und das dürfte das natürliche Gefälle dieser Formel sein. Gehörten die bisherigen beiden Ebenen, wenn auch in unterschiedlichem Grad, in den Bereich des lesenden Nicht-Lesens, drängt das Nicht-mehr-Lesen auf der dritten Ebene darüber hinaus. Es ist, als ob das nichtlesende Nicht-Lesen, dem wir bereits den Abschied gegeben hatten, am Ende wiederkehrte. „An jenem Tage lasen wir nicht mehr“ (quel giorno più non vi leggemmo avante), berichtet Francesca von dem Augenblick, in dem ihre und Paolos gemeinsame Lektüre im Buch der Liebe überging in Liebe.20 In quel giorno Johannes 14,20; 16,23: Die biblische Reminiszenz regt an, die zweite Vergangenheit des Dantischen Verses in Zukunft zu überführen und jenen Tag ins Auge zu fassen, an dem wir nicht mehr lesen werden.
3. Lesen und Nicht-Lesen Nachdem vom Lesen im Lauf der Lesetheologie ausführlich, sogar ausufernd die Rede war, ist es das Ziel dieses Paragraphen, das Nicht-Lesen möglichst scharf zu bestimmen. Nur dann findet unser Vorhaben ein Ende, wenn es mit dem Lesen nicht, wie es ihm eigentümlich ist, immer weitergehen kann und muss, sondern wenn es an seine Grenze kommt. Dies ist nur möglich, wenn es mit einem schrägen Blick auch von außen betrachtet werden kann. Bietet Nicht-Lesen einen Ort außerhalb des Lesens? Der erste Versuch, nichtlesendes Nicht-Lesen namhaft zu machen, hat sich als naiv erwiesen; Nicht-Lesen erschien eher als Teil des Lesens, das heißt, anders als in der Form von Lesen ist es nicht zu haben. Kaum war das lesende Nicht-Lesen in seinen verschiedenen Aspekten und Ebenen umrissen, zeigte sich durchaus seine Dominanz, gleichzeitig aber ereignete sich eine Wiederkehr nichtlesenden Nicht-Lesens nicht nur in der Gestalt der endlosen Unendlichkeit, der wir den Abschied gegeben hatten, sondern auch in einer Unendlichkeit neuer Qualität, die es verhindert, 20
Dante Alighieri, La divina commedia, Inf. VI 138.
482
§ 9 Lesen und Nicht-Lesen
dass das lesende Nicht-Lesen seine Dominanz zur Totalität erweitert. Dreimal erschien dem lesenden Nicht-Lesen ein Jenseits: Soeben durch Dantes Hinweis auf „jenen Tag“, den wir in futurischem Sinn aufnahmen als Fingerzeig auf ein alles lesende übersteigendes nichtlesendes Nicht-Lesen; sodann durch die Gefahr und Widerfahrnis eines alles Lesen-Können umgebenden und bedrohenden Nicht-lesen-Könnens, das mildere Gestalten des An‑ und Innehaltens kritisch werden lässt und zum schieren Aushalten verunstaltet; und endlich der klassische „Beschluß“ des Angelus Silesius, der das Mehr-Lesen ins Mehr-als-Lesen konvertiert. Genau dies ist der Punkt, an dem die schwer greifbaren Bemerkungen zum Nicht-Lesen von Heike Gfrereis, um deren Durchdringung wir bemüht waren, womöglich doch greifbar werden. Sie gipfeln darin, dass das thematisierte Nicht-Lesen nicht nur Teil oder Bestandteil des Lesens ist und insoweit von diesem domestiziert wird, sondern es ist zugleich auch Mehr-als-Lesen, ja Sehr-viel-mehr-als-Lesen, also weder domestiziert noch domestizierbar von ihm. Sodass uns das Nicht-Lesen, während es uns auf der einen Seite in der vollen Kontinuität des Lesens erscheint, sei es als dessen Hervorbringung wie im Fall des Nicht-mehr-Lesens, oder als dessen notwendige Voraussetzung wie im Fall des Noch-nicht-Lesens, auf der anderen Seite als Abbruch und Sprung, kurz: als Diskontinuität entgegentritt, und dies ist eine Differenz im Nicht-Lesen, die sich nicht zum Verschwinden bringen lassen will. Vor diesem Hintergrund können wir nun der Frage nähertreten: Was macht es erforderlich, jetzt, nachdem an signifikanter Stelle bereits von Lesen und Lesen die Rede war, Lesen und Nicht-Lesen nachzuschieben? Kann überhaupt Lesen und Lesen noch etwas übriggelassen haben, was weiterer Bearbeitung bedarf? Oder was ist es, was das Lesen daran hindern sollte, sich durch sich selbst zu vollenden? Deutlich, nur zu deutlich, gerierte sich die Lesetheologie mit einem Anspruch auf fortlaufende Folge und Sequenz und will auch jetzt noch dabei behaftet werden. Lesen und Lesen bringt ja zum Ausdruck, dass Lesen nur zu immer weiterem Lesen führen kann. Was in aller Welt soll dazu veranlassen, dennoch Lesen und Nicht-Lesen ins Auge zu fassen? Dass Lesen unausbleiblich zur Theologie führe, gelangt jetzt an eine Stelle, die kritischer ist als alle früheren Übergänge. Um die Interdependenz von Lesen und Lesen und Lesen und Nicht-Lesen aufzuschlüsseln, bedienen wir uns der Differenz, die der neunte Paragraph zugespielt hat. Es ist ein Unterschied zwischen Mehr-Lesen und Mehr-als-Lesen. Wenn Angelus Silesius diesen Unterschied am Ende des Cherubinischen Wandersmanns in eins fallen lässt und auf den Punkt weist, an dem Mehr-Lesen sich nur noch durch Mehr-als-Lesen verwirklichen lässt, setzt er die Differenz beider voraus. Lesen und Lesen ist schon auf den ersten Blick nichts als eine Ausführung von Mehr-Lesen. Lesen kann nur zu immer weiterem Lesen führen. So reagiert die Überschrift Lesen und Lesen sehr angemessen darauf, dass die Aufgabe des Lesens
3. Lesen und Nicht-Lesen
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nur durch nichts als Lesen sinnvoll erfüllt werden kann. Das ist das Glück des Lesers, dass er nichts als Lesen kennt, Tag und Nacht, und dass er den Leseort nicht anderswohin verlässt, weder im Gehen, Stehen oder Sitzen Psalm 1,1–2. Warum ist Mehr-Lesen nichts als Lesen? Weil der Leser, falls ihn der Weg der Lesetheologie über Buchstabe, Schrift, Text, Literatur, Buch, Heilige Schrift geleitet hat, unfehlbar dem Gott des Buchstabens, der Schrift, des Textes, der Literatur, des Buches, der Heiligen Schrift begegnet, und zwar als solchem, der durch Mehr-Lesen in Erscheinung tritt. Daher kommt es, dass der Leser, sobald er aus dem Gebiet des Lesens in strengem Sinn heraustritt, sei es in Natur, in die Geschichte oder ins Leben, bestrebt sein muss, auch dies als Lesender zu tun. Denn Herausfallen aus dem Lesen bewirkt Zerstreuung anstelle von Sammlung, Weglosigkeit Psalm 1,4–6. Aus diesem Grund muss das Lesen metaphorisch gedehnt und überdehnt werden, und genau dies war es, was in Lesen und Lesen geschah und in den folgenden Paragraphen ausgereizt wurde. Wie im fünften Paragraphen selbst das Überschreiten des Lesens noch Lesen, so war im sechsten selbst die Liturgie noch Literatur, im siebten selbst das Leben noch Buch und im achten selbst der Psalter noch Heilige Schrift. Dabei ist völlig klar, dass, wie der Psalter unbeschadet dessen, dass er mehr Schrift ist, mehr als Schrift, und wie das Leben unbeschadet dessen, dass es mehr Buch ist, mehr als Buch, und wie die Liturgie, unbeschadet dessen, dass sie mehr Literatur, mehr als Literatur ist, so ist auch das Lesen zweiter Ordnung, unbeschadet dessen dass es Mehr-Lesen ist, in Wahrheit Mehr-als-Lesen sein muss. Und eben diesen Gesichtspunkt, der bisher hätte verborgen bleiben können, bringt der gegenwärtige neunte Paragraph mit der nötigen Klarheit ans Licht. Lesen und Nicht-Lesen ist der Klartext von Lesen und Lesen. Er hat seine Ursache darin, dass Mehr-Lesen ins Mehrals-Lesen kippen muss. Aber Mehr-als-Lesen – das war die These von Heike Gfrereis – ist mit Nicht-Lesen ein und dasselbe. Das heißt: Lesen und Lesen war bereits Lesen und Nicht-Lesen, nur so, dass das Mehr-als-Lesen noch versteckt lag unter dem Mehr-Lesen. Zugespitzt auf den vorangegangenen Paragraphen, von dem wir herkommen: Der Psalter ist ohne Zweifel Teil, Bestandteil der Heiligen Schrift und gibt deshalb noch mehr zu lesen; zugleich ist er auch mehr als die Heilige Schrift, und dies ist er durch das ihm eigene Nicht-Lesen, wie es – um die ganze Reihe noch einmal aufzunehmen – in Laut, Sprache, Rede, Liturgie, Leben zum Ausdruck kam. Sodass am Ende der Gott, der in der Folge des Lesens und Mehr-Lesens als Gott dieses Buchstabens, dieser Schrift, dieses Textes, dieser Literatur und Heiliger Schrift in Erscheinung getreten war, zugleich im Beschluss und Abbruch des Lesens als Mehr-als-Lesen, präzis: als Nicht-Lesen in Erscheinung tritt, genau so, wie die Vielfalt der psalmischen Tätigkeiten es will, die sich von Reden und Rufen bis zu Leben und Loben erstreckt und nur ausschließt, was keinen Odem hat.
§ 10 Lesekunst − Angelangt beim letzten Paragraphen meldet sich das Bedürfnis, ein Fazit zu ziehen. Lesekunst lautete das Versprechen von Anfang an. Als Fazit wird Lesekunst, sollte man meinen, wohl dasjenige sein, wohin die Theologie des Lesens den, der ihr folgt, entlässt, ihn also frei‑ und losspricht. Also müsste Lesekunst sich zum Korpus der Lesetheologie verhalten wie ein abstract oder Rapiat. Dann bestünde die Aufgabe dieses Paragraphen darin, einen Abzug zu liefern, der davongetragen werden kann. Mühsam erworben, sollte der Ertrag am Ende leicht sein. Kunst kommt von Können. Lesekunst scheint ein habitus acquisitus zu sein. Aber dass Kunst sich vom Können, dass der Habitus sich von seiner Akquisition separieren lässt, ist wenig wahrscheinlich. Jeder Spieler der Harfe, des Klaviers oder wessen auch immer, wird verneinen, dass sich der Habitualisierungsgewinn davontragen lässt. Ein erstes Ungemach droht. Kunst will sich nicht lösen von Können, Lesekunst will nicht abheben von der Mühe ihrer Akquisition. Kunst, Virtuosität muss vielmehr Tag und Nacht erneuert werden. Seltsames Gebaren der Lesetheologie: Sie wirft nichts ab, zahlt nichts aus, schenkt nichts. Wo bleibt ihre Frucht, ihr Benefit, ihr Gewinn? Kennt sie keine Dispensation? Selbst wenn der Ertrag von Lesekunst nicht lösbar sein sollte vom Weg ihres Erwerbs, soviel scheint deutlich: Es ist in jedem Fall Lesekunst, die, einerlei in welcher Art der Verfügbarkeit, das Fazit bildet. Also müsste der Ertrag dem Erwerb entsprechen, mit dem er den Namen teilt: Lesen. Wovon wir aber unmittelbar herkommen, ist Lesen und Nicht-Lesen, letzteres gar als Ereignis und Konsequenz des Lesens. Das streut Zweifel, ob es tatsächlich Lesekunst ist, die am Ende steht. Nicht-Lesekunst steht dem Ende der Lesetheologie so nah wie die Lesekunst. Das bringt weiteres Ungemach. Nicht nur ist Lesekunst nicht klar separierbar vom Weg, auf dem sie erzielt wird, sie ist nicht einmal klar in sich. Es scheint, als ob der Begriff Lesekunst nicht ruhen wollte, bis er die Nicht-Lesekunst, statt sie abzustoßen, in sich aufgesogen und den letzten Rest seiner Positivität in Negativität getränkt hat. Darf sich die Lesetheologie so aus der Affäre ziehen? Darf sie, wie auf der Bühne des Erasmus Frau Narrheit, der Selbstnegation auf den Leib geschrieben ist, ihre Mysten mit einem valete entlassen?1 Wohin entlässt Lesetheologie? Was kommt nach ihr? Was nach ihr kommt, ist nichts. Kennt die Lesetheologie keine Absolution?
1 Erasmus,
ΜΩΡΙΑΣ ΕΓΚΩΜΙΟΝ 1511, ASD IV/3, 194,276.
1. Was ist Lesekunst?
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Was soll dazu veranlassen, sich einem Unternehmen hinzugeben, das weder deutlichen Gewinn abwirft, noch eindeutig macht, woraufhin es unternommen wird? Man wollte entkommen und sagen: Lasst uns, sobald wir die Lesetheologie hinter uns haben, zu anderem übergehen, zu Reden und Singen, zu Handeln und Leben, plaudite, vivite, bibite. Und kaum greifen wir es an, erweist es sich als bereits imprägniert vom Lesen. Man kriegt Lesen nicht hinter sich. Man kriegt es nur so hinter sich, dass es wieder bevorsteht. Was ist Lesekunst?
1. Was ist Lesekunst? Was immer im letzten Paragraphen auf uns zukommt: es ist abhängig davon, was Lesekunst ist. Dass Lesen Kunst sei, dagegen wird sich kein vernünftiger Zweifel richten. Was sollte es sonst sein? Es müsste Natur sein, was abwegig ist. Sosehr erhebt sich Lesen über die Natur, dass die Fügung zu Lesekunst das Natürlichste sein dürfte. Aber damit ist schon, wie man merkt, jede Sicherheit erschüttert. Dasjenige, wogegen sich kein vernünftiger Zweifel richtet, hat sich in etwas verkehrt, was nur durch die Vernunft des Zweifels zur Darstellung gebracht werden kann. Auf die Frage Was ist Lesekunst? werden wir keine einfache Antwort bekommen. Von vornherein wird Lesekunst in eine Schwebung versetzt. Es ist an uns, das Schweben zur Wirkung zu bringen. a. Verbergen und Ausstellen Vom Antagonismus zweier Sätze ist auszugehen. Der erste: Dass Lesen Kunst ist, ist so klar wie dies, dass es nicht Natur ist. Lesekunst fügt nur zusammen, was schon zusammengehört. Der zweite: Dass Lesen Natur ist und dass Lesekunst auf Natur hinausläuft, ist ebenso klar wie dies, dass Lesen keine Kunst ist. Ist der erste Satz einfach, so der zweite vertrackter. Sobald Natur ins Spiel kommt, wird es unnatürlich. Das ist unbestritten: Es gibt Dinge, deren Natur es ist, gelesen zu werden. Des Weiteren sagt Luther: „Natura […] verbi est audiri.“2 So gesehen ist Hören weniger Kunst als Natur, die auf Natur antwortet. Was der Hörkunst recht ist, ist der Lesekunst billig. Sie antwortet darauf, dass es Dinge gibt, die gelesen werden wollen. Hierzu bedarf es keiner Verkünstelung, sie ist ausgeschlossen; Natur antwortet auf Natur. Ist es die Natur des Wortes, gehört zu werden, und die Natur der Ähren, gelesen zu werden, so ist es die Natur des Texts, gelesen zu werden. Lesekunst ist natürliche Antwort auf den Text, der gelesen werden will. Buchstaben, Schriften, Texte, Literaturen, Bücher, Heilige Schriften wollen gelesen werden. Es klingt 2 Luther, Erste Psalmenvorlesung 1513/15, WA 4, 9,19 f. Beutel, In dem Anfang war das Wort 1991, 127 f.
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§ 10 Lesekunst
paradox: Lesen ist Kunst nur dann, wenn sie keine Kunst ist. Und nicht nur sie. Man kennt Künste, die ebenso verfahren, allen voran die Rhetorik. Die Rhetorik ist unter den Künsten diejenige, die den Antagonismus von Kunst und Natur paradigmatisch für alle Künste in sich austrägt. Gewiss ist sie ars rhetorica, ars bene dicendi. Aber sie strebt danach, nicht bloß als ars bene dicendi, sondern vielmehr als ars dicendi wahrgenommen werden. Was gut gesagt wird, könnte schlecht gesagt werden; dass aber etwas überhaupt gesagt und nicht nicht gesagt wird, ist von ganz anderer Qualität. Es ist jenseits von gut und schlecht. Hier hat die rhetorische Devise ars est celare artem (Kunst ist, Kunst zu verbergen) ihren Sitz.3 Ein Blick auf die Herkunft dieses Mottos zeigt, dass es so alt ist wie die Rhetorik. Das Mittelmaß einzuhalten, sagt Aristoteles, sei das Angemessene. Anders als die Poetik, die auf der einen Seite von vornherein nicht in Gefahr steht, dem Banalen zu verfallen, auf der andern aber auch dem über alle Maßen Erhabenen nur allzu leicht verfällt, muss sich die Rhetorik, die die metrisch gebundene Rede meidet und sich der ungebundenen bedient, gegen Gefahr von zwei Seiten behaupten. Bestrebt, weder zu tief noch zu hoch anzusetzen, will sie das Mittelmaß wahren. Um nicht den Anschein gekünstelten Redens zu erwecken, dem es an Überzeugungskraft fehlt, wollen die Verfasser unmerklich bleiben (δεῖ λανθάνειν ποιοῦντας). Soweit geht Aristoteles nicht, das Gemachtsein vergessen zu machen. Das wäre das reine Paradox. Das aristotelische Philosophieren will Paradoxe ausschließen, um widerspruchsfreien Raum zu gewinnen.4 Es waren Spätere, die sie kultivierten. So Seneca d. Ä., die direkte Selbstnegierung von Kunst durch Kunst vermeidend und durch Unterscheidung von Teil und Ganzem abmildernd: „Ein Stück der Beredtsamkeit ist es, die Beredtsamkeit zu verbergen“ (Par[s …] eloquentiae, eloquentiam abscondere).5 Ebenso Quintilian, der das Paradox ungescheut auf Spitz und Knopf treibt: „wenn es überhaupt eine Kunst von Redenden gibt, dann in erster Linie die, nicht als Kunst zu erscheinen“ (si qua […] ars est dicentium, ea prima est, ne ars esse videatur).6 Gern würden auch wir uns dieser Regel befleißigen und uns im aristotelischen Mittelmaß halten, unter Ausblendung seiner paradoxalen Kondition. Aber Fakt ist, dass im Gang der Lesetheologie der Poetik in einem solchen Ausmaß der Vortritt vor der Rhetorik gestattet war, dass der Wunsch, die Kunst (ποίησις) zu verbergen, zu spät kommt. Wir können uns nicht hinter der rhetorischen Regel des Versteckens verstecken. Zu deutlich kam mit der Poesie das Erhabene und mit ihm der hohe Ton Platons, den Aristoteles zugunsten von Prosa unterdrückt wissen wollte. Und ebendasselbe Erhabene war es, das, Celare l’arte 1986; ders., Ars est celare artem 2005. Aristoteles, Rhet. III 2, 1404b3 f.18–20. 5 Seneca d.Ä, Contr. X, prooem. 14, 1202. 6 Quintilian, Inst. or. I 11,3; cf. IV 2,127. 3 D’Angelo, 4
1. Was ist Lesekunst?
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inspiriert von Longins gleichnamigem Traktat, seit Robert Lowths De sacra poesi Hebraeorum die Psalmenpoesie zum höchsten Grad der Deutlichkeit beförderte. So sollte man erwarten, dass Longin bei rechter Selbsteinschätzung genötigt ist, der rhetorischen Regel den Laufpass zu geben. Aber das Gegenteil ist der Fall. Selbst das Erhabene, das Aristoteles als gekünstelt aus der angemessenen Rede ausgeschlossen hatte, wird von Longin erneut der rhetorischen Regel unterstellt: „dann nämlich ist die Kunst vollkommen, wenn sie Natur zu sein scheint, und wiederum dann gelangt die Natur glücklich zum Ziel, wenn sie die Kunst unmerklich enthält“ (τότε γὰρ ἡ τέχνη τέλειος, ἡνίκ᾽ ἂν ϕύσις εἶναι δοκῇ, ἡ δ᾽ αὖ ϕύσις ἐπιτυχής, ὅταν λανθάνουσαν περιέχῃ τὴν τέχνην).7 Offenbar kann man sich von der rhetorischen Regel ars est celare artem noch so weit entfernen, lösen wird man sich von ihr nicht. Sie legt erst recht zu und begnügt sich nicht damit, der Kunst Natürlichkeit zu unterstellen, geht vielmehr soweit, bis der Natur Künstlichkeit zugesprochen wird. Ist aber Subjekt des Verbergens (λανθάνειν) nicht mehr der Mensch, sondern die Natur, der Selbsttätigkeit zugebilligt wird, dann wird für einen Moment sichtbar, welche Wirkung das Erhabene Longins auf die Genieästhetik ausübt, die sich an der Wirksamkeit der Natur festmacht. „Genie“, definiert Kant, „ist die angeborne Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.“8 Nun fließen in der Kunst Natur und Kunst so unmerklich ineinander, dass eine Art zweiter Natur zum Vorschein kommt. Es war die Rhetorik, welche die Devise celare artem ursprünglich entwickelt. Von dort dehnt sie sich auf andere Künste aus, sprachliche wie nichtsprachliche; was letztere anlangt vor allem auf die Malerei. Man spricht von der Rhetorisierung der Künste.9 Lässt diese sich auch ausdehnen auf die Lesekunst? Wir können dieser Frage nähertreten, indem wir die Schreibkunst dazwischen schieben, das Pendant zur Lesekunst. Niemand zweifelt: Es gibt Schreibkunst. Dann dürfte es auch die Lesekunst geben. Im Lateinischen steht der ars scribendi die ars legendi gegenüber, während im Griechischen die γραϕικὴ τέχνη, die geläufig ist, nicht mit derselben Selbstverständlichkeit die ἀναγνωστική zum Gegenüber hat. Aber ἡ γραϕική ist aufschlussreich, weil sie nach Aristoteles nicht nur die Schreibkunst, sondern auch, dem Umfang von γράϕειν entsprechend, die Malkunst umfasst.10 Kann man also, in Analogie zur Malkunst, eine Rhetorisierung der Schreibkunst annehmen? Zwar lässt sich nachvollziehen, wie die Malkunst der Regel des Verbergens der Kunst folgt, indem sie etwa den Strich des Pinsels kaschiert, der ihr Gemachtsein verrät. Aber für die Schreibkunst ist der scharfzeichnende Griffel (pencil) unverzichtbar. Folglich ist Schrift, anders als das Bild, darauf angewiesen, ihr Gemachtsein nicht zum Verschwinden, sondern zum 7 Longin,
De subl. 22, 1; cf. 17,1. Kant, KdU § 46, B 181, WW 5, 405 f. 9 v. Rosen, Celare artem 2003. 10 Aristoteles, Pol. VIII 3, 1337b24 f. 8
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§ 10 Lesekunst
Vorschein zu bringen. Die Schrift versteckt sich nicht, spielt ihre Künstlichkeit vielmehr aus. Der Schrift eignet mit Aristoteles Unangemessenheit, mit Longin Erhabenheit von vornherein. Allerdings kennt sie auch die umgekehrte Bestrebung. Obgleich einerseits im Dienst der Lesbarkeit, genauer, der Leserlichkeit, und daher darauf bedacht, sich in ihrem Gemachtsein klar und deutlich zu präsentieren, wenn nicht zu exponieren, folgt sie andererseits der Regel, ihr Gemachtsein tunlichst zu verbergen. Sie tut es, indem sie sich unter der Malerei versteckt, von der sie sich einmal getrennt hat. So in der Kalligraphie, so in jeder Art von Schriftzier. Hier wird Leserlichkeit überlagert durch Anschaulichkeit; Schrift wird nachträglich gesteigert zum Bild. Resultat: Keinesfalls folgt Schreibkunst im Sinn von celare artem der Rhetorisierung, wie es die verwandte Malkunst tut. Im Gegenteil: ausstellen, nicht verbergen will sie ihre Künstlichkeit. Sie will Exposition, nicht Okkultation. Und verbirgt sie sich in Schriftzier und Kalligraphie, dann ist dies ein Verbergen von anderer Art als das rhetorische. Es schafft eine Art zweiter Natur, die durch ihren prinzipiellen Manierismus von der Natur gründlich geschieden ist. Was ergibt sich für die Lesekunst? Der Schreibkunst verwandt, fügt sie sich nicht in die Rhetorisierung der Künste, so zutreffend diese an ihrem Ort sein mag. Auch gehorcht sie nicht der Vorschrift ars est celare artem. Die Lesekunst will sich exponieren, sich ausstellen in der Künstlichkeit ihres Gemachtseins. Dazu muss sie in Erscheinung treten. Dazu bedarf sie der sinnlichen Mittel. Um nur die höheren Sinne zu erwähnen: sie muss sichtbar und hörbar werden. Mehr, sie muss sich des Sensoriums insgesamt bedienen, daher die Exposition aller Sinne. Und wiederum muss sie, dem Doppelsinn des Wortes Sinn folgend, den Sinn hervortreiben, daher die Exposition des Sinnes. Bei aller Achtung vor der rhetorischen Regel, es sei Kunst, die Kunst zu verbergen: darin folgt ihr die Lesekunst nicht. Sie folgt ihr selbst dann nicht, wenn sie, analog zur Schreibkunst, Strategien des Verbergens aktiviert. Auch die Lesekunst wird, soweit sie sich von der Rhetorik entfernt, vom Bedürfnis der Unmerklichkeit und Latenz (λανθάνειν) eingeholt. Zu ihr gehören Gedenken und Vergessen. Dann versteckt sie sich in der Kunst, aus der sie herkam und von der sie sich einmal ohne Option auf Rückkehr getrennt hat. Wie die Schreibkunst den Doppelsinn von γράϕειν ausnützt, um sich in der älteren Bedeutung zu verstecken, so benützt die Lesekunst den Doppelsinn von legere, um sich in der archaischen Bedeutung des Sammelns zu verstecken. Sie macht sich unsichtbar in der Kunst des Sammelns (ars colligendi), von der sie sich definitiv getrennt hatte. Dann behauptet sie, Lesen sei nur das Zusammenbringen dessen, was schon immer zusammengehörte. Sie versteckt ihr Sammeln in Gesammeltheit. Aber wie sich die Schreibkunst ohne Rückkehr von der Malkunst getrennt hat, trennt sich auch die Lesekunst von der Sammelkunst, bei der sie zeitweilig noch, im Bild des Ähren‑ oder Weinlesens oder in anderen metaphorischen Ekstasen, gleichsam untersteht.
1. Was ist Lesekunst?
b. Der Terminus Lesekunst
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Der Terminus Lesekunst (ars legendi) ist von Herkunft her unscharf, doch so, dass zwei weit auseinanderliegende Gebrauchsweisen zu erkennen sind. Einerseits der Elementarlehre des Lesen-Lernens im Umkreis der Pädagogik zugehörig,11 wird er andererseits mit einer gewissen Preziosität gebraucht. Daher kann solchen, denen nach üblichen Maßstäben die Anerkennung, sie könnten lesen, nicht zu verweigern ist, die Widerrede entgegengehalten werden, ob sie denn überhaupt schon gelesen haben. Plötzlich macht die Lesekunst einen Qualitätssprung von der elementaren zur transzendentalen Ebene. Die Lesetheologie umspannt beide; deshalb ist von ihr nicht nur am Anfang die Rede als einer Fertigkeit, die zu allem weiteren vorausgesetzt wird, sondern auch am Ende als einer Geschicklichkeit, die von Mal zu Mal wächst. Das Wort Kunst kommt in der ganzen Weite seiner Ausschwingung zum Zuge. Stets Resultativum von Können, schwingt es zugleich zwischen handwerklich-technischem und künstlerischem Gebrauch. Dementsprechend begegnet Lesekunst nicht nur auf der Ebene der für niedrig geachteten Philologie, sondern auch auf der der Philosophie der Philologie, um den programmatischen Ausdruck der Frühromantik aufzunehmen. Mit Lesekunst greifen wir eine Verknotung auf, die Ende des 18. Jahrhunderts eingetreten ist. Johann Melchior Gottlob Beseke stellt 1786 die Frage nach dem Lesestoff „was soll man lesen[?]“ der Frage nach der Lesetechnik „wie soll man lesen[?]“ hintan.12 Dass gelesen werden kann, was zu lesen ist, darf vorausgesetzt werden. Nun schlägt Kants transzendentaler Ansatz durch. Vom Lesen schreitet man – so Beseke – weiter „zum Lesen selbst“, von der ersten „zur zwoten Lesung“.13 Streng genommen ist diese Lesen des Lesens. Damit werden Texte aus dem Kanon des Lesenswerten ausgeschieden, „die keiner zweiten Lektüre wert sind und damit auch die erste nicht verdienen.“14 Am selben Ort und zur selben Zeit meldet sich Samuel Heinicke zu Wort. In Aufnahme von Kant will er ausschließen, „unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten“, vielmehr „die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten“. Kants „Revolution“ wird übertragen auf das Lesen.15 Deshalb lautet Heinickes Mantra: „Es ist unmöglich durch Buchstabiren lesen zu lernen.“16 Dann bestimmt die zweite Lesung, was die erste gewesen ist. Der dem Lesen eigene Doppelschlag kann nicht anders als preziös formuliert werden. Ohne Zweifel ist bereits Lesen Lesekunst, aber emphatische Lesekunst entsteht erst durch Lesen des Lesens. Hier setzt die frühromantische Neufassung des Lesens an. Lesekunst, als Lesen 11 Etwa
Zeidler, ABC Buch, oder Schlüssel zur Lesekunst 1706. Ueber Lektüre 1786, 360. 13 Beseke, ebd. 365. 14 Schumacher, Die Ironie der Unverständlichkeit 2000, 162. 15 Kant, KrV, Vorrede 21787, B XVI, WW 2, 25. 16 Heini[c]ke, Ueber die Lesekunst 1786, 55. 12 Beseke,
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§ 10 Lesekunst
„in der 2 t Potenz“,17 wird ungesäumt zu künstlichem Lesen. „Das künstliche Lesen“, sagt Friedrich Schlegel, „besteht darin, daß man […] auch das Lesen andrer zu lesen sucht.“18 Wenn aber von anderen, dann liest und versteht niemand sich selbst „in so fern er nur er selbst und nicht zugleich auch ein andrer ist.“19 Dass ein Leser als er selbst zugleich als ein anderer liest, gehört seit § 6 zur Standardausstattung. Nun ist klar: Lesekunst, in unserem Kontext sowohl Anfang wie Ende der Lesetheologie, kann in erster und zweiter Potenz gebraucht werden, und erst die zweite setzt die erste richtig in Gang. Von der zweiten Lesung sagt Schlegel lapidar: „Die Lectüre ist eine Kunst.“20 In diesen Rahmen dürfte zu liegen kommen, was zur Lesekunst weit und breit zu finden ist. Vor Hugo von St. Viktor muss man nach thematisierter Lesekunst nicht suchen; Ivan Illich ist sicher: „das Didascalicon ist das erste Buch, das über die Kunst des Lesens geschrieben wurde.“21 Zwar ist die ars dicendi so alt wie die Rhetorik, aber die ars legendi ist nicht älter als Hugos Lesetheologie. Dieser These kommt zu Hilfe, dass das Französische, dem l’art de lire an sich schon vertrauter ist als Lesekunst dem Deutschen, Hugos De studio legendi mit ebendiesem Titel versieht.22 Faktisch verhält es sich aber ein ganzes Stück komplizierter. Nicht nur fehlt ars legendi im Titel, sondern auch im Text. Und wo im Text von ars die Rede ist, da steht nichts von legere, und umgekehrt. Von ars ist nur im ersten Teil Buch I–III die Rede. Aber Lesen geht durch beide Teile hindurch. Man ist versucht, die fehlende Reflexion auf die ars legendi nachzutragen. De facto ist Hugos Didascalicon eine Lesekunst, weil es diese auf zwei Ebenen, der säkularen und der spiritualen verhandelt und dennoch als Entfaltung eines einzigen Vorgangs versteht, eben des Lesens. Die zweite Ebene nennt Hugo denn auch, nicht weit von lectio entfernt, meditatio; legendo carpimus, sagt er, tractando ruminamus (Im Lesen pflücken wir, im Überdenken käuen wir wieder).23 Illich hat recht, wenn er das Didascalicon als Lesekunst für monastische Murmler bezeichnet.24 Gehen wir ans andere Ende von Lesekunst, historisch gesehen. Das Lesen entfaltet sich in einer kaum absehbaren Vielzahl von Oppositionen. Es gibt lautes und leises, mantisches und semantisches, einsames und gemeinschaftliches, schnelles und langsames, lineares und diagonales, instrumentales und mediales, wildes und domestiziertes, extensives und intensives, marginales und institu17
F. Schlegel, Philosophische Fragmente Erste Epoche II 1797, Nr. 927, KFSA 18, 106. Schlegel, Zur Poesie und Litteratur II 1799–1801, Nr. 669, KFSA 16, 309. 19 Schlegel, Philosophische Fragmente Erste Epoche II 1797, Nr. 651, KFSA 18,84 (im Original kursiv). 20 Schlegel, Philosophische Fragmente Zweite Epoche I 1798, Nr. 25, KFSA 18, 199. Cf. Novalis, Allgemeiner Brouillon 1798/99, Nr. 185, NS 3, 273: „Litteraristik“ als „Schriftsteller Kunst“ und „Kunst zu lesen“. 21 Illich, Im Weinberg des Textes 1991, 13. 22 Hugues de Saint-Victor, L’art de lire. Didascalicon 1991. 23 Hugo v. St. Viktor, Didasc. V 5, FChr 27, 334. 24 Illich, ebd. 47. 18
1. Was ist Lesekunst?
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tionalisiertes, ältestes und jüngstes Lesen. Einerlei ob so oder anders, gelesen wird immer. Es ist ein Unterschied, ob Lesekunst sich auf so und anders geartetes Lesen bezieht oder auf Lesen überhaupt. Einmal geht es um bestimmte Qualitäten von Lesen, das andere Mal um dieses schlechthin. Zum markanten Doppelschlag der Lesekunst gehört es, den Leser damit zu konfrontieren: War Lesen schon Lesen? An diese Stelle kommt der späte Friedrich Nietzsche zu stehen; dreimal hat er sich als Leser seiner selbst exponiert; dreimal beginnt er ein Vorwort mit einem Abschnitt, den er durch einen Geviertstrich vom Rest des Textes absetzt.25 Daher der Gedankenstrich, mit dem die Lesetheologie diesen letzten Paragraphen begann. Das erste Vorwort, der Versuch einer Selbstkritik, nach 14 Jahren der Neuausgabe der Geburt der Tragödie vorangestellt, begnügt sich nicht wie diese damit, „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn,“ sondern legt nach, um auch der „Kunst unter der [Optik] des Lebens“ gewahr zu werden.26 Eine ausdrückliche Reflexion auf Selbstkritik als Lesen erfolgt hier noch nicht. Der zweite Text, nach sechs Jahren als Vorrede der Neuausgabe der Morgenröthe vorangestellt, exponiert den Philologen als „Lehrer des langsamen Lesens“; „vollkommene Leser und Philologen“, die „gut lesen“, sind nur solche, die „langsam, tief, rück‑ und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen lesen“. Hier gewinnt eine bestimmte Art des Lesens, eben das langsame, Deutlichkeit durch Negation seiner Opposition; nur das Lesen, das „keine Eile“ hat, scheint dem sich selbst lesenden Vorredner angemessen.27 Erst die dritte und letzte Vorrede bleibt nicht bei verschiedenen Arten von Lesen stehen. Jenes anfängliche, der ersten Lesung zuzurechnende Lesen, das seine Aufgabe getan hat, wenn der Text „abgelesen“ ist, markiert den Punkt, an dem Lesen überhaupt erst beginnt. Nun „thut“, so Nietzsche, „Eins vor Allem noth,“ „das Lesen als Kunst zu üben“. Zu üben ist nicht eine bestimmte Qualität von Lesen, sondern Lesen schlechthin. In Aufnahme des Langsamkeitsmotivs spricht er davon, dass die Erfüllung von Lesen aussteht, bis „das Wiederkäuen“, das verlernt wurde, wiederkehrt.28 Und während Nietzsche an sich selbst denken mag, als er zu Beginn seiner Autorschaft das Wiederkäuen weit von sich wies,29 denken wir an die bei Hugo von St. Viktor nachwirkende Praxis monastischer Rumination, deren Weg ins Vergessen mit dem Aufkommen des effizienteren, schnelleren, rationaleren, scholastischen Lesens begann.30 25 Nietzsche,
KGW III/1, 15,2; V/1, 9,2; VI/2, 267,13. Nietzsche, KGW III/1, 8,9–11 (dort gesperrt). Crescenzi, Sich wandelnde Wahrheit 2013. 27 Nietzsche, KGW V/1, 9. Sallis, Doubly slow reading 2013. 28 Nietzsche, KGW VI/2, 267 f. 29 Nietzsche, KGW III/1, 246,22–34. 30 Bergk, Die Kunst, Bücher zu lesen 1799, zitiert auf dem Titelblatt die Lesekunst J.-J. Rousseaus als Motto: „Peu lire et beaucoup mediter sur les lectures, ou ce qui est la meme chose 26
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§ 10 Lesekunst
Wie insular auch die Belege für Lesekunst waren, auf die aufmerksam gemacht werden konnte, so sind zwei Gesichtspunkte hervorzuheben. – Den ersten kann man die Transzendentalisierung des Lesens nennen. Sie verdankt sich dem durch Kantianismus und Frühromantik angeregten Wiederlesen des Lesens. Keine Lesekunst, ohne dass sie sich selbst potenziert. Lesen muss Lesen werden. Lesen aber, wenn es denn gelingt, enthebt dessen, sich lesenderweise unendlich auszubreiten. Gewiss, auch einfaches Lesen ist Kunst und will gekonnt sein. Aber erst Lesen, als Lesen des Lesens, ist Lesekunst in des Wortes belangvollem Sinn. Plötzlich klingt Kunst, wie wenn sie von Anderem als Können käme, von Dürfen etwa, Müssen oder Sollen. Das sind erste und zweite Potenz der Lesekunst; sie vollziehen, was wir Ausschwingung nannten, deren Amplitude nicht weit genug vorgestellt werden kann. – Den zweiten Gesichtspunkt darf man beinahe als Renaturalisierung des Lesens bezeichnen. Er verdankt sich dem Wiederkäuen (ruminatio) der Mönche und Nietzsches. Dabei ist zu beachten, dass, was als Renaturalisierung der Kunst gilt, mit Longin eher Artifizialisierung der Natur ist, zweite, nicht erste, daher höhere Natur. – Halten wir fest: Einerseits können wir den Terminus der Lesekunst hineinstellen in den Kontext der rhetorischen Devise vom Verbergen der Kunst als Kunst, andererseits müssen wir ihn davon unterscheiden, weil die Künstlichkeit der Kunst geradezu ausgestellt wird. Lesekunst geschieht nicht nur verborgen, sondern auch ausgestellt; sie geschieht nicht nur μυστικῶς, sondern ἐκϕώνως. Oder, was dasselbe ist, sie geschieht leise und laut. Letzteres ist der Fall, wenn sie zur Deklamation wird.31 Diese ist nur eines der Beispiele, mit denen Lesekunst laut, als Prosphonese, ausgeübt wird.32
c. Zwischen memoria und meditatio Lesekunst steht zwischen zwei Arten von Gedächtniskunst, einer solchen, die die Künstlichkeit des Gedächtnisses beiseiteschiebt, einschränkt, verbirgt, und einer solchen, die sie hervortreibt, ausstellt, auslebt. Die erste nennen wir Günter Butzers Vorschlag folgend Meditation, die andere Memoria.33 Allerdings nur faut de mieux, denn meditatio ist aus keinem anderen Stoff gemacht als dem der memoria, nur einer andern als der, die sich in der Weise von Gedächtniskunst ausstellt. Also werden Meditation und Memoria unterschieden als verschiedene Weisen von memoria. Und ebenso sind beide verschiedene Stile von Meditation. Meditation und Memoria lassen sich auch unterscheiden als verschiedene Arten und Weisen von meditatio. In dieser gegenseitigen Durchen causer beaucoup avec ses amis, est le moyen de les bien digerer.“ Darnton, Rousseau und sein Leser 1985, 123, 144 f. 31 DWb 6, 1885, 773 s. v. Lesekunst. 32 Demme (pseud. C. St.), Ueber die Kunst gut zu lesen 1792. 33 Butzer, Rhetorik der Meditation 2000; ders., Art. Meditation 2001.
1. Was ist Lesekunst?
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dringung, der weder „[A]useinander“ noch „[N]ebeneinander“ fremd ist,34 hat die Lesekunst ihren Sitz. Zwischen beiden stehend, schwingt sie nach beiden Seiten aus. Um den Status der Lesekunst zwischen memoria und meditatio zu klären, ist auf die fundamentale Unterscheidung zurückzugehen, mit der die Rhetorica ad Herennium die Gedächtnislehre beginnt. Die Frage übergehend, ob memoria aus Kunst oder Natur hervorgeht, wendet sie sich ungesäumt dem künstlichen Gedächtnis zu. Gewiss gilt: „Sunt igitur duae memoriae; una naturalis, altera artificiosa.“ (Es gibt zwei Gedächtnisse, eins das natürliche, das andere das künstliche.) Aber der symmetrisch konstruierte Satz verdeckt eine Asymmetrie. Das natürliche Gedächtnis ist gut, das künstliche besser. Bisher lernten wir unter dem Stichwort celare artem die Seite des Verbergens kennen, nun kommt unter memoria artificiosa die Seite des Ausstellens zum Zuge. Die Herennius-Rhetorik lässt die memoria naturalis unbeleuchtet und stellt die memoria artificiosa ins Licht: „Nunc de artificiosa memoria loquemur“ (Nun wollen wir vom künstlichen Gedächtnis sprechen).35 Damit ist der Weg frei für Gedächtniskunst, die alsbald in klassischer Gestalt vorgestellt wird. Das künstliche Gedächtnis besteht aus Orten (loci) und Bildern (imagines); es verfährt so, dass Bilder an bestimmte Orte gestellt (collocare) und von dort wiedergeholt (colligere) werden. Ein Zug verdient hervorgehoben zu werden, Bilder sind desto memorierbarer, je absonderlicher sie sind.36 Gedächtnis lebt von Exposition und Monstrosität, Darbietungsweisen, die auch der Kunst nicht fremd sind. Die Umrisse der Gedächtniskunst sind bekannt, ebenso ihre Relation zur Lesekunst. Wie nämlich Lesekunst macht, dass diejenigen, die mit der Schrift vertraut sind (qui literas sciunt), schreiben, was ihnen diktiert wird, und wieder herbeirufen (recitare), was geschrieben ist, so bewirkt die Gedächtniskunst, dass diejenigen, die sie gelernt haben (qui μνημονικά didicerunt), das Gehörte sowohl an seinen Ort stellen (collocare), als auch von dort wieder vortragen (pronuntiare). Und kaum hat die Gedächtniskunst durch Ähnlichkeit zur Lesekunst an Kräftigkeit gewonnen, wendet sich das Blatt und sie tauscht zurück, indem sie ihrerseits die Lesekunst kräftigt: „Loci enim cerae aut chartae simillimi sunt; imagines, literis; dispositio et collocatio imaginum, scripturae; pronuntiatio, lectioni.“ (Orte sind genauso wie Wachs und Papier, Bilder wie Buchstaben, Ordnung und Aufstellung von Bildern wie Schrift, wiederholender Vortrag wie Lesen.)37 Auf dem Umweg über Gedächtniskunst kommt man auf Lesekunst anders zurück. Obgleich sie es war, die die Gedächtniskunst plausibilisierte, ist es jetzt die Gedächtniskunst, die die Lesekunst als Weise von Gedächtnis durchsichtig macht. Die Lesekunst erfährt sich nicht mehr als solche, die das Gedächtnis hervorbringt, sondern als 34 Butzer,
Rhetorik der Meditation, 58. Rhet. ad Her. III 16,28–29. 36 Rhet. ad Her. III 22,35–37. 37 Rhet. ad Her. III 17,30. 35
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§ 10 Lesekunst
eine, die aus dem Gedächtnis hervorgebracht wird, sobald dieses seine künstliche, ausstellende Kraft exzessiv auslebt. Es bleibt nicht bei der einseitigen Akzentuierung der Gedächtniskunst, durch die die Herennius‑Rhetorik hervorsticht. Sie hat ihre außerordentliche Wirkungsgeschichte erst noch vor sich. Quintilian nennt sie nützlich und referiert sie pünktlich. Aber er bezichtigt sie auch der unnötigen Verdopplung von etwas, was einfacher zu erreichen gewesen wäre.38 Statt den Umweg über die Ausstellungen der Gedächtniskunst zu gehen, sollte der Redner den Text lieber direkt dem Gedächtnis übergeben, in genau der Bildform wie auf der Wachstafel Zeile für Zeile (versus) zu sehen. Dann verhält es sich beim Wiederabrufen so, dass er spricht, als ob er läse (dicit similis legenti).39 Obwohl diese Art der Gedächtniskunst der oben geschilderten nicht unähnlich (non dissimilis) ist, vermeidet sie deren Superlativ simillime, der seine forcierte Künstlichkeit nicht verbergen kann, und begnügt sich mit einfachem simile. Wenn jemand aus einem solchen Gedächtnis redet, ist es nicht nur, als ob er läse, sondern er liest beim Reden tatsächlich, was er vor dem inneren Auge erblickt. Die Wahrnehmung des geschriebenen Textes mit den Augen ist effektiver als die mit den Ohren, so sehr diese unterstützend sekundiert. Ein gedämpftes Murmeln (murmur) mag deshalb beim Auswendiglernen hinzukommen.40 Zudem ist klar, dass Poesie (versus) leichter zu memorieren ist als Prosa (prosa), und von der Prosa die rhythmisch gebundene (iuncta, v.l. vincta) leichter als die ungebundene (dissoluta).41 Aber generell gibt es kein Auswendiglernen ohne Übung und Fleiß (exercitatio, labor), Tag für Tag, wobei die Nacht durch Erholung das Memorieren unterstützt. So rückt die auf Gedächtniskunst verzichtende Memorierarbeit – darin hat Butzer recht – in direkte Nähe zu späteren mönchischen Praktiken; dazu gehört der murmur, die Wiederholung (iteratio, repetitio), anschaulicher: das Wiederentrollen (revolvere) der Buchrollen, drastischer: das Wiederkäuen (remandere) derselben Speise.42 Quintilian befindet sich nicht nur in der Linie der monastischen oder nietzscheschen ruminatio, sondern fügt den Terminus meditatio gleich noch hinzu. Meditation ist das Bestreben, den Text (contextus verborum) selbst, unter Verzicht auf die Umwege der memoria artificiosa, zu memorieren, wieder und wieder.43 Nur soweit, die Meditation, weil durch eine Vielzahl von Metaphern des Essens, Verdauens und Wiederkäuens beschrieben, mit Butzer der memoria naturalis zuzuordnen,44 wollen wir nicht gehen. Auch sie bleibt Teil der ars memoriae,45 nur ein solcher, der, dem Ausstellen entgegengesetzt, die Kunst 38
Quintilian, Inst. or. XI 2,26. Quintilian, ebd. XI 2,32. 40 Quintilian, ebd. XI 2,33–34. 41 Quintilian, ebd. XI 2,39. 42 Quintilian, ebd. XI 2,40–41. 43 Quintilian, ebd. XI 2,28. 44 Butzer, Rhetorik der Meditation, 58; ders., Art. Meditation, 1016 f. 45 Quintilian, ebd. XI 2,40. 39
1. Was ist Lesekunst?
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verbirgt. Im Reden zu lesen: das ist der kürzeste Weg der Gedächtniskunst. Der kürzeste Weg der Gedächtniskunst ist die Lesekunst. Kommt also die Lesekunst zwischen memoria (die forcierte Gedächtniskunst, die ausgestellte, memoria artificiosa) und meditatio (auch sie Gedächtniskunst, nur die verborgene; der memoria naturalis nah, aber nicht zu verwechseln mit ihr) zu stehen, so fragt es sich: Wo bleibt die memoria naturalis, von der sich die Herennius-Rhetorik eingangs abwandte? Ihrer Unverfügbarkeit wegen wird sie von Cicero als geradezu übermenschliches, göttliches Gedächtnis (divina prope memoria) bezeichnet.46 Eine Reminiszenz daran, dass einst dem Mythos memoria als göttliche Gabe galt, ist nicht auszuschließen.47
d. Vierfache Lesekunst An vier Enden begegnete die Lesekunst in besonderer Deutlichkeit, dabei jeweils so, dass zwei in polarem Bezug standen. Einmal war es auf der Linie Quintilian, Hugo von St. Viktor und Nietzsche die Entgegensetzung von memoria und meditatio, beide künstliche Gedächtnisse, wiewohl mehr oder weniger, einmal ausgestellt und vorgezeigt, das andere Mal verborgen und versteckt. Und je nachdem, welchem Ende sich die Lesekunst mehr zuneigte, ergab sich während des Redens einmal ein Lesen in Orten und Bildern statt in Wachs, Papier und Lettern, das andere Mal ein Quasi-Lesen, das aber de facto wirkliches Lesen in Schrift und Schreibtafel ist. Dementsprechend verschieden gestalteten sich die Arten des Lesens. Auf der einen Seite die memoria, für die nur das Ausgefallenste, Absonderlichste gut genug war, in der klassischen Gedächtniskunst in erster Linie Erscheinungen, die den Sehsinn ansprechen; daher ihre Entfaltung in Ikonik und Architektur. Aber nichts hindert, die Sinne des Menschen aus dem Gängelband eines einzigen, der für maßgebend gehalten wird, zu entlassen und etwa im Hörsinn nach dem Auffallendsten und Merkbarsten zu suchen, oder in welchem Sinn auch immer. Marcel Jousse ist bis zu den Bewegungen des Leibes gegangen, um die Memorierbarkeit eines Textes durch Kunst zu unterfangen. Auf der anderen Seite die meditatio, die unter Verzicht auf künstlichen Aufwand dem puren Auswendiglernen eines Textes nähersteht, sich diesem daher direkt und unumwunden zuwendet. Obwohl es fast den Anschein erweckt, als entstehe dabei ein natürliches Gedächtnis, ist es doch nur das künstliche, das sich unter Metaphern leiblicher Vorgänge versteckt, wie die Kunst, sich als Kunst zu verbergen. Mit dieser doppelten Gestalt von Lesekunst werden wir es zu tun haben, indem wir das Lesen in die eine wie die andere Richtung verfolgen. Es soll so memorierbar und meditierbar sein wie möglich. Auf der einen Seite wird Lesen immer 46
Cicero, De orat. II 88,360; cf. Tusc. I 26,65: divina […] vis. Platon, Theait. 191d: δῶρον […] τῆς τῶν Μουσῶν μητρὸς Μνημοσύνης; Cicero, Tusc. I 26,64 f. 47
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lauter, sichtbarer, wahrnehmbarer, ästhetischer, auf der anderen immer leiser, unsichtbarer, unspürbarer, noetischer. Man versteht die Opposition von lautem und leisem Lesen meist historisch als Abfolge von Epochen; hier dagegen wird sie sachlich verstanden. Daher kann sie auch umgekehrt werden, sodass zuerst die Seite des stillen Meditierens § 10.2, dann die des lebhaften Memorierens § 10.3 thematisiert wird. So sehr beide Abschnitte in entgegengesetzte Richtungen führen: klar ist, dass es sich um Entgegensetzungen auf ein und derselben Linie handelt. Das ist die erste Linie. Wenn mit der Unterscheidung von lautem und leisem Lesen zwei polare Arten des Lesens in Führung gehen, erhebt sich die Frage: Ist es nicht das Lesen selbst, nicht bloß seine Arten, das in der Lesetheologie im Fokus steht? Hier zeigt sich eine zweite Linie, die die erste kreuzt. Sie wird durch Kantianismus und Frühromantik dokumentiert. Sie verlief polar vom elementaren Lesenlernen der Pädagogik bis zum selbstreflexiven Lesen des Lesens, und während auf der einen Seite Mühe und Übung des Erwerbs im Vordergrund stand, war es auf der andern Seite die Unverfügbarkeit eines Geschenks, die das Lesen des Lesens, obgleich an Künstlichkeit nicht zu übertreffen, erscheinen ließ, als ob es natürlich wäre: unvermutete Erfüllung dessen, was mit der memoria naturalis, die nahe an die divina memoria streifte, gemeint war. Diese Linie flicht sich bereits in § 10.2 und 3 ein und kommt in § 10.4 zum Ziel. Dabei ist klar, dass die beiden polaren Linien nicht unverbunden zu sehen sind; sie überschneiden und überkreuzen sich im Lesen. In diesem Feld gibt es keinen Punkt, der nicht, so verschieden er in Färbung und Tönung sein mag, darin gleich ist, dass alle Elemente des vierfachen Lesens sich in ihm finden.
2. Das sich selbst verbergende Lesen Wir beginnen, anders als die Geschichte des Lesens es nahelegt, mit der Leseweise, die als die übliche erscheint. Leises Lesen ist die Regel, lautes die Ausnahme, nur Kindern und Alten zugestanden und besonderen Anlässen vorbehalten, die mit bedeutsamem Unterton als Lesung bezeichnet werden. Also geht der Weg vom Gewöhnlichen zum Außergewöhnlichen, vom Normalen zum Raren. Dabei liegt die Frage in der Luft: Warum, wenn Lesen in stiller Form die Regel ist, bedarf es darüber hinaus eines Lesens, das sich eigens in Szene setzt? – Was ferner die Unterscheidung von sich verbergendem und sich ausstellendem Lesen anlangt, so scheint sie mit der von leisem und lautem Lesen identisch zu sein. Gewiss dürfte die Unterscheidung von leise und laut die durchschlagende sein. Niemand wollte sich dem schmeichelnden Klang der Wendung leises Lesen entziehen und das laute etwa nicht als Zumutung empfinden. Unsere Richtung dagegen verläuft stracks umgekehrt vom leisen zum lauten; wir wenden uns von den öffentlichen Foren leisen Lesens zu den
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beschränkt öffentlichen des lauten, die erst recht Öffentlichkeit beanspruchen und das leise Lesen zu einer Sache von Privatheit erklären. Mit leisem Lesen darf jeder an die Öffentlichkeit treten, sofern diese den Rückzug in konzentrierte Stille gestattet, mit lautem Lesen dagegen nur eingeschränkt, weil der Vortrag die Öffentlichkeit nicht lässt wie sie ist. Nicht nur die Geschichte des Lesens, auch der Schwierigkeitsgrad, das Lesen wirklich durchzusetzen, macht das Gefälle vom lautem zum leisen Lesen plausibler. Dem steht unser Gegengefälle entgegen. Wir lösen uns von den verführerischen Einflüsterungen der Unterscheidung von leise und laut und wählen mit der Opposition verbergend/ ausstellend zwei äquipollente Weisen des Machens, also der Kunst, Lesen ins Werk zu setzen. Beide sind Lesekunst, beide sind daher auch willentlich und wissentlich zu betreiben. – Was schließlich das Reflexivum selbst anlangt, das sich in die Überschriften von § 10.2 und § 10.3 eingeschlichen hat, so steht es dafür, dass von vier-, nicht bloß zweifacher Lesekunst die Rede ist, das heißt, dass in jeder Ausschwingung zwischen Verbergen und Ausstellen auch die zweite Polarität gegenwärtig ist, die durch referentielles Lesen einerseits und selbstreferentielles andererseits überkreuzt wird, das erste elementar und allgemein, das zweite prekär und speziell. Während die Lesetheologie die Arbeit elementaren Lesens schon als getan voraussetzt, steht Lesen des Lesens noch aus. Das Lesen des Lesens ist es, das in beide Formen, Verbergen und Ausstellen, das sich einträgt. Warum sind nicht nur wir es, die Verbergen und Ausstellen ins Werk setzen? Was nötigt, allen Ernstes eine so manifest hypostasierende Redeweise ins Auge zu fassen? a. Lesen auf Sinn Es war Marshall McLuhans These, der Übergang vom Manuskript zum Buchdruck bewirke Änderungen des Lesens; hier wandle sich das laute Lesen in Gruppen unter Führung des Hörsinns zum leisen Lesen Einzelner unter Vorherrschaft des Sehsinnes. In ihrer Plakativität bot diese These Anregung und Angreifbarkeit. Woher kommt stilles Lesen (silent reading)? Wer zum Lesen auf Sinn gelangen will, muss die Herkunft stillen Lesens erklären. Kein Lesen auf Sinn, ohne dass die Sinne zum Schweigen gebracht werden. Ein Vorgang, der kühn, wenn nicht verwegen erscheint. Zum Gewinn von Sinn wird der Verlust dessen vorausgesetzt, was mit genau demselben Wort Sinn bezeichnet wird, nicht etwa mit Unsinn, was begreiflich wäre. Wie das Lesen auf Sinn an Sinn gewinnt in des Wortes sinnhafter, unsinnlicher Bedeutung und dennoch das, was es zurücklässt, nicht etwa Unsinn ist, sondern wiederum Sinn, nur in des Wortes sinnlicher Bedeutung, so auch der Übergang vom lauten zum leisen Lesen. Folglich ist dieser Übergang davon bestimmt, dass sein Gewinn auf der einen Seite nicht den Verlust auf der anderen nach sich zieht, sondern Gewinn auf beiden Seiten bringt, allerdings höchst verschiedenen.
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So entfaltet der Doppelsinn von Sinn seine spekulative Kraft.48 Während wir das Lesen auf unsinnlichen Sinn trimmen, hört der sinnliche Sinn, von dem wir uns dabei immer weiter entfernen, nicht auf, immer noch bevorzustehen, und zwar je entfernter auf der einen, desto näher auf der anderen Seite. So steht McLuhans These zur Herkunft des stillen Lesens in der Klammer eines Paradoxes, das bewirkt, dass das laute Lesen wiederkehrt. Lesen auf Sinn wird umklammert von Noesis und Aisthesis. Um noetisches Lesen zu werden, lässt es das ästhetische hinter sich. Aber Lesen auf Sinn zieht Lesen für die Sinne und mit den Sinnen nach sich. Dass die These von Josef Balogh, stilles Lesen sei die Entdeckung des Mönchtums und seines Jahrtausends, nicht erst des Buchdrucks,49 bereits vorlag, hat McLuhan wohl übersehen. Aber Baloghs Zurückdatierung kann umso weniger genügen, als das Mönchtum mit der Praxis ausgesprochen lauten Lesens wenigstens begann. Da ist – an Kraft der Verlautbarung und in Bindung ans Lesen nicht zu übertreffen – der liturgische concentus an erster Stelle, der Gesang von Antiphonen, Responsorien und Hymnen; sodann die Formen des rezitativischen accentus, der Sprechgesang von Psalmen, Orationen und Lektionen, zwar nicht modulierend (modulatio), doch laut vorgetragen (pronuntiatio);50 dort ist, über welche Zwischenstufen auch immer, das beinah leise Lesen, Lesen für sich, zwar stimmlos, aber mit Bewegung der Zunge und Lippen, ohne Zweifel ein Grenzfall von Rezitation, der vom lauten Lesen her erklärt werden will: fast leises Lesen,51 nicht das leise schlechthin, das Balogh hätte erklären sollen. Deshalb hat Paul Saenger die grobschlächtige Rede vom leisen Lesen aufgefächert nach verschiedenen Zeiten und Orten, an denen gelesen wird, ob im Chor, im Kapitel, im Kreuzgang, im Skriptorium, in der Bibliothek, in der Zelle. Dabei zeigt sich: Das Mönchtum ist eher Schauplatz als Stimulus des Übergangs zum stillen Lesen. Erst im Hochmittelalter, so Saenger, entstehe Lesen mit den Augen allein, und wie in Hinsicht auf Schreiben der dictator zum scriba mutiert, so in Hinsicht auf Lesen das legere zum videre oder inspicere.52 Ja, das stille Lesen, das nach Baloghs These im Mönchtum hätte erfunden werden sollen, ist nach Saenger eine sogar höchst kontraproduktive Kraft. Sie macht am Ende die monastische Lebensform überflüssig, und wie das laute Lesen an Effizienz gewinnt nicht in der lectio divina, sondern in der Öffentlichkeit der scholastischen Vorlesung, so das leise in der Privatheit spiritueller Exerzitien. Vom Übergang des monastischen Lesens zum scholastischen war bereits beim Didascalicon Hugos von St. 48 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, WW 13, 173. Cassirer, Das Symbolproblem 1927, 8. 49 Balogh, ‚Voces paginarum‘ 1928. 50 Isidor von Sevilla, Etym. VI 19,9; ders., De eccl. offic. I 5,2: pronuntianti vicinior […] quam canenti. 51 RB 48, 5: qui voluerit legere sibi, sic legat, ut alium non inquietet; Hugo v. St. Viktor, Didasc. III 7, FChr 27, 240: privates Lesen als per se inspicere. 52 Saenger, Silent reading 1982, 383–388.
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Viktor die Rede; Saenger dagegen loziert diesen Übergang in der Wende zum stillen Lesen um 1300,53 und gewiss wäre es nicht falsch, auch Spätmittelalter und Reformation dieser Wende zuzuordnen. Selbst wenn die Entstehung des stillen Lesens weiter hinter die von McLuhan genannte Schwelle zurückfällt, dürfte es eine Epoche der Dominanz lauten Lesens wohl gegeben haben: die Antike bleibt noch. In der Tat wirken Jesper Svenbro zufolge antike Texte, geschrieben in Majuskeln ohne Abstände und Hilfszeichen, wie Inschriften, durch Menge erweitert; sie dienen dem Ziel, die abwesende Stimme des dictator durch die anwesende des lector zu ersetzen, um im akustischen Raum den Ruhm des Verfassers zu vergegenwärtigen.54 Geschah Lesen in der Antike laut? Augustins Erstaunen über den Anblick des still, nur mit den Augen lesenden Ambrosius wurde stets als Markierung der oberen Grenze der Antike verstanden.55 Aber kaum ist die Antike zum Rückzugsort für lautes Lesen geworden, melden sich Stimmen, die silent reading vor Augustin beobachten. So Michael Slusser, der bei Cyrill von Jerusalem junge Frauen erwähnt findet, die nach dem Vorbild Hannas 1. Samuel 1,13 zwar die Lippen bewegen, aber keine Stimme betätigen.56 So Frank D. Gilliard, der sogleich More silent reading in Antiquity nachschiebt.57 Unbestritten bleibt auch Bernard M. W. Knox’ noch weiter zurückreichender Hinweis auf das athenische Theater, das stilles Lesen nicht nur erwähnt, sondern auch auf der Bühne praktiziert.58 Gibt es also Nachrichten von stillem Lesen, soweit es Nachrichten von Lesen gibt, können wir die Historie vernachlässigen und uns der Sache zuwenden. Es gibt Lesen auf Sinn, das wir noetisches Lesen nennen; es löst sich von der sinnlichen Bedingtheit, die dem Lesevorgang anhaftet. Dem entspricht die Stille des Lesens. Lesen auf Sinn kennt nur eine Grenze. Sie wird empfindlich, sobald man zum lauten Lesen übergeht. Anders als der Sehsinn, der dazu neigt, sich in seiner Sinnlichkeit wegzustreichen, imponiert der Hörsinn und bindet den Leseprozess an die sinnliche Produktion. Während Lesen mit den Augen allein sich des Vorteils bedient, dass die Klarheit des Sehens sich fast unmittelbar in noetische Klarheit verwandelt, begibt sich das Lesen mit den Ohren in eine Dunkelheit, die mit zunehmender Sinnlichkeit undurchdringlich wird. Hier liegt der Grund, weshalb wir uns von historischen Modellen der Rationalisierung des Lesens lösen. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, darzustellen, wie es von dunkleren, sinnen‑ und leibgebundenen Vorformen des Lesens zur rationalen Klarheit desselben kam. Auch nicht darin, die eingetretene Entsinnlichung des Lesens zu beklagen. Sondern, nachdem das rationale Lesen auf Sinn 53 Saenger,
ebd. 405. The ‚voice‘ of letters 1987, 32, 45. 55 Augustin, Conf. VI 3,3: tacite legere. 56 Slusser, Reading silently in Antiquity 1992. 57 Gilliard, More silent reading in Antiquity 1993. 58 Knox, Silent reading in Antiquity 1968. 54 Svenbro,
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am Tag ist, besteht unsere Aufgabe darin, dieses auszuüben, dann aber auch zu fragen, was veranlasst, das Lesen auf Sinn wiederum einzubinden in ein Lesen mit allen Sinnen.
b. Die prinzipielle Zweidimensionalität des Lesens Lesekunst, soweit sie sich verbirgt, erfordert prinzipiell die Zweidimensionalität des Lesens, wie sie im Lauf der Lesetheologie entfaltet worden ist und nun in einem Blick vor uns liegt. Zweidimensionalität war bereits beim Buchstaben zugegen. Er besitzt Länge und Breite, verbirgt sie aber nicht, stellt sie vielmehr längs und breits dar. Erst wenn Buchstabe an Buchstabe gestellt wird und also Schrift entsteht, taucht ein Unterschied auf. Unterschiede sind nicht an sich sichtbar, zeigen sich aber am Sichtbaren. Sie müssen in Gedanken gezogen werden. Ein ernstzunehmender zweidimensionaler Unterschied ist erst zugegen, wenn die Schrift sich zum Text ausdifferenziert. Ein Text hat zwei Dimensionen, und anders als so gibt es, wie die Etymologie lehrt, keinen. Unsichtbar wie sie sind, erscheinen sie gleichwohl am Sichtbaren. Ist das Sichtbare des Textes wie üblich schwarz, können die Dimensionen rot hervorgehoben werden als Hilfsmittel, das wieder verschwindet. Erst mit dem Text kommt ein Begriff des Lesens, der theoriefähig ist. Ohne Zweidimensionalität kein nennenswerter Lesebegriff. Daher die prinzipielle Zweidimensionalität. Wenn die prinzipielle Zweidimensionalität des Lesens mit dem Text erreicht ist, warum ist sie mit ihm nicht schon erfüllt? Die Antwort ergibt sich aus dem Leseprozess selbst. Blinder Fleck Gehen wir aus vom Text, scheint seine Zweidimensionalität darin zu bestehen, dass er nach Strich und Faden, waagrecht und senkrecht strukturiert ist. Das erzeugt eine Binnenspannung, meist von geringer Kraft. Die Entscheidung, welcher Textteil an welchem Ort zu stehen kommt, ist dem Seitenformat geschuldet, also zufällig. Aber eine Binnenspannung, die sich als von außen bedingt erweist, ist ihres Namens nicht wert. Gesucht ist innere Spannung. Immerhin zeigt sich: Ein Text hat lösende Kraft; sie bewirkt Diversifizierung, die unendlich sein kann. Ein Text hat aber auch bindende Kraft, die die Diversifizierung einschränkt. Und keine Kraft ist ohne die andere. Lösung ohne Kontrast zur Bindung würde zur Auflösung, Bindung ohne Kontrast zur Lösung zur Strangulation führen. In diesem doppelt dimensionierten Feld lässt sich erkennen, was Binnenspannung ist. Sie ist ein Binnenhalt, gewährt vom Text, nicht von der Welt, auf die sich der Text bezieht und zu der er gehört, also Halt ohne Halt, Halt im Haltlosen, im Suspens. Binnenspannung entsteht, wenn die waagrechte Ordnung eine bestimmte senkrechte erzwingt, oder umgekehrt. Im ersten Fall herrscht Zentrierung des Texts auf eine Achse, im
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letzten herrscht Bündigkeit, einerlei ob rechts‑ oder linksbündig. Leerstellen im Textspiegel sind die Folge. Erfüllt werden die Leerstellen erst, wenn beide Bedingungen zugleich zutreffen. Nur minimal wenige Texte sind von der Art, dass sie zugleich ganz waagrecht und ganz senkrecht gelesen werden können. Sie sind zudem auf das Seitenformat des Quadrats beschränkt, das selten angetroffen wird. Das Textquadrat ist Zwang pur, Binnenhalt als Tortur. Es lehrt: Durch Lesen in zwei Dimensionen ist noch keine Zweidimensionalität des Lesens entstanden. Im Gegenteil: Sobald zwei Dimensionen im Text anwesend sind, ist ihr Sinn durch die Sinne blockiert. Erst wenn eine Dimension als abwesende anwesend ist, wird aus der gegebenen eine prinzipielle Zweidimensionalität. Deshalb hat Roman Jakobson die Textzeile nicht der waagrechten Reihe der Kontiguität überlassen, die sichtbar und affirmativ ist, sondern sie der Regie der senkrechten Reihe der Similarität ausgesetzt, die unsichtbar und negativ ist. Prinzipiell zweidimensional ist das Lesen nicht deshalb, weil Texte sich sichtbar im Buchstabenquadrat erfüllen, sondern weil ihre Sichtbarkeit die linke Seite einer unsichtbar bleibenden rechten ist. Nur weil das Lesen der waagrechten Zeile der Kontiguität nicht folgen kann ohne sichtbar-unsichtbar wahrzunehmen, wie die senkrechte Achse der Similarität in sie einfällt, kommt ihm prinzipiell Zweidimensionalität zu. Ist dies die Voraussetzung, um vom Text zu Literatur, Buch, Heiliger Schrift zu gelangen, sind andere Wege blockiert. Sie sind genauso blockiert, wie schon der Text, sofern Buchstabenquadrat, blockiert sein konnte. Blockiert ist der Weg vom Text zur Literatur, wenn die Aussonderung von Literatur Merkmalen folgt, die von außen an sie herangetragen werden. Ist der Dogmatismus des Wahren, Guten und Schönen erst einmal da, dann lässt sich schnell sagen, was schöne Literatur ist im Unterschied zu anderen Texten. Und warum sollte man nicht, wenn sich die Welt der Texte so aufwandslos gliedert, über das Wahre, Gute und Schöne hinaus das Kompartiment des Heiligen auftun, mit dem der Dogmatismus nach der Meinung der Meisten innigst verbunden ist: und schon wäre die heilige Schrift aus dem Hut gezaubert. Eine solche Sicht auf die Heilige Schrift wollten wir nicht einmal der Literaturtheorie zumuten, geschweige denn der Theologie. Der Theologie nicht, weil sie mit einem Pyrrhussieg nicht leben kann, der Literaturtheorie nicht, weil sie mit ihrem Wissen von der schönen Literatur die Auskunft, was Literatur ist, schuldig bleibt. Die Theologie des Lesens folgt nicht gegenstands‑ oder fachbezogenen Textsorten, die sich in extenso Stück für Stück an‑ und nacheinander reihen lassen, um in einem Moment maximaler Ermüdung die Heilige Schrift zu lancieren, sondern folgt dem Ineinander, das sich durch Intensivierung des Textbegriffs und in eins damit durch Intensivierung des Lesebegriffs ergibt. Intensivierung geschieht durch Asymmetrie. Alle Literatur ist Text, aber nicht jeder Text ist Literatur. Alle Heilige Schrift ist Literatur, aber nicht jede Literatur ist Heilige Schrift. Und, bis zur Sublimität gesteigt, steil und erhaben: alles Lesen ist Lesen, aber nicht alles Lesen
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ist Lesen. Diesen Satz, der stracks erblinden müsste, wenn er nicht sehend machte, können wir der Lesetheologie auf ihrer Spitze nicht ersparen. Als Bedingung ihres Sehenkönnens beschreibt er deren blinden Fleck. Das heißt: Lesen ist prinzipiell zweidimensional. Oder: In dem einen Wort Lesen überkreuzen sich zwei Dimensionen, wenn man so will, Lesen und Lesen.
Diskontinuität Dass die Zweidimensionalität des Lesens zu tun hat mit der Differenz von Poesie und Prosa, war von Anfang an mit Händen zu greifen. Die zwei Dimensionen des Texts weisen in die divergenten Richtungen der gebundenen und ungebundenen Formatierung, wenn ungebunden, dann mit Dominanz der waagrechten, wenn gebunden, mit Dominanz der senkrechten Achse. Prosa drängt auf Extension, Poesie auf Intension. Dem entspricht die Literaturtheorie, indem sie Ordnungen wie Epik, Dramatik und Lyrik vorschlägt, ein Verfahren, das von oben oder von unten beginnen kann, einmal mit der steilsten Lyrik, das andere Mal mit der ins Breite auslaufenden Epik. Beide Verfahren arbeiten damit, dass sie die den Texten eingeborene Zweidimensionalität verschieden zum Zuge bringen. Literatur ist den Texten intrinsisch. Zwar bleiben immer mehr Texte als nichtliterarisch auf der Strecke, aber ohne dass äußere Gewalt eingreift. So liegt ein Textgebiet vor uns, das den Eindruck eines Poesie-Prosa-Kontinuums erweckt. Das Kontinuum wäre das sicherste Zeichen dafür, dass der Text frei bleibt von äußeren Ein‑ und Ansprüchen, um seine eigene Binnenspannung zu entwickeln und Binnenhalt zu gewähren. Jedoch gibt es das Kontinuum nur auf den ersten Blick. In Wahrheit ist die Differenz von Poesie und Prosa unabhängig von der Darstellung im Textformat. Selbst wenn Poesie in fortlaufenden Zeilen geschrieben oder gedruckt wird, kann sie, wie erstmals Lowth gezeigt hat, von Prosa unterschieden und aus ihr herausgelöst werden. Der Begriff des Prosimetrum, der stärkste Garant des Poesie-Prosa-Kontinuums, ist ein chimärischer Begriff. Das geht darauf zurück, dass die Poesie durchaus nicht nur durch ihre beziehentliche Differenz zur Prosa, sondern durch sich selbst bestimmt wird. Ihr Textformat ist nicht dem Grad, sondern der Art nach von Prosa unterschieden. Das spricht dafür: Es gibt kein Poesie-Prosa-Kontinuum. So stehen zwei Arten zweidimensionalen Lesens einander gegenüber; auf der einen Seite das Kontinuum, orientiert am leibnizschen Modell der kontinuierlichen Approximation und Exhaustion, auf der anderen Seite die Diskontinuität, basiert auf dem cusanischen Modell der Plötzlichkeit und des Sprungs. Zwischen Endlichem und Unendlichem gibt es der regula doctae ignorantiae zufolge keine Proportion.59 Wenn aber keine Proportion, dann tritt an die Stelle 59 Cusanus, Serm. 3, 11,9 f, h 16, 48; De doct. ign. I, 3, h 1, 8; De lud. glob. 2, h 9, nr. 96,22; De ven. sap. 26, h 12, nr. 79,1 u. ö.
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des metaphorischen Transfers die metonymische Transumption. Für die Zweidimensionalität des Lesens geht daraus hervor, dass selbst die Annahme einer noch so kontinuierlichen Übergänglichkeit von Extension und Intension die Übermacht der Diskontinuität nicht aufhalten kann, die sie bricht. Aber woher die Rede von Übermacht, nachdem soeben der Text von Eingriffen äußerer Gewalt befreit wurde? Der Grund liegt darin, dass der Text sein eigenes Außen schafft, das vom Außen der Welt der Art nach unterschieden ist. Das dem Text eigene ist kein mundanes Außen, sondern es ist der Binnenhalt des Textes, nach außen gewendet. Und plötzlich erscheint das dem Binnenhalt des Textes durch Wendung nach außen gegenübertretende Außen als ein solches, das durch Zuwendung seinerseits den Binnenhalt des Textes ermöglicht. Und ebenso plötzlich erscheint das dem Text eigene, extramundane Außen, von dem wir behaupteten, dass der Text es schaffe, als ein solches, das seinerseits den Text schafft. Das ist die Stelle, an der die je größere Diskontinuität in das Poesie- Prosa-Kontinuum einbricht.
Parallelismus Stehen in der Zweidimensionalität Prosa und Poesie einander entgegen wie Flut (flow) und Bruch (break), fortlaufende Linie und gebrochene Zeile, dann erhebt sich die Frage: Was ist die kleinste poetische Einheit? Selbst wenn Poesie eingeschlossen sein sollte im Display der Prosa, an welchen Bruchstellen ist der Einschluss zu erkennen? Im Blick auf die paradigmatische Poesie der Psalmen liegen zwei verschiedene Antworten vor. Die erste nennt den Parallelismus die kleinste poetische Einheit. Da mit keinem Argument zu schlagen, ist diese Antwort die Basis für alles, was sich als Poesie zu behaupten wagt. Die zweite negiert daher die erste nicht schlechthin, strebt aber über sie hinaus (beyond parallelism), was nur durch einen Schritt ins Elementarere möglich ist. Sie nennt als kleinste poetische Einheit die Zeile und versteht darunter die Reduktion des zweizeiligen Parallelismus auf eine Zeile (line). Auch die zweite Antwort ist mit keinem Argument zu schlagen, aus ihr geht alles Weitere hervor: Colon, Bicolon, Tricolon etc., Stichos, Distichon usw., wodurch der Parallelismus auf die Ebene der Bicola und Disticha zu liegen kommt. Sind wir gezwungen, uns auf eine der beiden Antworten festzulegen? – Zum Ärger des Verstandes ist die erste Antwort die unwahrscheinlichste. Dieser unerfreuliche Bescheid geht darauf zurück, dass dem Parallelismus eine nicht enden wollende Ambiguität innewohnt. Wie soll man ihn formatieren? Etwa mit Psalm 145 so, dass seine beiden Hälften waagrecht in eine Zeile zu liegen kommen, mit gehörigem Spatium in der Mitte und so, dass das Alphabet rechtsbündig durchläuft? Oder mit Psalm 111/112 so, dass seine beiden Hälften in zwei Zeilen senkrecht untereinander angeordnet werden, wobei wiederum das Alphabet rechtsbündig, jedoch mit doppelter Geschwindigkeit durchläuft? Im
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ersten Fall wird man dazu neigen, das gesamte Bicolon als kleinste poetische Einheit zu bezeichnen (lines make poetry), im zweiten Fall das einzelne Colon (the line makes poetry). Und kaum verfährt man so, wird eine hemmungslose Ambiguität der Kategorien angerichtet, die deren Urheber, den Verstand, verwirrt. Was im ersten Fall als Stichos (versus) bezeichnet wird, wird im zweiten zum Distichon (Verspaar), und was im ersten Fall als Hemistich (versiculus) gilt, wird im zweiten zum Stichos (versus). Der genasführte poetische Verstand muss zur Kenntnis nehmen, dass mit ihm gespielt wird. – Also rückt die zweite Antwort in Reichweite. Unbefriedigt von der Annahme, der einlinige Parallelismus zweier Cola (membra) sei die kleinste poetische Einheit, wird das einzeilige Colon (membrum) herauspräpariert und als kleinste poetische Einheit ausgerufen, deren sich der Parallelismus bedient, die er aber nicht ist: ein Ein-Zeilen-Gedicht für sich allein ist ein Kein-Gedicht. Es ist nur solange ein Gedicht, wie es in seiner Relation zur zweizeiligen Formation erkannt werden kann. Also schickt es zu dieser wieder zurück. – Verhält es sich so, dass das Entweder/Oder des Verstandes, wenn stets eines aufs andere verweist, endlos wird, dann stellt sich die Frage, ob der Gesichtspunkt des Kleinsten, der der Fragestellung zugrundeliegt, schon hinreichend erfasst ist. Es mag sein, dass das Minimum, streng genommen, gar nicht dieses oder jenes ist und weder das eine noch das andere, weil es kleiner ist als das Kleinste. Angelangt bei der dritten Antwort richtet sich der Blick vom Parallelismus fort auf den Namen, der sich in ihm verbirgt. Wir befinden uns auf der noetischen Seite der Lesekunst. Zeichnen wir die Erfahrung mit dem Parallelismus in die Zweidimensionalität des Lesens ein! Wie Edmund Husserl gezeigt hat, geht „[d]ie allgemeine und unvermeidliche Zweideutigkeit der Redeweisen“ darauf zurück, dass ein fundamentaler „Parallelismus von Noesis und Noema“ am Werk ist. Jakobson spricht davon, dass der Parallelismus überall durchdringt (pervasive parallelism); Husserl bezeichnet ihn als „überall wirksam“.60 Dass in jeglichem Zur-Sprache-Kommen, was einfach erscheint, Zweifachheit am Werk ist, sei es von Noesis und Noema, Bedeuten und Bedeutung, wie Husserl sagt, oder wie wir fortfahren können, von Sagen und Gesagtem: das ist der harte Kern des Parallelismus. „Einprägen müssen wir uns […] im voraus, daß der Parallelismus zwischen der Einheit des noematisch so und so ‚vermeinten‘ Gegenstandes, des Gegenstandes im ‚Sinne‘ […], nicht verwechselt werden darf mit dem Parallelismus von Noesis und Noema“.61 Mit anderen Worten: Ein Merismus darf niemals mit dem Parallelismus verwechselt werden. Merismen bringen zum Ausdruck, dass die Einheit der Welt nur sagbar wird, wenn duale Stücke zusammengesetzt werden, Himmel und Erde, Hohes und Tiefes, Mann und Frau, Reich und Arm; die Nebeneinanderstellung 60 61
Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie 21976, 284. Husserl, aaO. 232.
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gilt Etwas und Etwas, Bewusstseinsinhalt und Bewusstseinsinhalt, Noema und Noema. Merismen neigen zur Symmetrie. Nicht so der Parallelismus. Er empfängt seine prinzipiell asymmetrische Gestalt davon, dass er im Noema die Noesis, im Gesagten das Sagen bloßlegt. Präzis dies ist es, worauf nur durch Zweidimensionalität des Lesens geantwortet werden kann. So sehr Lesen anders als durch Weiterlesen schwer möglich ist, ist Weiterlesen in diesem Fall keine Perspektive. „… und weil ich nun nicht[.] weiter kann …“ Das Nacheinander des Parallelismus verdankt sich einem sachlich früheren Ineinander. Ineinander und Nacheinander verhalten sich wie Intension und Extension, wie complicatio und explicatio. Wie der Parallelismus das Ineinander von Noesis und Noema, Sagen und Gesagtem ins Nacheinander überführt, das später ist, so führt das Lesen, das an sich immer nur weiterlesen kann, das Nacheinander auf ein Ineinander zurück, das früher war. „… bleib ich anbetend stehen.“ Die beiden Teile des Parallelismus liegen nicht auf derselben Ebene. Indem er der ersten Hälfte, der Wörtlichkeit (A), die zweite, die Wiederholung (Aᵒ), hinzufügt, die sich nicht auf Etwas, sondern auf die Rede von Etwas bezieht, kommt die im Noema wirksame Noesis zur Erscheinung. So entsprechen sich Parallelismus und die Zweidimensionalität des sich verbergenden – noetischen – Lesens aufs Genaueste.
c. Der sich verbergende Name Die prinzipielle Zweidimensionalität des Lesens, die zum noetischen Lesen gehört, hat bis zum Parallelismus von Noesis und Noema geführt, die es begreiflich macht, weshalb der poetische Parallelismus nur als prinzipielle Asymmetrie zu denken ist. Gerade solche Spitzenwendungen für die poetische Funktion der Sprache wie Wort als Wort – wenn man so will: der Urparallelismus, der sowohl bei Jakobson für Sprache überhaupt wie bei Dobbs-Allsopp für die Sprache der biblischen Poesie in Anspruch genommen wird – sind trotz Anscheins einer tautolog ischen Struktur nichts weniger als tautologisch. Sie müssen, wie alle poet is ch en Sätze, ihr Wort, damit es einmal gesagt ist, faktisch oder virtuell zweimal sagen: Wort als Noema und Wort als Noesis, als Gesagtes und als das Sagen selbst. Die Asymmetrie ist prinzipiell ein hinkendes Verfahren, weil sie bei jedem Schritt den Einschlag des göttlichen Namens verkraften muss. Der Zusammenhang von poetischem Parallelismus und göttlichem Namen erscheint in den gängigen Diskursen ebenso ungewohnt wie auf der Hand liegend. Meist pflegt man vom göttlichen Namen zu handeln ohne Rücksicht auf den Zusammenhang mit dem Parallelismus, und ebenso ist keine Theorie des Parallelismus sichtbar, die sich veranlasst sähe, zu einer solchen des göttlichen Namens fortzuschreiten. Dennoch ist Einsicht in den Zusammenhang von Name und Parallelismus der innerste Kern zweidimensional noetischen Lesens.62 Warum 62
Vf., Name und Parallelismus 2011.
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läuft das Lesen, dessen Zweidimensionalität wir verfolgt haben bis zur asymmetrischen Struktur des Parallelismus, auf den göttlichen Namen hinaus? Weil dieser sich darin verbirgt als Ursache des asymmetrischen Hinkens. Die klassische Lehre vom göttlichen Namen macht von der Unterscheidung ְכּ ִתיב/Ketiv (was geschrieben ist) und ְק ֵרי/Qere (was gelesen wird) Gebrauch, was im Zusammenhang von Lesetheologie zum Debakel zu führen droht. Nach masoretischer Auffassung kommt Qere anstelle von Ketiv an diversen Lesestellen fallweise zur Anwendung, im Fall des tetragrammatischen Namens aber regelmäßig. Hier handelt es sich um ein Qere perpetuum. Und dies liegt in der Konsequenz der Lesetheologie. Der göttliche Name kann nicht ausgesprochen werden (non dicitur, non exprimitur),63 nicht etwa weil er infolge eines irgendwie, irgendwann getroffenen Entscheids nicht ausgesprochen wird, obgleich er an sich wohl auszusprechen wäre, sondern weil er unaussprechlich (ineffabile, inexpressibile) ist. Die Buchstaben des Tetragramms können gelesen werden in Gänze als Konsonanten, wie auch, die Konsonanten verstanden als matres lectionis, in Gänze als Vokale; so blockieren sie sich gegenseitig, oder sie sind, mit Cusanus, die complicatio omnis expressibilis significativae vocis.64 Erst der unternommene Versuch ist der Beleg für die Untunlichkeit dieses Versuchs. Nur der Versuch, das Sagen ins Gesagte zu überführen, bringt die Unsagbarkeit des Sagens hervor. Nur durch den Versuch der Überführung tritt die Unüberführbarkeit ans Licht. Genau in diesem Sinn gilt vom göttlichen Namen nach klassischer Lehre, dass er nicht gelesen werden kann (non legitur). Nicht etwa deshalb, weil eine künstliche Aussparung oder Abhaltung am Lesen dessen hinderte, was an sich lesbar ist, etwa eine durch Manipulation defekt gemachte Textstelle in der einen, unbeschädigt geblieben in der anderen Edition. Sondern weil es unlesbar (illegibile) ist. Nur der vollendete Versuch kann seine Unvollendbarkeit zeitigen, und wiederum die Unvollendbarkeit kommt ohne den Versuch der Vollendung nicht zur Klarheit. So bleibt als härtester Kern der Lesetheologie einzig und allein der Umstand, dass der göttliche Name geschrieben ist (quod scribitur et non legitur). Dies und nur dies ist der letzte Anhalt für das Dasein von so etwas wie Heilige Schrift. Auch hier gilt: Wie viel muss geschrieben und gelesen werden, um dasjenige zu schreiben, was nicht gelesen, sondern nur geschrieben werden kann? Und ganz einerlei, ob der tetragrammatische Name extensiviert wird zum Namen der 12, 42 und mehr Buchstaben oder zum Buchstabenbestand der Schrift überhaupt, oder intensiviert zum Tri-, Di‑ oder Monogrammaton: jeweils gilt, dass Buchstaben zwar geschrieben, aber nicht gelesen werden. So ist die in der Schrift und nur in Schrift niedergelegte Unlesbarkeit und Unaussprechbarkeit die Spur des göttlichen Namens, der sich darin verbirgt, und die 63 Maimonides, Dux perplexorum I 60, fol. 24v, lin. 10 f.43 f; I 62, fol. 26r, lin. 11. Meister Eckhart, Exp. Ex. nr. 19, LW 2, 25,5 f; nr. 147, LW 2, 132,5 f. 64 Cusanus, Serm. 24, 48,5 f, h 16, 432; cf. Serm. 48, 29,18 f, h 17, 211 f.
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Akte des Lesens erhalten davon die prinzipielle Asymmetrie, die den Verlauf der Lesetheologie lenkt.
3. Das sich selbst ausstellende Lesen Es sind zwei Arten von Gedächtnis, die am Werk sind in diesem letzten Paragraphen, das natürliche und das künstliche. Das erste so, dass man es gar nicht bemerkt, das zweite so, dass es um der Gewinnung von Aufmerksamkeit willen demonstrative, um nicht zu sagen monströse Züge annimmt. Ausstellung in technischem Sinn sind esposizione und mostra, beide Male nach außen tretend mit Werken der bildenden Künste von der Ikonik bis zur Architektonik. Ebendieser, jedoch vorzüglich sofern sie nach innen schlägt ins Phantastische und Phantasmagorische, bedient sich das künstliche Gedächtnis; angesichts der zwischen Divinität und Debilität schwankenden Schwäche des natürlichen Gedächtnisses sucht es einen Anhalt zu finden, um mit der Aufgabe zusammenhängenden Redens in Situationen des zivilen Lebens zurechtzukommen. Daran kann kein Zweifel sein, dass die klassische Lehre von der memoria artificiosa den Sehsinn privilegiert; er wird darüber, wofür viel spricht, zum vorzüglichsten unter den Sinnen. Mag sein, dass diese Option unter Normalbelastung genügt. Die der Lesekunst zugrundeliegende Gedächtnisschwäche ist jedoch eher so einzuschätzen, dass sie sich nicht in diesem Rahmen hält. Die Drohung von Verlust, der das Lesegedächtnis ausgesetzt ist, beschwört eine Situation herauf, in der jeder Sinn gut genug ist, wenn er nur Merklichkeit verspricht. Also wird die Inanspruchnahme des künstlichen Gedächtnisses durch die Lesekunst zwar die visuell geprägte memoria artificiosa aufnehmen, sie zugleich aber ausdehnen auf alle Sinne und Kombinationen von Sinnen und danach fragen, was, wenn jenes schon monströs war, dieses Monstrum an Monstrosität sein soll. Damit kehrt wieder, was im Verlauf der antiken Rhetoriken erstmals Quintilian gegen die Monstrosität eingewandt hat: „nos simpliciora tradamus.“ Ihm folgend sind wir, obgleich es zwei Arten von Gedächtnis sind, die wir voraussetzen, soweit gegangen, die Memoria geradezu ganz der Seite des künstlichen Gedächtnisses zu überlassen und auf der Seite des natürlichen Gedächtnisses von Meditation zu sprechen. Und dies im Bewusstsein, dass meditatio alles andere als ein natürliches Gedächtnis ist, kein angeborenes, allenfalls ein wiedergeborenes, das sich des Natürlichen nur in Metaphern bedient. Von dieser Form des Gedächtnisses kommen wir her, die die Gedächtniskunst möglichst verbirgt, sodass sie nicht auffällig wird, sondern wie eine andere Natur erscheint, was sie nicht ist. Es ist Kunst, die Kunst zu verbergen. Das geschieht vorzüglich im noetischen Lesen. Dies ist die Art und Weise, in der das sich verbergende Lesen zu Gedächtnis wird. Es muss dem sich im Text verbergenden Namen nachgehen, nachsetzen, nach-
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jagen und kann ihn nicht nicht suchen. Der Gott eines Textes sollte gelesen werden können wie dieser. Aber: Er wird nicht gelesen (non legitur). Das ist es, womit er sich in alle Gedächtnismedien einschreibt (scribitur). Daher wenden wir uns nunmehr der anderen Art von Gedächtnis zu, die nicht im Zeichen der wesentlich noetischen Negativität des Lesens steht. War jenes ein Lesen auf Sinn, so dieses ein Lesen mit allen und für alle Sinne, was immer dies an Ausleben mit sich bringen mag. a. Lesen mit (allen) Sinnen Dass das Lesen, um zum Sinn zu gelangen, in Gegensatz treten muss zu den Sinnen, kann auch durch vorgebliches Lesen mit allen Sinnen nicht außer Kraft gesetzt werden. Das Wort Sinn ist Hegel zufolge „wunderbar“ (θαυμαστόν/mirabile), weil es „in zwei entgegengesetzten Bedeutungen“ gebraucht wird.65 Sinn findet in die Lesetheologie nur Eingang, wenn die Gefahr, das Wort könnte platt gewesen sein oder platt werden, hinreichend gebannt ist. In Wahrheit vibriert es vor innerer Widerspannung. Schon mit den Buchstaben hat die Lesetheologie die Richtung eingeschlagen, sich selbst von der letzten Verhaftung am sinnlichen Substrat des Zeichens zu lösen; dieses ist an sich betrachtet völlig belanglos. Daher ist die Wiederkehr der Sinne, die durch Ankündigung eines Lesens mit (allen) Sinnen dick aufträgt, in keinem Moment eine Rückkehr zum status quo ante; es bleibt dem Lesen auf Sinn nachgeordnet. Nur so wird die Sachordnung gegen die Ordnung der historischen Entwicklung verteidigt. Diese berichtet von der Evolution vom lauten zum leisen Lesen. Hier dagegen geht es um die Revolution leisen Lesens durch das laute. Wir haben es nicht mit einem quantitativen Prozess vom einen zum andern zu tun, sondern vergessen den Akzent in keinem Augenblick, den Hegel mit dem Stichwort der Entgegensetzung gesetzt hat. Das leise Lesen vernichtet das laute, kein Zweifel, aber ebenso trachtet das laute Lesen nach Vernichtung des leisen, oder setzt sie bereits voraus. Das laute Lesen, wenn es dem leisen folgt, antwortet darauf, dass es das leise immer schon im Zustand der Vernichtung antrifft. Es verhält sich ja nicht so, dass das Lesen auf Sinn, wie es soeben geschildert wurde, allenthalben zum Ziel gekommen wäre und sein Resultat, das nun öffentlich am Tag liegt, allgemeine Anerkennung fordern dürfte. Vielmehr bleibt es in sich vielfältig, vielstimmig, zu erreichen überhaupt nur Einzelnen oder elitären Vereinigungen von Einzelnen, die hinter der Erwartung, als erzeuge Lesen ganz von selbst seine Gemeinde, weit zurückbleiben und diese als voreiligen Kurzschluss entlarven. Deshalb hat Pausanias der Perieget unter der Drohung, der noetische Gehalt des griechischen Erbes könne eines nicht weit entfernten Tages verloren gegangen sein, Ort für Ort der Kulturlandschaft Griechenlands aufgerufen, um durch eine Großinstallation künstlichen 65
S. Anm. 48.
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Gedächtnisses Ruine für Ruine, wahrgenommen mit allen Sinnen, den Sinn noch einmal zu rekonstruieren, der sonst als verloren gelten muss. Er liest mit allen Sinnen. Was entsteht, ist eine Art liturgischer Großversuch in Begehung Griechenlands.66 Er nimmt im Großen auf, was vor ihm Plutarch konzentriert auf Delphi und sein Orakel unternommen hat. Als Priester eines erloschenen, vom Totalverlust erfassten und von Touristen heimgesuchten Heiligtums greift er zurück auf die Reliquien des künstlichen Gedächtnisses und die darin ab‑ und ausgelagerten Spuren (etwa einem verdächtig an E erinnernden Opferbratspieß am Apollotempel), um den abgegangenen noetischen Sinn, der bei einfachem Lesen auf Sinn hätte hervorspringen können, zu rekonstruieren. Dabei stützt er sich auf Installationen, in denen sich das künstliche Gedächtnis einst selbst ausgestellt hat.67 Soviel menschheitliches Gedenken ist aufzurufen, um die Stellung des Lesens mit (allen) Sinnen nach dem Lesen auf Sinn ins richtige Licht zu setzen. Es reagiert darauf, dass das Lesen auf Sinn verloren gehen könnte oder bereits verloren gegangen ist. Nun muss in unsäglicher Anstrengung und in Abschreitung einer über die Welt hin zerstreuten Ruinenlandschaft gesucht werden, was wohl der Sinn gewesen sei. So hat Lesen mit allen Sinnen eine produktive und eine rezeptive Aufgabe. Rezeptiv, wenn die Reste der ins künstliche Gedächtnis ausgelagerten Lesevorgänge gesammelt und geliebt werden, produktiv, wenn eigene Vorgänge des Lesens auf Sinn erneut in Akten von Ausstellung dem äußeren Gedächtnis übergeben werden, damit nötigenfalls das mit allen Sinnen Lesbare das Lesen auf Sinn überdauert. b. Die prinzipielle Eindimensionalität der Lesung und die Vieldimensionalität der Liturgie Ist es also das laute Lesen, mit dem wir zu tun bekommen – und zwar nicht lautes Lesen als naturwüchsiges, weil aus der Natur antiker Lesetechnik und ihren notorischen Schwierigkeiten wie Majuskelschrift ohne Worttrennung und Hilfszeichen sich von selbst ergebend, sondern als Kunst, die gestaltet sein will, sobald sie an die Öffentlichkeit tritt und sich ausstellt – so tut sich ein ganzer Fächer von Möglichkeiten auf, wie die Lesung vorgetragen werden kann. Ganz abgesehen von Inhalt, Umfang, Anfang und Ende kommt eine Vielzahl von Aspekten hinzu: Ort der Lesung, Zeit der Lesung. Sodann, was den Vorleser betrifft: Lesemodus, Ton, Affekt, Aktion, Geschwindigkeit, was die Hörerschaft betrifft: Sammlungsmodus, Intensitätsgrad der Vergesellschaftung, Bindung, Lösung usw. Zumindest Friedrich Schleiermacher stellt einer solchen Lesung nicht das beste Zeugnis aus, wenn er sie aus seiner Theorie des geselligen Betragens von vornherein ausschließt. In derselben Epo66 Pausanias, Graeciae descriptio, lb. I–IX 1989–90. Goldmann, Statt Totenklage Gedächtnis 1989; ders., Topoi des Gedenkens 1991. 67 Plutarch, Pythici dialogi 1997.
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che, in der die Lesekunst auffallend oft thematisiert wurde, setzt er dem Lesen als Kunst entgegen „das gesellige Leben als ein Kunstwerk“.68 „Geselligkeit der Gesellschaft“,69 argumentiert er, ist von vornherein etwas ganz anderes als „Gemeinschaft“. Gemeinschaften haben in Fortführung der griechischen κοινωνία „etwas gemein“, sind durch „einen äußern Zweck gebunden[..]“, also bestimmt durch ἕνεκεν (um zu), das seit Aristoteles aufs engste mit κοινωνία verknüpft ist.70 Gesellschaften hingegen, die ihrerseits die griechische συνουσία fortführen, ist „eigentlich nichts gemein, sondern alles ist wechselseitig, das heißt eigentlich entgegengesetzt“.71 Zur freien Geselligkeit gehört zweckfreie Wechselwirkung. Wie eine Vorstellung im Schauspielhaus mitnichten dem Ideal der Geselligkeit entspricht, so ist auch die „Vorlesung“, da „einseitig“, an die Form der Gemeinschaft gebunden und schließt Geselligkeit aus. Wer sich der Lesung aussetzen mag, ist „eigentlich nicht in einer freien, sondern in einer gebundenen Geselligkeit begriffen“.72 Aber gebundene Geselligkeit ist eine contradictio in adiecto, die nur gelöst wird, wenn an die Stelle von Gemeinschaft Geselligkeit tritt. Keine „Vorlesung“, ohne dass „Vorschriften“,73 „dicke[.] Bücher“ oder auch nur „[B]üchlein“ Beachtung heischen: alles Störenfriede freier Geselligkeit. So lässt Schleiermacher das Aufatmen darüber, dass Lesen soweit das Ohr reicht leise geworden ist, deutlich vernehmen, und seine Fortschreibung der Theorie des geselligen Betragens in der Theorie der Religion lebt davon. Das führt zur Frage: Was in aller Welt soll, nachdem das Lesen glücklicherweise still geworden ist, es noch einmal lautwerden lassen? Die freie Gesellschaft ist dabei, sich von Gemeinschaftsformen zu emanzipieren, die außerhalb ihrer fortbestehen und es nötig haben, sich mit Hilfe des Krückstocks einer zwischen Lesen und Sammeln hin‑ und hergehenden Lesemetapher zu konstituieren. Als Wirkung und Gegenwart des Geistes ist die freie Gesellschaft im Begriff, sich vom toten Buchstaben zu lösen, und verweist die Lesetheologie an einen Ort sei’s im Archiv, sei’s im Mausoleum, wo sie sich mit der Spezies der „Buchstabentheologen“,74 aber auch mit Theologie schlechthin vereinigt. Ist somit klar, dass Lesung und Vorlesung der freien Geselligkeit des Salons nicht förderlich sind, folgt daraus keineswegs, sie seien dem zu überlassen, was Schleiermacher mit Aristoteles als Gemeinschaft (κοινωνία) definiert. Keineswegs ist Lesen nur ein äußerer Zweck, der zu seiner Durchsetzung der Sozial68 Schleiermacher, Versuch einer Theorie des geselligen Betragens 1799, KGA I/2, 167,32 f. 69 Schleiermacher, ebd. 169,3. 70 Aristoteles, Pol. I 1, 1252a2; cf. I 2, 1252b34. 71 Schleiermacher, ebd. 169,35–39 (ohne Sperrung). 72 Schleiermacher, ebd. 169,7.9 f. 73 Schleiermacher, ebd. 166,32; 167,43 f. 74 Schleiermacher, Über die Religion 1799, KGA I/2, 201,17. Vf., Geist und Buchstabe – Buchstabe und Geist 2006.
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form der Gemeinschaft bedarf. Vielmehr unterscheidet sich die Lesung von dem Etwas, das eine Gemeinschaft gemein hat wie das Holz einer Holzgerechtigkeit dadurch, dass es dem Nichts am Grunde der Geselligkeit ungleich nähersteht, von dem Schleiermacher es gründlich geschieden haben wollte. Viel zu sehr war das Lesen in seinen Akten der Wiederholung, die in den parallelistischen Strukturen der Poesie bloßgelegt wurden, der Negation gefolgt. Negativität war das Grundprinzip der Sprache. Wenn es dennoch nicht zur Hervorbringung von freier Geselligkeit in Schleiermachers Sinn taugt, so nicht deshalb, weil es mit seinem Etwas die Freiheit durch Bindung von außen beschränkt, sondern weil es über sein eigenes Vergesellschaftungsprinzip verfügt. Vergesellschaftung tritt zum Lesen nicht sekundär hinzu, was dann allerdings mit Schleiermacher zur Vergemeinschaftung um des Lesens willen führen müsste, sondern ist ihm bereits von Anfang an eigen. Dies geschieht in einer doppelten und antagonistischen Form. Schon deshalb ist Lesen prinzipiell vergesellschaftend, weil es, sobald laut geschehend und also nach außen dringend, gar nicht anders als gesellschaftsbildend gedacht werden kann. Der Leser ist in diesem Fall zum Vorleser geworden, der formend und bestimmend ins soziale Leben eingreift. Aber die vergesellschaftende Wirkung ist kein Privileg lauten Lesens. Auch das leise Lesen fordert prinzipiell eine bestimmte Art der Vergesellschaftung, deren Druck als soweit ausgesetzt gedacht wird, dass ungestörtes Lesen sogar in Gesellschaft möglich wird, wie es umgekehrt das Lesen so leise zu gestalten verlangt, dass es den Anderen nicht stört (ut alium non inquietet).75 Von vornherein vergesellschaftet auch leises Lesen, nur so, dass es die Aussparung als Sozialform verlangt. Nicht verhält es sich so, dass lautes Lesen vergesellschaftend ist, leises nicht, sondern beide vergesellschaften. Lesen vergesellschaftet in jedem Fall, aber in antagonistischer Weise. Deshalb verhält es sich auch nicht so, dass leises Lesen über eine gewisse Kompatibilität mit den Regeln der freien Geselligkeit verfügt, während dem lauten Lesen – dem Vorlesen – nur der Weg in die unfrei-gebundene Gemeinschaft offensteht. Sondern im Lesen, wenn es in seinen beiden Formen des leisen und lauten Lesens vergesellschaftend wirkt, ereignet sich, dass weder die Geselligkeit in ihrer bisher definierten Gestalt, noch die Gemeinschaft in ihrer bisher definierten Gestalt, so sehr beide am Lesen Anteil haben, ausreicht, um die ihm eigene Art der Vergesellschaftung zu erfassen, die zum Lesen nicht etwa sekundär hinzukommt, sondern ihm von Anfang an eigen ist. Verhält es sich mit dem Lesen so, dann ist klar, dass das sich ausstellende Lesen seinen primären Ort in der Liturgie hat. Wo immer lautes Lesen gesellschaftliche Formen an sich zieht, entsteht so etwas wie Liturgie. Und ebenso: Wann immer Lesen leise wird, hat auch dies zur Folge, dass Liturgie nicht nicht entsteht. Auch leises Lesen hat seine Sozialform, nur eben als Aussparung in der 75
RB 48, 5.
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Liturgie, als Pause in ihr, nicht außerhalb ihrer. Von Liturgielosigkeit kann somit in keinem Moment die Rede sein. Verhält es sich mit der Liturgizität des Lesens so, dann ergeben sich zwei unterschiedliche Hypothesen zur Erklärung des Zusammenhangs von Lesen und Liturgie. Die erste besagt: Lesen ist ein Element der Liturgie; dort gibt es die Lesung. Die Lesung ist sich ausstellendes Lesen. Aber, wie der Terminus lectio besagt, die Lesung ist nur ein liturgisches Element unter anderen. Selbst wenn sie sich verdoppelt wie in der klassischen Ordnung von Epistel und Evangelium, muss sie unterscheidbar bleiben von anderen Elementen. Neben die lectiones treten die orationes, dann auch allerlei actiones, in denen sich die Leiber der Anwesenden mit mehr als Zunge und Lippen bewegen und es mehr als Worte sind, mit denen sie handeln. Kurz: Die erste Hypothese betrachtet die lectio als eines der liturgischen Elemente. Die zweite Hypothese belässt es nicht dabei, sondern geht so weit zu behaupten, nichts, was in der Liturgie geschieht, sei nicht lectio. Von beiden Hypothesen ist die zweite die schwierigere. Sie ist phantasmagorisch. Sie huldigt der Vorstellung, als müsste nur das Buch geöffnet und die beiden aus ihrem Gelenk aufspringenden Seiten mit Hauch und Stimme beatmet werden, und schon entspringe der Lesung nicht weniger als alles. Allmacht der Ohnmacht. Einerlei wie dieses Phantasma untermalt wird, ob als Gesicht der Schrift, in deren von sich selbst her strahlenden Klarheit sich das verklärte Antlitz des Wortes selbst widerspiegelt, oder als über der Lesung entstehende Phantasmagorie des Paradiesgartens oder des von sich selbst her leuchtenden Himmlischen Jerusalem, das weder Nacht noch Tage hat: stets verhält es sich so, dass über dem Vorgang des Lesens nicht weniger als Himmel und Erde entstehen. Wenn aber dies, dann ist die Liturgie nicht einfach Behälter einzelner Elemente, sondern ist selbst die Form und das Gefäß, das aus der Lesung allererst hervorgeht. Der Makel der ersten Hypothese ist ihre Unwirksamkeit bei allerdings gegebener Wirklichkeit; der Makel der zweiten Hypothese ist ihre Unwirklichkeit bei allerdings zugestandender Wirksamkeit. Daher wird der zweiten Hypothese mit ihren manifesten Allmachts‑ und Totalitätsansprüchen die erste Hypothese ins Fleisch gesetzt, damit sie sich nicht überhebt. Nur eins ist von vornherein auszuschließen. Niemals lässt sich das Geschehen der lauten Lesung auf eine der beiden Hypothesen reduzieren. Sie bleiben aufeinander angewiesen. Für unser Vorgehen ergibt sich daraus, dass wir uns angesichts der zu erwartenden Vieldimensionalität liturgischen Lesens, die unüberschaubar ist, soweit möglich an der Eindimensionalität der Lesung orientieren, das heißt von der Lesung im Rahmen der ersten Hypothese nicht ohne Not abweichen. Um nicht ins Uferlose zu geraten, beschränken wir uns auf drei Gestalten von Lesung, die als Paradigma für liturgische Vieldimensionalität dienen sollen: Lesung als Zitation, als Rezitation und als Psalmodie.76 Was Lesung im Sinn der zweiten Hypothese darüber hinaus sein mag: Sammlung 76
Vf., Rezitation und Zitation 2013.
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von Leibern, von Gütern; Hervorbringung von Strukturen, Architekturen und Bildern, die darin zu platzieren sind wie es die memoria artificiosa vorsieht: das müsste sich auf dem Weg der Analogie ergeben, sobald einmal das Modell des Sich-Ausstellens erkannt ist.
Lesung als Zitation Drei unterschiedliche Ebenen des Schriftbezugs seien in der Liturgie zu unterscheiden: „wörtliches Zitat, indirekte Anspielung, motivische Reminiszenz“, sagt Albert Gerhards.77 Lesung im strengen Sinn kann nur auf der ersten Ebene stattfinden. Daher: „Der eindeutigste Fall des wörtlichen Schriftgebrauchs liegt in der Schriftlesung vor.“ Vorausgesetzt, dass Schriftgebrauch im wörtlichen Sinn nichts anderes ist als literaler Schriftgebrauch, besteht die einzige und eindeutigste Form von Gebrauch im Lesen. Der Gebrauch fügt dem Lesen nichts hinzu, vielmehr umgekehrt: Was Gebrauch ist, ergibt sich einzig und allein aus dem Lesen; dieses muss selbst bestimmen, was Gebrauch ist; das Lesen ist selbstbestimmt, suffizient, kennt keinen Einspruch von außen oder kann nicht anders als ihn abwehren. Kurz: Schriftgebrauch in literalem Sinn ist nichts anderes als Lesen. Nun ist das Lesen in der Form, in der es hier thematisiert wird, als lautes Lesen und mithin als Lesung, wenn sich selbst überlassen, zunächst und ursprünglich „wohl die fortlaufende Lesung“ – was soll sie sonst sein? Lectio continua ist daher die angemessene Bezeichnung für den einfachen Sachverhalt, dass Lesen, wenn es vonstattengeht, immer geradeausgeht und anders durchaus nicht gehen kann. Deshalb sprechen wir von der prinzipiellen Eindimensionalität des Lesens. Die Lesung reduziert die prinzipielle Zweidimensionalität des Lesens in die bereits akustisch wirksame Vorherrschaft von Eindimensionalität. Dass die Lesung nichts als geradeausgeht, wird unter den historisch-kontingenten Bedingungen von Tonalität, das heißt: sobald die in tonlicher Hinsicht kaum zu fassende Sprechstimme allem Widerstand zum Trotz dennoch in Töne gefasst wird, angemessen durch den tonus in directum wiedergegeben, der es nicht scheut, sich in seiner außergewöhnlichen Monotonie auch noch auszustellen. Muss alles zu Lesende durch diesen einen Ton hindurch, so unterstreicht er, was in der lectio continua an sich schon liegt: dass es nur noch geradeaus gehen kann. Gerhards bezeichnet die fortlaufende Lesung als „[d]ie ursprüngliche Form geregelter Schriftlesung“; dabei ist zu beachten: „geregelt“ wäre die Schriftlesung nur, wenn der Gebrauch das Lesen von außen reglementieren dürfte, was soeben abgewiesen wurde; definiert aber die Lesung selbst, was ihr Gebrauch ist, dann ist die Form geregelter Schriftlesung nichts anderes als die sich selbst überlassene, sich selbst regulierende Lesung, die als solche nichts kann als geradeaus gehen. Das ist lectio continua. Wie 77 Gerhards,
495.
Der Schriftgebrauch 1996, 178; ders., Schriftgebrauch im Gottesdienst 1997,
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aus der fortlaufenden Lesung so etwas wie eine unterbrochene, etwa weniger ergiebige Stücke auslassende „Bahnlesung“ – um den Ausdruck Ernst Rankes aufzunehmen78 – oder gar „Sonderformen“ wie Tropierung und Centonisation entstehen können, wird leicht erklärlich, wenn bereits die lectio continua als Ergebnis einer Reglementierung aufgefasst wurde, schwerer dagegen, wenn es der Lesung überlassen bleibt, ihren Gebrauch selbst zu regeln. Hier wird die lectio difficilior vorausgesetzt. Eine Grenze bleibt auch der lectio continua, die an sich ins Grenzenlose (ἄπειρον) strebt, nicht erspart. Wie umfangreich die Schrift auch ist, unendlich ist sie nicht. Daher die Einrichtung von Lesezyklen, sei es der einjährige babylonische oder der dreijährige palästinensische in der Synagoge des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts, seien es in der Kirche des fünften Jahrhunderts die beiden Jerusalemer Zyklen, der armenische oder der syrische. Tritt aber Zyklizität ein, dann wird die fortlaufende Lesung zu einer solchen, die sich wiederholt, und es entsteht neben der Heiligen Schrift die Gattung des Lektionars.79 Das Lektionar reagiert darauf, dass im bloßen Verfolg von lectio continua etwas anderes entsteht als fortlaufende Lesung. Was geschieht beim Übergang von der lectio continua zum Lektionar? Ein fast unmerklicher, aber klarer Schnitt tritt ein. Er macht, was vorher als lecture erscheinen konnte, zur relecture. Gerhards beschreibt dies präzis, indem er die erste Ebene des Schriftbezugs, die hier allein interessiert, die Lesung, als „wörtliches Zitat“ bezeichnet. Die Lesung macht den literalen Schriftgebrauch zum wörtlichen Zitat. Akustisch so, dass das Gelesene laut wird, mit Stimme behaucht, vielleicht sogar beseelt, wenn aber mit Stimme, dann auch mit einer Person (πρόσωπον, persona) verbunden, von der, soviel von ihr ungewiss ist, eines gewiss ist: sie ist die nicht-eigene. Genauer, so sehr sie die eigene ist, ist sie nur geliehen. Zitieren muss man nur Nicht-Eigenes, das Fremde. Der Sonderfall des Suizitats verlangt Fremdsetzung des Eigenen. Visuell so, dass das Gelesene faktisch oder nur imaginär wie zwischen Gänsefüßchen stehend zu betrachten ist. Was in Anführungszeichen gesetzt wird oder als gesetzt zu denken ist, trägt die Spur einer Auszeichnung an sich. Das Zitat vollführt auf diese Weise, was als zur memoria artificialis erforderliche Ausstellung beschrieben wurde. Sie geschieht, indem ein ausgeschnittener Text zur lauten Lesung gelangt. Zwar will die Genie-Ästhetik Originalität und fordert: Was du sagst, das sage gefälligst selber. Die pragmatische Ästhetik hängt die Messlatte tiefer. Lesen steht an sich schon der Originalität im Wege, lautes Lesen zusätzlich dadurch, dass es zitiert. Wie die Lesung dem Leser klarmacht, dass die lecture, wie sie laut wird, relecture ist, so demonstriert das Zitat, dass das, was wir machen, nie gemacht (never made) ist, sondern wiedergemacht (ready-made).80 Zitation ist die einfachste Form eines Ranke, Das kirchliche Pericopensystem 1847, 146: die „in Einer Bahn fortgesetzte Lesung“. Röwekamp, Einleitung 1995, 75. 80 Emerson, Quotation and originality 1859, 200: „all these we never made, we found them ready-made; we but quote them“. 78 79
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Ready-made; Lesung als Zitation macht das Gelesene zum Ready-made, das sich allein durch den minimalen Schnitt seines Ausgestellt‑ und Ausgezeichnetseins von dem Gewöhnlichen unterscheidet. Es ist daher unzweckmäßig, mit Christoph Markschies die Inkompatibilität von lectio continua und Lektionar zu forcieren. Verführt durch den Terminus der Perikope, der als „das gewaltsame Abschneiden des Kontextes“ aufgefasst wird,81 macht Markschies περικοπή unverzüglich zur ἀποκοπή. Es hat sich gezeigt, dass die Perikope durchaus in der Konsequenz der lectio continua liegt, sofern diese genötigt ist, sich zyklisch zu wiederholen. Nun steht nicht mehr die ursprüngliche Präsenz der „ganze[n] Bibel im Gottesdienst“ auf der einen gegen die degenerierte „Auswahl“ bestimmter Abschnitte auf der anderen Seite,82 was schon historisch ein (protestantischer) Wunschgedanke sein dürfte. Wie das Ready-made das bloße Made und die relecture die bloße lecture durch lautes Lesen auszeichnet zum Zitat, so stellt die Perikope einen Teil des Ganzen besonders aus, indem sie ihn reell oder virtuell durch Anführungszeichen auszeichnet. Anführungszeichen signalisieren, dass ein Schnitt stattgefunden hat. Der Schnitt potenziert das Ausgeschnittene, indem er es dekontextualisiert. Perikopierung vollzieht kein Diminuendo, sondern ein Sforzato, erzielt vermöge „der speziellen Lesungsform“,83 die im liturgischen Lesen geübt wird. Lesung, darf man nun sagen, ist die elementarste Form von Ausstellung, die einfach dadurch geschieht, dass zitiert wird.
Lesung als Rezitation Wir bewegen uns innerhalb der Spannung von Heiliger Schrift und Psalter, die seit § 8 als Gipfel der Lesetheologie gilt. Sind beide Gegenstand lauten Lesens, so kann der Begriff von Lesung nicht derselbe bleiben. Daran besteht kein Zweifel: Heilige Schrift wird, soweit zur Lesung gebracht, zur Zitation. Aber der Sprachgebrauch zeigt: Die Lesung als Zitation ist immer schon Rezitation, wird wenigstens so genannt. Der Übergang geschieht so unmerklich, dass man fragt, wo die begriffliche Grenze zwischen Zitation und Rezitation liegt. Und was noch erstaunlicher ist: Auch die Psalmodie, die doch wirklich etwas anderes und mehr ist als bloße Zitation, wird, wie ebenfalls der Sprachgebrauch zeigt, immer noch Rezitation genannt. Es wäre wohl leicht, Lesung der Heiligen Schrift und Lesung des Psalters voneinander zu unterscheiden, erstere als Zitation, letztere als Psalmodie, aber die Rezitation nimmt eine unklare, übergriffige Stellung zwischendrin ein. Sie wird mit Bedacht zwischenhinein gestellt. Wir folgen der Logik der Ausstellung. Lesung als Zitation ist die einfachste Weise der sich ausstellenden Lesekunst. Aber Lesekunst kennt ein Mehr an ausstellender Kraft. Laut Lesen ist notwendige, aber nicht hin81
Markschies, Liturgisches Lesen 2004, 83. Markschies, ebd. 84. 83 Markschies, ebd. 77. 82
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reichende Bedingung. Deshalb folgt der Lesung als Zitation die Lesung als Rezitation und als Psalmodie. Dieses Dreiergespann ist eine kleine, womöglich paradigmatische Sequenz für die darüber hinausgehende, keine Exposition oder Monstrosität scheuende künstliche Gedächtnisbildung. Zwar hat Tertullian im Sinn der Lesetheologe recht, wenn er behauptet, die christliche Religion habe sich „sola lectione“ ausgebreitet,84 aber nur im Sinn der notwendigen, nicht der hinreichenden Bedingung. Deshalb unterschieden die Späteren mit feinem Gehör verschiedene Formen von Lesung, als Eckpunkte in Hinsicht auf die Sache lectio und psalmus,85 in Hinsicht auf die Funktion lector und psalmista.86 Auch der Psalmode liest, aber seine Kunst hat ein ausstellendes Mehr, mit dem sie sich den Sinnen darbietet. Sind damit die durch die Vorgabe von Heiliger Schrift und Psalter gesetzten Eckpunkte deutlich markiert, bleibt der Rezitation das Zwischen. Das macht, dass Rezitation sowohl das eine wie das andere sein kann, und es überrascht nicht, wenn sie sowohl mit der Lesung als Zitation, als auch mit der Lesung als Psalmodie fugenlos aufgehen kann. Die Rezitation scheint nichts für sich selbst zu sein. Wo immer die Rezitation reflektiert wird, wird ihr ein Status in der Mitte zugewiesen.87 Einmal ist sie der Mittelbegriff zwischen Lesung und Deklamation, wobei jene der einfachen Sprechstimme, diese der dramatischen Inszenierung einer Rolle zugeordnet wird. Aber im Spannungsfeld von Heiliger Schrift und Psalter hat, wie wir seit Lowth und Dobbs-Allsopp wissen, weder Dramatisches noch Episches Platz. Dann wieder ist Rezitation der Mittelbegriff zwischen Sprache und Gesang, und in dieser Bedeutung passt sie zum Lyrischen, das nach Lowth und Dobbs-Allsopp die biblische Poesie kennzeichnet. Wobei Rezitation auch hier beides sein kann, Sowohl/Als auch und Weder/Noch. Ersteres, wenn sie sowohl auf den tonus in directum der liturgischen Lesung zutrifft, der auch als Rezitationston bezeichnet wird, wie seit der Monteverdi-Zeit auf den stile recitativo, der die liturgische Rezitation in Richtung Dramatik verschiebt und zum Rezitativ macht. Dann aber auch letzteres, ein Phänomen, das meist mit dem Grenzbegriff der Kantillation bezeichnet wird, von dem so viel gewiss ist, dass er weder mit Sprechen noch mit Singen übereinkommt. Also gibt es wohl Gründe, sowohl die Heilige Schrift wie den Psalter als Rezitation zu lesen, wie keines von beiden, weder die Heilige Schrift noch den Psalter, da beide in verschiedener Weise zum Vortrag kommen.
84
Tertullian, De ieiun. 11. Isidor von Sevilla, Etym. VI 19,9.11; ders., De eccl. offic. I 5 De psalmis; I 10 De lectionibus. 86 Isidor von Sevilla, Etym. VII 12,24; De eccl. offic. II 11 De lectoribus; II 12 De psalmistis. Hrabanus Maurus, De inst. cler. I 11 De lectoribus ac psalmistis. 87 Sandstede, Art. Rezitation 2005. 85
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Lesung als Psalmodie Wenn also Rezitation auf der einen Seite alles sein kann, auf der anderen, wenn etwas für sich, am ehesten Kantillation, wenn aber Kantillation unter Bedingungen des europäischen Tonsystems stets als etwas Fremdes, außereuropäischen Kulturen und Musikgedächtnissen zugehöriges Phänomen empfunden wird, das weder im liturgischen Rezitativ der Gregorianik noch im recitativo der seconda pratica angemessen zum Zuge kommt, dann ist zwar klar, dass Lesung als Rezitation mehr ist als die Lesung, die nur zitiert, ein Mehr an Verlautbarung, Klang, Handlung, Ritual, aber greifbar wird sie erst in der Lesung als Psalmodie, der wir uns jetzt zuwenden. „Ursprünglich“, sagt Albert Gerhards, „mag der Psalm noch als Schriftlesung verstanden worden sein“,88 und das bleibt er als Teil der Heiligen Schrift, die gelesen wird. Aber er wird nicht nur zitiert, sondern rezitiert. Und er wird psalmodiert. Äußerlich betrachtet besteht das Mehr des Psalms in zweierlei. Was die sprachliche Seite anlangt darin, dass der älteste responsoriale Vollzug im Wechsel von praecentor und Chor der Lesung, die fortlaufen sollte, Wiederholung aufnötigt. Und was die musikalische Seite anlangt, so unterscheidet sich der tonus psalmorum vom tonus lectionum signifikant dadurch, dass er die Einachsigkeit des tonus in directum durch die Zweiachsigkeit des Psalmtons überschreitet. Jetzt ist es die Spannung zwischen der Achse des Rezitationstons und der Achse der Finalis, die einen Binnenraum der Töne schafft und bewirkt, dass der Rezitationston den Grad seines Ausgestelltseins durch den Grad seiner Abweichung von der Finalis noch einmal steigert. Worin besteht das Mehr des Psalms gegenüber der Lesung, die er ist? Einerseits ist korrekt zu antworten: Das Mehr besteht darin, dass der Psalter nicht nur wie der Rest der Heiligen Schrift zitiert, sondern rezitiert wird, und nicht nur rezitiert und kantilliert, sondern gesungen und psalmodiert. Das Mehr erscheint als etwas, was hinzugetan wird. Andererseits bleibt diese Antwort auf halbem Wege stecken. Die Psalmen zeigen: Sie werden nicht nur zitiert, sondern zitieren selbst. Und: Sie werden nicht nur rezitiert, sondern sie rezitieren selbst. Schließlich: Sie werden nicht nur gesungen, sondern singen sich selbst. Dies ist es, was sie vom Rest der Heiligen Schrift unterscheidet, und was sie gleichwohl ebendiesem Rest mitteilen. An dieser Stelle müssen wir tiefer graben als die Väter. Auf die Frage nach dem Mehr der Psalmen gegenüber der Heiligen Schrift antworteten sie mit dem Hinweis auf das Spiel der Affekte und: aller und jedes Affekte und Seelenzustände und ‑bewegungen,89 was in der rezitierenden Lesung weitestgehend, in der zitierenden ganz zurückzustehen hat, dagegen im Gesang, vor 88
Gerhards, Schriftgebrauch im Gottesdienst, 497. Athanasius von Alexandrien, Ep. ad Marc.10–13, PG 27, 20B–25B; 28, 40BD. Luther, Zweite Vorrede auf den Psalter 1528, WA.DB 10/1, 102,24: „ynn waserley sachen er ist“. Vf., Psalterium affectuum palaestra 1996. 89
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allem wenn dieser mit einem Set von unterscheidbaren Intervallen zwischen Rezitationston und tonus finalis arbeitet, zur vollen Wirkung gelangt. Psalterspiel als Spiel der Affekte ist kaum zu bestreiten. Die Affekte kommen im Psalter nicht zur Schrift hinzu, sondern sind, wie der Psalter paradigmatisch zeigt, bereits in ihr. Nur wie das möglich sein soll, erfordert die Überschreitung der bloßen Affektivität. Um mit dem Singen zu beginnen: Psalmen werden nicht nur gesungen. Dafür bieten sie reiche Evidenz. Deklaratorische und selbstreflexive Wendungen wie „Ich will singen dem Herrn“ oder „Lobe den Herrn, meine Seele“ schieben nur hinaus und verzögern, dass geschieht, wovon sie erklären, es möge geschehen. Psalmen werden nicht nur gesungen; sie singen sich selbst. Wenn überhaupt der schrifthermeneutischen These scriptura sui ipsius interpres Schwung zukommen sollte, dann daher. Darüber hinaus: Psalmen werden nicht nur rezitiert; sie rezitieren sich selbst. In Psalm 118,2 bezieht sich die Rezitationsformel „Es sage nun Israel“ nur auf eben den Vers, dessen Teil sie ist. Dagegen in Psalm 124,1 und 129,1 rückt die Rezitationsformel „So sage Israel“ nicht nur aus ihrem Vers, sondern auch aus dem Psalm als ganzem heraus und übergibt diesen, dem sie nun, obgleich Teil des Psalms, von außen gegenübertritt, als ganzen der Rezitation, die damit den Charakter der Rezitation seiner selbst annimmt. Und so, angeregt von der Selbstevidenz der Psalmodie und der Rezitation, gelangen wir zu dem für die Schrift als ganzer paradigmatischen Sachverhalt: Psalmen werden nicht nur zitiert, sondern zitieren selbst, zwar vielfach, doch in zwei grundlegenden Typen. – Der erste Typ liegt vor, wenn Zitat und Vorlage des Zitats nachgewiesen werden können. Ein solches Zitat kann zweimal nachgewiesen werden. Es wird eine Autorität zitiert, daher nennen wir diesen Typ Autoritätszitat. In diesem Sinn zitieren Psalmen (erste Möglichkeit) außerpsalmische Texte, zitieren also extern, und die klassische Auffassung des Psalters als eine Art Musterkollektion90 der Heiligen Schrift macht ihn von vornherein dessen verdächtig, nichts als eine Sammlung von Zitaten zu sein. Also sucht man nach Dubletten und wird vielfach fündig. Psalmen (zweite Möglichkeit) zitieren sich selbst, sie zitieren intern einzelne Verse, Psalmteile, ganze Psalmen. Die Auswahl verengt sich dadurch, lässt sich aber noch enger fassen. An die Stelle des Zitats anderer Psalmen tritt (dritte Möglichkeit) das Zitat seiner selbst. Das ist der Fall versweise in Refrains, versteilweise in Anaphern und geht bis zu solchen Elementen wie Akrostichon, Assonanz und Alliteration. Auf diese Weise gelangen wir vom Fremdzitat in immer größere Nähe zum Selbstzitat und fragen am Ende: Was wäre das Selbstzitat, über das hinaus kein intensiveres Selbstzitat gedacht werden kann? Es ist die Beinahe-Tautologie, die in ihren 90 Athanasius von Alexandrien, ebd. 2, PG 27, 12C: παράδεισος ; cf. 30, 41C. Luther, ebd. 100,5: „ausbund“.
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Teilen Autorität und Zitat zugleich enthält. Am äußersten Horizont taucht Exodus 3,14 auf, beinahe-tautologisch verstanden: „Ich bin, der ich bin“, allerdings reserviert für ein Selbst, das fremder als fremd ist. – Aber nicht immer kann die Autorität eines Zitats durch einen zweiten Beleg nachgewiesen werden, der in der Sache der erste ist. Hier kommt der zweite Typ ins Spiel. Er liegt vor, wenn das Zitat nur einmal gegeben ist und in seiner Erkennbarkeit als Zitat für sich allein steht. Mit fast unhörbarem Doppelschlag ist es Zitierendes und Zitiertes zugleich. Dieser zweite Typ verkehrt das Autoritätszitat in jedem Punkt. Es sei daher Zitatautorität genannt. Es begegnet nur einmal und ist gleichwohl als Zitat identifizierbar, das für seine Autorität alleine einsteht. So (erste Rubrik) wenn Stimmen anderer Personen, etwa von Feinden, Heiden und Königen zitiert und allein durchs Zitat zur Anwesenheit gebracht werden, Fremdzitate offenbar, die direkt auf Abwesende zurückgreifen. Sie zitieren von rechts: direkt. Ebenso (zweite Rubrik) wenn die Stimme Gottes durchs Zitat vernehmbar wird, sozusagen das fremdeste Fremdzitat, das in jeder Hinsicht aus dem Rahmen zu fallen droht. Dies findet seine äußerste Zuspitzung in der göttlichen Selbstvorstellung, die in Psalm 50,7 und 81,11 im Zitat vorgetragen wird. Hier ereignet sich das Überraschende, dass der Typ der Zitatautorität durch den stillschweigenden Bezug auf Exodus 20,1 mit dem Typ des Autoritätszitats zu koinzidieren scheint. Endlich die dritte Rubrik, unter der sich reine Selbstzitate versammeln. Obwohl die Fremdheit hinterrücks auch das Selbstzitat erfasst, das hätte von ihr unterschieden sein sollen, ist es logisch unbedenklich, wenn Zitationsformeln wie etwa „Ich sprach“ die Vergangenheit betreffen, oder etwa, wie soeben, „Ich will sagen/singen“ die Zukunft. Allerdings ist jetzt bereits spürbar, dass eine Art linkischer Fremdheit das Selbstzitat überschattet; hier wird ein Selbst in Abwesenheit gesetzt, das manifest anwesend ist. Das Selbstzitat zitiert von links: indirekt. Nie ist die Indirektheit größer als bei Zitationsformeln der Gegenwart. Natürlich ist logisch denkbar: „Ich spreche: ‚Ich spreche‘“. Aber nie spitzt sich das Selbstverhältnis der Gegenwart mehr zu, als wenn an die Stelle der Affirmation die Negation tritt. So in „Ich schweige“. Psalm 39,3 ist der Kern der monastischen Schweigelehren.91 Das Selbstzitat präsentischen Schweigens vollführt ein Paradox. Das Paradox entsteht durch die selbstbezügliche Negation „Ich schweige“ im Tempus praesens. Im selben Moment werden Grund und Abgrund des Zitierens bloßgelegt. Der Grund besteht in der Nichthintergehbarkeit der Sprache, die im Fall des selbstnegierenden Selbstzitats das Paradox heraufführt. Indem im Zitat die Sprache als Sprache, und – um Jakobsons Formel noch einmal aufzunehmen – das Wort als Wort auftritt, wird der Grund zu eben dem Abgrund, als der er bereits in der Selbstvorstellung des Gotteszitats Exodus 20,1 in Psalm 50,7; 81,11 und in der Tautologie des göttlichen Selbstzitats Exodus 3,14 in Erscheinung getreten war. – So ergibt der 91
Z. B. RB 6, 1.
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Blick auf das Zitat in den Psalmen: Während das Autoritätszitat der Teleologie vom Fremd‑ bis zum Selbstzitat folgt und bei gesteigerter Engführung bis zur Tautologie Exodus 3,14 gelangt, die allein Gott zusteht, folgt die Zitatautorität umgekehrt der Linie vom Selbst‑ zum Fremdzitat, als deren exponiertestes Exodus 20,1 erschien. Und wie im ersten Fall das Fremdzitat seine Spitze im Selbstzitat findet, so im zweiten umgekehrt, sodass am Ende das Selbstzitat Exodus 3,14 und das Fremdzitat Exodus 20,1 koinzidieren. Die Frage lässt sich nicht unterdrücken: War es nicht Lesen laut, die Lesung, um die es ging? Also Lesung in den Graden der Ausstellung Zitation, Rezitation, Psalmodie? Und war es nicht der höhere Grad an Selbstevidenz in Psalmodie und Rezitation, der uns zur Lesung als Zitation zurückführte? In der Tat. Angelangt bei den Psalmen als Gegenstand von Lesung erkennen wir paradigmatisch: Zitat ist nichts anderes als die Bloßlegung des inneren – in Wahrheit äußeren und äußersten – Dröhnens eines Textes, was natürlich eine Sache der Lesung ist, sofern diese laut geschieht. Zitation ist Ausstellung. Hier dröhnt der Text aus sich selbst heraus. Daher die Ausstellung der Ausstellung durch die Rezitation. Daher auch die noch weitergehende Ausstellung durch die Psalmodie. Das alles sind Vorgänge von Lesekunst. Wobei sichtbar wird, dass der Psalter insofern paradigmatisch ist, als er aus der Lesung maximal herausholt, was sie ist: Zitation.
c. Der sich ausstellende Name Der sich ausstellende Name wird zum Ereignis der Liturgie. Das Judentum erlaubt, dass der Name, der nicht ausgesprochen, schon gar nicht gesungen, und als das Unlesbare im Lesbaren nicht einmal gelesen werden kann, einmal im Jahr, an Jom Kippur, laut wird in der synagogalen Liturgie. Das Christentum nimmt dies auf, indem von der durch die Septuaginta gebräuchlich gewordenen Übersetzung des Tetragramms nur an wenigen hohen Tagen Gebrauch gemacht wird. Auf dem Höhepunkt der Basiliusliturgie wird ὁ ὤν92 an herausragender Stelle, am Eingang der Anaphora, ein einziges Mal gelesen und gerufen, aber nicht laut (ἐκϕώνως), sondern nur leise (μυστικῶς).93 Dionysius Areopagita reflektiert auf diese liturgische Praxis, indem er die Ausstellung des Namens mit Theorie unterfüttert. Grundsätzlich seien zwei Weisen von Zurschaustellung des Heiligen zu unterscheiden (διττός ἐστι τῆς ἱερᾶς ἐκϕαντορίας ὁ τρόπος), einmal durch Ähnliches (διὰ τῶν ὁμοίων), und dies sei die gewöhnliche, das andere Mal durch Unähnliches (διὰ τῶν ἀνομοίων), und diese bediene sich des Ungewöhnlichen und Unwahrscheinlichen.94 Die erste verfährt im Rahmen der affirmativen, die zweite im Rahmen der negativen 92
Gregor von Nazianz, Orat. 30 (theol. 4), 18, FChr 22, 260. Liturgie (Kallis 31997), 207. 94 Dionysius Areopagita, CH II 2–3, PG 3, 140C. 93
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Theologie, jene in Affirmationen, denen der Mangel anhaftet, dass sie unangemessen sind, diese in Negationen, mit dem Vorteil, dass sie wahrer sind als die Affirmationen. Damit ist die Grundasymmetrie eröffnet, mit der die Lesetheologie vom ersten Satz an prozedierte. Die Darstellung des Heiligen durch Unähnliches ist grundsätzlich angemessener. Nur eine Ausnahme will Dionysius gestatten. Innerhalb der Liturgie darf dank sakramentaler Dichte der Darstellung durch das Ähnliche der Vorzug gegeben werden.95 Der Antagonismus von Verbergen und Ausstellen gehört ursprünglich in diesen Zusammenhang. Er öffnet den beiden Weisen von Lesekunst, die auf der Unterscheidung von leisem und lautem Lesen beruhen, den Horizont. Leises Lesen folgt an sich schon den Regeln der apophatischen Theologie. Lautes Lesen bleibt von vornherein der Ausnahmesituation der Liturgie oder des Liturgie-Ähnlichen vorbehalten, die es erlaubt, durch Verfahrensweisen kataphatischer Theologie gegen das Angemessenere und Wahrere zu verstoßen. Wie nicht anders zu erwarten, spielt bei der Ausstellung das Visuelle die allergrößte Rolle; es geht um Zurschaustellung (ἐκϕαντορία), Ausstellung (ἐκϕαντεία), Darstellung (ἔκϕανσις), und dies stimmt ganz mit der Tradition der Gedächtniskunst überein, die durch Ausstellung von Bildern an besonderen Orten die Gedächtniskraft stärkt. Das Akustische tritt zurück, verschwindet aber nicht ganz. Was jenseits des Wortes ist und angemessener mit Wortlosigkeit (ἀλογία) beantwortet würde, wird gleichwohl in der Liturgie als Worthaftigkeit (λογιότης) und Wort (λόγος) besungen. Und ebenso: Was jenseits des Seins (ὑπερούσιον) ist, wird gleichwohl – wie in der Basiliusliturgie ein Mal an herausragendem Ort – mit der Selbstprädikation ὁ ὤν berufen und mit der Fremdprädikation ὁ μόνος ὄντως ὤν benannt.96 Dass der Name nicht nur ausgestellt wird, sondern sich selbst ausstellt, verdankt sich dieser Eigenheit von ὁ ὤν. Zwar wird dieser Name nicht nur geschrieben, sondern auch gelesen und gesagt und kommt, als bloße Übersetzung, dem hebräischen Namen niemals gleich, aber er wird von den wohlmeinenden Teilnehmern der Liturgie in seiner riskanten Positivität so verstanden, dass er wenigstens am Ort des originalen Namens und an seiner Statt steht und damit an dem Punkt, von dem die gesamte theologische Sprachentfaltung von Anfang bis Ende ihren Ausgang nimmt, wie der Fortgang der Basiliusanaphora zeigt. Ist somit hinreichend deutlich, dass der Name nicht nur sich verbirgt, sondern sich auch ausstellt, wiewohl nur unter Bedingungen von Liturgie, können wir zurückkehren zum Psalter als dem Paradigma lauten liturgischen Lesens. Psalmen, so sahen wir in äußerster Zuspitzung, psalmodieren, rezitieren, zitie95 Dionysius
Areopagita, EH II–VII, jeweils im zweiten Teil der Kapitel (θεωρία). Basiliusanaphora: Ὁ ὤν […], ἄξιον […] σὲ δοξάζειν τὸν μόνον ὄντως ὄντα θεόν. Ὁ ὤν ist Name (ὄνομα), Eigen-, genauer: Selbstname; τὸν μόνον ὄντως ὄντα ist fremde Benennung (προσηγορία), Zubenennung. Dionysius Areopagita, DN I 6, PG 3,596AB: selbstprädizierend ὁ ὤν; fremdprädizierend ὡς […] ὄντα. 96
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ren sich selbst. Sie stehen in einem Feld zwischen Tautologie und Paradox, das man das poetische Feld nennen darf. Der Tautologie nahe dann, wenn das Zitieren seiner selbst auf dem höchsten Grad seiner Engführung die Gestalt „Ich bin, der ich bin“ annimmt. Das ist zwar nicht der Name selbst, aber sein erstes Nachaußentreten, erstmöglicher Satz, der dem Namen folgt, und daher allererste Ausstellung des Namens. Dem Paradox nahe dann, wenn das Zitieren seiner selbst, etwa durch „Ich schweige“, einen performativen Widerspruch von der Art heraufführt, dass der Satz je nach Stärke des Widerspruchs zwischen Bindung und Lösung, Paradoxierung und Entparadoxierung hin und her spielt. Das ist zwar nicht der Name selbst, aber es ist die Wirkung des Namens, der in jedem Sprechakt und der Art seines Zitierens spürbar wird. Die Lesung des Psalters ist deshalb paradigmatisch für die Heilige Schrift überhaupt, weil in ihm Name und Zitat sich ohne Berührung berühren. Soviel ist klar: Der Name liegt in der direkten Fluchtlinie des Zitats. Walter Benjamin formuliert: „Ein Wort zitieren heißt es beim Namen rufen.“97 Gelingt es, diese Gnome zu erhellen? Gehen wir Ansätze zur Theorie des Zitats durch. – Schon als Stichwort schließt an die Namenstheorie des Zitats. Sie wird von der analytischen Sprachphilosophie vorgelegt, die Benjamins „Wort“ durch „Satz“ präzisiert und besagt: „Indem wir [einen Satz] in Anführungszeichen setzen, erzeugen wir einen Namen, der […] direkt zitiert.“98 Hier liegt dem Verständnis von Zitat ein enger Anschluss an citare als Rufen beim Namen zugrunde, wie Benjamin will. Nur unterliegt das Rufen einer erstaunlichen Umkehrung. Zwar ist der zitierte Satz „eben kein Satz, sondern ein Name“, aber nur weil der Name selbst es ist, der ruft, indem er „direkt zitiert“. Die Sprachanalytik präzisiert darüber hinaus: Der Name unterscheidet sich von der Benennung oder Prädikation. Ihr Unterschied liegt in der Basiliusanaphora klar zutage. Die Prädikation benennt, enthält aber nicht, zitiert daher nur indirekt; der Name benennt und enthält, zitiert somit direkt. – Man möchte dem drohenden Übergang von Sprachanalytik in Sprachmystik Einhalt gebieten, und zwar auf der Stelle. Also wird man die pragmatische Sprachanalyse stark machen. Sie besagt: „Anführung ist eine nahe Verwandte der Wahrheit. Wahrheit ist Anführungsbeseitigung.“99 Unter den Theorieansätzen des Zitats ist die pragmatische Theorie der letzte Vorschlag zur Güte: Man möge sich dem zuwenden, was nicht in Anführungszeichen steht. Erst wenn diese fallen, kommt Wahrheit in Sicht. Die Lesung jedoch folgt in jeder Hinsicht der mit dem literarischen Text eintretenden Entpragmatisierung, verfolgt also den umgekehrten Weg. Sie zeichnet das Made, dem die Kunst des Verbergens der Kunst angemessen wäre, gerade aus und stellt es als Ready-Made vor. – Wenn also die Setzung in Anführungszeichen 97
Benjamin, Karl Kraus 1931, GS II/1, 362. Goodman, Weisen der Welterzeugung 1984, 59. 99 Quine, Quotation 1995, 354. 98
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nicht unterlassen, sondern erst recht betrieben werden will, schlägt Sprachanalytik um in Sprachmystik. Michel de Certeau hebt in direktem Anschluss an Quine hervor: „In Anführungszeichen gesetzt, wird das Wort opak; es wird als Sache und nicht mehr als Zeichen betrachtet.“100 Anführungszeichen kappen die Referenzerwartung, sie unterbrechen den Gebrauch (use) und setzen auf bloße Erwähnung (mention).101 Aber genau die Opazität im pragmatischen wird zur Erhellung im literarischen Sinn. In Aufnahme der klassischen Psaltermetapher des Spiegels102 sagt Certeau: „Für das Sehen ist [d]er [Spiegel] das, was das ‚Zitat‘ für das Sprechen ist.“103 Wie sehr die spiegelnde Rezitation (récit spéculaire) Lucien Dällenbachs dem Zitat und Zitat im Zitat usw. Raum geben muss, ergibt sich daraus von selbst. Die mise-en-abîme ist im Kern eine Theorie des Zitats, und wenn sie auf den Fluchtpunkt des reinen Selbstbezugs des Zitats führt, den die Kappadozier als ἄναρχος ἀρχή bezeichneten,104 ist auch sie eine Namenstheorie des Zitats, auf deren analytische Gestalt wir nun aus einer neuen Perspektive zurückkehren können. Genügt dies schon, um ein letztes Licht auf den Parallelismus der biblischen Poesie und insbesondere der Psalmen zu werfen, der jetzt als das elementare Spiegel‑ und Zitationsgeschehen vor uns steht, so können wir zu allem Überfluss noch einmal auf Roman Jakobsons Theorie des Zitats zurückgreifen. Mit ihr zieht er den poetischen Extrakt aus dem strukturalistischen Ansatz. „Jede poetische Mitteilung ist eigentlich zitierte Rede“, sagt er.105 Wenn aber „eigentlich“ ist, was außerhalb der poetischen Mitteilung uneigentlich gewesen sein muss, dann ist der Klartext der Linguistik die Theologie. Da es im Allgemeinen gerade nicht so ist, ist es so allerdings – um die Erlaubnis des Dionysius Areopagita aufzunehmen – nur im Gebiet der Liturgie, sofern diese den Ruf „Die Türen, die Türen! Lasst uns in Weisheit aufmerken!“ (Τὰς θύρας, τὰς θύρας· ἐν σοϕίᾳ πρόσχωμεν)106 nicht ausschließt. Keine Liturgie ohne Schließung von Türen. Ebenso: Keine Literatur ohne Kanon, keine Poesie ohne Wiederholung dessen, was sonst bloß dahinfließt. Und ebenso: Kein Zitat ohne Kappung des Kontexts. Diese ist vorauszusetzen, wenn „die ‚Rede innerhalb der Rede‘“ wahrgenommen werden soll, um die es in der Poesie geht. Daher auch: Ohne verdoppelte Aufmerksamkeit (προσοχή) keine Wahrnehmung von Wort als Wort, diesem stringentesten Ausdruck für Rede in der Rede. Genau das ist im Parallelismus ursprünglich enthalten. Er ist Spiegel oder Zitat, in dem sich der Name selbst ausstellt. Wo immer sich in Text oder Rede ein derartiges Spiegel‑ de Certeau, Mystische Fabel 2010, 237. Anm. 237; § 8 Anm. 376. 102 Z. B. Athanasius von Alexandrien, ebd. 12, PG 27, 24B: εἴσοπτρον. Johannes Cassian, Conl. X 11,6, CSEL 13, 305,17: in speculo purissimo. Luther, ebd. 104,7: „spiegel“. 103 de Certeau, Nikolaus von Kues 1990, 327/Nicolas de Cues 1984, 71a. 104 Dällenbach, Le récit spéculaire 1977, 142. 105 Jakobson, Linguistics and poetics 1960, SW 3, 42: „,speech within speech‘“/Poetik, 111. 106 Liturgie (Kallis), 117. 100
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und Zitatphänomen zeigt, wie es beim Parallelismus der Fall ist, muss es der Name gewesen sein, der sich darin niederschlug.
4. Lectio facit theologum Tun wir gut daran, die Lesetheologie in einen Satz ausgehen zu lassen, und in ebendiesen? Während er auf der einen Seite nicht sonderlich neu klingt, dürfte auf der andern ein direkter Beleg hierfür kaum aufzutreiben sein. Soll wirklich die Lesetheologie ausklingen in einer Setzung, einer Positivität? Und wenn schon Setzung, dann dieser? Hätte es nicht Alternativen gegeben? Vielfalt? In der Tat. Die Standardreihe lectio, meditatio, oratio, contemplatio, die im Umkreis der Mönchs‑ und Lesetheologie verbreitet war,107 meidet Monothematik. Vielleicht sollte man eher, im Sinn dieser Vermeidung, die klassische Dreiheit des gebundenen Gesangs108 aufrufen und auf eigene Faust formulieren: lectio, oratio, psalmodia faciunt theologum.109 Und wenn schon von Psalter und Psalterspiel so prononciert gehandelt wurde, warum nicht chorus facit theologum?110 Oder gewagter: lusus facit theologum?111 Was spricht, vor allem im frühmonastischen Kontext, gegen Varianten wie vacatio facit theologum, wobei vacatio sowohl im Sinn von vacare lectioni wie vacare deo aufzufassen ist; oder memoria facit theologum, vor allem wenn memoria im Sinn von memoria dei (μνήμη θεοῦ) verstanden wird? Und endlich: Warum nicht silentium facit theologum?112 So ist die kanonisch gewordene Formel der Reformation, oratio, meditatio, tentatio als „eine rechte weise in der Theologia zu studirn“,113 nicht nur reich in sich, 107 Smaragdus von St. Mihiel, Diad. mon. 1–3, um 816/17, PL 102, 594–598. Jean Gerson, Notulae sup. Dionys., um 1400, ŒC 3, 204; ders., Ep. 37 vom 28. 9. 1416 an Jean le Célestin, ŒC 2, 174. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik 1, 1990, 222, 331 f u. ö. 108 Wagner, Gregorianische Formenlehre 3, 1921, 5, 83, 295. 109 Apophthegmata patrum, PG 65, 216C: εὐχή /oratio, μελέτη /meditatio, ψαλμῳδία /psalmodia. Petrus Venerabilis, Ep. 28, 8 an Bernhard von Clairvaux, PL 189, 129A: orando, legendo, psallendo. 110 Dobszay, Art. Offizium 1997, 596: Chorus facit monachum. 111 H. Rahner, Der spielende Mensch 1990, 59. 112 Luther, Erste Psalmenvorlesung 1513/15, WA 3, 372,23–25: Et hec in disputationi et multiloquio tractari non potest, sed in summo mentis ocio et silentio, velut in raptu et extasi. Et hec facit verum theologum. 113 Luther, Vorrede zum ersten Band der deutschen Schriften, Wittenberg 1539, WA 50, 658,29 f; 659,4. Zitiert u. a. in: J. V. Andreae, Reipublicae Christianopolitanae descriptio 1619, § 77, GS 14, 332; J. Gerhard, Loci theologici 1625, Prooem. § 17, I, 4b; A. G. Baumgarten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus 1735, § 1 schol.; J. S. Semler, Erster Anhang zu dem Versuch einer Anleitung zur Gottesgelersamkeit 1758; J. G. Herder, Briefe, das Studium der Theologie betreffend 1781, 30. Brief, WW 9/1, 422,24; 34. Brief, 461,15. In Semlers Weise, vermittelt durch T. C. Zembsch (Schleiermacher, Brief vom 3. 4. 1832 an C. Reichel, ASL 2, 357), tentatio als dubitatio verstehend: Schleiermacher, Über die einzurichtende Synodalverfassung 1817, KGA I/9, 133,8 f: „Ein Theologus wird nicht anders reif denn durch Zweifel und Anfechtung; das ist ein altes wahres und herrliches Wort.“
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sondern steht bereits in einer reichen Überlieferung, selbst wenn sie auf der einen Seite die lectio stillschweigend übergeht114 und auf der andern das bisher ungehörte Element der Anfechtung hinzufügt. Drei Elemente versprechen mehr Lebendigkeit als eines. Der Reiz jedoch, etwas, was man dreifach sagen kann, einfach zu sagen, wird dadurch nicht geringer. So kann oratio, meditatio, tentatio ohne Verlust komprimiert werden zu sola experientia facit theologum.115 Aber wir sind an den Kanon dessen, was aus der Tradition entgegenschallt, nicht gebunden. Es ist ein Zeichen für die Diversität der Lesetheologie, dass freie Bildungen durchaus in Reichweite liegen. Sie sind gleich ansprechend und nicht weniger wahr als lectio facit theologum. Also wenden wir uns gegen die Alleinherrschaft eines Satzes und sei es des lesetheologischen. Er scheint unfähig, den Strauß der Möglichkeiten zu fassen. Der Satz lectio facit theologum wäre goutierbar nur, wenn er die Zuspitzung zu sola lectio facit theologum zuverlässig ausschließt. Es scheint nicht angezeigt, die Lesetheologie in einem Satz ausklingen zu lassen. Handelte sie doch von mehr als Lesen, von Laut, Rede, Liturgie, Leben – und vom Psalter als Ausbund dieser aller. Soviel muss festgehalten werden: Non lectione tantum fit theologus.116 Es gibt einen Reigen von Instanzen, die man darüber hinaus nennen wollte und müsste. Aber dies ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Der Satz lectio facit theologum wird durch die Lesetheologie, die auch von Anderem als Lesen weiß, nicht nur relativiert, sondern geradewegs negiert. An herausragender Stelle hatten wir nicht nur zu tun mit Lesen und Lesen, also mit solchem Lesen, das sich durch die Lesemetapher geradezu ins Unendliche erweitert, sondern ebenso mit Lesen und Nicht-Lesen, was statt auf weiche Übergänge auf harte Kante setzt. Der Widerspruch erfolgt durch schlichte Negation, die entweder mit non lectione fit theologus oder direkter mit lectio non facit theologum formuliert werden kann. Auch diese Seite war in der Lesetheologie wirksam. „Vivendo, immo moriendo et damnando fit theologus, non […] legendo […].“117 Das heißt, dass wir die schweifende Ventilation, was alles außer Lesen einen Theologen zum Theologen mache, gleich abkürzen können durch die an Schärfe nicht zu übertreffende Einsicht, dass zum Satz lectio facit theologum der Gegensatz lectio non facit 114 Gravierend ist die Unterlassung nicht. Oratio steht seit Cyprian in Korrespondenz mit lectio: Ep. 1, 15, PL 4, 221B: Sit tibi vel oratio assidua vel lectio: nunc cum Deo loquere, nunc Deus tecum. 115 Luther, Tischrede Nr. 46, 1531, WA.TR 1, 16,13: Sola autem experientia facit theologum. Römerbriefvorlesung 1515/16, WA 56, 445,20 f: sola autem experientia vs. quod literis tradi po[test]. Jesaiavorlesung 1527/29, WA 25, 106,27: experientia, quae sola facit Theologum. Ebeling, Lutherstudien 3, 1985, 27 Anm. 75. 116 Luther, Tischrede Nr. 5864, vor 1540, WA.TR 5, 384,5 f: Theologum oportet fieri experimentis et usu, non lectione tantum sacrarum rerum. 117 Luther, Op. in ps. 1519/21, WA 5, 163,28 f/AWA 2, 296,10 f. Zweite Antinomerdisputation 1538, WA 39/1, 421,4 f: in hac doctrina [sc. theologia] diligenter exercere audiendo, studendo, meditando, vivendo, moriendo. Zitiert u. a. bei P. J. Spener, Pia desideria 1685, 77,8–12.
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§ 10 Lesekunst
theologum von Anfang an und gleichursprünglich hinzugehört. Der Klage über drohende Alleinherrschaft eines einzigen Satzes sind wir schon deshalb enthoben, weil die Dinge schlimmer stehen. Keineswegs muss die Lesetheologie warten, bis sie eines Anderen und Besseren belehrt wird, sondern die Einsicht liegt bereits im ersten Ansatz, dass offenbar Lesen einen Theologen zum Theologen macht genauso wie Nicht-Lesen. Wenn dies aber der Status der Lesetheologie von vornherein ist – die unsere reagierte darauf, dass sie anders als in polaren, durch „und“ gekennzeichneten Überschriften nicht verfahren konnte –, dann kann man sich die schlichte Positionalität eines Elements oder mehrerer Elemente kombiniert sparen. Statt der Setzung von Etwas wird es angemessener sein, von der Setzung einer Differenz seinen ersten Ausgang zu nehmen. Eine Differenz wird nicht gesetzt, sondern gezogen, geritzt, geschrieben. Man darf daher freimütig formulieren discretio facit theologum, ohne auch nur im geringsten gezwungen zu sein, die bisherige Reihe bloßer Positionalitäten fortzusetzen. Auch dieser Satz zieht wie ein Magnet zahllose Späne an sich, die in der Tradition von Mystik und geistlicher Erfahrung anfielen.118 Von Positionalität unterscheidet er sich dadurch, dass er sich nicht mit einem oder mehreren begnügen kann, sondern genau zwei entgegengesetzte Begriffe braucht, um ins Ziel zu treffen. So direkt zu Beginn von Luthers Autorschaft: Es sei das Beste, zwischen Geist und Buchstaben zu unterscheiden, das mache erst den Theologen.119 So noch der späte Luther: Nur wer zwischen Evangelium und Gesetz unterscheiden könne, darf sich als Theologe wissen.120 Und womöglich kann man diesen Impetus in freier Variation fortführen. Metaphoram a metonymia discernere facit theologum. Hat etwa die Unterscheidung von Buchstabe und Geist, Gesetz und Evangelium den Bezug auf das Lesen hinter sich? Keineswegs, sondern sie setzt es erst recht voraus. Lesen kennt Unterschiede. Jetzt kehrt dieser Sachverhalt wieder in Potenz: Lesen unterscheidet. Und zwar in der Weise, dass es sich selbst unterscheidet. Wie die Lesetheologie gezeigt hat, unterscheidet sich das Lesen von Laut, Sprache, Rede, Liturgie, Leben, Psalter als etwas anderem als Lesen. Aber eben in dieser Selbstunterscheidung liegt ein Doppeltes, ein Sich-Beziehen und ein Sich-nicht-Beziehen. Das Sich-nicht-Beziehen gewinnt Gestalt, indem Lesen Nicht-Lesen aus sich heraussetzt und sich klar und deutlich davon unterscheidet. Dagegen das Sich-Beziehen führt zu ständigen Versuchen, als Lesen zu bezeichnen, was kein Lesen ist, das heißt von der Lesemetapher einen Gebrauch zu machen, der 118
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4. Lectio facit theologum
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so weit zu gehen bestrebt ist, dass nichts nicht mehr in der Weise des Nicht-Lesens begegnet. Hier wird deutlich, weshalb die Unterscheidung von Metapher und Metonymie einem Theologen ansteht. Nicht etwa, weil das eine ihn ans Ziel brächte, das andere nicht, sondern weil die Unterscheidung beider ins Ziel führt. Wenn aber Unterscheidung an sich bereits die Tätigkeitsweise des Lesens ist, wenn also gilt: Lesen unterscheidet, präziser: Lesen verfährt selbstunterscheidend, dann kehrt auf diese Weise der Satz lectio facit theologum, der mit Grund abgewiesen worden ist, in neuer Perspektive wieder. Er kann jetzt sogar zugespitzt werden zu sola lectio facit theologum, wenn lectio nicht setzt, sondern unterscheidet. Und indem die lectio wesentlich sich unterscheidet, setzt sie alles andere als Lesen sowohl als Nicht-Lesen aus sich heraus, wie sie sich darauf als Lesen bezieht. Lesen ist so betrachtet nicht nur die Differenz, sondern die Einheit von Lesen und Nicht-Lesen. Der Formel vom sich wissenden Lesen sind wir begegnet. Mit seinem an Hegel erinnernden Ton erweckt sich lesendes Lesen ungehemmt die Vorstellung von etwas Schäumendem, Bacchantischem. Doch gilt zu bedenken: Sich lesendes Lesen geht in Wirklichkeit aus Diskretion hervor, und auch nur, solange diese nicht unterbrochen wird. Wenn die Lesekunst Ausübung dieser Diskretion ist, wenn also Lesen, um einmal richtig vorzukommen, zweimal vorkommen muss, nämlich so, dass es sich selbst unterscheidet, dann kann schwerlich geleugnet werden, dass über das auf Sparsamkeit angelegte erste Lesen hinaus mit dem zweiten ein gewisser Luxus ins Spiel kommt. Der eine Satz lectio facit theologum bringt zum Ausdruck: Lesekunst ist Arbeit und Fest.
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Bibelstellenregister 1. Buch Mose (Gen) 4,21 444 2. Buch Mose (Ex) 3,14 46, 48 f, 53, 471, 519 f 3,15 472 15 124, 406 20,1 519 f 26,33 382 32,32 f 365, 368 34,29 86 5. Buch Mose (Dt) 32 124, 406 Richter (Iud) 5 124 1. Buch Samuel (I Sam) 1,13 499 2,1–10 406 25,29 368 2. Buch Samuel (II Sam) 22,5 439 2. Buch der Könige (IV Reg) 22,8.11 396 23,2 396 2. Buch der Chronik (II Par) 33,9–13 406 Nehemia (II Esr) 7,69 v.l. 135 f 8,8 192 8–9 192 Esther (Est) 6,1 368
Psalmen (Ps/ps) 1 265, 446, 463, 474 1,1 86 1,1–2 483 1,2 13 1,4–6 483 18,7 196 19,3–4 351 19,8–10 457 22,3 196 23,4 233 27,7 196 28,1 196 29 447, 457 f, 461–471 33(32),2 440 33,9 469 34,7 196 36,6 f 469 39,3 519 40,7 467 40,15–18 457 42(41),8 423 42,9 438 45,2 76, 206, 454 46(45),7 328 46(45),11 13 49(48),5 V, 440 50,7 519 56,9 368 57(56),8 52 57(56),9 440 61,3 196 66,17 196 69(68),29 365, 368 70,3–5 457 71(70),15 333 72 457 72,20 440 81(80),3 440 81,11 519 87,6 368
Bibelstellenregister
562
92(91),4 440 102(101),3 424 104,2 128 108(107),3 440 111/112 503 117(116) 117 118,2 518 118,5 196 118(117),17 238 119(118),1 86 119(118),130 86 119(118),137 86 119(118),160 86, 89, 93 124,1 518 125 446 129,1 518 130(129),2 117 133 458–460, 463 f, 466, 468 f 137 446 138(137),3 196, 424 139,7–10 469 139(138),16 328, 368 141(140),1 117, 196 142(141) 117 144(143),9 440 145 439 f, 503 146,7–9 457 148 439 148,5 469 149,3 440 150,3 440 151,2 440, 443–445 Oden (Wd) 1–14
406 f, 444
Weisheit Salomos (SapSal) 8,8 136 Jesus Sirach (Eccli/Sir) 24,32 362 Jesaja (Is) 4,3 365, 368 6,3 8 16,10 186
26,9–20 406 34,4 318 38,10–20 406 38,11 358 49,8 279 52,7 249 56,5 368 65,6 368 Jeremia (Ier) 1,6 53 f 1,9 54 14,13 53 f 22,30 368 32(39),17 53 f Ezechiel (Ez) 2,8 363 3 318 3,1 363 37 VII, 470 Daniel (Dn) 3,26–45 406 3,52–88 406 7,10 368 10,21 368 12,1 368 Jona (Ion) 2,3–10 406 Habakuk (Hab) 3,2–19 406 Maleachi (Mal) 3,16 368 Matthäus (Mt) 1,1 376 5,17 348 12,30 34, 188 13,45 f 382 Markus (Mc) 16,17 102
Bibelstellenregister
Lukas (Lc) 1,46–55 406 1,68–79 406 2,14 406 2,29–32 406 4,17 315 10,20 365, 368 11,23 34, 188 20,42 442 Johannes (Ioh) 1,1 89 3,14 f 348 5,39 363 6,63 68 14,20 481 16,23 481 Apostelgeschichte (Act) 1,20 442 8,30 195 Römer (Rm) 1,20 341 f 2,29 67 5,14 347 7,6 67 1. Korinther (I Cor) 2,14 332 10,6.11 347 12,6 239 14,10 59, 63, 75 15,28 239 15,45 68 2. Korinther (II Cor) 1,13–14 189 3 318 3,2 195 3,2–3 189 3,3 205 3,6 41, 68, 319 3,7 86 3,13 f 86 3,13–16 189 f
563
5,13 447 6,2 279 Philipper (Phil) 4,3
365, 368
Kolosser (Col) 4,6 328 2. Timotheus (II Tim) 3,15 43 3,16 403–405 Hebräer (Hb) 8,5 347 9,24 347 12,23 365, 368 1. Petrus (I Pt) 3,21 348 2. Petrus (II Pt) 1,16–18.19–21 190 Apokalypse (Apc) 1,1 49 1,3 53 1,4 360 1,8 48 f, 56, 360 1,11 50 1,17 50 1,18 238 2,8 50 3,5 365, 368 4,8 8, 360 5,1–5.7.9 368 6,14 318 10 356 10,2.8–10 368 10,9 f 363 13,8 365, 368 17,8 365, 368 19,16 382 20,12 368 20,12.15 365, 368 21,5–6 48, 50, 52
564 21,27 365, 368 22,13 48, 50 22,19 49, 365 22,21 49
Bibelstellenregister
Personenregister Acitores, A. de 341 Aebli, H. 2 Agamben, G. 414 f, 420, 424 Alanus de Insulis 330 Alciatus, A. 340–342 Alcuin 103 Alter, R. 399 Ambrosius v. Mailand 404 Ammonius 65 f Andreae, J. V. 382, 524 Angelus Silesius, s. Silesius, A. Anselm v. Canterbury 445 Antonius Eremita 327–330, 333, 341 Aristoteles 6, 8, 28, 60–62, 82, 106–108, 113, 190, 263, 268, 321, 350, 385, 393, 421–423, 427, 444, 461 f, 464, 466, 486 f, 510 Arndt, J. 339 Arnold, M. 400 Asmuth, B. 253 Assche, M. Van 14 Assmann, A. 95–99, 186, 364 f Assmann, J. 95–99 Athanasius v. Alexandrien 327 f, 390, 402, 444, 517 f, 523 Aubenque, P. 82 Augustin 5–8, 13, 21, 238, 328, 331, 341, 370, 391, 395, 445, 499 Aune, D. E. 51, 368, 382 Austin, J. L. 92, 223 Ax, W. 58–64 Balbinus, B. 341 f Balogh, J. 188, 498 Baltes, M. 320 Balthasar, H. U. v. 7 Barck, K. 413, 419 Barthes, R. 135 Basilius v. Caesarea 8, 53, 404, 444 f, 520 f Baumgarten, A. G. 524
Beadle, G. u. M. 371 Beardsley, M. C. 159, 175 Beauchamp, P. 397 Beda Venerabilis 103 Benjamin, W. 188, 196, 227, 238–241, 317, 402, 415, 435 f, 447, 463, 522 Bergk, J. A. 491 Berlin, A. 282 Bernard, W. 428 Berndt, R. 20 Bernhard, T. 116 Bernhard v. Clairvaux 524 Beseke, J. M. G. 489 Beutel, A. 485 Beyer, A. 227 Beyerle, K. 367 Binder, W. 251 Binswanger, L. (d.Ä.) 364 Binswanger, L. 226, 230 Birus, H. 137 Blackwell, T. 418 Bloom, H. 270 Blumenberg, H. 210, 228 f, 235, 328, 349, 355, 362, 364, 371 Boccaccio, G. 171 Boethius 6 Bonaventura 209, 344 Boncompagnus da Signa 146 Borges, J. L. 87, 210, 260 Bormann, A. v. 337 Brandt, J. G. 115 Braungart, W. 301 f Breidbach, O. 230 Brinkmann, H. 178 Buber, M. 193, 463, 466 Büchner, G. 467 Buddeus, J. F. 85 Bühler, K. 287, 431 Burckhardt, J. 327 Butzer, G. 492–494 Buxtorf, J. (d. J.) 395
566
Personenregister
Cabassut, A. 525 Calati, B. 14 Cancik, H. 275 Carrière, J.-C. 316 Cassiodor 21, 103, 190, 333, 391 Cassirer, E. 52, 498 Catell McKeen, J. 200 Celan, P. 63, 240 f Certeau, M. de 523 Chantraine, P. 188 f Chlebnikov, V. 137 Cicero 179, 495 Cledonius 64 Clemens v. Alexandrien 444 Cohen, H. 453 f Comenius, J. A. 382 f Comoth, K. 47 Crescenzi, L. 491 Cusanus, N. 50, 295, 305, 334, 361, 502, 506 Cyprian 13, 526 Cyrill v. Jerusalem 499 Dällenbach, L. 424, 523 Damaskios 82 D’Angelo, P. 486 Dante Alighieri 481 f Danto, A. C. 354–361 Darnton, R. 492 Deleuze, G. 276 Delitzsch, F. 439 f, 467 Del Valle Rodríguez, C. 395 De Man, P. 240 f Demandt, A. 348 Demme, H. C. G. 492 Derrida, J. 68, 91 f, 94 f, 100, 106 f, 321 f, 359, 418 Di Cesare, D. 116 Dihle, A. 5 Dilthey, W. 158 Diomedes 58, 64 Dionysios v. Halikarnass 65 Dionysius Areopagita 6–8, 11, 405–407, 428, 447, 520 f Dobbs-Allsopp, F. W. 448–460, 466 f, 505 Dobszay, L. 524 Dodge, R. 200 f, 208 f Donat 58, 64 f
Donat, D. 237 Donat, S. 137 Dornseiff, F. 214, 239 Dreifuss, R. 76 Dronke, P. 8 Dubois, J. 18 Dürer, Albrecht 214 Dürig, W. 525 Ebeling, G. 4, 525 f Eco, U. 316 Ehlers, J. 19 Ehrat, A. 237, 328, 340 f Ehrenberg, H. 192 Eisenstein, E. L. 324 Emerson, R. W. 514 Erasmus, Desiderius 343, 484 Erdmann, B. 200 f, 208 f Erhart, P. 365 Ernst, U. 139–144, 212 Esposito, E. 385 Euripides 238 Euseb 390, 395 Euthymius Zigabenus 445 Evagrius Ponticus 18, 328 f Evans, G. R. 4 Fabian, C. 311 Fechner, G. T. 197 Ferrari, O. 87, 210, 260 Fichte, J. G. 362, 383 Fichtenau, H. 17 Fiore, Q. 319 Flacelière, R. 47 Földes-Papp, K. 100 Folliet, G. 13 Freud, S. 202–207, 209 f, 276 Frey, H.-J. 461 Friedrich, H. 229 Frischmann, B. 72 Fritz, M. 457, 469 Frühwald, W. 322 Fuhrmann, M. 424 f Gabellone, L. 228 Gadamer, H.-G. 237 Garz, D. 228 Geertz, C. 228
Personenregister
Gerber, S. 67 Gerhard, J. 29, 83, 524 Gerhards, A. 513, 517 Gerson, J. 524 Gerstenberger, E. S. 441 Gessinger, J. 95 Gfrereis, H. 474–476, 479 f Ghellinck, J. de 10 Giannelos, D. 117 Giehlow, K. 239 Giesecke, M. 315, 323 Gilliard, F. D. 188, 499 Gilson, É. 54 Glaser, H. A. 126 Goldmann, S. 509 Goldschmidt, V. 4 Gombocz, W. L. 46 Goodman, N. 215, 522 Goodman-Thau, E. 68 Gottlieb, M. 469 Greber, E. VII, 134–139, 145, 160 Gregor v. Nazianz 520 Gregor v. Nyssa 444 f Grice, H. P. 90, 92 Grimm, J. 116, 148, 187, 228 Gross, S. 209 Grote, A. 186 Gundert, H. 425 Günther, H. 197, 201, 203 Gurisatti, G. 190 Gwalter, R. 386 Haarmann, H. 100 Hahn, A. 186 Hall, J. 345 Hamacher, W. 241 Hamann, J. G. 73, 418 Hansen-Löve, Å. A. 287 Hanslik, R. 17 Harbeck-Pingel, B. VIII Härdelin, A. 19 Hare, F. 449 Harms, W. 337 Hartman, G. H. 68 Hasselhoff, G. K. 470 Hauke, H. 14 Havelock, E. A. 188 Hay, L. 122, 147
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Hederich, B. 413 Heerbrand, J. 83 Hegel, G. W. F. 34, 252, 271, 280, 317, 321, 423, 469, 498, 508, 527 Heidegger, M. 186, 276 Heider, F. 131 Heini[c]ke, S. 489 Helmholtz, H. 197 Henkel, A. 237, 341 f Heraklit 149 Herder, J. G. 113 f, 304, 345, 372, 378–381, 401, 418, 455, 524 Hieronymus 53 f, 103, 391, 395, 439, 443, 449, 470 Hippolyt 439, 444 Hjelmslev, L. 154 Hoff, J. 153 Hogrebe, W. 55 Hölderlin, F. 149, 271, 410 Holenstein, E. 154 f Hollatz, D. 30, 84 Hölter, A. 274–276, 392 Höltschl, R. 319 Horaz 238, 264, 424 Hossfeld, F.-L. 191 f, 194–196 Hrabanus Maurus 21, 140 f, 392, 516 Hugo, V. 319 Hugo v. St. Viktor 19–25, 66, 209, 313, 315, 331–333, 378, 381, 391 f, 445, 477, 490, 498 Hühn, H. 276 Huizing, K. 29, 87, 190 Humboldt, W. v. 90, 100, 108–111, 413, 416–418 Husserl, E. 221, 230, 504 Idel, M. 128 f Illich, I. 20, 26, 186, 381, 490 Ingarden, R. 223 Iser, W. 210, 218–224, 231 f Isidor v. Sevilla 67, 187, 313, 315, 392, 439, 445, 498, 516 Jabès, E. 321 Jaeger, W. 8 Jakob, J. 448 Jakobi-Mirwald, C. 315
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Personenregister
Jakobson, R. O. 75, 113, 119, 136–138, 143, 154, 172, 174, 272, 282 f, 285, 287 f, 294–296, 430–436, 471, 501, 504 f, 523 Jauss, H. R. 218 Javal, L.-É. 198 f Jean Paul 345 Jebb, J. 400 Jochmann, C. G. 447 Jochum, U. 364, 382 Johannes Cassian 13, 16, 190 Johannes Chrysostomus 328 Josephus, F. 43 Jousse, M. 451, 495 Kainz, F. 216 Kammer, S. 148, 151 Kamper, D. 68 Kant, I. 164, 197, 220, 232–234, 266, 311 f, 318, 338, 431, 469, 487, 489 Kay, L. E. 371, 373 Kayser, W. 451 Keller, H. 323 Kermode, F. 399 Ketten, J. M. v. d. 238 Kierkegaard, S. 276 Kleine, U. 135 Klopstock, F. G. 448, 452, 461 Knapp, F. G. 322 Knobloch, C. 122, 126, 147, 150–152 Knox, B. M. W. 188, 499 Koep, L. 366, 368 Kogler, K. 315 Kolesch, D. 116 Koller, H. 412 Kommerell, M. 461 König, E. 115 König, J. F. 84 Konrad v. Megenberg 334 Köpf, U. 4, 9–11 Körtner, U. H. J. 29 Kraimer, K. 228 Krämer, H.-J. 72 Kranemann, B. 251 Krause, D. 35 Kruszewski, M. 153, 288 Kuchenbuch, L. 135 Kugel, J. L. 399, 464 f
Küpper, J. 251, 260–273, 302, 311, 389, 409 f, 461 Kuratli Hüeblin, J. 365 Labuschagne, C. J. 191 Lacan, J. 276 Lachmann, K. 148 LaCoque, A. 170 Lamare, M. 198 Lange, C. 311 Langer, S. K. 100 f Lauretus, H. 341 Leclercq, J. 14, 19 Lentes, T. 130 Leroy J. Halsey 400 Levinas, E. 363 Lichtenberg, G. C. 229, 237 Lichtheim, L. 205 Lieb, H.-H. 108 Lieberg, G. 5, 125 Lindner, B. 240 Lobsien, E. VII, 277–290, 302 f, 399, 434 Lobsien, V. VII Longin 424, 469, 487 Lowth, R. 163, 400 f, 448–450, 453, 456, 469, 487, 502 Luhmann, N. 132 f, 322 Luscombe, D. E. 4 Luther, M. 29, 70, 85–89, 93, 184, 190, 235, 311, 363, 378, 382, 386, 392 f, 439, 477, 485, 517 f, 523–526 Maas, U. 107 Macpherson, J. 452 Maimonides 470, 506 Marks, H. J. 68, 195 Markschies, C. 228, 515 Marquard, O. 231 f, 235 Martens, G. 122, 147–149, 151, 153 Maurer, K. 216–218 Mauss, M. 306 McDonough, S. M. 43, 49, 53, 56 McEvenue, S. E. 29 McKeen Cattell, J. 200 McLuhan, M. 315, 319 f, 324, 497–499 Meier-Oeser, S. 343 Meister Eckhart 54, 334, 363, 506 Melanchthon, P. 83
Personenregister
Merleau-Ponty, M. 296 Meyer, H. VII Meyer, R. T. 14 Meynert, T. 207, 210 Michael, B. 146 Michael Psellos 445 Michaelis, J. D. 163, 448 Moog-Grünewald, M. VII, 342, 426 f, 429 f Mörike, E. 187, 476 Moulton, R. G. 400 Müller, P. 29 Mundó, A. M. 14 Musaeus, J. 84 Nahmer, D. v. d. 14 Negel, J. 280 Nethöfel, W. 228 Nicolson, A. 399 Nietzsche, F. 54, 76, 229, 410, 491 Norton, D. A. 397, 399–401 Novalis/Hardenberg, F.v. 74, 359, 363, 369 f, 383, 420 f, 490 Nowak, K. 71 Offergeld, T. 20 f, 333 Ohly, F. 237 f, 328, 331 f, 335, 339, 344–346, 348–353, 367 Onasch, K. 407 Ong, W. J. 90, 96, 101 Optatianus Porfyrius, P. 143 f Origenes 67, 390, 439, 444, 449 Otto, W. F. 27 Otto v. Freising 357 Pallesen, C. 127, 397 Panofsky, E. 239 Pascal, B. 269 Paulus Diakonus 141 Pausanias Periegeta 508 f Pelagius 13 Petrarca, F. 171, 414 Petrucci, A. 22 Petrus Venerabilis 524 Philipp, W. 5 Philo v. Alexandrien 43, 449 Picht, G. 300 f Picinelli, F. 237–239, 328, 340 f
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Pico della Mirandola, Giov. 5 Platon 1 f, 4, 47, 62 f, 72, 101, 149, 163, 188 f, 196, 233, 238, 253, 259, 265, 329, 425 f, 447, 461, 465, 467, 473, 486, 495 Plinius (d.Ä.) 190 Plotin 427 Plutarch 44–48, 189, 417, 509 Polaschegg, A. 387 Pomorska, K. 137, 432 Prauss, G. 234 Priscian 65 f Proklos 427 f Quine, W. v. O. 522 Quintilian 102, 179, 413, 486, 494 Raeder, S. 70 Rahden, W. v. 95 Rahner, H. 524 Rahner, K. 29, 162 Raimundus Sabundus 5, 33, 334–336, 345 Rakelmann, G. A. 186 Ranke, E. 514 Ratschow, C. H. 83–85 Regehly, T. 231 Reichel, C. 524 Reinitzer, H. 337 Reisch, G. 382 Richard v. St. Viktor 331 Richter, K. 251 Richter, S. 192 Ricœur, P. 146, 156–160, 167–172, 175, 177, 179, 196, 223 f, 245 f, 249, 280, 397 Rilke, R. M. 302 Röckelein, H. 130 Roesler, A. 323 Roques, R. 7 Rorem, P. 7 Rosen, V. v. 487 Rosenzweig, F. 192, 463 Rousse, J. 14, 27 Rousseau, J.-J. 52, 417, 491 f Röwekamp, G. 514 Rückert, F. 46 Rufin 13
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Personenregister
Ruh, K. 524 Russell, J. S. 237 Rusterholz, P. 87 Saenger, P. 498 f Sallis, J. 491 Sanders, J. A. 443 Sandor, M. 14 Sandstede, J. 516 Sartre, J.-P. 251 Saussure, F. de 153, 178, 288, 435 Saxl, F. 239 Scaliger, J. C. 66 Schäfer, G. 382 Schanze, H. 369 f Schapp, W. 232 Scharlemann, R. P. 162 f, 165–167, 170 f Schefer, C. 72 Scherner, M. 130, 178 Schiller, F. 27 f Schlegel, A. W. 95, 420 Schlegel, F. 71–74, 95, 241, 359, 375, 383, 420, 490 Schleiermacher, F. D. E. 30 f, 68–72, 252, 359, 467, 509 f, 524 Schmid, K. 365–367 Schmidt, H.-P. 387, 398 Schmidt-Biggemann, W. 83, 382 Schmitt, Carl 5, 239 Schmitt, Christian 185 f Schneemelcher, W. 390 Scholem, G. 128, 468 Scholtz, G. 125 Schöne, A. 237, 341 f Schrödinger, E. 371 Schulte, C. 68 Schulte-Sasse, J. 315 Schumacher, E. 74, 489 Semler, J. S. 394, 524 Seneca, L. A. (d.Ä.) 486 Sextus Empiricus 70 Seybold, K. 141, 447, 458, 464 Sidney, P. 231 Sieben, H. J. 27 Silesius, Angelus 478 f, 482 Sinsheimer, R. L. 372 Slusser, M. 188, 499
Smaragdus v. St. Mihiel 524 Smuda, M. 228 Snell, B. 412 Sokrates (Hist.) 328 f Sokrates (Philos.) 72, 473 Sommer, A. U. 186 Sommer, M. 186 Sörensen, B. A. 241, 338 Spahr, C. 14 Spener, P. J. 526 Spieckermann, H. 464 Spitz, H.-J. 10, 381 Splett, J. 169 Spyra, U. 335 Staiger, E. 219, 259 Stegmüller, F. 335 Steinthal, H. 416 Sternberg, M. 399 Stetter, C. 79 f, 89–92, 94 f, 99 f, 103–105, 107, 114, 118 f Stierle, K. 22, 228, 231 Stoellger, P. 131 f Strätling, S. 123, 137 Suntrup, R. 347–349, 351 f Svenbro, J. 188, 499 Szilasi, W. 230 Tauler, J. 184, 235, 363 Tertullian 5, 516 Theunissen, M. 276 Tholen, G. C. 317 Thomas v. Aquin 6, 23–25, 29, 362, 366, 369 Thomas v. Celano 318 Thum, T. 45 f Tillich, P. 166 Tilliette, X. 364 Trabant, J. 90 Trithemius, J. 314 f, 324 Trubetzkoy, N. S. 75 Ullrich, P.-O. 169 Valéry, P. 429 f Venantius Fortunatus 314 Venema, G. J. 192 Vergil 63 f, 187, 314 Verlaine, P. 410
Personenregister
Virilio, P. 319 Vogt-Spira, G. 64–67 Vogüé, A. de 14 Völker, L. 253 Vossius, G. J. 418 Wackenroder, W. H. 338 f Wagner, P. 524 Wagner-Hasel, B. 124 Waldenfels, B. 116, 291–298 Walzel, O. 263 Wanek, N.-M. 117 Warburg, A. M. 226 f Warren, A. 251 Wathen, A. G. 14 Webster, J. 29 Weidemann, H. 107 f Weidner, D. 387, 394, 398, 401 Weigel, S. 227 Weimar, K. 180, 186, 251–260, 272, 290, 389, 408, 414 Weinrich, H. 178
Weiss, C. M. 140 Wellek, R. 251 Wernicke, C. 197, 204–207 Wernli, M. 186 Wette, W. M. L. de 371 f, 453, 465 Wetzel, M. 319 Wheelwright, P. 116 Wieland, W. 72 Wiethölter, W. 112 Wilamowitz-Moellendorff, U. v. 148 Willgren, D. 441 Winckelmann, J. J. 340 Wind, E. 5 Wischmeyer, O. 67 Witte, G. 123 Wittgenstein, L. 190 f Woolf, V. 360 Wundt, W. 197, 199–202 Zeidler, J. G. 489 Zimmermann, A. 4 Zintzen, C. 316
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Sachregister a. Hebräisch 395 f משׁנה 368 ספר זכרון 368 ספר זכרנות 366 ספר חיים 376, 439 ספר תהלים 462–464, 466 קול־יהוה 185, 191–196 קרא 177, 506 קרי 192 קריאה 376, 439 תהלים
100 א 53 f אהה 49, 54, 471 f אהיה 191 הגה 191, 366, 472 זכר 464–468 י 177, 506 כתיב 111 קדושׁים-כתבי 454 מעשׂי 191–193 מקרא
b. Griechisch ἀγράμματος 108 ἄγραπτον 69 ἀκούειν, εἰσακούειν 117 ἀκρίβεια 390, 392 ἀλογία 521 ἀμφιβαλλόμενα 390 ἀναγιγνώσκειν 12, 185, 188–190, 195,
328, 390 f ἀναγνώρισις 190 ἀνάγνωσις 12, 14, 58, 189 f, 407 – θεία 14 ἀναγνώστης 407 ἀναγνωστική 487 ἀναλέγειν 188 f, 191 ἀνάρρησις 12 ἀνεκφώνητον 470 ἀνοίγειν V, 314 ἀντιλεγόμενα 390 ἀντίτυπος 347 f ἄπειρον 421, 462, 514 ἀπέραντον 421 ἀπόκρυφα 390 f ἀπόφανσις 61 ἀπόφασις 61, 428
ἄρρητον 69 ἄρρυθμον 421 f ἀρχή 49 f, 55, 81–83, 93 – ἄναρχος 82, 523 ἀσίγητος 8 ἄφθεγκτον 422 ἄφωνον 59, 63, 75 ΑΩ 47–56, 161 βιβλαρίδιον 368 βιβλία 314, 328, 380, 388 βιβλίον 314, 328 – μνημοσύνου 368 βίβλος 8, 39, 313 – ζωῆς 368 – ζῶντων 368 – (τῶν) ψαλμῶν 376 f, 403,
406, 442 βουστροφηδόν 414 γράμμα 39, 41, 65–67 γράμματα 39, 327 – θεῖα 43 – ἱερὰ 34, 42 f
Sachregister γράφειν 39, 314, 487 f γραφή 6 f, 8, 10, 12, 39, 111, 403 f γραφική 487 γραφόμενα 107 f δελτίον 314 δέλτος 314, 405 δευτέρωσις 395–397 διάλεκτος 60 f, 423 δίπτυχον 314 δοξολογία 8, 296, 406 δρώμενα 226, 250 δύναμις 44, 47 Ε, ΕΙ 44–47, 161, 509 εἴσοπτρον 523 ἐκφώνως 492, 520 ἔμμετρον 421 f ἐντυγχάνειν 12, 188 ἐξιστάναι 427 ἐπᾴδειν 473 ἐπιλέγειν 188 f, 191 ἐπιρρήματα σχετλιαστικά 52 ἑρμηνεῦον 265 ἑσπερινόν 116, 444 ἕτερον 292 ἡσυχία 51 θεογραφία 9 θεολογεῖν 6, 8, 27 θεολογία 1–10, 27 f, 30, 171, 296,
405, 426 – ἀποφατική 7 – τῶν γραφῶν 7 θεολογική 6 θεολογικός 7 θεολόγος 6–8 θεοπτία 7 θεουργία 7, 405 θεῳδία 7 ἰσοσθένεια 70, 153 κανονιζόμενα 390 f, 394 καρδία 51 f κατάφασις 61, 428 κίνδυνος 473
κοινωνία 96, 510 λανθάνειν 422, 486–488 λέγειν 185 f λεγόμενα 226, 250 λειτουργία 306 μαίνεσθαι 427 μανία 259 μέθεξις 265 μελέτη 524 μεταξύ 265 μνήμη θεοῦ 524 Μνημοσύνη 495 μουσική 413, 426 μυθολογία 4, 426 μῦθος 263 μυστικῶς 492, 520 νόθα 390 ὁμολογούμενα 390 ὄρθρος 407, 444 παιδιά 72 παννυχίς 444 παραμυθία 328 f πεζόν 417 f πίναξ 274, 382 πνεῦμα 57, 67 f ποιεῖν 389, 413 ποίημα 464 ποίησις 413, 425 f, 454 ποιητική 413 προσηγορία 521 σημεῖον 107 σπουδή 72 στοιχεῖον 32, 58, 63–67 σύμβολον 44, 107, 427 συμπλοκή 467 συνθήκη 107 σύνθημα 427 συνουσία 510 σχολή 14 ταὐτόν 292 τεκ* 124
573
574 τύπος 347
Sachregister
φθόγγος 62, 65 φωνή 59–63, 75, 107, 117 – σημαντική 61, 63, 467
ψαλμοί 376, 439, 403–405, 440 – ἐπιλύχνιοι 117 ψαλμός 443 ψαλμῳδία 407, 445, 473, 524 ψαλτήριον V, 406, 439 f, 443–445 ψάλτης 407 ψευδῆ 390 ψόφος 60, 62 f
χάρις 273, 275, 285 χρονογραφία 356
ᾠδαί 405–407 ὤν, ὁ 49, 53 f, 56, 360, 520 f
ὑμνολογία 8 ὑφαίνειν 124, 135
c. Lateinisch a a a 53 f abyssus 415, 423 f accentus/concentus 498 acedia, acediosus 16, 329 actio 249, 275 ars 21 – legendi 489 f – memorativa 312
experientia 18, 329, 525 extasis 524
bibliotheca 15
grammatica 66, 70
caeremonia 305 canon 275, 391 – actionis 275 – lectionis 275 canticum 406, 442 carmen – cancellatum 143, 148, 173 – figuratum 139, 143, 212 catalogus 27, 382 celare 422, 486–488 chorus 524 cithara 381 codex 314 f, 323 coincidentia oppositorum 84, 295 cola et commata 103
heu heu heu 54
desidia, desidiosus 13, 16 f, 329 discernere, discretio 526 elementum 32, 58, 65–67 emblemata 237, 341 exemplar 347
facies – hominum 190 – Mosis 86 – scripturae/scripturarum 86, 190 fovea centralis 197, 201
illegibile 506 ineffabile 470, 506 inexpressibile 506 infinitum 168 iteratio 494 lectio 13, 21 f, 58, 305, 392, 407, 477, 490, 512, 516, 524–527 – continua 513–515 – divina 14–16, 18 f, 23, 27, 322, 378 f, 498 – spiritualis 27 lectura – biblica 11 – sententiarum 11 legere 12, 21 f, 185 f, 211, 391, 488 – sibi 14, 18, 307 liber 39, 313–315 – creaturae/creaturarum 326, 334 f, 344 – mortis 367–369 – mundi 326
Sachregister
– naturae 326, 330, 335, 339, 344 – psalmorum 376 – scripturae 330, 334, 344, 351 f – vitae 333 f, 362, 365–368 – viventium 365 littera 39, 59, 63–67 litterae 39, 243, 336 litteratura 21, 333 liturgia 305 magister, magistra 17 f, 329 manducatio spirit(u)alis 10, 475 meditatio 13, 22, 392, 477, 490, 492 f, 507, 524 medulla oblongata 204 membrum VII, 450, 504 memoria 249, 492 f, 524 – artificiosa 493–495, 507 – dei 370, 374 – divina prope 495 f – naturalis 493–495 metrica, metrum 449 f modulatio 498 monachus 18 moriar ne moriar 237 f, 341–343, 370, 473 mundus symbolicus 237 f, 340 f natura loquitur 326, 337 neglegens 16, 329 nervus acusticus 204 nigrum 129 nihil negativum/privativum 75 nomen explicatum/implicatum 176 omnitudo – realitatis 176 – vocalitatis 460, 470 f, 504 oratio 305, 524 ornatus 102 f pagina 143 – sacra 10 f, 13, 20, 30, 322 parallelismus 450 pars – orationis 52, 58, 64 – vocis 62 f persona 189, 259, 393, 514
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perspicuitas 103 plectere 135 poesis, sacra 388, 400, 448, 451, 455, 457, 472, 487 poetria 8 praegustatio 477 principium primum 83–86, 89, 378 proprie, proprius 87 f pronuntiare 493 pronuntiatio 249, 498 prosa 413 f, 494 psalmi 376 psalteratus litteratus 445 psalterium 440 raptus 524 recitare 493 remandere 494 repetitio 395f, 494 ritus 275, 303 rubrum 129 ruminare, ruminatio 490, 492 scriptio continua 103, 462 scriptura 39 – divina 10 – sacra 10, 23 f – sui ipsius interpres 87, 105 f, 112, 518 significatio rerum/verborum 331 silentium 524 sonus 59, 63 structura 125 tentatio 524 tertium non datur 385 tex* 124 texere, textum 129, 135, 358 textor 358 textus 121–129, 135, 146, 467 theologi 5 theologia 2–6, 10–12, 27–31, 322, 392 – fabulosa 8 – grammatica 70 – mystica 9 – naturalis 5 – poetica 5, 8, 171 – politica 5 – prima/secunda 49, 163
576
Sachregister
vacare deo, lectioni 12–14, 524 versus 143 f, 283, 285, 413 f, 416, 450, 494, 504 volumen 315, 439 vox 59–63, 75 – articulata 64 f
– tripertita 5 theologicus 6 f, 70 theologus – facere theologum 70, 524–527 tonus in directum 513, 516 f tonus lectionum 517 tonus psalmorum 517
d. Deutsch A 51 Alexie 202 f, 206, 213 Allegorie 41, 194, 237–239, 284, 331 f, 339, 342, 444, 446 – des Lesens 194, 236 Alllaut 75–77 Altprotestantismus, altprotestantisch 83–85, 457 Anachoretentum 18, 327 Anagnostik 217, 219 Analogie 300 f, 303 Analogisierung 226 Andacht 428 – zu den Dingen 344 – zum Kleinen 76 – zum Unbedeutenden 76 Andachtsraum 226 Angesicht, Antlitz 189 f, 229, 363, 512 Antinomie des Textes 152 f, 172 f, 212 Apallage 447 Aphasie 155, 202–206, 213 Approximation 272, 299, 420, 453, 465, 469, 478, 502 Arabeske 296 Arbeit 38, 181, 255, 277, 286, 289, 459, 477, 527 Asymmetrie, asymmetrisch VII, 33–37, 76, 120, 163, 165, 170, 183, 190, 207, 243, 331, 356, 363, 369, 387, 391, 404, 438, 493, 501, 505, 507, 521 Ausdifferenzierung 36, 66, 94 Ausgliederung 59 f, 61, 63 f Ausgrenzung 272 Ausrationalisierung 104 Ausschließung 385
Barock 212, 237–239, 241 Bedeutsamkeit 355 Bedeutung/Unbedeutung 100 f, 355 – Ding-, Ereignisbedeutung 346 Benennung 49, 521 f Bewegung (saccade) 199, 208 Bindung/Lösung 51, 55, 215 f, 271, 394, 416, 494, 500, 502, 509, 522 Bloßlegung (обнашение) 172, 215, 284, 437 f, 465, 520 Bruch 467–469, 482, 503 Buch 165, 228, 309, 312, 512 – absolutes 359 f, 364 Buchstabe (Substantiv) 28, 470 Buchstabe/Geist 67–74, 327, 362 f, 526 Buchstabe/Laut 58–67 Buchstaben (Verb) 38 Buchstabentheologen 510 Buchstabentheologie 70 Buchstabieren 50, 79, 120, 197, 200, 233 f, 489 Buchstäblichkeit 40 Cento, Centonisierung 11, 267, 514 Code 323, 371 f Codierung 323 Definition/Infinition 411, 414, 422, 432 Deklamation 492, 516 Deuterosis 395–397, 401, 408 Differenz 42, 90, 92, 94, 105, 112, 115, 181 f, 225, 235, 241, 264, 270, 419, 432, 465 – infrageringe 471 f Diskretion 527 Doxologie (славословие) 296, 406, 444
Sachregister
Dreizeitenformel 49, 56, 360 Dröhnen 520 Ekstasis 447 Elegie 453 Emblem, Emblematik 101, 237 f, 341–343 Enjambement 414 f, 452 f Erfahrbarkeit 230–232 Erfahrung 235 – mit der Erfahrung 231 f, 245 Erwähnen, Erwähnung 365–367, 369, 467, 523 Exallage 447 Exhaustion 420, 478, 502 Exkurs 183 Feier, Fest (celebration) 181 f, 376, 459, 474, 477, 527 – sich selbst feiern 169 Figuralität 268 Figurengedicht 139, 143 f Fixation (fixation) 199, 201, 208 Frühromantik 71–75, 85, 239, 241, 260, 338, 359, 363, 370 f, 415, 419 f, 496, 489, 496 Ganzes/Teil 40, 58, 156, 198, 209, 262, 376 f, 385 f, 404, 437 f, 442, 446 Gedächtnis – kunst 312, 492–495, 507 – künstliches/natürliches 300 Gedankenstrich 345, 491 Geviertstrich 491 Gittergedicht 143–145, 173 Gott 161, 164, 168, 172, 288–290, 321 f, 457, 483, 508 Griffel 39, 76, 206, 476, 487 Handlung 275 f Han ze 97–100 Heterologie 433, 465, 472 Hybridität, Hybridisierung 265 Hymnus 196, 239, 425, 439 f, 453, 457, 465 f, 498 Interjektion 51 f, 175
577
Kalligraphie 102–104, 488 Kanon 270, 272–276, 388 Kanonisierung/Entkanonisierung 390, 394 Kantillation 195, 516 f Kekragarion 117 f Klage 196, 440, 457 Kleinstes, Kleinstmögliches 154, 504 Kodex 130, 143, 314 f, 321, 323, 363, 366, 443 Koinzidenz, Koinzidieren 163, 294 f, 415, 520 Kontinuität/Diskontinuität 151, 175 f, 284, 465, 472, 482, 502 f Kontinuum 272, 454, 461, 465, 469, 502 f Kunst 485, 489 – Gedächtniskunst (s.d.) – Lesekunst (s.d.) – Malkunst 487 f – Sammelkunst 488 – Schreibkunst 487 f Laut 468, 470 – laut/leise 51, 56 – Lautstrom, reiner 52 f Lautieren 50, 120 Leben 242 f, 278, 282, 289 f, 361, 438, 474, 479, 485, 510 Legetik 217 Lesbarkeit 103–105, 227–231, 235 Lesefähigkeit 203 Lesekunst (ars legendi, art of reading, l’art de lire) VII, 32, 219 f, 225, 229, 231, 458–460, 484 f, 489–492, 495 f Lesen 11–24 – ältestes/jüngstes 491 – archaisches/rezentes 184, 194, 196 – buchstäbliches 39 – des Lesens 182, 203, 241, 489, 492, 496 – einzelnes/gemeinschaftliches 14, 490 – extensives/intensives 490 – gegenständliches/selbstbezügliches 182 – instrumentales/mediales 490 – lautes/leises 14, 18, 26, 66, 307, 490, 496 f, 508, 511 – lineares/diagonales 490
578
Sachregister
– literales/metaphorisches 184 f, 211 – mantisches/semantisches 329 f, 490 – marginales/institutionalisiertes 22, 490 – mit allen Sinnen/auf Sinn 26, 500, 508 f – monastisches/scholastisches 12 f, 19 f, 20–23, 26 f, 31, 441, 498 – noetisches/ästhetisches 498 f, 504 – privates/öffentliches 14, 475, 498 – profanes/magisches 196 – referentielles/selbstreferentielles 497 – schnelles/langsames 490 f – selbst 489 – sich vollbringendes, wissendes 34, 527 – stilles (silent) 18, 26, 307, 497–499 – wildes/domestiziertes 490 – Neurologie des 202 – Phänomenologie des 185 – Physiologie des 201 – Psychologie des 2, 197 – Theologie des (s.d.) – Zweidimensionalität des 500 Lesen-Können 16 f Leser, expliziter/impliziter 218 Leserlichkeit 229 Lesung, liturgische 15 f, 192, 307, 327, 327, 329, 441, 496, 511–520 Letter 63, 194, 314 Linie (line) 452 f, 503 f Literalität/Literarität 222, 456 Literalität, primäre/sekundäre 101, 109 Literatur 245–247, 251–272, 393 f Liturgie, liturgisch 227, 244, 249–251, 271, 303–308, 366 f, 410, 509, 511 f, 523 Lyrik, lyrisch 139 f, 248, 253, 269–272, 305 f, 308, 408–410, 448, 453–455, 461, 465 Manie, manisch 214 f, 267, 447 Manierismus 212 f, 488 Maximum/Minimum 40, 127, 159 f, 164, 174 f, 342, 465 Medialität 316 f Meditation 25, 492 Medium 116, 132, 249, 265, 316–318 Melancholie, melancholisch 16, 213, 215, 241, 447
Memoria 492 Merismus 504 f Metapher/Metonymie 155, 435, 445, 459, 503 Metrum 449 f Name Gottes 45, 49, 53 f, 56 f, 166 f, 170, 172, 175–177, 448, 457 f, 460, 463 f, 468–472, 504–506, 523 f Narrativität 268 Natur, Sprache der 336 Negation 90, 112, 170, 238, 475 f Negativität 270, 303, 484, 508, 511 Neuprotestantismus 68–70, 75, 85 Nicht-Lesen 34–37, 386 f, 473–483 Nichts – nahezu Nichts 366 – nicht Nichts 341 – reines Nichts 341 Notiz 366, 368 f Nuance 114, 465, 472 Nullstufe 465 O 51 Ode 453 Oden 406f Oralität 455 f – primäre/sekundäre 91, 94, 96 f, 101 f, 118 Pallilogie 238 Paradox, Paradoxie 63, 69, 72 f, 75, 82, 93, 133, 147, 151, 170, 214, 238, 370, 385 f, 419, 443, 519, 522 Parallelismus 283, 285, 400, 434, 448, 450–452, 503–505, 523 – durchgehender (pervasive) 136, 282, 504 – psychophysischer 197 Paronomasie 238 Phonem 75, 105, 113, 175, 183, 222 Poesie 254 f, 281 – der Poesie 420 – Visuelle Poesie 133, 139 f Poesie/Prosa 215, 250, 256 f, 283–285, 400, 408, 411–414, 435, 446, 486, 494 Poetik 167–169, 393, 486 Prägnanz/Präzision 279, 337, 347
Sachregister
Präsenz/Absenz 278 f, 282, 302, 304, 307, 455 f, 458, 461 Privation 475 f Prosa 278, 413 Prosimetrum 437, 502 Prosphonese 492 Psalmodie 517 Psaltik 455 Ready-made 514 f, 522 Rede 121, 175–179 Re-entry 36, 63, 419 Rezitieren, Rezitation 123, 189, 192, 195, 498, 515 f Rhetorik 486 f Rhythmus 451, 461, 466 Ritual, Ritus 275, 301–303 Roman 257, 266 f, 363 f, 369 f, 383, 402 Ruf 468 Ruhe, Ruhepause (fixation) 199, 201, 208 Rumination 25, 491, 475, 491, 494 Saitenspiel 381, 412 Sakkade (saccade) 198 f, 208 Sammeln 186 Satz 33 – Ein-Wort-Satz 47 Schärfe (acutezza, agudeza) 278, 473 Scharfsinn (concetto) 278 Schrei 468 Schrift 9, 33 – Alphabetschrift 97, 107, 114, 320 f – Atemschrift 96 – Bilderschrift 110 – Buchstabenschrift 110 – Figurenschrift 110 – Lautschrift 107, 114 – Schriftkritik 69, 72 – Schriftprinzip 80–89, 93, 104 f, 112 Schweigen 350, 519 Sehen des Sehens 198 Selbstwertigkeit (самоценность) 287 Selbstwindendheit (самовитность) 287 Semantisierung/Desemantisierung 46–49, 53–56 Sinn, Sinne, Sinnlichkeit 96, 321, 386, 451, 488
579
– sinnlicher/unsinnlicher Sinn 28, 105, 187, 304 f, 338 f, 497 f, 508 Skepsis, Skeptizismus 87, 261 f, 280 Spiegel 523 Sprachmystik 435, 522 f Sprung 453, 469, 482, 502 Stimmbruch 115, 118, 467 Stimme 112–115, 249, 465–468, 471 Struktur 222 f, 463 Symbol, Symbolik 50, 55, 101 Symbolisierung 50 f, 53–56 Synästhesie 304 Tautologie (тавтология) 238, 432 f, 465, 471 f, 518–520, 522 Text 120 f, 134 f, 148, 155, 178, 225, 463 – absoluter 158 – als Text 158, 224 – des Textes 153 – im Text 142 – Intext 143 – maximaler/minimaler 159 – Sehtext 140 – selbst 157, 224 – Textbegriff 122, 150 – Texteinsamkeit/-gemeinschaft 16–18 – Textmetapher 122 Theographie 28 Theologie (theology) 3–11, 160, 321 f, 378, 392, 456–458, 460 – allegorische 240 – apophatische/kataphatische 7, 9, 520 f – biblische 7 – der Schrift 240 – des Buches 29, 92, 310 – des Lesens VII, 1, 25–37, 28–31 – monastische/scholastische 4, 19 – mystische, noetische, symbolische 7, 9 – philosophische 6, 9 – poetische, politische, physische 5 – positive 1, 30 Theologik 6, 25 Transfer 503 Transgression 271, 376, 410, 461 Transumption 503 Typologie 347–354 Typus/Antitypus 347 f
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Sachregister
Unbedeutsamkeit 77 Unendlich, Unendlichkeit 48, 80, 87 f, 91, 114 f, 118, 149, 183, 214 f, 415, 421–424, 461 f, 464 f, 469, 471 f, 502 – Unendlichgroßes/-kleines 76, 176 Unlesbarkeit 103, 236, 240 f Urklang 54 Urparallelismus 505 Urpoesie 380 Verdopplung 180, 244, 277, 283, 376–379, 382, 385, 396, 401 f, 408 f, 420 Verzweiung 408 Vorlesen 14, 17 f, 123, 205, 510 f Wahn, Wahnsinn 259, 267, 364, 409 f, 467 – Deutungswahn 364 – Erwähnen, Erwähnung 365–367, 369, 467, 523 Weben, Webstuhl 357 f Wiedereintritt 63 Wiederholung 151, 247–249, 276, 396, 408 – genuine/reine 291, 293, 295 f, 299 Wiederkäuen 10, 22, 491, 494
Wort 118 f – als solches (слово как таковое) 287 – als Wort (slovo jako slovo) 118 f, 272, 287 f, 296, 431–434, 436, 505, 519, 523 – gesprochenes/sprechendes 193 – Wortflechten (плести слова) 134–137, 144, 155, 161 – Wortkunstwerk 263, 430 – Wortweben (плести слова) 134 f, 155, 162 – Wortwinden (вить слова) 136–138 Worte/Wörter 94 f Zeichen 89 f, 221 – des Zeichens 57, 106, 109 f, 112, 156, 321 Zeile, Zeilenbruch 125 Zitat, Zitation 49, 51, 267, 436, 513–515, 523 – Autoritätszitat 90 f, 519 f – Selbstzitat/Suizitat 514, 518–520 – Zitatautorität 519 f Zweiachsentheorie 154, 288, 294 f, 433 Zweiachsigkeit 153, 162, 173 f, 178, 461, 465 Zweibücherlehre 356, 362, 377 Zweidimensionalität 125, 182, 212, 500 f