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German Pages 239 [248] Year 2008
Linguistische Arbeiten
522
Herausgegeben von Klaus von Heusinger, Gereon Mller, Ingo Plag, Beatrice Primus, Elisabeth Stark und Richard Wiese
Ursula Bredel
Die Interpunktion des Deutschen Ein kompositionelles System zur Online-Steuerung des Lesens
Max Niemeyer Verlag Tbingen 2008
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-30522-9
ISSN 0344-6727
Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Vorwort
Als ich 1999 begann, mich mit der Interpunktion zu befassen, war es meine Absicht, den Interpunktionserwerb zu rekonstruieren. Denn bis auf einige prinzipiellere Einsichten in den Erwerb der Kommasetzung lagen zu diesem Zeitpunkt dazu praktisch keine Erkenntnisse vor. Ausgehend davon, dass die Aneignung sprachlicher Teilsysteme von den Systemeigenschaften selbst zumindest mitdeterminiert ist, galt es zunächst, die Struktur des Gegenstandes darzustellen. Die in der Literatur angebotenen Konzepte erwiesen sich jedoch als noch nicht geeignet. Problematisch war vor allem, dass die Interpunktionsforschung sich bislang nicht mit den Interpunktionszeichen, sondern mit den sprachlichen Konstruktionen, die sie kennzeichnen, befasst hatte. Die somit erst zu leistende Rekonstruktion des Interpunktionssystems, die als Basis für Erwerbsfragen dienen sollte, stellte sich dann als so umfangreich heraus, dass der Erwerbszusammenhang zunehmend in den Hintergrund trat und zuletzt ganz zurückgestellt werden musste. Eine besondere Schwierigkeit, die sich wie ein roter Faden durchhielt, war die weitgehende Verständnislosigkeit auch von Kollegen und Kolleginnen, den Gegenstand meiner Arbeit – die Interpunktion – betreffend, schien doch (vielleicht mit Ausnahme des Kommas) mit den Dudenregeln im Prinzip alles gesagt zu sein. In diesem Zusammenhang gilt mein besonderer Dank Beatrice Primus, die von Beginn an davon überzeugt war, dass sich die Arbeit lohnt, zu deren Entstehen sie dann mit vielen Anregungen einen nicht unerheblichen Beitrag geleistet hat; Robert Kemp, der ebenfalls von Anfang an viele weiterführende Ideen eingebracht hat, und Hartmut Günther, der mir als seiner Assistentin optimale Arbeitsbedingungen ermöglicht hat. Danken möchte ich außerdem für viele hilfreiche Diskussionen Horst Lohnstein, Jürgen Lenerz und Cäcilia Töpler. Gregor Strick hat alle redaktionellen Arbeiten sowie die Korrekturen übernommen und mir auch sonst in jeder Hinsicht Rückendeckung gegeben. Verbliebene Fehler sind selbstverständlich von mir zu verantworten. Köln, den 14. März 2008
Ursula Bredel
Inhalt
I
Einleitung ................................................................................................................... 1 Die Sprache der Schrift ......................................................................................... 2 Fragestellung ........................................................................................................ 2.1 Holismus vs. Kompositionalität ................................................................... 2.2 Sprache vs. Schrift ....................................................................................... 2.3 Offline vs. Online ........................................................................................
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II Form ........................................................................................................................... 1 Das Inventar .......................................................................................................... 2 Merkmale .............................................................................................................. 2.1 Terminologisches ......................................................................................... 2.2 Das Merkmal LEERE .................................................................................... 2.3 Das Merkmal VERTIKALITÄT ....................................................................... 2.4 Das Merkmal REDUPLIKATION .................................................................... 2.5 Das Merkmalsystem .................................................................................... 2.6 Systemlücken ............................................................................................... 3 Schriftgrammatik .................................................................................................. 3.1 Die Position der Interpunktionszeichen in Texten – slots und filler ............ 3.1.1 Listenmodus und Textmodus ........................................................... 3.1.2 Klitika und Filler .............................................................................. 3.2 Satzzeichenfolgen ........................................................................................ 3.3 Die Basisstruktur des Schriftwortes ............................................................. 3.4 Die segmentalen Mittel der Schrift .............................................................. 3.5 Basiseinheiten einer Schriftgrammatik ........................................................ Exkurs: Das Spatium ............................................................................................ 3.6 Schriftgrammatische Struktur der Filler ...................................................... 3.7 Schriftgrammatische Struktur der Klitika .................................................... 3.8 Höhere Konstituenten – Eine Skizze ...........................................................
21 21 24 25 26 28 28 29 30 30 31 32 34 34 43 58 59 60 62 82 91
III Funktion ...................................................................................................................... 95 1 Interpunktion – online .......................................................................................... 95 1.1 Die Arbeitsteilung von Auge und Stimme ................................................... 96 1.2 Die Regulierung okulomotorischer und subvokalisatorischer Aktivitäten .. 99 2 Die Filler ............................................................................................................... 102 2.1 Der Apostroph ............................................................................................. 102 2.2 Der Divis ..................................................................................................... 106 2.3 Der Gedankenstrich und die Auslassungspunkte ......................................... 117 3 Die Klitika ............................................................................................................ 128 3.1 Die S-Klitika < „“ ( ) > ................................................................................ 128 3.1.1 Die Anführungszeichen ................................................................... 129 3.1.2 Die Klammern ................................................................................. 138 3.2 Die K-Klitika < ? ! > .................................................................................... 150 3.2.1 Das Fragezeichen ............................................................................. 159
3.2.2 Das Ausrufezeichen ......................................................................... 3.3 Die P-Klitika < . : , ; > ................................................................................. 3.3.1 Das Komma ..................................................................................... 3.3.2 Das Semikolon ................................................................................. 3.3.3 Der Punkt ......................................................................................... 3.3.4 Der Doppelpunkt .............................................................................
163 173 177 186 191 195
IV Zusammenfassung – Das Gesamtsystem .................................................................... 1 Interpunktionsklassen – Das Merkmal LEERE ...................................................... 2 Schriftgrammatik – Das Merkmal VERTIKALITÄT................................................. 3 Das Merkmal REDUPLIKATION ............................................................................. 4 Das System der Interpunktion im gegenwärtigen Deutsch ...................................
211 212 213 217 220
V Ausblick ...................................................................................................................... 221 VI Literatur ...................................................................................................................... 225
I
Einleitung
Voran ging der Bürgermeister auf dem Kopfe, den glänzenden Zylinder an den Füßen, die Lackschuhe in der Hand, den unvermeidlichen Spazierstock hinter dem Ohr, das Kneiferschnürchen in eisernes Schweigen gehüllt. (Zollinger 1940: 14)
Mit solchen und anderen vergnüglichen Beispielen, die sich auf der Grundlage fehlgehender Interpunktionsverwendungen einstellen, wird hin und wieder versucht, die Bedeutsamkeit der Interpunktion hervorzuheben. Auch Anekdoten wie die, dass ein Franzose wegen eines falsch gesetzten Punktes einen Esel verloren hat, oder die Geschichte des ausgefuchsten Juristen, der sich durch ein Komma eine Rückzugsmöglichkeit im Konfliktfall gesichert hatte, oder der Bericht von einer ökonomischen Katastrophe, die sich wegen eines irrtümlich an falscher Stelle gesetzten Kommas einstellte, werden bemüht, um die Bedeutsamkeit der Interpunktion zu unterstreichen.1 Wie Klockow (1980) jedoch zu Recht bemerkt, erweist sich gerade durch das Erfordernis solcher Bemühungen die Bedeutungslosigkeit des Gegenstandes im öffentlichen Interesse. Auch dort, wo es explizit um Fragen der Orthographie geht, bleibt die Interpunktion häufig peripher. In der mittlerweile weit fortgeschrittenen Schrifttheorie fehlt noch immer eine substantielle wissenschaftliche Beschäftigung mit Fragen der deutschen Zeichensetzung. Die einzigen drei Monographien (Mentrup 1983, Gallmann 1985, Behrens 1989) zur Interpunktion stammen aus den 80er-Jahren; zwei davon (Mentrup und Gallmann) sind neben einer wissenschaftlichen Rekonstruktion an einer erwarteten Reform orientiert. Bezüglich der Rekonstruktion von Einzelzeichen liegen nur für das Komma (Eisenberg 1979, Primus 1993, 1996 und Schmidt 1994) weiterführende norm-/reformunabhängige Rekonstruktionen vor. Auch die öffentliche Orthographiediskussion blickt auf eine eher schlanke Bearbeitung der Interpunktion zurück: In den Orthographischen Konferenzen von 1876 und 1901 zur Festlegung der deutschen Einheitsschreibung war die Interpunktion nicht Verhandlungsgegenstand. Entsprechend fehlt im ersten überregional verbindlichen Volksduden von 1901 ein Regelteil zur Interpunktion.2 Erst 1915, in der 9. Auflage des Volksdudens, wurde ein solcher Regelteil abgedruckt. Übernommen worden war er wörtlich aus dem sog. Buchdruckerduden, der bereits seit seinem ersten Erscheinen 1903 über einen eigenen Abschnitt zur Interpunktion verfügt hatte. Dieser war seinerseits bereits 1876 von Konrad Duden verfasst worden. Zusammen mit einem Vorschlag von Steinacker, „welcher Festsetzungen über Interpunktion wünscht“ (Verhandlungen 1876, zit. nach Jansen-Tang 1988: 398), hätten für die 1. Orthographische Konferenz zumindest Diskussionsvorschläge vorgelegen. Es mangelte also nicht an konzeptionellen Vorarbeiten. Vielmehr schien die Regelung der Interpunktion angesichts der komplexen Probleme, die in Bezug auf die Wortschreibung zu bewältigen waren, nicht hinreichend relevant zu sein. Steinacker wurde darauf verwiesen, –––––––—––
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Nachlesbar sind alle diese Geschichten in Zollinger (1940). Zu einer detaillierten Rekonstruktion der Geschichte des Volksdudens vgl. Sauer (1988), JansenTang (1988) und Böhme (2001). Speziell zur Rolle der Interpunktion im Duden vgl. Mentrup (1983) und Böhme (1995, 2001).
2 dass die Interpunktion zur Zeit nicht Gegenstand der Beratung sein könne (Jansen-Tang 1988: 398). Ihre Kodifizierungsgeschichte hat der Interpunktion nachträglich das Stigma des „Stiefkind[es]“ und der „illegale[n] Tochter“ der deutschen Orthographie eingebracht (Mentrup 1983: 6). Denn im Gegensatz zu den Regeln der Wortschreibung konnten die stillschweigend in den Duden übernommenen Interpunktionsregeln nicht auf einen durch öffentliche Diskussion zustande gekommenen Beschluss eines legitimierten Gremiums gestützt werden (Schmidt-Wilpert & Lappé 1981, Menzel & Sitta 1982, Mentrup 1983, Jansen-Tang 1988, Böhme 1995, 2001). Um den Zustand der Illegalität aufzuheben, wurde 1955 von der Kultusministerkonferenz die Autorität des Duden auch in Fragen der Normierung der Interpunktion per Beschluss festgelegt.3 Ihr Pendant findet die Verspätung, mit der die Interpunktion zum Gegenstand des kodifizierten Regelapparates geworden ist, in der Schriftgeschichte. Von einem Interpunktionssystem im heutigen Sinn kann überhaupt erst seit der Durchsetzung des Wortzwischenraums im frühen Mittelalter gesprochen werden (Parkes 1993, Saenger 1997, Bredel 2007), dessen Erfindung eine neue Lesepraxis ermöglichte (vgl. Kap. III, 1): Von nun an konnten Texte ohne vorangehende Analyse von Buchstabenketten wortweise gelesen werden. Diese neue Lesepraxis löste nach einer kurzen Periode, in der fast keine Interpunktionszeichen mehr verwendet wurden (Parkes 1993), eine intensive Explorationsphase aus, in der neue Möglichkeiten der Satz- und Textgliederung erprobt wurden, bis sich ein Interpunktionssystem etabliert hatte, das etwa dem Stand der derzeit kodierten und der seit dem Inkrafttreten der Amtlichen Regeln 1998 legalen Interpunktionskonventionen entspricht.4 Es ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, das Interpunktionssystem des gegenwärtigen Deutsch als schriftsprachliches Teilsystem zu rekonstruieren. Die zwölf Zeichen des aktuellen Inventars werden in Bezug auf ihre Form sowie ihre Funktion im orthographischen System analysiert.
1 Die Sprache der Schrift Konzeptualisierungen der Orthographie und mithin der Interpunktion sind in hohem Maß von der Schriftauffassung abhängig, die der entsprechenden Modellierung zugrundeliegt.5 Nicht immer explizit werden insbesondere bei der Erfassung der Interpunktion sprach- und –––––––—–– 3
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Wörtlich heißt es im Bundesanzeiger vom 14. 12. 1955: „Die in der Rechtschreibreform von 1901 und den späteren Verfügungen festgelegten Schreibweisen und Regeln sind auch heute noch verbindlich für die deutsche Rechtschreibung. Bis zu einer etwaigen Neuregelung sind diese Regeln die Grundlage für den Unterricht in allen Schulen. In Zweifelsfällen sind die im Duden gebrauchten Schreibweisen und Regeln verbindlich“ (zit. nach Böhme 1995: 323). In der DDR gab es keinen vergleichbaren Beschluss, es galten jedoch durch entsprechende Festlegungen des Volksbildungsministeriums und durch Normative für das Druckereigewerbe ähnlich starke Verbindlichkeiten (Nerius 32000: 363). Zur Geschichte der Interpunktionssysteme in anderen Schriftsystemen vgl. Parkes (1993) sowie Ehlich (i. E.). Vgl. Eisenberg (1983), der Orthographie als Theorie über das Schriftsystem definiert.
3 schrifttheoretische Vorabentscheidungen getroffen, mit denen bereits vor Eintritt in die analytische Arbeit Weichenstellungen vorgenommen werden, die die Analyseergebnisse beeinflussen.6 Aus der Rekonstruktion von Schriftsprache und ihrer theoretischen Modellierungen in der Sprachwissenschaft werden nachfolgend wesentliche Parameter für die Ausarbeitung und Begründung der Fragestellungen der vorliegenden Arbeit (Kap. I, 2) sowie Kriterien für eine kritische Würdigung der bisherigen Interpunktionstheorien gewonnen, die hier jedoch nicht eigens dargestellt, sondern jeweils in Einzelkapiteln erörtert werden. In seiner programmatischen Schrift Funktional-Pragmatische Kommunikationsanalyse – Ziele und Verfahren verweist Ehlich (1986: 17f.) auf die Schriftfixiertheit der modernen Linguistik: „Die linguistische Methode hat nämlich – trotz entgegenlautender Postulate und Deklarationen – bis in die jüngste Zeit hinein literarische Formen von Sprache und nur diese behandelt. Die Linguistik ist in ihrer Verfahrensweise literaturorientiert.“7 Ein Jahr zuvor mahnt Feldbusch (1985: 1) die Schriftvergessenheit der traditionellen Linguistik an: „Die geschriebene Sprache gilt in der Sprachwissenschaft als sekundär und abhängig gegenüber der gesprochenen Sprache.“ Der Gegenstand der Sprachwissenschaft sei „allein das Gesprochene“ (ebd.: 6).8 Trotz ihrer scheinbaren Widersprüchlichkeit stehen beide Diagnosen dicht beieinander. Ehlich (1986: 17) rekonstruiert, wie das Objekt der modernen Linguistik aus der Schrift gewonnen wird: „Das vom Linguisten konstituierte Objekt, die ‚langue‘, [...], koinzidiert auf glückliche Weise mit grundlegenden Aspekten der Form, in der die tatsächliche Sprache dem Linguisten entgegentritt.“ Gemeint ist die geschriebene Sprache. Eines der Resultate dieser durch die schriftliche Repräsentationsform gewonnenen Sprachauffassung ist eine Definition von Sprache, in der alle spezifisch mündlichsprachlichen Mittel (Interjektionen, Partikeln, Intonation, mimische und gestische Mittel) marginalisiert werden. Sie werden als „Zaunkönige und Läuse im Pelz der Sprache“, wie Eisenberg (1999 [22004]: 210) die Partikeln charakterisiert, nach dem antiken Muster von Substanz/Akzidenz9 der Akzidenz, dem bloß Zufälligen zugeordnet. In einer solchen Sprachtheorie werden kommunikative Prozesse ebenso wie das Medium der Kommunikation als ‚Performanz‘-Erscheinungen peripher. Ursächlich für das Verfahren, den Untersuchungsgegenstand Sprache aus der Schrift abzuleiten, ist die Verführungskraft der Schrift selbst: „Insbesondere gewinnt die schriftliche Äußerung, der Text, aufgrund seiner materiellen Stabilität und der nichtzeitlichen Erstreckung ein Eigenleben. Schriftstücke, geschriebene Texte erwecken den Anschein, als –––––––—–– 6
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Vgl. zu einem solchen Vorgehen exemplarisch Behrens (1989), die die Interpunktionszeichen als „syntaktische Mittel“ vordefiniert mit der Folge, dass syntaktisch nicht rekonstruierbare Interpunktionsverwendungen dann als „Schreibkonventionen“ oder „stilistische Mittel“ marginalisiert werden, ohne dass deren systematischer Stellenwert erkennbar würde. Der Ausdruck „literaturorientiert“ ist terminologisch an die Begrifflichkeit der ehemaligen DDRLinguistik angelehnt, die sich mit „Literatursprache“ auf Schriftsprache bezieht. Dass die gesprochene Sprache Gegenstand der Sprachwissenschaft zu sein habe, ist bereits bei Saussure (1931 [21967]: 28) programmatisch formuliert: „Nicht die Verknüpfung von geschriebenem und gesprochenem Wort ist Gegenstand der Sprachwissenschaft, sondern nur das letztere, das gesprochene Wort allein ist ihr Objekt.“ Zum Phonozentrismus der modernen Linguistik vgl. auch Scholes & Willis (1991) sowie Brockmeier (1998). Vgl. hierzu ausführlich Paul (1978) sowie Forsgren (1992).
4 existieren sie aus eigener Kraft.“ (Günther 1988: 12)10 Durch die selbständige Distribution geschriebener Produkte sind diese der unmittelbaren Manipulation entzogen; die fehlende Interaktivität, die schriftlichen Produkten eignet, führt bereits im 4. Jh. v. u. Z. zur Schriftkritik. Im Phaidros (21922 [2004]: 104) lässt Platon Sokrates entsprechend zu Wort kommen: Denn das ist wohl das Bedenkliche beim Schreiben und gemahnt wahrhaftig an die Malerei: auch die Werke jener Kunst stehen vor uns als lebten sie; doch fragst du sie etwas, so verharren sie in gar würdevollem Schweigen. Ebenso auch die Worte eines Aufsatzes: du möchtest glauben, sie sprechen und haben Vernunft; aber wenn du nach etwas fragst, was sie behaupten, um es zu verstehen, so zeigen sie immer nur ein und dasselbe an. Und dann: einmal niedergeschrieben, treibt sich jedes Wort allenthalben wahllos herum, in gleicher Weise bei denen, die es verstehen, wie auch genau so bei denen, die es nichts angeht, und weiß nicht zu sagen, zu wem es kommen sollte und zu wem nicht. Wenn es dann schlecht behandelt und ungerechterweise geschmäht wird, so bedarf es immer seines Vaters, der ihm helfen sollte: denn selbst kann es weder sich wehren noch sich helfen.
Ong (1987) zufolge wird die Herauslösung des Produkts aus dem Prozess über den Buchdruck weiter verschärft. Die schriftlich fixierte Sprache, die im Druck von allen Spuren des Schreibers gereinigt ist,11 tritt dem Betrachter als vergegenständlichtes Objekt sui generis entgegen. Wie Ehlich (1994: 20) schreibt, neigt der „Sprachbegriff, der sich [...] auf der Grundlage der so kommunikativ entwickelten Dissoziierung der sprachlichen Handlung und der Vergegenständlichung des Handlungsproduktes ausbilden konnte, [...] aus seiner inneren Systematik heraus einer Isolierung sowohl gegenüber dem Verstehen wie gegenüber der Erzeugung dieses Produktes zu“. Wird der Gegenstand der Sprachwissenschaft, die langue, aus der in dieser Weise stillgestellten Sprache herauspräpariert, ohne dass dieses Verfahren aktiv reflektiert wird, so macht die von Ehlich monierte Schriftfixiertheit in paradoxaler Weise blind gegenüber dem Medium Schrift, dem das Untersuchungsobjekt entnommen wird. Es tritt der Effekt ein, der von Feldbusch als Schriftvergessenheit diagnostiziert wird: Denn diejenigen Einheiten, die in der schriftlichen Sprache vorfindlich sind, werden in der linguistischen Theoriebildung als quasi-natürliche Objekte der Sprache identifiziert.12 Unterschlagen werden bei dieser Objektkonstituierung nicht nur die prozessualen Dimensionen der Produktion und Rezeption schriftlicher Erzeugnisse, sondern auch die Tatsache, dass in die Struktur der schriftlichen Sprache selbst bereits erhebliche sprach–––––––—–– 10
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„Zunächst erscheint uns das Schriftbild der Worte wie ein beständiges und festes Objekt, das mehr als der Laut geeignet sei, die Einheit der Sprache durch die Zeit hindurch aufrecht zu erhalten.“ (Saussure 1931 [21967]: 30) Im 17. Jahrhundert, nachdem sich der Buchdruck durchgesetzt hatte, entwickelte sich in den Handschriften „eine soziale Markierung und Einordnung der Texte mit Hilfe des Schriftbildes“ (Sting 1998: 115). „Die visuelle Gestaltung der Schrift sollte die Differenzierungsmöglichkeiten des abwesenden Autors, seine Gebärden und stimmlichen Akzentuierungen, ersetzen.“ (Ebd.) Die terminologische Übereinkunft etwa, von Links- bzw. Rechtsversetzung oder von links- bzw. rechtsanbindenden Sprachen zu sprechen, und die Gewohnheit, diese Begrifflichkeit umstandslos für die Beschreibung mündlicher Sprache zu verwenden, die bekanntermaßen keine lokale Spezifizierung aufweist, reflektiert den engen Konnex zwischen Schriftfixiertheit und Schriftvergessenheit der modernen Sprachwissenschaft im hier beschriebenen Sinn.
5 analytische Anstrengungen eingehen, die sich in orthographischen Systemen der Einzelsprachen niedergeschlagen haben. Hierzu bemerkt bereits Bühler (1934: 14): Wer weiß, ob eine ansehnliche Wissenschaft von der Sprache überhaupt gewachsen und hochgekommen wäre ohne die Voranalyse, welche man geleistet fand in der optischen Wiedergabe und Fixierung lautsprachlicher Gebilde durch die Schrift? Ich glaube [...] positiv, daß man der antiken und modernen Sprachforschung, welche von schriftmäßig voranalysierten Sprachtexten ausging, mehr grundlegende und unentbehrliche Einsichten verdankt, als es mancher unserer Zeitgenossen wahrhaben will.
Dass die Schrift eine strukturelle Voranalyse leistet, mit der wohlunterscheidbare Objekte sichtbar werden, ist wiederum bedingt durch die Spezifik schriftlichen Produktions- und Rezeptionshandelns, was dem Produkt selbst nicht ohne weiteres anzusehen ist: Aufgrund der „situative[n] Leere der schriftlichen Äußerung“ (Günther 1988: 13) muss die schriftliche Sprache „einen scharf segmentalen und vergleichsweise invarianten Charakter haben“ (ebd.). Sowohl die Gewinnung kleinster segmentaler Einheiten, der Buchstaben, die Modell für die segmentale Phonologie stehen,13 als auch die Gewinnung größerer Einheiten, etwa Wörter oder Sätze, die orthographisch entsprechende Markierungen aufweisen (Spatium, Interpunktionszeichen, die ihrerseits rekursiv auf die Kategorien verweisen, die sie kennzeichnen), stellen im historischen Prozess der Schriftentwicklung gewonnene Abstraktionen von der gesprochenen Sprache dar, die die Linguistik als ihr genuines, schriftunabhängiges Objekt begreift.14 Wort und Satz werden [...] im jahrtausendelangen Gebrauch der Alphabetschrift als formale Kategorien des Textes allmählich ausgeprägt [...]. Diese Praxis ist Voraussetzung für eine jede grammatische Behandlung der Sprache qua langue, und die – so zeigt sich – hängt intrinsisch mit der Ausbildung der Alphabetschrift zusammen. (Stetter 1997: 65)
Die hier skizzierte Tradition des Umgehens mit Sprache und Schrift hat nicht nur die Sprachtheorie beeinflusst, sondern schlägt auf die Schrifttheorie der modernen Linguistik durch. In einer Sprachtheorie, die ihre Objekte auf der Grundlage ihrer schriftlichen Fixierung definiert und die das Medium, durch das die Objekte allererst zugänglich werden, neutralisiert, befinden sich Schrift und mithin Orthographie außerhalb der Reichweite sprachwissenschaftlicher Theoriebildung.15 Wie Schlieben-Lange (1994: 117f.) bemerkt, ist das „Zusammenspiel von expliziter Ausgrenzung von Schrift und faktischer – nicht reflektierter – Bindung an Schrift [...] konstitutiv für die meisten sprachwissenschaftlichen Richtungen des 20. Jahrhunderts“. Die nachträgliche Identifizierung sprachwissenschaftlicher Befunde mit Eigenschaften der gesprochenen, vermeintlich natürlichen und der Schriftsprache vorgeordneten Sprache16 –––––––—––
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Vgl. hierzu Günther (1988: 7ff.). Vgl. zur Gewinnung der Kategorie „Wort“ in der Schrift im Besonderen Parkes (1993) sowie für das Deutsche Tophinke (2000); zur Gewinnung der Kategorie „Satz“ Parkes (1993), Stetter (1997) sowie Höchli (1981). Vgl. hierzu u. a. Feldbusch (1985) sowie Stetter (1997). Der Befund, dass die gesprochene Sprache einmal herauspräparierten Gesetzmäßigkeiten nicht folgt – artikulatorisch etwa in Auslassungen von (geschriebenen) Vokalen, syntaktisch in der Verwendung von unvollständigen Sätzen –, führt in der Theoriebildung dann zur Etablierung von Kategorien wie „Resyllabierung“ oder „Ellipse“; angenommen wird mit solchen Kategorien, dass
6 führt zu der Auffassung, die geschriebene Sprache sei das Abbild der gesprochenen.17 In Kulturen mit Alphabetschriften gelten die Buchstaben dann als Abbilder der Laute. Weil aber Buchstaben eben aufgrund der medialen Besonderheit der Schrift nurmehr Abstraktionen über die lautliche Seite der Sprache sind und Schriftsysteme darüber hinaus auf Kosten eindeutiger Phonem-Graphem-Zuordnungen weitere Einheiten der Sprache visualisieren (etwa Silben, Wörter, syntaktische Funktionen, Sätze), wird in der Rücktransformation des Geschriebenen auf das Gesprochene die Schrift selbst zum Problem: Vielfach wird [...] angenommen, daß ein Schriftsystem um so effizienter sei, je näher es diesem Ideal [gemeint ist eine 1:1-Entsprechung zwischen Phonemen und Graphemen, U. B.] komme. Je komplizierter die Zusammenhänge zwischen Laut- und Schriftsystem, zwischen einzelnen Phonemen und Graphemen, desto komplizierter sei auch der psychologische Prozeß des Lesens und Schreibens. (Günther 1985: 196)
Orthographische Regularitäten, denen das Lautliche nicht anzusehen ist, werden mit solchen Auffassungen zum Mysterium – oder zum Ärgernis: Dem Paradigma des Abbildes verpflichtet, führt Saussure (1931 [21967]: 35) einen Feldzug gegen die Schrift, die „die Entwicklung der Sprache verschleiert; sie ist nicht deren Einkleidung, sondern ihre Verkleidung“. Saussure rekonstruiert den historischen Prozess, in dem Mündlichkeit und Schriftlichkeit auseinanderdriften,18 als zunehmende Entfremdung des Abbilds (der Schrift) vom Vorbild (dem Gesprochenen). Rückwirkend, so Saussure, werde in der Sprachgemeinschaft das Geschriebene für das Vorbild, das Gesprochene für das Abbild gehalten. Die „Tyrannei des Buchstaben“ verführe die Sprachbenutzer zu aus der Orthographie deduzierten Sprechvarianten:19 „Diese lautlichen Verunstaltungen [...] kommen [...] nicht aus ihrem natürlichen Leben; sie sind durch einen Faktor, der ihr fremd ist, verursacht. Die Sprachwissenschaft muß ihnen Beachtung schenken, aber nur in einem Sonderabschnitt; es sind Mißgeburten.“ (Saussure 1931 [21967]: 37) Im Ergebnis werden bei Saussure die aus der Schrift gewonnenen Erkenntnisse über die Sprache gegen die Schrift selbst ausgespielt. Saussure zufolge konnte sich die Schrift nur in dem Maße stabilisieren und gegen die mündliche Sprache emanzipieren und schließlich über diese dominieren, weil sie über eine Kodifizierung verfügt: Sie [die Schrift, U. B.] hat ihre Wörterbücher, ihre Grammatiken; an der Schule wird sie nach dem Buch und vermittelst des Buches gelehrt; die Sprache scheint wie durch ein Gesetzbuch geregelt zu sein; aber dieses Gesetz ist selbst nur eine geschriebene Regel, die einem strengen Brauch unterliegt: der Orthographie, und diese verschafft der Schrift ihre einzigartige Wichtigkeit. (Saussure 1931 [21967]: 30)
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die Sprecher einer Sprachgemeinschaft die Explizitformen der Sprache nur unzureichend artikulieren. Mit dem Performanz-Modell der generativen Grammatik, das durch das Konzept einer zugrundeliegenden Kompetenz hinreichend abgestützt wird, ist diese Konzeptualisierung auch theoretisch fixiert. Zum Abbildtheorem vgl. ausführlich Feldbusch (1985), Müller (1990) sowie Günther (1983, 1988, 1995). Zu diesem Prozess vgl. Günther (1983, 1995). Als Beispiele führt Saussure Sprechvarianten wie [sept femmes] an. Für das Deutsche wäre hier etwa die Aussprache von als [N3«Q,N] statt [N3«Q,o] zu nennen; möglicherweise auch ĺ [E±n], ĺ [EH«5].
7 Weil sie „nur“ geschrieben sind, gelten die orthographischen Regeln – und hier ist Saussure in Einklang nicht nur mit dem common sense, sondern auch mit weiten Teilen der vormodernen und der modernen Sprachwissenschaft – als von außen gemacht; mit der Folge, dass das orthographische System selbst als Manipulationsmasse erfasst wird: „Orthografietheoretiker sind fast immer der Ansicht, daß die orthografische Norm eine gesetzte Norm ist und daß ihnen die Aufgabe zukommt, zu beurteilen, ob diese Norm neu gesetzt werden soll“ (Eisenberg 1983: 49). Die Reformanstrengungen des zur Manipulation freigegebenen Gegenstandes Orthographie gehen jedoch seltener von der Sprachwissenschaft aus als vielmehr von Didaktikern/Didaktikerinnen und Schulpraktikern/-praktikerinnen, die die schwierige Vermittlung der Orthographie dadurch erleichtern wollen, dass sie die orthographischen Regeln selbst auf ein vermeintlich lern- und lehrbares Maß zu reduzieren versuchen. Dass nahezu alle Reformversuche seit 1901 mit dem Ziel angetreten sind, gegen die jeweils gültigen Schreibkonventionen eindeutige Graphem-Phonem-Zuordnungen zu erreichen, die zugleich als lernerleichternd aufgefasst werden,20 ist auf dem Hintergrund der hier diagnostizierten (fehlenden) Schrifttheorie nur wenig überraschend. Mit Minerva, die ihren Flug bei einbrechender Dämmerung beginnt, vergleicht Trabant (1986) das in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts erstarkende kulturtheoretische Interesse an einer eigenständigen Schrifttheorie. Die Neuorientierung fällt mit kulturpessimistischen Einschätzungen über das Verschwinden der Schrift zugunsten audiovisueller Medien und damit Befürchtungen einer Re-Oralisierung21 und Re-Piktoralisierung kultureller Überlieferungspraktiken zusammen.22 Auch in der Sprachwissenschaft entwickelt sich nach der sog. pragmatischen Wende eine dezidierte Auseinandersetzung mit der Schrift. „Durch den Verlust der Schrift ist nämlich der Gegenstand der Sprachwissenschaft selber bedroht.“ (Trabant 1986: 297)23 Neben den an der Abbildtheorie orientierten Schriftauffassungen gewinnen nun zunehmend Auffassungen an Gewicht, nach denen die geschriebene Sprache autonomen Gesetzmäßigkeiten folgt. Das betrifft sowohl die medialen als auch die konzeptuellen Eigenschaften der Schrift bzw. der schriftlichen Kommunikation.24 Im Zug autonomer Schriftauffassungen gewinnt auch die Normdebatte eine neue Dynamik. Schriftsprachliche Regularitäten gelten –––––––—–– 20
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Zur kritischen Reflexion von Reformwerken vgl. Jansen-Tang (1988). In Bezug auf die Interpunktion stellt Mentrup (1983) die wichtigsten Reformvorschläge zusammen. Zu Recht betont Trabant (1986: 296f.), „daß eine einmal durch die Schriftlichkeit hindurchgegangene Sprache nicht dasselbe ist wie eine Sprache, die keine Schriftlichkeit kennt und immer oral geblieben ist. [...] Was durch die audiovisuellen Medien an die Stelle des Geschriebenen, des ‚toten Buchstaben‘ (der Lebendigkeit gar nicht erst vorspiegelte), getreten ist, ist nichts Lebendiges, sondern ein Zombie: Präsente und doch unerreichbare kinetische Abbilder von Menschen flimmern vor unseren Augen, konserviertes Sprechen trifft auf unser Ohr, gespensterhaft von den lebendigen Individuen getrennte Stimmen, denen wir nicht antworten können.“ Als marktintensivste Publikation kann hier wohl Neil Postmans Das Verschwinden der Kindheit gelten. Nicht zufällig mehren sich gerade auch umgekehrt in den 80er-Jahren Forderungen nach einer Rehabilitierung der Mündlichkeit gegen die erstarkte Rekurrenz auf das Schriftliche (vgl. z. B. Knoop 1983). Zur Unterscheidung von konzeptualer vs. medialer Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit vgl. Koch & Oesterreicher (1986, 1994).
8 nicht mehr als von außen kodifiziert („nur geschrieben“, Saussure, s. o.); sie erhalten Systemstatus. Stetter (1991) macht in diesem Zusammenhang unter Rekurs auf Black den instruktiven Unterschied zwischen Regeln im regulation sense und solchen im instruction sense. Regeln im regulation sense bezeichnen Konventionen, die unabhängig von der logischen Struktur des Gegenstandes gelten. Die Verknüpfung zwischen einer Tätigkeit und der Modalität ihrer Ausführung gilt qua „durch einen Urheber inkraft [sic!] gesetzte Konventionen“ (Stetter 1991: 45). Das bedeutet auch, dass Regeln im regulation sense beliebig verändert werden können, sofern die entsprechende Lebensgemeinschaft die Neuregelung akzeptiert. Dagegen bezeichnet der instruction sense „in objektiven Sachverhalten begründete Verhaltens- oder Handlungsregeln“ (ebd.). Die Verknüpfung zwischen einer Tätigkeit und der Modalität ihrer Ausführung ist in diesem Fall nicht konventionell, sondern sachlogisch bedingt. Werden Regeln des instruction sense manipuliert, verändern sie den Sachverhalt, den sie regulieren. Der m. E. entscheidende Paradigmenwechsel in der Schriftforschung ist die Umstellung vom regulation auf den instruction sense.25 Dieser Auffassung ist auch die vorliegende Arbeit verpflichtet. Im Rahmen der Autonomiehypothese werden Schriftlichkeit und Mündlichkeit verschieden ins Verhältnis gesetzt. Nach Eisenberg (1998 [22004]: 302) ist „[d]ie autonome Analyse des Geschriebenen [...] vor allem ein methodisches Postulat“, nach dem die Struktur der geschriebenen Sprache zunächst unabhängig von der gesprochenen Sprache untersucht werden soll mit dem Ziel, die grammatischen Informationen, die im Schriftsystem kodiert sind, zu ermitteln. Mögliche Bezüge zur gesprochenen Sprache können dieser Auffassung zufolge erst nach einer Schriftanalyse hergestellt werden. In der Tradition der generativen Schule erfasst Wiese (1989: 335) Schrift als modular organisiertes System, dessen Regelapparat „auf verschiedene Repräsentationen [in] der Gesamtgrammatik“ zugreift. Die Autonomie der Schrift ergibt sich daraus, dass die Schrift zugleich auf mehrere Module (Lexikon, Phonologie, Syntax) zugreift und „bei der Interpretation selektiv vorgeht“ (Schmidt 1994: 31), d. h. nur bestimmte Eigenschaften bzw. Strukturen dieser Module visuell markiert. Eine ontologische Beziehung zwischen oraten und literaten Strukturen sehe ich bei Maas (2000), der von einem Fundierungsverhältnis des Geschriebenen im Gesprochenen ausgeht. Demnach stellen die Strukturen des Geschriebenen kontrollierte Abstraktionen orater Praktiken dar: Die literate Gliederung ist fundiert in den Potentialen der oraten Gliederung und baut diese weiter aus. Insofern sind ihre Grundkategorien formale Einheiten: Die Buchstaben in einer Alphabetschrift, die Wörter als Einheiten der grammatischen Gliederung und die Sätze als Gliederungen eines Textes sind auf Einheiten der gesprochenen Sprache bezogen, bilden diese aber nicht ab. [...] Literate Strukturen setzen [...] orate[n] Strukturen voraus, entwickeln sich aber z. T. unabhängig von ihnen als Nutzung der spezifischen Potentiale eines graphisch repräsentierten Textes, der sy-
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Vgl. exemplarisch die Arbeiten von Eisenberg (1983, 1985, 1988, 1996), Günther (1988, 1995), Primus (2000a), Stetter (1991) und Maas (1992, 2000, 2003) sowie partiell Feldbusch (1985, 1986, 1988).
9 noptisch interpretierbar ist, also nicht auf die Repräsentation des Kontextes im (Kurzzeit-)Gedächtnis angewiesen ist. (Maas 2000: 27f.)
Im Ergebnis wird hier, ansetzend an den spezifischen Anforderungen der Schrift an den Leser, eine Autonomie der literaten Strukturen postuliert, ohne dass jedoch der konzeptionelle Rückgriff auf ein angenommenes Fundierungsverhältnis aufgegeben würde. In einer korrespondenztheoretischen Konzeptualisierung der Schrift (Primus 2000a, 2003, Günther 1988, Eisenberg 1983, 1996, 1998 [22004]) sind die schriftliche und die mündliche Sprache integrale Bestandteile des sprachlichen Gesamtsystems. Aufgrund ihrer verschiedenen Realisierungen wird zwischen einem phonologischen und einem graphematischen Teilsystem unterschieden. An den anderen Ebenen des Sprachsystems (Morphologie, Syntax) partizipieren die mündliche und die schriftliche Sprache gleichermaßen; sie enkodieren mit jeweils verschiedenen Mitteln morphologische und syntaktische Informationen. Schriftliche Sprache wird erfasst als graphisches System, in dem bestimmte Eigenschaften des Sprachsystems medienspezifisch vergegenständlicht sind. Entsprechend wird die Schriftgeschichte als zunehmendes Eindringen des Schriftsystems in das Sprachsystem aufgefasst (Eisenberg 1983). Die Analyse der Eigenständigkeit der schriftlichen und der mündlichen Sprache setzt bei der Spezifik ihrer medialen Realisierungsbedingungen an, holt also gerade diejenigen Komponenten wieder herein, die in der Sprachwissenschaftsgeschichte durch die Verführungskraft der Schrift systematisch ins Abseits geraten waren: die Produktion und Rezeption sprachlicher Einheiten. Wie Maas (2000: 12) schreibt: Geschriebene und gesprochene Sprache sind verschieden orientiert: í die Struktur der gesprochenen Sprache ist abgestellt auf das Hörverstehen, í die Struktur der geschriebenen Sprache ist abgestellt auf das Leseverstehen.
Die Absenz von Sprecher und Hörer (Ehlich 1994, Nunberg 1990), motorische statt artikulatorische Produktion (Günther 1988, 1993), Werkzeug- statt Sprechorgangebrauch (Günther 1988), visuelle statt akustische Wahrnehmung (Günther 1988, Primus 2000a) sind medial bedingte, konstitutive Faktoren, die der schriftlichen Sprache ihre eigene Kontur aufprägen. Die spezifischen Eigenschaften der Schrift, etwa die strenge Linearität, der segmentale Charakter der Buchstaben (Günther 1988), die visuelle Salienz von Wörtern und Silben (Günther 1988, Saenger 1997, Maas 2000, Eisenberg 1989, Butt & Eisenberg 1990, Primus 2003) sowie aufgrund der fehlenden Kopräsenz von Schreiber und Leser die maximale Explikation von zu verarbeitendem Wissen (Zifonun et al. 1997, Maas 2000) sind Eigenschaften einer für einen einsamen Leser aufbereiteten Sprache. Die Zweckbestimmtheit moderner Schriftsysteme, Sprache für die visuelle Rekodierung eines einsamen Lesers aufzubereiten, ist jedoch nicht nur verantwortlich für die graphische Form ihrer Elemente und für Teile der Textorganisation. Der schriftsprachliche Rezeptionsvorgang legt auch fest, welche sprachstrukturellen Eigenschaften in einem Schriftsystem überhaupt salient gemacht werden: Während etwa im Deutschen Eigenschaften der silbischen, der morphologischen sowie der syntaktischen Struktur orthographisch relevante Schrifteinheiten konstitutieren, werden semantische Eigenschaften nicht ausbuchstabiert.26 –––––––—–– 26
Die Annahme eines „semantisch-syntaktischen Prinzips“ (Baudusch 1981) der Interpunktion erweist sich als auf syntaktische Eigenschaften reduzierbar (vgl. hierzu Mentrup 1983). Für einen
10 Zusätzlich gilt, dass die Schriftsprache nicht für alle Eigenschaften der prinzipiell schriftrelevanten sprachlichen Ebenen zugänglich ist. So werden postlexikalische Regeln der Phonologie wie etwa Klitisierungen oder Auslautverhärtung (Chomsky 1970, Kennedy 1984, Wiese 1989) orthographisch nicht oder nur bedingt realisiert.27 Weder das mündliche noch das schriftliche System markieren Wortartenunterscheidungen.28 Nur bestimmte syntaktische Konstituenten werden schriftsprachlich gesondert (z. B. satzwertige Konstituenten), andere (z. B. Präpositionalgruppen) nicht. Diese Befunde führen hier dazu, die Sprache der Schrift zu erfassen als System, das diejenigen sprachlichen Strukturen ausbuchstabiert, die die Sprachverarbeitung unter den Bedingungen der visuellen Rezeption eines einsamen Lesers optimiert. Relevanter Motor für die Entwicklung der Orthographie sowie für die Stabilisierung von Schreibvarianten ist demzufolge die Optimierung der Schnittstelle zwischen sprachlichen Strukturen und den kommunikativen, physischen und mentalen Bedingungen des Lesens. Die Autonomie des Schriftsystems leitet sich in dieser Bestimmung nicht einfach negativ her, als von der Lautsprache unabhängiges System, sondern positiv aus der Spezifik der Mittelwahl, die sich aus den Produktions-/Rezeptionsanforderungen der schriftlichen Kommunikation ergibt (vgl. Abb. 1). Die physischen Produktions-/Rezeptionsbedingungen sowie die kommunikative P/RKonstellation determinieren, welches Material ein Sprachsystem ausbildet und zur Verfügung hält. Die Anforderungen des modalitätsunabhängigen Systems determinieren, wie die materiellen Basiselemente zu größeren Einheiten kombiniert werden.29 Jedes Schriftsystem verfügt über eine begrenzte Anzahl graphischen Materials, das zu motorisch ausführbaren, visuell hinreichend diskriminierbaren graphischen Einheiten aufgebaut wird (in Alphabetschriften Buchstaben, Sonderzeichen, Interpunktionszeichen etc.), sowie über eine regelhafte Kombinatorik dieser Einheiten (Schriftrichtung, Alternation zwischen graphischem Material und Leerstellen etc.) zum Aufbau von sprachlichen Einheiten (etwa Silben, Wörter, Sätze). Ein Schriftsystem ist um so optimaler, je effektiver Material und Kombinatorik den Leser bei der Umsetzung von geschriebenen in sprachliche Einheiten unterstützen.
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28
29
Zugriff des Schriftsystems auf die semantische Ebene könnten eventuell graphische Distinktionen bei homophonen Wörtern ( vs. ; vs. ) veranschlagt werden; so zumindest schlägt es Garbe (1985) vor. Soll Klitisierung orthographisch angezeigt werden, steht ein Interpunktionszeichen (der Apostroph) zur Verfügung. Zur Funktionsweise des Apostrophs vgl. Kapitel III, 2.1. Die Substantivgroßschreibung ist nur vermeintlich wortkategorial gebunden. Vgl. hierzu Maas (2000) sowie Röber-Siekmeyer (1999) und Günther & Nünke (2005). Zum Beispiel kann die Silbe unabhängig von ihrer medialen Manifestation erfasst werden als Einheit, die durch die Alternation zwischen verschiedenen Werten entsteht und damit die für Silben konstitutive CV-Struktur erzeugt. Die Lautsprache alterniert zwischen Vokalen und Konsonanten, die Gebärdensprache zwischen Bewegung und Position, die Schriftsprache zwischen Vokal- und Konsonantengraphemen (Primus 2003). Wie die Silbe in der Brailleschrift salient gemacht wird, müsste eigens untersucht werden.
11 modalitätsunabhängiges System
Laute Töne Geräusche
Hand-/Fingerpositionen Hand-/Fingerbewegungen
Linien/Punkte Leerstellen Flächen
Punkte Leerstellen Flächen
Produktion
artikulatorisch organisch
gestisch manuell
motorisch instrumentell
instrumentell
Rezeption
auditiv
visuell
visuell
haptisch/manuell
P/R
Kopräsenz
Kopräsenz
fehlende Kopräsenz
fehlende Kopräsenz
Schriftsprache
Braille
Material
Lautsprache
Gebärdensprache
Abb. 1: Kommunikative, physische und mentale Parameter der Sprachtätigkeit (in Anlehnung an Primus 2003); P = Produzent, R = Rezipient
2 Fragestellung Auf der Grundlage der hier skizzierten Schrifttheorie hat eine Interpunktionstheorie die Aufgabe zu ermitteln, wie die Interpunktion den Leser bei der Umsetzung von geschriebenen in sprachliche Einheiten unterstützt. Dabei gehe ich von folgenden Basisannahmen aus.
2.1 Holismus vs. Kompositionalität Der Graphemdefinition Günthers (1988: 77) folgend, ist das Graphem „die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit des Schriftsystems einer Sprache“. Akzeptiert man Interpunktionszeichen als Exemplare eines spezifischen Graphemtyps (Syngrapheme nach Gallmann 1996), so führt dies zur Holismus-Annahme: Holismus-Annahme: Die formalen Elemente, aus denen die Interpunktionszeichen zusammengesetzt sind, sowie die Kompositionsmerkmale sind nicht distinktiv.
12 Für die Buchstaben haben Brekle (1994, 1995), Naumann (1989) und Primus (2000, 2004, 2006) gegen die Holismus-Annahme votiert. Sie zerlegen die Buchstaben in Merkmale: Unterlänge, Oberlänge (Naumann 1989), Hasta, Koda (Brekle 1994), Horizontalität, Krümmung, Reduplikation etc. (Primus 2000, 2004). Naumann und Primus weisen diesen Merkmalen distinktive Funktion zu. So zeigt etwa Naumann, dass die Vokalgrapheme keine Ober-/Unterlängen besitzen, aber fast alle Konsonantengrapheme. Die formale Distinktion zwischen Vokal- und Konsonantengraphemen deutet Naumann funktional. Es entstünden so visuell optimal diskriminierbare trichterförmige Silbenschemata:30
h a Onset
Nukleus
f t Koda
Onset
e
t
Nukleus
Koda
Abb. 2: Die Optik von Schriftsilben
Primus (2006) kann zeigen, dass die Form und die Anordnung von vertikaler Hasta und meist gekrümmter Koda der Buchstaben Artikulationsorte und -arten repräsentieren. Geht man für die Interpunktionszeichen von der Holismus-Annahme aus, gehen wesentliche – zunächst noch intuitive – Einsichten in die formalen Gemeinsamkeiten spezifischer Interpunktionszeichen verloren. So etwa die Eigenschaft von Punkt, Fragezeichen, Ausrufezeichen und Doppelpunkt, einen einzelnen Punkt auf der Grundlinie zu nehmen; eine Eigenschaft mit graphotaktischen Konsequenzen: Es handelt sich genau um diejenigen Zeichen, die eine Folgemajuskel nach sich ziehen können. Zumindest drei dieser Zeichen – Punkt, Ausrufezeichen und Fragezeichen – werden häufig zu einer paradigmatischen Klasse zusammengefasst (sog. Satzschlusszeichen, exemplarisch Baudusch 1985).31 Graphische Ähnlichkeit weisen auch Komma und Semikolon auf, denen traditionell auch funktionale Gemeinsamkeiten bescheinigt werden. Die Punkthaltigkeit des Semikolons, die den „Strichpunkt“ formal zugleich in die Nähe des Punktes bringt, verweist auf die „Zwischenstellung“ des Semikolons, mit dem man „einen höheren Grad der Abgrenzung aus[drückt] als mit dem Komma und einen geringeren Grad der Abgrenzung als mit dem Punkt“ (Amtliche Regeln 1996: § 80). Diese „Zwischenstellung“, die in Kapitel III, 3.3.2 sprachverarbeitungstheoretisch rekonstruiert wird, ist in der Form des Semikolons abgelegt. In der vorliegenden Arbeit wird aufgrund dieser und weiterer, im einzelnen zu entwickelnder Beobachtungen die Kompositionalitäts-Annahme vertreten: Kompositionalitäts-Annahme: Die formalen Elemente, aus denen die Interpunktionszeichen zusammengesetzt sind, sowie die Kompositionsmerkmale sind distinktiv. –––––––—––
30
31
Zu einer kritischen Würdigung der Auffassung Naumanns vgl. Butt & Eisenberg (1990) und Primus (2000, 2004). Zum Zusammenhang zwischen schreibmotorischen Abläufen und der historischen Ausprägung der Buchstabenformen vgl. ausführlich Hasert (1998). Eine Ausnahme macht Ossner (1998); vgl. dazu auch Kapitel III, 3.2 der vorliegenden Arbeit.
13 Die Funktion der Interpunktionszeichen folgt dem seit Frege bekannten Prinzip der Kompositionalität: Die Funktion einer komplexen Einheit ist determiniert durch die Funktion ihrer Teile und die Art ihrer Kombination.32 In Kapitel II, 2 wird die kompositionelle Struktur der Interpunktionszeichen herausgearbeitet. Eine funktionale Zuordnung wird in Kapitel III vorgeschlagen.
2.2 Sprache vs. Schrift Über die Regularitäten der Getrennt- und Zusammenschreibung wird viel geschrieben. Über das Spatium nur wenig. Als Mittel, das die Getrenntschreibung organisiert, wird seine Eigenständigkeit kaum wahrgenommen. Wie Saenger (1997) jedoch eindrücklich gezeigt hat, ist das Setzen des Wortzwischenraums nicht nur ein grammatisches, sondern auch ein mediales Phänomen. Unter Rückgriff auf historische und lesepsychologische Befunde weist er nach, dass kein anderes schriftsprachliches Mittel die Leistung der Worttrennung besser erbringen könnte als ein Leerraum. Der Raum zwischen den Wörtern ist auch die Position der Interpunktionszeichen. Dabei ist die Abfolge zwischen Buchstaben, Satzzeichen und Leerstellen nicht beliebig: So steht das Komma zwischen einem Buchstaben und einem Spatium, der Gedankenstrich zwischen zwei Spatien, der Bindestrich zwischen zwei Buchstaben. Weitere graphotaktische Eigenschaften betreffen die Abfolge verschiedener oder gleicher Interpunktionszeichen: Ausrufe- und Fragezeichen konkatenieren frei , Bindestrich und Komma partiell *, Doppelpunkt und Semikolon konkatenieren nie * *. Iteration ist bei Frage- und Ausrufezeichen zugelassen , beim Doppelpunkt nicht *. Sieht man sich weiter die durch Interpunktionszeichen etablierten schriftgrammatischen Konstituenten an (z. B. den orthographischen Satz, eine geklammerte Einheit, eine angeführte Einheit), dann stellt man fest, dass diese nicht beliebig verkettet werden können. So ist zwar die Abfolge , also die Einbettung einer geklammerten in eine angeführte Einheit prinzipiell erlaubt. Nicht möglich aber ist es, eine geklammerte Einheit als Ganze anzuführen: *. Das Umgekehrte ist problemlos möglich: . Im Gegensatz zum Semikolon, das in einem orthographischen Satz im Prinzip beliebig oft stehen kann, können zwei Doppelpunktexpansionen (die Konstruktion, die dem Doppelpunkt unmittelbar folgt) nicht aufeinander folgen: In einem orthographischen Satz ist genau ein Doppelpunkt erlaubt. Beobachtungen wie die hier skizzierten bleiben in traditionellen Interpunktionskonzeptionen unberücksichtigt. Wenn überhaupt schriftgrammatische Überlegungen angestellt werden, dann beziehen sie sich auf den Wegfall eigentlich erwartbarer Zeichen (z. B. auf den Wegfall des Kommas, wenn ein Schlusspunkt folgt). Erklärt werden solche Regularitäten unter Rückgriff auf die Eigenschaften der Konstruktionen, die von den Interpunktionszeichen begrenzt werden. Eine Rekonstruktion schriftgrammatischer Gesetzmä–––––––—–– 32
Für die Buchstaben hat Primus (2000, 2004, 2006, 2007) die Gültigkeit des Kompositionalitätsprinzips für die Buchstaben des Römischen Alphabets herausgearbeitet.
14 ßigkeiten wird nicht versucht. Zurückzuführen ist das Fehlen einer Schriftgrammatik auf die Annahme, die Schrift bilde Sprache bzw. sprachliche Strukturen ab, sei ihrerseits also lediglich Medium (oder „Substanz“ im Sinne Saussures); diese Auffassung wird hier als Abbild-Annahme bezeichnet. Abbild-Annahme: Die Schrift bildet Sprache bzw. sprachliche Strukturen ab. Die Plazierung und Linearisierung der schriftlichen Mittel in Texten ergibt sich aus den Anforderungen dieses Abbildvorgangs. Linearisierungsvorkommen, die keine Eigenschaft des Sprachsystems abbilden, sind akzidentiell und daher irrelevant. Demgegenüber wird hier die Annahme vertreten, die Schrift folge autonomen Gesetzmäßigkeiten. Autonomie-Annahme: Die Schrift ist autonom. Die Plazierung und Linearisierung der schriftlichen Mittel in Texten folgt eigenständigen schriftgrammatischen Regularitäten. Sie sind unabhängig von den sprachlichen Konstruktionen beschreibbar, auf die sie sich beziehen. Mit der Autonomie-Annahme ist etwas anderes als das ausgedrückt, was üblicherweise unter Autonomiehypothese firmiert (vgl. Kap. I, 1). Mit Bedacht wird hier von Schrift, nicht vom Schriftsystem gesprochen. Beide sind autonom. Das Schriftsystem ist es bezüglich der Regeln zur Ausbuchstabierung phonologischer, prosodischer, lexikalischer und syntaktischer Strukturen. Die Schrift ist es bezüglich der Regeln zur Herstellung von regelgerechten Textoberflächen.
2.3 Offline vs. Online Die Interpunktionstheorien des 20. Jahrhunderts folgen – trotz zum Teil anderslautender programmatischer Vorabbestimmungen – einseitigen, am Sprachsystem fixierten Bestimmungen. Ich möchte die diesen Rekonstruktionen zugrundeliegende Auffassung als OfflineAnnahme charakterisieren. Offline-Annahme: Die Interpunktionszeichen kennzeichnen sprachliche Konstruktionen. Sie können unter Rekurs auf die Eigenschaften dieser Konstruktionen beschrieben werden. Der Offline-Annahme werden im Folgenden alle Interpunktionskonzeptionen zugerechnet, die sprachliche Konstruktionen als definierende, die Interpunktionszeichen als zu definierende Einheiten festlegen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die sprachlichen Einheiten syntaktische (Behrens 1989, Mentrup 1983, Gallmann 1985, Maas 1992, 2000, 2003), semantische (Baudusch 1981, Gallmann 1985), pragmatische (Mentrup 1983, Gallmann 1985) oder intonatorische (Baudusch 1981, Chafe 1988, Bisenieks 1984), irgendeine Mixtur aus all
15 dem (Becker 1836í1839 [21870], Duden 1876, Baudusch 1981) oder textbezogene (Maas 1992, 2000, 2003, Nunberg 1990) sind. Das wesentliche Kennzeichen von offline-basierten Interpunktionskonzeptionen ist die Analyserichtung: Eigenschaften von Konstruktionen werden zur Grundlage der Rekonstruktion der Interpunktion gemacht. Die Offline-Annahme hat in der modernen Interpunktionstheorie – neben weiteren, noch zu erörternden Problemen wie Zirkularität, Redundanz, fehlende Systematik, Ad-hoc-Bestimmungen – zu stets wiederkehrenden Schwierigkeiten geführt. Drei dieser Schwierigkeiten sollen hier profiliert werden: Polyfunktionalität Bei Kontext-/Konstruktionsverschiedenheit, aber identischer Interpungierung muss Polyfunktionalität eines Satzzeichens angenommen werden. Der Offline-Annahme gemäß gilt etwa der querliegende kurze Strich (= Divis) je nachdem, wo er steht, als Ergänzungsstrich (1) (i) oder als Bindestrich (1) (ii) oder als Trennstrich (1) (iii): (1)
(i) (ii) (iii)
Magen- und Darmgrippe B-Dur Bagatel- [Zeilenwechsel] le)
Die allen Vorkommen dieses Zeichens gemeinsame Eigenschaft, den Leser anzuweisen, die Buchstabenkette, mit der der Divis in Kontaktposition steht, (noch) nicht als syntaktisches/lexikalisches Wort, sondern als syntaktisches, silbisches oder morphologisches Fragment zu interpretieren und den fehlenden Wortrest in der unmittelbaren Textumgebung aufzusuchen (vgl. Kap. II, 3.6 und III, 2.2), geht in einer solchen Rekonstruktion verloren. Das Problem der Polyfunktionalität, das nicht nur den Divis betrifft, entsteht, weil das, was ein Interpunktionszeichen leistet, häufig auf unterschiedlichen Ebenen des Systems ansetzen kann. Beschreibt man statt der Interpunktionszeichen die Effekte, die durch Interpungierung entstehen, führt dies zwangsläufig dazu anzunehmen, wir hätten es mit unterschiedlichen Interpunktionsfunktionen, beim Divis sogar mit unterschiedlichen Zeichen zu tun. In der vorliegenden Arbeit werden ausschließlich monofunktionale Bestimmungen ausgearbeitet. Jedes formal definierbare Zeichen hat eine und nur eine Funktion. Zu beschreiben ist dann noch, auf welchen Ebenen diese Funktion wirksam wird. Allosyngraphie Bei Kontextidentität, aber verschiedenen Satzzeichen muss ein Alloverhältnis dieser Satzzeichen angenommen werden. Der Offline-Annahme folgend gelten (paariges) Komma, Klammer und Gedankenstrich als Alternativverfahren bei der Parentheseauszeichnung (Mentrup 1983, Hoffmann 1998, Kügelgen 2003): (2)
(i) (ii) (iii)
Sie saßen (es war Winter geworden) in der Stube. Sie saßen – es war Winter geworden – in der Stube. Sie saßen, es war Winter geworden, in der Stube.
16 Zu Recht hält Gallmann (1985: 172) fest, das Paradigma Komma – Gedankenstrich – Klammer solle „nicht überstrapaziert werden“. Etwa seien bei Parenthesen, „deren Satzintention33 von der des einbettenden Ganzsatzes abweicht“, nur Klammer oder Gedankenstrich zulässig (Beispiel [3] aus Gallmann 1985: 172): (3)
(i) (ii) (iii)
Eines Tages – es war mitten im Winter! – stand ein Reh in unserem Garten. Eines Tages (es war mitten im Winter!) stand ein Reh in unserem Garten. *Eines Tages, es war mitten im Winter!, stand ein Reh in unserem Garten.
Darüber hinaus gibt es weitere, nicht-parenthetische Fälle, die den Gedankenstrich oder die Klammern erlauben, nicht aber das Komma (4), sowie Fälle, in denen lediglich die Klammer, nicht aber der Gedankenstrich oder das Komma erlaubt sind (5): (4)
(i) (ii) (iii)
Er war ein (recht kleiner) energischer Typ. Er war ein – recht kleiner – energischer Typ. *Er war ein, recht kleiner, energischer Typ.
(5)
(i) (ii) (iii)
Die (Möglichkeit der) Flexion definiert offene Wortklassen. *Die – Möglichkeit der – Flexion definiert offene Wortklassen. *Die, Möglichkeit der, Flexion definiert offene Wortklassen.
Baudusch (1997: 246) hält Polyfunktionalität und Allosyngraphie für konstitutive Merkmale der Interpunktion: Zwischen den Satzzeichen und ihren Funktionen gibt es keine 1:1-Entsprechung, denn jedes Satzzeichen kann mehrere verschiedene Funktionen erfüllen (weshalb es für seine Verwendung auch stets mehrere Regeln gibt), aber auch ein und dieselbe Funktion kann häufig von mehreren Satzzeichen ganz oder teilweise übernommen werden. Daraus folgt, daß sich die Funktionsbereiche der Satzzeichen nicht säuberlich voneinander abgrenzen lassen, sondern es gibt vielfache Überschneidungen, Widersprüche und Redundanzen, zentrale und periphere Funktionsbereiche, Über- und Unterordnungen, generelle und Sonderfunktionen.
Wäre das so, könnte wahrscheinlich niemand schreiben. Und lesen auch nicht. Regel und Ausnahme Markiert ein Satzzeichen eine Konstruktion nicht erwartungsgemäß, müssen Ausnahmen zur Regel angenommen werden. Der Offline-Annahme gemäß gilt, dass der Punkt einen Satz resp. eine Satzgrenze kennzeichnet, markiert, anzeigt, bezeichnet etc.:
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Unter Satzintention versteht Gallmann etwa das, was üblicherweise mit dem Terminus Satzmodus bezeichnet wird.
17 (6)
(7)
Satz
Punkt
Regel: (i) Hans wäscht. Bettina kocht. (ii) Aspirin hilft.
+ +
+ +
Ausnahmen: (iii) Hans wäscht (Überschrift) (iv) Wir sitzen – Hans wäscht – in der Stube. (v) „Hans wäscht“, klagt Mona. (vi) Hans wäscht. Mona auch. (vii) „Wäscht Hans?“ „Nein.“
+ + + – –
– – – + +
Außerdem wird in nahezu allen Interpunktionskonzeptionen angenommen, dass Punkt, Fragezeichen und Ausrufezeichen ein Positionsparadigma bilden (Mentrup 1983) bzw. als Satzschlusszeichen interpretiert werden können (Baudusch 1981, Mentrup 1983, Behrens 1989). Will man an einer einheitlichen Bestimmung der sog. Satzschließungsfunktion des Punkts festhalten, sind für die Fälle unter (7) zwei Lösungen denkbar: (a) Abstufen der störenden Sachverhalte zu Ausnahmen, (b) Verändern des Systems. Beide Wege sind nachweislich: Bei Behrens (1989) werden mit dem gewünschten Gesamtsystem inkompatible Fälle wie in (7) (iii) bis (v) als „Schreibkonventionen“ zur Geltung gebracht, denen selbst kein systematischer Status zukommt. „Es ist schwer auszumachen, wie Schreibkonventionen motiviert sind“ (Behrens 1989: 126). Die Autorin hält fest, es gebe „[i]nsbesondere für den Punkt [...] eine Reihe von Auslassungsregeln, die keine Entsprechungen bei den anderen Satzschlußzeichen haben“ (ebd.). Warum es solche Regeln gibt, interessiert Behrens nicht. Die Regelhaftigkeit der Abweichungen zwischen dem Punkt einerseits und Frage- und Ausrufezeichen andererseits geht damit als empirisches Faktum für eine Rekonstruktion des Gesamtsystems verloren. Ähnlich gehen die Amtlichen Regeln von 1996 (zukünftig: AR 1996) vor: Der Nichtgebrauch des Punktes nach parenthetischen Konstruktionen oder ganzsatzartigen Zitaten wird in einer Ergänzungsregel (E3) ausgelagert. Durch Beseitigung der störenden Fakten kann die Hauptregel dann wie in § 67 lauten: „Mit dem Punkt kennzeichnet man den Schluss eines Ganzsatzes.“ Mentrup (1983) will das System verändern: Er macht den Vorschlag, den Punkt an die Frage- und Ausrufezeichenumgebungen anzupassen; zugleich plädiert er für eine regelmäßige Großschreibung von syntaktischen Satzanfängen, also auch bei Parenthesen. Damit würden Konstruktionen folgenden Zuschnitts entstehen: (8)
(i) (ii) (iii) (iv)
*Dieses Bild – Es ist das letzte und bekannteste des Künstlers. – wurde nach Amerika verkauft. (Mentrup 1983: 174) *Dieses Bild, Es ist das letzte und bekannteste des Künstlers., wurde nach Amerika verkauft. (Ebd.) *„Ich habe es nicht getan.“, sagte er. (Ebd.: 71) *Sagte er: „Ich komme nicht.“? (Ebd.: 159)
18 Dieses „höhere[s] Maß an Konsequenz“, so Mentrup (1983: 160), habe Drosdowski zu Unrecht als „unökonomische[r] Vermehrung der Satzzeichen“ sowie als „ausgesprochen unschön“ kritisiert. „Um Schönheit“, so Mentrups Gegenargument, sei es weniger gegangen als um „Eindeutigkeit“: „Mir geht es um die entsprechende konsequente und leicht zu behaltende generelle Regel, daß alle Sätze ihr Schlußzeichen behalten.“ (Ebd.: 162) Gemeinsam ist beiden, Behrens wie Mentrup, dass sie offensichtlich nicht beabsichtigen, das System der Interpunktion herauszuarbeiten. Die Fakten werden auf der Grundlage der eigenen Theorie umgedeutet oder verändert. Eine Erklärung der in (7) aufgeführten Regularitäten sieht Gallmann (1985: 45) vor: Er bezeichnet insbesondere die in Parenthese stehenden „Ganzsätze“ als „ausgesprochen unselbständige Ganzsätze“. Was darunter zu verstehen ist, bleibt unklar. Gallmann macht lediglich den engen Bezug auf den einbettenden Satz geltend. Wenn aber die ausgesprochene Unselbständigkeit eines Ganzsatzes sowie sein enger Bezug zu einer weiteren Einheit das Fehlen des Punktes motiviert, dann sollten Überschriften, die ausgesprochen selbständig sind und die keinen syntaktischen Bezug zu Nachbarkonstruktionen aufweisen, punktiert werden. Hier soll für das Fehlen des Punktes nun eine (typo)graphische Eigenschaft verantwortlich sein (Gallmann 1985: 41). Die Relation zwischen syntaktischen und (typo)graphischen Eigenschaften, die offensichtlich komplementäre Begründungszusammenhänge für die Interpunktion abgeben, bleibt undiskutiert.34 Die Bezugnahme auf Konstruktionen bringt mehr Probleme als Lösungen. Unter Bezugnahme auf die in Kapitel I ausgearbeitete Schriftkonzeption wird die Interpunktion in der vorliegenden Arbeit auf der Basis der Sprachtätigkeit beim Lesen rekonstruiert, die auf der Online-Annahme basiert. Online-Annahme: Die Interpunktionszeichen steuern den Leseprozess. Sie können unter Rekurs auf die Sprachverarbeitung beim Lesen beschrieben werden. Die These, dass die Interpunktionszeichen den Leseprozess steuern, ist nicht neu. In nahezu keiner Interpunktionskonzeption fehlt der Hinweis auf eine meist auf den Leser bezogene, funktionale Bestimmung des Interpunktionssystems (Baudusch 1981ff., Mentrup 1983, Gallmann 1985, 1996, Zifonun et al. 1997, Maas 2000). In den konkreten Beschreibungen der Interpunktionszeichen wird allerdings von dieser Definition kein Gebrauch mehr gemacht. Gemäß der Offline-Annahme werden die Interpunktionsverwendungen nicht auf den Leseprozess, sondern auf charakteristische sprachliche Konstruktionseigenschaften abgebildet. Die Projektion der Interpunktionszeichen auf sprachliche Strukturen erhält den Zuschnitt: x kennzeichnet, markiert, gliedert aus, bezeichnet, signalisiert etc. ein y; mit x als Interpunktionszeichen (z. B. Punkt) und y als sprachlicher Struktur (z. B. Satz). Nachträglich wird dann angenommen, dass der Leseprozess durch die rasche Erfassung von y positiv begünstigt werde. Mit der Online-Annahme steht keine prinzipiell neue Sicht auf die Interpunktion selbst bzw. ihre Funktion zur Diskussion. Anvisiert wird die programmatische Umsetzung eines bekannten Faktums. Ziel der Arbeit ist die Rekonstruktion einer leseprozessbezogenen –––––––—––
34
In Kapitel II, 3.1.1 wird der Zusammenhang zwischen Interpunktion und typographischen Texteigenschaften thematisiert.
19 Instruktionskonzeption der Interpunktion. Die Interpunktionsvorkommen werden nicht auf sprachliche Strukturen, sondern auf Sprachverarbeitungsprozesse abgebildet. Regelformate erhalten den Zuschnitt: x instruiert den Leser, y zu tun/zu unterlassen; mit x als Interpunktionszeichen und y als spezifischer Teiltätigkeit im Sprachverarbeitungsprozess. Dabei wird davon ausgegangen, dass Interpunktionszeichen nur dann intervenieren, wenn der angeforderte Sprachverarbeitungsprozess vom Default abweicht, der Leser also in spezifischer Weise umgelenkt werden muss. Aus einer angemessenen Rekonstruktion der Interpunktion könnte dann auch (als Dispositiv) eine von der Interpunktion unabhängige Lesetheorie resultieren. Im Idealfall sollten Form (Kompositionalität) und Funktion (Online-Instruktionen) so aufeinander bezogen sein, dass bestimmte Formen nur ganz bestimmte Funktionen repräsentieren und dass umgekehrt spezifische Funktionen mit formgleichen bzw. -ähnlichen Mitteln ausgedrückt werden.
20
II
Form
1
Das Inventar
Gallmann (1985, 1986) schlägt eine Einteilung der in Alphabetschriften zur Verfügung stehenden Mittel in flächig suprasegmentale, linear suprasegmentale und segmentale vor. Die segmentalen Mittel sind als kleinste Einheiten des Schriftsystems definiert; zu ihnen zählt Gallmann Buchstaben, Ziffern, Sonderzeichen, Hilfszeichen (Interpunktionszeichen), Leerzeichen und Diakritika. Als linear suprasegmental gelten alle graphischen Mittel, die die segmentalen Mittel überlagern. Das sind Gallmann zufolge Anfangsgroßschreibung, allgemein Großbuchstaben, Kapitälchen, Schriftart, Schriftauszeichnung, Schriftgröße, Sperren, Ligaturen sowie Hoch- und Tiefstellung. Flächige Suprasegmente sind diejenigen Mittel der Schrift, die durch die Anordnung von (durch Leerstellen getrennte) Buchstabenketten entstehen, also Zeile, Textblock, Einzug, Zeilenanfang und Zeilenende. Flächige Suprasegmente sind es, die Gallmann (1985: 15) zufolge „die Eindimensionalität der Sprache ansatzweise überwinden“.1 Die Unterscheidung Gallmanns aufgreifend, nimmt Günther (1988) eine weitere Differenzierung der graphischen Mittel danach vor, ob sie additiv oder integrativ operieren. Additive Mittel werden weiteren graphischen Mitteln hinzugefügt (die Diakritika als segmentale Mittel, die Unterstreichung als linear suprasegmentales Mittel, das Ornament, die Umrandung oder Rasterfläche als flächig suprasegmentales Mittel). „[I]ntegrativ sind Elemente, die in jeweils einem Schriftzeichen integriert sind (Großschreibung, Fettdruck etc.).“ (Günther 1988: 65) Gallmanns und Günthers Begriffsbestimmungen zusammengefasst, ergibt sich folgende Übersicht: –additiv (integrativ oder selbständig)
+additiv
flächigsuprasegmental
Zeile, Absatz, Textblock, Einzug etc.
Ornament, Umrandung, Hintergrund etc.
linearsuprasegmental
Schriftarten, Schrifttypen, fett, Großbuchstaben, kursiv etc.
Unterstreichung
segmental
Kleinbuchstaben, Ziffern, Sonderzeichen, Leerzeichen, Interpunktionszeichen
Diakritika
Tab. 1: Die graphischen Mittel der Schrift in Anlehnung an Gallmann (1985) und Günther (1988)
–––––––—–– 1
Zur Rolle der Kartographie von Texten beim Lesen vgl. ausführlich Gross (1994, 2000), Kennedy (1983, 1984).
22 Die Typologie der graphischen Mittel korrespondiert einer relativ strikten Funktionsteilung: Die segmentalen Mittel visualisieren Einheiten des Sprachsystems (Phoneme, Silben, Wörter, Sätze). Die flächig suprasegmentalen Mittel machen spezifische, lokal definierte Aspekte der satzübergreifenden Informationsstruktur von Texten optisch salient (Umrandung, Absätze etc.). Auch die linear suprasegmentalen Mittel werden für lokale Zwecke, etwa für Hervorhebungen eingesetzt (Zifonun et al. 1997: 255). Sie können innersentential oder satzübergreifend gebraucht werden.2 Wesentlich ist, dass im modernen Schriftsystem weder mit den flächigen noch mit den linearen Suprasegmenten Einheiten des Sprachsystems visualisiert werden.3 Eine Ausnahme stellen in dieser Perspektive Anfangsgroßbuchstaben dar, die als „eine Überlagerung der Grundformen der Buchstaben durch das suprasegmentale graphische Mittel Großschreibung“ (Günther 1988: 67) erfasst werden und die damit zu den suprasegmentalen Mitteln gehören würden. Damit sollte Großschreibung lokale Texteigenschaften visualisieren. Nach allen bekannten Modellen ist sie jedoch ein Mittel zur Visualisierung von Sprachsystemeigenschaften. In Kapitel II, 3.3 wird eine Buchstabendefinition vorgeschlagen, die es erlaubt, Großbuchstaben und Kleinbuchstaben gleichermaßen als segmentale Mittel zu erfassen. Die Argumentation wird darauf hinauslaufen, dass Buchstaben zweielementige Paradigmen sind, mit einer Majuskel und einer Minuskel. Mit dieser Definition können sie von allen anderen segmentalen Mitteln unterschieden werden: Ziffern, Interpunktionszeichen, Sonderzeichen und Diakritika sind einelementige Paradigmen, d. h. sie verfügen über genau eine Form. Als weitere Unterscheidungskriterien zwischen den segmentalen Mitteln ergeben sich die folgenden: Ziffern und Buchstaben unterscheiden sich von allen anderen segmentalen Mitteln durch Kombinierbarkeit: Eine Folge von Ziffern konstituiert eine Zahl, eine Folge von Buchstaben ein Wort; demgegenüber konstituieren Folgen von Sonderzeichen oder Interpunktionszeichen keine Einheiten größeren Typs (s. Günther 1988: 67, Behrens 1989: 15). Zur Unterscheidung von Interpunktions- und Sonderzeichen schlägt Gallmann das Kriterium der Offenheit/Geschlossenheit der Klassen vor, wobei er die geschlossene Klasse der Hilfszeichen (das sind bei Gallmann Punkt, Ausrufezeichen, Fragezeichen, Doppelpunkt, Semikolon, Komma, Gedankenstrich, Divis, Apostroph, Anführungszeichen, Klammern)4 durch einfache Aufzählung eines als vollständig definierten Inventars gewinnt, ohne dabei eine qualitative Bestimmung vorzunehmen. Intuitiv scheint der Unterschied zwischen Interpunktions- und Sonderzeichen klar zu sein. Um hier nicht bereits funktionale Eigenschaften ins Spiel zu bringen, durch die diese Intuition in erster Linie gerechtfertigt zu sein scheint, wird hier für eine erste Unterscheidung der nichtkombinierbaren segmentalen Mittel eine rezeptionsbezogene Bestimmung vorge–––––––—––
2
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Lineare Suprasegmente arbeiten mit dem Mittel des Kontrasts: Sie werden nur in Relation zu weiteren, anders markierten Einheiten funktional interpretiert (Günther 1988, Gallmann 1985). Auberlen (1989) hat gezeigt, dass und welche Markierungen sich positiv sowohl auf Behaltens- als auch auf Verstehensleistungen beim Lesen auswirken. Diese Eigenschaft der flächigen und linearen Suprasegmente führt auch dazu, dass sie keiner strengen Normiertheit unterliegen (Günther 1988: 66). Die Auslassungspunkte werden hier nicht aufgeführt; sie werden an späterer Stelle als „Auslassungssignale“ aufgegriffen. Da sie auch nicht den Sonderzeichen zugeordnet werden, bleibt ihr Status in Bezug auf die von Gallmann festgelegten formalen Graphemklassen unklar.
23 schlagen: Sonderzeichen werden beim (lauten) Lesen verbalisiert, Interpunktionszeichen nicht. Bereits im 16. Jahrhundert kündigt Helber sein Kapitel über die Interpunktion wie folgt an: „Von vermög derer Zeichen, die mit dem mund nit werden für gebracht, doch dem lesenden dienen zu fertiger vnterscheidung der Rede.“ (Zit. nach Höchli 1981: 73)5 Ganz ähnlich sieht das Olson (1994: 92): „Modern scripts represent some of the prosodic features of speech by punctuation marks which are not ‚read‘ but indicate how what is written is to be read“. Der Unterschied zwischen Interpunktionszeichen und Leerzeichen lässt sich durch ein produktionsbezogenes Kriterium erfassen: Interpunktionszeichen können auch ohne graphischen Kontext dargestellt (und erkannt) werden, Leerzeichen können das nicht. Sie benötigen für eine Darstellung die graphische Umgebung. Die hier vorgeschlagenen Kriterien (kontextlose Darstellbarkeit, Verbalisierbarkeit, Kombinierbarkeit, Paradigmenstruktur [Ein-/Zweielementigkeit], Additivität) stellen sich systematisch wie folgt dar:
darstellbar verbalisierbar kombinierbar zweielementig additiv
Diakritika + – – – +
Buchstaben + + + + –
Ziffern + + + – –
Sonderz. + + – – –
IP-Zeichen + – – – –
Leerzeichen – – – – –
Tab. 2: Segmentale Mittel der Schrift
Die Segmenteigenschaften der nichtadditiven Zeichen weisen eine interne Implikationshierarchie auf: Ist Darstellbarkeit nicht gegeben, sind auch alle anderen Kriterien negativ; können Zeichen nicht verbalisiert werden, sind sie auch nicht kombinierbar und nicht zweielementig. Umgekehrt gilt: Zweielementigkeit zieht bei allen anderen Merkmalen eine positive Bestimmung nach sich; Kombinierbarkeit impliziert Verbalisierbarkeit und Darstellbarkeit. Interpunktionszeichen sind nach dieser Merkmalzuweisung definiert als nichtadditive, nichtverbalisierbare, nichtkombinierbare, selbständige sowie ohne graphischen Kontext darstellbare, einelementige segmentale Mittel des Schriftsystems. Diese Definition führt für das Deutsche zu folgendem Interpunktionsinventar: Punkt , Doppelpunkt , Fragezeichen , Ausrufezeichen , Komma , Semikolon , Klammern , Anführungszeichen , Divis , Apostroph , Auslassungspunkte , Gedankenstrich . Diese Inventarisierung ist keineswegs einhellig. So rechnen etwa Baudusch (1981), Menzel & Sitta (1982), Mentrup (1983) und Maas (2000) neben dem einzelnen Komma/Gedankenstrich auch das paarige Komma/den paarigen Gedankenstrich, also spezi–––––––—––
5
Zur Illustration des Effekts, der sich einstellt, wenn die Satzzeichen mitgelesen werden, zitiert Zollinger (1940: 11) einen Text von Gottfried Keller, in dem ein Schulmeister den Spinnern eine von ihm verfasste Eingabe vorliest: „Nothfeste, frumme Hoch und wollwysse Regierung Frogszeichen. [/] Ihr werten Eych färwuntern worum wir eüch schreiben Thun Gedankenstrich. Weir habet keyn verdienst und Kein Geld Doppelpunkt. Und wer kein Ferdyenst und kein gelt Hat ist Arm Punktum. [...].“
24 fische Gebrauchsvarianten (Kap. II, 3.7), zum Grundinventar. Maas (2000) wertet den Schrägstrich als Interpunktionszeichen. Behrens (1989) rechnet die Auslassungspunkte, den Divis und den Apostroph nicht zu den von ihr so genannten Satzzeichen. Divis und Apostroph werden auch bei Baudusch (1986) nicht mitbehandelt. Mentrup (1983) bespricht verschiedentlich Einheiten wie sic! oder so! oder sog., deren Status nicht ganz klar wird. Die Inventarisierung des Spatiums als Interpunktionszeichen wird von Jones (1995) und Gordon (1983 [21984]) vorgeschlagen. Soweit ich sehe, ist jedoch mit keinem dieser Modelle eine kriteriale Bestimmung gegeben, mit der die Interpunktionszeichen eineindeutig von den weiteren segmentalen Schriftmitteln unterschieden werden. Nach der hier vorliegenden Definition bleiben zwei Zeichen strittig: der Asterisk und der Schrägstrich in Fällen, in denen er nicht verbalisiert wird (z. B. ). Nun weisen beide, Schrägstrich und Asterisk, Kontexte auf, in denen sie verbalisiert werden können. Der Asterisk kann für „geboren“ stehen, der Schrägstrich für „und“ oder „beziehungsweise“ (Schüler/innen ĺ Schüler und/beziehungsweise Schülerinnen). Das Kriterium der Verbalisierbarkeit soll also wie folgt geschärft werden: Ein Zeichen erhält diese Merkmal nur dann, wenn es keinen Kontext gibt, in dem es verbalisierbar ist. Im Folgenden wird es darum gehen, das hier begründete Inventar in Bezug auf seine formalen und schriftgrammatischen Eigenschaften zu beschreiben.
2 Merkmale Analog zur Unterscheidung von Phonetik und Phonologie lassen sich Graphetik und Graphematik unterscheiden.6 Die Graphematik befasst sich mit den funktionalen Einheiten des Schriftsystems, die Graphetik damit, „wie Schriftzeichen und schriftliche Äußerungen aussehen, wie sie beim Schreiben oder Drucken produziert werden und wie sie beim Lesen wahrgenommen werden“ (Günther 1993: 30). Günther unterscheidet unter Rekurs auf Tillmann & Günther (1986) weiter zwischen einer Signal- und einer Symbolgraphetik. Die Signalgraphetik befasst sich mit dem „visuelle[n] Sprachsignal in all seinen Repräsentationen von der Bildung der Zeichenkette im Gehirn des Schreibers über die Produktion schriftlicher Äußerungen, das optische Sprachsignal und die Augenbewegungen des Lesers hin zur mentalen Repräsentation des Gelesenen“ (Günther 1993: 35). Demgegenüber betrachtet die Symbolgraphetik die Form schriftlicher Äußerungen. Bislang hat sich die Symbolgraphetik überwiegend mit verschiedenen Schrifttypsystemen (Schriftarten, Fonts etc.) oder aber auch mit individuellen Schriftausprägungen befasst.7 Nur einige wenige Arbeiten haben im Rahmen einer Symbolgraphetik die interne Struktur schriftsprachlicher Segmente untersucht, und der analytische Zweck einer solchen Analyse ist selbst umstritten. Während etwa Brekle (1994, 1995), Naumann (1989) oder Primus –––––––—––
6 7
Der Terminus „Graphologie“ ist in der Handschriftenkunde bereits besetzt. Vgl. hierzu ausführlich Brekle (1994) sowie Hasert (1998).
25 (2000, 2004, 2006, 2007) eine Merkmalanalyse der Buchstaben vorlegen, hält Günther (1988: 85) eine solche Klassifikation für ein „Kunststück ohne Erkenntniswert“. Brekle (1994: 171) schlägt vor, der artikulatorischen Phonetik eine „produktionale oder Kineto-Graphetik“, der auditiven Phonetik eine „rezeptive oder Phano-Graphetik“ gegenüberzustellen. Ich werde im Folgenden diesen Vorschlag aufgreifen und eine graphetische Merkmalanalyse für das Interpunktionsinventar nach dem Muster der phonetischen Merkmalanalyse vornehmen, allerdings nicht wie bei Brekle vorgeschlagen. Der Unterschied ergibt sich aus der Berücksichtigung der materiellen Eigenschaften der gesprochenen und der geschriebenen Sprache: Die phonetische Merkmalanalyse bezieht sich auf die Aktivität der Artikulationsorgane bei der Produktion (und Rezeption) von Lauten. Laute werden als Resultat des gemeinsamen Auftretens spezifischer artikulatorischer Teiltätigkeiten oder Gesten erfasst und als Bündel artikulatorischer Merkmale beschrieben. Der Werkzeuggebrauch der Schrift dagegen macht das Produkt tendenziell unabhängig von seiner Produktion. Ob ein graphisches Segment eingeritzt, eingestanzt oder aufgetragen wird, beeinflusst zwar die konkrete Erscheinungsform, die motorische Bewegung ist aber nicht konstitutiv für den Wert des Segments (Günther 1988, Primus 2000a). Eine graphetische Merkmalanalyse setzt daher nicht an den graphomotorischen, sondern an den optischen Eigenschaften geschriebener Segmente an.8
2.1 Terminologisches Um in die weithin unvertraute Terminologie der Typographie einzuführen, seien vor einer Auseinandersetzung mit den graphetischen Eigenschaften der Interpunktionszeichen hier verwendete Begriffe erläutert: Oberlänge
Versalhöhe
x-Länge
Unterlänge Abb. 1: Zeilenräume Mittellinie Unterlinie Oberlinie Abb. 2: Zeilenlinien
Grundlinie/Schreiblinie
Die Position der Interpunktionszeichen im Zeilenraum ist im modernen Interpunktionssystem eindeutig festgelegt. Die Mehrzahl der Interpunktionszeichen hat Kontakt mit der –––––––—–– 8
Primus (2006) geht bei der Analyse der Buchstaben einen ähnlichen Weg.
26 Grundlinie , einige Interpunktionszeichen weisen keinen Grundlinienkontakt auf und richten ihre Lage an der x-Länge bzw. an der Oberlänge aus . Die Unterlänge wird zwar von einigen Zeichen tangiert . Es gibt jedoch kein Interpunktionszeichen, das ohne Grundlinienkontakt in der Unterlänge lokalisiert ist.9 Historisch frühe Stufen zeigen, dass nicht alle Interpunktionssysteme die Position ihrer Elemente im Zeilenraum fixieren. Das erste bekannte Interpunktionssystem, das bis ins 8. Jahrhundert verwendet wird, sind die distinctiones (Parkes 1993, Saenger 1997, Maas 2000). Der Punkt stellt das einzige Basiselement dar. Er wird funktional differenzierend auf der Grundlinie , auf der Mittellinie oder auf der Oberlinie gesetzt. Zeitweise werden in diesem System auch Punktkombinationen verwendet. Das System der distinctiones kann als tendenziell positionales System, das moderne Interpunktionssystem als tendenziell kompositionelles System erfasst werden. In positionalen Interpunktionssystemen wird die Distinktivität – ähnlich wie in der musikalischen Notation – über Positionseigenschaften festgelegt. In kompositionellen Interpunktionssystemen sind es Kompositionseigenschaften: Distinktive Zeichen werden aus der Zusammensetzung von Basiselementen gewonnen. Die Kompositionsmuster des modernen Inventars werden im Folgenden dargestellt.10
2.2 Das Merkmal LEERE Auch wenn das moderne Interpunktionssystem lateinischer Alphabetschriften hier als kompositionelles System bezeichnet wurde, spielt die Position weiter eine Rolle: Zwar werden nicht formgleiche Zeichen positional unterschieden; das Interpunktionssystem macht aber, wie bereits angesprochen, einen Unterschied zwischen Zeichen mit und Zeichen ohne Grundlinienkontakt, wobei die vorliegende Darstellung davon ausgeht, dass die Auslassungspunkte keinen Grundlinienkontakt aufweisen, sondern ihre signifikanten Formeigenschaften an der historisch frühen Form (drei Längsstriche in der Oberlänge) ausgeprägt haben.11 –––––––—–– 9
10
11
Die Anführungszeichen erweisen sich in Bezug auf ihre Position als Sonderfall: Sie sind die einzigen, die Positionsvariabilität aufweisen; das initiale Element kann Grundlinienkontakt aufweisen, muss es aber nicht: „xxx“ vs. ”xxx“. In einigen typographischen Ausprägungen weisen An- und Abführungszeichen Grundlinienkontakt auf: «xxx», »xxx«. Der folgende Ausschnitt des hier vorgelegten Gesamtmodells wurde bereits in gekürzter Form in Bredel & Primus (2007) vorgestellt; eine etwas umfangreichere Version wird von Bredel (2008) erscheinen. Zu weiteren historisch erprobten Systemen vgl. Palmer (1991), Parkes (1993), Bredel (2007). Die Auslassungspunkte entwickeln sich historisch aus dem repetitiv gebrauchten, leicht aufrecht stehenden Divis (also oder ): „Als Zeichen einer abgebrochenen Rede haben sich die Auslassungspunkte verhältnismäßig spät, erst im 18. Jahrhundert, aus drei kleinen, etwas aufwärts gerichteten doppelten Querstrichen herausgebildet. Diese Querstriche wurden zum Teil so klein geschrieben, daß sie als Punkte erschienen und sich erst bei näherem Hinsehen als Doppelstriche entpuppten.“ (Baudusch 1983: 113) Höchli (1981: 49) schreibt: „In frühen Drucken entsteht vor allem bei Platzmangel manchmal der Eindruck, es handle sich bei diesem Zeichen (// // //)
27 Eine zweite formale Abweichung ergibt sich bei den Anführungszeichen, die hier – ebenfalls historisch frühen Formen folgend12 – die Form von Pfeilen haben ² ¢ und sich so als Gegenstück zu den Klammern ¢ ² erweisen. Die relevanten Beschreibungskategorien sind [+LEER] und [–LEER]. Als [+LEER] werden Zeichen ohne, als [–LEER] Zeichen mit Grundlinienkontakt ausgewiesen:13 [–LEER]
[+LEER]
:;,.¢²²¢?! '''–'Abb. 3: Das Merkmal LEERE
Der Unterschied zwischen Interpunktionszeichen mit dem Merkmal [+LEER] und solchen mit dem Merkmal [–LEER] zeigt auch graphotaktische Reflexe: Leere und nicht leere Zeichen unterscheiden sich (a) in Bezug auf die Kontaktstellung zu Nachbareinheiten und (b) in Bezug auf ihre Position am Zeilenrand. Ad (a): In Bezug auf die Kontaktstellung können symmetrische und asymmetrische Kontaktpositionen unterschieden werden: Asymmetrisch soll eine Kontaktposition dann heißen, wenn ein Satzzeichen nach links und rechts in Kontakt mit Elementen nichtidentischer Segmentklassen steht. So steht der Punkt nach links in Kontakt mit einem Buchstaben oder einer Ziffer, nach rechts hat er Kontakt mit dem Spatium: (1)
(i) (ii) (iii)
Hanna liest. Peter nicht. *Hanna liest.Peter nicht. *Hanna liest . Peter nicht.
Symmetrische Kontaktposition liegt vor, wenn ein Satzzeichen in beide Richtungen in Kontakt mit Elementen derselben Segmentklasse steht. Der Gedankenstrich nimmt auf beiden Seiten das Spatium: (2)
(i) (ii) (iii)
Er hatte das Geld – gestohlen. *Er hatte das Geld– gestohlen. *Er hatte das Geld –gestohlen.
Das Potential zur symmetrischen Kontaktposition haben alle und nur Zeichen mit dem Merkmal [+LEER]:
–––––––—––
12 13
viel eher um [...] Punkte als um [...] Striche.“ Braun schließlich, der 1775 einer der ersten ist, der die Auslassungspunkte erwähnt, stellt sie ebenfalls als „drei schrägliegende kurze Doppelstriche“ (zit. nach Höchli 1981: 216) dar. Vgl. Klein (1998). Weil die Unterscheidung zwischen Versallänge und Oberlänge für die Interpunktionszeichen unbedeutend ist, werden im Folgenden lediglich Unter-, Grund- und Oberlinie abgebildet.
28 (3)
(i) (ii) (iii) (iv)
heil’gen Wohnraum-Mietvertrag Angeber ... mehr hörte er nicht Angeber – mehr hörte er nicht
Der Umstand, dass bei Divis und Apostroph die symmetriekonstituierenden Kontakteinheiten Buchstaben sind, bei Gedankenstrich und Auslassungspunkten Leerzeichen (vgl. hierzu auch Jacobs 2005: 122ff.), wird in Kapitel III, 2 aufgegriffen. Ad (b): In Bezug auf ihre Position am Zeilenrand sind Zeichen mit dem Merkmal [+LEER] frei positioniert, sie können zeileninitial und zeilenfinal stehen. Zeichen mit dem Merkmal [–LEER] sind auf eine Zeilenrandposition festgelegt. Anführungszeichen und initiale Klammer stehen nie zeilenfinal, alle anderen Zeichen mit dem Merkmal [–LEER] nie zeileninitial.14 In Kapitel II, 3.1.2 werden die Eigenschaften Symmetrie und Zeilenposition für eine weiterführende Analyse aufgegriffen.
2.3 Das Merkmal VERTIKALITÄT Als zweite formal relevante Eigenschaft wird Vertikalität angesetzt. Unterschieden werden Zeichen, die mit einem vertikalen Element die Oberlänge besetzen [+VERT], von solchen, die dies nicht tun [–VERT]. Dabei wird auch hier bei den Auslassungspunkten von der historisch frühen Form ausgegangen. [+VERT]
[–VERT]
'''¢²²¢?!' -–:;,. Abb. 4: Das Merkmal VERTIKALITÄT
2.4 Das Merkmal REDUPLIKATION Eine dritte Eigenschaft bezieht sich auf die Kombinatorik der betroffenen Elemente. Unterschieden werden Grund- und Aufbauelement. Als Grundelement wird das Element auf der Grundlinie bzw. bei den Zeichen, die [+LEER] sind, das am weitesten links stehende Ele–––––––—––
14
Im Duden (222000: 94) heißt es, der Gedankenstrich solle „nach Möglichkeit nicht am Zeilenanfang stehen“. Damit ist der explizite Hinweis gegeben, dass das Erscheinen des Gedankenstrichs am Zeilenanfang eine Möglichkeit darstellt. Bezüglich des Punktes, der aus systematischen Gründen nicht von seiner Basis getrennt werden kann, ist eine solche Sollbestimmung überflüssig (und es gibt sie auch nicht).
29 ment definiert. Eine Subklassifikation der Interpunktionszeichen kann nun danach vorgenommen werden, ob das Grundelement redupliziert vorkommt oder nicht. Dabei gelten Zeichen mit zwei oder mehr gleichen Elementen als [+REDUP], solche mit zwei ungleichen und solche mit nur einem Element gelten als [–REDUP]; der Gedankenstrich wird – auch unter Rekurs auf seine historische Entwicklung – als verdoppelter Divis identifiziert: [+REDUP]
[–REDUP]
'''–¢²²¢: -;,.?!' Abb. 5: Das Merkmal REDUPLIKATION
Reduplikation und Vertikalität haben keinen oberflächennahen Reflex in der Graphotaktik. Ihre Relevanz kann erst im Zusammenhang mit funktionalen Fragen plausibilisiert werden.
2.5 Das Merkmalsystem Auf der Grundlage der vorangegangenen Analyse lässt sich jedes Interpunktionszeichen als ein Tripel von Merkmalen erfassen; so kann der Punkt als Merkmalbündel aus [–LEER, –VERT, –REDUP] beschrieben werden, die Auslassungspunkte als [+LEER, +VERT, +REDUP]. Es ergibt sich das folgende formale Gesamtsystem:
+REDUP
–REDUP +LEER
–VERT
–
–LEER
+VERT
:
.,;
( ) „“
?!
... Abb. 6: Das formale Merkmalsystem der Interpunktionszeichen
’
30
2.6 Systemlücken Nicht alle Zeichen, die aus den Basiselementen Punkt, Vertikale und Horizontale gebildet werden könnten, kommen vor. Systematisch fehlen Interpunktionszeichen, die aus einer Horizontalen und einem nichthorizontalen Element zusammengesetzt sind, etwa *< . >, *< , >, *< ’ >, *, * etc. Kinetographetisch oder phanographetisch (s. o.) lässt sich diese Systemlücke nicht begründen. Zeichen wie die hier konstruierten lassen sich sowohl motorisch herstellen als auch visuell erfassen. Historisch ist dieser Zeichentyp mehrfach belegt (Parkes 1993). Über längere Zeit gebraucht wurde u. a. der Lemniscus , „id est, virgula inter geminos punctos iacens, opponitur in his locis, quae sacrae Scripturae interpretes eodem sensu, sed diversis sermonibus transtulerunt“15 (Isidor von Sevilla, zit. nach Klein 1998: 179, Anm. 4). Ebenfalls nicht durchgesetzt haben sich Zeichen, bei denen Punkte oder Punkt und Vertikale nebeneinander angeordnet sind. Im modernen Inventar fehlen Zeichen wie *, *, * o. Ä. Auch sie wurden historisch erprobt. Parkes (1993: 28) weist in Schriftstücken bis zum 9. Jahrhundert Zeichen mit folgenden Formen nach: , , . Sie werden noch bis zum 15. Jahrhundert gelegentlich verwendet. Im weiteren Verlauf der Argumentation wird sich zeigen, warum sich Zeichen wie die hier konstruierten nicht durchsetzen konnten.
3 Schriftgrammatik In Kapitel II, 2.2 wurden zwei graphotaktische Eigenschaften eingeführt, um einen Teil der graphetischen Klassenbildung zu motivieren: die Kontaktstellung von Interpunktionszeichen zu Nachbareinheiten (Symmetrie/Asymmetrie) sowie ihre Zeilenposition (zeileninitiales und zeilenfinales Auftreten). Bereits an diesen Regularitäten ist zu erkennen, dass die Linearisierung der schriftlichen Mittel auf der Schreibfläche eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, die ohne Rückgriff auf die sprachlichen Merkmale, die die entsprechenden Einheiten ausdrücken, beschrieben werden können. Relevant bei der Modellierung eines schriftgrammatischen Regelsystems sind zunächst ausschließlich diejenigen Phänomene, die an einer Textoberfläche beobachtbar sind, in der die Buchstabenwerte neutralisiert sind. Ganz ohne Rückgriff auf die Eigenschaften sprachlicher Konstruktionen lässt sich mühelos sehen, was schriftgrammatisch reguläre (1) und was schriftgrammatisch irreguläre Folgen (2) sind: (1)
Xxxx xxxx, xxxx xxxxx. Xxxx (xxxxx) xxxxxx; xxxxxx „xxxx“ xxxxxx! Xxxx xxxxx xxxxx Xxxxx – xxx xxxxx ...
–––––––—––
15
„Eine liegende Virgel zwischen zwei Punkten, die dort eingesetzt wird, wo Interpreten die heilige Schrift dem Sinn nach, aber mit abweichenden Ausdrücken übertrugen“.
31 (2)
*xxxX xxxxx. xxxxxx xxxxx. *Xxxx( xxxxx )xxxxxx ;xxxxx„ xxx x“ xxxxx ! *Xxxx xxxx xxxxx ,xxxxx–xxx;!
Ausgehend von solchen Gesetzmäßigkeiten werden im Folgenden Grundzüge einer Schriftgrammatik entwickelt.16
3.1 Die Position der Interpunktionszeichen in Texten – slots und filler In Kapitel II, 1 wurden mit Gallmann (1985, 1986) und Günther (1988) die Mittel der Schrift in segmentale, linear-suprasegmentale und flächig-suprasegmentale unterteilt. Unberücksichtigt geblieben ist das Dispositiv dieser Mittel, der Raum, in den sie eingetragen werden. Ich unterscheide im Folgenden – analog zu den drei graphischen Elementen – drei graphische Räume (Slots): den segmentalen Raum (Raum, in den bestimmte segmentale Einheiten eingetragen werden), den linearen Raum (Raum, in den linear-suprasegmentale Einheiten eingetragen sind [die Zeile]) und den Textraum (Raum, in den flächig-suprasegmentale Einheiten eingetragen sind [die Seite]). Da Slots ohne graphische Umgebung nicht darstellbar sind (Kap. II, 2), können sie auch nicht Entitäten (oder Zeichen) genannt werden. Semiotische Signifikanz erhalten sie durch An- und Abwesenheit von Fillern. Ich spreche daher nicht einfach von Slots, sondern von Paaren von Slot und Filler. Mit dem Modell von Slot und Filler wird eine ältere linguistische Auffassung, die Tagmemik von Pike, berührt, in der eine sprachliche Grundeinheit als Paar aus einer Position und einem Füllelement definiert wird. Die Position ist weitgehend funktional definiert. Im Folgenden werden Slot und Filler nicht – wie in der Tagmemik – als Paar von Funktion und Form aufgefasst, sondern ganz materiell: Der Filler ist die Einheit, die den ohne den Filler nicht darstellbaren Slot definiert.
–––––––—–– 16
Der Einzige, der sich m. W. mit diesen Gesetzmäßigkeiten im Deutschen befasst hat, ist Jacobs (2005: 120ff.). Zum Englischen vgl. Nunberg (1990).
32
W
e
i
l
s
i
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b
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a
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n,
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s
s
e
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e
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t
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l
segmentaler Raum/slot linear-suprasegmentaler Raum/slot
flächig-suprasegmentaler Raum/slot
Abb. 1: Segmentale, linear-suprasegmentale und flächig-suprasegmentale Slots mit Fillern
3.1.1 Listenmodus und Textmodus Vor einer Analyse, wie die genannten Raumparameter schriftgrammatisch strukturiert sind, müssen verschiedene Schreibmodi unterschieden werden: Der für die vorliegende Rekonstruktion wichtigste Unterschied ist der zwischen Textmodus und Listenmodus. Im Listenmodus (z. B. Tabellen, Listen, Überschriften) übernimmt der linear-suprasegmentale Raum, die Zeile, syntaktische Strukturierungsfunktion. Daher sind Komma, Semikolon und Doppelpunkt fakultativ (zu Komma und Semikolon vgl. § 71, E2 AR). Der Punkt fehlt in der Regel ganz. In den AR 1996 heißt es dazu: § 68
Nach frei stehenden Zeilen setzt man keinen Punkt.
Ironischerweise handelt es sich bei dieser Notierung selbst um eine „frei stehende Zeile“, die – gegen die Regel – punktiert ist. Dass der Punkt steht, verweist darauf, dass die freistehende Zeile nicht das ausschlaggebende Kriterium ist. Listenmodal verfasste Texte zeichnen sich vielmehr neben der kartographischen Struktur auch durch strukturinterne Merkmale aus: Sie weisen in der Regel nichtfinite Konstruktionen auf ( vs. ).
33 Der Textmodus ist gegenüber dem Listenmodus durch finite Konstruktionen gekennzeichnet. Der Zeile kommt keine syntaktische Strukturierungsfunktion zu.17 Zeilenabbrüche haben nicht syntaktische, sondern thematische Relevanz: Sie signalisieren Themenwechsel bzw. einen thematischen Neustart. Paragraphen wie der vorliegende sind textmodal strukturiert. Sie werden auch dann, wenn sie in „frei stehende Zeilen“ eingetragen werden, punktiert. Dass die räumliche Ordnung im Listenmodus über die syntaktische Strukturierungsfunktion hinaus noch weitergehend genutzt wird, ist an Sonderzeichen wie dem Unterführungsstrich (") zur Kennzeichnung von zu wiederholenden Textabschnitten aus der Vorgängerzeile sichtbar. Ein Verfahren, das im Textmodus ausgeschlossen ist. (1)
Listenmodus:
Textmodus:
Hamburg-Altona " -Fuhlsbüttel " -Blankenese
*Einmal sagte er, dass er nach Hamburg fahre. Warum er das wolle? Dort sei auch Utz, in " .
Darüber hinaus können Gedankenstrich und Divis als Aufzählungszeichen genutzt werden. Einbettungen werden optisch, über Zeileneinrückungen visualisiert: (2)
Eine Systematisierung dieser Beobachtungen ergibt Folgendes: Die Interpunktionszeichen mit dem Merkmal [+VERT], also , werden im Listen- und im Textmodus verwendet. Sie übernehmen in beiden Schreibmodi dieselbe Funktion und dürfen beim Vorliegen einer entsprechenden Konstruktion weder im Text- noch im Listenmodus fehlen. Bei den Zeichen mit dem Merkmal [–VERT] sind diejenigen, die zusätzlich [–LEER] sind, fakultativ oder fehlen ganz . Bei denjenigen, die zusätzlich das Merkmal [+LEER] aufweisen , kommt es zu abweichenden Verwendungen. Hinzu kommen im Listenmodus weitere Zeichen mit dem Merkmal [+LEER]; neben dem Unterführungsstrich (s. o.) ist das der Punkt in der x-Länge zur Kategorienabgrenzung, vgl. etwa: , die im Textmodus nicht lizenziert sind. Damit wäre eine erste Relevanz des Merkmals Vertikalität herausgearbeitet, ohne dass noch klar wäre, wie Zeichen mit dem Merkmal [+VERT] sich funktional von denen unterscheiden, die das Merkmal [–VERT] aufweisen. –––––––—–– 17
In der (historischen) Schreibung per comma et cola (Parkes 1993, Maas 2000) ist das anders: Vor der Einführung der Interpunktion war die Schreibweise, in der die Zeilengrenze zugleich die Satzgrenze markiert, ein probates Mittel zur syntaktischen Strukturierung. Dieses Verfahren wird zeitweise auch von Schreibanfängern gewählt, die spezifische kommunikative Einheiten (die nicht immer mit dem syntaktischen Satz koinzidieren) mit einem Zeilenabbruch markieren (Maas 2000, Kress 1982).
34 Die folgenden Ausführungen sind fast ausschließlich auf den Textmodus bezogen. Für eine Gesamtrekonstruktion der Interpunktionszeichen müssten text- und listenmodale Interpunktionsverwendungen systematisch aufeinander bezogen werden, was im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden kann. Die Formulierungen von Interpunktionsregeln für Nutzer/innen könnten jedenfalls um vieles einfacher werden, wenn systematisch zwischen Text- und Listenmodus unterschieden würde. 3.1.2 Klitika und Filler Die Beobachtung, dass nur Zeichen der Klasse [+LEER] symmetrisch vorkommen und an jeder Zeilenposition auftreten können, Zeichen der Klasse [–LEER] asymmetrisch an eine links oder rechts von ihnen positionierte Einheit gebunden sind und deshalb bezüglich der Zeilenposition charakteristischen Beschränkungen unterliegen (vgl. Kap. II, 2.2), wird hier für eine basale Zweiteilung des Interpunktionsinventars genutzt: Zeichen der Klasse [+LEER] sind Filler; sie besetzen einen eigenen Slot in der Zeile und können unabhängig von der Umgebung verschoben werden. Zeichen der Klasse [–LEER] sind Klitika; sie lehnen sich an ein Stützzeichen an, stehen mit diesem im selben Slot und können nur mit diesem zusammen verschoben werden. Enklitisch verhalten sich z. B. der Punkt, das Komma, das Abführungszeichen und der Doppelpunkt. Proklitisch sind die öffnende Klammer und das Anführungszeichen. Das Konzept der Klitisierung wurde zuerst von Nunberg (1990) auf die Interpunktion angewendet. Er führt es ein, um zu erklären, warum spezifische Interpunktionszeichen nicht miteinander auftreten können, auch wenn ihr Erscheinen im Prinzip erwartbar ist: *. One way of explaining this regularity is by thinking of the standard punctuation marks as affixes, or better clitics, which attach either rightwards or leftwards to the neighboring word. The comma, for example, is a left-cliticizing mark [...]. [...] [W]e can think of the restriction on doubled points as a kind of constraint on word-formation, such that (with certain exceptions) a word can present only one point at a time. (Nunberg 1990: 58)
Sollte es richtig sein, dass eine Klitisierungsposition von genau einem Zeichen besetzt werden kann, so deutet die Möglichkeit der Folge mehrerer klitischer Interpunktionszeichen (z. B. , ) auf die Existenz verschiedener Klitisierungsschichten hin. Wie genau ein Modell solcher Klitisierungsschichten aussehen könnte, wird in Kapitel II, 3.7 herausgearbeitet.
3.2 Satzzeichenfolgen Die Folge von graphischen Elementen soll hier Konkatenation genannt werden. Konkatenation ist ein reines Oberflächenphänomen: Es beschreibt das linear geordnete Nacheinander von graphischen Elementen oder einfach Graphische Folgen (GF). Der Ausdruck Kombination ist demgegenüber funktional zu erfassen, als Operation, mittels derer konkatenierte
35 Einheiten zu größeren Einheiten zusammengefasst werden. Die Konkatenation von Buchstaben ist kombinatorisch, die Konkatenation von Interpunktionszeichen nicht. In den folgenden Ausführungen wird unterschieden zwischen unmittelbarer und mittelbarer Konkatenation der Interpunktionszeichen. Von unmittelbarer Konkatenation spreche ich dann, wenn Interpunktionszeichen ohne ein dazwischentretendes Spatium in Folge stehen. Das trifft etwa auf die Abfolge von Gedankenstrich und Komma oder auf die Abfolge von Punkt und Abführungszeichen zu. Bezüglich der unmittelbaren Konkatenierung gelten verschiedene Restriktionen wie etwa die in (1) formulierte: (1)
*GF o INT1 INT2 , INT1 {, ; :}, INT2 {„ “ ( )}
Exemplarisch für weitere Beschränkungen dieser Art besagt (1), dass weder finale Klammer/finales Anführungszeichen noch initiale Klammer/initiales Anführungszeichen unmittelbar nach dem Komma oder dem Semikolon stehen können, dass also die Abfolgen (2) (i) und (2) (ii) ungrammatisch sind: (2)
(i) (ii)
* * * * * * * *
Von mittelbarer Konkatenation wird dann gesprochen, wenn Interpunktionszeichen mit einer Spatiumsunterbrechung in Folge erscheinen. Die Abfolgen in (2) (i) werden grammatisch, wenn eine Leerstelle zwischen den Interpunktionszeichen steht (3) (i); sie sind mittelbar konkatenierbar. Die Abfolgen in (2) (ii) bleiben auch mit dem intervenierenden Leerraum ungrammatisch (3) (ii). Dieser Umstand kann im Übrigen bereits durch die Klitisierungseigenschaft von schließender Klammer und Abführungszeichen vorausgesagt werden und muss nicht in eine eigene Regel gefasst werden. (3)
(i) (ii)
* * * *
Bei der unmittelbaren Konkatenation wird weiter unterschieden zwischen kontextfreien und kontextsensitiven Konkatenationsverboten. Kontextfrei sind Konkatenationsverbote dann, wenn die entsprechende Satzzeichenkombination unabhängig vom Kontext ungrammatisch ist. Kontextsensitiv sind Konkatenationsverbote, wenn die entsprechende Kombination der Satzzeichen manchmal zugelassen ist, manchmal nicht. Am Beispiel der Kombination von Klammer und Komma lässt sich dieser Unterschied verdeutlichen: Das Konkatenationsverbot in (1) ist kontextfrei; die angegebenen Kombinationen – ausbuchstabiert in (2) – sind in keinem Kontext zulässig. Einem kontextsensitiven Konkatenationsverbot unterliegt die Abfolge . Sie ist in manchen Kontexten verboten (4) (i), in manchen erlaubt (4) (ii): (4)
(i) (ii)
*Xxxxx, (xxxxx), xxxxx Xxxxx, xxxxx (xxxxx), xxxxx
Bei den kontextfreien Konkatenationen werden drei Beschränkungsgrade unterschieden:
36 (5)
Grade für kontextfrei bestimmbare Konkatenationen: (i) Freie Konkatenation: Frei konkatenierbar sind alle Interpunktionszeichen, die reihenfolgeunabhängig konkatenieren ungrammatisch sind, sind – neben dem Ansatz von Nunberg (1990), dessen Argumentation weiter unten aufgegriffen wird – im Rahmen von Modellen, die das Auftreten von Interpunktionszeichen syntaktisch erklären (Offline-Annahme), zwei Lösungen möglich: 1. Ein zweistufiges Interpunktionsmodell, in dem zunächst alle konstruktionssensitiven Interpunktionsregeln angewendet werden und dann unerwünschte Linearisierungen an der Textoberfläche durch Tilgung rückgängig gemacht werden (Tilgungsmodell). 2. Ein einstufiges Interpunktionsmodell, in dem eine Regelhierarchie die Mehrfachapplikation von Regeln verhindert und in dem die gewünschte Oberflächenlinearisierung direkt aus der Regelanwendung folgt (Hierarchiemodell). Das Tilgungsmodell Die verschiedenen Modellvorstellungen sowie ihre Folgen für die Konzeptualisierung der Interpunktion werden in den wenigsten Konzeptionen reflektiert. Implizit wird jedoch meist das Tilgungsmodell zugrundegelegt. Baudusch (1981ff.) spricht in diesem Zusammenhang von „Absorption“ und „Kontraktion“, wobei Kontraktion die funktionale, Absorption die formale Eigenschaft desselben Phänomens beschreibt: Die Satzzeichen befolgen eine hierarchische Ordnung oder Rangfolge, bestehend aus mehreren Stufen, in der ein ranghöheres Satzzeichen ein ‚schwächeres‘, einer niedrigeren Stufe angehörendes Satzzeichen dominiert. Treten beide in gleicher Position auf, wird das schwächere Satzzeichen von dem stärkeren gleichsam absorbiert; die Funktionen der beiden Zeichen werden dabei zusammengezogen (kontrahiert). (Baudusch 1995: 58f.)
Die Idee der Absorption/Kontraktion von Zeichen beruht auf der für die Offline-Auffassung charakteristischen Annahme, dass bestimmte syntaktische Einheiten so oder so interpungiert werden. Bei Kontaktstellung mehrerer interpungierter Zeichenketten entstehen dann Konflikte. So wird etwa unter Rekurs auf ihre syntaktische Funktion angenommen, dass die lockere Apposition durch das paarige Komma separiert wird (Baudusch 1981ff., Gallmann 1996); im Text kann sie „eingeschoben“ (6) (i) oder „nachgestellt“ erscheinen (6) (ii) (Beispiele aus Baudusch 1995: 63): (6) (i) (ii)
Johannes Gutenberg, der Erfinder der Buchdruckerkunst, wurde in Mainz geboren. *Mainz ist die Geburtsstadt Johann [sic!] Gutenbergs, des Erfinders der Buchdruckerkunst,.
37 Fallen Ende der Trägerstruktur und Ende der lockeren Apposition zusammen, entsteht der beschriebene Konflikt. Der Wegfall des Kommas beim Aufeinandertreffen von Komma und Punkt wird sprachökonomisch begründet: „Der Punkt“, so Baudusch (1995: 63), „hat hier eine so starke Abgrenzungsfunktion, daß das schließende Komma an dieser Stelle durchaus entbehrlich ist.“18 Bereits 1984 plädiert Baudusch in diesem Zusammenhang für die Stärkehierarchie in (7): (7)
Punkt, Ausrufezeichen, Fragezeichen, Doppelpunkt > Semikolon > Komma
Gedankenstrich, Klammern und Anführungszeichen „entziehen sich der Kontraktion; sie können auch in Verbindung mit anderen Satzzeichen auftreten“ (Baudusch 1984 [31989]: 15).19 Über die Auslassungspunkte erfährt man bei Baudusch in diesem Zusammenhang nichts. Empirisch ist jedoch zu sehen, dass sie mit anderen Interpunktionszeichen konkatenieren, also nicht absorbiert werden (vgl. z. B. ); sie gehören zur absorptionsresistenten Gruppe.20 Dasselbe gilt für den Apostroph und den Divis; sie sind relativ konkatenationsfreudig und können nicht von anderen Zeichen „absorbiert“ werden. Die Konzeption der Absorption/Kontraktion sowie die daraus abgeleiteten Kategorien „stark“ und „schwach“ werden in der folgenden Argumentation nicht weiterverwendet. „Stärke“ und „Schwäche“ von Interpunktionszeichen werden – soweit ich sehe – im Rahmen von Absorptionsmodellen sowohl als Explanans wie auch als Explanandum für Absorptionsmechanismen erfasst: „Starke“ Interpunktionszeichen gelten als „stark“, weil sie andere Interpunktionszeichen absorbieren können; dass sie es können, wird auf ihre „Stärke“ zurückgeführt. Eine unabhängige Motivation der „Stärke“ von Satzzeichen kann m. E. erst auf der Grundlage einer Online-Charakterisierung der Interpunktion erfolgen. Als „stark“ im Sinn von Baudusch könnten dann diejenigen Interpunktionszeichen gelten, die eine Sprachtätigkeit steuern, die die Sprachtätigkeit, die das „schwächere“ Zeichen ausgibt, entweder enthält oder wirkungslos macht. Ich komme in Kapitel III, 3.3.2 auf diese Modellvorstellung zurück. Mit dem Konzept der Absorption/Kontraktion gibt es jedoch weitere Probleme: Ausgegangen wird (wie bereits angedeutet) implizit von zwei Interpunktionsschichten. Interpunktionsschicht 1 (I1) selegiert Interpunktionszeichen auf der Grundlage syntaktischer Eigenschaften von Konstruktionen (z. B. lockere Apposition, Relativsatz, Nebensatz etc.); Interpunktionsschicht 2 (I2) selegiert, welche der in I1 festgelegten Interpunktionszeichen in Abhängigkeit der Textpositionen dieser Konstruktionen relativ zur Gesamtkonstruktion erscheinen. Interpunktionsregeln hätten demnach folgendes Format:
–––––––—––
18 19
20
Mit Sprachökonomie argumentiert auch Maas (2000: 115). Für den Gedankenstrich trifft die von Baudusch behauptete Absorptionsresistenz nur bedingt zu: Trifft eine mit Gedankenstrich markierte Parenthese mit dem Ende der Trägerstruktur zusammen, entfällt der zweite Gedankenstrich. Dass dieser Fall von Baudusch nicht berücksichtigt wird, liegt daran, dass hier von nachgestellten Einheiten die Rede sein könnte, so dass das Auftreten eines zweiten Gedankenstrichs von Beginn an nicht angenommen wird. Zur Kombination von Auslassungspunkten und Punkt s. u.
38 syntaktische Eigenschaften einer Konstruktion ĺ I1 Textposition einer I1-interpungierten Einheit ĺ I2 In dieser Perspektive gibt es dann nicht nur Absorption von schwächeren durch stärkere, sondern auch Tilgung eines von zwei identischen Interpunktionszeichen. Ein Beispiel liefert das Aufeinandertreffen von lockerer Apposition und Relativsatz: (8)
[Keuner] [apposder Gärtner von Hindenburgappos] [relder erneut verspätet erschienrel], ...
Geht man davon aus, dass lockere Appositionen und Relativsätze mit dem sog. paarigen Komma eingeschlossen werden (exemplarisch Baudusch 1981, Gallmann 1996), ergäbe sich in I1 die folgende, ungrammatische Ausgangsstruktur: (9)
*Keuner, der Gärtner von Hindenburg , , der erneut verspätet erschien, ...
Diese in I1 generierte Ausgangsstruktur müsste auf I2 mit einer Tilgungsregel in eine grammatische Zielstruktur überführt werden: (10)
Keuner, der Gärtner von Hindenburg, der erneut verspätet erschien, ...
Eine solche Tilgungsregel könnte etwa ein Iterationsverbot sein: Wenn durch Anwendung von I1 auf verschiedene Konstruktionen21 zwei gleiche Interpunktionszeichen in Folge erscheinen, tilge eines dieser Zeichen in I2. Ein für die Tilgungshypothese problematischer Fall liegt dann aber mit dem Zusammentreffen von formal und funktional inkompatiblen Zeichen vor, also etwa mit dem Zusammentreffen von Auslassungspunkten und dem sog. Schlusspunkt. Bekanntermaßen wird der Schlusspunkt nach den Auslassungspunkten, nach dem Abkürzungspunkt sowie nach dem Ordinalzahlenpunkt nicht gesetzt. Nun kann in diesem Fall aber weder von „Stärke“/„Schwäche“ ausgegangen werden noch von Satzzeichenidentität. Die Regel, dass der Punkt nach Auslassungspunkten (nach dem Abkürzungspunkt, nach dem Ordinalzahlenpunkt) nicht erscheint, ist also weder funktional noch durch ein etwa anzunehmendes Reduplikationsverbot motiviert. Baudusch (1995) äußert sich zu diesen Fällen nicht. In Punkt, Punkt, Komma, Strich (Baudusch 1984 [31989]: 17) zählt sie die Auslassungspunkte zu den Schlusszeichen. In Zeichensetzung klipp & klar, eine Neuauflage von Punkt, Punkt, Komma, Strich aus dem Jahr 2000 schreibt sie: „Satzschlusszeichen grenzen ganze Sätze voneinander ab. Diese Funktion haben der Punkt, das Fragezeichen, das Ausrufezeichen und außerdem die Auslassungspunkte, wenn sie am Satzende stehen.“ (Ebd.: 17) Mit Abkürzungs- und Ordinalzahlpunkten wird wie im Duden (exemplarisch 211996) und in den AR 1996 verfahren, wo das Fehlen des Punktes an der genannten Position auf drei Paragraphen resp. Regeln verteilt ist (§ 100/R 19, § 103/R 1, § 105/R 112): –––––––—–– 21
Die Beschränkung, dass das mehrfache Erscheinen eines Interpunktionszeichens Resultat der Anwendung von Regeln aus I1 auf verschiedene Konstruktionen sein muss, würde es erlauben, iterierte Frage- und Ausrufezeichen zuzulassen, die ja Mehrfachanwendungen von I1 auf dieselbe Konstruktion sind.
39 § 100 Stehen die Auslassungspunkte am Ende eines Ganzsatzes, so setzt man keinen Satzschlusspunkt. R 19 Stehen Auslassungspunkte am Satzende, dann entfällt der Schlusspunkt [...]. (z. B. Ich würde dir sagen, wenn ... Aber dich interessiert es ja nicht. *Ich würde dir sagen, wenn ... . Aber dich interessiert es ja nicht.) § 103 Am Ende eines Ganzsatzes setzt man nach Abkürzungen nur einen Punkt. R1 Steht eine Abkürzung mit Punkt am Satzende, dann ist der Abkürzungspunkt zugleich Schlusspunkt des Satzes [...]. (z. B. Wir mußten putzen, bügeln, kochen etc. *Wir mußten putzen, bügeln, kochen etc..) § 105 Am Ende eines Ganzsatzes setzt man nach Ordinalzahlen, die in Ziffern geschrieben sind, nur einen Punkt. R 112 Steht eine Ordnungszahl am Satzende, so wird kein zusätzlicher Satzschlusspunkt gesetzt. (z. B. Er kommt am 12. *Er kommt am 12..) Die schwankenden Formulierungen (sowohl in den AR als auch im Duden 211996: ‚entfällt der Schlusspunkt‘, ‚ist zugleich Schlusspunkt‘, ‚setzt man nur einen Punkt‘, ‚setzt man keinen Schlusspunkt‘ ...) lassen erkennen, dass den beschriebenen Fakten kein einheitliches Konzept zugrundeliegt.22 Es wird sich später zeigen, dass bei angemessener Rekonstruktion des Interpunktionssystems eine Regel und ein Constraint zur Erfassung dieser Fälle genügen. Das Hierarchiemodell Das Modell einer sukzessiven Regelanwendung könnte es ermöglichen, nicht erlaubte Folgen wie oder bereits vor ihrem Erscheinen zu unterdrücken. In einer solchen Konzeption würden die Regeln des Setzens von Interpunktionszeichen in eine Anwendungsabfolge gebracht werden, so dass die Anwendung einer Regel die Anwendung einer hierarchisch tiefer liegenden blockiert. Regeltypen dieses Formats könnten zum Beispiel wie bei Wiese (1989: 331) aussehen: Regel (1)
Füge im Kontext ___ ]S ein, wenn S Wurzel des syntaktischen Baumes ist und das Merkmal [+Interrogativ] trägt.
Eine Regel (2), die Relativsätze mit dem paarigen Komma begrenzt, hätte im vorgegebenen Regelformat möglicherweise den folgenden Zuschnitt: Regel (2)
(a) Füge im Kontext [ ____ RS ein, wenn RS ein syntaktischer Knoten ist und das Merkmal [+Relativsatz] trägt.
–––––––—–– 22
Zu einer weiterführenden Kritik an den Dudenregeln, die Absorption des Punktes betreffend, vgl. Ehlich (2003).
40 (b) Füge im Kontext ____ ]RS ein, wenn RS ein syntaktischer Knoten ist und das Merkmal [+Relativsatz] trägt. Weitere Regeln müssten nun ausschließen, dass Regel (2b), die dafür sorgt, dass das schließende Komma eines Relativsatzes erscheint, appliziert, wenn R(1) angewendet werden kann. Das könnte so aussehen, dass zunächst eine Metaregel die Mehrfachanwendung von (bestimmten) Interpunktionsregeln an derselben Position verbietet (R3); eine weitere Regel müsste die Anwendungshierarchie festlegen (R4): Regel (3)
Die Anwendung der Regeln für Fragezeichen und Komma an derselben Position schließen sich aus.
Regel (4)
R(1) > R(2b)
Modell (2) hat den Vorteil, dass die Interpunktion nicht auf verschiedenen Ebenen (Syntax und Textposition) angesetzt werden muss, sondern dass einheitliche Regelformate angenommen werden können. Mit einer Erweiterung des Regelapparats könnten eventuell auch diejenigen Fälle beschrieben werden, die durch „Stärke“ nicht erfasst werden können (gemeinsames Erscheinen identischer Zeichen). Das Hierarchiemodell teilt sich jedoch mit dem Tilgungsmodell das für die Offline-Annahmen charakteristische Problem: Es muss die sprachlichen Einheiten definieren, auf denen die Interpunktionszeichen operieren. Auf diesem Hintergrund müsste ein ganz eigener Regeltyp angenommen werden, der auch mit dem Komma separierte Aussagesätze wie in (11) erfasst: (11)
Er kam, er sah, er siegte.
R (5) Füge im Kontext ___ ]S ein, wenn S Wurzel des syntaktischen Baumes ist und das Merkmal [+Deklarativ] trägt. R (6) Füge im Kontext ___ ]S1 ein, wenn S1 Wurzel des syntaktischen Baumes ist und das Merkmal [+Deklarativ] trägt und wenn eine S1 analoge Einheit ___ ]S2 folgt, so dass S1 und S2 von einem Satzknoten dominiert werden. R (7)
R (6) > R (5)
Ob nun allerdings ein gemeinsamer Satzknoten angenommen werden soll, der S1 und S2 dominiert, kann nicht durch die Eigenschaften der Konstruktion vorausgesagt werden; der gemeinsame Satzknoten wird durch die Interpunktion konstruiert. Als eine große Schwäche des vorliegenden Ansatzes erweist sich somit die konstruktionsorientierte Perspektive, die voraussetzen muss, was erklärt werden soll. Das Positionsmodell Einen ganz anderen Zugang zu den beschriebenen Phänomenen erhält man unter Einbezug schriftgrammatischer Regularitäten. Meines Wissens ist der einzige, der diese Richtung ansatzweise verfolgt, Nunberg (1990).
41 Nunberg nimmt die Wirksamkeit von „point absorption rules“ an, die nach der Applikation von „presentation rules“ für das Erscheinen regulärer graphischer Folgen sorgen. Danach weisen – ähnlich wie bei Baudusch – die „presentation rules“ der lexikalischen/textuellen Konstruktion ein spezifisches Interpunktionszeichen zu. Die „point absorption rules“ applizieren jedoch nicht nachträglich auf den durch die „presentation rules“ erzeugten Interpunktionsketten. Vielmehr wird – und damit ähnelt das Konzept einem Hierarchiemodell – das gleichzeitige Erscheinen nichtkompatibler Interpunktionszeichen durch einen eigenen Regeltyp ausgeschlossen. Relevanter Parameter dieses Regeltyps ist die Klitisierungseigenschaft der Interpunktionszeichen. Nunberg nimmt an, dass die klitische Position nach einer Buchstabenfolge nur Raum für ein Segment bietet. Ist ein klitischer Slot bereits gefüllt, kann kein weiteres Interpunktionszeichen stehen. Da diese Regel jedoch selbst keine Selektionskriterien zur Verfügung stellt, die festlegen, welches Zeichen „überlebt“, macht Nunberg (1990: 59) eine zusätzliche Annahme: „That is, we assume that presentation of cliticized indicators is subject to a fixed presentation hierarchy, with the comma at the bottom of the heap.“ Die weitere hierarchische Anordnung ist dem Hierarchiemodell von Baudusch (s. o.) vergleichbar. Mit diesen Regeln kann Nunberg die graphischen Folgen *, * oder * ausschließen sowie (freilich via Stipulation) voraussagen, dass bei einem (durch die „presentation rules“ verursachten) Zusammentreffen von Punkt und Komma der Punkt überlebt. Zur Explikation der Beobachtung, dass auch Klammer und Komma sich in spezifischen Kontexten ausschließen, geht er von „bracket absorption rules“ aus, die intervenieren, wenn das paarige Komma und die Klammer die gleiche Einheit begrenzen.23 Nicht geklärt ist das kombinierte Auftreten von Frage- und Ausrufezeichen . Nunberg erfasst Frage- und Ausrufezeichen als „tone-indicators“; sie gehören nicht in die Gruppe der „points“ und unterliegen somit nicht den „point absorption rules“. Wenn aber die „point absorption rule“ nicht auf Frage- und Ausrufezeichen angewendet wird, dann wird das Nichterscheinen von erklärungsbedürftig. Nunberg führt einen „graphical constraint“ ein, der sich auf formale Merkmale von Interpunktionszeichen bezieht. Dieser „graphical constraint“ ist bei Nunberg nicht weiter spezifiziert. Auf der Grundlage der vorliegenden graphetischen Analyse kann das, was Nunberg meint, jedoch recht einfach angegeben werden: Graphetische Sonderbedingung: Jedes Zeichen, bei dem ein Punkt auf der Grundlinie erscheint (reine Oberflächenform), gilt bei nachfolgender satzinitialer Majuskel als Schlusspunkt.24 Mit dieser Explikation kann auch ein weiterer Datenbereich einheitlich erfasst werden, für den sowohl im Hierarchie- als auch im Tilgungsmodell je vereinzelt eigene Regeln angege–––––––—–– 23
24
Die „bracket absorption rules“ regeln auch das Auftreten von Anführungszeichen mit dem Komma, deren Interaktion im Englischen anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Die Redeweise vom „Schlusspunkt“, die eine funktionale Bestimmung einschließt, ist äußerst unbefriedigend. Zum jetzigen Zeitpunkt der Diskussion steht jedoch noch kein besserer Begriff zur Verfügung. In Kapitel II, 3.7 wird der Schlusspunkt schriftgrammatisch, in Kapitel III, 3.3.3 funktional bestimmt.
42 ben werden müssen und werden: das Nicht-Erscheinen des Schlusspunktes nach Abkürzungs- und Ordinalzahlenpunkt sowie nach den Auslassungspunkten (s. o.). (12)
Die Interaktion der Zeichen mit Grundlinienpunkt
Jedoch ist der Graphetischen Sonderbedingung in ihrer vorliegenden Formulierung nicht zu entnehmen, warum z. B. beim Zusammentreffen von punkthaltigen Zeichen und dem Punkt nicht der Punkt, sondern das jeweils andere Zeichen überlebt, oder – nach R 19 (Duden 21 1996, s. o.) – warum ausgerechnet „der Schlusspunkt entfällt“. Leichter als zu sagen, wann der Schlusspunkt „entfällt“, ist anzugeben, wann er steht. Er erscheint, wenn (a) und (b) gelten: (a) Es folgt eine satzinitiale Majuskel. (b) Es steht kein anderes Zeichen mit Grundlinienpunkt. Der Schlusspunkt steht also nur dann, wenn eine satzinitiale Majuskel identifiziert werden muss, die nicht bereits mit einem anderen Zeichen mit Grundlinienpunkt identifiziert ist. Erforderlich ist die Identifikation der satzinitialen Majuskel deshalb, weil sie bezüglich ihrer graphischen Form nicht von der satzinternen Majuskel zu unterscheiden ist. Und dieses Problem der Nichtunterscheidbarkeit von satzinitialer und satzinterner Majuskel wird graphotaktisch gelöst. Ein punkthaltiges Zeichen vor der Majuskel indiziert den Majuskeltyp. Steht ein punkthaltiges Zeichen, handelt es sich um eine satzinitiale Majuskel. Fehlt das punkthaltige Zeichen, handelt es sich um eine satzinterne Majuskel. Angewendet wird demnach die Regel DIFFMAJ: DIFFMAJ: Die satzinitiale Majuskel ist graphisch markiert. Für die Verwendung des Schlusspunktes gilt dann nur noch ein (verletzbarer) Constraint, der eine quantitative Bestimmung enthält (QUANT): QUANT: Es steht kein Schlusspunkt. Die Anwendung von Regel (DIFFMAJ) und Constraint (QUANT) sorgt dafür, dass der Punkt nur dort und immer dort steht, wo eine satzinitiale Majuskel nicht mit anderen Mitteln identifiziert ist. In einem für Constraints offenen optimalitätstheoretischen Format stellt sich die Interaktion der Zeichen mit Grundlinienpunkt wie folgt dar:
43 (13)
Die Interaktion der Zeichen mit Grundlinienpunkt – optimalitätstheoretisch DIFFMAJ 2.. )2. etc.. )etc. !. )! .? )? ..
QUANT !* !* !* !* !*
*! ). ... . )...
* !*
Das Positionsmodell hat gegenüber dem Tilgungs- und dem Hierarchiemodell entscheidende Vorteile. Der wichtigste ist, dass es ohne systemfremde Struktureinheiten auskommt. Im Positionsmodell werden mögliche und nicht mögliche Satzzeichenfolgen als Resultat schriftgrammatischer und nicht sprachgrammatischer Gesetzmäßigkeiten erfasst. Ich werde diese Modellvorstellung im Folgenden aufnehmen. Nach einer schriftgrammatischen Rekonstruktion des Schriftwortes (Kap. II, 3.3), das als Basiseinheit der Schriftgrammatik gelten kann, wird es darum gehen zu bestimmen, wie die nichtklitisierenden und die klitisierenden Interpunktionszeichen mit dem Schriftwort resp. mit größeren Einheiten der Schriftgrammatik interagieren (Kap. II, 3.6. u. 3.7).
3.3 Die Basisstruktur des Schriftwortes Eine entscheidende schriftgrammatische Beobachtung bezieht sich auf die Distribution von Majuskeln und Minuskeln in Wörtern. Dazu schreiben Zifonun et al. (1997: 262): (a) Der Anfangsbuchstabe ist eine Majuskel oder eine Minuskel. (b) Nach einer Majuskel sind alle folgenden Buchstaben entweder Majuskeln oder Minuskeln. (c) Nach einer Minuskel folgt keine Majuskel.
Eine mögliche graphotaktische Regel, die den Fall der initialen Majuskel mit folgenden Minuskeln beschreibt (b), könnte mit (1) gegeben sein. (1)
Min o Maj / #___
Das vorgeschlagene Regelformat ist alles andere als trivial. Vorausgesetzt wird mit (1), dass die Minuskeln das Grundinventar der Buchstaben bilden und dass die Majuskeln durch
44 Überschreiben von Elementen des Grundinventars zustande kommen. In einem solchen Konzept wären die Großbuchstaben der markierte Fall; sie kämen durch „Überlagerung“ von Kleinbuchstaben zustande (Gallmann 1985, 1989, Günther 1988). Das Buchstabeninventar wäre auf dieser Grundlage wie unter (2) zu definieren (bu = Buchstabe): (2)
Definition A: Majuskel/Minuskel markiert bu {a, b, c ...} = Min; buüberl {A, B, C ...} = Maj
Alternativ könnte angenommen werden, dass das Grundinventar aus Majuskeln und aus Minuskeln besteht. Majuskel und Minuskel wären dann zwei Einheiten eines Paradigmas. Bei einer privativen Merkmaldefinition wären dann die Merkmale Majuskel und Minuskel einschlägig. Majuskel und Minuskel wären bezüglich ihres Markiertheitsverhältnisses zwar möglicherweise (ähnlich wie Singular und Plural) unterschieden; es würde aber im Gegensatz zu Definition A kein Ableitungsverhältnis angenommen werden. Zum Inventar würden alle Buchstaben eines Schriftsystems gehören. (3)
Definition B: Majuskel/Minuskel privativ buP {a, b, c, A, B, C}, mit a, b, c = Minuskel und A, B, C = Majuskel
Das Regelformat zur Darstellung der Majuskelschreibung am Wortanfangsrand hätte dann den folgenden Zuschnitt: (4)
bu o Maj / # ___
Bei einer binären Merkmaldefinition sind Einheiten bezüglich eines Merkmals positiv oder negativ spezifiziert. Das hier interessierende Merkmal soll [groß] heißen. Trägt ein Buchstabe das Merkmal [+groß], ist es eine Majuskel, trägt er das Merkmal [–groß], ist es eine Minuskel. (5)
Definition C: Majuskel/Minuskel binär buP {bu}, bu[–groß]; bu[+groß]
Aus der binären Merkmalzuweisung folgt als Regelformat für die Erfassung der Großschreibung am Wortanfang (6): (6)
bu o bu[+groß] / # ____
Eine letzte Möglichkeit stellt die Annahme der Unterspezifikation dar. Das Grundinventar bestünde dann aus bezüglich Groß- und Kleinschreibung unterspezifizierten Buchstaben (bu). Das Merkmal [groß] kann an- oder abwesend sein. Ist es anwesend, liegt eine Majuskel vor, ist es abwesend, handelt es sich um eine Minuskel. (7)
Definition D: Majuskel/Minuskel – Unterspezifikation buP {bu}, bu[groß] = buMin, bu[groß] = buMaj
Daraus resultiert das folgende Regelformat für die Großschreibung am Wortanfang:
45 (8)
bu o buMaj / # ____
Für die weitere Argumentation wird zunächst die vierte Position vertreten, nach der Majuskel/Minuskel durch An-/Abwesenheit eines Merkmals definiert sind. Dieses Merkmal wird [groß] genannt. Die Einheit, auf die es angewendet wird, ist ein bezüglich dieses Merkmals unterspezifizierter Buchstabe (bu). Im weiteren Verlauf wird sich zeigen, dass für eine vollständige Beschreibung auch die anderen Buchstabendefinitionen einbezogen werden müssen. Zunächst aber unabhängig davon, ob Definition A, B, C oder D der Vorzug gegeben wird, lassen sich für die Regularität, dass die segmentale Majuskel nur auf dem Anfangsbuchstaben einer Buchstabenfolge operiert, zwei zentrale Anwendungsbereiche angeben: die kategorienkonstituierende Großschreibung (sog. Substantivgroßschreibung, Großschreibung von Anredepronomina) und die satzkonstituierende Großschreibung (satzinitiale Großschreibung). Der entscheidende Unterschied ist, dass die kategorienkonstituierende Großschreibung die Eigenschaft des Wortes, auf dem sie operiert, spezifiziert, während die satzkonstituierende Großschreibung keine Aussagen über das großgeschriebene Wort macht. Mit den bisherigen Mitteln kann diese Differenz nicht ausgedrückt werden. Es wird daher hier der Vorschlag gemacht, die Substantivgroßschreibung und die satzinitiale Großschreibung schriftgrammatisch unterschiedlich zu erfassen. Ich möchte zunächst vorschlagen, für die Majuskel eine verzweigende Position anzunehmen; analog zur Konzeption des schweren Silbenreims drückt diese Modellierung einen schweren, d. h. optisch salienten Wortanfangsrand aus. Das Konzept der Verzweigung ist aus der autosegmentalen Phonologie bekannt, in der angenommen wird, dass die silbischen Konstituenten (Onset, Nukleus, Koda) durch Verzweigung Positionen bereitstellen, die mit Segmenten oder Merkmalen assoziiert sind. Bei einer Übertragung dieser Modellvorstellung auf das geschriebene Wort müssen zunächst Konstituenten definiert werden. Eine dieser Konstituenten soll BU (für Buchstabe) genannt werden; BU ist in der Regel ein hinsichtlich Majuskel/Minuskel unterspezifizierter Buchstabe (s. o.). Angenommen wird nun, dass das Merkmal [groß] durch Verzweigung realisiert wird. (9) groß geschriebenes Wort (vorläufig)
(10) klein geschriebenes Wort (vorläufig)
BU* BU [groß]
b bMaj
< A
BU BU
BU
BU
b
b
b
bMin
bMin
bMin
s
t
>
< a
BU
BU
b
b
bMin
bMin
l
s
>
46 Um sicherzustellen, dass die Majuskelverzweigung den ersten Buchstaben eines Wortes erfasst, muss eine weitere Beschreibungsebene angesetzt werden: Der erste Buchstabe eines Wortes ist dadurch definiert, dass links von ihm ein nicht mit einem Buchstaben gefüllter Slot steht; entsprechend ist der letzte Buchstabe dadurch definiert, dass rechts von ihm ein nicht mit einem Buchstaben gefüllter Slot steht. (11)
Filler und Slots
BU
BU
BU
Stehen links und rechts von einer Buchstabenkette leere Slots, handelt es sich bei der entsprechenden Buchstabenfolge um ein Schriftwort (SW). Dieser Terminus wird hier gewählt, um den kategorialen Unterschied zwischen lexikalisch/syntaktisch definierten Wortbegriffen und dem schriftgrammatisch definierten Wort kenntlich zu machen. Das Schriftwort ist eine Folge von Buchstaben, deren linker und rechter Nachbar jeweils ein leerer Slot ist. Um die aufgezeigten Relationen ausdrücken zu können, sollen – analog zu den angenommenen Bauprinzipien der Silbe – die Positionen Anfangsrand, Nukleus und Endrand angesetzt werden. Das am weitesten links stehende Paar von Slot und Filler definiert den Anfangsrand, das am weitesten rechts stehende Paar definiert den Endrand des Schriftwortes. Wegen besserer Anschaulichkeit werde ich von der ikonischen Abbildung von Slot und Filler wie in (11) abstrahieren und das Schriftwort wie in (12) darstellen: (12)
Baumuster des Schriftworts (vorläufig) SW AR
MB
ER
BU1
BU*
BUn
AR, ER und (vorläufig) N sind Positionskategorien. Positionskategorien sind definiert als mit Fillern besetzte graphische Räume, die distributionell durch je verschiedene linke und rechte Nachbarn unterschieden sind. Der Anfangsrand ist durch den ersten Buchstaben eines Wortes definiert, links von AR befindet sich ein leerer Slot. Der Endrand ist entsprechend über den letzten Buchstaben eines Schriftwortes definiert. Rechts von ER befindet sich ein leerer Slot. Positionskategorien werden im Folgenden durch Kursive kenntlich gemacht (AR, ER ...). Angesetzt werden Positionskategorien nur dann, wenn schriftgrammatische Einheiten durch An-/Abwesenheit graphischer Mittel definiert sind. So haben z. B. das Schriftwort oder der Text einen Anfangs- und einen Endrand im definierten Sinn, nicht aber der Satz, dessen Grenzen mit segmentalen Mitteln der Schrift (Großschreibung und Punkt) spezifiziert werden.
47 Anfangs- und Endrand eines Schriftworts sind obligatorisch mit einem Buchstaben belegt. Das Erfordernis ihrer obligatorischen Belegung ergibt sich aus der Empirie: Es gibt im Deutschen kein Schriftwort, das aus nur einem Buchstaben besteht. Der hier noch so bezeichnete Nukleus kann also unbesetzt (13) (i) oder mit einer Buchstabenfolge (Einerfolgen eingeschlossen) (13) (ii) besetzt sein: (13)
(i) (ii)
o [SW[AR[d] ER[u]]] o [SW[AR[i] ER[n]]] o [SW[AR[w]N[i]ER[r]]] o [SW[AR[G] N[änsebrate] ER[n]]]
Angesichts der Möglichkeit, dass der Nukleus leer sein kann, ist diese (lediglich aus Analogiegründen zu bekannten linguistischen Objekten gewählte) Redeweise nicht besonders genau. Die hier noch vorläufig gewählte Kategorie des Nukleus soll abgelöst werden durch den Ausdruck Mittelbereich (MB). Terminologisch ist damit lediglich die Region zwischen Anfangs- und Endrand beschrieben. (14)
Konstituentenstruktur des Schriftworts SW AR
MB
ER
BU* BU
BU BU
BU
BU
Eine Konstituente BU ist mit einem Buchstabenwert b belegt, der bezüglich Maj/Min unterspezifiziert ist. (15)
Konstituentenstruktur des Schriftwortes (erweitert): SW AR
MB
ER
BU
BU*
BU
b1
b2 … bn-1
bn
Die Maj/Min-Differenzierung wird – wie oben beschrieben – entsprechend über Verzweigung dargestellt. Eine Spezifizierung der Verzweigung sowie eine schriftgrammatisch fundierte Unterscheidung zwischen satzinterner und satzinitaler Großschreibung kann nun auf der Grundlage der relevanten schriftgrammatischen Eigenschaften der Interpunktions-
48 zeichen erfolgen, für die nicht der Anfangsrand, sondern der Endrand von Schriftwörtern eine herausragende Rolle spielt: In Kapitel II, 3.1.2 wurden die Interpunktionszeichen der Klasse [–LEER] als Klitika beschrieben. Übertragen auf die hier vorgeschlagene Struktur des Schriftworts kann die Klitisierung von Interpunktionszeichen nun durch die Annahme einer Endrandverzweigung präzisiert werden (die perforierte Linie zeigt den Klitisierungsstatus an; KLIT = Klitisierungsposition): (16)
Der Punkt; am Beispiel von < ... fort.> SW AR
MB
ER
BU
BU*
BU
KLIT INTKLIT b1
b1Min
Auf die Symmetrie von satzinitialer Großschreibung und Punktsetzung ist nicht nur einmal hingewiesen worden (exemplarisch Mentrup 1983, Gallmann 1985, Baudusch 2000, Maas 2000). Bisweilen wird die Kategorie Satz genau auf der Basis dieser Symmetrie expliziert. So schreiben Glinz & Glinz (1978: 105): „Als Satz bezeichnet man das Textstück, das mit Großbuchstaben anfängt und das durch Punkt, Ausrufezeichen oder Fragezeichen abgeschlossen ist.“ (Vgl. hierzu auch Kap. III, 3.3.) Die regelhafte Interaktion zwischen Satzschlusszeichen und satzinterner Majuskel veranlasst Stetter (1989: 304) vorzuschlagen, „daß das System ‚Satzmajuskel – Satzschlußzeichen‘ als ein Graphem anzusehen ist, dessen geregelte Anwendung über die implizierten Wohlgeformtheitsbedingungen der logischen Linearisierung des Textes dient“ (Hervorhebung von mir, U. B.). Folgt man diesen Überlegungen, so ist es plausibel, die satzinitiale Großschreibung auch schriftgrammatisch symmetrisch zur Punktsetzung zu konzeptualisieren. Im Rahmen des vorgeschlagenen Modells wird hier – parallel zum verzweigenden Endrand – für die satzinitiale Großschreibung von einem verzweigenden Anfangsrand ausgegangen:
49 (17)
satzinitiale Großschreibung (vorläufig) SW AR
MB
ER
BU
BU*
BU
KLIT [groß]
INTKLIT b1
b1Min
Beschrieben ist mit [groß] hier ein schriftgrammatisches Merkmal, das im Fall der satzinitialen Großschreibung zwar graphisch auf dem ersten Buchstaben eines geschriebenen Wortes umgesetzt wird, das aber keine Auskunft über die syntaktischen oder lexikalischen Eigenschaften des so markierten Worts gibt, sondern – vorläufig gesprochen – eine größere Konstituente nach links begrenzt. Das Merkmal ist demnach lediglich an einem empirischen Buchstaben „befestigt“; die perforierte Linie macht dies deutlich. Die satzinterne Großschreibung ist gegenüber der satzinitialen relevant für die Identifikation des markierten Ausdrucks selbst: Die satzinterne Anfangsmajuskel ist insofern als selbstreferenziell zu bezeichnen, da sie spezifische Eigenschaften des Ausdrucks festlegt, auf dem sie operiert. Je nach theoretischer Orientierung indiziert sie eine Wortkategorie (Substantiv; vgl. hierzu traditionelle Grammatiken, z. B. Duden Grammatik 51995) oder eine Konstituentenkategorie (Kern einer Nominalgruppe).25 Unabhängig von der funktionalen Explikation der satzinternen Großschreibung wird in der vorliegenden Modellierung der Skopusunterschied zwischen satzinitialer und satzinterner Großschreibung durch den Ort der Verzweigung ausgedrückt. Die satzinterne Anfangsmajuskel wird wie folgt erfasst:
–––––––—–– 25
Vgl. hierzu Eisenberg (1981), Maas (2000) sowie Gallmann (1997a) zum Begriff der Nominalität; zu didaktischen Gesichtspunkten vgl. Röber-Siekmeyer (1999), Nünke & Wilhelmus (2002), Günther & Nünke (2005); zur historischen Entwicklung der Groß-/Kleinschreibung Bergmann & Nerius (1997). Zur Psychologie der Großschreibung vgl. Bock, Hagenschneider & Schweer (1989) und Gfoerer, Günther & Bock (1989).
50 (18)
satzinterne Großschreibung SW AR
MB
ER
BU
BU*
BU
b2 … bn-1
bn
[groß]
b1
b1Min
Im Gegensatz zur satzinitialen Majuskel, die auf einer Positionskategorie operiert, wird also davon ausgegangen, dass die satzinterne Majuskel auf einer Konstituentenkategorie operiert und damit auch Aussagen über den Knoten macht, den die verzweigende Konstituente unmittelbar dominiert (SW). Der hier entwickelte Unterschied zwischen satzinterner und satzinitialer Großschreibung soll im Folgenden als Unterschied zwischen Positionsverzweigung und Konstituentenverzweigung weiterbearbeitet werden. Unter Positionsverzweigung werden die Verzweigungen gefasst, die am Anfangs- oder Endrand einer graphischen Einheit Positionen für klitische Einheiten oder graphetische Merkmale öffnen. Segmente, die an der Positionsverzweigung partizipieren, sagen nicht etwas über den konkreten Ausdruck aus, an den die Klitisierung erfolgt, sondern definieren (noch genauer zu bestimmende) höhere Konstituenten. Man kann sagen, dass die Zeichen/Merkmale, die an der Positionsverzweigung partizipieren, lediglich den Slot mit einem Buchstaben teilen, aber nichts über ihn bzw. die Einheit, dessen Teil er ist, aussagen. Unter Konstituentenverzweigung werden die Verzweigungen gefasst, die auf Konstituentenebene operieren. Das Zeichen/Merkmal, das an der Konstituentenverzweigung partizipiert, macht Aussagen über den Ausdruck, dessen Bestandteil der entsprechende Buchstabe ist. Die satzinitiale Großschreibung stellt demnach eine Markierung dar, die, wie angesprochen, auf dem Anfangselement eines Schriftwortes lediglich befestigt wird. Treffen satzinitiale und satzinterne Majuskel aufeinander, dann trifft die satzinitiale Majuskel auf ein Element, das das graphetische Merkmal, das sie vergibt, bereits aufweist. Übertragen auf die Redeweise der traditionellen Interpunktionstheorie könnte für diesen Fall davon gesprochen werden, dass die satzinterne Majuskel die satzinitiale „absorbiert“ (s. o.):
51 (19)
Das Zusammentreffen von satzinterner und satzinitialer Majuskel SW AR
MB
ER
BU
BU*
BU
b2 … bn-1
bn
[groß] [groß]
b1
b1Min
Für die verschiedenen Majuskelfunktionen (satzintern und satzinitial) kann auf dem Hintergrund der vorliegenden Analysen nun von einer P-Majuskel und einer K-Majuskel gesprochen werden. P-Majuskeln sind Resultate einer Positionsverzweigung, K-Majuskeln sind Resultate einer Konstituentenverzweigung. Die durchgängige Großschreibung – Reinterpretation der Kategorie Buchstabe Als Sonderform der Großschreibung gilt üblicherweise die durchgängige Großschreibung, die als mehrsegmentale Überlagerung beschrieben werden kann und die hier als Resultat einer Segmentverzweigung interpretiert wird; die Majuskel wird entsprechend S-Majuskel genannt: (20)
Mehrsegmentale Überlagerung – Segmentverzweigung SW AR
MB
ER
BU
BU*
BU
b1
b2
b3
bMin Majuskel
Bei Segmentverzweigung wird keine syntaktische Eigenschaft eines Ausdrucks spezifiziert, dessen Element der überlagerte Buchstabe ist. Wohl aber nimmt die durchgängige Groß-
52 schreibung auf Eigenschaften des von ihr gekennzeichneten Ausdrucks Bezug: Der Verfasser fokussiert den Leser mittels durchgängiger Großschreibung auf einen Ausdruck, der im Verstehensprozess in besonderer Weise berücksichtigt werden muss (auf eine weitere Klärung der sog. Hervorhebungsfunktion kommt es hier nicht an). Bei einem Vergleich zwischen K-Majuskel einerseits und P- und S-Majuskel andererseits ist nun zu sehen, dass bereits von Beginn an von verschiedenen Majuskelbegriffen die Rede war. Zwischen verschiedenen Majuskelbegriffen zu unterscheiden, ist nicht ungewöhnlich: Günther (1988: 67) spricht auf graphetischer Ebene von Majuskeln als „Überlagerung der Grundformen“, auf graphemischer Ebene von Allographen: „Jedes deutsche Graphem hat zwei Allographen, nämlich die Minuskel (der unmarkierte Fall [...]) und die Majuskel.“ (Günther 1988: 86) In Bezug auf die Grapheme wird zwar weiter von Markiertheit/NichtMarkiertheit ausgegangen, nicht mehr aber wird – wie noch bei den Buchstaben – von einem Ableitungsverhältnis gesprochen. Mit Coltheart (1981) nimmt Günther (1988: 169) eine weitere „abstrakte[n] Buchstabenebene“ an: sog. „abstract letter identities“ (ALIs). ALIs sind Buchstabenrepräsentationen, bei denen von dem Merkmal Groß- und Kleinschreibung abstrahiert ist. Bei der Diskussion darüber, welchem linguistischen Konzept ALIs entsprechen, plädiert Günther (1988: 157) dafür, „die Buchstabenebene als Ebene der ALIs“ zu interpretieren, nimmt also ALI und Wort als die entscheidenden zwei Ebenen beim Worterkennungsprozess an. Eine Korrespondenz mit der Graphemebene scheidet dem Autor zufolge aus; man werde „wohl kaum eine ALI-Einheit sch im Deutschen annehmen wollen“ (ebd.: 156). Eine Schwierigkeit mit mehrgraphischen Elementen entsteht jedoch nicht nur bei der Definition der ALIs, sondern auch bei der Definition der Grapheme: Nach der gegebenen Bestimmung, jedes Graphem habe zwei Allographen, Minuskel und Majuskel, müssten * oder * reguläre graphische Ketten repräsentieren. Ein weiteres Problem stellt das Graphem dar, das nicht über eine Majuskel verfügt. Ich möchte auf dem Hintergrund der bis hierher ausgearbeiteten Struktur des Schriftworts sowie auf der Basis der gegebenen Buchstabendefinitionen den folgenden Vorschlag zur Diskussion stellen: Zwischen Buchstabe und Buchstabenform besteht derselbe Unterschied wie zwischen (lexikalischem) Wort und Wortform: Der Buchstabe bP ist eine Paradigmenkategorie, die bezüglich Majuskel/Minuskel nicht spezifiziert ist; diesem Konzept korrespondieren die ALIs. Als Bedeutung kann zunächst ihre phonographische Explikation angegeben werden, solange klar ist, dass hier nicht Abbild-, sondern Korrespondenzrelationen vorliegen. Das einzige einelementige Paradigma wäre dann P mit der Einheit ; bMin wäre Paradigmenkategorie (vgl. aber unten). Defektive Paradigmen sind funktional motiviert: Im Fall von liegt die funktionale Motiviertheit in einer Positionsbeschränkung. Weil kein Wort im Deutschen mit beginnt, kann es von dem Merkmal [groß] nicht erfasst werden. bMaj ist daher nicht vorgesehen. Bei den restlichen Buchstaben unterscheiden sich die Formen bMin und bMaj bezüglich des Merkmals [groß]. Eine Minuskel ist nach dieser Definition also bereits auf Buchstabenebene keine „Grundform“, sondern eine abgeleitete Form, also ein b, dem das Merkmal [groß] fehlt. Buchstabenformen mit dem Merkmal [groß] sind bMaj. Abgebildet wird dieses Merkmal in der vorliegenden Konzeption durch Konstituentenverzweigung (s. o.).
53 Beide, bMin und bMaj, können mit weiteren Mitteln der Schrift (z. B. Kursive, Kapitälchen etc.) überlagert werden: In den meisten Fällen ist nicht nur eine, sondern sind mehrere segmentale Einheiten in Folge betroffen. Eine mögliche Form der Überlagerung von bMin und bMaj stellt die Großschreibung dar. Hier greift die Definition von Günther (1988), nach der die Großschreibung die Überlagerung (und das heißt die Markierung) einer Form darstellt. Als überlagerte Formen gelten hier jedoch nicht Minuskeln, sondern bMin und bMaj im definierten Sinn. Die Redeweise von einer Majuskel (bMaj), auf die ihrerseits ein Merkmal (Überlagerung) angewendet wird, das Großschreibung bewirkt, mag auf den ersten Blick befremden. Sieht man sich die Kapitälchen an, ist das Sprechen über die Großschreibung von großgeschriebenen Buchstaben allerdings schon weniger irritierend: Als standardisierte Form der Versalien verfügen Kapitälchen (durchgängige Großschreibung) über Minuskeln (bMin) und Majuskeln (bMaj), wobei nur die großen Kapitälchen die Versalhöhe erreichen; die kleinen Kapitälchen füllen die x-Länge: (21)
Große und kleine Majuskeln
Die Überlagerung von bMaj und bMin durch Großschreibung hat zwei Anwendungsbereiche: Erfasst die Überlagerung mehrere Buchstaben eines Schriftworts bzw. nicht ausschließlich den ersten Buchstaben eines Schriftworts, handelt es sich um mehrsegmentale Überlagerung (durchgängige Großschreibung). Wird nur das erste Segment eines Schriftworts mit dem Mittel der Großschreibung überlagert, liegt einzelsegmentale Überlagerung vor (satzinitiale Großschreibung). Verfolgt man die Entstehung der satzinitialen Majuskel zurück, so ergibt sich für die Annahme, eine Majuskel (Einheitenkategorie) werde durch Großschreibung (Merkmal) überlagert, weitere Evidenz: Vor der Herausbildung des prototypischen orthographischen Satzes (also einer graphischen Einheit, die mit einer P-Majuskel beginnt und einem Punkt endet) werden Texte häufig in propositional relevante Abschnitte gegliedert. Simmler (1994) spricht von einer Orientierung an der Makrostruktur. Ein probates Mittel, den Beginn des nächsten Absatzes anzuzeigen, ist die Initiale: ein ornamentalisierter Buchstabe mit Blickfangfunktion. Illustriert ist der Übergang von der Ornamentalität zur Grammatik beispielhaft bei Parkes (1993: 282), wo ein Text aus dem 13. Jahrhundert abgedruckt ist, in dem verschiedene Initialenformen für verschieden große Struktureinheiten verwendet werden. Der Unterschied zwischen der K-Majuskel (satzinterne Großschreibung) einerseits und P-Majuskel (satzinitiale Großschreibung) und S-Majuskel (durchgängige Großschreibung) andererseits ist elementar: Die K-Majuskel definiert eine Einheitenkategorie (bMaj); S- und P-Majuskel sind graphetische Überlagerungen von Einheitenkategorien (bMaj/bMin). Um diesem Unterschied terminologisch Rechnung zu tragen, spreche ich bei der K-Majuskel von der Einheitenkategorie [groß], bei P- und S-Majuskel vom Merkmal ÜL (= Überlagerung). Merkmale werden an Segmenten befestigt, operieren also ähnlich wie Klitisierungen; Einheitenkategorien sind demgegenüber Eigenschaften des Elements, auf dem sie operieren; es liegt keine Analogie zur Klitisierung vor.
54 Die schriftgrammatische Struktur von Schriftwörtern mit K-Majuskel, P-Majuskel und S-Majuskel kann nun wie folgt dargestellt werden: (22)
K-Majuskel, P-Majuskel, S-Majuskel K-Majuskel SW
P-Majuskel SW
AR BU [groß]
ÜL b1
S-Majuskel SW
AR
AR
BU
BU
b1
b bMin
b1Maj
b1Min
Haus
Haus
ÜL HAUS
[groß] = die Einheitenkategorie bMaj konstituierendes Merkmal ÜL = Überlagerung (graphetisches Merkmal)
Die Überlegung, dass P- und S-Majuskel lediglich graphetische Merkmale sind, die an bMajund bMin-Buchstaben befestigt werden und dass im Gegensatz dazu die K-Majuskel bMaj definiert, ist funktional gerechtfertigt: Buchstaben (bMaj und bMin) sind konstitutiv für die Repräsentation von Schriftwörtern. Die Abfolge von ALIs repräsentiert lexikalische, morphologische und prosodische Eigenschaften von Wörtern bzw. Wortformen. Nun lässt sich leicht sehen, dass weder die PMajuskel noch die S-Majuskel an der Konstituierung des Lexikoneintrags und seiner syntaktischen Funktionen beteiligt sind. Dies ist Aufgabe der K-Majuskel. Nach traditioneller Auffassung identifiziert sie die Wortkategorie (Substantiv), nach moderner eine syntaktische Funktion (Kern der Nominalgruppe). Darüber hinaus übernimmt sie die Identifizierung von Eigennamen (Wortkategorie) und trägt bei Distanz-Adressierung (Sie) zur Unterscheidungsschreibung bei26. Der Erwerb der K-Majuskel ist aufwendig und fehlerträchtig. –––––––—–– 26
Mit der Einengung des Bereichs der Großschreibung von allen möglichen Adressierungsausdrücken auf die Unterscheidungsschreibung, die mit den AR 1996 erreicht wurde, ist die letzte pragmatische Domäne der Großschreibung abgeschafft worden. Damit ist ein wesentlicher historischer Einschnitt verknüpft: Die ehrenbezeugende Großschreibung war zunächst Ausgangspunkt für die Entwicklung der satzinternen Großschreibung (Polenz 1991: 186, Bergmann & Nerius 1997). Als diese auf weitere Domänen ausgeweitet wurde (zunächst Großschreibung von Personennamen, geographischen Namen, Titeln, dann zunehmend von Substantiven), wurde die Besonderung der nomina sacra durch Großschreibung von mehr als einem Buchstaben reorganisiert, bevor sie ganz verschwunden ist. Geblieben ist die Funktion der Großschreibung als Ehrenbezeugung seitdem nur noch in der Großschreibung von Anredepronomen; mit der Abschaffung dieser Norm hätte sich die Grammatikalisierung der satzinternen Großschreibung vollständig durchge-
55 Um sie angemessen zu gebrauchen, ist lexikalisches und grammatisches Wissen über Wörter und ihre syntaktischen Funktionen erforderlich. Für den Gebrauch der P-Majuskel muss nur eine Regel gelernt werden; weiß der Schreiber, dass (vorläufig gesprochen) Sätze mit einem Großbuchstaben beginnen, kann die PMajuskel auf alle Ausdrücke angewendet werden, die als erste Einheit im Satz erscheinen. Die S-Majuskel ist in der Regel nicht Gegenstand expliziter Lernprozesse. Ihre Verwendung folgt pragmatischen Regeln. Wie alle suprasegmentalen Mittel ist auch die durchgängige Großschreibung nur schwach normiert. Diese funktionale Skizze gibt jedoch nicht nur Hinweise auf die Verwandtschaft zwischen P- und S-Majuskel. Sie gibt auch einen Hinweis auf die Verwandtschaft zwischen KMajuskel und P-Majuskel: Beide interagieren mit syntaktischen Eigenschaften sprachlicher Einheiten. Online formuliert steuern sie die syntaktische resp. die lexikalische Sprachverarbeitung. Die S-Majuskel gibt demgegenüber pragmatische Instruktionen. Dazu passt auch, dass K- und P-Majuskel nur auf einem (positional definierten) Segment operieren und dass sie nicht mit anderen graphischen Mitteln repräsentiert werden können. Ein weiterer (bereits angesprochener) Befund zeigt jedoch, dass auch S-Majuskel und K-Majuskel eine Eigenschaft teilen, die der P-Majuskel nicht zukommt: Sie sind „selbstreferenziell“; d. h. sie beziehen sich auf den Ausdruck, von dem sie ein Element sind. Überträgt man nun diese Beobachtungen abschließend auf das Baumuster des Schriftworts, so können die basalen Funktionsbereiche der hier angesetzten Kategorien bestimmt werden. (23)
Die Struktur des Schriftwortes
Kategorien der Schriftgrammatik
SW
Position
ÜL
AR
Konstituente
[groß]
BU1
ALI Buchstabenform graphet. Mittel
ÜL
linguistische Korrelate ER
[Eigenschaft eines Syntagmas]
BU2 ... BUn-1
BUn
syntaktisches Wort
b1
b2 ... bn-1
bn
lexikalisches Wort
bMaj
bMin...bMin
bMin
„pragmatisches Wort“
< B
MB
a
n
d >
empirisches Wort
–––––––—–– setzt, wenn nicht in der Re-Reform von 2006 die Großschreibung für die singularische Personenanrede wieder möglich gemacht worden wäre.
56 Auf Positionsebene werden Merkmale von Syntagmen spezifiziert, von denen der entsprechende Ausdruck, an den klitisiert wird, ein Element ist. Die auf Positionsebene klitisierende ÜL sagt nichts weiter als „erstes Element eines Syntagmas“. Die Konstituentenebene definiert diejenigen Merkmale, die zur Konstitution des syntaktischen Worts beitragen. Dazu gehören zum einen die Wortgrenzen (symbolisiert durch BU1 und BUn), zum anderen die durch Großschreibung spezifizierte syntaktische Funktion. Die Wortgrenze legt das syntaktische Wort fest, die Majuskel-/Minuskelschreibung weist der entsprechend annotierten Einheit ein kategoriales Merkmal zu. Die Konstituentenebene beschreibt demnach die Spezifizierungsebene für syntaktische und kategoriale Eigenschaften. Die Ebene der ALIs beschreibt die Repräsentation lexikalischer Wörter. Hier intervenieren vor allem die Regeln der Wortschreibung, die für eine Interpunktionstheorie praktisch nicht von Belang sind. Die einzige Ausnahme macht der Apostroph. In Kapitel III, 2.1 wird gezeigt, dass der Apostroph eine ALI substituiert bzw. überall dort erscheint, wo die Verkettung von gegebenen ALIs nicht zu regelgerechten graphischen Abfolgen bzw. zu regelgerechten Interpretationen von graphischen Abfolgen führt. Auf der Ebene der ALIs sind unterspezifizierte Buchstaben und graphetische Merkmale repräsentiert. Das Merkmal [groß] ist nur eines von mehreren möglichen Merkmalen. Erfasst werden auf der Ebene der ALIs alle distributionsabhängigen graphischen Markierungen. Das Arabische und das Hebräische etwa verfügen über verschiedene Initial- und Finalvarianten von Buchstaben. Im hier zur Diskussion gestellten Format könnten solche Varianten als komplexe Formen beschrieben werden mit einem ALI-Wert und einem positionsabhängigen Merkmal. Die deutsche Frakturschrift und die Sütterlinschrift kennen eine positionsbedingte Formalternanz beim . Diese Zusammenhänge zeigen, dass auch der MB differenziert werden müsste. Ein bis in die jüngste Zeit hinein interessanter Kandidat im Deutschen wäre die nach der alten Rechtschreibung positionsabhängige Repräsentation des stimmlosen [s] als oder . Die mit dem vorliegenden Modell verbundene Idee kann am Beispiel von exemplarisch illustriert werden: Während mit der Geminierung wie in , zwei Slots besetzt werden, könnte der Buchstabe als Merkmalbündel aus [s] und [scharf] aufgefasst werden; er wäre dann eine Form des Buchstaben ; damit wäre ein dreielementiges Paradigma mit den Formen , und . Es ergäbe sich für die folgende Struktur: (24)
SW AR
MB
ER
BU
BU*
BU
[groß]
b1
b1Maj
57 Auf der Ebene der Buchstabenformen werden lexikalisch und syntaktisch bereits spezifizierten Ausdrücken pragmatische Merkmale (z. B. mit dem Mittel der durchgängigen Großschreibung) zugewiesen. Die dort klitisierende ÜL sagt etwas über die pragmatische Eigenschaft des so gekennzeichneten Ausdrucks. Im empirischen Wort, das lediglich die „Substanzseite“ schriftsprachlicher Ausdrücke repräsentiert, sind alle satzsyntaktischen, wortsyntaktischen, lexikalischen und pragmatischen Eigenschaften visualisiert. Teilweise mit einfachen Buchstaben (bMin), teilweise mit komplexen Buchstaben (bMaj, bMin[scharf]), teilweise mit dem Mittel der Überlagerung, teilweise mit dem Mittel der Interpunktion. Mit dieser Darstellung ist nichts über die Reihenfolge der Re-/Enkodierung graphischer Informationen beim Lesen gesagt. Sie bietet lediglich ein Format, mit dem die verschiedenen Markierungsebenen der schriftgrammatischen Mittel analytisch rekonstruiert werden können. Was überraschen mag, ist, dass in der vorliegenden Darstellung die Graphemebene fehlt: Grapheme werden in der Regel definiert als kleinste bedeutungsunterscheidende Einheiten der Schriftsprache. Und von Bedeutungen war hier bislang nicht die Rede. Ausdrücke wie „Lexikon“ verweisen zwar auf Bedeutungen; es geht aber nur darum, dass mit ALIs auf einen Lexikoneintrag verwiesen wird. Wie diese Buchstabenfolgen intern zu einem Lexikoneintrag verkettet werden (Graphemebene), ist nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Auch über das syntaktische Wort ist nichts weiter gesagt, als dass es durch Konstituentenbegrenzung und durch Konstituentenverzweigung festgelegt bzw. spezifiziert wird. Die linguistische Explikation von Wortformen sowie die Bestimmung der Ausdrücke, auf die die K-Majuskel angewendet wird, ist nicht Gegenstand einer Schriftgrammatik. Der vorgelegte Modellvorschlag greift gewisse Intuitionen aus der Literatur auf und macht sie explizit. Eine der wichtigsten intuitiven Beobachtungen ist die, dass die Schrift über „segmentierende“ und „klassifizierende“ Mittel verfügt. Beispielhaft seien hier Gallmann (1996) und Maas (2000) aufgeführt. Zur Erleichterung des Lesens haben die meisten Schriftsysteme graphische Mittel entwickelt, um zusammenhängende Textteile unterschiedlichster Komplexität zu segmentieren; man kann hier zusammenfassend von Grenzsignalen sprechen. [...] In der geschriebenen Sprache haben sich besondere graphische Mittel entwickelt, die funktional als Klassifikatoren bestimmt werden können. Dazu dient [...] gerade auch das Syngraphemsystem. (Gallmann 1996: 1456)
Ganz ähnlich argumentiert Maas (2000: 105): Das heute in der orthographischen Kodifizierung festliegende Inventar an Interpunktionszeichen weist noch fließende Grenzen zwischen globaler und grammatischer Textgliederung auf: Im strikten Sinne gebunden an die literate Kategorie Satz [...] sind nur grammatische Gliederungszeichen: í die Satzschlußzeichen (Punkt, Fragezeichen, Ausrufezeichen), í sowie die Satzbinnenzeichen (Komma, Semikolon). Die weiteren Zeichen, insbesondere die paarigen: , < - > und , aber auch der einzelne Gedankenstrich markieren Textabschnitte unabhängig von ihrer grammatischen Binnenstruktur. Der Doppelpunkt ist in dieser Hinsicht ambig.
Maas spricht weiter von Segmentierung und Kategorisierung (bei Gallmann Klassifizierung), die er als paradigmatische und syntagmatische Dimensionen erfasst.
58 (25)
Segmentierung und Kategorisierung nach Maas (2000) paradigmatisch (Markierung einer Kategorie)
syntagmatisch
Segmentierung Formgebung (des Segments)
Bildet man diese Intuitionen auf das schriftgrammatische System ab, lassen sich die von Gallmann und Maas angenommenen Funktionsunterschiede als Resultat unterschiedlicher Einbettungstiefen von graphischen Mitteln reanalysieren: Auf höchster Ebene (Position) operieren die syntaktischen „Grenzsignale“ (satzinitiale Großschreibung), also Zeichen mit rein „segmentierender“ Funktion; auf Konstituentenebene und auf Segmentebene operieren Zeichen mit „klassifizierender/kategorisierender“ Funktion (satzinterne Großschreibung, durchgängige Großschreibung). Dabei gilt: Zeichen, die auf Konstituentenebene operieren, klassifizieren/kategorisieren Einheiten bezüglich syntaktischer Eigenschaften; Zeichen, die auf Segmentebene operieren, klassifizieren/kategorisieren Einheiten in Bezug auf pragmatische Eigenschaften. Weil weitere funktionale Differenzierungen noch nicht bearbeitet sind, werde ich bis zu einer Revision den Begriff der Klassifizierung zunächst übernehmen, wie er von Gallmann (1985, 1996) angeregt worden ist. Nicht übernommen wird der Begriff der Segmentierung, der mit der Online-Perspektive unverträglich ist: Die Handlung des „Segmentierens“ beschreibt die analytische Tätigkeit von Linguisten, nicht die synthetische Tätigkeit von Lesern, die aus dem graphisch gegebenen Material online größere Einheiten aufbauen müssen. Das, was in traditionellen Auffassungen als „Segmentierung“ beschrieben wird, wird in der vorliegenden Arbeit aus genannten Gründen als Verkettung bezeichnet. Es wird dann davon gesprochen, dass Interpunktionszeichen Verkettungsanweisungen ausgeben; nicht, dass sie den Leser zur Segmentierung anleiten; denn mit dieser Redeweise wird die Folge des Leseprozesses (Aufbau größerer Einheiten) zu seiner Voraussetzung gemacht.
3.4 Die segmentalen Mittel der Schrift Analog zu P-, S- und K-Majuskel wird im Folgenden für die Interpunktionszeichen von P-, S- und K-Klitisierung gesprochen werden. Welche Interpunktionszeichen auf welcher Ebene klitisieren, wird Gegenstand von Kapitel II, 3.7 sein. S- und K-Klitika werden zusammengenommen als E-Klitika (Einheiten-Klitika) charakterisiert. Analog zu S- und KMajuskel und im Unterschied zur P-Majuskel operieren sie auf Einheiten und sagen damit etwas über die sprachlichen Ausdrücke aus, an die sie klitisieren.
59 Nach der bisherigen Analyse und im Vorgriff auf die nun folgende Ausarbeitung der graphotaktischen Eigenschaften der Interpunktionszeichen ist das Gesamtsystem der segmentalen Mittel der Schrift (SMS) wie folgt darstellbar:27 SMS FILLER ZIF
SON b bMin bMaj
BU Apo
KLITIKON DIV
GS
Div
Gs
P-KLIT Pu
ALP
Ko Semi
E-KLIT Dp
K-KLIT Frz
Arz
S-KLIT Af Kl
3.5 Basiseinheiten einer Schriftgrammatik Die Baustruktur des Schriftwortes bildet die Grundlage der weiterführenden Diskussion. Ermittelt wurden bislang folgende Einheiten/Merkmale, Konstituenten und Positionen: Einheiten/Merkmale b Buchstabe (bezüglich Groß-/Kleinschreibung unterspezifiziert) Buchstabenformen (Majuskeln und Minuskeln) bMaj/bMin groß Einheitenkategorie von bMaj ÜL Überlagerung: graphetisches Merkmal, mit dem die Buchstabenformen bMin und bMaj überschrieben werden können (z. B. Kursive, mehrsegmentale Großschreibung) P-Maj (Positions-Majuskel) satzinitialer Großbuchstabe K-Maj (Konstituenten-Majuskel) satzinterne Majuskel S-Maj (Segment-Majuskel) Großbuchstabe bei durchgängiger Großschreibung Pkt Punkt Ko Komma Semi Semikolon Dp Doppelpunkt Frz Fragezeichen Arz Ausrufezeichen –––––––—––
27
Ausgespart in der vorliegenden Darstellung sind Diakritika; sie können als eine besondere Form der Klitika betrachtet werden. Im Gegensatz zu den Interpunktionszeichen klitisieren sie jedoch nicht syntagmatisch, sondern paradigmatisch; sie stehen nicht neben, sondern über oder unter Buchstaben.
60 Klini Klfin Afini Affin Div Gs Alp Apo
öffnende Klammer schließende Klammer Anführungszeichen Abführungszeichen Divis Gedankenstrich Auslassungspunkte Apostroph
Konstituenten BU unmittelbare Konstituente eines Schriftworts. BU kann ein Buchstabe (b) oder ein Apostroph sein. BU* ist eine Folge von BU mit beliebigen Rändern. In konstituieren oder oder eine BU*. SW BU*, die links und rechts durch eine Leerstelle begrenzt ist, wobei die Leerstelle selbst nicht Teil von SW ist. In ist nur ein SW. SW* ist eine Folge von Schriftwörtern mit beliebiger Begrenzung. In konstituieren oder Schriftwortfolgen. alle Interpunktionszeichen der Klasse [–LEER] INTKLIT DIV Divis GS Gedankenstrich Zum Teil werden diese Einheiten in Abhängigkeit von Positionskategorien definiert. Folgende Positionskategorien wurden (und werden) benötigt: Positionen AR ER MB KLIT
Anfangsrand. Erstes Paar von Slot und Filler in einer graphischen Folge. Im SW steht im Anfangsrand. Endrand. Letztes Paar von Slot und Filler in einer graphischen Folge. Im SW besetzt den Endrand. Mittelbereich einer graphischen Folge. Den Mittelbereich von besetzt die BU* . Klitisierungsposition. Durch Verzweigung etablierte Position für Segmente des Typs INTKLIT.
Exkurs: Das Spatium28 Die Definition des (geschriebenen) Wortes als „Buchstabensequenz zwischen zwei Leerzeichen (Spatien), die selbst kein Leerzeichen enthält“ (Lexikon Sprache 1993 [22000]: 792), wird vor allem deshalb kritisiert, weil der Einbezug von diskontinuierlichen Konstituenten zu Widersprüchen führt; denn demnach wären „z. B. im Dt. Hört zu! – –––––––—––
28
Im Folgenden geht es nicht um grammatische Bedingungen der Getrennt- und Zusammenschreibung, sondern lediglich um die Ordnung von Buchstaben(ketten) und Leerzeichen. Welche Einheiten zwischen Spatien stehen, rekonstruieren Jacobs (2005) und Fuhrhop (2007).
61 Komm mit! jeweils zwei Wörter, Zuhören! – Mitkommen! aber jeweils nur ein W. [Wort, U. B.]“ (ebd.). Die gegebene Wortdefinition ist jedoch nicht nur unter syntaktischer Perspektive, sondern auch unter schriftgrammatischer Perspektive problematisch: Weil rechts von zu! und mit! das Ausrufezeichen steht, stünde im ersten Beispielpaar nur jeweils ein Wort (Hört und Komm). Das zweite Beispielpaar enthielte dann kein Wort. Berücksichtigt wird dieses Problem bei Zifonun et al. (1997: 259), wo die „graphische Wortform“ definiert wird als „Folge von Buchstabengraphen, der ein Spatium vorangeht“. Ganz uninteressant ist dieser Vorschlag nicht: Klitisierende Interpunktionszeichen stehen in der Regel am rechten Rand von Wörtern. Bei Schriftwortverkettungen steht vor dem nächsten Ausdruck ein Spatium. Der Endrand von „graphischen Wortformen“ (gWf) ergäbe sich so über den Umweg, ihre Verkettung als schriftwortkonstituierende Operation zu definieren ( _ visualisiert zu analytischen Zwecken das Spatium): (1)
gWf
gWf
Xxxxx _ xxxx _ xxxx, _ etc. Für das erste Wort in der Zeile wird die folgende Sonderbedingung angegeben: „[A]m Zeilenanfang wird das Spatium unterdrückt.“ (Zifonun et al. 1997: 259) Diese Sonderbedingung müsste nun aber nicht nur für den Zeilenanfang gelten, sondern auch für alle freistehenden Wörter, wie sie im Listenmodus (s. o.) hochfrequent sind. Unabhängig aber von der Schwierigkeit, dass diese Definition einseitig auf der Basis des Textmodus operiert, werden geklammerte oder angeführte Wörter zum systematischen Problem: Ihnen geht kein Spatium voran. Nun ist entweder denkbar, Klammern und Anführungszeichen wie Buchstaben zu behandeln, oder es muss eine weitere Sonderbedingung eingeführt werden, die auch solche Buchstabenfolgen als „graphische Wörter“ ausfiltert, denen die öffnende Klammer/das Anführungszeichen vorangeht. Dieser zweite Weg wird bei Zifonun et al. (1997) gewählt; zu den Klammern heißt es: „Die eröffnende Klammer ersetzt das Spatium vor dem Wort.“ (Ebd.: 297) Dasselbe wird für die Anführungszeichen angenommen (ebd.). Bildet man diese Äußerungen auf die vorher gegebene Definition der „graphischen Wortform“ ab (s. o.), ergibt sich jedoch folgende (ungrammatische) Struktur: (2)
gWf
gWf
*Xxxxx„xxxxxxx(xxxxxxxx Das Spatium, das der graphischen Wortform vorangeht, fehlt. Somit stünde zwischen einem graphischen Wort und einem darauffolgenden geklammerten/angeführten graphischen Wort kein Zwischenraum. Jacobs (2005: 120ff.) rekonstruiert die graphotaktische Linearisierung von Buchstaben, Interpunktionszeichen und Leerzeichen im Rahmen seiner Theorie der Getrennt- und Zusammenschreibung als „autonome Beschränkungen“ des schriftgrammatischen Oberflächensystems. Durch geeignete Constraints filtert er Abfolgen wie * * (ebd.: 120) und * (ebd.: 123) als ungrammatisch aus; damit nähert er sich der Unterscheidung zwischen Klitika und Fillern an, ohne dass diese Unterscheidung eingeführt würde. Nunberg (1990), der die Klitisierungseigenschaft der Interpunktionszeichen in sein Konzept mit einbezieht, definiert das Spatium als „null-separator“. Sein Erscheinen wird auf der Grundlage von „pouring rules“ erfasst. „Pouring rules“ besorgen die Insertion von Leerstellen (Spatien, Zeilenumbrüchen, Paragraphenumbrüchen) zwischen Zeichen(ketten). Um zu vermeiden, dass der Wortzwischenraum gesetzt wird, bevor Satzzeichen klitisieren, schlägt er vor, die „pouring rules“ ans Ende der Regelkette zu stellen: „Obviously it would be easier to assume that insertion of spaces took place after cliticization of commas and other marks.“ (Ebd.: 73) Weiter heißt es: „Intuitively, we would like to be able to say that the word-spacing rule is a single entity which ignores all sentence-internal boundaries, and which treats all boundary indicators indifferently as parts of the words onto which they have been cliticized.“ (Ebd.: 74) Diese Auffassung wird jedoch Nunberg zufolge dadurch kompliziert, dass beim Zeilenumbruch kein „null-separator“ interveniert, sondern das Ende der Zeile selbst den Leerraum liefert, den das Schriftwort für seine Konstituierung benötigt. Um die unerwünschte Konsequenz zu umgehen, eine weitere Regel einzuführen, mittels derer der „null-separator“ am Zeilenende (und am Zeilenanfang) wieder entfernt werden muss, schlägt Nunberg vor, die Insertion des „null-separators“ auf spezifische Domänen einzugrenzen: We will assume that pouring rules operate on a linear text structure in which only the types word, sentence and paragraph are represented (where the word is understood as containing all cliticized indicators, so that phrase- and clause-boundaries present no special problems). We will also assume that the rules for insertion of null-separators operate only within certain graphically-defined domains, such as the line (for word- and sentence-separators) and the page (for paragraph separators in business-letter style). (Nunberg 1990: 75)
Weil Nunberg keinen Unterschied zwischen klitisierenden und nicht-klitisierenden Zeichen macht, müsste er jedoch stipulieren, dass das Spatium links und rechts von Gedankenstrich und Auslassungspunkten steht; Divis und Apostroph müssten eigens bearbeitet werden. Unabhängig von diesen Problemen aber geht Nunberg den m. E. richtigen Weg, das Spatium nicht über den Wortbegriff, sondern als eigene Kategorie zu definieren. In der hier vorliegenden Konzeption, in der zwischen slot und filler unterschieden wird, wird der Unterschied zwischen (nicht klitisierenden) Segmenten und dem Spatium wie folgt erfasst: Nicht-klitisierende Segmente sind segmentale Filler von segmentalen Slots. Das Spatium ist ein segmentaler Slot ohne segmentalen Filler.
3.6 Schriftgrammatische Struktur der Filler Apostroph, Auslassungspunkte, Gedankenstrich und Divis bilden sowohl unter graphetischen als auch unter graphotaktischen Gesichtspunkten eine eigene Klasse. Ihr graphetisches Charakteristikum war mit [+LEER] angegeben worden (Kap. II, 2.2), graphotaktisch wurden sie auf der Grundlage ihrer nicht-klitisierenden Eigenschaften als Filler definiert
63 (Kap. II, 3.1.2), wobei im Vorgriff auf die nun folgende Argumentation angenommen wurde, dass Apostroph und Auslassungspunkte als Buchstabensubstitute erfasst werden können, Divis und Gedankenstrich nicht. Dieser Unterschied ist auch in der graphetischen Merkmalsanalyse (Kap. II, 2) reflektiert: Apostroph und Auslassungspunkte gehören zur Klasse [+VERT], Divis und Gedankenstrich zur Klasse [–VERT]. Eine andere Klassenbildung ergibt sich unter Einbezug des Merkmals Reduplikation: Divis und Apostroph teilen sich das Merkmal [–REDUP], Gedankenstrich und Auslassungspunkte sind [+REDUP]: [–REDUP] [+VERT] [–VERT]
’ -
[+REDUP]
... –
Abb. 1: Merkmale von Fillern
Unter Einbezug weiterer graphotaktischer Eigenschaften, die im Folgenden herausgearbeitet werden, kann der Nachweis erbracht werden, dass die angegebenen graphetischen Merkmale auch funktional relevant sind. Die Leistung der Einzelzeichen lässt sich aus den Formeigenschaften „errechnen“. Gezeigt werden soll, dass das Merkmal Reduplikation die Domäne (Wort, Satz, Text) definiert, auf der die Interpunktionszeichen zur Anwendung kommen; Vertikalität definiert den Instruktionstyp (vorläufig gesprochen Verkettung, „Klassifizierung“, s. o.). Damit wäre auch eine Erklärung dafür gefunden, warum Zeichen der Klasse [+VERT] im Listenmodus obligatorisch stehen, Zeichen der Klasse [–VERT] dagegen nicht: Im Listenmodus übernimmt die Textfläche Strukturierungsfunktion, nicht aber „Klassifizierungsfunktion“ sprachlicher Einheiten. Der Apostroph Der Apostroph kann im AR (1) (i), im MB (1) (ii) und im ER (1) (iii) einer Buchstabenfolge stehen: (1)
(i) (ii) (iii)
Wie bei reinen Buchstabenfolgen ist die Verkettung von mit dem Apostroph versehenen Buchstabenfolgen ein Schriftwort. Er besetzt demnach dieselbe Position wie üblicherweise Buchstaben. Auch ansonsten kommt er überall dort vor, wo Buchstaben vorkommen (Textanfang, Zeilenanfang, Zeilenende; s. o.), und interagiert mit allen anderen Interpunktionszeichen so, wie diese sonst mit Buchstaben interagieren; d. h. bei Schriftwörtern, bei denen der Apostroph im Endrand steht, bleibt er der Klitisierung vollständig zugänglich. Daher ist jede unmittelbare Konkatenation von Apostroph und einem darauffolgenden klitisierenden Interpunktionszeichen erlaubt ( ). Der einzige graphotaktische Unterschied zwischen dem Apostroph und Buchstaben ist, dass er nicht in Folge stehen kann * (Nichtkombinierbarkeit; s. Kap. II, 1).
64 Auf der Grundlage dieser Beobachtungen soll der Apostroph im Folgenden als Buchstabenvariable erfasst werden.29 Fraglich ist nun noch, ob er auf der Ebene von b, also von ALIs, oder auf der Ebene von bMaj/Min, also von Buchstabenformen, operiert.30 Seine schriftgrammatischen Eigenschaften legen es nahe, ihn als ALI-Substitut zu bestimmen. Begründet wird diese Position im Zusammenhang mit der Diskussion der Auslassungspunkte, die gegenüber dem Apostroph als Substitute von bMajMin erfasst werden (s. u.). Nach dem bisher Gesagten stellt sich die Konstituentenstruktur eines Schriftwortes mit Apostroph (am Beispiel mit wortinitialem Apostroph) wie folgt dar: (2)
SW AR
MB
ER
BU
BU*
BU
Apo
b2 … bn-1
bn
b2Min … bn-1Min
Für die Auffassung des Apostrophs als Buchstabenvariable sprechen neben den genannten graphotaktischen Eigenschaften die folgenden orthographischen Regularitäten: 1. Obwohl es kein orthographisches Wort mit nur einem Buchstaben gibt, lässt der Apostroph Einerfolgen zu (3), die – wie die Modellbildung apostrophhaltiger Schriftwörter in (2) zeigt – keine sind: Steht links oder rechts von einem einzelnen Buchstaben ein Apostroph, sind Anfangs- und Endrand mit je einem Segment belegt.31 –––––––—––
29
30
31
Damit ist keineswegs gesagt, der Apostroph sei ein „Auslassungszeichen“, substituiere also „ausgelassene“ Buchstaben. Das ist eine seiner möglichen Verwendungen, beschreibt aber nicht seine Kernfunktion (vgl. Kap. III, 2.1). Buchstabenvariable ist im hier definierten Sinn eine rein positionale Eigenschaft. Zifonun et al. (1997: 261) sprechen davon, dass der Apostroph „als Allograph der Grapheme/Graphemfolgen , , , und erscheinen“ kann. In seiner Funktion, den Genitiv von Eigennamen, die auf etc. auslauten, zu bezeichnen, soll er dagegen „Allomorph“ sein (ebd.). Über den Gebrauch des Genitivs von Eigennamen wie in Karl’s heißt es, er sei „nicht korrekt“ (ebd.). Diese Position ist durch die enge Anbindung des Apostrophs an die Graphemebene erforderlich. Denn in Beispielen wie Karl’s kann nicht mehr von Allographen oder Allomorphen gesprochen werden. Dass der Apostroph hier aber stehen kann (bzw. von vielen gesetzt wird), zeigt, dass er auch funktional auf andere Weise erfasst werden muss. Nach der bis 1998 geltenden Rechtschreibung war die Einerfolge auf den Apostroph beschränkt. Einzelne Buchstaben durften auch bei der Silbentrennung nicht abgetrennt werden (alt*A-der, alt *E-ber). Diese Trennung ist seit 1998 normgerecht. Weiterhin nicht normgerecht ist die Trennung eines Einzelbuchstabens, wenn dieser auf der Folgezeile steht (alt/neu*blau-e, alt/neu*neu-e). Diese Beschränkung wird ökonomisch begründet: Der Divis benötigt ebensoviel Platz auf der
65 (3)
(i) (ii)
Wenn S’ so lange warten wollen. *Wenn S so lange warten wollen.
2. Steht der Apostroph am Anfang des Schriftwortes, wird die Großschreibung nicht realisiert: (4)
(i) (ii)
’s ist kalt. *’S ist kalt.
Die schriftgrammatische Rekonstruktion dieser Regel ergibt – am Beispiel des Materials in (4) – Folgendes: (5)
SW
ÜL
AR
ER
BU
BU
Apo
b2 bMin
’
s
Die doppelte Durchstreichung zeigt an, dass die am Anfangsrand verzweigende Überlagerung auf eine Form aus einem einelementigen Paradigma trifft, das keine Formvarianten bereithält. Die Überlagerung kann nicht wirksam werden.32 3. Ein drittes Indiz, das es rechtfertigt, den Apostroph wie eine Buchstabenvariable zu behandeln, ist die nach der alten Orthographie geltende Regel, dass in Fällen, in denen der Apostroph auf folgt, die Regel der wortmedialen -Schreibung zur Anwendung kommt (6) (i). Die wortfinale (silbenfinale) -Schreibung ist ungrammatisch (6) (ii); plausibel ist diese Regel nur dann, wenn angenommen wird, dass das letzte Segment des –––––––—–– 32
Zeile wie ein Buchstabe. Die Abtrennung eines Einzelbuchstabens sei daher keine Platzersparnis, auf die es bei der Worttrennung hauptsächlich ankomme. Gallmann (1985: 63) meint, die Regel, dass der initiale Apostroph die Anfangsgroßschreibung unterdrücke, sei eine Frage der Reihenfolge von Regelanwendungen: „Hinter der DUDEN-Regel steht die Vorstellung, daß ein Schreiber erst einen Satz ohne normwidrige Auslassungen bildet, dann alle Regeln zur Setzung der Grenzsignale (einschließlich Anfangsgroßschreibung) anwendet. Erst jetzt entschließt er sich, beim ersten Wort am Anfang doch etwas wegzulassen, was nach § 987 [Gallmann bezieht sich auf seinen eigenen Text, U. B.] mit dem Apostroph markiert wird.“ „Selbstverständlich“, so Gallmann weiter, „kann die Anwendung der Regeln auch umgekehrt werden: Der Schreiber bildet einen normgerechten Satz und entschließt sich, am Anfang des ersten Wortes etwas wegzulassen, was er mit dem Apostroph als Normverstoßzeichen markiert; dann wendet er die Regeln zur Setzung der Grenzsignale an. Bei dieser Reihenfolge würde auf den ersten Buchstaben nach dem Apostroph die Anfangsgroßschreibung angewendet.“ (Ebd.) Dass auch bei dieser Regelanwendungsreihenfolge der Apostroph das erste Segment darstellt, ist hier nicht mitbedacht.
66 Ausdrucks wie ein Buchstabe interpretiert wird; die Konstituentenstruktur stellt sich demnach wie in (7) dar. (6)
(i) (ii)
ich lass’ mich gehen m ich lasse mich gehen *ich laß’ mich gehen m *ich laße mich gehen
(7)
SW AR
MB
ER
BU
BU*
BU
b1
b2 … bn-1
Apo
bMin
bMin … bMin
l
a
s
s
’
Demgegenüber war bis 1996 vor dem Divis die -Schreibung vorgesehen: ; aber . Bereits daran wird deutlich, dass der Divis nicht ein Substitut für ein Segment ist. Wie er aufzufassen ist, wird weiter unten besprochen. Die Auslassungspunkte Die Auslassungspunkte werden in den AR 1996 im Regelbereich „Markierung von Auslassungen“ aufgeführt: § 99
Mit drei Punkten (Auslassungspunkten) zeigt man an, dass in einem Wort, Satz oder Text Teile ausgelassen worden sind.
Die ersten drei Beispiele, die die Regel illustrieren, sind in (8) festgehalten: (8)
(i) (ii) (iii)
Du bist ein E...! Scher dich zum ...! „... ihm nicht weitersagen“, hörte er ihn gerade noch sagen.
Es werden also zwei schriftgrammatisch relevante Fälle unterschieden, die § 99 nicht, wohl aber den Beispielen zu entnehmen sind und die in den Ausführungen des Duden zur Textverarbeitung folgendermaßen expliziert werden: „Vor und nach den Auslassungspunkten wird jeweils ein Wortzwischenraum gesetzt, wenn sie für ein selbstständiges Wort oder mehrere Wörter stehen. Bei Auslassung eines Wortteils werden sie unmittelbar an den Rest des Wortes angeschlossen.“ (Duden 222000: 91) In der hier vorgelegten Modellierung, die zunächst nicht funktionale, sondern schriftgrammatische Beobachtungen auswertet, ist diese Fallunterscheidung ein bedeutsames Datum: Die unmittelbare Konkatenation (8) (i) macht die Auslassungspunkte zu einem Bestandteil des Schriftwortes. Die mittelbare Konkatenation (8) (ii) und (iii) besagt, dass
67 die Auslassungspunkte nicht Bestandteil eines Schriftwortes sind. Vor allem in Abgrenzung zum Apostroph, der die Wortgrenze nie überschreitet, interessiert hier zunächst das Auftreten der Auslassungspunkte in Schriftwörtern. Die Auslassungspunkte in Schriftwörtern Wie der Apostroph können die Auslassungspunkte in Schriftwörtern initial, medial und final stehen (in [9] an Wortauslassungen dokumentiert). (9)
(i) (ii) (iii)
Du bist ein E...! Ich weiß nicht mehr, wie die Stadt hieß: Irgendwas mit ...endale. Was hast du gesagt? An...ken?
Ebenso wie der Apostroph konkatenieren die Auslassungspunkte mit allen anderen Interpunktionszeichen (Zifonun et al. 1997: 302) mit der Einschränkung, dass der Schlusspunkt nicht steht (vgl. Graphetische Sonderbedingung, Kap. II, 3.2). Wie beim Apostroph verliert der Anfangsrand bei initialen Auslassungspositionen sein Potential, eine Majuskel zu etablieren:33 P-Majuskel: „... ihm nicht weitersagen“, hörte er ihn gerade noch sagen. (AR 1996 in Duden 22 2000: 1150) *„... Ihm nicht weitersagen“, hörte er ihn gerade noch sagen. K-Majuskel: Der Landstrich heißt „...endale“. *Der Landstrich heißt „...Endale“. Der Grund ist derselbe wie beim Apostroph: Weil die Auslassungspunkte ein einelementiges Paradigma etablieren, trifft die Verzweigung auf ein Element, auf dem sie nicht operieren kann. Im Gegensatz zum Apostroph besetzen die Auslassungspunkte jedoch nicht einen segmentalen Raum, sondern drei segmentale Räume. Da die Anzahl der Punkte nur in Glücksfällen wie dem E... der Anzahl der Buchstaben entspricht, für die die Auslassungspunkte stehen, soll hier also angenommen werden, dass die Auslassungspunkte dort stehen, wo normalerweise Buchstabenfolgen stehen. Die Drillingsstruktur zeigt an, dass es sich um eine Buchstabenfolge mit n > 1 handelt. Um diese Struktur für Schriftwörter darstellbar zu machen, soll ohne weiteren theoretischen Anspruch – analog zur Silbenphonologie – von einem Reim ausgegangen werden, der AR und MB oder MB und ER zu einer Position zusammenfasst. Zusammen mit der Annahme, dass die Auslassungspunkte auf der Ebene von bMaj/Min operieren (s. o.), ergibt sich als Konstituentenstruktur eines Schriftwortes mit Auslassungspunkten (am Beispiel wortfinaler Auslassungspunkte) die Struktur in (10): –––––––—–– 33
Unter Verkennung der Systematik hält Gallmann (1985: 64) die Kleinschreibung nach Auslassungspunkten lediglich für „erwünscht“; genau heißt es dort: „Kleinschreibung am Satzanfang ist da erwünscht: sie verstärkt die graphische Wirkung der Auslassungspunkte.“
68 (10) wortfinale Auslassungspunkte SW AR BU [groß] b1 bMaj S
REIM BU BU
BU*
b2
b*
b3
bMin bMin c
h
Alp . . .
Der entscheidende Unterschied zwischen Apostroph und Auslassungspunkten, der es im weiteren auch funktional rechtfertigt, die Auslassungspunkte als Substitute von bMaj/Min, den Apostroph als Substitut von b aufzufassen, ergibt sich bei einem Vergleich von Apostrophund Auslassungskonstruktionen wie in (11), die für traditionelle Konzeptionen, in denen die Auslassung als Funktion des Apostrophs und der Auslassungspunkte gilt, zum systematischen Problem werden (müssten): (11)
(i) (ii) (iii) (iv)
*
*
Dieser Unterschied ist in den AR 1996 nur implizit angesprochen. In § 99 (s. o.) ist davon die Rede, dass mit den Auslassungspunkten angezeigt werde, dass „in einem Wort, Satz oder Text Teile ausgelassen worden sind“. Für den Apostroph heißt es: „Mit dem Apostroph zeigt man an, dass man in einem Wort einen Buchstaben oder mehrere ausgelassen hat.“ (AR 1996: 1149; Hervorhebungen von mir, U. B) Zunächst noch unabhängig davon, dass mindestens der Apostroph als „Auslassungszeichen“ unzureichend beschrieben ist (vgl. Kap. III, 2), wird der mit den Beispielen in (11) angesprochene strukturelle Unterschied durch die kursiv gesetzten Ausschnitte thematisch: Der Apostroph wird mit Buchstaben assoziiert, die Auslassungspunkte mit Wortteilen (oder eben Satz- oder Textteilen). Nun ist aber nicht zu sehen, warum in der restituierbare Wortrest ein Wortteil sein soll, der Wortrest in aber mehrere Buchstaben. Die Standardliteratur zur Interpunktion des Deutschen hält sich hier auffallend zurück: Mentrup (1983) nimmt das Problem, soweit ich sehe, nicht wahr. Gallmann (1985) erreicht eine Differenzierung durch Aufzählung verschiedener Funktionen, die Auslassungspunkte und Apostroph übernehmen; über die Form bzw. den Status der Auslassungen (wenn es solche sind) ist damit noch nichts gesagt. Bei Behrens (1989) wird der Apostroph unter Berufung auf die Tradition erst gar nicht bearbeitet: „In den linguistischen Arbeiten wird mehrheitlich so verfahren, daß unter Interpunktion Satzzeichensetzung und nicht die Setzung von Wortzeichen (Apostroph,
69 Bindestrich u. a.) verstanden wird. Ich habe mich dieser Praxis bis hierher angeschlossen und will das auch im weiteren Verlauf der Untersuchung tun.“ (Ebd.: 14f.) Die Auslassungspunkte werden nicht behandelt, weil für ihr Auftreten „keine strukturellen Bedingungen angebbar [sind]“ (ebd.: 15).34 Der in den AR nur intuitiv formulierte und schrifttheoretisch nicht geklärte Unterschied zwischen Buchstaben und Wortteilen lässt sich an der Form von Auslassungspunkten und Apostroph ablesen: Der Apostroph ist ein segmentales, die Auslassungspunkte sind ein linear-suprasegmentales Mittel (Kap. II, 1). Weiter gilt: Buchstaben sind segmentale Mittel, Buchstabenfolgen mit b > 1 sind linear-suprasegmentale Mittel. Und wie in Kapitel II, 1 ausgeführt, sind segmentale Mittel formsensitiv, suprasegmentale Mittel bedeutungssensitiv. Mit den Auslassungspunkten wird eine (nicht explizierte) Bedeutung repräsentiert, mit dem Apostroph eine (nicht explizierte) Form. In frühen Interpunktionslehren, die den Schreibprozess als konstitutiven Parameter in ihre Interpunktionstheorie einbeziehen, wird diese Funktion der Auslassungspunkte trotz aller terminologischer Unklarheit genauer ausgedrückt als in den AR 1996. So schreibt Bodmer bereits 1768: „Verfasser, die Mangel an Gedanken haben, oder sie nicht auszudrücken wissen, behelfen sich öfters mit dieser Nothhülfe [gemeint sind die Auslassungspunkte, U. B.].“ (Zit. nach Höchli 1981: 225) Auch die Dudenregeln bis 191986 waren (nicht weniger unterminologisch) hier korrekter: „R 26 Drei Auslassungspunkte kennzeichnen den Abbruch einer Rede, das Verschweigen eines Gedankenabschlusses.“35 Drastischer wird Adorno: „Die drei Punkte [...] suggerieren die Unendlichkeit von Gedanken und Assoziation, die eben der Schmock nicht hat, der sich darauf verlassen muß, durchs Schriftbild sie vorzuspiegeln.“ (Adorno 1956 [1997]: 109) Das Bedürfnis der AR 1996, nicht mehr den Schreib-/Leseprozess relevant zu setzen, sondern an Konstruktionen orientierte Bestimmungen vorzunehmen, von denen dann gesagt wird, dass sie der Schreiber kennzeichnet/anzeigt etc., verpasst genau hier den entscheidenden Punkt: Das unklare Reden von Auslassung von Wortteilen vs. Buchstaben macht die gegebenen Regeln für Nutzer schwer rekonstruierbar. In einer Online-Auffassung werden die Auslassungspunkte und der Apostroph als Instruktionsanweisungen zur Rekonstruktion der Form (Apostroph) bzw. der Bedeutung (Auslassungspunkte) eines Ausdrucks erfasst (Kap. III, 2). Das heißt auch, dass Leser bei der Interpretation von Auslassungspunkten und dem Apostroph auf verschiedene Wissensressourcen zurückgreifen. Für die Auslassungspunkte schreibt Maas (2000: 163): „Voraussetzung für die Nutzung der ist es, daß der Schreiber beim Leser unterstellt, daß dieser die ausgelassenen Ausdrücke ergänzen kann; insofern sind sie paraphrasierbar mit du weißt ja. Daher ist sie nicht möglich bei Elementen, die dem Leser unzugänglich sind“. Der Gebrauch des Apostrophs ist demgegenüber nicht auf individuelles Leserwissen abgestimmt. Er interveniert auf Systemebene.36 –––––––—–– 34
35 36
Der Ausschluss störender Fakten aus einer Untersuchung zeigt, dass hier nicht das System rekonstruiert werden soll, sondern eine bestimmte Vorstellung davon, wie ein solches System sein könnte, wenn es die störenden Fakten nicht gäbe. Eine detaillierte Rekonstruktion der Regelformulierungen zu den Auslassungspunkten wird in Kap. III, 2.3 vorgenommen; zum Apostroph vgl. Kap. III, 2.1. Dieser Unterschied spiegelt sich auch in der Anzahl der Dudenregeln. Im Duden (222000) sind für den Apostroph vier Hauptregeln und neun Schreibempfehlungen vorgesehen, für die (kaum normierbaren) Auslassungspunkte gibt es nur zwei Hauptregeln und eine Schreibempfehlung.
70 Damit sind nun aber auch verschiedene Prozesszeitpunkte der Sprachverarbeitung angesprochen: Der Apostroph wird zu einem frühen Prozesszeitpunkt (Identifikation des lexikalischen Materials) ausgewertet. Die Bearbeitung der Auslassungspunkte wird demgegenüber erst postlexikalisch, d. h. nach der lexikalischen Identifizierung relevant. Auf der Grundlage dieser Modellierung wird – wie bereits angesprochen – der Apostroph als b-Variable, die Auslassungspunkte als bMaj/Min-Variable angesetzt: Die b-Ebene (ALI) war erfasst worden als diejenige Ebene, auf der Buchstabenfolgen zu Lexikoneinheiten verarbeitet werden. Auf der bMaj/Min-Ebene sind lexikalisch bereits erkannte Einheiten repräsentiert. Der Apostroph ist demnach ein type, das Auslassungszeichen ein token.37 Entsprechend regulieren die Auslassungspunkte pragmatische Normverstöße, der Apostroph grammatische (vgl. die Beispiele in [11]). Für diese Konzeptualisierung spricht eine weitere, bislang unberücksichtigt gebliebene orthographische Eigenschaft von mit Auslassungspunkten gekennzeichneten Konstruktionen: Zumindest bei tabumotivierten Auslassungspunkten wie , bei denen stets wortfinale Teile ausgespart werden, bleiben am Wortanfang Grapheme, d. h. bereits interpretierte Buchstaben(folgen) erhalten, nicht Buchstaben; vgl. , *.38 Die Auslassungspunkte in größeren Einheiten Ganz in Einklang mit ihrer Funktion, pragmatische Normverstöße zu signalisieren, können Auslassungspunkte – im Gegensatz zum Apostroph – auch größere Domänen als das Wort erfassen. Angezeigt wird diese weitere Verwendung graphotaktisch durch mittelbare Konkatenation. In den AR 1996 wird weiter unterschieden zwischen Auslassungspunkten, die für ein Wort stehen, und Auslassungspunkten, die für mehrere Wörter stehen. Graphotaktisch wird für diese Fälle kein Unterschied gemacht (etwa durch kleinere/größere Abstände). An der Form der Auslassungspunkte aber ist zu erkennen, dass sie auf die Auslassung von Schriftwörtern zugeschnitten sind. Die Drillingsstruktur erweist sich als optimale ikonische Abbildung der Basisstruktur des Schriftwortes:
–––––––—–– 37 38
Zur Geschichte des Apostrophs, der sich von einem token zu einem type fortentwickelt hat, vgl. Kapitel III, 2.1. Ein dritter Auslassungsfall ist hier unberücksichtigt geblieben: der Abkürzungspunkt (, *, *). Zur schriftgrammatischen Systematisierung des Abkürzungspunkts, der dem Apostroph ähnlicher ist als den Auslassungspunkten, wird hier kein Systematisierungsvorschlag angeboten. Nach allem, was bis jetzt zu sehen ist, müsste seine Form-Funktions-Bestimmung jedoch aus dem hier entwickelten System ableitbar sein.
71 (12)
Die Drillingsstruktur der Auslassungspunkte SW ALP AR
MB
ER
BU
BU
BU
.
.
.
Werden Schriftwörter verkettet, so stehen die Auslassungspunkte entweder für SW oder für SW*: (13)
Auslassungspunkte als Schriftwortsubstitut SW*
SW
SW
SW
ALP
(14)
AR
MB
ER
BU
BU
BU
.
.
.
Auslassungspunkte als Substitut für Schriftwortketten SW*
SW
SW
SW*
SW
Alp
Ausgeweitet werden kann dieses Muster dann auch auf orthographische Sätze. Die Struktur ist entsprechend. Der Divis Als Vorläufer des Divis bezeichnet Saenger (1997) ein Zeichen, das in der scriptio continua halbkreisförmig (ähnlich der Affrikatenbezeichnung im IPA) unter der Zeile notiert wurde,
72 um anzuzeigen, dass Buchstabenfolgen zu einem Wort gehörten. In seiner alten Funktion wurde er Saenger zufolge meist in pädagogischen Kontexten eingesetzt, um Schülern/Schülerinnen den Leseerwerb zu erleichtern.39 In die Zeilenmitte rückt der Divis historisch parallel zum Aufkommen des Wortzwischenraums (Saenger 1997). Erst dann steht überhaupt genügend Platz für Zeichen wie den Divis zur Verfügung. Seine Funktion bleibt die eines Korrektivs. Korrekturbedarf besteht in der Phase, in der sich das Spatium noch nicht vollständig durchgesetzt hat, vor allem dort, wo durch einen zu weit gesetzten Zwischenraum Verlesungen entstehen konnten: In its new role, the hyphens’s chief function was to correct an inappropriately placed space in separated writing or a space of inappropriate quantity in aerated writing40. The use of the hyphen by scribes from the eighth century onward reflected a change in mentality, for it indicated the acceptance of an encoded significance for space as an interword boundary rather than as an occasional sign of punctuation. (Saenger 1997: 69f.)
Die Standardisierung des Wortzwischenraums setzt den Divis für neue Funktionen frei. Er wird in der vollständig etablierten scriptio discontinua zunehmend grammatikalisiert; d. h. er figuriert nicht mehr nur für die Regulierung von typographisch bedingten Problemen, sondern zugleich für die Regulierung von grammatisch bedingten Problemen: 1. Worttrennung am Zeilenende [Trennstrich]; hier ist die typographisch bedingte Korrekturfunktion des Divis erhalten; 2. Wortabbruch (Obst- und Gemüseanbau) [Ergänzungsbindestrich]; 3. Konflikt zwischen morphologischen und syntaktischen Verknüpfungsstrukturen (zum Aus-der-Haut-Fahren), zwischen optisch schlecht diskriminierbaren Einheiten (*Seeelefant ĺ See-Elefant) oder zwischen Zusammensetzungen von Ausdrücken verschiedenen Typs (¾-Takt) [Bindestrich]. Drei Divis – zwei Divis – ein Divis? Die Dreiteilung in Ergänzungsbindestrich, Bindestrich und Trennstrich entspricht der Divis-Klassifikation, wie sie seit 91915 im Duden notiert ist. Dort wird allerdings weiter subklassifiziert: Ergänzungsbindestrich und Bindestrich werden unter der Rubrik Bindestrich zusammengefasst; der Trennstrich steht isoliert. In den weiteren Dudenauflagen bleibt diese Einteilung konstant; auch der Leipziger Duden folgt dieser Tradition. Geändert wird diese Klassifikation erst mit den AR 1996. Dort erhält der Ergänzungsbindestrich in § 98 eine eigene Regel; rubriziert ist sie unter dem Großkapitel E „Zeichensetzung“ und dort unter dem Unterkapitel 4 „Markierung von Auslassungen“. Bindestrich und Trennstrich erhalten jeweils eigene Kapitel (Kapitel C „Schreibung mit Bindestrich“; Kapitel F „Worttrennung
–––––––—––
39
40
Bis in die jüngste Zeit ist die optische Zusammenfassung von Affrikaten, Diphthongen oder Silben in der didaktischen Literatur und in der schulischen Handlungspraxis prominent; vgl. z. B. Hinney (2004). Als „arreated writing“ bezeichnet Saenger die historische Epoche im Übergang zwischen der scriptio continua und der scriptio discontinua, in der die Verfahren der Textgliederung mit dem Leerzeichen noch nicht standardisiert sind.
73 am Zeilenende“), die außerhalb des Großkapitels Zeichensetzung stehen. Die Systematik dieser Spaltung bleibt ungeklärt.41 Zu einer anderen Einteilung kommt Srinivasan (1993), der den Divis unter der Zielstellung einer Optimierung maschineller Parsingprozesse untersucht. Srinivasan geht von zwei Divisvorkommen aus. Anders aber als die Dudenauflagen bis 201991 fasst er nicht Ergänzungsbindestrich und Bindestrich in eine Klasse zusammen, sondern Trenn- und Bindestrich, die er dem Ergänzungsbindestrich gegenüberstellt. Den Ergänzungsbindestrich interpretiert er als placeholder, den Trenn- und den Bindestrich als word break. Srinivasan (1993: 165) meint, dass der Ergänzungsbindestrich (placeholder) eine fehlende (zu ergänzende) Buchstabengruppe substituiert. „German uses the hyphen as a ‚morpheme placeholder‘ in multiword lexemes“ wie etwa in „Im- und Export“. Trenn- und Bindestrich (word break) dagegen würden (eigentlich verbundene) Buchstabenketten unterbrechen. Unter sprachverarbeitungstheoretischer Hinsicht ist diese zweite Funktionsbeschreibung jedoch kontraproduktiv: Der Ausdruck word break impliziert, dass vollständige Wortformen nachträglich segmentiert werden. Dem Leseprozess (und wohl auch dem maschinellen Verarbeitungsprozess) entspricht das nicht.42 Unter graphotaktischer Perspektive zeigt sich, dass sich sowohl eine Dreiteilung (AR 1996) als auch eine Zweiteilung in Ergänzungsbindestrich/Bindestrich vs. Trennstrich (Duden bis 201991) als auch eine Zweiteilung in Ergänzungsbindestrich vs. Bindestrich/ Trennstrich (Srinivasan 1993) rechtfertigen lässt. Die Dreiteilung (AR 1996) ist unter Berücksichtigung der Interaktion des Divis mit dem Spatium plausibel: Allen Vorkommen des Divis als Bindestrich ist gemeinsam, dass links und rechts von ihm ein Buchstabe (oder ein Apostroph) steht. Funktional formuliert: „Der Bindestrich steht im Innern von Wortformen.“ (Gallmann 1985: 97) Beim Trennstrich steht links ein Buchstabe, rechts von ihm befindet sich das Zeilenende. Der Ergänzungsbindestrich hat auf einer Seite Kontakt mit einem Buchstaben, auf der jeweils anderen steht ein Leerzeichen; im Gegensatz zum Trennstrich kann der Ergänzungsbindestrich am Zeilenende stehen, muss aber nicht. Für die Auffassung des Duden (bis 201991), Ergänzungsbindestrich und Bindestrich bildeten eine Subklasse, der Trennstrich stehe isoliert, spricht folgender Befund: Bindestrich und Ergänzungsbindestrich können geklammert werden (15) (i), (ii), nicht aber der Trennstrich (15) (iii): (15)
(i) (ii) (iii)
(auf-)gebaut hatten sie bereits sie hatten auf- (und ab-) und umgebaut *(Schran-)[Trennstelle]ke
Für die Auffassung Srinivasans, nach der der Ergänzungsbindestrich als placeholder dem Bindestrich und dem Trennstrich als word break gegenübersteht, liefert ein Blick auf die Interaktion des Divis mit anderen Interpunktionszeichen einen außerordentlich interessan–––––––—–– 41 42
Die Dudenauflagen von 211996 und 222000, die die AR 1996 umsetzen, bleiben bei der alten Einteilung. Vgl. hierzu auch Gallmanns (1985: 83) Ausführungen zu den Bezeichnungen Bindestrich und Trennstrich.
74 ten Befund: Der Ergänzungsbindestrich kann im Skopus der Anführungszeichen stehen (16) (iii), Bindestrich und Trennstrich können das nicht (16) (i), (ii): (16)
(i) (ii) (iii)
*„Heimat-“Museum „Heimat“-Museum *„unter-“[Trennstelle]tauchen „unter“-[Trennstelle]tauchen „An-“ und „Verkauf“ *„An“- und „Verkauf“
Geht man davon aus, dass die Anführungszeichen grob gesprochen nur auf bedeutungstragenden Einheiten operieren (vgl. Kap. III, 3.3.1), dann muss der Ergänzungsbindestrich im Gegensatz zu Trenn- und Bindestrich als Teil eines sprachlichen Ausdrucks gewertet werden. Die Anführungszeichen verhalten sich in Kontakt mit dem Ergänzungsbindestrich genauso wie in Kontakt mit dem Apostroph und den Auslassungspunkten, die ebenfalls Teil des entsprechenden sprachlichen Ausdrucks sind. Jedoch liegt mit der placeholderFunktion des Ergänzungsbindestrichs ein ganz anderes Substitutionsprinzip vor, als es für Apostroph und Auslassungspunkte angenommen worden ist: Das Material, das der Ergänzungsbindestrich substituiert, kann im Folge- oder Vorgängertext wiedergefunden werden; die von Apostroph und Auslassungspunkten bezeichnete Substitution ist demgegenüber irreversibel (Bredel 2002 sowie Kap. III, 3.3.1). Diese Verschiedenheit ist auch in der Schriftgrammatik reflektiert: Nach dem Apostroph und den Auslassungspunkten können sog. Satzschlusszeichen stehen, nach dem Divis, der dazu instruiert, eine weitere lexikalische Einheit rechts von ihm morphologisch zu verknüpfen, nicht. Ein weiterer Indikator, der dafür spricht, den Ergänzungsbindestrich als placeholder zu identifizieren, ist seine Interaktion mit dem Komma/dem Semikolon, die nicht wortintern operieren – vgl. (17) (ii) und (iii) –, sondern nach vollständigen Wörtern stehen. Nach dem Ergänzungsbindestrich können Komma und Semikolon nur deshalb stehen, weil dieser den fehlenden Wortrest substituiert (17) (i); der Oberflächenform nach ist mit Ergänzungsbindestrichkonstruktionen demnach ein vollständiges Wort repräsentiert. (17)
(i) (ii) (iii)
Er hatte Auto-, Kranken- und Unfallversicherungen aufs Spiel gesetzt. *Auto-,Versicherung *Auto-,[Trennstelle]versicherung
Verfolgt man die schriftgrammatische Analyse weiter, so ergibt sich abschließend eine Rechtfertigung für eine bislang nicht erwogene Klassenbildung: Der Bindestrich lässt als Folgeelement die K-Majuskel zu, die stehen muss, wenn es die Konstruktion verlangt (18) (i). Bei Ergänzungsbindestrich und Trennstrich wird das Zweitelement nicht groß geschrieben (18) (ii), (iii). Demnach wäre auch die Subklassifikation Ergänzungsbindestrich/Trennstrich vs. Bindestrich gerechtfertigt: (18)
(i) (ii)
Donau-Dampf-Schiff *Donau-dampf-schiff Schulhefte und -bücher *Schulhefte und -Bücher
75 (iii)
Geburts-[Trennstelle]tag *Geburts-[Trennstelle]Tag
Die Ergebnisse der schriftgrammatischen Analyse zusammengefasst, ergibt sich zunächst das folgende Bild:
K-Majuskel Kl Ko, Semi, Af
Bindestrich + + –
Ergänzungsbindestrich – + +
Trennstrich – – –
Tab. 1: Die Interaktion von Bindestrich, Ergänzungsbindestrich und Trennstrich mit weiteren graphischen Mitteln
Aus den schriftgrammatischen Eigenschaften von Bindestrich, Ergänzungsbindestrich und Trennstrich, die in Tab. 1 zusammengestellt sind, lässt sich für die verschiedenen Divisvorkommen der folgende Schluss ziehen: Der Bindestrich signalisiert dem Leser, dass die eingelesene Buchstabenfolge kein syntaktisches, wohl aber ein lexikalisches Wort ist, das wie andere lexikalische Wörter zugänglich für die K-Majuskel ist.43 Der Ergänzungsbindestrich signalisiert, dass die eingelesene Buchstabenfolge kein lexikalisches, zusammen mit dem Ergänzungsbindestrich wohl aber ein syntaktisches Wort ist, zumindest der Substanz nach. Ergänzungsbindestrich-Konstruktionen sind daher wie andere syntaktische Wörter für das Komma und für das Semikolon zugänglich. Beim Trennstrich ist die Buchstabenfolge weder ein syntaktisches noch ein lexikalisches Wort. Das zeigt sich an der Interaktion mit weiteren graphischen Mitteln; weder der Erstbestandteil noch der Zweitbestandteil ist für graphische Markierungen zugänglich, die auf lexikalischen/syntaktischen Wörtern operieren.
lexikalisches Wort syntaktisches Wort
Bindestrich + –
Ergänzungsbindestrich – (+)
Trennstrich – –
Tab. 2: Morphosyntaktische Eigenschaften von Bindestrich-, Ergänzungsbindestrich- und Trennstrichkonstruktionen44
Einer der frühesten Kritiker der klassischen Dreiteilung der Divisvorkommen ist Frisch. Er plädiert 1721 für eine monofunktionale Bestimmung des „Verbindungs=Zeichens“: –––––––—––
43
44
In diesem Kontext wäre eine rein syntaktische Rechtfertigung der satzinternen Großschreibung (Maas 2000) kritisch in den Blick zu nehmen. Würde stets lediglich der Kern einer Nominalgruppe groß geschrieben, wie es in einer syntaktisch basierten GKS-Theorie vertreten wird, wäre die Großschreibung entweder des substantivischen Erst- oder des substantivischen Zweitbestandteils einer Bindestrichkonstruktion nicht zu rechtfertigen, denn sie übernehmen zusammen die Funktion, Kern einer Nominalgruppe zu sein. Zu weiteren Problemen des GKS in Bindestrichkonstruktionen vgl. Bernabei (2003). Die Klammer steht dafür, dass der Ergänzungsbindestrich die Identität als syntaktisches Wort lediglich simuliert (placeholder).
76 Das Verbindungs=Zeichen ist ein gerades – oder zwei gerade oder abhangende Strichlein. Es ist ein Zeichen, daß ein Wort nicht vollkommen, sondern noch ein Wort oder Sylbe dazu gehöre. Wann man dieses Zeichen wieder unnöhtiger Weise in dreierlei Arten teilt, macht man eine unnütze Schwierigkeit. Wann es an einem abgebrochenen Wort, als am Ende der Zeile stehet, verbindet es die auf der folgenden Zeile stehende Sylben. Zwischen den Wörtern sieht man auch wohl, was es verbindet. (Zit. nach Höchli 1981: 176)
Was die Form betrifft, auf die sich Frisch bezieht, liegt bei allen Verwendungsweisen dasselbe Zeichen vor ; formal ist eine Dreiteilung somit nicht gerechtfertigt. Frisch bezieht sich nun aber neben der Formidentität auch auf ein funktionales Kriterium, das die allen Verwendungsformen identische und damit die Kernfunktion des Divis benennt, wenn er schreibt, der Divis sei „ein Zeichen, daß ein Wort nicht vollkommen, sondern noch ein Wort oder Sylbe dazu gehöre“. Diese von Frisch angesprochene Verwendungsweise kann folgendermaßen auf die hier vorgeschlagene Modellbildung übertragen werden: Als übliche Verkettungsoperation für Buchstabenfolgen (BU*) kann gelten, dass alle Buchstaben, die unmittelbar konkateniert sind, gemäß der durch die Konkatenierungsfolgen gegebenen Struktur zu lexikalischen Einheiten verkettet werden. Ist der linke und der rechte Rand einer Buchstabenfolge ein Spatium, beginnt die Verkettungsoperation am Anfangsrand der Buchstabenkette linear nach rechts. Das Spatium signalisiert das Ende der Verkettungsoperation. Die eingelesene Einheit wird als lexikalisches und als syntaktisches Wort identifiziert.45 Steht nun ein Divis, muss diese Verkettungsoperation abgebrochen werden, ohne dass die eingelesene Einheit bereits als lexikalisches/syntaktisches Wort identifiziert wird. Das Resultat einer durch den Divis abgebrochenen Verkettungsoperation ist eine Buchstabenkette (BUkt), der noch keine lexikalische/syntaktische Funktion zugeordnet werden kann. Die eingelesene Buchstabenfolge muss vom Leser im Zwischenspeicher abgelegt werden, bis eine weitere Einheit (desselben Typs) folgt, die mit der gespeicherten Buchstabenkette zusammen zu einem SW verrechnet werden kann. Die relevanten Informationen über reguläre Verkettungsbereiche sind durch die Anfangs- und Endränder definiert. Ein vorzeitiger Verkettungsabbruch, der zur Konstituierung einer BUkt führt, wird demnach am Endrand einer schriftlichen Einheit angezeigt. Für eine konstituentenstrukturelle Repräsentation des Divis (s. u.) ergeben sich daraus und aus der vorangegangenen Analyse die folgenden Konsequenzen: Der Eigenschaft, dass der Divis in allen Fällen zu einem vorzeitigen Verkettungsabbruch instruiert, wird in der Weise Rechnung getragen, dass er als Kopf einer BUkt erfasst wird. Der Unterschied zwischen dem Ergänzungsbindestrich einerseits, der der Substanz nach zusammen mit einer Buchstabenfolge ein syntaktisches Wort repräsentiert (placeholder), und dem Bindestrich und dem Trennstrich andererseits, die dies nicht tun, wird mit der Position des Divis Rechnung getragen: Bei Ergänzungsbindestrichkonstruktionen ist er anfangs-/endrandbesetzend, bei Trennstrich- und Bindestrichkonstruktionen ist er anfangs-/endrandkonstituierend. Der graphotaktisch legitimierten Dreiteilung wird mit der Verknüpfungsstruktur der BUkt mit den weiteren Bestandteilen (BU* oder BUkt) Rechnung getragen. –––––––—–– 45
Das heißt nicht, dass die Worterkennung linear-progressiv, also segmentweise vollzogen wird. Für den vorliegenden Zusammenhang ist eine genaue Rekapitulation der Prozessierungen beim Worterkennen nicht ausschlaggebend.
77 Der Divis als Trennstrich46 (19)
SW BUkt BU*
BU*
AR
MB
ER
BU
BU*
BU
b1
b2 ... bn-1
bn
AR
MB
ER
DIV
BU
BU
BU
-
bn+1
bn+2... bn+(m-1)
bm
Der Divis als Bindestrich (20)
SW BUkt
BUkt
BU*
BU*
AR
MB
ER
BU
BU*
BU
b1
b2 ... bn-1
bn
AR
MB
ER
DIV
BU
BU
BU
-
bn+1
bn+2... bn+(m-1)
bm
Der Divis als Ergänzungsbindestrich (am Beispiel der Endrandbesetzung) (21)
SW BUkt
BU*
AR
MB
ER
BU
BU
DIV
b1
b2 ... bn-1
-
–––––––—–– 46
Folgende Darstellungen unter Aussparung der buMin/buMaj-Ebene.
78 Für die K-Majuskel ergibt sich nun der Befund, dass sie eine BU* nur dann erfassen kann, wenn sie Teil einer BUkt ist, nicht aber, wenn sie unmittelbare Konstituente eines SW ist. Nicht abgebildet ist die Klammerbeschränkung, die den Trennstrich vom Ergänzungsbindestrich und vom Bindestrich unterscheidet. Ich sehe derzeit keine geeignete Möglichkeit, diese schriftgrammatische Besonderheit konstituentenstrukturell zu erfassen. Der Gedankenstrich Der Gedankenstrich wiederholt auf Textebene, was der Bindestrich auf Wortebene leistet. Er instruiert den Leser zu einem vorzeitigen Abbruch der Verkettung von eingelesenen Einheiten, die im Fall des Gedankenstrichs nicht Buchstabenfolgen, sondern Schriftwortfolgen sind; der vom Gedankenstrich in Gang gesetzte Verkettungsabbruch bewirkt wie der Divis, dass die eingelesenen Einheiten verkettet werden, ohne dass die verkettete Einheit bereits einer höheren Ebene zugewiesen werden kann. Der Leser muss (auf derselben Textebene) nach weiteren Elementen suchen, die er zusammen mit der bereits eingelesenen Kette zu einer höheren Einheit verrechnet.47 So wird z. B. aus mit dem Gedankenstrich verknüpften Gesprächssegmenten ein Gespräch (Komm bitte mal her! – Ja, ich komme sofort.); die Gesprächssegmente sind nicht hierarchisch geordnet, sondern werden durch den Gedankenstrich als gleichwertige Einheiten einer höheren (hier zweigliedrigen) Struktur ausgewiesen. Die Konstituentenstruktur von Gedankenstrichkonstruktionen ist ganz parallel zum Divis zu bestimmen. Es können drei Verwendungsfälle unterschieden werden: (22)
(i) (ii) (iii)
Du bist ein –! Bist du sicher? – Ganz sicher! Er hatte das Geld – gestohlen.
In (22) (1) verhält sich der Gedankenstrich ähnlich wie der Ergänzungsbindestrich: Er fungiert als „placeholder“ für eine nicht ausgedrückte Einheit. Diese Gedankenstrichverwendung soll hier deshalb „Ergänzungs-Gedankenstrich“ heißen. In (22) (ii) verhält sich der Gedankenstrich ähnlich wie der Bindestrich: Er verknüpft zwei isoliert voneinander interpretierbare Einheiten (hier Äußerungen) zu einer größeren Einheit (hier Dialog); auch beim Bindestrich werden zwei lexikalische Wörter (also interpretierbare Einheiten) zu einer größeren Einheit (syntaktisches Wort) verknüpft. Der Gedankenstrich in dieser Ausprägung soll in Analogie zum Bindestrich „Binde-Gedankenstrich“ genannt werden. In (22) (iii) gehören die links vom Gedankenstrich stehenden und die rechts vom Gedankenstrich stehenden Einheiten zu einer Konstruktion, sind aber nicht isoliert voneinander interpretierbar. Der Gedankenstrich verhält sich ähnlich wie der Trennstrich. Der Gedankenstrich in Verwendungen wie in (22) (iii) soll in Analogie zum Trennstrich als „TrennGedankenstrich“ bezeichnet werden, weil er Einheiten, die ohne ihn kontinuierlich prozessiert werden würden, trennt. –––––––—––
47
Diese Beschreibung trifft auf den seit 1998 einzig legitimen Gedankenstrichgebrauch zu. Konstruktionen, in denen der Gedankenstrich – analog zu den Auslassungspunkten – eine „abgebrochene Rede“ markiert, ist in den AR 1996 nicht mehr kodifiziert (vgl. hierzu Kap. III, 2.3).
79 Der Unterschied zwischen den Divis- und den analog dazu beschriebenen Gedankenstrichvorkommen ist die Bezugsebene: Reguliert der Divis Anomalien von Buchstabenfolgen in Bezug auf ihre Eigenschaft als lexikalisches und syntaktisches Wort, organisiert der Gedankenstrich Abweichungen von Schriftwortfolgen in Bezug auf ihre Eigenschaft als Texteinheit (in der Regel ein Satz) und als Diskurseinheit.48 ErgänzungsGedankenstrich – (+)
Texteinheit Diskurseinheit
BindeGedankenstrich + –
TrennGedankenstrich – –
Tab. 3: Eigenschaften von Ergänzungs-Gedankenstrich, Binde-Gedankenstrich und Trenn49 Gedankenstrich-Konstruktionen
In Analogie zu den entsprechenden Divis-Vorkommen könnten die schriftgrammatischen Konstruktionen in (23) – (25) und (27) angesetzt werden: Der Ergänzungs-Gedankenstrich (Beispiel 22 [i] Du bist ein –!) (23)
SWkt SW*
ER
SW SW SW
GS
Der Binde-Gedankenstrich (Beispiel 22 [ii] Bist du sicher? – Ganz sicher!) X = Bestandteil einer Diskurssequenz; Y = Diskurs (24)
Y Xkt
Xkt
X* X
X
X* X
GS
X
X
X
–––––––—–– 48
49
Unter einer Diskurseinheit wird eine Folge aus Texteinheiten verstanden, die zusammen als Teile einer größeren Struktur verrechnet werden. Das kann ein notiertes Gespräch mit zwei Redezügen sein, von denen jeder Redezug eine textkonstituierende Einheit bildet; es kann sich aber auch um zwei Informationseinheiten handeln, die zusammen einen Text konstituieren. Die Klammer steht dafür, dass der Ergänzungsgedankenstrich die Identität als Texteinheit lediglich simuliert (placeholder).
80 Der Trenn-Gedankenstrich (Beispiel 23 [iii] Er hatte das Geld – gestohlen.); SWP = Schriftwortphrase (25)
SWP SWkt SW*
SW
SW*
SW SW
GS
SW SW SW
Der schriftgrammatische Unterschied zwischen dem Trenn- und dem Binde-Gedankenstrich ist, dass der Binde-Gedankenstrich beliebig wiederholbar ist, der Trenn-Gedankenstrich nicht: In einem Text können beliebig viele Themen-/Sprecherwechsel in Folge mit dem Gedankenstrich markiert werden. In Fällen wie (23) (iii) kann kein weiterer Gedankenstrich in Separierungsfunktion folgen. Dasselbe gilt im Übrigen für den Bindestrich, der im Gegensatz zum Trennstrich mehrere BU* verketten kann: etc. Eine etwas komplexere Struktur weisen Konstruktionen mit paarig gebrauchtem Gedankenstrich auf (26) (zu einer Kritik am Begriff der Paarigkeit als für den Gedankenstrich zugrundeliegende Kategorie vgl. Kap. II, 3.7). (26)
Niemand hatte – er wusste das besser als die anderen – für Vorräte gesorgt.
Im Gegensatz zum Binde- und zum Trenn-Gedankenstrich, bei denen links und rechts Einheiten stehen, die zur selben Konstruktion gehören (z. B. orthographischer Satz oder Diskurs), ist dies beim paarigen Gebrauch des Gedankenstrichs nicht der Fall. Es entsteht die Struktur XXX – YYY – XXX. Eine konstituentenstrukturelle Modellierung könnte wie folgt aussehen: Der parenthetische Gedankenstrich (am Beispiel [26]) SWP
(27) SWkt
SWkt
SW* SW
SW SW
SW* GS
SW
SW
SW
GS
SW
SW
SW
Das Sprechen von verschiedenen Divis- und Gedankenstrichverwendungen ist nicht gleichzusetzen mit der Annahme der Polyfunktionalität dieser Zeichen. Das Verhältnis zwischen dem Divis als Trennstrich, als Ergänzungsbindestrich und als Bindestrich ist vergleichbar mit dem Verhältnis des Adjektivs zu seinem prädikativen und attributiven Gebrauch. Das-
81 selbe gilt für die Gedankenstrichverwendungen. Die Gemeinsamkeit aller Gedankenstrichund Bindestrichvorkommen ist die Etablierung einer Konstituente Xkt. Fazit: Die für den Apostroph, die Auslassungspunkte, den Divis und den Gedankenstrich zusammengetragenen Befunde sollen abschließend mit der graphetischen Analyse der Interpunktionszeichen (Kap. II, 2) in Bezug gesetzt werden: Divis und Apostroph ist gemeinsam, dass sie auf Wortstrukturen operieren. Sie gelten daher in allen bekannten Interpunktionstheorien als „Wortzeichen“. Auslassungspunkte und Gedankenstrich operieren demgegenüber auf Eigenschaften des Textes. Mit dem Merkmal Reduplikation wird demnach offensichtlich etwas über die Domäne gesagt, auf der Interpunktionszeichen operieren. Das Merkmal [+REDUP] verweist darauf, dass das entsprechende Interpunktionszeichen auf Texteinheiten Bezug nimmt; Zeichen mit dem Merkmal [–REDUP] operieren auf grammatischen Einheiten. Die Gemeinsamkeit zwischen Divis und Gedankenstrich, also der Zeichen mit dem Merkmal [–VERT], war, dass sie an den Rändern von graphischen Ausdrücken operieren; sie besetzen oder konstituieren Anfangs- oder Endränder, weisen also Positionsbezug auf. Auslassungspunkte und Apostroph, Zeichen mit dem Merkmal [–VERT], operieren demgegenüber auf Einheiten, also auf ALIs oder auf Buchstabenformen (bMin/bMaj); sie weisen Einheitenbezug auf. Positionsbezug, wie er für Divis und Gedankenstrich kennzeichnend ist, war in Kapitel II, 3.3 als Hinweis auf die Verkettungsfunktion von Zeichen gewertet worden. Der Divis ist in die Verkettung von Buchstabenfolgen involviert, der Gedankenstrich in die Verkettung von Schriftwortfolgen. Beide instruieren zum vorzeitigen Verkettungsabbruch, gefolgt von der Suche nach einem Element, das geeignet ist, den Verkettungsprozess erfolgreich fortzusetzen. Eine genauere Rekonstruktion dieses Sprachverarbeitungsprozesses wird in den Kapiteln III, 2.2 und III, 2.3 vorgenommen. Einheitenbezug, wie er kennzeichnend für den Apostroph und die Auslassungspunkte ist, war in Kapitel II, 3.3 vorläufig als klassifizierend charakterisiert worden. Wiederum vorläufig gesprochen kennzeichnet der Apostroph eine Buchstabenfolge als irreversibel defekt/unvollständig, die Auslassungspunkte kennzeichnen eine Schriftwortfolge als irreversibel defekt/unvollständig. In Kapitel III, 2 wird diese Redeweise zugunsten einer OnlineBestimmung aufgegeben. Vorläufig entsteht folgende Übersicht:
Instruktionstyp
„Klassifizierung“ Verkettung
Abb. 2: Filler Merkmal [LEER]
[+VERT] [–VERT]
Domäne Struktur (Wort) Text [–REDUP] [+REDUP] ’ ... –
82
3.7 Schriftgrammatische Struktur der Klitika Zu den Klitika gehören die Zeichen der Klasse [+LEER] (vgl. Kap. II, 2.2). Zwei von ihnen können als obligatorisch paarige Zeichen schriftgrammatisch problemlos gesondert werden: Klammer und Anführungszeichen. Der Terminus Paarigkeit wird in der Interpunktionsliteratur meist verwendet, um Komma- und Gedankenstrichvorkommen mit verschiedenen syntaktischen Funktionen zu unterscheiden (exemplarisch Baudusch 1981,50 1983, Augst 1989, 1993, Gallmann 1985, 1996, Stetter 1997, Maas 1992, 2000): (1)
(i) (ii)
Hans, der Verräter und Mary Hans, der Verräter, und Mary
In (1) (i) steht diesen Ansätzen zufolge ein einfaches Komma, in (1) (ii) ein paariges.51 Um jedoch einem schriftgrammatischen Begriff von Paarigkeit zu genügen, müssen initiales und finales Element (a) obligatorisch realisiert sein und (b) in ihrer graphotaktischen Position unterschieden werden können. Beides ist bei der Klammer und den Anführungszeichen der Fall – initiale und finale Elemente werden obligatorisch realisiert (2) (iii), (iv); die initialen Elemente stehen proklitisch, die finalen enklitisch í, nicht aber beim Komma oder beim Gedankenstrich. Sie unterscheiden sich weder positional, noch ist das Zweitelement in jeder Umgebung obligatorisch (2) (i), (ii). (2)
(i) (ii) (iii) (iv)
Das Riesenrad war voll besetzt – zur Freude der Betreiber. *Das Riesenrad war voll besetzt – zur Freude der Betreiber –. Das Riesenrad war voll besetzt (zur Freude der Betreiber). *Das Riesenrad war voll besetzt (zur Freude der Betreiber.
Komma und Gedankenstrich können paarig gebraucht werden, sie sind es aber deshalb noch nicht. Zwischen der Eigenschaft, paarig zu sein, und dem paarigen Gebrauch von Interpunktionszeichen besteht ein ähnlicher Unterschied wie zwischen Adverbien (Wortkategorie) und adverbialer Bestimmung (Funktion). Und das Problem der Verwechslung von Kategorie und Funktion ist noch weiter verbreitet; weil zwischen Formen und Funktionen bei den Interpunktionszeichen nicht unterschieden wird, gilt das paarige Komma als eigene Kategorie. Konzentriert man sich auf die Klammer und die Anführungszeichen als einzige echt paarige Zeichen, fällt eine weitere Gemeinsamkeit auf: Sie verfügen als einzige über Formalternanz:
–––––––—–– 50 51
Baudusch spricht 1981 noch vom „Doppelkomma“; gemeint ist das auch von ihr später so bezeichnete „paarige“ Komma. Beispiel (1) zeigt übrigens die verheerende Wirkung von an der Topographie orientierten Regeln des Typs x steht vor y: „Kein Komma steht vor den anreihenden Konjunktionen, die eng zusammengehörige Satzteile verbinden“ (Duden 191986, R 101). In Bezug auf die Regelformulierung weist der Duden (222000) auf der Grundlage der AR 1996 einige Verbesserungen auf.
83 (3) (4)
Kl ( ) { } [ ] < > / / Af » « „“ ‚’ « »52
Unter graphetischer Perspektive gehören die Klammern und die Anführungszeichen zur Klasse [+VERT], zu der auch die Klitika Frage- und Ausrufezeichen gehören. Es wird zu zeigen sein, dass sich die graphetische Gemeinsamkeit ([+VERT] Aufbauelement) auch im Klitisierungsstatus von Klammern, Anführungszeichen, Fragezeichen und Ausrufezeichen niederschlägt.53 Verlässt man das Deutsche für einen Augenblick, erweist sich die Verwandtschaft zwischen Klammern und Anführungszeichen einerseits und Ausrufe- und Fragezeichen andererseits auch in graphotaktischer Hinsicht. Im Spanischen werden Frageund Ausrufezeichen wie die Klammern und die Anführungszeichen überall sonst bekanntermaßen wie folgt realisiert: (5)
¡Repasar géneros! ¿Cómo?
Durch die Feststellung, dass Frage- und Ausrufezeichen im Spanischen echt paarige Zeichen sind, soll nun aber kein Argument eingebracht werden, das nicht auch über sonstige graphotaktische Eigenschaften gedeckt wäre. Eine dieser auch im Deutschen realisierten graphotaktischen Eigenschaften ist, dass Klammern, Anführungszeichen, Ausrufezeichen und Fragezeichen wiederholt werden können ( ). Kein anderes Interpunktionszeichen kann so verwendet werden. Funktional entspricht die Wiederholung von Klammern und Anführungszeichen einer Einbettung. Die Wiederholung des Ausrufe- und des Fragezeichens ist beschreibbar als Intensivierung der von ihnen ausgedrückten Funktion. Intensivierung durch Iterierung ist im Deutschen auch aus anderen Zusammenhängen bekannt: Ausdrücke wie ohgottogottogott oder igittigittigitt, deren strukturelles und kommunikatives Potential m. W. bislang nicht hinreichend beschrieben ist, sind dem wiederholten Ausrufe- und Fragezeichen verwandt. Dass die Iterierungsstruktur keine festen Regeln aufweist, zeigt bereits die beliebige Anzahl der Wiederholung desselben Elements (Ehrlich??????, Oh Gott!!!!).54 Die verbliebenen vier Klitika, , gehören zur Klasse [–VERT]. Graphotaktisch weisen ein herausragendes Merkmal auf: fehlende Konkatenierbarkeit (s. o.). Argumentiert man mit Nunberg (1990), verweist diese Eigenschaft darauf, dass die klitische Position, die für einen bestimmten Interpunktionstyp reserviert ist, bereits belegt ist. Es kann also angenommen werden, dass denselben klitischen Slot besetzen. –––––––—–– 52
53 54
Die typographischen Formalternativen von Klammern und Anführungszeichen sind – wie gezeigt – zum Teil einzelsprachspezifisch, zum Teil werden sie für Funktionsdifferenzierungen benutzt (vgl. hierzu ausführlich Gallmann 1985). Die funktionale Gemeinsamkeit von Zeichen mit einem [+VERT] Aufbauelement wird abschließend in Kapitel IV, 2 diskutiert. Im Spanischen ist die Reduplikation von Frage- und Ausrufezeichen wie folgt geregelt: Bei einer Verdoppelung wird auch das initiale Zeichen verdoppelt: . Die Funktion ist dieselbe wie im Deutschen. Bei mehrfacher Reduplikation entfällt das initiale Element: Für diesen Hinweis danke ich Kay Gonzales.
84 In Kapitel II, 3.3 ist bereits ein Vorschlag für die schriftgrammatische Struktur des Punktes gemacht worden. Er besetzt einen durch Positionsverzweigung entstandenen klitischen Slot: (6)
Die Klitisierung von < . : , ; > SW AR
MB
ER
BU
BU*
BU
KLIT INTKLIT
Dieser Klitisierungsmodus wird im Folgenden P-Klitisierung (P für Position) genannt; das entsprechende Zeichen ist ein P-Klitikon. Funktional werden in der Regel als Interpunktionszeichen mit „syntaktischer Gliederungsfunktion“ erfasst (vgl. z. B. Baudusch 1981ff.). Der Punkt gilt als „Schließungszeichen“, Doppelpunkt, Semikolon und Komma gelten als „Satzmittezeichen“. Online formuliert wird der Leser instruiert, spezifische syntaktische Verknüpfungsoperationen auszuführen (vgl. detailliert Kap. III, 3.3), wobei unterschieden werden muss zwischen der Instruktion des Punktes, die syntaktische Verknüpfung vollständig abzuschließen, und den Instruktionen von Komma, Semikolon und Doppelpunkt, die nicht zu einem globalen Verknüpfungsabschluss instruieren. Zwischen Punkt einerseits und Semikolon, Doppelpunkt und Komma andererseits bestehen dann auch zwei schriftgrammatisch relevante Unterschiede: Nach dem Semikolon, dem Komma und dem Doppelpunkt kann kein weiteres Interpunktionszeichen stehen. Der Punkt kann dagegen mit schließenden Klammern und Abführungszeichen unmittelbar konkatenieren ( ). Sollte es richtig sein, dass ein klitischer Slot nur einmal besetzt werden kann (Nunberg 1990), weist dieser Befund darauf hin, dass Klammern und Anführungszeichen eine andere Klitisierungsstruktur aufweisen als der Punkt; diese Argumentation wird weiter unten aufgegriffen. Der zweite Unterschied wird im vorliegenden Zusammenhang direkt relevant: Der Punkt interagiert regelhaft mit der P-Majuskel, die die Einheit, die der Punkt nach rechts abschließt, nach links markiert. Im Zusammenhang mit der Definition von Paarigkeit (Obligatorik; graphotaktische Differenz) kann das Paar P-Maj – Punkt, wie Stetter bereits angenommen hat, zu den obligatorisch paarigen Schriftzeichen gerechnet werden. Dabei gilt das Symmetriegebot.
85 Symmetriegebot: Bei paarigen Interpunktionszeichen sind beide Elemente auf der gleichen Ebene klitisiert. Die Konstituentenstruktur des Paares P-Maj – Punkt ist in (7) angegeben (Wiederholung von Darstellung [17] aus Kap. II, 3.3). (7)
P-Majuskel und Punkt (Beispiel < Nein.>) SW AR
MB
ER
BU
BU*
BU
KLIT ÜL
INTKLIT b2 … bn-1
b1
b1Min
Analog zu dieser Struktur könnte nun für die beiden verbliebenen echt paarigen Interpunktionszeichen, die Klammern und die Anführungszeichen, die Struktur in (8) angenommen werden: (8)
Mögliche Struktur von Klammerkonstruktionen; SW AR
MB
ER
BU
BU*
BU
KLIT
KLIT INTKLIT
INTKLIT b1
Klini
b1Min
Wie die folgenden Beispiele aber zeigen, können Anführungszeichen und Klammern zwar am Anfang und am Ende von Schriftwörtern auftreten (vgl. 9 [i], [ii]), sie stehen aber auch wortmedial (vgl. 9 [iii] bis [vi]):
86 (9)
(i) (ii) (iii) (iv) (v) (vi)
(leider) „leider“ Bürger(innen) sieb(en)tens „Heimat“-Land Über„sprechungen“ (Günther 1988: 81)
Im Prinzip kann also neben jedem Buchstaben links und rechts eine Klammer oder ein Anführungszeichen stehen. Klammern und Anführungszeichen verhalten sich demnach wie die S-Majuskel, die nicht auf Wortränder festgelegt ist. Sie werden daher als S-Klitika erfasst. (10)
Anführungszeichen/Klammern als S-Klitika (Darstellung am Beispiel der Anführungszeichen unter Aussparung von KLIT und INTKLIT) (Beispiel ) SW AR
MB
ER
BU
BU*
BU
b1
b2 … bn-1
bn
b1Min Afini
Affin
Bei der Interaktion zwischen Klammern/Anführungszeichen und P-Majuskel müssen zwei Fälle unterschieden werden:
87 (11)
(i) Klitisierung an bMin/Maj
(ii) Klitisierung an ÜL
SW
SW
AR ÜL
AR
BU
ÜL Klini
b1 Klini
, auf Sätze. Satzsyntaktisches Parsing wurde mit Rayner & Pollatsek (1989) und Kleimann (1975) als subvokalisatorisch begleiteter Prozess bestimmt. Den Nachweis, dass Leser auf das Komma mit einem subvokalisatorischen Reflex reagieren, haben EKPMessungen erbracht (vgl. Steinhauer 2003). Schwieriger wird eine Beschreibung der Zeichen der Klasse [+REDUP]. Beide, Klitika und Filler, sind auf textuelle Einheiten bezogen. So scheint es, dass Doppelpunkt und Gedankenstrich, denen dieselben Eigenschaften zugewiesen wurden (Textbezug, Verkettung), dieselbe Funktion übernehmen. Ein Blick in die Interpunktionsliteratur zeigt, dass die Verwandtschaft zwischen dem Doppelpunkt und dem Gedankenstrich in der Tat in den meisten Interpunktionstheorien eine Rolle spielt (Mentrup 1983, Gallmann 1985, Stolt 1988). Die Ähnlichkeit zwischen Gedankenstrich und Doppelpunkt geht so weit, dass die AR 1996 in der Regelformulierung denselben Wortlaut verwenden. In den §§ 81 und 82 heißt es, mit dem Doppelpunkt bzw. mit dem Gedankenstrich „kündigt man an, dass etwas Weiterführendes folgt“. Die Doppelpunktregel ist damit komplett angegeben; die Gedankenstrichregel wird wie folgt fortgesetzt: „[...] oder dass man das Folgende als etwas Unerwartetes verstanden wissen will“. Der Unterschied zwischen Doppelpunkt und Gedankenstrich, der in Kapitel III, 3.3.4 noch einmal aufgegriffen wird, ist ein Unterschied zwischen verschiedenen Ebenen der Textrepräsentation: Das Auge ist nicht nur für die Worterkennung zuständig, sondern auch für das Anlegen einer Kartographie (Bertelson, Mousty & D’Alimonte 1985, Gross 1994). Das kartographische Wissen ist ein Bildwissen, das Zeilen, Abschnitte, Seiten etc. registriert, die funktional für die Kohärenz-/Kohäsionsbildung von Texten sind (vgl. Gumbert 1992, Sager 2000).
101 In kartographisch ikonischer Funktion erscheint der Gedankenstrich als Sonderzeichen im Listenmodus (vgl. Kap. II, 3.1.1) in seiner Funktion als „Streckenstrich“ (Schlossstraße 6–8, Sprechstunde 8–12). Gallmann (1985: 295) führt aus, dass die rechts und links vom Gedankenstrich stehenden Ausdrücke zumindest teilweise „wörtlich als Endpunkte einer ‚Strecke‘ zu begreifen“ sind. Die (lokale oder temporale) „Strecke“ ist durch den Gedankenstrich visualisiert. Im Textmodus werden die kartographischen Eigenschaften „bei Abbruch der Rede und beim Verschweigen eines Gedankenabschlusses“ (Duden 201991: 30f.) deutlich (Sei still, du –! Ebd.: 31). Der Gedankenstrich repräsentiert unter Ausnutzung der kartographischen Einheit Zeile eine der Äußerung fehlende Einheit, die dort stehen müsste, wo jetzt der Gedankenstrich steht. Außerdem übernimmt der Gedankenstrich im Textmodus die Visualisierung eines Teils der Zeile dort, wo er den Absatz substituiert (Gallmann 1985: 160, AR 1996: § 83). In dieser Gebrauchsweise nutzt er die kartographischen Gegebenheiten des Textes, indem er durch die visuelle Zeilenunterbrechung zu einer „Gedankenunterbrechung“ instruiert, die dann als „Themenwechsel“ oder als „Sprecherwechsel“ wirksam wird. Wie in Kapitel III, 3.3.4 ausführlich gezeigt wird, macht sich auch der Doppelpunkt eine topologische Eigenschaft zunutze. Allerdings nimmt er nicht auf die kartographische Topologie, sondern auf die syntaktische Topologie Bezug: Er „schiebt“ die Einheiten, die er markiert, in das linke oder rechte Außenfeld, in der sie textsteuernde Funktion übernehmen, woraus der „Ankündigungscharakter“ und damit die Textsensitivität des Doppelpunktes abgeleitet werden kann. Die Auszeichnung der optischen (Gedankenstrich) und der syntaktischen Topologie (Doppelpunkt) führt häufig zu ähnlichen Effekten (Plötzlich – ein vielstimmiger Schreckensruf!; Plötzlich: ein vielstimmiger Schreckensruf!, AR 1996: § 82). Beschreibt man nur die Resultate der graphischen Markierungen, wie es in der Interpunktionstheorie kanonisch geworden ist, führt dies eben zur Annahme, bestimmte Interpunktionszeichen erfüllten in derselben Umgebung dieselbe Funktion. Die hier zusammengetragenen Befunde können wie folgt generalisiert werden: Die Filler (Klasse [+LEER]) sind „Augenzeichen“. Sie regulieren Abweichungen bei der okulomotorischen Umsetzung graphischer Oberflächen (An-/Abwesenheit graphischen Materials) in sprachliche Strukturen/Bedeutungen (Wörter [–REDUP], textuelle Einheiten [+REDUP]). Die Klitika (Klasse [–LEER]) sollen „Subvokalisationszeichen“ genannt werden. Sie regulieren Abweichungen bei der subvokalisatorisch begleiteten Umsetzung graphisch kodierter Ausdrücke (Folgen identifizierter Schriftwörter) in sprachliche Strukturen/Bedeutungen (Sätze [–REDUP], textuelle Einheiten [+REDUP]). Dabei beziehen sich die Instruktionen der reduplizierten Zeichen, also < ... – > für die Klasse [+LEER] und < ( ) „“ : > für die Klasse [–LEER], andererseits auf unterschiedliche Dimensionen des Textes: Reduplizierte Zeichen der Klasse [+LEER] strukturieren die typographisch kodierte Kohärenz von Texten (sie zeigen Inkohärenz an). Reduplizierte Zeichen der Klasse [–LEER] strukturieren die mit graphischen Mitteln kodierte Informationsstruktur textueller Einheiten: Sie weisen den markierten Konstruktionen über noch zu diskutierende Interpretationsinstruktionen spezifische metakommunikative Eigenschaften zu (vorläufig gesprochen weist die Klammer eine textuelle Einheit als Nebeninformation/Erläuterung/ Nachtrag aus, die Anführungszeichen weisen sie als Einheit eines semiotischen Fremdsystems aus, und der Doppelpunkt macht sie zur Ankündigung).
102 Die Darstellungen aus Kapitel III, 1.2 zusammengenommen und ergänzt um den hier herausgearbeiteten Unterschied zwischen Subvokalisations- und Augenzeichen, ergibt sich die folgende Übersicht (Inf = Informationsstruktur, Ko = Kohärenz): Domäne
Instruktionstyp
[–REDUP]
[+REDUP]
Sprachsystem
Text
Wort
Satz
Inf
Ko
„Klassifizierung“
[+VERT]
’
!?
( ) „“
...
Verkettung
[–VERT]
-
.,;
:
–
[+LEER]
[–LEER]
[+LEER]
Subvokalisationszeichen Augenzeichen Kodiermodus Abb. 7: Merkmale und Funktionen
Im Folgenden wird es darum gehen, die Einzelzeichen in Bezug auf ihre Leseprozessrelevanz weiter zu profilieren (Online-Annahme). Dabei geht es nicht darum, sämtliche Konstruktionen zu beschreiben, bei denen ein Zeichen steht, sondern darum, den jedes Einzelzeichen (jede Zeichenklasse) fundierenden Sprachverarbeitungsmechanismus zu präzisieren. Im Resultat wird für jedes Zeichen/jede Zeichenklasse eine Leseprozessfunktion definiert. Polyfunktionale Bestimmungen wird es nicht geben.
2
Die Filler
2.1 Der Apostroph In der schriftgrammatischen Rekonstruktion (Kap. II, 3.6) wurde der Apostroph als ALISubstitut identifiziert und auf dieser Basis als type erfasst, der auf der lexikalischen Struktur von Wörtern operiert. Im offiziellen Regelwerk wird er in Übereinstimmung mit der älteren Kodifizierung sowie in Übereinstimmung mit weiten Teilen der Forschung als token definiert: „Mit dem Apostroph zeigt man an, dass man in einem Wort einen Buchstaben oder mehrere ausgelassen hat.“ (AR 1996: 1149) Weil diese Bestimmung nicht alle Fälle erfasst, werden Zusatz- bzw. Ergänzungsregeln erforderlich, die den Apostroph als Genitivmarker bei Eigennamen und den seit 1996 legitimierten Apostrophgebrauch des Typs , reguliert: „Von dem Apostroph als Auslassungszeichen zu unterscheiden ist der gelegentliche Gebrauch dieses Zeichens zur
103 Verdeutlichung der Grundform eines Personennamens vor der Genitivendung -s oder dem Adjektivsuffix -sch.“ (AR 1996: 1150, Ergänzungsregel) Damit ist die Auslassung als definierendes Merkmal auch offiziell aufgegeben. An ihre Stelle tritt eine polyfunktionale Charakterisierung des Apostrophs, die auch von Gallmann (1985, 1989) vertreten wird, der vier Apostrophfunktionen annimmt: (a) Normverstoßsignal , , (b) Suffixersatz , (c) Grenzsignal von Suffixen , (d) Abkürzungssignal , . Bunþiü (2002, 2004) vertritt demgegenüber ein monofunktionales Konzept. Er nimmt den Befund, dass der Apostroph nicht nur im Deutschen, sondern auch in anderen Sprachen häufig nicht mit Auslassungen koinzidiert – vgl. (b) und (c) – zum Anlass, ihn als Marker von Morphemgrenzen zu profilieren: „My thesis is that in fact most cases that are commonly explained by omission can just as well be explained by the ,separative‘ function of marking (mostly morphological) boundaries, so that instead of two functions [gemeint sind Auslassungen und Grenzmarkierungen, U. B.] of the apostrophe we get one.“ (Bunþiü 2002: 1) Die Annahme, die Kernfunktion des Apostrophs sei morphologisch separativ, ist für die Beispiele unter (c) nach Gallmann am plausibelsten. Auch dass der Apostroph dann nicht stehen kann, wenn durch eine Lautverschmelzung die Morphemgrenzen unkenntlich werden wie in für hast du (, ), spricht für die Annahme von Bunþiü. Bereits weniger plausibel wird sie beim Apostroph als Suffixersatz (vgl. [b]). Bunþiü meint, in diesen Fällen indiziere der Apostroph ein Nullmorphem. Das würde auch erklären, warum nicht nur die e-losen Imperativformen den Apostroph nehmen (was als Auslassung gedeutet werden könnte), sondern auch solche, bei denen das e im Imperativ gar nicht erscheinen kann o . 6 Das Problem des Ansatzes von Bunþiü ist, dass er nicht erklären kann, wann morphologische Grenzen mit dem Apostroph markiert werden und wann nicht. Morphemgrenzen stellen allerdings nicht nur keine hinreichende, sondern auch keine notwendige Bedingung für das Auftreten des Apostrophs dar, wie Bunþiü selbst festhält: Für Fälle wie engl. für , für , frz. für oder dt. für , in denen der Apostroph morphemintern steht, argumentiert Bunþiü, sie seien rein kolloquial und gehörten daher nicht zum Kernbestand des von ihm diskutierten Regelbereichs. Nun argumentiert Gallmann (1989) in Übereinstimmung mit großen Teilen der Forschung, eine der wesentlichen Funktionen des Apostrophs sei es, die Differenz zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Sprache auszugleichen, so dass gerade Fälle wie die von Bunþiü als Ausnahme bezeichneten einen der Kernbereiche der Apostrophverwendungen bilden sollten. Eine monofunktionale Bestimmung, mit der alle Apostrophfälle erfasst werden können, ergibt sich im Rahmen der Online-Perspektive. Danach stellt der Apostroph ein graphisches Reparaturzeichen für den Leseprozess dar: Vereinfacht gesprochen müssen bei der Wortrekodierung Buchstabenketten zwischen Leerzeichen paradigmatisch und syntagmatisch –––––––—–– 6
Belege für diesen Typ analoger Apostrophierungen finden sich in lyrischen Texten des 17. Jahrhunderts (vgl. aus Johann Grob [1643–1697]: Der Weltreihen, in: Deutsche Gedichte 2000 [22001]: 233). Möglicherweise handelt es sich hier um eine Art übergeneralisierten Gebrauch, der bei der Einführung bzw. bei der frequentativen Zunahme von Zeichen häufiger zu beobachten ist. – Solche Entwicklungen sind auch für Lernprozesse typisch.
104 erfasst werden. Bei der paradigmatischen Erfassung werden einzelne Buchstaben/Grapheme ausgewertet. Bei der syntagmatischen Erfassung geht es um die Verknüpfung von Buchstabenfolgen zu Silben, Morphemen und Wörtern. Beide, die paradigmatische und die syntagmatische Struktur von Wörtern, können spezifische Defekte aufweisen. Ein paradigmatischer Defekt liegt vor, wenn eine für die erfolgreiche Rekodierung erforderliche Kategorie nicht ausgedrückt ist (*Hans Geburtstag ĺ Hans’ Geburtstag, 7 *havent ĺ haven’t). Ein syntagmatischer Defekt liegt vor bei abweichender Graphotaktik (*mitm ĺ mit’m) oder dann, wenn Morphem- oder Wortgrenzen nicht hinreichend sichtbar sind (wie gehts ĺ wie geht’s, Andreas ĺ Andrea’s). 8 In allen Fällen repräsentiert der Apostroph eine graphisch nicht auf andere Weise ausgedrückte, für die erfolgreiche Worterkennung relevante Information (phonologisch, syntaktisch, prosodisch, morphologisch, lexikalisch). Zur Behebung des mit dem Apostroph indizierten Wortdefekts wird der Leser vom Rekodierer zum Enkodierer: Er liest nicht mehr ausgedrückte Wortinformationen aus der Konstruktion heraus, sondern muss die nicht ausgedrückte, mit dem Apostroph lediglich indizierte Information in die Konstruktion hineinlesen. Die Konzeptualisierung des Apostrophs als Enkodierinstruktion an den Leser ist nicht ein einfacher Perspektivenwechsel von der schreiberseitigen Auffassung, der Apostroph sei ein Auslassungszeichen. Die Position, nach der mit dem Apostroph angezeigt wird, „dass man in einem Wort einen Buchstaben oder mehrere ausgelassen hat“ (AR 1996), gerät genau dort in Schwierigkeiten, wo der Rekodierprozess nicht wegen fehlender Buchstaben, sondern wegen des Fehlens von overt ausgedrückten grammatischen Kategorien oder des Fehlens optisch salienter Silben- oder Morphemgrenzen erschwert ist. Am problematischsten ist die herkömmliche Auffassung, der Apostroph stehe für ausgelassene Buchstaben, für Verschmelzungen von Präposition und Artikel des Typs , für die Nübling (1992) detailliert nachgewiesen hat, dass Vollform und reduzierte Form gerade nicht verschiedene Varianten desselben Ausdrucks sind, sondern verschiedene syntaktische Einheiten, die aus der Grammatikalisierung artikulatorisch bedingter Reduktionen entstanden sind ( vs. *). Nübling (1992: 307f.) schreibt dazu: Wir stellen fest, daß die Präp.-Art.-Vschmf.en [Verschmelzungsformen, U. B.] dann von der Orthographie erfaßt werden, sobald der Artikel kein einfaches, sondern ein spezielles Klitikon bildet: 9 Als solches ist er funktionalisiert, d. h. er tritt obligatorisch auf und ist nur gene-
–––––––—–– 7
8
9
Die Notwendigkeit dieser Auszeichnung ergibt sich Gallmann zufolge aus der syntaktischen Distribution von Eigennamen, die in der Regel ohne Artikel gebraucht werden und bei denen die Kasusmarkierung daher an dem entsprechenden Ausdruck selbst erfolgen muss. Das unterscheidet Eigennamen von Substantiven, bei denen der Kasus durch den Artikel diskriminiert wird (z. B. Simplex, Skarabäus, Modus, Typus, Dax, Kibbuz). Bei ihnen wird trotz morphologischer Unterspezifikation des Substantivs kein Apostroph gesetzt. Dabei ist der letzte Fall (Sichtbarmachen von Morphem- oder Wortgrenzen) optional: Vor 1996 waren Schreibweisen wie und verboten, seit 1996 sind sie erlaubt, aber nicht obligatorisch. Als „einfache“ Klitika definiert Nübling diejenigen, die dieselbe syntaktische und funktionalsemantische Distribution wie ihre Vollformen aufweisen und daher stets von ihnen substituiert
105 risch/monosemantisch verwendbar. Der entsprechende volle Artikel vermag dann ausschließlich phorische Bezüge zu leisten. Genau die sechs Formen [...] im, am, zur, zum, beim, vom[,] läßt die DUDEN-Grammatik für die Hochsprache gelten. [...] Hier ist die Diskrepanz zwischen enklitischem und vollem Artikel am größten.
Entsprechend indiziert der Apostroph in Fällen wie mit’m, durch’n, bei denen eine orthographisch vollständige Integration zu graphotaktischen Abweichungen führen würde (* *), eine Silbengrenze (möglicherweise zugleich eine Morphemgrenze), nicht phonologisches Material. Verfolgt man den Apostroph in seiner historischen Entwicklung, so reflektiert die Auslassungsposition frühe Schriftstufen. Frühe Belege für den Apostroph datieren auf das 16. Jahrhundert. 10 Er ist zu dieser Zeit „a peculiarity of written language: it was intended as a sign to indicate the elision of a vowel“ (Parkes 1993: 55). Vokalelisionen spielen vor allem in lyrischen Texten eine Rolle, von wo aus der Apostroph seine Karriere startet. Markiert werden seit dem 16., verstärkt dann im 17. Jahrhundert 11 Positionen, deren Silbenstruktur aus Gründen des Versmaßes reduziert werden muss. Folgerichtig entfällt das den Nukleus indizierende Vokalgraphem. Voraussetzung für die Verwendung des Apostrophs ist ein kulturell verfestigtes Wissen um die Differenz zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache: Erst dann, wenn eine von der Abbildung der gesprochenen Sprache abstrahierte Schriftauffassung kulturell verankert ist, wird die Markierung einer orthographischen Auslassung, um eine spezifische Lautung zu realisieren, überhaupt möglich. Nicht zufällig also fällt die Verbreitung und Standardisierung des Apostrophs in die Zeit der „Demotisierung“ der Schrift (Maas 2000); in eine Zeit, in der der Unterschied zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Sprache offenkundig wird. Das Potential des Apostrophs, die Differenz zwischen gesprochener und geschriebener Sprache kenntlich zu machen, wird dann auch bald in dramatischen Texten genutzt, um die gesprochensprachliche Spezifik von Figurenreden anzuzeigen (Parkes 1993). In seinen frühen Verwendungen hat der Apostroph also den Status eines token. Er substituiert ausgelassene Buchstaben. Für die Weiterentwicklung zum type sind Verwendungen entscheidend, bei denen Buchstabenauslassungen mit Silben-/Morphemgrenzen zusammenfallen wie bei wen’gen oder heil’gen. Aus diesen Schreibungen werden die neuen, syntagmatischen Funktionen des Apostrophs abgeleitet (Klein 2002). Die Kodifizierung des Apostrophs im 20. Jahrhundert, die ihn analog zu den historisch frühen Verwendungen als „Auslassungszeichen“ interpretiert, hält mit dieser Entwicklung nicht Schritt. Die Diskrepanz zwischen Norm und Gebrauch, die sich – wie zu Beginn des Kapitels illustriert – beim Apostroph in besonderer Weise bemerkbar macht, ist Ausdruck der Differenz zwischen der Normierung des Apostrophs als token und seinem Gebrauch als type.
–––––––—–– 10
11
werden können. Spezielle Klitika sind solche, die sich syntaktisch und funktional-semantisch von ihrer Vollform emanzipiert haben. Klein (2002) verfolgt erste Vorkommen des Apostrophs in weit frühere Epochen zurück; eine systematische Verwendung ist wohl aber erst seit dem 17. Jahrhundert zu verzeichnen. In deutschen Interpunktionslehren wird der Apostroph zuerst 1641 von Schottel erwähnt. Über theologiegeschichtliche Hintergründe informiert Maas (2003).
106
2.2 Der Divis Für die in der Tradition unterschiedenen drei Divisvorkommen – Trennstrich, Ergänzungsbindestrich und Bindestrich – wurde in Kapitel II, 3.6 argumentiert, dass es sich um verschiedene Gebrauchsweisen desselben Zeichens handelt, das über eine all diesen Verwendungen zugrundeliegende Kernfunktion verfügt. Diese wurde in Korrespondenz mit dem Merkmal [–VERT] als spezifische Verkettungsinstruktion (Verkettungsabbruch) beim Aufbau lexikalischer/syntaktischer Wörter bezeichnet. Konstituentenstrukturell wurde dem dadurch Rechnung getragen, dass der Divis eine einfache Buchstabenfolge (BU*) in eine Buchstabenkette (BUkt) überführt. Eine mit dem Bindestrich markierte Worteinheit (BUkt) wird im Arbeitsgedächtnis zwischengespeichert und mit einer weiteren Worteinheit zu einem lexikalischen/syntaktischen Wort verknüpft. Die verschiedenen Divisvorkommen (Trennstrich, Bindestrich und Ergänzungsbindestrich) unterscheiden sich danach, wie Vorgänger- und Folgeeinheiten beschaffen sind und wo die Folgeeinheit (beim Ergänzungsbindestrich auch eine Vorgängereinheit) aufzufinden ist. Bei der Rekonstruktion der Divisfunktion müssen wir unterscheiden zwischen einem Leseereignis (beim Trennstrich etwa: Erfassen der BUkt am Zeilenendrand, Zeilensprung, Erfassen der BU* am Zeilenanfangsrand, Verknüpfen von BUkt und BU* zu einem syntaktischen/lexikalischen Wort) und der orthographischen Struktur (z. B. das vor 1996 geltende Trennungsverbot von ). Am Beispiel des Trennstrichs wird im Folgenden ausführlicher gezeigt, dass die Erfordernisse des jeweiligen Leseereignisses und die orthographische Struktur optimal angepasst sind. Das Verhältnis zwischen Leseereignis und orthographischer Struktur bei Ergänzungsbindestrich- und Bindestrichkonstruktionen wird skizziert. Der Divis als Trennstrich Wie Saenger (1997) nachgewiesen hat, kommt der Divis als Korrekturzeichen in die Schrift (Kap. II, 3.6). Er steht in der Zeit, in der sich das Spatium als Worttrenner durchzusetzen beginnt, zur Verhinderung von Verlesungen dort, wo versehentlich zu große Leerräume entstanden waren. Nach der Durchsetzung und räumlichen Standardisierung des Wortzwischenraums ist der Divis in seiner alten Funktion nur noch an einer Stelle brauchbar: am Zeilenende. Denn dort kann weiterhin auftreten, was zuvor, in der Epoche des arreated writing (Saenger 1997), auch zeilenintern reguliert werden musste: ein nicht mit einer Wortgrenze koinzidierender Leerraum. (a) Die Worttrennung am Zeilenende als Leseereignis Dass der Zeilenumbruch ein kritisches Ereignis im Leseprozess ist, wurde vielfach betont (exemplarisch Günther 1988; Maas 2000).12 Ist an der Stelle des Zeilensprungs zusätzlich eine Worttrennung zu bewältigen, führt dies zu folgenden mentalen/okulomotorischen Aktivitäten: –––––––—–– 12
Die in frühen griechischen Schriftzeugnissen belegte Boustrophedon-Schreibweise, in der die Schreib-/Leserichtung in jeder Zeile wechselt, kann als eine Strategie gelten, diese Aktivität zu unterdrücken. Durchgesetzt hat sie sich in keiner Schriftkultur (vgl. dazu Primus 2007 und Bredel 2007).
107 Leser aktional (okulomotorisch) Landeplatz der Saccade am Zeilenende (Fixation/Wahrnehmung des Trennstrichs bzw. der unmittelbaren Trennstrichumgebung)
mental
Verkettungsabbruch Sistieren der lex./synt. Wortinterpretation Speichern von BUkt im Arbeitsspeicher Zeilensprung (lange linksgerichtete Saccade und Fixation des Anfangselements der Folgezeile [= BU*]) Rekodieren von BU* Verknüpfen des gespeicherten Bestandteils (BUkt) mit dem aktuell rekodierten Bestandteil (BU*) zu einem syntaktischen Wort Abb. 1: Mentale und aktionale Tätigkeiten bei der Verarbeitung von Trennstrichkonstruktionen
Sollte die Orthographie, wie es hier vertreten wird, die mentalen Lesetätigkeiten optimal unterstützen, ist davon auszugehen, dass mit den orthographischen Regeln der Worttrennung optimale Einheiten zur Speicherung sowie optimale Einheiten zur Vervollständigung zur Verfügung gestellt sind. Die Regeln der Silbentrennung dürften demnach Auskunft über psycholinguistische Verfahren des Worterkennens geben. (b) Die Worttrennung am Zeilenende als orthographisches Ereignis Eine optimalitätstheoretische Rekonstruktion der Worttrennung am Zeilenende liegt mit Geilfuß-Wolfgang (2002) vor (folgende Darstellung unter Verwendung der hier eingeführten Begriffe BUkt und BU*): (i) (ii) (iii) (iv) (v) (vi)
ONS BU* hat einen gefüllten Onset * NUC BU* enthält mindestens ein Vokalgraphem *, * *COMPLEXONS Im Onset von BU* steht höchstens ein Konsonantengraphem * RECOVERGRAPHEME Mehrelementige Grapheme können nicht getrennt werden * MARGINS Die linke Grenze von BU* ist eine mögliche linke Wortgrenze *, * COMPLEXNUC Eine orthographische Silbe enthält höchstens ein Vokalgraphem
108 (vii)
ALIGNL Linke Kanten von Stämmen und morphologischen Wörtern koinzidieren mit linken Kanten von BU* *, * 13
Geht man davon aus, dass die Gesetzmäßigkeiten mit den von Geilfuß-Wolfgang formulierten Constraints erfasst sind, ist Folgendes bemerkenswert: Fünf der sieben Constraints í (i), (ii), (iii), (v) und (vi) í beziehen sich auf das silbische Design von BU*; sie geben BU* eine optimale silbische Kontur (vgl. [1]). Constraint (iv) zeigt, dass die Trennung nicht auf Buchstaben, sondern auf Graphem-Ebene ansetzt. Mit (vii) wird eine morphologische Größe ins Spiel gebracht (dazu weiter unten). (1)
ı O
N
C-Graphem V-Graphem Dass die angegebene Struktur optimal ist, wird bei Primus (2003) gezeigt. Sie erarbeitet einen modalitätsunabhängigen Silbenbegriff, für den sie eine einfache binäre Alternation zwischen prominenten und nicht-prominenten Einheiten ansetzt. Für die phonologische Silbe formuliert sie eine Gipfel-Beschränkung und zwei Rand-Beschränkungen: Gipfel-Beschränkung: Jede Silbe hat genau eine segmental assoziierte V-Position. Rand-Beschränkungen: a. Onset-Gebot: Jede Silbe hat genau eine segmental assoziierte Onset-Position. b. Koda-Verbot: Jede Silbe hat eine leere Koda (d. h. keine Silbe hat eine segmental soziierte Koda). (Primus 2003: 20)
as-
Dass die Constraints zur Trennung am Zeilenende dafür Sorge tragen, dass BU* eine optimale silbische Struktur aufweist, geht auf Kosten der Koda der BUkt und auf Kosten der morphologischen Struktur der Einheit, die in BUkt steht , etc. Überschrieben werden können die Constraints (i) bis (vi) nur dann, wenn BU* ein Stamm ist. In diesem Fall greift Geilfuß-Wolfgang (2002) zufolge der am höchsten rangierende Constraint ALIGNL. Die BU* wird nicht mehr als optimale Silbe konfiguriert, sondern unterliegt lexikalischen Zwängen (2): (2)
Garten-zwerg *Gartenz-werg ver-erben *ve-rerben –––––––—–– 13
Etwas andere Constraints werden in Geilfuß-Wolfgang (2007) angenommen.
109 Nun gilt trivialerweise: Wenn BU* ein Stamm ist, dann ist auch BUkt eine morphologische Einheit (ME). Ist BU* kein Stamm, dann kann, muss BUkt aber nicht eine morphologische Einheit sein (vgl. [3]): (3)
(i) (ii)
Krank-heit (BUkt = ME) Lei-tung (BUkt ME)
Es können also zwei Fälle unterschieden werden: 1. [ME] + [MEStamm] 2. [Silbe] + [Silbe] Eine dritte, denkbare Struktur ist orthographisch nicht fixiert: 3. [ME] + [ME–Stamm] Wenn sie auftritt (vgl. 3 [i]), ist dies silbenstrukturell bedingt. Das, was als lexikalische oder morphologische Bedingung der Worttrennung am Zeilenende gilt und was Geilfuß-Wolfgang (2002) mit Constraint (vii) erfasst, erscheint nun eher als das Werk des phonologischen Wortes Ȧ. Für das Deutsche gilt im Prinzip: (4)
(i) (ii) (iii)
Stamm + Stamm ĺ ([Stamm]Ȧ + [Stamm]Ȧ) Wort Präfix + Stamm ĺ ([Präfix]Ȧ + [Stamm]Ȧ) Wort Stamm + Suffix ĺ ([Stamm + Suffix]Ȧ)Wort
Bei komplexen Wörtern befinden sich die Trennstellen an der Grenze von phonologischen Wörtern. Probleme/Zweifelsfälle bei der Worttrennung ergeben sich, wenn die Grenze des phonologischen Wortes durch wortinterne Junkturtilgung verletzt wird. Darauf weisen auch frühe Worttrennungsvorschläge der Reformkommission von 1989 (zit. nach Günther 1990: 200) hin: „Bei bestimmten Gruppen (sprachhistorisch bzw. von der Herkunftssprache her gesehen) zusammengesetzter Wörter kann man nach der Gliederung in Silben oder nach den bedeutungstragenden Wortbestandteilen trennen.“ Als Beispiele werden angeführt: (5)
(i) (ii) (iii) (iv) (v) (vi) (vii)
hin-auf vs. hi-nauf her-an vs. he-ran dar-um vs. da-rum war-um vs. wa-rum ei-nander/ein-ander voll-enden vs. vol-lenden [sic!] Lieben-au vs. Liebe-nau
110 Diesem Vorschlag folgen die AR 1996: § 112 Wörter, die sprachhistorisch oder von der Herkunftssprache her gesehen Zusammensetzungen sind, aber oft nicht mehr als solche empfunden oder erkannt werden, kann man entweder nach § 108 bis § 110 oder nach § 111 trennen. 14 Als zusätzliches Beispiel wird neben den oben angeführten Klein-od vs. Klei-nod genannt. 15 Es handelt sich bei den Konstruktionen unter (5) sowie bei Kleinod nicht zufällig um Beispiele, bei denen der jeweils zweite morphologische Bestandteil phonologisch mit dem glottal stop beginnt, der für Junkturtilgungen besonders anfällig ist (vgl. z. B. ver.ein ĺ ve.rein, über.all ĺ übe.rall, hierzu Nübling 1992: 13). Die Konsequenz der Junkturtilgung ist Nübling (1992: 17) zufolge, „daß die klitische Verbindung der Silbenstruktur der betreffenden Sprache unterworfen wird“. Hat sich die Junkturtilgung weit genug durchgesetzt, werden die entsprechenden Ausdrücke als Simplizia identifiziert. In der Schrift getrennt wird dann auf der Grundlage der Constraints (i) – (vi), also , . Gegen die herkömmlichen Auffassungen, die Worttrennung am Zeilenende sei silbischen und morphologischen Eigenschaften zugänglich, wurden hier die (optimale) Silbe sowie das phonologische Wort als relevante Domänen für die Worttrennung angenommen. Die Morphologie ist lediglich sekundär, durch den regelhaften Zusammenfall der Anfangsränder von Stämmen mit phonologischen Wörtern trennungsrelevant; auslösend ist sie nicht. Die Worttrennung als Lese- und als orthographisches Ereignis verknüpfend kann nun Folgendes angenommen werden: Wie gezeigt werden konnte, ist das Auge bei der Verarbeitung der Worttrennung am Zeilenende mit der äußerst aufwendigen Aufgabe beschäftigt, einen Zeilensprung zu unternehmen. Der Vokalisationstrakt ist in diese Tätigkeit nicht eingespannt. Er ist daher für die Übernahme anderer Aufgaben frei. Die Orientierung der Worttrennung an prosodischen Einheiten ist daher weit mehr als plausibel. Die Orthographie macht sich bei der Worttrennung am Zeilenende offensichtlich die subvokalisatorische, auf prosodische Kontinuierung orientierte Tätigkeit beim Wortaufbau zunutze. Diese Auffassung gewinnt im Licht der psycholinguistischen Forschung zur Worterkennung Plausibilität: Wie Günther (1987) gezeigt hat, werden präfigierte Wörter bei der Worterkennung nicht morphologisch zerlegt, sondern als Ganze rezipiert. Die von Taft et al. gewonnenen Erkenntnisse (dargestellt in Günther 1987, 1988 und Rayner & Pollatsek 1989), nach denen komplexe Wörter morphemweise gespeichert werden, erweisen sich Günther (1987) zufolge als experimentell induziertes Artefakt. Die morphologischen Einheiten sind Lesern/Hörern zwar prinzipiell zugänglich, werden im Normalfall aber nicht aktiviert. Ob die Silbe eine primäre rezeptive Einheit ist, ist nicht gesichert (Butt & Eisenberg 1990, Grümmer & Welling 2002). Aber auch wenn es sich bei der Aktivierung der Silbe um eine sekundäre Rezeptionsstrategie handelt, ist sie als Artikulationseinheit besser geeignet, die Worttrennung am Zeilenende zu regulieren, als das Morphem, das nur im –––––––—–– 14 15
§ 108 bis § 110 geben silbenbezogene Trennvorschriften, § 111 morphologische. Ebenso werden Trennungsvorschriften für Fremdwörter angegeben. Dieses Problem bleibt hier unberücksichtigt.
111 Glücksfall einer Artikulationseinheit entspricht: Mit der Aktivierung phonologischer Strukturen bei der Trennung am Zeilenende können Vokalisationstrakt und Auge sich die Arbeit bei der Rezeption von Worttrennungen am Zeilenende teilen. Das Auge übernimmt den Zeilensprung, die Subvokalisation ist mit der Speicherung und Weiterverarbeitung des lexikalischen Eintrags beschäftigt. Allerdings wird in neueren Untersuchungen von Geilfuß-Wolfgang (2007) die Überlegenheit des Morphems bei der Trennung von Komposita betont; Leser/innen brauchen weniger Zeit zum Lesen von an Morphem- resp. Stammgrenzen getrennten Komposita (Schlüssel-bund) als zum Lesen von Komposita, die an Silbengrenzen getrennt sind (Schlüs-selbund), was Geilfuß-Wolfgang darauf zurückführt, dass bei der Morphemtrennung der lexikalische Zugriff auf den Erstbestandteil bereits bei der ersten Fixation gelingt. Auf monomorphemische Ausdrücke sind diese Ergebnisse naturgemäß nicht übertragbar. Der Divis als Ergänzungsbindestrich Ganz anders als die Einheiten bei der Zeilentrennung sehen die Einheiten beim Ergänzungsbindestrich aus. Und auch die Ablaufstruktur beim Lesen verändert sich (s. u.). Wie beim Trennstrich ist jedoch davon auszugehen, dass Ablaufstruktur und zu verknüpfende Einheiten optimal aufeinander abgestimmt sind bzw. umgekehrt, dass die spezifischen Restriktionen bei Ergänzungsbindestrichkonstruktionen, die nicht orthographisch, sondern wortsyntaktisch erklärt werden müssen, rezeptionspsychologisch motiviert sind. Der Ergänzungsbindestrich reguliert spezifische morphologische Koordinationsstrukturen. Als placeholder (Kap. II, 3.6) substituiert er regelhaft einen Wortbestandteil innerhalb einer koordinativen Verknüpfung und bildet zusammen mit dem Ausdruck, in dem das substituierte Wortelement verbalisiert ist, eine höhere Konstituente, die einfach (6) oder komplex sein kann (7). (6)
NGr
Monats- oder Jahreskarten
(7)
S IGr IGr N Er
IGr
V half, die Hütten auf- und die Zelte abzubauen
Erforderlich ist die unmittelbare Adjazenz der Koordinationseinheiten, in denen ein Konjunkt ergänzt werden muss: *Binde- und Komma und Trennstrich.
112 Die semantischen Restriktionen für die Ergänzungsbindestrichkoordination sind dieselben, wie sie bereits Lang (1977) für die koordinative Verknüpfung syntaktischer Konstituenten herausgearbeitet hat. Dass Konstruktionen wie *üb- und lieblich oder *reit- und laufen nicht lizenziert sind, verweist darauf, dass nicht alle morphologischen Einheiten einer reduzierten Koordinationsstruktur zugänglich sind. Dieser Zusammenhang kann hier jedoch nicht weiterverfolgt werden. In der Regel wird davon ausgegangen, dass es sich bei unvollständigen Konstruktionen in koordinativen Strukturen um das Resultat von Tilgungsprozessen ursprünglich vollständiger Einheiten handelt. Unterschieden werden dann Rückwärts- und Vorwärtstilgung: (8) Rückwärtstilgung Substituenten isolierter Bestandteil auf
getilgter standteil bauen
Be-
Konjunktion und
modifizierter Bestandteil ab
verbalisierter Bestandteil bauen
zu rekonstruierende Einheit (9) Vorwärtstilgung Substituenten verbalisierter Bestandteil Verkehrs
modifizierter Bestandteil steuerung
Konjunktion und
getilgter standteil Verkehrs
Be-
isolierter Bestandteil überwachung
zu rekonstruierende Einheit Ein dritter Typ ergibt sich aus der regelhaften Interaktion zwischen Vorwärts- und Rückwärtstilgung (Warenein- und -ausgang). Im Randbereich bewegen sich Konstruktionen wie Glas- und keramische Industrie oder Baumwoll- und andere Stoffe (vgl. hierzu Askedal 2001). Vorwärts getilgt wird dann, wenn der zu tilgende Bestandteil am rechten, der wiederholte Bestandteil am linken Rand einer Konstruktion steht: Schul-bücher und Schul-hefte o Schulbücher und -hefte (*-bücher und Schulhefte). Rückwärts getilgt wird entsprechend dann, wenn der zu tilgende Bestandteil den linken und der wiederholte Bestandteil den rechten Rand einer Konstruktion bildet: be-laden und ent-laden o be- und entladen (*beladen und ent-). Dasselbe trifft auf syntaktische Tilgungsprozesse zu (Eisenberg 1999 [22004]: 455). Dabei sind „links“ und „rechts“ im besten Sinn Oberflächenkriterien. Entscheidend ist nicht die Funktion eines Ausdrucks, sondern die Oberflächensukzession (10): (10)
(i)
Den Garten hat Maria gegossen und den Garten hat Hans gejätet.
113 (ii) (iii) (iv) (v) (vi) (vii)
Den Garten hat Maria gegossen und Hans gejätet. Maria hat den Garten gegossen und Hans hat den Garten gejätet. *Maria hat den Garten gegossen und Hans gejätet. Egon hat die Mäuse gejagt und der Vater hat die Mäuse gefangen. *Egon hat die Mäuse gejagt und der Vater gefangen. Die Mäuse hat Egon gejagt und der Vater gefangen.
Das Konzept der Tilgung beruht darauf, dass eine Einheit in einer im Prinzip vollständigen Konstruktion nachträglich entfernt wird und ist nicht konform mit der hier präferierten prozeduralen Perspektive, nach der Konstruktionen nicht nachträglich dekomponiert resp. reduziert werden, sondern nach der sprachliche Einheiten inkrementell von links nach rechts synthetisiert werden. Auch Zifonun et al. (1997: 2372) nehmen an, dass bei der Verarbeitung von Tilgungen in syntaktischen Koordinationen „im ‚Arbeitsspeicher‘ eine Parallelstruktur aufgebaut wird und durch – Re- und Präorientierungen erfordernde – Verknüpfung eine Integration stattfindet“. Wenn die Ausdrücke Vorwärts- und Rückwärtstilgung hier weiterverwendet werden, so ist das die Etikettierung eines Phänomens ohne ontologischen Wert. Was die Modellierung des Gegenstands betrifft, werden die (für die vorliegenden Zwecke hinreichenden) Ablaufmuster in Abb. 2 und 3 zugrundegelegt: Leser aktional (okulomotorisch) mental Fixation/Wahrnehmung des Ergänzungsbindestrichs bzw. der unmittelbaren Umgebung Verkettungsabbruch Sistieren der lex. Wortinterpretation Speichern von BUkt im Arbeitsspeicher Saccaden/Fixationen auf weitere graphische Einheiten (z. B. und, Komma ...) Rekodieren weiterer SW* Rekodieren von SW, das BU* enthält Isolieren von BU* Verknüpfen des gespeicherten Bestandteils (BUkt) mit dem aktuell rekodierten Bestandteil (BU*) zu einem syntaktischen/lexikalischen Wort Abb. 2: Die Ablaufstruktur beim Einlesen von Ergänzungsbindestrichkonstruktionen am Beispiel der sog. Rückwärtstilgung
114
Leser aktional (okulomotorisch) Fixation/Wahrnehmung des Ergänzungsbindestrichs bzw. der unmittelbaren Umgebung
mental
Realisieren eines Verkettungsdefekts (BUkt) Aufrufen eines SW im Arbeitsgedächtnis, das BU* enthält Verknüpfen von BU* mit BUkt zu einem lexikalischen/syntaktischen Wort Abb. 3: Die Ablaufstruktur beim Einlesen von Ergänzungsbindestrichkonstruktionen am Beispiel der sog. Vorwärtstilgung
Vorwärts- und Rückwärtstilgung stellen verschiedene Anforderungen an den Rezipienten. Für die syntaktische Koordination gilt: „Vorwärtstilgung ist generell unrestringierter als Rückwärtstilgung, weil der Satz von links nach rechts geäußert bzw. wahrgenommen wird, das rechte Konjunkt also leichter ‚vervollständigt‘ werden kann als das linke.“ (Eisenberg 1999 [22004]: 508) Bei Ergänzungsbindestrichkonstruktionen verhält es sich nun genau umgekehrt. Hier unterliegt die Vorwärtstilgung nicht nur quantitativ (Gallmann 1989), sondern auch qualitativ stärkeren Restriktionen als die Rückwärtstilgung, was in Konstruktionen mit Derivationsmorphemen deutlich wird: (11)
Rückwärtstilgung (i) Zusammen- und Getrenntschreibung (ii) auf- und umbauen (iii) be- und entladen (iv) Freund- und Feindschaft
(12)
Vorwärtstilgung (i) Schulbücher und -hefte (ii) *aufwachen und -stehen (iii) *er hat die Ware bezahlt und -kommen (iv) *lösbar und -lich
Wie die Ablaufstruktur in Abb. 2 zeigt, ist der Leser bei der Rückwärtstilgung auf das Eintreffen einer BU* vorbereitet, die die gespeicherte BUkt vervollständigt; die entsprechenden Konstruktionen sind relativ unrestringiert. Warum aber kann bei der Vorwärtstilgung das rechte Konjunkt nicht in allen Fällen vervollständigt werden, obwohl dem Leser die morphologische Information, die er benötigt, bereits zur Verfügung steht? Im Gegensatz zu Konstruktionen mit Rückwärtstilgung müss-
115 ten die Derivationsmorpheme bei Konstruktionen mit Vorwärtstilgung nachträglich aus einer bereits verarbeiteten Wortform heraus isoliert werden (Abb. 3). Dass dies nicht möglich ist, trifft sich nun wieder mit den bereits angesprochenen Ergebnissen der psycholinguistischen Forschung, wonach Derivationsstrukturen bei der Rezeption nicht dekomponiert werden (Günther 1987, s. o.). Trifft eine BUkt (bzw. in der gesprochenen Sprache eine entsprechende Einheit) zu einem Zeitpunkt ein, zu dem das benötigte Derivationsmorphem bereits in einer komplexen Wortform bearbeitet ist, kann dieses nicht mehr restituiert werden. Der Befund, dass Vorwärtstilgung in Kompositionen möglich ist, zeigt aber, dass zwischen der Rezeption derivativer und kompositioneller Konstruktionen bezüglich der Verfügbarkeit morphologischer Einheiten im Arbeitsgedächtnis Unterschiede bestehen. 16 Der Divis als Bindestrich Der Bindestrich steht bei morphologisch komplexen Ausdrücken. Sowohl die dem Divis vorangehende als auch die dem Divis folgende Buchstabenfolge ist ein lexikalisches Wort (See-Elefant, Österreich-Ungarn) (vgl. Kap. II, 3.6). Laut AR 1996 dient diese Auszeichnung dazu, „die einzelnen Bestandteile als solche zu kennzeichnen, sie gegeneinander abzusetzen und sie dadurch für den Lesenden hervorzuheben“ (Schreibung mit Bindestrich, Vorbemerkungen, Duden 242006: 1178f.). Erreicht wird dies dadurch, dass vor der Anwendung von Wortbildungsregeln jeder separierte Wortbestandteil einzeln lexikalisch verarbeitet wird. Deshalb ist der Bindestrich bei Kompositionen mit Fugenelementen prinzipiell weniger akzeptabel – denn das Fugenelement kann bei einer isolierten lexikalischen Interpretation nicht ausgewertet werden. Ein weiterer Indikator dafür, dass bei Bindestrichschreibungen eine separate lexikalische Erarbeitung erfolgt, sind die Großschreibungsregularitäten, die, wenn es die Gesamtkonstruktion zulässt, auf mit Bindestrich separierten Substantiven operieren (See-Elefant), nicht aber auf Zweitbestandteilen zusammengeschriebener Komposita (*SeeElefant). Abb. 4 skizziert die Ablaufstruktur beim Einlesen von Bindestrichkonstruktionen: Leser aktional (okulomotorisch) Fixation/Wahrnehmung des Bindestrichs bzw. der unmittelbaren Umgebung
mental
Verkettungsabbruch Sistieren der synt. Wortinterpretation Speichern von BUkt1 im Arbeitsspeicher Saccaden/Fixationen auf graphische Nachbareinheiten Lesen von BUkt2 Verknüpfen des gespeicherten Bestandteils (BUkt1) mit dem aktuell rekodierten Bestandteil (BUkt2) zu einem syntaktischen Wort Abb. 4: Die Ablaufstruktur beim Einlesen von Bindestrichkonstruktionen (See-Elefant)
–––––––—–– 16
Zur Verarbeitung von Komposita beim Lesen vgl. Placke (2001).
116 Nicht mit dem Bindestrich separiert werden Derivations- oder Flexionsmorpheme. Dem Bindestrich zugänglich sind Stämme (Rätsel-Ecke, blau-grün) und bestimmte Konfixe (Bio-Masse). Generell scheint zu gelten: Je autonomer die Einzelbestandteile und je weniger fest/klar (bzw. je ambiguitätserzeugender) die Verknüpfungsstruktur ist, desto wahrscheinlicher ist der Bindestrich. Autonomie von Einzelbestandteilen liegt bei heterogenen semiotischen Basen vor (3/4Takt, b-Moll) 17 , nicht-feste Verknüpfungsstruktur liegt vor, wenn die zu verknüpfenden Ausdrücke nicht durch einen regulären Wortbildungsprozess zustandegekommen sind (sog. Durchkoppelungsbindestrich: das Auf-der-Hut-sein). Unklare Verknüpfungsstrukturen ergeben sich bei der Komposition von abgekürzten Einheiten (*Dipling, Dipl.-Ing., aber: Diplomingenieur). In den genannten Fällen steht der Bindestrich obligatorisch. Vorgeschlagen wird er von den AR 1996 darüber hinaus dann, wenn die morphologische (DruckerZeugnis, Druck-Erzeugnis) oder die optische Grenze unklar ist (Hawaii-Insel vs. Hawaiiinsel). Für weitere Fälle scheint Folgendes zu gelten: Kopulative Strukturen (süß-sauer, griechisch-orthodox, Magen-Darm-Grippe), bei denen die Einzelbestandteile semantisch intakt bleiben, sind dem Bindestrich zugänglicher als Determinativkomposita (?Auto-Bahn, ?ObstSalat), bei denen ein Modifikationsverhältnis zwischen den Bestandteilen besteht; am wenigsten akzeptabel ist der Bindestrich bei Rektionskomposita (?*Knie-Beuge, ?*blei-frei [*Blei-frei]), bei Pseudokomposita des Typs Zusammenballung (??*Zusammen-Ballung), bei Univerbierungen (??*Ehe-Brecher) und Konversionen (??*Eis-Lauf). Ausgeschlossen ist er bei Zusammensetzungen, bei denen die Einzelbestandteile keine transparente Semantik aufweisen (*Früh-Stück) und damit keine autonome lexikalische Verarbeitung zulassen. Durch den strategischen Einsatz des Bindestrichs kann die Verknüpfungsstruktur gelockert und damit die autonome Bedeutung der Einzelbestandteile aktualisiert werden: (Hoch-Zeit, Auf-Schneider). In diesen Fällen können auch Derivationsmorpheme erfasst werden (be-greifen). Für weiterführende Bearbeitungen von Bindestrichkonstruktionen sei auf Augst (1992), Bernabei (2003), Gallmann (1989), Heller (2000), Hyvärinen (1997), Lawrenz (1995) und Starke (1993) verwiesen. In der vorliegenden Darstellung ging es darum zu zeigen, wie es zu verstehen ist, dass der Bindestrich die Anforderung an die leserseitig zu leistenden Teilaktivitäten (Einzelworterkennung und -verknüpfung) in komplexen morphologischen Wörtern organisiert: Die allen Divisvorkommen gemeinsame Instruktion, die morphologische Verkettung abzubrechen, die eingelesene Buchstabenkette im Arbeitsspeicher abzulegen und erst dann mit einer Folgeeinheit zu verknüpfen, bewirkt bei der wortinternen Separierung lexikalischer Einheiten (Bindestrich) eine Dekomposition von Worterkennung und Wortverknüpfung. Der Bindestrich ist deshalb umso akzeptabler, je eher die Einzelbestandteile morphologisch erkennbar und einer autonomen Interpretation zugänglich sind. Gestützt wird die hier zur Diskussion gestellte Auffassung durch Leseexperimente, in denen gezeigt werden konnte, dass der Landeplatz beim Lesen von Komposita mit Bindestrich weiter vorne liegt als beim Lesen von Komposita ohne Bindestrich. Die erste Saccade scheint beim Lesen von Bindestrichkonstruktionen demnach nicht an der Gesamt–––––––—––
17
Heterogenität kann auch bei Flexionsmorphemen zur Bindestrichschreibung führen (das x-te Mal).
117 konstruktion ausgerichtet zu sein, sondern am ersten Worbestandteil (vgl. Pfeiffer 2002, dargestellt in Geilfuß-Wolfgang 2007).
2.3 Der Gedankenstrich und die Auslassungspunkte Der Gedankenstrich ist das reduplizierte Gegenstück zum Divis, die Auslassungspunkte sind das reduplizierte Gegenstück zum Apostroph (Kap. II, 2.4). Diese Formähnlichkeit sollte sich auch funktional niederschlagen. Das heißt, es sollte gezeigt werden können, dass Gedankenstrich und Auslassungspunkte auf Textebene (Merkmal [+REDUP]) das leisten, was Divis und Apostroph auf Wortebene (Merkmal [–REDUP]) leisten. Andererseits weisen Gedankenstrich und Auslassungspunkte selbst Verwandtschaften auf, die mit ihrer gemeinsamen Geschichte beginnen: Bei der Rekonstruktion der historischen Entwicklung der Auslassungspunkte legen Klein & Grund (1997) drei Spuren: Die erste führt ins 6./7. Jahrhundert: Isidor von Sevilla führte den Asterisken als Auslassungszeichen ein, das im Zusammenhang mit philologisch genauen Textüberlieferungen zum Einsatz kam. Die Schreiber setzten ihn dort, wo sie bei Abschriften Auslassungen vorgenommen hatten. Die zweite Spur führt ins Mittelalter und dort in die öffentlich-bürokratische Schreibpraxis. Es war wie heute noch ähnlich in Formularen „üblich, bei Bedarf die Auslassung von (später zu ergänzenden) Eigennamen durch zwei nebeneinandergestellte Punkte zu kennzeichnen“ (Klein & Grund 1997: 28). Drittens schließlich werden die Auslassungspunkte seit dem 14. Jahrhundert gebraucht, um am Zeilenende zu markieren, dass ein Satz noch nicht abgeschlossen ist. 18 Die Auslassungspunkte haben noch nicht von Beginn an ihre heutige Form (vgl. auch Kap. II, 2.2). Neben dem gedoppelten Punkt steht auch der Asterisk. Die Punkte konnten nicht nur auf der Grundlinie, sondern auch in der x-Länge stehen oder – wie der Asterisk – die Oberlänge besetzen. In vielen Handschriften sind die den Asterisken ablösenden Auslassungspunkte drei doppelte oder einfache Querstriche auf der Mittellinie. Die Zeilenabschlussfunktion schließlich konnte – so steht es bei Petrarca – mit einer „liegenden Virgel“ (virgula iacens) realisiert werden (Klein & Grund 1997). In all diesen Formen – insbesondere in der „liegenden Virgel“ – sind bereits die Vorläufer des Gedankenstrichs zu erkennen, der, auf der Mittellinie liegend, seit dem 17. Jahrhundert gelegentlich ebenso wie nun auch die Auslassungspunkte in Passagen der direkten Rede von Figuren integriert wird, „to increase the illusion of verisimilitude“ (Parkes 1993: 59). 19 Diese Entwicklung wird im 18. Jahrhundert, das unter anderem durch die (Wieder-)Entdeckung der Mündlichkeit gekennzeichnet ist (Parkes 1993), weiter standardisiert. Die Schreiber beginnen, vor allem das in der Überlieferungsfunktion angelegte Potential, Auslassungen zu markieren, zu funktionalisieren (Klein & Grund 1997): Auslassungspunkte –––––––—–– 18
19
Klein & Grund (1997) erwähnen einen weiteren potentiellen Vorläufer der Auslassungspunkte, der in mittelalterlicher Handschriftenpraxis nachweisbar ist: Dort werden Abkürzungspunkte vor und hinter die abgekürzte Einheit gesetzt (.K. für Capitulum, .i. für idem etc.). Es findet also ein ähnlicher Umschlag statt wie bei den Anführungszeichen: Wie diese haben auch die Auslassungspunkte zunächst textsichernde Funktion.
118 und Gedankenstrich in Figurenreden indizieren „those hesitations and sudden changes in the direction of thought associated with spoken discourse“ (Parkes 1993: 93). 20 Wie die vorgelegte Skizze zeigt, sind historisch mindestens vier Verwendungsformen von Auslassungspunkt und Gedankenstrich erkennbar: (a) Überlieferungsfunktion, (b) Formularfunktion, (c) Zeilenabschlussfunktion, (d) Authentifizierungsfunktion. Gemeinsam ist diesen Verwendungen, dass sie auf je spezifische Textdefekte hinweisen, die sich intern weiter klassifizieren lassen: Der Überlieferungsfunktion und der Formularfunktion ist die Irreversibilität des mit den Auslassungspunkten markierten Textdefekts gemeinsam. Sowohl die ausgelassenen Stellen in Abschriften als auch die fehlenden Ausdrücke auf Formularen werden nicht dort behoben, wo sie entstehen. Sie müssen unter Rückgriff auf das Original (Überlieferungsfunktion) oder vom Leser selbst (Formularfunktion) in den Text eingebracht werden. Bei der Zeilenabschlussfunktion und der Authentifizierungsfunktion ist der Defekt reversibel. Er wird dort behoben, wo er entstanden ist: im Text. Der Leser muss zur Verarbeitung demnach nicht aus dem Text heraustreten. Es handelt sich um ein vorübergehendes Verkettungsproblem. In der weiteren Entwicklung der Schrift wird eine zunehmende Arbeitsteilung vorgenommen: Der Gedankenstrich steht bei reversiblen, die Auslassungspunkte stehen bei irreversiblen Defekten (Bredel 2002). Der Gedankenstrich – online In den historischen Markierungspraktiken ist nun aber nicht lediglich die hier skizzierte globale Funktion von Gedankenstrich und Auslassungspunkten angelegt. Insbesondere erbringt eine gründlichere Analyse der Authentifizierungsfunktion sehr viel spezifischere Einsichten in die Funktionsweisen des Gedankenstrichs – auch in seiner modernen Verwendung: Wie Parkes (1993) dargestellt hat und wie oben ausgeführt wurde, wird der Gedankenstrich seit dem 17. Jahrhundert zunehmend genutzt, um bei direkten Redezügen „hesitations“ und „sudden changes in the direction of thought“ anzuzeigen (s. o.). Zweck dieser neuen Markierungen sei es gewesen, so Parkes (1993: 93), „to recall particular features of spoken language“. Nicht zufällig nun nennt Parkes in diesem Zusammenhang Verzögerungen und plötzliche Umstrukturierungen des Gedankenflusses, Eigenschaften der gesprochenen Sprache, die im vorliegenden Zusammenhang einer genaueren Betrachtung lohnen: Beim Verfassen schriftlicher Texte wird die schreiberseitig zu leistende sprachliche Planungsarbeit in der –––––––—––
20
Wie eng die Auslassungspunkte und der Gedankenstrich noch am Ende des 18. Jahrhunderts miteinander assoziiert sind, ist den Ausführungen Adelungs abzulesen: „Dieses Zeichen [der Gedankenstrich, U. B.] ist in den meisten Arten seines Gebrauches erst in den neuern Zeiten den Engländern abgeborget worden. Es bestehet gemeiniglich in einem oder mehrern horizontalen Strichen, – wofür man oft auch folgende Zeichen findet: - - -, oder . . ., oder = = =. Es deutet theils eine Auslassung, theils eine Abbrechung, theils aber auch eine stärkere Pause an, als der Schluß=Punct andeuten kann.“ (Adelung 1790, zit. nach Höchli 1981: 248)
119 Regel personintern geleistet. Verzögerungen oder plötzliche Umstrukturierungen während des Schreibprozesses führen zu Pausen, Revisionen oder Neuansätzen beim Schreiben – in den Text umgesetzt werden sie nicht. Vom Leser, der nicht am Schreibprozess partizipiert, sondern lediglich das Schreibprodukt rezipiert, bleibt die schreiberseitige Planungsarbeit demnach unbemerkt. Die Planung mündlicher Äußerungen verläuft simultan zum sprachlichen Handeln. Verzögerungen und Umorientierungen sind vom Hörer unmittelbar wahrnehmbar. Ein wichtiger Indikator dafür, dass ein sprecherseitiger Planungsprozess ins Stocken gerät, ist die D-Pause (Drommel 1974), bei Drommel beschrieben als „Element[e] der Dissipation“ (ebd.: 22), das auf kognitive Störungen verweist. Drommel nennt die Summe von D-Pausen in einem Text „‚Störungs-‘ oder ‚Kognitionszeit‘ dieses Textes“ (ebd.: 22). Nicht zufällig wird der Gedankenstrich bis hin in die Dudenauflage 222000 – auch gegen die AR 1996, auf die sie sich bezieht – mit der Pause assoziiert („Der Gedankenstrich wird häufig dort verwendet, wo man in der gesprochenen Sprache eine deutliche Pause macht“, Duden 222000: 40). Und nicht zufällig identifiziert Maas (2000: 164) eine wesentliche Funktion des Gedankenstrichs darin, „auf eine orate Interpretation mit einer Pausengliederung“ zu verweisen. Maas bezieht sich hier auf eine Gedankenstrichverwendung, in der der Schreiber einen (mit einer Pause verknüpften) Planungsdefekt simuliert und damit den Effekt der „Überraschung“ erzielt: Emma trat ans Fenster und sah – Hans. Aus der DPause ist eine T-Pause geworden, die Drommel (1974: 22) definiert als „Artikulationseinschnitt[e] mit kommunikativer Relevanz“. T-Pausen „dienen der Hörer-Instruktion und sind – kommunikationstheoretisch gesehen – Elemente der Transinformation“; die „Summe aller T-Pausen-Längen eines mündlichen Textes“ nennt Drommel „‚Instruktionszeit‘“ (ebd.). Beim Gedankenstrich zur Markierung charakteristischer Eigenschaften der mündlichen Sprachtätigkeit, wie er seit dem 17. Jahrhundert verwendet wird, handelt es sich also nur oberflächlich betrachtet um Aspekte der mündlichen Sprachtätigkeit, die kein Pendant in der schriftlichen Sprachtätigkeit haben. Planungsschwierigkeiten gibt es auch beim Schreiben. Nur sind sie im Produkt in der Regel nivelliert. Im Folgenden wird die Auffassung vertreten, dass der Gedankenstrich seiner Abkunft gemäß bestimmte Aspekte der schreiberseitigen Planungstätigkeit in strategischer Absicht nach außen setzt. Diese noch sehr allgemeine Bestimmung lässt die Frage offen, welche der sprecher/schreiberseitigen Planungstätigkeiten dem Gedankenstrich zugänglich sind. Um hier weiterzukommen, muss nun die zweite Spur des Gedankenstriches in die Schrift zurückverfolgt werden: die Zeilenabschlussfunktion, die mit virgula iacens ausgedrückt wird. Gegenüber der Authentifizierungsfunktion liegt mit der Zeilenabschlussfunktion eine Verwendung des Gedankenstrichs vor, der nicht auf einen Planungs-, sondern auf einen Materialdefekt (eine nicht hinreichend lange Zeile) orientiert. In dieser Funktion nun wird die Verwandtschaft des Gedankenstrichs zum Divis in seiner Funktion als Trennstrich erkennbar. Analog zu Abb. 1 aus Kapitel III, 2.2 kann die Leseinstruktion, die von der virgula iacens in Zeilenabschlussfunktion ausgeht, wie folgt angegeben werden:
120
Leser aktional Landeplatz der Saccade am Zeilenende (Fixation des Gedankenstrichs bzw. der unmittelbaren Gedankenstrichumgebung)
mental
Verkettungsabbruch Sistieren der Satzinterpretation Speichern im Arbeitsspeicher Zeilensprung (lange linksgerichtete Saccade und Fixation des Anfangselements der Folgezeile) Wiederaufnahme der Satzinterpretation Verknüpfen des gespeicherten Bestandteils mit dem Interpretationsrest Abb. 5: Mentale und aktionale Tätigkeiten bei der Verarbeitung des Gedankenstrichs in Zeilenabschlussfunktion
Auf dieser Grundlage ist nun leicht zu sehen, warum es der Gedankenstrich ist, der im 17. Jahrhundert die Authentifizierungsfunktion übernimmt. Denn mit der virgula iacens in Zeilenabschlussfunktion ist die mentale Verarbeitung, die beim Gedankenstrich in Authentifizierungsfunktion relevant wird í „Verzögerung“ und „Umstrukturierung“ (s. o.) í, vorbereitet. Die „Verzögerung“ nimmt Bezug auf das Erfordernis des Sistierens einer begonnenen Satzinterpretation; das Gesprochene/Gehörte muss im Zwischenspeicher aktiv gehalten werden, bis eine Fortsetzung folgt. Die „Umstrukturierung“ nimmt Bezug auf den Tätigkeitswechsel, den Zeilensprung, der im Gedankenstrich mit Authentifizierungsfunktion als „Gedankensprung“ mentalisiert ist. Jedoch geht die funktionale Äquivalenz von Zeilenabschlussfunktion und Authentifizierungsfunktion weiter: Bei der Zeilenabschlussfunktion ist die materiale Seite der Schrift betroffen, das konkrete Abarbeiten der Zeile. Bei der Authentifizierungsfunktion ist es die Performanz, das konkrete Abarbeiten der Äußerung in der Zeit. Es geht also in beiden Fällen um ein oberflächennahes Linearisierungsphänomen. Der Unterschied zwischen der Zeilenabschlussfunktion und der Authentifizierungsfunktion besteht in der Ursache des angezeigten Defekts: Der Gedankenstrich in Zeilenabschlussfunktion orientiert auf einen rein materialen Defekt, der Gedankenstrich in Authentifizierungsfunktion auf einen mentalen. Mit der Zeilenabschlussfunktion und der Authentifizierungsfunktion sind nun alle für die Folgeentwicklung des Gedankenstrichs wesentlichen Eigenschaften beisammen: Der Gedankenstrich beginnt, zeilenintern und redezugextern zu stehen. Er übernimmt – beginnend in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – nach und nach die Funktionen, die ihn bis heute charakterisieren (vgl. [1]). In der weiterführenden Diskussion werden diese, normalerweise über Ad-hoc-Bestimmungen lediglich gelisteten Fälle, die im Resultat dazu füh-
121 ren, den Gedankenstrich als polyfunktional zu erfassen, auf der Grundlage der bisherigen Analyse in eine monofunktionale Bestimmung überführt. (1)
(i) (ii) (iii) (iv) (v)
Plötzlich – ein vielstimmiger Schreckensruf. (Ankündigung von etwas Weiterführendem) Zur Feier kamen Jürgen, Beatrice und – Anne. (Ankündigung von etwas Unerwartetem) Soweit also zu unseren Ausführungen. – Kommen wir nun zu den Finanzplänen Ihrer Firma. (Themenwechsel) Was, heute? – Nein. Morgen. (Sprecherwechsel) Sie saßen – es war Winter geworden – in der Stube. (Parenthese)
Folgt man der bisherigen Darstellung, so zeigt sich, dass in allen Gedankenstrichverwendungen in (1) jeweils dieselbe Aktivität beim Leser in Gang gesetzt wird: Der Unterbrechung der aktuellen Verkettungsaktivität folgt eine Umorientierung auf einen neuen Fokus (neuer Sprecher, neues Thema, neue Proposition/Illokution) unter Beibehaltung bereits eingelesener Information; auf diesen Fokuswechsel folgt ein Neustart der Leseaktivität, die unter verändertem Fokus vollzogen wird. Beibehaltene und neue Information werden zu einer höheren Einheit verrechnet. In den AR von 1996 werden die Fälle unter (1) (i) bis (vi) in drei Paragraphen gefasst: § 82
Mit dem Gedankenstrich kündigt man an, dass etwas Weiterführendes folgt oder dass man das Folgende als etwas Unerwartetes verstanden wissen will.
§ 83
Zwischen zwei Ganzsätzen kann man zusätzlich zum Schlusszeichen einen Gedankenstrich setzen, um – ohne einen neuen Absatz zu beginnen – einen Wechsel deutlich zu machen.
§ 84
Mit dem Gedankenstrich grenzt man Zusätze oder Nachträge ab; sind sie eingeschoben, so schließt man sie mit paarigem Gedankenstrich ein.
§ 82 regelt Fälle wie (1) (i) und (ii); § 83 regelt die Fälle unter (1) (iii) und (iv); § 84 ist auf (1) (v) bezogen. Diese Unterscheidung ist aber nun nicht eine, die eine polyfunktionale Auffassung des Gedankenstrichs rechtfertigen könnte, wie es die AR in Übereinstimmung mit der Literatur vorsehen. Wir haben es vielmehr mit verschiedenen „Spielarten“ einer einzigen Funktion zu tun. In der schriftgrammatischen Analyse (Kap. II, 3.6) wurden diese Spielarten auch konstituentenstrukturell unterschieden. Fälle wie unter (1) (i) und (ii) wurden als „TrennGedankenstrich“, solche unter (1) (iii) und (iv) als „Binde-Gedankenstrich“ bezeichnet. Als Unterscheidungskriterium galten die Eigenschaften der vor und nach dem Gedankenstrich gegebenen Einheiten. Für den Binde-Gedankenstrich gilt wie beim Bindestrich, dass Vor-
122 gänger- und Folgekonstruktion isoliert voneinander interpretierbar sind; beim Trenn-Gedankenstrich ist das ebensowenig wie beim Trennstrich der Fall. Ein prinzipieller Unterschied bezüglich der durch den Gedankenstrich ausgelösten Verarbeitungsinstruktion ergibt sich dadurch nicht. Analog der in Abb. 5 gegebenen Ablaufstruktur für die Zeilenabschlussfunktion und unter Einbezug der in Kap. II, 3.6 ausgewiesenen schriftgrammatischen Einheiten können die Konstruktionen in (1) (i) – (iv), also alle Gedankenstrichkonstruktionen, wie folgt erfasst werden: 21 Leser aktional Landeplatz der Saccade auf dem Gedankenstrich (bzw. in der GS-Umgebung)
mental
Verkettungsabbruch Sistieren der Interpretation von X (b) Speichern von SWkt(1) „Gedankensprung“ (Fokuswechsel) Saccade zum Folgematerial Lesen von SW*/SWkt2 Verknüpfen von SWkt1 mit SW*/SWkt2 zu SWP Abb. 6: Mentale und aktionale Tätigkeiten bei der Verarbeitung des Gedankenstrichs
Zwischenfazit: Der Gedankenstrich kommt in der Zeilenabschlussfunktion und darauf aufbauend in der Authentifizierungsfunktion in die Schrift. Er reguliert zunächst Defekte der schriftlichen (d. h. auf die Schreibfläche bezogenen) und der mündlichen (d. h. die Mündlichkeit verschriftenden) Linearisierung sprachlicher Einheiten. In seiner Weiterentwicklung wird er zunehmend redezugextern und zeilenintern verwendet. Er reguliert nun Defekte der textuellen Linearisierung. Die entscheidende materielle Ressource ist nicht mehr die Schreibfläche oder der Äußerungszug, sondern die Zeile, die als Abbildung der sprachlichen Linearstruktur die Kohärenz/Kohäsion von Texten sicherstellt. Der Gedankenstrich instruiert den Leser zur textuell diskontinuierlichen statt zur seriellen Verkettung sprachlicher Einheiten. Für die Aktivitäten bei der parenthetischen Linearisierung muss eine entsprechend komplexere, bezüglich der angegebenen Teiltätigkeiten aber identische Ablaufstruktur angegeben werden (vgl. hierzu Bredel 2002: 139). Nun gibt es in der Geschichte der Gedankenstrichverwendungen einen nicht integrierbaren Rest: In seiner Funktion, Redeabbrüche zu kennzeichnen (Authentifizierungsfunktion), konnte der Gedankenstrich auch dort stehen, wo die Konstruktion nicht ergänzt wird, also –––––––—–– 21
Bei der Parenthese muss diese Ablaufstruktur zweimal durchlaufen werden. Am Prinzip ändert sich aber nichts.
123 dort, wo ein irreversibler Defekt vorliegt. In der schriftgrammatischen Analyse (Kap. II, 3.6) wurde dieser Gebrauch des Gedankenstrichs analog zum Ergänzungsbindestrich „Ergänzungs-Gedankenstrich“ genannt. (2)
Du bist ein –!
In diesen Fällen wird mit dem Gedankenstrich nur ein Teil seiner Gesamtfunktion realisiert: Er instruiert zum Verkettungsabbruch. Zu einer Ergänzung des nicht explizierten Rests wird der Leser nicht instruiert (s. u.). Eine der schönsten ästhetischen Nutzungen dieses Gedankenstrichs, die zeigt, dass er für potentielle Ergänzungen opak ist, stammt aus Heines Schnabelewopski: Es ist eine gute Geschichte [...]; aber aus Ranküne, zur Strafe für frühere Unbill, will ich sie unterdrücken. Ich mache daher hier einen langen Gedankenstrich – Dieser Strich bedeutet ein schwarzes Sofa, und darauf passierte die Geschichte, die ich nicht erzähle. (Heine 1833 [51994]: 580)
Nur noch in dieser Funktion konkurrierte der Gedankenstrich bis 1996 mit den Auslassungspunkten. Die Amtlichen Regeln haben diese Gedankenstrichverwendung abgeschafft. Wie kommt es zu dieser Entscheidung? Instruktiv zur Beantwortung dieser Frage ist ein Blick in die Kodifizierungsgeschichte: Die Auslassungspunkte sind die einzigen der hier untersuchten zwölf Interpunktionszeichen, die nicht bereits in die 9. Dudenauflage von 1915 Eingang gefunden haben. Sie werden offensichtlich noch nicht als Interpunktionszeichen wahrgenommen. Die Markierung des „Abbruch[s] einer Rede“ sowie des „Verschweigen[s] des Abschlusses eines Gedankens“ (Duden 121942: 65) ist die Domäne des Gedankenstrichs. Erst in die 12. Auflage von 1942 werden die Auslassungspunkte aufgenommen – als Konkurrenz zum Gedankenstrich: „Um den Abbruch einer Rede, das Verschweigen des Abschlusses eines Gedankens zu bezeichnen, verwendet man auch statt des Gedankenstriches die Auslassungspunkte.“ (Ebd.: 65) Ganz anders sieht die Regelformulierung des Duden (222000) aus. Dort wird in einer „Empfehlung“ der Gedankenstrich zum Konkurrenten der Auslassungspunkte: „In manchen Texten kennzeichnet der Gedankenstrich auch (statt Auslassungspunkten) das Verschweigen eines Gedankenabschlusses.“ (Ebd.: 40) 22 Die Formulierungen zeigen eine Umkehrung der gebrauchsbezogenen Markiertheitsverhältnisse: (3) Ausnahme –––––––—–– 22
Auslassungspunkte 12 1942
Gedankenstrich 2000
22
Etwas abenteuerlicher als der Duden (222000) geht der Duden (211996) mit dem Tatbestand um, dass der Gedankenstrich nach AR 1996 nicht mehr für Auslassungen stehen kann: In R 36 wird ungeachtet des zugrundeliegenden Regelwerks angegeben, der Gedankenstrich kennzeichne innerhalb eines Satzes „eine längere Pause“. Diese Regel wird dann präzisiert: „Dies gilt besonders zwischen Ankündigungs- und Ausführungskommando, zur Vorbereitung auf etwas Unerwartetes oder zur Erhöhung der Spannung, bei Abbruch der Rede und beim Verschweigen eines Gedankenabschlusses“ (Duden 211996: 33). Verwiesen wird auf § 82; verschwiegen wird, dass § 82 diesen Gedankenstrichgebrauch gar nicht regelt.
124 Regel
22
2000
12
1942
Um diese Umkehrung nachvollziehbar zu machen, werden im Folgenden die Regeln für die Auslassungspunkte von der 13. bis zur 20. Auflage von 1991 aufgeführt: 23 13
1947 (wie 121942, s. o.): Um den Abbruch einer Rede, das Verschweigen des Abschlusses eines Gedankens zu bezeichnen, verwendet man auch statt des Gedankenstriches die Auslassungspunkte. 14
1958, 151961, 161967, 171973: Um den Abbruch einer Rede, das Verschweigen eines Gedankenabschlusses zu bezeichnen, verwendet man statt des Gedankenstrichs [...] besser drei Auslassungspunkte. 18
1980, 191986: Drei Auslassungspunkte kennzeichnen den Abbruch einer Rede, das Verschweigen eines Gedankenabschlusses. [...] Die Auslassungspunkte sind oft deutlicher als der gleichfalls mögliche Gedankenstrich [...].
20
1991: Drei Auslassungspunkte zeigen an, daß in einem Wort, Satz oder Text Teile ausgelassen worden sind. [...] Beim Abbruch einer Rede kann an Stelle der Auslassungspunkte auch ein Gedankenstrich stehen [...]. Der Argumentationsgang verläuft wie folgt: Zunächst (bis 1947) werden, wie bereits beschrieben, die Auslassungspunkte als (markierte) Alternative zum Gedankenstrich angegeben. In einem weiteren Schritt (bis 1973) sind sie „besser“ als dieser. Der entscheidende Umschlag geschieht in der 18. Auflage von 1980: Der Gedankenstrich wird aus der Regel zu den Auslassungspunkten herausgenommen; sein Gebrauch als Abbruchsignal ist nur noch in einer Erläuterung zur Hauptregel erwähnt. Mit der Reformulierung der Auslassungsregel in 201991 ist der vorläufig letzte Schritt vollzogen, der mit einer Umstellung von der Online- auf die Offline-Perspektive verknüpft ist: Wurde die Domäne der Auslassungspunkte bis 1986 in der Markierung sprachlicher und mentaler Prozesse gesehen (Abbruch einer Rede, Verschweigen eines Gedankenabschlusses), wird ihre Verwendung nun konstruktionsspezifisch rekonstruiert (Auslassung von „Teilen“ in einem Wort, Satz oder Text). Mit diesem Verzicht auf die prozedurale Beschreibung wird die Verbindung der Auslassungspunkte zum Gedankenstrich gekappt. Denn die Schnittmenge war gerade im „Abbruch einer Rede“ sichtbar. Und genau dieser Fall wird im Duden (201991) in einer Subregel wieder in die Regelformulierung hineingeholt. Die Intuitionen der Regelmacher, die Auslassungspunkte seien zur Markierung des „Abbruchs einer Rede“ oder des „Verschweigens eines Gedankenabschlusses“ „besser“ (1958– 1973) oder „deutlicher“ (1980–1986) als der Gedankenstrich, sind alles andere als klar. Unter Einbezug der prozeduralen Perspektive liegen die Verhältnisse wie folgt: Bei „Ab–––––––—–– 23
Hervorhebungen in den Originalen unterdrückt. Von den Regelungen im Duden der DDR sehe ich ab.
125 bruch einer Rede“ resp. einer Konstruktion ist der Leser in zwei aufeinanderfolgende Aktivitäten involviert: In einem ersten Schritt muss der Abbruch selbst prozessiert werden; in einem zweiten Schritt muss der nicht vollständig ausgeführte Plan des Schreibers vom Leser weiter- bzw. ausgeführt werden. Mit dem Gedankenstrich wird der Leser auf die erste Aktivität orientiert, mit den Auslassungspunkten auf die zweite. Dieser Unterschied hat nun erhebliche Konsequenzen: Werden „Redeabbrüche“ mit dem Gedankenstrich markiert, erhält der Leser keine explizite Aufforderung zur Rekonstruktion des fehlenden Bestandteils – das fehlende Element soll nicht restituiert werden. Bei den Auslassungspunkten ist das anders: Hier wird der Leser explizit zu einer entsprechenden Restituierung angeleitet. Die besten Beispiele für diese „stilistisch“ wirksame Sensitivität von Gedankenstrich und Auslassungspunkten gibt der Duden selbst. Die Illustration der Funktion des Gedankenstrichs und der Auslassungspunkte, den „Abbruch einer Rede“ zu kennzeichnen, die mit leichten Abweichungen von Duden (121942) bis Duden (201991) gleich bleiben, sieht wie folgt aus: (4)
(i) (ii)
Für den Gedankenstrich: „Schweig, du –!“ schrie er ihn an. Für die Auslassungspunkte: „Er gab den Takt an: „Eins-zwei, eins-zwei ...“
Die umgekehrten Kennzeichnungen (5) wären weit weniger einschlägig bzw. müssten in anderer Weise interpretiert werden: (5)
(i) (ii)
„Schweig, du ...!“ schrie er ihn an. Er gab den Takt an: „Eins-zwei, eins-zwei –“
Dass die AR 1996 den Gedankenstrich in dieser Funktion nicht mehr lizenzieren, bedeutet nach der hier vorgenommenen Analyse eine Reduzierung der durch die Interpunktion bereitgestellten Ressourcen zur Textinterpretation. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Schreiber verhalten. Zu den Auslassungspunkten, deren Anwendungsbereich (im Gegensatz zu dem des Gedankenstrichs) nicht verändert wurde, heißt es in den AR 1996: § 99 Satz
Mit drei Punkten (Auslassungspunkten) 24 zeigt man an, dass in einem Wort, oder Text Teile ausgelassen worden sind. 25
–––––––—–– 24
25
In den AR ist zum ersten und einzigen Mal nicht von „drei Auslassungspunkten“, sondern von drei Punkten in Auslassungsfunktion die Rede. Leider findet diese, auf die Form orientierende Formulierung keinen Eingang in die Dudenregeln. Ungeachtet der Neuformulierung übernimmt der Duden (211996) wörtlich die Formulierungen aus dem Duden (201991): „Drei Auslassungspunkte zeigen an, dass in einem Wort, Satz oder Text Teile ausgelassen worden sind [...]. [...] Beim Abbruch einer Rede kann an Stelle der Auslassungspunkte auch ein Gedankenstrich stehen“. Erst der Duden (222000) setzt die AR 1996 in Ansätzen um: Der Passus, der den Gedankenstrich als Markierung zum „Abbruch einer Rede“ ermöglicht, entfällt.
126 Es handelt sich im Prinzip um eine Übernahme der Regel aus Duden (201991). Der Unterschied besteht in der Regelformulierung: Sind im Duden (201991) die Auslassungspunkte selbst die Protagonisten der Auslassungsanzeige, wird in den AR 1996 ein Schreiber („man“) eingeführt. Der durchgängige Versuch der AR, die Interpunktionsregeln am Schreibprozess zu orientieren, führt hier jedoch zu einem (unfreiwilligen) Kollaps: Die Passivform des dassSatzes legt es nahe, dass „man“ (der Schreiber) nicht der Verursacher der Auslassung ist, so dass die Regelformulierung in AR 1996 eher auf Abschriften von Material, in dem etwas ausgelassen wurde, zutrifft als darauf, dass der Schreiber selbst etwas auslässt. Der Schreiber wird aus seiner eigenen Arbeit entlassen. Diese Argumentation mag spitzfindig erscheinen. Sie ist es aus zwei Gründen, einem praktischen und einem analytischen, nicht. Der praktische Grund: Von einem Regelwerk, das die Orthographie verbindlich festschreibt, dürfen eindeutige und unmissverständliche Regelformulierungen erwartet werden. Mit anderen Worten: Wer festlegt, wie andere schreiben sollen, sollte es selbst können. Der analytische Grund: Die vorliegende Regelformulierung ist – wie es hier in Ansätzen nachgezeichnet wurde – Resultat der kumulativen Aufschichtung von historischen Versuchen der Regulierung der Interpunktion. Mit anderen Worten: In der (missglückten) Regelformulierung von § 99 der Amtlichen Regeln ist die Geschichte der Interpunktionskonzeptionen der vergangenen 500 Jahre in archäologischer Form geronnen. Die Auslassungspunkte – online Im Folgenden wird in aller Kürze die – im Gegensatz zum Gedankenstrich – recht einfache Funktion der Auslassungspunkte aus der Leserperspektive (also online) profiliert. Formal sind die Auslassungspunkte entweder als Visualisierung der Schreib-/Leselinie aufzufassen, auf der etwas stehen sollte, oder als angedeutete Visualisierung der Einheiten, die dort stehen sollten, wo jetzt die Auslassungspunkte stehen. Ihre frühe Form – vertikale Striche in der Oberlänge (Kap. II, 2.2) í spricht dafür, dass die Auslassungspunkte zu restituierende Einheiten repräsentieren; auch die Drillingsstruktur legt diese Orientierung nahe (Kap. II, 3.6). Ihre aktuelle Zeilenausrichtung, die Grundlinie, spricht jedoch eher für die Zeilenvisualisierung. Die Frage, welche Entitäten die Auslassungspunkte vertreten, kann hier nicht entschieden werden. Klarer ist ihre Funktion. Wie beim Apostroph wird der Leser vom Rekodierer zum Enkodierer. Während dieser den Leser instruiert, nicht ausgedrückte formale Wortinformationen hinzuzufügen, instruieren die Auslassungspunkte – korrespondierend dem Merkmal [+REDUP] – zur Restituierung nicht ausgedrückter semantischer Textinformationen. 26 In den traditionellen Interpunktionstheorien wird die Online-Perspektive meist nicht wahrgenommen. Mentrup (1983: 112), der den Leser nur sporadisch in seine Rekonstruktionen einbezieht, spricht davon, „daß der Schreiber eine Auslassung im Text vornimmt und die Textlücke graphisch deutlich macht“. Lesersensitiv argumentiert hingegen
–––––––—–– 26
Zur genaueren Spezifizierung der Auslassungen/Ergänzungsanforderungen verweise ich auf Meibauer (2007), der auf der Grundlage der Auslassungsstruktur von unterschiedlichen, via konversationeller Implikaturen zu erfassenden Mechanismen ausgeht.
127 Gallmann (1985: 25): „Auslassungssignale markieren, daß etwas fehlt [...], daß der Leser etwas zu ergänzen hat.“ An späterer Stelle verliert sich diese Orientierung jedoch wieder: „Auslassungssignale kennzeichnen – der Name sagt es – Ausgelassenes, Weggelassenes.“ (Ebd.: 213) 1996 schreibt er wieder: „Auslassungspunkte klassifizieren eine Grenze, an der der Text endet oder unterbrochen wird; der Leser wird dabei aufgefordert, den roten Faden selber weiterzuspinnen“ (Gallmann 1996: 1463). Mit dieser Definition bleibt nun jedoch eine ganze Klasse der Verwendung von Auslassungspunkten unberücksichtigt: die konstruktionsinitialen Auslassungspunkte. (6)
Lieber Gérard, ... und wieder einmal haben wir lange nichts mehr voneinander gehört.
Der Gedankenstrich ist hier nicht möglich: (7)
*Lieber Géerard, – und wieder einmal haben wir lange nichts mehr voneinander gehört.
Dies zeigt nun auch, dass der „Abbruch der Rede“ bzw. „das Verschweigen eines Gedankenabschlusses“ – anders als es die Dudenregeln suggerieren bzw. suggeriert haben – eine für die Auslassungspunkte vollkommen unbedeutende Eigenschaft ist. Relevant ist die Instruktion an den Leser zur Enkodierung von Bedeutungen. Wo dieser Enkodiervorgang stattfinden soll, ist völlig beliebig. Fazit: Gedankenstrich und Auslassungspunkte indizieren, korrespondierend zu ihrer graphetischen Eigenschaft [–LEER], Materialdefekte. Ihre entscheidende materielle Ressource ist, ebenfalls korrespondierend zu ihrer Form [+REDUP], der linear-suprasegmentale Raum, die Zeile, die als okulomotorisch relevante Abbildung der sprachlichen Linearstruktur Vollständigkeit sowie Kohärenz/Kohäsion von Texten garantiert. Die Auslassungspunkte imitieren ein Stück beschriebene Zeile, der Gedankenstrich imitiert ein Stück unbeschriebene Zeile. Damit orientiert der Gedankenstrich auf einen Linearisierungsdefekt. Die graphetische Eigenschaft [–VERT] prädestiniert ihn für diese Funktion. Der Leser wird zu einer diskontinuierlichen statt seriellen Linearisierung instruiert: Er muss einen Verkettungsabbruch vornehmen. Diese sehr allgemeine, auf alle Gedankenstrichvorkommen gleichermaßen zutreffende Instruktion ist in der Regel nur der Startpunkt einer komplexeren Verkettungsgeschichte, die in Abb. 6 dargestellt wurde. Behauptet hat sich die einschrittige Instruktion (Verkettungsabbruch) nur in Konstruktionen wie . Dies ist eine Erbschaft des Gedankenstrichs in Authentifizierungsfunktion, die aus guten Gründen bis 1996 regulär war. Die Auslassungspunkte orientieren auf einen Kodierungsdefekt. Der Leser wird – das Merkmal [+VERT] verweist darauf – zu einem Rollenwechsel angeleitet. Er wird vom Rekodierer zum Enkodierer und muss in dieser Funktion außerhalb des im Text gegebenen Materials nach sprachlichen Einheiten suchen, die geeignet sind, schreiberseitig offengelassene Bedeutungen zu restituieren.
128 Dort, wo Linearisierungsdefekt und Kodierungsdefekt zusammenfallen, können Gedankenstrich und Auslassungspunkte stehen: , . 27 Das heißt aber nicht, dass sie (dort) dasselbe leisten. Nach dem Durchgang durch die funktionale Bestimmung der Zeichenklasse [+LEER] wird es nun auch möglich, das Kriterium der „Klassifikation“, das für Zeichen der Klasse [+VERT] vorläufig als Bestimmung angegeben worden war, zu spezifizieren: Argumentiert wurde, dass der Leser von den Auslassungspunkten und dem Apostroph zu einem Rollenwechsel angeleitet wird, der sich – gemäß der Eigenschaft der Zeichenklasse [+LEER], Abweichungen bei der Umsetzung graphischer Oberflächen in sprachliche Strukturen zu regulieren – als Kodierwechsel geltend macht: Der Leser liest Formen/Bedeutungen nicht mehr aus dem Text heraus, sondern in den Text hinein. Wie in den folgenden Kapiteln gezeigt wird, ist Rollenwechsel auch kennzeichnend für alle anderen Zeichen der Klasse [+VERT]. Allerdings geht es dann nicht mehr um einen Kodierwechsel, sondern – gemäß des Merkmals [–LEER] – um einen Wechsel enkodierter Rollen, konkret um einen Wechsel der epistemischen (Frage- und Ausrufezeichen, Kap. III, 3.2) bzw. um einen Wechsel der interaktionalen Rollen (Klammer und Anführungszeichen, Kap. III, 3.1). Diese Annahme wird in den folgenden Kapiteln weiter geschärft.
3
Die Klitika
3.1 Die S-Klitika < „“ ( ) > Für Klammern und Anführungszeichen war in Kapitel II, 3.7 einheitlich S-Klitisierung angegeben worden. Ein gewichtiges schriftgrammatisches Motiv für diese Charakterisierung war ihre Eigenschaft als typographische Grenzgänger: Ihre obligatorische Paarigkeit bringt die von ihnen gekennzeichneten Einheiten in die Nähe von linear-suprasegmentalen Einheiten (Kap. II, 1), die am Beispiel der durchgängigen Großschreibung, die ebenfalls linear-suprasegmentalen Status hat, als typisch für S-Klitisierung ausgewiesen worden waren. In einigen (noch genauer zu untersuchenden Fällen) können die Anführungszeichen und die Klammern darüber hinaus von linear-suprasegmentalen Mitteln substituiert werden. Funktional übernehmen S-Klitika pragmatische Funktion (vgl. für die Anführungszeichen auch Meibauer 2007). Sie tragen also nicht zur syntaktischen Sprachverarbeitung bei. Gezeigt werden soll im Folgenden, dass Anführungszeichen und Klammern durch die Instruktion zum interaktionalen Rollenwechsel die quotationelle Struktur des Textes regulieren. Die Interpunktionsliteratur ist bezüglich der Klammer nicht wesentlich über die im Duden aufgelisteten Funktionen hinausgekommen. Für die Anführungszeichen ist die Forschungslage günstiger: Mit der Linguistik der Gänsefüßchen, auf die ich mich im Folgen–––––––—–– 27
Dass der Gedankenstrich in Fällen wie nicht stehen kann *, verweist auf weitere Unterschiede, die hier nicht mehr bearbeitet werden.
129 den beziehe, hat Klockow (1980) eine äußerst differenzierte und die bei weitem konsistenteste Beschreibung des Anführungszeichengebrauchs vorgelegt. 28 3.1.1 Die Anführungszeichen Klockow (1980: 20) beginnt seine Ausführungen zu den Anführungszeichen mit zwei Zitaten aus dem Duden-Taschenbuch zur Interpunktion von Berger: (1)
(i) (ii)
„Es ist unbegreiflich, wie ich das hatte vergessen können“, sagte er zu einem Freund. Der „Eskalation“ des Konkurrenzkampfes sind im letzten Jahr zahlreiche kleine und mittlere Betriebe zum Opfer gefallen.
In (1) (i) liegt Klockow zufolge konventioneller Gebrauch der Anführungszeichen vor. Für (1) (ii) spricht er von modalisierendem Gebrauch. Konventioneller Anführungszeichengebrauch liegt dann vor, wenn die angeführten Ausdrücke auch ohne Anführungszeichen als Anführungsausdrücke erkennbar sind. „Der nichtgebrauch von AZ [Anführungszeichen, U. B.] an den entsprechenden stellen“, so Klockow (1980: 20), „gilt je nach situation als nachlässig, fehlerhaft (z. b. im schulaufsatz) oder gar als täuschungsversuch, der im extremfall eine außerlinguistische instanz wie den urheberrechtsschutz auf den plan rufen kann“. Modalisierender Anführungszeichengebrauch ist gegenüber dem konventionellen nicht durch die sprachliche Umgebung gedeckt. Das Fehlen von modalisierenden Anführungszeichen wird nicht bemerkt. In Bezug auf das oben angeführte Beispiel (1) (ii) schreibt Klockow (1980: 21): „Ein anderer schreiber würde möglicherweise keine AZ setzen; die äußerung wäre darum nicht weniger ‚korrekt‘, sondern sie wäre einfach anders – ihr würde jene Dimension fehlen, die durch die AZ bei Eskalation erst eingeführt wird.“ Die konventionellen Anführungszeichen sind historisch älter als die modalisierenden (s. u.), weshalb auch hier mit einer Rekonstruktion dieses Anführungstyps begonnen wird. Die konventionellen Anführungszeichen Klockow unterscheidet drei Typen von konventionellen Anführungszeichen: das L-Zitat, das P-Zitat und die Anführung von Eigennamen. Das L in L-Zitat steht für „logisch“. Logische Zitate sind besser als metasprachliche Ausdrücke bekannt, wie sie unter (2) exemplarisch aufgeführt sind (2 [iii] bis [v] aus Klockow 1980: 31): (2)
(i) (ii)
„Sokrates“ hat drei Silben. „und“ ist eine Konjunktion.
–––––––—–– 28
Neben Klockow haben sich Brandt & Nail (1976) mit den Anführungszeichen befasst. Die Analyse ist jedoch in weiten Teilen unbrauchbar. Es handelt sich eher um eine Auflistung scheinbar verschiedener Fälle. Isoliert werden 17 Anführungsfunktionen, deren Relation zueinander weitgehend ungeklärt bleibt. In Meibauer (2007) wird der Versuch unternommen, die sog. modalisierenden Anführungszeichen (s. u.) auf der Grundlage von Grice zu rekonstruieren.
130 (iii) (iv) (v)
„Arma virumque cano (etc., etc., ca. 10 000 verse) fugit indignata sub umbras“ ist der vollständige text von Vergils Äneis. „lein leinigen allwar sam“ ist kein sinnvoller ausdruck des deutschen. „??“ und „?“ markieren fast unakzeptable bzw. wenig akzeptable Sätze. „*“ markiert unakzeptable Sätze.
Die Bezeichnung L-Zitat verweist auf die sprachphilosophische Auseinandersetzung über den Status solcher Ausdrücke, die von zwei Positionen dominiert wird. Die eine sieht in Anführungsausdrücken Namen der eingeschlossenen Ausdrücke (Tarski). Danach wären die Anführungszeichen namenbildende Funktoren. „Sokrates“ etwa wäre der Name von Sokrates, „und“ der Name von und. Die andere Position identifiziert angeführte Ausdrücke als Exemplare der betreffenden Ausdrücke (Searle). Die Anführungszeichen sind dieser Auffassung zufolge Signale für die Verwendung eines Ausdrucks als Exemplar seiner selbst. Die jeweiligen Argumente für die Eigennamen- und die Exemplarhypothese führen hier nicht weiter. Sie sind bei Klockow (1980: 28ff.) nachlesbar. Die von Klockow (1980: 36ff.) ausgearbeiteten grammatischen Eigenschaften der L-Zitate sind im vorliegenden Zusammenhang demgegenüber von weiterführendem Interesse. Angeführte, metasprachlich gebrauchte Ausdrücke genießen syntaktischen Sonderstatus: (a) (b) (c) (d) (e) (f) (g)
Sie stehen unabhängig von ihren inhärenten grammatischen Eigenschaften stets in nominaler Position. Sie sind stets Neutra, selbst wenn der angeführte Ausdruck ein Substantiv mit anderem Genus ist (Das Femininum „Elektra“ kann nicht als Neutrum gebraucht werden). Sie werden sprachlich wie „unbelebte“ Entitäten behandelt; auch auf belebte Ausdrücke werden für unbelebte Entitäten typische pronominale Verweisungen vorgenommen (Da steht „Karl“. Was steht da? *Wer steht da?). Sie sind singularisch, selbst wenn eine Pluralform angeführt ist („die Trümmern“ ist nicht hochsprachlich; *„die Trümmern“ sind nicht hochsprachlich). Sie sind nicht reflexivierbar (Hans schreibt „Hans“; *Hans schreibt sich). Sie können bzw. müssen sogar häufig ohne Artikel stehen („Fräulein“ wird nicht gebeugt, *Das „Fräulein“ wird nicht gebeugt). Dies ist übrigens als ein Argument für die Eigennamenthese (s. o.) verwendet worden. Stehen Anführungen in Subjektposition, steht das Prädikat in der 3. Ps. Sg., selbst wenn der angeführte Ausdruck erst- oder zweitpersonig ist („Du“ ist ein Pronomen; *„Du“ bist ein Pronomen).
Fehlende syntaktische Integration resp. die Neutralisierung der inhärenten grammatischen Eigenschaften von Ausdrücken gelten nun nicht nur für das L-Zitat, sondern auch für alle weiteren konventionellen Anführungszeichenverwendungen, das P-Zitat und die Titel. Unter P-Zitat oder pragmatisches Zitat versteht Klockow die Übernahme einer Äußerung von einer Originaläußerung in eine sekundäre Textumgebung. In (3) sind Beispiele für das allfällig bekannte P-Zitat notiert:
131 (3)
(i) (ii) (iii) (iv)
„Komm schon!“, drängte er. Der Kanzler droht: „Keine Beihilfe mehr für Beamte.“ „Morgen“, sagte sie, „bin ich wieder aufnahmefähig.“ „Niemand geht auf der Autobahn spazieren.“ (Günther 1988: 145)
§ 89 der AR 1996, der die Verwendung der Anführungszeichen bei P-Zitaten regelt, führt an dieser Stelle die Unterscheidung zwischen schriftlichen und mündlichen Quelltexten ein („(1) wörtlich wiedergegebene Äußerungen (direkte Rede) [...]. (2) wörtlich wiedergegebene Textstellen (Zitate)“, s. o.). Mit dieser Beschreibung geht eine analytisch bedeutsame Unterscheidung verloren: die zwischen „direkter Rede“ und „Zitat“ (vgl. Klockow 1980: 88ff.). „Direkte Rede“ ist ein formaler Begriff. Er beschreibt einen spezifischen Modus der Integration fremder Äußerungen in eine Trägerkonstruktion. Sein Pendant ist die „indirekte Rede“ mit den sattsam bekannten Unterschieden bezüglich der inneren und äußeren Struktur (zu den Grauzonen Plank 1986). Mit „Direktheit“ verknüpft ist die Aktivierung eines vom Trägertext verschiedenen lokutiven Systems, von dem aus die formale Struktur sowie der Referenzrahmen des Redezugs organisiert ist und die der Leser kennen muss, um die in dem direkten Redezug verbalisierten Sachverhalte korrekt zuzuordnen. „Zitat“ ist ein funktionaler Begriff. Er verweist auf das Vorliegen eines Originals, von dem das „Zitat“ eine Dublette ist. Das vom wiedergebenden Text verschiedene lokutive System des wiedergegebenen Textes kann namentlich zugeordnet werden. „Zitate“ sind stets im Modus der „direkten Rede“ verfasst. Das Umgekehrte gilt indessen nicht: Nicht jedem direkten Redezug liegt eine Originaläußerung zugrunde. „[E]s wäre z. b. absonderlich, [sic!] zu sagen, in der geschichte vom Rotkäppchen würden Rotkäppchen, die großmutter, der wolf etc. zitiert.“ (Klockow 1980: 89) Ein Blick in Lehrpläne und Schulbücher zeigt, dass die Anführungszeichen im Lernprozess formal, d. h. an der direkten Rede, nicht pragmatisch, d. h. am Zitat, eingeführt und weiterbearbeitet werden. Diese Selektion hat gute Gründe: Denn ausschlaggebend für das Setzen zumindest eines Teils der konventionellen Anführungszeichen ist nicht der Zitatcharakter einer Äußerung, sondern der hier mit Direktheit bezeichnete Einbettungsmodus. Historisch ist das anders. Die Anführungszeichen starten ihre Karriere mit der Kennzeichnung von (Bibel-)Zitaten (Klein 1998, Parkes 1993, Simmler 1998). Parkes zufolge beginnt diese Nutzung im 9. Jahrhundert, wobei die „diple“ schriftgrammatisch noch kein Interpunktionszeichen, sondern ein Annotationszeichen in der Marginalie ist, das aber bereits das Merkmal [+REDUP] aufweist: In der sogenannten diple (>) (grch. diplh` ‚doppelt‘) haben wir zweifellos die Urform unserer heutigen Anführungszeichen. Das Zeichen ist ikonischen Ursprungs. Es war wohl ursprünglich ein Pfeil am Rande eines Textblocks, der auf eine bestimmte Stelle wies und mit der Zeit graphisch abstrahiert wurde (>@ h › >) [...]. (Klein 1998: 179)
Funktional kennzeichnet die diple „quotations from the Fathers themselves“ (Parkes 1993: 58). Die standardmäßige Markierung von biblischen Zitaten brachte es mit sich, dass zwei weitere Eigenschaften standardmäßig mit Anführungszeichen verknüpft waren: 1. lokutives Fremdsystem und 2. nichtintegrativer Einbettungsmodus („Direktheit“).
132 Quelltext Bibel xxxx xxxxx
Zieltext Exegese yyy yyy yyyyy
xx xxx xxxxx xx xxxx xxxx
h xx xxx xxxxx h xx xxxx xxxx
xxx xxxxx xxx
yyy yyy yyyyy
Zitat lokutives Fremdsystem nicht-integrativer Einbettungsmodus
Abb. 1: Die Anführungszeichen in der biblischen Zeugnisfunktion
Im 16. Jahrhundert rücken die Anführungszeichen von der Marginalie in die Zeile und beginnen sich als Interpunktionszeichen zu behaupten. Abgeschlossen ist diese schriftgrammatische Umstrukturierung erst im 18. Jahrhundert (Parkes 1993, Weyers 1992, Simmler 1998). Parallel zur schriftgrammatischen Neuausrichtung findet eine erste funktionale Erweiterung statt: Man beginnt damit, die vorher für besondere Zitate reservierte Auszeichnung auf alle möglichen lokutiven Fremdsysteme zu übertragen. Nachdem zunehmend auch andere als biblische Originale mit den Anführungszeichen markiert worden waren, werden im weiteren Verlauf auch nicht-authentifizierte direkte Redezüge mit den Anführungszeichen versehen. Die biblischen Zitate haben ihren privilegierten Status verloren. Von nun an werden Äußerungen aus lokutiven Fremdsystemen – unabhängig von ihrem Zitatstatus – mit den Anführungszeichen markiert. Zieltext yyy yyyy yyyyyy lokutives Fremdsystem
„xx xx xxxxx xx xxxx xxx“ yyy yyyyyy yyyy
nicht-integrativer Einbettungsmodus
Abb. 2: Die Anführungszeichen als Markierung der direkten Rede
In diesen Sog geraten auch Titel, die bis dahin schon häufig in Kursive gesetzt worden waren. Anfällig sind Titel für die Anführungszeichen wegen ihrer fremden Urheberschaft. Sie können einem Urheber zugeordnet werden und sind urheberrechtlich geschützt. Jedoch weist die Nennung von Titeln keinen „Zitatstatus“ auf, was der eigenwillige Umgang bei ihrer Einbettung in eine Trägerstruktur zeigt. Der Schreiber hat neben der für das Zitieren obligatorischen wörtlichen Reproduktion des Originaltitels (vgl. 4 [i]) die Möglichkeit, Werktitel zur Herstellung eines integrativen Einbettungsmodus formal zu verfremden (vgl. 4 [ii]). (4)
(i) (ii)
In Schillers „Die Räuber“ In Schillers „Räubern“
Dass die syntaktische Anpassung an die Trägerkonstruktion nicht immer möglich ist, zeigt die Schwierigkeit bei der Verarbeitung von singularischen artikellosen Werktiteln, die also
133 bereits zugrundeliegend die Struktur eines Eigennamens aufweisen. Sie sind relativ integrationsresistent. (5)
(i) (ii) (iii)
Angesichts des Romans „Drachenblut“ Angesichts von „Drachenblut“ *Angesichts des „Drachenbluts“ von Christoph Hein
Bei artikelhaltigen Titeln, also bei solchen, die zugrundeliegend keine Eigennamencharakteristik aufweisen, ist diese Form der Anpassung problemlos möglich: (6)
(i) (ii) (iii)
Angesichts der Erzählung „Der Ketzer von Soana“ Angesichts von „Der Ketzer von Soana“ Angesichts des „Ketzers von Soana“ von Gerhart Hauptmann
Bezüglich der Restriktion bei der Verwendung des definiten Artikels weisen eigennamenförmige Titel auch sonst Ähnlichkeit zu Eigennamen auf: (7)
(i) (ii) (iii)
Ich habe den „Ketzer von Soana“ mehrfach gelesen. *Ich habe das „Drachenblut“ mehrfach gelesen. *Ich habe das Frankreich mehrfach besucht.
(8)
(i) (ii) (iii)
Ich habe „Der Ketzer von Soana“ mehrfach gelesen. Ich habe „Drachenblut“ mehrfach gelesen. Ich habe Frankreich mehrfach besucht.
(9)
(i) (ii) (iii)
Dem „Ketzer von Soana“ kann ich nichts abgewinnen. *Dem „Drachenblut“ kann ich nichts abgewinnen. *Dem Frankreich kann ich nichts abgewinnen.
Allerdings erweist sich die syntaktische Integrationsfähigkeit von eigennamenförmigen Titeln als noch weitergehend restringiert: (10)
(i) (ii)
Frankreichs Binnenstruktur *„Drachenbluts“ Erzählstruktur
Werktitel, die keine nominativischen Nominalgruppen sind („Denn sie wissen nicht, was sie tun“) bzw. solche, bei denen der Titel nicht mit einem Nominativ beginnt („Des Kaisers neue Kleider“), verhalten sich wie die eigennamenförmigen integrationsresistent. Die beschriebenen Restriktionen bei der Integration von Titeln verweisen auf ihren zumindest partiellen Status als Eigennamen. Jedoch zeigen die formalen Restriktionen auch, dass sich zugrundeliegend einnamenförmige Titel von zugrundeliegend nichteigennamenförmigen Titeln unterscheiden. Die Anführungszeichen markieren also nicht global Eigennamenstatus, sondern filtern eine partikulare Eigenschaft von Eigennamen aus: die verschobene Referenz der titelenthaltenden deskriptiven Ausdrücke. Denn Titel sind „als komplexe ausdrücke, durch umsemantisierung oder partikularisierung bestehender lexeme oder
134 auch durch neuschöpfung von lexemen gebildet“ (Klockow 1980: 112). Eben auf diese referenzielle Abweichung orientieren die Anführungszeichen. Die Eigenschaft, dass das mit den Ausdrücken von Titeln gegebene Referenzsystem nicht mit dem Referenzsystem des Trägertextes koinzidiert, teilen die Titel mit der „direkten Rede“, deren Referenzrahmen durch das lokutive Fremdsystem festgelegt ist. Die Freilegung der Eigenschaft von Anführungszeichen, den Referenzrahmen umzusetzen, führt in einem vorläufig letzten Schritt zur Verwendung der Anführungszeichen bei L-Zitaten (s. o.). Kennzeichnend für L-Zitate bzw. die Verwendung sprachlicher Ausdrücke als Exemplare ihrer selbst ist, dass mit ihnen weder die referenzielle noch die propositionale Struktur aktiviert wird. Der Schreiber bezieht sich auf die signifiant-Seite sprachlicher Ausdrücke. In diesem Fall setzen die Anführungszeichen nicht nur den referenziellen, sondern zugleich den propositionalen Rahmen außer Kraft. Gemeinsam ist allen Vorkommen der konventionellen Anführungszeichen, dass die von ihnen eingeschlossenen Einheiten in mindestens einer Hinsicht von einem vorausgesetzten, als Default anerkannten semiotischen System abweichen: Die Geschichte beginnt mit der Kennzeichnung von Zitaten und in der Folge mit der Kennzeichnung von direkten Redezügen; beiden gemeinsam ist, dass das lokutive System des Schreibers durch ein lokutives Fremdsystem ersetzt wird. In einem nächsten Schritt werden die Anführungszeichen zur Markierung von Titeln genutzt; damit wird nun nicht mehr das lokutive, sondern das referenzielle Bezugssystem umgesetzt. Ein letzter Schritt auf diesem Weg führt zur Kennzeichnung von metasprachlichen Verwendungen. Umgesetzt wird die propositionale Bezugnahme; die Rezeption ist auf die Erfassung der Formseite umgestellt. Die Geschichte der konventionellen Anführungszeichen beschreibt demnach das zunehmende Eindringen der Schrift in das semiotische System: vom Sprechersystem zum referenziellen System zum propositionalen System. Maas (2003: 40) beschreibt alle Vorkommen angeführter Ausdrücke zusammenfassend als „inhomogene Textfragmente“ oder „‚Collagen‘“. Diese Redeweise aufgreifend können die Anführungszeichen nun als rahmensetzende Einheiten erfasst werden: Mit ihnen wird der Leser instruiert, einen von der Trägerstruktur semiotisch abweichenden lokutiven, referenziellen und/oder propositionalen Rahmen zu setzen und die in Anführungszeichen eingeschlossenen Ausdrücke als semiotisches Fremdmaterial in einen Text zu implementieren. Die Rahmenumsetzung koinzidiert bei den konventionellen Anführungszeichen mit mangelnder syntaktischer Integration. Die Anführungszeichen sind dafür jedoch weder ursächlich, noch ist diese Struktur für das Setzen von Anführungszeichen erforderlich, wie ihr modalisierender Gebrauch (s. o.) bei völlig intakten syntaktischen Konstruktionen zeigt. Auf den Kopf gestellt ist dieser empirische Befund bei Behrens (1989). Sie vertritt die Auffassung, die Anführungszeichen würden „zur Markierung der syntaktischen Integration benutzt, wenn keine anderen syntaktischen Mittel dazu benutzt werden“ (ebd.: 110). Die Autorin macht hier einen sekundären Effekt (die besondere syntaktische Eigenschaft konventionell angeführter Ausdrücke) zum primären Motor. Die modalisierenden Anführungszeichen bleiben unerklärt. Sie werden zu stilistischen Mitteln degradiert.
135 Die modalisierenden Anführungszeichen Als modalisierend hatte Klockow (1980) diejenigen Verwendungen von Anführungszeichen bezeichnet, die syntaktisch vollständig in die Trägerstruktur integriert sind. (11)
(i) (ii) (iii)
Unser „Muschterländle“ Er war ein „Künstler“ Dies ist die „BRD“
In Anlehnung an Klockow (1980) können die in (i) – (iii) gegebenen Beispiele wie folgt typisiert werden: In (11) (i) steht zwischen den Anführungszeichen ein Ausdruck, der vom orthographischen Standard abweicht. Die Form „Muschterländle“ verweist auf eine spezifische regionale, mündliche Varietät, die in der Regel nicht verschriftet wird. 29 In (11) (ii) ist das anders. „Künstler“ ist ein regulärer Ausdruck der Standardsprache resp. der Schriftsprache. In Anführungszeichen steht er, weil der Schreiber einen „Vorbehalt“ bezüglich der aktuellen Verwendung dieses Ausdrucks geltend macht. Klockow (1980) spricht in diesen Fällen von Applikationsvorbehalt. Beim Applikationsvorbehalt ist sich der Schreiber nicht sicher, ob ein von ihm verwendeter Ausdruck auf den Gegenstand passt, auf den er ihn aktuell anwendet. Mit anderen Worten: Der Schreiber, der (11) (i) äußert, zweifelt nicht daran, ob es überhaupt Künstler gibt; nur ob der, auf den er gerade referiert, einer ist, ist ihm nicht klar. In (11) (iii) äußert sich die Skepsis des Schreibers in anderer Weise. Er zweifelt daran, ob der Ausdruck, den er verwendet, überhaupt ein geeignetes sprachliches Mittel ist. Klockow (1980: 190) spricht in diesen Fällen vom Begriffsvorbehalt: „Ein durch AZ signalisierter inhaltsvorbehalt wird als begriffsvorbehalt interpretiert, wenn der leser anlaß zu der annahme hat, daß der schreiber nicht bloß die aktuelle applikation problematisiert, sondern seine sinnvolle, vorbehaltlose verwendbarkeit generell in zweifel zieht.“ Varietät, Applikations- und Begriffsvorbehalt weisen nun eine zu P-Zitat, L-Zitat und Titeln parallele Struktur auf. 30 Mit der Varietätenmarkierung greift der Schreiber auf einen Sprecher oder eine Sprechergruppe resp. auf deren lokutive Eigenarten zu. Aufgerufen wird hier jedoch nicht (wie im P-Zitat) eine konkrete Sprechsituation, sondern lediglich eine spezifische Sprechweise. Mit dem Applikationsvorbehalt bezieht sich der Schreiber auf die Referenzfähigkeit eines Ausdrucks. Angesprochen ist jedoch nicht – wie bei den konventionellen Anführungszeichen zur Titelmarkierung – eine konkrete andere Referenz. Das Gelingen des referenziellen Aktes wird vielmehr prinzipiell in Zweifel gezogen. Mit dem Begriffsvorbehalt ist die propositionale Struktur tangiert. Auch hier gilt, dass nicht eine bestimmte andere Proposition aufgerufen ist (die sich durch die Fokussierung auf die Formseite ergibt), sondern die Angemessenheit eines Ausdrucks prinzipiell bezweifelt wird. Im Gegensatz zu den konventionellen Anführungszeichen werden mit den modalisierenden Anführungszeichen demnach nicht lokal identifizierbare Rahmenumsetzungen vorge–––––––—––
29
30
Bei großzügiger Auslegung kann man unter diesen Typ der modalisierenden Anführungszeichen auch die Fälle fassen, in denen der Schreiber auf einen anderen Kontextualisierungszusammenhang zugreift (z. B.: die „schillerndste“ Figur des Hamburger Senats) und die Klockow „stilistisch“ nennt. Vgl. hierzu auch Klockow (1980: 118, 130), der die Zusammenhänge zwischen konventionellen und modalisierenden Anführungszeichen m. E. allerdings nicht mit der erforderlichen Konsequenz herausarbeitet.
136 nommen; betroffen von den durch die Anführungszeichen in Gang gesetzten semiotischen Verschiebungen ist nicht der Sprachgebrauch, sondern das Sprachsystem mit den Ebenen Performanz, Referenz und Proposition. Fazit: Wie gezeigt wurde, verläuft die Geschichte der Anführung von der lokutiven über die referenzielle zur propositionalen Markierung. Konventionelle Anführungszeichen werden vor modalisierenden gebraucht. Allerdings ist die Geschichte der Anführungszeichen bislang nur lückenhaft bekannt, so dass die hier formulierten Annahmen den Status der Vorläufigkeit haben. Erste Einblicke in den Erwerb des Anführungszeichengebrauchs (Bredel 2004) zeigen jedoch Ähnlichkeiten zwischen Historio- und Ontogenese: Kinder starten mit der Markierung der direkten Rede und erkennen darauffolgend Titel als anführungszeichensensitive Konstruktionen. Während der Gebrauch der konventionellen Anführungszeichen im 3. Schuljahr einsetzt, dauert es bis zum 6. Lernjahr, bis modalisierende Anführungszeichen verwendet werden. Wie nicht anders zu erwarten, verwenden die Lerner die modalisierenden Anführungszeichen zunächst zur Markierung von Varietäten; erst später werden Applikations- und Begriffsvorbehalte mit den Anführungszeichen gekennzeichnet (Bredel 2004). Die Befundlage ist jedoch insgesamt noch zu dürftig, um bereits abschließende Resultate präsentieren zu können. Die Ontogenese der Anführungszeichen ist eines der vielen Desiderata der Schriftspracherwerbsforschung. Zu Lesestrategien von Anführungsausdrücken liegt m. W. nur die Studie von Perera (1996) vor. Die Diskussion der verschiedenen Anführungszeichengebräuche erbringt abschließend (die Vorläufigkeit der historischen und ontogenetischen Entwicklungslogik berücksichtigend) folgende Typologie: erwähnt/konventionell direkte Rede Titel Metasprache
gebraucht/modalisierend Varietät Applikationsvorbehalt Begriffsvorbehalt
Ontogenese Historiogenese
Lokution Referenz Proposition
Ontogenese Historiogenese Abb. 3: Die Systematik der Anführungspraxis
Die Systematik bildet nicht nur – soweit man bis jetzt weiß – historiogenetische und ontogenetische Reihenfolgen ab, sondern auch eine Interpretationshierarchie: Wie Klockow (1980) gezeigt hat, wird bei der Rezeption von Anführungszeichen zunächst versucht, eine lokutive Verfremdung zu lokalisieren. Erst wenn diese Interpretation misslingt, wird referenzielle Verfremdung in Erwägung gezogen. Misslingt diese, versucht der Leser die Skepsis des Schreibers in der propositionalen Struktur zu lokalisieren. So entspricht die Vertikale in der Systematik auch leserseitigen Präferenzen bei der Interpretation angeführter Ausdrücke. Die Bearbeitung der Anführungszeichen abschließend soll im Folgenden die bisherige Analyse mit den schriftgrammatischen Tatbeständen verknüpft und der Status der Anführungszeichen als S-Klitika pointiert werden.
137 In der historischen Rekonstruktion wurde eine Entwicklungslinie der Anführungszeichen bislang nicht angesprochen: Bereits in der Zeit, als die diple ausschließlich den biblischen Quelltext annotierte, begannen Schreiber damit, die Anführungszeichen für die Markierung wichtiger Textstellen, also als „Hervorhebungszeichen“ zu verwenden (Parkes 1993). Die Genese dieser Anführungszeichenverwendung ist mehr als plausibel: Die mit der diple gekennzeichneten Fremdbestandteile waren aus der Sicht der damaligen Schreiber fundamentale, weil „göttlich legitimierte[n] Wahrheiten“ (Klein 1998: 180). Sie waren besonders „wichtig“. Wollte man andere Textstellen als wichtig ausweisen, bot sich die diple als Markierung an. Die beiden Funktionen – die Zitatfunktion und die Hervorhebungsfunktion – existierten eine Weile lang parallel. In der Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung der Anführungszeichen, die nun nicht mehr nur für die Markierung „wichtiger“ Textstellen fungierten (vgl. aber Meibauer 2007), setzte sich dann eine typographische Funktionsteilung durch: Die Hervorhebungsfunktion wird mehr und mehr von linear-suprasegmentalen Mitteln (Kursive, Unterstreichung, Fettdruck etc.) übernommen; die Markierung von semiotischen Abweichungen von den Anführungszeichen. Zusätzlich werden bis ins 20. Jahrhundert hinein fremdsprachige Ausdrücke durch Schriftwechsel (Antiqua/Fraktur) unterschieden. Bis heute gilt: „Fremdsprachige Wörter und Wortgruppen, die nicht durch Schreibung, Beugung oder Lautung als eingedeutscht erscheinen, müssen im Fraktursatz in Antiqua gesetzt werden.“ (Duden 222000: 90) Die Fusionsbereiche zwischen den verschiedenen Auszeichnungspraktiken bleiben durch die paradigmatische Austauschbarkeit von Anführungszeichen und spezifischen Schriftauszeichnungen bei Zitaten bis heute erkennbar. Und die Identifizierung der Anführungspraxis mit der Hervorhebungsfunktion geht so weit, dass für die Regulierung der Anführungszeichen bei L-Zitaten noch in den AR 1996 von „Hervorhebung“ die Rede ist. 31 Eine echte Funktionsspaltung zwischen linear-suprasegmentalen Mitteln (Kursive etc.) und Anführungszeichen ist bei den modalisierenden Anführungszeichen zu verzeichnen, die keine Substitution zulassen (Er war ein „Künstler“/*Er war ein Künstler). Die Anführungszeichen sind alternativlos. 32 Eben für diese Anführungszeichenverwendung war gesagt worden, dass sie nicht syntaktisch rekonstruierbar ist. Die angeführten Ausdrücke verhalten sich syntaktisch so, als wären sie nicht angeführt. Schließt man nun also von der Funktion der Anführungszeichen auf ihren klitischen Status (denn der klitische Status soll ja auch funktional gerechtfertigt sein), so verfügen sie dort, wo sie mit keiner weiteren Auszeichnungspraxis konkurrieren, über eine geradezu prototypische Voraussetzung für SKlitisierung, für die angegeben worden war, dass die so applizierenden graphischen Merkmale kein syntaktisches Instruktionspotential aufweisen.
–––––––—–– 31
32
AR 1996, § 94: „Mit Anführungszeichen kann man Wörter oder Teile innerhalb eines Textes hervorheben und in bestimmten Fällen deutlich machen, dass man zu ihrer Verwendung Stellung nimmt, sich auf sie bezieht.“ Gesondert in den Blick zu nehmen wären ästhetische Nutzungen von Kursivschreibungen wie etwa bei Thomas Bernhard. Hier scheint mit dem Mittel der linear-suprasegmentalen Überlagerung eine spezifische Form von polyphonem Handeln erzeugt zu werden. Zur Interpunktion bei Bernhard vgl. Haueis (2000).
138 Ein guter schriftgrammatischer Indikator dafür, dass die Anführungszeichen auf Segmentebene ansetzen, ist ihre bereits in anderem Zusammenhang angesprochene Interaktion mit dem Divis (vgl. Kap. II, 3.6): (12)
Bindestrich: (i) „Heimat“-Museum (ii) *„Heimat-“Museum Trennstrich: (iii) *„Baga“- [Trennstelle] „telle“ (iv) *„Baga-“[Trennstelle] „telle“ Ergänzungsbindestrich: (v) „Heimatkunde-“ und „Naturkundemuseen“ (vi) *„Heimatkunde“- und „Naturkundemuseen“
Die Anführungszeichen nehmen den Ergänzungsbindestrich in den Skopus, nicht aber den Binde- oder den Trennstrich. Die konstituentenstrukturelle (Kap. II, 3.6.) und funktionale Bestimmung (Kap. III, 2) der Divisvorkommen hatten in Anlehnung an Srinivasan (1993) zu dem Schluss geführt, dass der Divis als Ergänzungsbindestrich die Funktion eines placeholders für noch nicht verbalisierte Einheiten übernimmt. Er steht also in diesem Kontext für sprachliches Material. Als Binde- und Trennstrich übernimmt der Divis diese placeholder-Funktion nicht; sie sind nicht Teil des Ausdrucks, den sie markieren. Die Anführungszeichen können den Divis in diesen Funktionen entsprechend nicht in den Skopus nehmen. 33 3.1.2 Die Klammern Bei Klammerkonstruktionen liegen andere Grammatikalitätsverhältnisse vor: (13)
Bindestrich: (i) (Heimat-)Museum (ii) *(Heimat)-Museum Trennstrich: (iii) (Baga- [Trennstelle] telle) (iv) *(Baga)- [Trennstelle] (telle) (v) *(Baga-) [Trennstelle] (telle)
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33
Insgesamt sollte die schriftgrammatische Distribution der Anführungszeichen einen hervorragenden Indikator für die Beschreibung der Interpretationseffekte auch der anderen Interpunktionszeichen abgeben. So können sie punktierte, mit dem Ausrufezeichen und mit dem Fragezeichen versehene Ausdrücke in den Skopus nehmen. Kommatierte, mit dem Semikolon oder dem Doppelpunkt markierte Einheiten nicht. Dieser Zusammenhang kann hier jedoch nicht mehr verfolgt werden.
139 Ergänzungsbindestrich: (vi) sie hatten auf- (und ab-) und umgebaut (vii) *sie hatten auf- (und ab)- und umgebaut Zwar gelten für den Ergänzungsbindestrich und den Trennstrich für Anführungszeichen und Klammern dieselben Bedingungen, beim Bindestrich aber verkehren sich die Verhältnisse: Im Gegensatz zu den Anführungszeichen können die Klammern auf dem Bindestrich operieren. Dies weist nun darauf hin, dass die Klammern nicht – wie die Anführungszeichen – sprachliche Bedeutungen der von ihnen eingeschlossenen Ausdrücke modifizieren, sondern in irgendeiner Hinsicht strukturelle Funktion übernehmen. Dafür spricht auch ein weiterer schriftgrammatischer Indikator: Während Anführungszeichen ausschließlich bedeutungstragende Einheiten in den Skopus nehmen (14) (i), schließen die Klammern auch bedeutungsunterscheidende Einheiten ein (14) (ii): (14)
(i) (ii)
sieb(en)tens *sieb„en“tens
Die Komplementarität von Anführungszeichen und Klammer zeigt sich an einem weiteren schriftgrammatischen Befund: Angeführte Ausdrücke können als ganze geklammert (15) (i), geklammerte Ausdrücke aber nicht als ganze angeführt werden (15) (ii). Auf diese schriftgrammatische Spezifik wird später zurückzukommen sein. (15)
(i) (ii)
(„xxxx“) *„(xxxx)“
Instruktiv für eine erste Annäherung an die Funktion der Klammer ist auch hier der historische Exkurs. Die Klammern gehen nicht nur schriftgrammatisch, sondern auch historisch einen den Anführungszeichen entgegengesetzten Weg: Waren diese zunächst dazu da, biblische (das heißt autoritativ hochwertige) Fremdbestandteile von Eigenbestandteilen zu sondern, werden die Klammern gebraucht, um (eher geringgeschätzte) Eigenbestandteile in Fremdtexte einzuführen: In der frühen Neuzeit verlor die mittelalterliche Schriftkultur nicht nur durch die Erfindung der Druckerpresse einiges von ihrer einstigen Exklusivität. In vielerlei Hinsicht fühlten sich die Zeitgenossen dabei als Zwerge auf den Schultern von Riesen. Texthistorisch formuliert: Auf allen Sachgebieten kursierten antike Texte, die als mehr oder weniger autoritative Schriften galten. Angesichts der vorausgesetzten Sachhaltigkeit dieser Texte traute sich das Gros der Zeitgenossen in bestimmter Hinsicht nur zu, Anmerkungen, Marginalien und Zusammenfassungen zu den auctoritates zu erarbeiten. [...] Daß man zu zentralen Texten eigene Zusätze lediglich in Klammern beisteuern konnte, könnte dem Geist der Epoche also nicht nur metaphorisch sehr entsprochen haben. Jedenfalls ist es zu bedauern, daß bis heute noch keine größere quellenorientierte Untersuchung zur Geschichte des Klammerngebrauchs existiert. Vielleicht würde sich darin zeigen, daß der oft beschworene Aufstieg des modernen Individualismus schrifthistorisch zunächst in Klammern formuliert wurde. (Klein 1998: 183f.)
Historisch sind die Anführungsstellen also „unverzichtbare“ Belege einer Autorität, die Klammerstellen (verzichtbare) Kommentierungen eines Autors. Die Entbehrlichkeit von
140 Klammerzusätzen wird bereits 1478 von Wyle rezeptionstheoretisch (online) erfasst: Geklammerte Ausdrücke seien zu lesen „glycher wyse / als ob die selb ingezogen schriffte nienert alda gesehriben stuend“ (zit. nach Höchli 1981: 14). Es wird sich zeigen, dass die Funktion der Klammer mit dieser Formulierung um einiges korrekter – wenn auch keineswegs hinreichend – beschrieben ist als 518 Jahre später mit den AR 1996: § 86: „Mit Klammern schließt man Zusätze oder Nachträge ein.“ Ausgehend von der Funktion, autoritativ gesichertes Wissen mit Eigenkommentaren anzureichern, entwickelt die Klammer zunehmend die Funktion, auch innerhalb eines monographischen Zusammenhanges verschiedene Textebenen zu unterscheiden (z. B. Haupttext und Erläuterung, die beide vom gleichen Autor stammen). In beiden Funktionen, der Erläuterung von Fremd- und der Erläuterung von Eigentexten konkurrieren die Klammern mit der Fußnote, die sich als Mittel zur Textannotierung zunehmend durchsetzt.34 Die Klammern erobern eine neue, von den Fußnoten nicht besetzte und auch nur schwer besetzbare Domäne. Sie markieren syntaktische Parenthesen: (16)
(i) (ii)
Dann haben sie Hartmut (schon lange Schriftexperte) berufen. *?Dann haben sie Hartmut1 berufen.
______ 1
schon lange Schriftexperte
In dieser Funktion stehen die Klammern jedoch mit anderen Auszeichnungspraxen in Konkurrenz: mit dem paarigen Gebrauch des Gedankenstrichs und dem paarigen Gebrauch des Kommas. Mentrup (1983) nimmt daher eine paradigmatische Position an, in der Klammern, paarig gebrauchtes Komma und paarig gebrauchter Gedankenstrich stehen können. Er steht mit dieser Position exemplarisch für eine durch die Engführung auf die Syntax gekennzeichnete Theoriegeschichte, die dazu geführt hat, auch die Klammer (wo immer es möglich war und ist) als syntaktisches Interpunktionszeichen zu identifizieren. Die Parenthese (die häufig syntaktisch desintegriertes Material enthält) ist dafür die vielversprechendste Konstruktion. Die Fälle, in denen geklammerte Einheiten syntaktisch integriert sind – Er hatte einen (verführerischen) Backenbart í, aber auch Fälle wie Student(in) müssen dann anderweitig untergebracht werden. Exemplarisch für diese Auffassung steht Behrens (1989): Dort, wo sie mit der syntaktischen Desintegration des geklammerten Ausdrucks koinzidieren (vor allem also bei Parenthesen oder „Nachträgen“), lokalisiert sie die Klammern als syntaktische Mittel, und dort, wo dies nicht der Fall ist, lokalisiert sie sie als „Schreibkonventionen“. Nicht zum ersten Mal mündet diese Analyse in eine theoretisch induzierte Polyfunktionalitätsauffassung. Auch bei Zifonun et al. (1997: 297) gilt die Syntax als ausschlaggebend: „Klammern [...] markieren einen syntaktisch nicht in den Text integrierten Einschub oder einen Ausdruck, der lokale Zusatzinformationen oder Ergänzungen zu einem Satzteil bzw. zum ganzen Satz gibt. Die Größe der Einheit in der Klammer ist nicht festgelegt.“ Um auch die syntaktisch –––––––—–– 34
Eine instruktive Übersicht über die Entwicklung der Fußnote in den Geisteswissenschaften gibt Grafton (1998). Dort ist der Nachweis geführt, dass der Aufstieg des modernen Individuums wohl nicht – wie Klein (1998) vermutet – in Klammern, sondern in Fußnoten formuliert wurde.
141 nicht rekonstruierbaren Klammerverwendungen unterzubringen, heißt es dann: „Das Klammerzeichen ist weitverbreitet und polyfunktional.“ (Ebd.: 296) In den Regeln des Duden (201991) wird „eingeschobenen Sätzen“, deren Klammerung in R 85 eigens geregelt ist, eine Sonderstellung eingeräumt. Daneben sind Klammern in Hinsicht auf „erklärende Zusätze“ (R 84), „[e]igene Zusätze“ (R 88) und „Buchstaben, Wortteile oder Wörter“ (R 89) geregelt. Eine einheitliche Bezugsebene ist nicht erkennbar. Maas (2003: 65ff.) behandelt die Klammer unter dem Stichwort „syntaktische Inhomogenität“, und bei Baudusch (1984 [31989]: 166) heißt es, die Funktion der Klammer sei es, „Einzelwörter, Satzteile oder Sätze aus dem übrigen Satzverband herauszuheben und als zusätzliche Information zu kennzeichnen“. Weiter schreibt sie: „Meist handelt es sich bei den eingeklammerten Angaben um Informationen, die einer syntaktischen Einordnung widerstreben oder ihr bewußt entzogen werden.“ (Ebd.) Sowohl Polyfunktionalität als auch Syntaxzentriertheit werden in den AR 1996 vermieden. Die Kennzeichnung der geklammerten Konstruktionen als „Zusätze“ oder „Nachträge“ (§ 86) sprechen einheitlich die Informationsstruktur von Texten an, auch wenn nicht ganz klar wird, was damit gemeint ist. Klarer in dieser Hinsicht ist Gallmann (1985). Aufgrund der Beobachtung, dass „Klammern [...] auf allen grammatisch definierten Ebenen der Schreibsprache vorkommen [können]“ (ebd.: 167), lokalisiert er als Kernfunktion der Klammer die „Weglaßbarkeit“ der geklammerten Ausdrücke, bezieht sich also auf ein Kriterium, das bereits 1478 von Wyle eingebracht worden war. Nun muss das Kriterium der „Weglaßbarkeit“ selbst jedoch genauer bestimmt werden. Denn es könnte sich um syntaktische, semantische, informationsbezogene oder pragmatische Weglassbarkeit handeln. Mentrup (1983: 219) spricht unspezifisch davon, die „Struktur“ des Trägertextes bliebe ohne den Klammerzusatz „erhalten und richtig“. Die bis hierher referierten Positionen aus der Literatur legen syntaktische Weglassbarkeit nahe. Besonders gute Kandidaten für syntaktische Weglassbarkeit sind Attribute: (17)
(i) (ii) (iii)
der berühmte Pianist der berühmte Pianist der (berühmte) Pianist
Nicht weggelassen und daher nicht geklammert werden können koordinierte Attribute (18): (18)
(i) (ii) (iii)
Die braune und die graue Katze *Die braune und die graue Katze *Die (braune) und die graue Katze
Alles deutet darauf hin, dass sich das Kriterium der Weglassbarkeit syntaktisch definieren lässt. Erklärungsbedürftig sind dann aber Fälle wie (19) (ii): (19)
(i) (ii)
Meine Eltern (die gestern erst zurückgekommen sind) wollen schon wieder verreisen. *Jeder Amerikaner (der einen Jeep hat) fährt auch damit.
142 Obwohl die nach Klammerung verbleibende Restkonstruktion in allen Fällen syntaktisch intakt ist, ist die Klammer nicht überall erlaubt. In (19) (ii) liegt restriktive Lesart vor. Restkonstruktion und Vollform legen bezüglich des betroffenen Referenzobjekts (Amerikaner) verschiedene Extensionen fest. Geklammert werden können Relativsätze offensichtlich nur dann, wenn die nichtrestriktive Lesart vorliegt (vgl. 19 [i]). Umgekehrt formuliert: Die Klammer schließt die restriktive Lesart aus. 35 Da viele Relativsätze beide Lesungen haben (Eisenberg 1999 [22004]: 271f.), kann die Klammer als ein Mittel verwendet werden, die nichtrestriktive Lesart sicherzustellen. Aus diesem Befund ergibt sich nun folgende Arbeitshypothese: Geklammert werden können nur solche Einheiten, die nicht zur textuellen Sachverhaltskonstitution beitragen. 36 Einer der wenigen, der diese Eigenschaft von Klammerkonstruktionen wahrnimmt, ist Steinhöwel (1473). Er definiert die Klammer als „zwey mönlun gegen ainander also ( ) zwischen denen ain red beschlossen ist ! vnd haissen zaichen perentisis vnd bedüten / dz die red zwischen inen beschlossen / ain yngeworfne red ist / on die / der sin der andern red dar inn sie beschlossen ist / nit verendert würt.“ (Zit. nach Höchli 1981: 19.) Die Eigenschaft, dass die Bedeutung des in der Trägerstruktur verbalisierten Sachverhaltes von Klammerkonstruktionen nicht tangiert wird, verweist nun darauf, dass Klammerausdrücke (vorläufig gesprochen) auf einer anderen „Textebene“ operieren als nicht geklammerte Ausdrücke. Dieser Befund führt zu den historischen Anfängen zurück: Die Klammer kommt als Mittel der Implementierung auktorialer Kommentierungen in die Schrift. Die erste Aufgabe der Klammer ist es also nicht, „Textteile mit den Merkmalen ‚nebensächlich‘, ‚für das Gesamtverständnis entbehrlich‘“ (Gallmann 1985: 167) zu separieren, sondern solche, in denen sich der Schreiber als Autor zu Wort meldet. Dass die Schreiber dies für „nebensächlich“ hielten, wie Klein (1998) gezeigt hat, ist sekundär. Um nun die von der historischen Bestimmung ausgehende sprach- bzw. texttheoretische Rekonstruktion von Klammerausdrücken leisten zu können, müssen die verfasser/leserseitigen Handlungen beim Textschreiben/-lesen genauer gefasst werden. Schreiber haben mindestens eine doppelte Aufgabe: Zu leisten ist zum einen die Versprachlichung eines Sachverhalts. Zum anderen muss der Schreiber für eine verständnissichernde Wissensprozessierung beim Leser sorgen. Isers Konzept des „impliziten Lesers“ nimmt auf diesen Aspekt der Textkonstitution Bezug. Mit Ecos „Lector in fabula“ wird der Leser weiter institutionalisiert. Im Rahmen der funktionalen Pragmatik, die den Hörer als konstitutive analytische Kategorie in die sprachanalytische Arbeit einbezieht, wird dieser zweite Aspekt des sprachlichen Handelns, die sprecher-hörerseitige Verständigungssicherung, einer systematischen Rekonstruktion zugänglich: Die Orientierung eines Schreibers an einem „impliziten Leser“ kann als antizipatorische Regulierung der rezipientenseitigen Verstehenssicherung konzeptualisiert werden. Diese sprachliche Teiltätigkeit wird in der Regel weder sprachlich noch graphisch gesondert; sie wird (z. B. durch die Anordnung des Wissens sowie durch die Verwendung spezifischer sprachlicher Mittel wie nämlich, denn, s. o., etc.) zusammen mit der entsprechenden Sachverhaltsrekonstruktion organisiert. –––––––—––
35
36
Im Englischen ist die Unterscheidung zwischen restriktiven und nichtrestriktiven Relativsätzen weiter grammatikalisiert als im Deutschen: Dort wird nur der nichtrestriktive Relativsatz kommatiert. Für diese Auszeichnungspraxis auch fürs Deutsche votiert Mentrup (1983: 19f.). Vgl. hierzu auch Hoffmann (1998).
143 Nun gibt es neben solchen „unauffälligen“, implizit bleibenden Formen der Verstehensregulierung jedoch auch sprachliche Handlungen, die den Zweck haben, die Verstehensleistung des Hörers/Lesers explizit zu bearbeiten. Dies sind u. a. Begründen (Ehlich & Rehbein 1986, Redder 1990), Erläutern und Erklären. Mit diesen Mustern wird nicht einfach Wissen über einen Sachverhalt (neu- oder weiter-)bearbeitet, sondern Wissen über Wissen verfügbar gemacht: Der Sprecher erläutert, begründet oder erklärt, um dem Hörer ein zuvor im Diskurs verfügbar gemachtes Wissen verstehbar zu machen. Die Existenz solcher Muster verdankt sich der Mehrstufigkeit des Gesamtverstehensprozesses selbst. Wie Ehlich & Rehbein (1986: 105) annehmen, sind beim Verstehen mindestens die folgenden Teiltätigkeiten involviert: 37 (a) (b1) (b2) (b3) (c)
S realisiert eine Sprechhandlung [...]; H hört den Äußerungsakt; H identifiziert den propositionalen Akt; H identifiziert den illokutiven Akt [...]; H überprüft, ob die von S hinsichtlich der Situation gemachten Annahmen mit seinen eigenen übereinstimmen; (d) H übernimmt den hörerseitigen Teil der Sprechhandlung; (e) H bringt die Nachgeschichte der Sprechhandlung zu Ende.
Entscheidend an dieser Modellierung ist, dass die rezipientenseitige Identifikation des lokutiven, des propositionalen und des illokutiven Aktes (b), die zum Wissen führt, von der Einarbeitung (c) und der Übernahme (d) dieses Wissens separiert ist; das Verfügen über Wissen und seine Einarbeitung erscheinen als aufeinander bezogene Teiltätigkeiten im Gesamtverstehensprozess. Im Folgenden soll das Resultat aus (b1í3), also das hörerseitige Verfügen über eine Proposition/Illokution, Wissen, die Einarbeitung dieses Wissens (c) Verstehen genannt werden. In der Regel vollziehen sich Wissen und Verstehen „in einem Zug“. Dekomponiert werden müssen sie vom Sprecher dann, wenn zu befürchten steht, dass der Hörer die Verstehensleistung nicht vollziehen wird/kann. Die für diese Dekomposition verfügbaren Handlungsmuster Begründen, Erläutern und Erklären enthalten demnach Wissen, „das in der Lage ist, Hinderungen im interaktionalen Handlungsablauf zu beseitigen“ (Ehlich & Rehbein 1986: 94). Zur Erfassung der Klammerfunktion soll auf dieser Basis – Muster wie Erklären, Erläutern und Begründen zusammenfassend – als leitender Begriff das Kommentieren bzw. das Kommentierungshandeln verwendet werden. Kommentierungshandlungen dienen der Bearbeitung des rezipientenseitigen Verstehens. Sie machen Wissen verfügbar, das geeignet ist, bereits gegebenes Wissen mit dem hörerseitigen Erwartungssystem in Deckung zu bringen. Kommentierungen operieren demnach nicht auf Sachverhalten, sondern direkt auf dem hörerseitigen Verstehen. Nun ist in der schriftlichen Kommunikation diese Bezugnahme wegen der „Dissoziierung der unmittelbaren Sprechsituation“ (Ehlich 1994: 21) erschwert. Denn Leser und Schreiber sind füreinander unsichtbar. Schon deshalb musste Iser nachträglich einen „impliziten“ Leser konzeptualisieren, der sich neben dem bei der Textproduktion nicht verfüg–––––––—–– 37
Die Darstellung wurde um die hier nicht zur Debatte stehenden Aspekte gekürzt.
144 baren „expliziten“, realen Leser zumindest als idealer (verstehender) Rezipient im Text behauptet. Für die vorliegende Rekonstruktion ist jedoch das Begriffspaar „explizit“/„implizit“, mit dem reale Leser (und Schreiber) von fiktiven Lesern (und Schreibern) unterschieden werden, nicht ganz passend. Besser geeignet ist das Konzept von overt und covert narrator bzw. overt/covert writer. In der engen Auslegung dieser Begriffe reguliert der overt writer die Verständigung zwischen dem Erzähler und dem Leser. Er wird dort sichtbar, wo er den Leser in seiner Rolle als Leser (sei dieser explizit oder implizit) adressiert. In diesen Fällen wird dann auch der covert reader zum overt reader. Mit dem Begriffspaar overt und covert sind somit zwei Instanzen eines kommunikativen Ereignisses angesprochen. Der covert writer prozessiert Wissen, der overt writer sorgt für eine störungsfreie Einarbeitung dieses Wissens beim Leser, ist also für das Verstehen im oben definierten Sinn zuständig. Den Normalfall der schriftlichen Kommunikation bilden der covert writer und der covert reader. Leser und Schreiber sind mit der Wissensbearbeitung beschäftigt. Eine explizite Thematisierung des Verstehensprozesses erfolgt in der Regel nicht. Das System ist „blind“ gegen seine eigene Verfasstheit. Ein probates Mittel, aus der Rolle des covert writer herauszutreten und verstehensbezogene Äußerungen zu prozessieren, ist das Öffnen einer Klammer, in der der Schreiber zum overt writer wird und so einen „direkten Draht“ 38 zum overt reader herstellt, um dessen Verstehen zu optimieren. 39 Auf dieser Grundlage wird nun auch das Kriterium der „Weglaßbarkeit“ (s. o.) einer analytischen Rekonstruktion zugänglich. Gallmann (1985) hatte die Weglassbarkeit geklammerter Ausdrücke daran gebunden, dass Klammerzusätze „‚für das Gesamtverständnis entbehrlich‘“ seien. Verwendet man den Ausdruck „Gesamtverständnis“ wie Gallmann vortheoretisch, so ist damit gemeint, dass ein Weglassen der Klammerausdrücke die Sachverhaltsrekonstruktion, die vom covert writer/reader prozessiert wird, nicht tangiert. Nimmt man den Ausdruck „Verständnis“ bzw. Verstehen, wie es hier geschieht, als analytische Kategorie, dann ist von dem Weglassen von Klammerkonstruktionen jedoch gerade dieses (das „Gesamtverständnis“) betroffen. Folgt man der bis hier entwickelten Auffassung, so ist die Frage nach der Eigenschaft von Klammerausdrücken nun nicht syntaktisch, semantisch oder informationstheoretisch, sondern pragmatisch zu beantworten: In Klammern stehende Passagen tragen nicht zur Sachverhaltskonstitution bei (dafür ist das Klammerverbot bei restriktiven Attributen ein gutes Indiz, s. o.), sondern beziehen sich auf das leserseitige Einarbeiten/Verstehen einer gegebenen Sachverhaltskonstitution. Mit der Implementierung von Klammerkonstruktionen werden Wissen und Verstehen dekomponiert. Außerhalb der Klammer wird das Wissen, in –––––––—–– 38
39
Die Rede vom „direkten Draht“ übernehme ich von Ehlich (1986a), der damit die Funktionsweise der expeditiven Mittel der Sprache (Interjektionen, Imperative) charakterisiert. Dass der Schreiber sich in der Klammer selbst zu Wort meldet, ist – wenn auch implizit – die Grundlage für die Interpretation von Prousts Texten durch Adorno: „Seine [Prousts, U. B.] eingeklammerten Parenthesen, die wie das Schriftbild so den Vortrag unterbrechen, sind Denkmäler der Augenblicke, da der Autor, müde des ästhetischen Scheins und mißtrauisch gegen die Selbstgenügsamkeit der Vorgänge, die er doch ohnehin nur aus sich hervorspinnt, offen die Zügel ergreift.“ (Adorno 1956 [1997]: 111f.)
145 der Klammer wird das Verstehen bearbeitet. Ausgetragen wird die Regulierung des Verstehens von den Protagonisten des Handlungssystems, für das das Verstehen geleistet werden muss: vom overt writer und dem von ihm in Klammern adressierten overt reader. Je expliziter die Klammereinheit auf die Rollen von overt writer/reader verweist, desto weniger akzeptabel sind Alternativauszeichnungen (vgl. [20]): (20)
(i) (ii) (iii)
Regisseur Jesse Dylan (ja, der Sohn von Bob) bleibt im personell abgespeckten Finale dem bewährten Rezept treu (TV Spielfilm 15/2007: 66) ? Regisseur Jesse Dylan – ja, der Sohn von Bob – bleibt im personell abgespeckten Finale dem bewährten Rezept treu ... ? *Regisseur Jesse Dylan, ja, der Sohn von Bob, bleibt im personell abgespeckten Finale dem bewährten Rezept treu ...
Bevorzugt treten Klammerkonstruktionen nach der zu kommentierenden Sachverhaltsrekonstruktion auf. Diese Linearisierung folgt dem logischen Nacheinander von Wissen und Verstehen (s. o.). Die Bevorzugung von nachträglichen vor antizipatorischen Kommentierungen hat nun auch einen schriftgrammatischen Reflex. Wie Nunberg (1990) herausgearbeitet hat, sind Klammerkonstruktionen (zumindest Klammerkonstruktionen bestimmten Typs, s. u.) am Text- oder Satzanfang nicht zugelassen: (21)
(i) (ii) (iii) (iv)
*(Der Sohn von Bob) Jesse Dylan ... Jesse Dylan (der Sohn von Bob) ... *(Jesse Dylan) der Sohn von Bob ... Der Sohn von Bob (Jesse Dylan) ...
In an Konstruktionen orientierten Interpunktionskonzepten gilt die Parenthese als zentraler Anwendungsbereich der Klammer. Der enge Konnex zwischen der Klammer und der Parenthese macht sich bereits in seiner Terminologiegeschichte bemerkbar: Bis ins 20. Jahrhundert hinein ist „Parenthese“ die Klammer selbst (im Englischen noch heute „parenthesis“ neben „bracket“). Die Bezeichnung „Klammer“ taucht überhaupt erst im 18. Jahrhundert auf (zum ersten Mal 1746 bei Wippel), wird aber in der Folge nicht durchgängig verwendet. Noch 1900 steht bei Blatz „Parenthesezeichen“. Erst nach der Übernahme der Interpunktionsregeln in der 9. Dudenauflage von 1915 setzt sich der Ausdruck „Klammer“ durch. Zifonun et al. (1997: 2363) definieren die Parenthese wie folgt: „Parenthesen sind ein spezielles Verfahren, mit dem Sätze oder Phrasen in einen Trägersatz – meist bilden Phrasengrenzen ‚Parenthesennischen‘ – eingeschoben werden können. [...] Funktional besteht eine ‚Anbindung‘ an das im Trägersatz Gesagte, insofern dazu ein Kommentar, eine Verstehenshilfe, Erläuterung, Präzisierung, ein Nebenaspekt usw. gegeben wird“. Weiter heißt es: „[Ü]ber eine solche Zwischenschaltung kann die Rezeption unmittelbar gesteuert werden.“ (Ebd.: 2363f.) 40 Diese funktionale Definition und die bis hier gegebene Klammerbeschreibung zugrundegelegt, verfügt die Parenthese über alle relevanten Eigenschaften, die –––––––—––
40
Zu den „Installationsverfahren“ von Parenthesen und einer entsprechenden Subklassifikation vgl. Hoffmann (1998).
146 sie für die Klammer prädestinieren. Die Terminologiegeschichte (s. o.) kann auf diesem Hintergrund nicht mehr überraschen. Gegenüber Rechtsherausstellungen („Nachträge“) steht die Parenthese satzintern. Die „Verstehenshilfe“ (s. o.) wird simultan zur Wissensprozessierung angeboten. Diese Auffassung vertritt in ähnlicher Weise Kügelgen (2003), der die sprecher-hörerseitigen Tätigkeiten bei der Produktion und Rezeption von Parenthesen untersucht. Den Unterschied zwischen der parenthetischen gegenüber der seriellen Prozessierung beschreibt Kügelgen als „ein Operieren von Propositionen und Illokutionen aufeinander“ (ebd.: 224). Erreicht wird dieses Aufeinanderoperieren dadurch, dass der Hörer/Leser beim Eintritt in die Parenthese das bislang gegebene, noch unvollständige Wissen speichert, in einer „Schleife“ weitere Propositionen verarbeitet und erst dann die Bearbeitung der gespeicherten Konstruktion – nun aber angereichert durch die in der Parenthese gegebene, einen Verstehensbeitrag leistende Information – weiterführt. Damit wird die in der Parenthese gegebene Information zusammen mit der Weiterprozessierung des in der Trägerkonstruktion gegebenen Wissens verarbeitet. Hier ist nun auch zu sehen, was den Gedankenstrich als Parentheseindikator geeignet macht. Wie Kügelgen (2003: 227) festhält, haben Parenthesen „ihren Ansatzpunkt [...] im Plan der Verbalisierung“. Der Autor führt diese Überlegung wie folgt aus: Im Durchführungsstadium der Verbalisierung kann deutlich werden, dass der Plan so nicht vollständig zufriedenstellend umgesetzt werden kann, sondern einer parenthetischen Modifikation oder zusätzlichen Ausführung bedarf. Dafür ist einerseits der Umstand verantwortlich zu machen, dass der Plan selbst erst im Zuge seiner Ausführung hervorgebracht wird [...]. Andererseits steht der Sprecher beim Verbalisieren ja in Interaktion, prozessiert gewissermaßen zweigleisig die eigene Äußerung und antizipiert bzw. rezipiert im Monitoren die Mitkonstruktion des Hörers. Als Ergebnis dieser Vorgänge wird in der Parenthese zu dem als ausführungsbedürftig erkannten pFragment abermaliges Wissen des Sprechers eigenständig verbalisiert, im mentalen Bereich des Hörers verarbeitet und auf die nun wieder aufgegriffene Vervollständigung der Verbalisierung der seriellen Konstruktion angewendet. (Kügelgen 2003: 228)
Mit der Umstrukturierung eines laufenden Verbalisierungsplans, die Kügelgen zufolge für die Prozessierung von Parenthesen typisch ist, ist nun genau die Eigenschaft angesprochen, die den Gedankenstrich, der zu Verkettungsabbruch und Fokuswechsel instruiert, zu einem geeigneten Parentheseindikator macht. Jedoch ist – gegen die Auffassung von Kügelgen – die für Parenthesen typische Umplanung im Schreibprozess gerade keine Ad-hoc-Aktivität. Schreiberseitige Pläne werden solange korrigiert, bis ein von Planungsschwierigkeiten bereinigtes Produkt entstanden ist. Verwendet ein Schreiber die Parenthese, simuliert er lediglich einen Planungsdefekt. Mit der schriftsprachlichen Parenthese werden die für Planungsschwierigkeiten typischen Verarbeitungsabläufe strategisch genutzt. Vergleicht man die Klammer und den Gedankenstrich in Bezug auf ihre Leistung bei der Markierung von Parenthesen, lässt sich nun sehen, dass es sich gerade nicht um gleichwertige Alternativen handelt: Die Klammer nimmt Bezug auf die propositionalen/illokutiven Eigenschaften der Parenthese (verstehenssichernde Äußerung des overt writer, die simultan zur Trägerstruktur prozessiert wird), der Gedankenstrich nimmt Bezug auf die spezifische Linearisierung bei der Parentheseverarbeitung (Umstrukturierung des sprecherseitigen Verbalisierungsplans).
147 Diese Arbeitsteilung korrespondiert den graphetischen Formunterschieden: Das Aufbauelement [–VERT] beim Gedankenstrich ist ein Indikator für Verkettungsanweisungen, das Aufbauelement [+VERT] bei der Klammer ist ein Indikator für einen Rollenwechsel. Die gemeinsame graphetische Eigenschaft von Klammer und Gedankenstrich, [+REDUP], verweist auf den Status der markierten Konstruktion als textuelle Einheit. Dass weder Klammern noch der Gedankenstrich syntaxsensitiv sind, zeigen die Konstruktionen in (22) (wiederholt aus Kap. I, 2.3): (22)
(i) (ii) (iii)
Er war ein (recht kleiner) energischer Typ. Er war ein – recht kleiner – energischer Typ. *Er war ein, recht kleiner, energischer Typ.
Der geklammerte Ausdruck (22 [i]) ist syntaktisch in die Trägerstruktur integriert. Dies betrifft nun eine ganze Klasse von Klammerkonstruktionen, die bislang unberücksichtigt geblieben ist. Beispiele für diese Klasse finden sich in (23) – eine Substitution durch den Gedankenstrich ist in (23) (i) möglicherweise akzeptabel, in allen anderen Konstruktionen nicht; das Komma ist überall ausgeschlossen: 41 (23)
(i) (ii) (iii) (iv)
Die (Möglichkeit der) Flexion Schüler(in) Magen-(Darm-)Grippe sieb(en)tens
Syntaktisch integrierte Klammerkonstruktionen können gegenüber nicht integrierten (s. o.) konstruktionsinitial stehen (vgl. (Wenige) Helfer kamen zur Unfallstelle. (Magen-)DarmGrippe). Eine weitere Eigenschaft, die sie von den nichtintegrierten abgrenzt, ist, dass ihr Fehlen nicht bemerkt würde. Da es sich bei den geklammerten Einheiten nicht um Kommentare handelt, soll dieser Klammertyp Konstruktionsklammer genannt werden. Die bislang besprochenen Klammerkonstruktionen sind Kommentierungsklammern. Der Unterschied zwischen Kommentierungs- und Konstruktionsklammer ist dem Unterschied zwischen konventionellen und modalisierenden Anführungszeichen vergleichbar. In beiden Fällen liegt mit dem jeweils syntaktisch integrativen Typ eine Grammatikalisierung von aus den quotationellen Rollenwechseln ausgefilterten Effekten vor: Die Konstruktionsklammer macht sich den Effekt des Aufeinanderoperierens von Wissen und Verstehen der Kommentierungsklammer zunutze. Die in Konstruktionsklammern eingeschlossenen Einheiten bilden zusammen mit der Trägerkonstruktion Alternativen (Maas 2000: 163) (23) (i), (iv) oder sind Koordinationseinheiten (23) (ii), (iii) zur klammerlosen Restkonstruktion. –––––––—––
41
Der Duden (222000) bringt diese Formen gesondert als „weiterführende Hinweise, Erläuterungen oder Empfehlungen der Dudenredaktion zu [...] Zweifelsfällen“ (Duden 222000: 9) ein. Es heißt dort: „Häufig werden Buchstaben, Wortteile oder Wörter in Klammern eingeschlossen, um Verkürzungen, Zusammenfassungen, Alternativen o. Ä. zu kennzeichnen.“ (Duden 222000: 59) Als Beispiele werden angeführt: Mitarbeiter(in), Lehrer(innen), Kolleg(inn)en. Im Duden (211996) hat diese „Erläuterung“ sogar den Status einer Regel (R 62). Weiter heißt es dort: „Bei weglassbaren Buchstaben, Wortteilen oder Wörtern werden meist eckige Klammern verwendet.“ (Duden 21 1996: 42) Beispiele sind Kopp[e]lung, acht[und]einhalb, gern[e], sieb[en]tens.
148 Wie bei der Kommentierungsklammer wird Alternativ-/Koordinationsinterpretation dem Leser während des Lesens der Trägerstruktur zugänglich gemacht. Weil der Schreiber sowohl in der Kommentierungs- als auch in der Konstruktionsklammer auf inhaltliche und auf strukturelle Eigenschaften Bezug nehmen kann, wird abschließend – analog zu den Anführungszeichen (vgl. Abb. 3) – folgende Systematik vorgeschlagen:
Inhalt Struktur
Kommentierungsklammer Sein Roman (Effi Briest) erschien 1894. Der Inhalt des Romans (vgl. S. 5) ...
Konstruktionsklammer Er war ein (behäbiger) alter Mann sieb(en)tens
Abb. 4: Die Systematik der Klammerpraxis
Ob mit dieser Systematik ähnlich wie bei den Anführungszeichen zugleich eine historiogenetische und ontogenetische Abfolge (von der Kommentierungs- zur Konstruktionsklammer, vom Inhalt zur Struktur) abgebildet ist, ist bislang nicht erforscht. Die Regulierung von Schreiber- und Leserrollen – das Merkmal [+VERT] Historisch sind Klammer und Anführungszeichen die orthographische Manifestation der Diversifizierung von Textsubjekten; sie sind vor allem in ihrer historisch frühen Form Indikatoren für die polyphone Struktur von Texten. Dabei übernehmen Klammern und Anführungszeichen komplementäre Funktion: Die Anführungszeichen markieren das Fremde im Eigenen, Klammern das Eigene im Fremden. Der erste Schritt in Richtung einer Neuausrichtung von Anführungszeichen und Klammern ist der von der externen zur internen Polyphonie: Der Gebrauch der Anführungszeichen wird von der Kennzeichnung von Zitaten, die einem konkreten Fremdsprecher zugeordnet werden können, auf die Kennzeichnung aller direkten Redezüge übertragen. Sie markieren so zwei deiktische Instanzen: Ich – Nicht-Ich. Da die Redeweise von der IchPerspektive missverständlich ist, spreche ich im Folgenden von einem primären und einem sekundären Origosystem (O1 für die „Ich-Perspektive“, O¬1 für die Nicht-Ich-Perspektive). 42 Die Klammern werden zur Etablierung von zwei kommunikativen Funktionen verwendet und markieren nun den Unterschied zwischen zwei kommunikativen Instanzen: covert writer – overt writer. Äußert sich ein Schreiber von der Origo1 aus als covert writer, bleibt dies graphisch unmarkiert. Dies verweist darauf, dass die O1-Perspektive und der covert writer auch den funktional unmarkierten Fall bilden. Nicht-Ich und overt writer sind abwesend. Äußert sich der Schreiber aus der Perspektive des overt writer, steht die Klammer. Äußert er sich aus der Perspektive des Nicht-Ich, stehen die Anführungszeichen. Beim Zusammentreffen des overt writer mit einem Nicht-Ich ergibt sich nun eine interessante Asymmetrie, die im Nebeneinander des Verbots der Anführung von Klammerausdrücken * und der Lizenzierung der Klammerung von Anführungen ihren schriftgrammatischen Niederschlag findet. Diese Asymmetrie zwischen Anführungs–––––––—–– 42
Von einem Nicht-Ich wird auch bei Selbstzitaten gesprochen: Die Anführungszeichen regulieren nicht eine Identitätsspezifik des Sprechers, sondern das aktuelle lokutive System.
149 zeichen und Klammern verweist nun auf eine spezifische Ordnung der kommunikativen und deiktischen Instanzen im textuellen Handlungssystem. Geht man zunächst davon aus, dass sich jeder overt writer und jeder covert writer von der O1- und von der O¬1-Perspektive aus äußern kann, ergeben sich logisch die folgenden Kombinationen: covert (O1), covert (O¬1), overt (O1), overt (O¬1). Interessant ist nun, wie diese Instanzen miteinander interagieren. Lässt man zunächst die Mehrfacheinbettungen beiseite, so stehen insgesamt vier orthographische Markierungen zur Verfügung: Nichtmarkierung, , und . Sie verteilen sich wie folgt:
O1 O¬1
covert xxx „xxx“
overt (xxx) („xxx“)
Abb. 5: Das Verhältnis von Anführungszeichen und Klammern
Ein nichthierarchisches System vorausgesetzt, wäre die Zelle overt (O¬1) doppelt belegt: Neben müsste * erscheinen können. Offensichtlich ist es aber so, dass das Origosystem im Skopus des textuellen Handlungssystems von covert/overt writer steht. Funktional formuliert: Die Figuren können nicht in das verfasser-leserseitige Verständigungssystem eingreifen. 43 Die tabellarische Darstellung in Abb. 4 täuscht demnach Verhältnisse vor, die nicht vorliegen. Das System der textuellen Sprecherinstanzen ist vielmehr – folgt man der Schriftgrammatik – wie in Abb. 6 strukturiert: covert xxx
„xxx“ O¬1
O1 (xxx)
(„xxx“) overt
Abb. 6: Das System der textuellen Sprecherinstanzen (Pfeilrichtung: steht im Skopus von)
Da orthographisch auch Mehrfacheinbettungen zugelassen sind (s. o.), ist mit einer Vervielfältigung sowohl des overt writer als auch des Origosystems zu rechnen. Wie eine Schematisierung dieser Verhältnisse aussehen könnte, muss hier offen bleiben. Wesentlich bleibt jedoch, dass die Einbettung des textuellen Handlungssystems in das Origosystem auf allen Ebenen ausgeschlossen ist: *.
–––––––—–– 43
Will sich der Verfasser innerhalb eines Zitats zu Wort melden, sieht die Schrift typographische Sonderkonventionen vor (Verwendung von eckigen Klammern). Diese Handlungsform muss gegenüber den außerhalb von Anführungszeichen gebrauchten Klammern markiert werden: Eine runde Klammer innerhalb von Anführungszeichen wird interpretiert als Äußerung des overt writer des O¬1-Systems.
150
3.2 Die K-Klitika < ? ! > Frage- und Ausrufezeichen gelten in der Regel (zusammen mit dem Punkt) als „Satzschlusszeichen“ (Baudusch 1981, Mentrup 1983, Behrens 1989), also als primär syntaktische Mittel mit zusätzlicher Funktion. Gallmann (1985) und Ossner (1998) weisen Frageund Ausrufezeichen umgekehrt primär nichtsyntaktische (sondern satzmodus- bzw. illokutionsspezifizierende) Funktion zu, erst sekundär übernähmen sie auch syntaktische Funktion. Die Annahme einer Doppelfunktion harmoniert gut mit der kompositionellen Struktur (Grundlinienpunkt mit vertikalem Aufbauelement), über die Hierarchie der Elemente ist damit aber noch nichts gesagt. Baudusch, Mentrup und Behrens gewichten das gemeinsame Auftreten von Punkt, Frage- und Ausrufezeichen höher, Gallmann und Ossner das Datum, dass Frage- und Ausrufezeichen auch satzintern (z. B. bei Parenthesen, bei syntaktisch eingebetteten direkten Redezügen) und im Listenmodus – Gallmann (1985: 46) spricht hier von „Ein-Ganzsatz-Textblöcken“ – vorkommen können. Hier wird demgegenüber die Auffassung vertreten, dass die K-Klitika eine spezifische syntaktische Berechnungsepisode nach links in Gang setzen (wrap up-Effekt, vgl. dazu Kap. III, 3.3.3), nicht aber nach rechts. Folgt den mit K-Klitika gekennzeichneten Einheiten eine Folgemajuskel, die die syntaktische Berechnung nach rechts steuert, liegt die Struktur *, zugeschrieben wird“ (ebd.). An einer anderen Stelle wird der oblique Gebrauch phonographisch expliziert. Maas (2000: 109) argumentiert, Punkt, Fragezeichen und Ausrufezeichen dienten „als Intonationsmarkierungen durch die Standardzuordnung zu den grammatischen Satzstrukturen und ihrer orthographischen Auszeichnung“. Er unterscheidet fallende, schwebende und steigende Intonation, die standardmäßig durch Punkt (fallend), Ausrufezeichen (schwebend) oder Fragezeichen (steigend) markiert würden. Wird nun einem Aussagesatz, der standardmäßig mit dem Punkt ausgezeichnet wird und (daher?) fallende Intonation aufweist, mit dem Fragezeichen gekennzeichnet, so übertrage das Fragezeichen im Fall des obliquen Gebrauchs seine Standardintonation auf den Aussagesatz. Bei Redeimporten, so Maas (ebd.) weiter, „können diese phonographischen Strukturmarkierungen die grammatische Äußerungsstruktur gewissermaßen überschreiben“. Da Ergänzungsfragesätze standardmäßig fallende Grenztonmuster aufweisen (Bresson 1995, Zifonun et al. 1997: 198), jedoch stets mit einem Fragezeichen versehen werden, scheidet die Standardzuordnung des Fragezeichens zu einer steigenden Intonationskontur und damit die Möglichkeit, das Fragezeichen nach Aussagesätzen als phonographische Markierung zu interpretieren, aus. 46 Es bleibt die Möglichkeit, dass das Fragezeichen das, was der Fragesatz „semantisch expliziert“, auf den Aussagesatz überträgt. Diese Überlegung führt zum Satzmodus, der seinerseits als relevante Kategorie für die Beschreibung des Fragezeichens herangezogen wird. –––––––—–– 46
Zu den Intonationsverläufen bei der Realisierung von Satzmodi vgl. Oppenrieder (1988), Najar (1995), Peters (72005).
152 So nimmt Primus (1997) an, Punkt, Frage- und Ausrufezeichen kennzeichneten Satzmodi, 47 wobei sie Satzmodus als multifaktoriellen Begriff definiert, der sich aus der Realisierung verschiedener satzmodusrelevanter Eigenschaften sprachlicher Einheiten ergebe. Als satzmodusrelevante Eigenschaften einschlägig sind (a) Modus des finiten Verbs, (b) Verbstellung, (c) Vorkommen von bestimmten syntaktischen Ausdrücken (Konjunktionen, Partikeln) sowie (d) Intonation bzw. Interpunktion. Aus der Realisierung verschiedener Kombinationen ergeben sich dann Prototypenkonzepte mit einem Zentrum und einer Peripherie. „Wenn alle einen bestimmten Satzmodus (z. B. Fragesatz) determinierenden Eigenschaften zusammen auftreten, erhält man einen Repräsentanten des Begriffszentrums (z. B. der prototypische Fragesatz Schlug er seine Frau?).“ (Primus 1997: 467) 48 Durch die Modellierung des Satzmodus von Primus wird zwar einerseits das Fragezeichen in Sätzen wie Er schlug seine Frau?, die sich – der Definition gemäß – an der Peripherie des Satzmodus Frage befinden, zugelassen, was bei strikt syntaktisch definierten Satzmodus-/Satzartenkonzepten (Duden 201991) nicht möglich ist. Andererseits wird diese Interpretation nur deshalb möglich, weil das Fragezeichen selbst als einer der vier modusindizierenden Faktoren angenommen wird. Das heißt: Selbst wenn alle anderen modusindizierenden Faktoren anzeigen, dass es sich bei der entsprechenden Einheit (noch) nicht um den Modus Frage handelt, kann der Fragemodus mit dem Fragezeichen hergestellt werden. Damit steht Primus in Opposition zu traditionellen Satzmodustheorien, die die Intonation/Interpunktion nicht als Modusindikatoren zulassen (Reis 1990, 1991, Lohnstein 2000). Die Begründung für die Trennung syntaktischer und intonatorischer/graphematischer Mittel bei der Konstituierung des Satzmodus bzw. weiterer Eigenschaften von Sätzen liefert Reis (1990, 1991). Die Autorin untersucht Echo-w-Fragen (EwS), die stets ein Fragezeichen nehmen, also in irgendeinem Sinn als Fragen aufgefasst werden müssen, jedoch, wie Reis zeigt, nicht satzmodal. Ausgangspunkt der Untersuchung sind Konstruktionen folgenden Typs: (1)
Du hast WAS nicht gesehen? Karl hat gesagt, dass WER nicht kommt? Der und WAS wählen? Hilf mal einer WEM?
Was ihren Gebrauch betrifft, unterscheidet Reis einen reaktiven von einem initiativen Typ. Beim reaktiven Typ wird auf eine Proposition aus dem Vorgängerdiskurs Bezug genommen und eine im Diskurs bereits geschlossene Proposition als offen thematisiert. Für den initiativen Verwendungstyp gibt Reis (1990: 10) das folgende Transkriptionsbeispiel: –––––––—–– 47
48
Auch Gallmanns Konzept der „Satzintention“ entspricht etwa dem Konzept des Satzmodus. Da aber Sätze keine Intentionen haben können, halte ich den von Gallmann auf der Grundlage der Grundzüge gewählten Terminus für unbrauchbar. Argumentativ ergibt sich auf der Grundlage der „Satzintention“ bei Gallmann in Bezug auf „Satzintentionssignale“ gegenüber dem Satzmodus, soweit ich sehe, nichts Neues. Mit dieser Definition argumentiert Primus vor allem gegen eine illokutionsbezogene Bestimmung der sog. Satzabschlusszeichen: „Die drei Satzabschlußzeichen fungieren als Satzmodusindikatoren und kennzeichnen nicht unmittelbar einen Sprechakttyp.“ (Primus 1997: 478)
153 A: Ich möcht mit Ihnen über die Themen fürs Mündliche reden, was ich nehmen soll. B: Klar, gut. Ist ja auch ein Zeitfaktor. Lassen Sie mal sehen. Sie sind WANN mit dem Schriftlichen fertig? Der Unterschied zu Nicht-Echofragen liegt Reis zufolge jedoch auch beim (scheinbar) initiativen Verwendungstyp in einem „Anknüpfungs- bzw. Vergewisserungseffekt“ (Reis 1990: 10). Echofragen ist gemeinsam, dass sie auf die Vorgeschichte von S und H Bezug nehmen und in der Vorgeschichte bereits Verbalisiertes/Gewusstes als Nicht-Gewusstes restrukturieren. Nicht-Echofragen stellen diesen Bezug zur Vorgeschichte nicht bzw. nicht notwendig her. Ansonsten besteht zwischen EES und nichtgeechoten Entscheidungsfragesätzen sowie zwischen EwS und nichtgeechoten Ergänzungsfragesätzen bezüglich der Fragecharakteristik kein Unterschied. Auch nicht orthographisch: Sowohl Echofragen als auch nichtgeechote Fragen erhalten ein Fragezeichen. In ihrer Rekonstruktion der EwS weist Reis allerdings auf die grammatischen Differenzen von nichtgeechoten w-Fragen und EwS hin, die ein Argument dafür liefern, das Fragezeichen nicht satzmodal zu erfassen, sondern auf die besonderen mentalen Operationen von Produzenten und Rezipienten bei der Verarbeitung sprachlicher Konstruktionen zu beziehen. Strukturell, so Reis (1990, 1991), weist das w-Element von EwS gegenüber allen anderen Verwendungen von w-Elementen spezifische Besonderheiten auf: (a) Das Echo-w-Element, das obligatorisch den Hauptakzent trägt, muss auf dem w-Bestandteil betont werden, das satzmodale w-Element kann es nicht, wenn mehr als eine Silbe zur Verfügung steht: (2)
WArum bist du gegangen? (= EwS, *Satzmodus Frage) WaRUM bist du gegangen? (= Satzmodus Frage, *EwS)
Für eine Interpretation dieses Befundes legt Reis (1990, 1991) eine bifunktionale Bedeutungsanalyse von w-Elementen zugrunde: w-Elemente enthalten demnach einen Operatorteil, der die Fragebedeutung ausdrückt, und einen Nicht-Operatorteil, der die spezifische Bedeutung beschreibt. 49 (3)
Operatorteil w
Nicht-Operatorteil er ieviel as o arum
–––––––—–– 49
Zu dieser Zerlegung vgl. auch Rehbein (1999), der im Rahmen einer funktionalpragmatischen Rekonstruktion folgenden Vorschlag zur Diskussion stellt: „Die mit dem w-Element durchgeführte Prozedur signalisiert den Status von S, etwas Bestimmtes nicht zu wissen, d. h. den Mangel eines spezifischen ʌ-Elements auf der Sprecherseite, und markiert das Element nach ‚w-‘ [...] als den Objektbereich des Nichtwissens von S.“ (Rehbein 1999: 111)
154 Liegt die Betonung auf dem Operatorteil, wird Reis zufolge verhindert, dass das w-Element in der Operatorposition des Satzes steht. In der Operatorposition aber entscheidet sich Reis zufolge, ob es sich bei einer Konstruktion satzmodal um eine Frage handelt (+w) oder nicht (–w). Geechote w-Elemente sind für die positive Spezifizierung des +w-Merkmals als Satztypmerkmal blockiert. Das w-Element muss lokal ausgewertet werden. (b) Zu diesem Befund passt, dass das w-Element in EwS über eine relative Stellungsfreiheit verfügt, während es in w-Fragen oder in w-Ergänzungssätzen positional fixiert ist. Mit Reis gesprochen, verhindert die Akzentuierung des Operatorteils (vgl. [a]) die wh-Bewegung. Die Wortstellung von EwS-Fragen entspricht daher der Wortstellung der geechoten Konstruktion; das w-Element bleibt in situ. (c) Dass EwS-Fragen satzmodal keine Fragen sind, wird weiter durch den Befund erhärtet, dass sie keine fragetypischen Modalpartikeln zulassen: (4)
*Du hast denn/etwa WAS nicht gesehen? *Karl hat denn/etwa gesagt, daß WER nicht kommt? *Der und denn/etwa WAS wählen? *Hilf mal denn/etwa einer WEM?
Dasselbe gilt auch für Echo-Ergänzungs-Fragen (EES), also Echofragen ohne w-Element: (5)
Er schlug seine Frau? *Er schlug denn/etwa seine Frau? Hilf mir mal? *Hilf mir denn/etwa mal?
Reis (1990, 1991) stellt auf dem Hintergrund dieser Befunde fest, dass EwS (zu ergänzen wäre EES) satzmodal keine Interrogativsätze sind. Sie haben „stets das Satztypmerkmal des ‚geechoten‘ Satzes, also –w bei geechotem Deklarativsatz, +w bei geechotem IS [Interrogativsatz, U. B.], und das je Entsprechende bei geechotem Imperativsatz, geechotem Infinitivsatz, geechoten Satzfragmenten, was auch immer das je ist“ (Reis 1990: 20). EwS, so folgert Reis (1991: 50) weiter, „sind nur in pragmatischer Hinsicht ‚Fragesätze‘“. Dabei gilt, dass EwS auch dann „in pragmatischer Hinsicht Fragesätze“ sind, wenn das w-Element in einem eingebetteten Satz erscheint; die Fragecharakteristik nimmt also die Gesamtkonstruktion in ihren Skopus (Reis 1990: 6): (6)
Karl hat gefragt, WER heute kommt? (Echo-Frage) Karl hat gefragt, wer heute kommt. (Assertion)
Was heißt es aber, dass EwS (zu ergänzen wäre EES) „nur“ in pragmatischer Hinsicht Fragen sind (Reis 1991)? Eine positive Bestätigung dieser These legt nahe, das Fragezeichen, das ja positiv mit der pragmatischen Fragecharakteristik korreliert, nicht auf syntaktische oder semantische Eigenschaften zu beziehen, sondern auf pragmatische. Reis (1991: 72) argumentiert mit Grice und gibt zunächst zwei Schlussmaximen an:
155 [1] [2]
Wer X als Mangel empfindet, wünscht, daß nicht-X. Wünsche soll man erfüllen, wenn dem nichts entgegensteht.
Die Ableitung der EwS als Fragen funktioniere nun folgendermaßen (Reis 1991: 72): a) Teil der Proposition ist ein +w-Ausdruck, via dessen Semantik die betreffende Stelle der Proposition als offen gekennzeichnet wird; b) Offene Propositionen stellen keine maximale Information dar; es ist aber anzunehmen, daß S mit Ä-EwS [Äußerung des EwS, U. B.] einen relevanten Gesprächsbeitrag machen wollte; c) Also gibt S, indem er mit Ä-EwS eine Proposition als offen in w zum Ausdruck bringt, wohl zu verstehen, daß die offene Stelle w einen Informationsmangel darstellt; d) Also [(via [1]/[2] und (b)] wünscht S – und gibt dies mit Ä-EwS zu verstehen –, daß dieser Mangel beseitigt wird: e) [via (b)/(c)/(d)] Die Beseitigung des Mangels besteht in der Schließung der Proposition in w; f) Also [via (a)í(e)] will S mit Ä-EwS zu verstehen geben, daß er die Schließung der Proposition in w wünscht.
Mit (f), so Reis weiter, sei die w-Frage-Intention gegeben. Sie habe wegen (2) „als Kehrseite die der Fragecharakteristik zugehörige Antworterwartung“ (Reis 1991: 72). Demnach sind es „Schließungswunsch“ und „Antworterwartung“, die bei Reis als entscheidende Eigenschaften des Fragens gelten und die sowohl bei nichtgeechoten als auch bei geechoten Fragen und mithin für das Fragezeichen konstitutiv sind. Ich werde weiter unten an diesen Eigenschaften ansetzen und sie in ein handlungstheoretisches Gesamtsystem integrieren, in dem der „Schließungswunsch“ und die „Antworterwartung“ in ein System von mentalen Aktivitäten von Sprecher und Hörer integriert werden. Zuvor aber soll die These, punkthaltige Zeichen selegierten den Satzmodus, in Bezug auf das Ausrufezeichen überprüft werden. Es erscheint zwar unwahrscheinlich, dass das Fragezeichen nicht satzmodussensitiv ist, das Ausrufezeichen aber schon, jedoch ist auch hier der entsprechende Nachweis zu erbringen. Primus (1997) argumentiert, das Ausrufezeichen signalisiere den expressiven Satzmodus. Nun hat Fries (1988) für Exklamative nachgewiesen, dass Expressivität keinen eigenständigen Satzmodus konfiguriert, sondern dass die Exklamativ-Interpretation über den zugrundeliegenden Satzmodi operiert. 50 Fries untersucht Konstruktionen folgenden Typs: (7)
Wie schade das ist! Ist der blöd! Schade ist das! Was der blöd ist! Daß du immer recht haben mußt!
Fries (1988: 4) bestimmt die Basisinterpretation von Exklamativen wie folgt: (a) Drücken die betreffenden Äußerungen stets eine affektiv-emotionale Haltung des Sprechers zu dem durch die Proposition des geäußerten Satzes denotierten Sachverhalt aus;
–––––––—–– 50
Primus (1997: 477, Anm. 12) räumt ein, dass ihr Ergebnis „im Rahmen von Ansätzen, die die expressiven Satzmodus-Prototypen in Frage stellen und nur expressive Varianten der drei Satzmodi Aussagesatz, Fragesatz und Befehlssatz zulassen [...], leicht umformuliert werden“ müsste.
156 (b) ist die Exklamativ-Interpretation von Äußerungen dieser Sätze dadurch ausgezeichnet, daß der durch die Proposition des geäußerten Satzes denotierte Sachverhalt als normabweichend und vom Sprecher als unerwartet gekennzeichnet ist.
Er argumentiert weiter, dass „diejenigen Interpretationsfunktionen, welche für die Exklamativ-Interpretation verantwortlich sind, gewisse andere Interpretationsfunktionen überlagern können“ (Fries 1988: 7). Sie operieren jedoch stets auf dem der Äußerung zugrundeliegenden Satzmodus und seien satzmodal nicht spezifiziert. Fries folgert, „daß die Exklamativ-Interpretation Folge von Interpretationsfunktionen sein muß, die auf Verwendungsbedingungen, d. h. auf eindeutig pragmatische Prinzipien rekurrieren, was bedeutet, daß sie nicht auf der Ebene einer sprachsystematisch bedingten (Satz-)Semantik angesiedelt werden kann“ (ebd.). Die Exklamativ-Interpretation, so Fries weiter, „basiert einerseits auf eindeutig pragmatischen Kategorien wie Sprecher, Hörer [...], Sachverhalt, andererseits auf extragrammatischen Kenntnissystemen, die z. B. für die Beurteilung von Sachverhalten (bzgl. ihrer Erwartbarkeit und Normiertheit) zuständig sind“ (ebd.). Für eine formale Rekonstruktion beschränkt sich Fries auf die gesprochene Sprache, wenn er annimmt, die Exklamativ-Interpretation korreliere mit der fallenden Intonation. Im Schriftsystem ist die Exklamativ-Interpretation (auch bei Fries) stets mit einem Ausrufezeichen gekennzeichnet. Folgt man der skizzierten Auffassung, dass die Exklamativ-Interpretation keinen (semantisch verstandenen) Satzmodus konfiguriert, sondern dass sie auf pragmatischen Kategorien basiert, und folgt man Reis (1990, 1991) in der Auffassung, dass Echofragen „nur“ in pragmatischer Hinsicht Fragen sind, so müssen für das Frage- und das Ausrufezeichen einheitlich pragmatische Verwendungsbedingungen angegeben werden. Eine prominente pragmatische Eigenschaft von Äußerungen ist ihre Illokution. In diesem Sinn argumentiert Ossner (1998), Frage- und Ausrufezeichen markierten die Illokution einer Äußerung. Nun hat aber Gallmann (1985) nachgewiesen, dass die Illokution von Äußerungen für die Interpunktion gerade nicht ausschlaggebend ist. Er kontrastiert „Äußerungsarten“ (= Illokutionen) mit „Satzarten“ (= Satzmodi) und kommt zu folgendem Befund: Äußerungsart „einen Rat geben“
Satzarten (mit Beispielen) o neutraler Satz: Sie nehmen am besten den Zug. o Exklamativsatz: Nehmen Sie den Zug! o Interrogativsatz: Nehmen Sie da nicht besser den Zug?
Tab. 1: Die Relation von Illokution und Satzmodus nach Gallmann (1985: 206)
Legt man die Annahme zugrunde, Frage- und Ausrufezeichen kennzeichneten Illokutionen, bleibt über den Befund Gallmanns hinaus erklärungsbedürftig, warum nicht für jede Illokution ein eigenständiges Interpunktionszeichen zur Verfügung steht. Komplementär dazu müsste erklärt werden, welche gemeinsamen illokutionären Eigenschaften die ausrufezeichensensitiven Illokutionen Aufforderung, Befehl und Wunsch aufweisen, so dass sie – trotz verschiedener Illokutionen – mit demselben Satzzeichen markiert werden, das aber nicht immer: Aufforderungs-, Befehls- oder Wunschsätze werden nicht konsistent mit dem Ausrufezeichen markiert, sondern nur dann, wenn sie „besonderen Nachdruck“ erhalten sollen, wobei „Nachdruck“ keine illokutionäre Qualität beschreibt, sondern, Fries folgend,
157 eine „affektiv-emotionale“ Begleitgeste zum Ausdruck bringt, die über Modus und Illokution operiert. Und diese „affektiv-emotionale“ Begleitgeste kann das Ausrufezeichen auch dort markieren, wo illokutiv nicht Befehl, Aufforderung oder Wunsch vorliegen; etwa bei Ausrufen (Heureka! Geschafft!), denen ihrerseits keine eigene illokutive Qualität zugeordnet wird, aber auch bei Deklarativen (Der Kanzler ist in Nöten!), deren illokutive Qualität dann eigens zu bestimmen wäre. Mit der Annahme, Frage- und Ausrufezeichen interagierten direkt mit der Illokution von Äußerungen, ist also weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für die Verwendung von Frage- und Ausrufezeichen angegeben. Zur Beschreibung der Pragmatik von Ausrufe- und Fragezeichen soll im Folgenden zwischen einem semantisch zu spezifizierenden Satzmodus und einem (darauf bezogenen) pragmatisch zu spezifizierenden Äußerungsmodus unterschieden werden. Unter der semantischen Kategorie Satzmodus wird die durch die grammatische Form (Verbstellung, Verbmodus, w-Element) festgelegte Relation zwischen einer Proposition und ihren Auswertungsbedingungen verstanden (s. u.). Der Äußerungsmodus ist eine pragmatische Kategorie. Er beschreibt die sprecher- und hörerseitige mentale Verarbeitung bei der Aktualisierung satzmodal spezifizierter Propositionen (s. u.). Satzmodus Lohnstein (2000) nimmt für das Deutsche drei Satzmodi an: Deklarativ, Interrogativ und Imperativ. Die Satzmodi selegieren Lohnstein zufolge den Redehintergrund, auf dem Propositionen ausgewertet werden, und legen die interne Struktur der Proposition fest. Deklarative und Interrogative werden auf dem epistemischen Hintergrund, der Imperativ wird auf dem faktischen Hintergrund ausgewertet (ebd.: 41f.). Der epistemische Hintergrund ist definiert als „[a]lles, was zum Wissensbestand in k gehört“ (ebd.: 41), mit „k“ für den Kontext. Der faktische Hintergrund ist „[a]lles, was am Index i0 der Fall ist und bei weiterem Verlauf der Ereignisse in i0 der Fall sein wird“ (ebd.). Die interne Strukturierung der Proposition erfasst der Autor mit dem Konzept der Partitionierung. Als Ausgangspunkt wählt er die Entscheidungsfrage, deren Semantik er als eine „Bipartition des Antwortraums“ beschreibt, „insofern dieser in die Klasse der wahren Antworten und in die Klasse der falschen Antworten zerlegt ist“ (Lohnstein 2000: 34). In einer formalsemantischen Herleitung werden Propositionen als Denotate von Indizes beschrieben. Daher lässt sich „bezüglich jeder Klasse der Durchschnitt über die von den Propositionen denotierten Indexmengen bilden. Da die beiden Klassen in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen – denn eine Proposition ist entweder wahr oder falsch an einem Index –[,] wird somit die Menge aller Indizes bipartitioniert“ (ebd.). Die Partitionierung greift bei denjenigen Satzmodi, die auf dem epistemischen Hintergrund ausgewertet werden (Deklarative und Interrogative). Mit Deklarativen werde die Bipartition der Indizes auf die Klasse der wahren Indizes reduziert und diese Klasse dem Diskurskontext hinzugefügt. Lohnstein spricht davon, dass mit Deklarativen Urteile ausgedrückt werden. Bei Interrogativen werde die Partitionierung nicht aufgehoben, sondern in den Diskurskontext eingebracht. Erst mit einer Antwort, mit der ein Element der in der Partition vorbereiteten Antwortmenge ausgewählt werde, werde die Partition reduziert. Die Antwort selbst gehört jedoch nicht mehr zum Satzmodus, sondern bringt die Nachgeschichte einer Frageäußerung zum Ausdruck.
158 Beim Satzmodus Imperativ, der auf dem faktischen Hintergrund ausgewertet wird, wird Lohnstein zufolge keine Partitionierung vorgenommen. Denn „[e]ine Eigenschaft dieses Hintergrundes besteht darin, keine Partitionierung zu erlauben“ (Lohnstein 2000: 80). Demzufolge könne mit dem Imperativ weder ein Urteil noch eine Frage ausgedrückt werden. Die prospektive Lesart von Imperativen könnte aus der Zuweisung zur modalen Basis (faktischer Hintergrund) abgeleitet werden. Der Aufforderungscharakter sei dem Verbmodus zu entnehmen. Äußerungsmodus Im sprecher-hörerseitigen Verständigungshandeln werden die Satzmodi für je spezifische Zwecke aktualisiert. Mit der Aktualisierung eines Satzmodus werden zugleich epistemische/mentale Rollen von Sprecher und Hörer aktiviert. Diese Auffassung vertritt in ähnlicher Weise Rehbein (1999), auf den sich die folgenden Ausführungen in großen Teilen beziehen. Jedoch unterscheidet Rehbein nicht zwischen Satz- und Äußerungsmodus. Vielmehr geht er davon aus, dass die von ihm untersuchten Äußerungstypen (Deklarativ, Interrogativ, Annonciv, Direktiv, Adhortativ, Optativ und Exklamativ) bzw. deren sprachliche Form direkt auf die Rollenselektion sowie auf spezifische Ablaufmuster bezogen werden können. Demgegenüber wird hier die Auffassung vertreten, dass die syntaktische Konfiguration satzmodale Eigenschaften (i. S. Lohnsteins) definiert, also auf Propositionen operiert, und dass äußerungsmodale Eigenschaften, also Spezifikationen der Wissenssysteme von Sprechern/Hörern, mit anderen sprachlichen Mitteln (in der Schrift mit Mitteln der Interpunktion) hergestellt werden. Am Beispiel eines einfachen, nicht mit dem Frage- oder Ausrufezeichen markierten Deklarativs (Hans schläft.), bedeutet das in der einfachsten Form: Der Deklarativ sortiert den Produzenten (der die Reduktion der Bipartition vornimmt) als Wissenden (Episteme), den Rezipienten als Nicht-Wissenden. Die Vorgeschichte der Aktualisierung eines Deklarativs ist ein vom Produzenten angenommenes Wissensdefizit des Rezipienten über einen Sachverhalt. Die Nachgeschichte der Aktualisierung eines Deklarativs ist durch die Verfügbarkeit des mit dem Deklarativ gegebenen Wissens bei P und R gekennzeichnet. 51 Die Verhältnisse ändern sich, wenn der Deklarativ mit einem Fragezeichen versehen wird (Hans schläft?): Der mit dem Fragezeichen versehene Deklarativ sortiert den Produzenten als Nicht-Wissenden, den Rezipienten als Wissenden. Aufgrund der vom Produzenten satzmodal vollzogenen Reduktion der Bipartition kann sich das Nicht-Wissen des Produzenten nicht auf die Proposition selbst beziehen, sondern muss „vorsprachlich“ motiviert sein (Abgleichen von Vorwissen). Man kann von einem Wissen zweiter Stufe sprechen: Der Produzent will nicht wissen, ob ein Sachverhalt zutrifft, sondern ob sein Wissen über einen Sachverhalt zutrifft. Die Vorgeschichte der Aktualisierung eines mit einem Fragezeichen versehenen Deklarativs ist ein Wissensdefizit des Produzenten über sein Wissen. Die Nachgeschichte der Aktualisierung eines mit einem Fragezeichen versehenen Deklarativs ist die rezipientenseitige Wissenssuche und eine Mitteilung des Ergebnisses dieser Wissenssuche in Form eines Deklarativs. Noch einmal anders sieht die Verarbeitungsgeschichte von Deklarativen aus, die mit einem Ausrufezeichen markiert sind (Hans schläft!). Der mit dem Ausrufezeichen markierte –––––––—–– 51
Zum Muster Assertieren vgl. Ehlich & Rehbein (1979), zum Äußerungsmodus Deklarativ Rehbein (1999).
159 Deklarativ sortiert den Produzenten als Wissenden, den Rezipienten als Nicht-Wissenden. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einfaches Nicht-Wissen: Im Gegensatz zu Deklarativen ohne Ausrufezeichen unterstellt der Produzent mit der Ausrufezeichenmarkierung, dass der Rezipient entweder davon überzeugt ist, der verbalisierte Sachverhalt treffe nicht zu, oder er unterstellt, dass der verbalisierte Sachverhalt im Rezipientenwissen zwar vorhanden, nicht aber aktualisiert ist. Ein guter Indikator für diese Auffassung ist die Lizenzierung der Partikel doch (Hans schläft doch!; vgl. aber: *Schläft Hans doch? mit doch als Partikel mit Reaktualisierungsfunktion). 52 Die Vorgeschichte des mit dem Ausrufezeichen versehenen Deklarativs sind demnach unterschiedliche Wissensbestände von Produzent und Rezipient. Sie werden mit dem Deklarativ, der mit dem Ausrufezeichen gekennzeichnet ist, zugunsten der produzentenseitigen Wissensbasis in Übereinstimmung gebracht. Die These, die im Folgenden ausgearbeitet werden soll, ist, dass Frage- und Ausrufezeichen nicht nur bei Deklarativen auf äußerungsmodalen Eigenschaften operieren. Online formuliert wird der Rezipient instruiert, eine bestimmte epistemische/mentale Rolle einzunehmen – und das unabhängig von der syntaktischen Struktur der gegebenen Konstruktion. 3.2.1 Das Fragezeichen Für die w-Echofragen hatte Reis (1990, 1991) festgehalten, sie seien „nur“ in pragmatischer Hinsicht Fragen, und hatte als pragmatischen Kern die „Antworterwartung“ sowie das „Schließungsbedürfnis“ herausgearbeitet. Diese Kategorien gewinnt Reis aus der Abbildung des Fragecharakters von Echofragen auf die Maximen von Grice. Eine vollständige pragmatische Analyse sieht jedoch vor, nicht nur das sprecher-, sondern auch das hörerseitige Handeln einzubeziehen. In einer (idealisierten 53 ) Ablaufstruktur, in der in Anlehnung an Ehlich & Rehbein (1986) zwischen mentalen und interaktionalen Tätigkeiten unterschieden wird (vgl. Kap. III, 1.1), stellt sich das Frage-Antwort-Muster 54 – unter Aussparung der weiterführenden Verläufe für den Fall, dass der Hörer nicht über das angeforderte Wissen verfügt – wie in Abb. 7 dar. Die von Reis ermittelten Kriterien der „Antworterwartung“ und des „Schließungsbedürfnisses“ liegen gewissermaßen quer zu den relevanten Tätigkeiten beim Abwickeln des Frage-Antwort-Musters. Als psychologische Kategorien beziehen sich die Begriffe von Reis auf sprecherseitige Dispositionen, die über das Muster hinausweisen. Sie formulieren eher das, was der Sprecher mit dem Stellen einer Frage intendiert (bzw. was daraus zu folgern ist), nicht das, was geschieht, wenn der Sprecher eine Frage stellt. Nun erweist sich aber auch das hier verfügbar gemachte Gesamtmuster Frage-Antwort für die Herausarbeitung der Funktion des Fragezeichens als zu komplex. Wie im Folgenden gezeigt wird, setzt das Fragezeichen nicht den gesamten Ablaufmechanismus in Gang, sondern aktiviert lediglich eine spezifische rezipientenseitige Teiltätigkeit. –––––––—–– 52
53 54
„Mit dem Element doch lenkt der Sprecher den Verstehensprozeß von H so, daß dieser den propositionalen Gehalt als eine Rekurrenz des Sprechers auf Vorhergehendes oder Vorausgesetztes deutet.“ (Graefen 2000, ohne Paginierung) Darstellung in Anlehnung an Becker-Mrotzek & Vogt (2001: 35). Zum Musterbegriff in der Funktionalen Pragmatik vgl. Ehlich & Rehbein (1979).
160 Sprecher
Hörer
mental
interaktional
Wissensdefizit (a)
mental
Wissenssuche (c)
Frage (b)
NichtWissen Assertion Antwort (d)
Wissen (e)
Kundgabe
Wissen
Kenntnisnahme
Legende Grenze des Handlungs musters Eintritt in das Handlungsmuster mentale/interaktionale Tätigkeiten
Austritt aus dem Handlungsmuster Verlaufsrichtung Entscheidungsknoten
Abb. 7: Das Frage-Antwort-Muster
Zur Ermittlung dieser für das Setzen des Fragezeichens konstitutiven Teiltätigkeit sollen im Folgenden pragmatisch parasitäre Fragehandlungen untersucht werden. Als pragmatisch parasitär werden Fragehandlungen bezeichnet, die in mindestens einer Hinsicht von der oben angegebenen pragmatischen Ablaufstruktur abweichen; parasitär sind solche Konstruktionen deshalb, weil sie das Muster nutzen, ohne es zu bedienen. Kein pragmatisch parasitärer Fall in diesem Sinn sind die Echofragen. Sie sind zwar satzmodal keine Fragen, in Bezug auf die oben angegebene pragmatische Ablaufstruktur jedoch schon. Die wichtigsten pragmatisch parasitären Fragehandlungen, die in verschrifteter Form stets mit einem Fragezeichen versehen werden, sind Prüfungsfragen, Regiefragen (Ehlich & Rehbein 1986), rhetorische Fragen (Meibauer 1986) sowie sog. indirekte Aufforderungen.
161 Prüfungs- und Regiefragen sind institutionelle Frageformen, die in Lehr-Lern-Kontexten eine herausragende Rolle spielen. Wie Ehlich & Rehbein (1986) herausgearbeitet haben, profitieren institutionelle Handlungsverläufe von alltäglichen Handlungsmustern, die für die jeweiligen Zwecke der Institution in je spezifischer Weise aufbereitet werden. Davon ist auch die Frage betroffen, deren originärer (alltäglicher) Zweck im Wissenstransfer (vom Hörer auf den Sprecher) besteht. In Lehr-/Lern-Kontexten wird das Muster Frage-Antwort für andere Zwecke funktionalisiert. Bei der Prüfungsfrage liegt bei S kein Wissensdefizit vor. Die Frage ist ein strategisches Mittel, mit dem S in das Wissensreservoir von H eingreift, um zu überprüfen, ob H über dieses Wissen verfügt. Auch bei der Regiefrage liegt kein Wissensdefizit seitens S vor. Lehrende setzen die Regiefrage zur Abarbeitung einer lehrerseitig geplanten Lehreinheit ein. Statt des einfachen, handlungsverkettenden Lehrervortrags wird die Lehreinheit in Frage-Antwort-Sequenzen zerlegt. Die Schüler/innen übernehmen so Teile des lehrerseitigen Gesamtplans. Der Zweck der Regiefrage liegt darin, „die Steuerung eines Aktanten durch einen anderen zu bewirken. Dafür funktionalisiert sie das Muster der Frage. Sie bedient sich deren starker Eingriffsmöglichkeiten in H, um ihn zu dirigieren.“ (Ehlich & Rehbein 1986: 71) Es geht also weder bei der Regiefrage noch bei der Prüfungsfrage um Wissenstransfer, sondern um eine spezifische Form des Wissensmanagements, bei der S über das Wissen, das erfragt wird, bereits verfügt. Das Wissensdefizit des Sprechers, also Position (a) im Ablaufschema, ist demnach keine konstitutive Bedingung für die Realisierung einer Fragehandlung bzw. für das Setzen eines Fragezeichens. Dass die Antwort, also Position (d), und damit trivialerweise auch die Einarbeitung des Wissens bei S, Position (e), nicht konstitutiv für die Realisierung einer Fragehandlung sind, illustrieren die Ablaufstrukturen bei sog. indirekten Aufforderungen und rhetorischen Fragen. Bei den indirekten Aufforderungen 55 (Kannst du mir das Salz reichen?) gibt es keine „Antworterwartung“ (Reis 1990, 1991). Der Hörer wird zwar zur Realisierung einer Anschlusshandlung aufgefordert, nicht aber zur Verbalisierung einer Antwort (Ja/Nein). Sprechakttheoretisch gesprochen, nimmt der Sprecher mit indirekten Aufforderungen auf die mit der Einleitungsregel des Aufforderns formulierte Bedingung (Können des Hörers) Bezug (Searle 1969 [1983]). H soll überprüfen, ob er fähig ist, die von S gewünschte Handlung auszuführen (Ja/Nein-Entscheidung). Nach Rehbein ist genau diese Aktivität für die Verarbeitung von Direktiven entscheidend: „Essentiell für die Verarbeitung ist, daß der propositionale Gehalt p einen Plan für eine Handlung F benennt, hinsichtlich dessen H seine/ihre Fähigkeiten, Wollen usw. [...] zu Übernahme und Ausführung des [in der gegebenen Proposition verbalisierten, U. B.] Plans überprüft.“ (Rehbein 1999: 113) Wird der Hörer direkt nach seinem Können/Wollen gefragt, kann er so mittels eines Schlussverfahrens auf den illokutiven Zweck der Sprechhandlung schließen und die Handlung entsprechend umsetzen. Die Wirksamkeit rhetorischer Fragen wurde von Meibauer (1986) diskutiert. Er definiert „Rhetorizität“ allgemein als „eine spezifische Art der Ausnutzung von Glückensbedingungen für Sprechakte“ (ebd.: 185). Die Rhetorizität rhetorischer Fragen werde über die Aktualisierung einer hörerseitigen Aktivität erreicht: Mit dem Fragen konstitutiv verknüpft sei, dass der Sprecher das Ziel verfolgt, „den Hörer dazu zu bewegen, ihm die Ant–––––––—–– 55
Zu einer Kritik am Indirektheitskonzept vgl. Öhlschläger (1988) sowie Rehbein (1999).
162 wort [...] mitzuteilen“ (ebd.: 60). Diese Bedingung „scheint zumindest insofern ausgenutzt zu werden, als der Sprecher in einer rhetorischen Frage den Hörer dazu zu bewegen versucht, über den Frageinhalt nachzudenken, zugleich mit dem Ziel, den Hörer zur Übernahme der gleichzeitig mitgeteilten Behauptung, die möglicherweise als die richtige Antwort auf die Frage anzusehen ist, zu bewegen“ (ebd.: 169). Einen ähnlichen Interpretationsvorschlag macht Öhlschläger (1984: 24): Der Hörer verstehe dadurch, „daß er sich die Antwort selbst gibt, was der Sprecher gemeint hat, wird also anders beteiligt, als wenn der Sprecher einen Aussagesatz verwendet hätte“. Die durch rhetorische Fragen gegenüber Assertiven ausgelöste ‚andere Form der Beteiligung‘ nennt Öhlschläger (ebd.) „nur so etwas wie eine mentale Operation“. Diese mentale Operation war in der vorliegenden Analyse unter Rückgriff auf Ehlich & Rehbein (1986) und Rehbein (1999) als Wissenssuche des Hörers (Position [b] im Ablaufschema; „nachdenken“ bei Meibauer) bestimmt worden, die auch beim Stellen rhetorischer Fragen in Gang gesetzt wird. Eben das macht ihre Wirksamkeit aus. Die einzige, allen pragmatisch parasitären Frageformen gemeinsame Eigenschaft ist die mentale Aktivität des Hörers, die Wissenssuche. Unter äußerungsmodaler Perspektive ist die Frage also ein Mittel, den Rezipienten als Wissenden zu selegieren; er interpretiert – angeleitet durch das Fragezeichen – die gegebene Proposition gemäß der durch den Satzmodus verbalisierten Leerstelle (w-Frage, E-Frage, Echo-Frage etc.) als offen (Reis 1990, 1991) und startet einen Suchmechanismus in seinem Wissen zur Auffindung des Elements, das die als offen ausgewiesene Stelle zu schließen erlaubt (Rehbein 1999). Dieser Mechanismus wird mit dem Fragezeichen auch dann in Gang gesetzt, wenn die Konstruktion, die mit dem Fragezeichen versehen ist, selbst keinen Hinweis auf die entsprechenden mentalen Aktivitäten verfügbar macht. Die Relation zwischen Satzmodus und Äußerungsmodus stellt sich im Fall des Fragens wie folgt dar: Mit der Äußerung eines interrogativen Satzmodus wird eine partitionierte (und damit offene) Proposition im Diskurs verankert (s. o.). Zur Weiterbearbeitung der Proposition wird der Rezipient zur Aufhebung der Partitionierung veranlasst. Er beginnt mit der Wissenssuche. Somit wird mit der Äußerung eines interrogativen Satzmodus die äußerungsmodale, für das Fragen charakteristische Rezipiententätigkeit automatisch in Gang gesetzt. Es steht das Fragezeichen. Nun kann aber der Satzmodus Interrogativ auch für andere Zwecke eingespannt werden. Ein besonders gutes Beispiel dafür sind w-Exklamative wie die folgenden: (8)
Was habt ihr nur angestellt! Wie sieht es denn hier aus! Was erlauben Sie sich! (Duden 211996: 30)
Ob es sich bei diesen Konstruktionen satzmodal tatsächlich um Fragen handelt, ist umstritten (d’Avis 2001). Die Testverfahren von Reis (1990, 1991) legen die satzmodale Fragecharakteristik nahe (Konstruktionsinitialität des Frageworts, Lizenzierung von denn, unbetonter w-Ausdruck). Dass das Fragezeichen nicht steht, sagt nicht etwas über die satzmodale, sondern etwas über die äußerungsmodale Interrogationsspezifk aus: Die w-Exklamative in (8) gewinnen ihr rhetorisches Potential daraus, dass satzmodal eine Frage, also eine partitionierte Proposition eingebracht wird, die jedoch äußerungsmodal nicht weiterbearbeitet werden kann. Aus dieser Dynamik ergibt sich der spezifische diskursive Charakter von w-Exklamativen: Es ist für den Sprecher, der den w-Exklamativ äußert, zwar nicht zu
163 verstehen, was vorgefallen ist (die Proposition ist offen), es gibt aber nichts, was ihn zu einem solchen Verstehen bringen könnte. Eine das Verstehen ermöglichende Erklärung oder Rechtfertigung durch den Hörer wäre zwecklos. Die für den Äußerungsmodus typische Einleitung einer Wissenssuche soll nicht erfolgen. Statt des Fragezeichens steht ein Ausrufezeichen. 56 Neben dem hier diskutierten Fall, in dem eine satzmodale Frage nicht mit dem Fragezeichen markiert wird, gibt es weiter diejenigen Fälle, in denen eine Konstruktion, die satzmodal keine Frage ist, mit dem Fragezeichen steht. Dies war etwa bei den oben ausführlich besprochenen Echofragen der Fall. Die Markierung von Echofragen mit dem Fragezeichen führt nun jedoch weder zur Modifikation des Satzmodus noch zur Veränderung der Illokution. Vielmehr zeigt sie den Äußerungsmodus an: Der Rezipient wird zur Wissenssuche instruiert. Da die Proposition nicht offen ist, wird das fehlende Wissenselement „außerhalb“ der Proposition gesucht. Es handelt sich um bereits Verbalisiertes bzw. von Produzent und Rezipient Gewusstes, das vom Produzenten in der Fragezeichenkonstruktion als Nicht-Gewusstes reaktualisiert wird. 3.2.2 Das Ausrufezeichen [...] verzweifelte Schriftgebärde, die vergebens über die Sprache hinausmöchte. (Adorno 1956 [1997]: 108)
Die Rekonstruktion der pragmatischen Funktion des Ausrufezeichens erweist sich um einiges schwieriger als die des Fragezeichens. Die Klasse der typischen Ausrufezeichenkonstruktionen ist heterogener als die der Fragezeichenkonstruktionen. Die folgende Liste gibt zunächst einen illustrativen Überblick über das Anwendungsspektrum des Ausrufezeichens: (9)
Käme er doch! Da ist ein Fesselballon! Da ist ein Fesselballon?! Komm endlich! Um 12 bist du zu Hause! Dass du immer so trödeln musst! Frohe Weihnachten! Heureka! Ach du liebe Zeit! Himmel! Hurra! Uaaaaahhhh! Sag bloß! Feuer!
–––––––—–– 56
Vgl. zu einer ähnlichen Interpretation solcher Konstruktionen Redder (1990). Welche Rolle das Ausrufezeichen in solchen Konstruktionen spielt, kann erst auf dem Hintergrund der Ausrufezeichenanalyse beantwortet werden.
164 Ach so! Hallo! Lieber Harald! Tschüss! Entsprechend dieser kaum einheitlich zu beschreibenden Konstruktionen – die Liste könnte beliebig verlängert werden, denn nahezu jede! Konstruktion kann mit einem Ausrufezeichen versehen werden! – steuert eine Offline-Charakterisierung des Ausrufezeichens zwangsläufig auf Polyfunktionalität zu. Ausgehend von denjenigen Konstruktionen, die besonders ausrufezeichensensitiv sind, wird dann eine Auflistung potentieller Ausrufezeichenkandidaten vorgeschlagen. Zifonun et al. (1997: 285f.) geben drei Kerndomänen (Direktiv, Wunsch, Ausruf) und eine periphere Domäne (Anrede) für das Ausrufezeichen an: Wird eine direktive sprachliche Handlung (Befehl, Bitte usw.), ein Wunsch oder ein Ausruf realisiert oder wiedergegeben, so wird ein Ausrufezeichen an den Schluß des Ausdrucks gestellt. Ferner kann nach dem Ausdruck einer Anrede ein Ausrufezeichen gesetzt werden.
Ähnlich geht der Duden 201991 (R 28–R 31) vor: R 28 Das Ausrufezeichen steht nach Aufforderungs- bzw. Befehlssätzen und nach Wunschsätzen. Ergänzend heißt es: „Kein Ausrufezeichen steht jedoch nach Aufforderungs- und Wunschsätzen, die ohne Nachdruck gesprochen [sic!] werden“ (ebd.). Weiter werden die folgenden Regeln angegeben: R 29 Das Ausrufezeichen steht nach Ausrufen und Ausrufesätzen. R 30 Das Ausrufezeichen steht nach der herausgehobenen Anrede. R 31 Das Ausrufezeichen steht eingeklammert nach Angaben, die man bezweifelt oder hervorheben will. Mentrup (1983: 70) zählt folgende Domänen auf: „Man setzt ein Ausrufezeichen an das Ende eines Satzes, um [diesen als] einen direkten Ausruf, Glückwunsch oder Gruß zu kennzeichnen (im Unterschied etwa zur Aussage oder zur Frage) und eine besondere Nachdrücklichkeit deutlich zu machen“. 57 Etwas anders gehen die AR 1996 vor. Dort heißt es: § 69
Mit dem Ausrufezeichen gibt man dem Inhalt des Ganzsatzes einen besonderen Nachdruck wie etwa bei nachdrücklichen Behauptungen, Aufforderungen, Grüßen, Wünschen oder Ausrufen.
–––––––—–– 57
Unklar bleibt in der Definition von Mentrup, ob die „Nachdrücklichkeit“ eine zusätzliche Leistung des Ausrufezeichens ist oder ob nur nachdrückliche Grüße, Glückwünsche etc. mit dem Ausrufezeichen versehen werden.
165 Es wird also zunächst eine einheitliche Bestimmung (Nachdrücklichkeit) vorgenommen. Dieser Bestimmung werden dann anschließend die bekannten Konstruktionstypen zugeordnet. Die Regelformulierung („wie etwa ...“) legt es nahe, dass mit diesen Konstruktionstypen (Aufforderungen, Grüße, Wünsche etc.) so etwas wie eine extensionale Aufzählung von besonders typischen Einheiten gegeben wird, für die besonderer Nachdruck charakteristisch ist; damit wird die polyfunktionale Sichtweise in verdeckter Form wieder eingeführt. Beseitigt ist sie nicht. Dies wird insbesondere an der Ergänzungsregel 3 58 sichtbar: „Nach der Anrede etwa in Briefen kann man ein Ausrufezeichen oder entsprechend § 79 (1) ein Komma setzen“. Wie bereits ähnlich im Duden (201991) und bei Zifonun et al. (1997) wird das Ausrufezeichen nach der „Anrede in Briefen“, auf die das Kriterium der Nachdrücklichkeit nicht passt, in eine Subregel ausgelagert. Ich komme auf diesen Umstand zurück. Im Duden (211996), der die Aufgabe hatte oder doch hätte haben sollen, die AR für die Nutzer und Nutzerinnen aufzubereiten, findet man die mit § 69 nahegelegten und dem Duden (201991) nachempfundenen Kategorisierungen: R 20 Das Ausrufezeichen steht nach Ausrufen und Ausrufesätzen, nach Aufforderungs- bzw. Befehlssätzen und nach Wunschsätzen . In einer Ergänzung heißt es dann wie in Duden (201991), das Ausrufezeichen stehe nicht „nach Aufforderungs- und Wunschsätzen, die ohne Nachdruck gesprochen werden“ (Duden 21 1996: 26). So wird der zumindest konzeptionell richtige Ansatz der AR, eine einheitliche Bestimmung für ein Satzzeichen vorzulegen, mit den Dudenregeln von 211996 erneut zugunsten einer polyfunktionalen Bestimmung unterlaufen. Der Nachfolgeduden 222000 und alle weiteren setzen dann direkt an AR 1996 an und nennen den Nachdruck als Hauptkriterium: K 19 1. Das Ausrufezeichen verleiht dem Vorangehenden einen besonderen Nachdruck . 2. Es kann auch nach frei stehenden Zeilen, z. B. nach einer Anrede, stehen . Der Versuch einer Neukonzeptualisierung der Regel für das Ausrufezeichen in den AR 1996 und in Duden (222000), die gegenüber den Dudenauflagen von 201991 und 211996 ein einheitliches Bestimmungskriterium vorsehen, ist wesentlich an die Auffassung Gallmanns (1985) angelehnt, der das Ausrufezeichen nicht an illokutionäre Eigenschaften der Konstruktion – wenn Zifonun et al. (1997), Duden (201991), Duden (211996) und Mentrup (1983) so verstanden werden können –, sondern an das Merkmal „Nachdrücklichkeit“ bindet. „Mit dem Ausrufezeichen markiert der Schreiber auch in der Schreibsprache Äußerungen mit ‚Nachdruck‘. ‚Nachdruck‘, ‚nachdrücklich‘, ‚Nachdrücklichkeit‘ sind hier im übertragenen, metaphorischen Sinn gebraucht, als pragmatisch (nicht phonisch) definierte Begriffe.“ (Gallmann 1985: 211) –––––––—–– 58
Ergänzungsregeln 1 und 2 bringen in Bezug auf ausrufezeichenrelevante Konstruktionen nichts Neues (sie regulieren das Vorkommen von Ausrufezeichen bei mehrteiligen Sätzen sowie das Auftreten des Ausrufezeichens nach freistehenden Zeilen).
166 Eine ähnliche Auffassung wie Gallmann vertritt Primus. Wie oben erwähnt, erfasst sie das Ausrufezeichen als „Indikator für einen expressiven Satzmodus“ (Primus 1997: 476). Mit Fries (1988) wurde argumentiert, dass es sich bei der exklamativen Interpretation nicht um einen eigenen Satzmodus handelt – wenn Satzmodus als syntaktisch gedeckte semantische Eigenschaft veranschlagt wird (Lohnstein 2000). Wesentlich an den Bestimmungen von Gallmann und Primus aber ist, dass sie die Wirksamkeit des Ausrufezeichens nicht an bestimmte illokutionäre Klassen binden, sondern einheitlich an Expressivität. Dass Direktive oder Optative anfällig für das Ausrufezeichen sind, führt Primus auf die mit diesen Modi verknüpften Begleiteinstellungen zurück: Die „durch das Ausrufezeichen gekennzeichnete starke Wunschkomponente oder Forschheit [führt] automatisch zur Verstärkung der adressatenorientierten Obligation, also zur Verstärkung der wesentlichen Komponente einer Aufforderung“ (Primus 1997: 476). Am Versuch einer monofunktionalen Bestimmung wird im Folgenden festgehalten. Allerdings wird – analog zur Bestimmung des Fragezeichens – eine äußerungsmodale Spezifizierung vorgeschlagen. Die Identifizierung der Ausrufezeichenfunktion mit Expressivität oder Nachdrücklichkeit, wie sie üblicherweise erfolgt, macht sich an in einer von Beginn seines Auftretens an üblichen Verwendung des Ausrufezeichens als Störfaktor bemerkbar: bei der Adressierungsfunktion. 59 Als Kegel, der das Ausrufezeichen global als „Empfindungszeichen“ (Kegel 1824 [21826]: 37) definiert, auf die Adressierungsfunktion stößt, schreibt er: „Nach Anreden in Briefen ein Ausrufungszeichen zu setzen, ist höchst ungereimt. Der Empfänger müßte eigentlich, wenn diese Gewohnheit nicht zu allgemein geworden wäre, denken, es wäre ein Unglück geschehen. Denn hier ist – wenige Fälle ausgenommen – kein Affect in der Rede“ (ebd.: 40). 60 Vor demselben Problem stehen 170 Jahre später die Amtlichen Regeln, die – ähnlich wie Kegel – die Nachdrücklichkeit als Auslöser des Ausrufezeichens definieren. Die Markierung von Anreden bleibt weiter ohne systematischen Bezug, sie wird zur Ergänzungsregel (E3) herabgestuft. Die Rettung der Kerndefinition wird demnach nicht mehr durch einen normativen Eingriff (was ich nicht verstehe, soll nicht sein), sondern durch Marginalisierung erreicht (was ich nicht verstehe, soll wenigstens peripher sein). So verfährt nicht nur die Amtliche Regelung, so verfahren auch die modernen Interpunktionstheorien. Maas (2000: 111) meint, „bei der Anrede ist es [das Ausrufezeichen, U. B.] unüblich bzw. wird ein abtrennendes Komma verlangt“, bei Zifonun et al. (1997) wird das Ausrufezeichen bei Anreden durch die Regelformulierung („Ferner ...“, s. o.) zur Marginalie, und Menzel & Sitta (1982: 14) betrachten diese Verwendung als „speziellen Fall“. Gallmann (1985: 44), der die Anrede im Kapitel über das Ausrufezeichen gar nicht thematisiert, führt an anderer Stelle ein soziolinguistisches Kriterium ein: „Ein Ausrufezeichen [bei Briefanreden, U. B.] setzt man heute noch am ehesten, wenn man mit dem Angesprochenen vertraut ist: [/] Lie–––––––—––
59
60
„Was suessers koennte fuer uns seyn/ liebste Brueder! als dise Stimm/ mit welcher der HErr uns einladet! bedencket, wie groß“ (Auszug aus einer Ordensregel der Benediktiner von 1753; aus Simmler [1994: 73]). Ähnlich sieht das Heyse (51849 [1972]: 817): „Nach völlig leidenschaftslosen Anreden in Briefen und im ruhigen Gesprächstone ein Ausrufungszeichen zu setzen, ist eigentlich ein Mißbrauch.“
167 ber Karl! [/] Es ist schade,[...].“ Der Duden (211996) führt die folgenden Beispiele an: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Klarheit ergibt sich daraus nicht. Geht man dem Grüßen sprechakttheoretisch nach (Searle 1969 [1983]: 106), unterscheidet es sich von allen anderen dort aufgeführten Sprechakten wesentlich in der Regel des propositionalen Gehalts. Dort steht: „Keine“. Fehlender propositionaler Gehalt ist ebenso für Interjektionen kennzeichnend (Bühler 1934: 300, Searle 1971 [1974]: 90, Ehlich 1986a: 242, Zifonun et al. 1997: 362), deren Anfälligkeit für das Ausrufezeichen so groß ist, dass der Duden es bei Ausdrücken dieser Klasse gleich mitnotiert: heureka!, hopp! hopphopp!, hoppla!, huch!, au!, au Backe!, auweh!, hick! etc. 61 Dasselbe gilt für Wunschformeln wie Prosit Neujahr! Frohe Weihnachten! Fröhliche Ostern! Im Gegensatz zu Interjektionen und Grußausdrücken verfügen sie über eine propositionale Füllung. Im Unterschied zu Sätzen wird mit Wunschformeln aber ebensowenig wie mit Interjektionen und Grußformeln ein referenzieller/prädikativer Akt vollzogen. Nicht nur sie, sondern auch Fluchformeln (Zum Teufel!), Höflichkeitsformeln (Alles Gute!) oder Beschwichtigungsformeln (Ruhig Blut!) erhalten standardmäßig das Ausrufezeichen. Das Kriterium nicht-referenzielle/nicht-prädikative Äußerungsfunktion, das Grußausdrücken, Interjektionen und formelhaften Ausdrücken gemeinsam ist, ist nun auch kennzeichnend für Direktive, Adhortative, Ausrufe und Optative, die als Standarddomänen für das Ausrufezeichen gelten. Das Ausrufezeichen steht demnach bevorzugt dort, wo keine Welt-Wort-/Wort-Welt-Anpassung erfolgt. 62 In dieser Weise interpretiert auch Rehbein (1999: 125) Ausrufezeichenkonstruktionen als solche, bei denen „H und damit auch S auf eine Verarbeitung von p [Proposition, U. B.] mit außersprachlichem Bezug ausgerichtet werden“. Eben dieser außersprachliche Bezug wird in der Regel mit dem Konzept der „Expressivität“ angesprochen. In Anlehnung an Fries (1988) könnte Expressivität zunächst als eine zweistellige Relation zwischen einem verbalisierten Sachverhalt und einem Sprecher (resp. seiner „affektiv-emotionale[n] Haltung“, Fries 1988: 4) erfasst werden. Ein systematisches Problem ergäbe sich in diesem Konzept für Ausdrücke der Klasse, die Searle (1979 [1982]) den Expressiva zurechnet (Interjektionen, Grüße, Wunschformeln ...) und die keinen propositionalen Gehalt besitzen, auf den der Sprecher seine „affektiv-emotionale Haltung“ beziehen könnte. 63 Searle (1979 [1982]: 34) gibt hier als relevante Domäne die Aufrichtigkeitsbedingung an: „Der illokutio–––––––—––
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Es ist kein Zufall, dass die Interjektionen ein ähnliches theoretisches Schicksal erlitten haben wie das Ausrufezeichen. Sie galten lange und gelten noch als Zeichen des „Affekts“. Aufgrund des fehlenden Einbezugs sprecher- und hörerseitiger Anforderungen im sprachlichen Handeln wurden in der Forschungsgeschichte diejenigen Einheiten, die nicht der „Darstellungsfunktion“ zugeordnet werden konnten, häufig dem Affekthaushalt des Sprechers zugerechnet. Vgl. zu diesem Diskussionszusammenhang im Detail Ehlich (1986a). Zwar meint Searle (1979 [1982]), der diese Kategorien als Klassifikationskriterium für Sprechakte einführt, dass bei Direktiven eine Welt-Wort-Anpassung in der Weise vorläge, dass der Hörer die Welt den Worten anpassen soll. Bezieht man die Idee der direction of fit nicht auf die Nachgeschichte einer Äußerung, sondern auf die Äußerung selbst, sind Direktive wie Grüße, Ausrufe oder Fluchformeln in Bezug auf die direction of fit gleichermaßen unspezifiziert. Fries (1988) klammert nicht satzförmige Äußerungen, also solche, die keine Prädikationsstruktur haben, von Beginn an als besondere Konstruktionstypen aus seiner Analyse aus, so dass er mit seiner Definition der „Exklamativ-Interpretation“ (s. o.) nicht tatsächlich die Exklamativität, sondern Exklamativität in Bezug auf Sätze beschreibt.
168 näre Witz dieser Klasse [der Klasse der Expressiva, U. B.] ist es, den in der Aufrichtigkeitsbedingung angegebenen psychischen Zustand zum Ausdruck zu bringen, der auf eine im propositionalen Gehalt aufgeführte Sachlage gerichtet ist.“ Einen ganz anderen Zugriff auf Expressivität gewinnt man mit Ehlich (1986a: 229): Nehmen wir etwa AH und OH als Beispiele. Durch die Äußerung von Interjektionen aus diesen Klassen bringt der Sprecher ‚Überraschung‘ oder ‚Betroffenheit‘ zum Ausdruck. Beide Termini haben es mit Handlungs- und Ereignisabläufen zu tun. Ein Vorereignis (oder eine vorgängige Handlung) konfrontiert einen Aktanten mit etwas, was eine Veränderung seines psychischen Zustandes mit sich bringt. ‚Überraschung‘ bezieht sich auf ein Ereignis, das in der einen oder anderen Weise mit dem System von Erwartungen, das der Aktant unterhält, nicht übereinstimmt [...]. Es erfordert eine eigene psychische Verarbeitung, die das Unerwartete in das Erwartungssystem integriert.
Demnach wäre Expressivität nicht eine Relation zwischen verbalisiertem Sachverhalt und Sprecher, sondern etablierte die Relation zwischen einem Vor- und einem Nachzustand des Sprechers. 64 Die Ablaufstruktur des Äußerns von Expressiva könnte auf dieser Grundlage schematisch wie folgt skizziert werden: (a) S befindet sich in einem Vorzustand A; (b) Eintreten eines Ereignisses (das auch eine Äußerung sein kann), das eine Zustandsveränderung bei S bewirkt; (c) Äußern eines Expressivs (uahhhh!); (d) S befindet sich in einem Nachzustand B. Ganz analog dazu lässt sich die Ablaufstruktur des Grüßens darstellen, bei der nicht nur der Sprecher, sondern auch der Hörer einen Zustandswechsel durchläuft: (a) S und H befinden sich im a-sozialen Zustand A; (b) Grußausdruck (Hallo!); (c) S und H befinden sich im sozialen Zustand B. Expressiva und Grußausdrücke bilden jeweils das Scharnier zwischen den Zuständen A und B. Mit dem Expressiv wird der (von außen eingetretene) Zustandswechsel im psychischen System verbalisiert, mit dem Grüßen der (mit dem Grußausdruck vollzogene) Zustandswechsel im sozialen System. Für beide Fälle gilt, dass das Eintreten des Zustandes B Zustand A ungültig macht. Anders ausgedrückt: Expressiv und Grußausdruck negieren A zugunsten von B. Das Ausrufezeichen, so die weiter zu plausibilisierende These, steht immer dort, wo der Produzent dem Rezipient explizit anzeigt, dass ein (produzenten- oder rezipientenseitiger) Vorzustand negiert werden muss. In Bezug auf das Verhältnis zwischen sprachlicher Konstruktion und Ausrufezeichen gilt ähnlich wie beim Fragezeichen: Ist die Negation des Vorzustandes bereits Bedeutungsbestandteil der Konstruktion (den prototypischen Fall bilden Expressiva), dann ist das Ausrufezeichen obligatorisch, mindestens aber präferiert. Ist die Negation des Vorzustandes nicht Bedeutungsbestandteil der Konstruktion, dann kann sie mit dem Ausrufezeichen hergestellt werden. In diesem Sinn ist die Varianz der Setzung des Ausrufezeichens bei Direktiven zu verstehen. In den AR 1996, § 67, E2 heißt es hierzu: „Bei Aufforderungen, denen man keinen besonderen Nachdruck geben will, setzt man einen Punkt und kein Ausrufezeichen“. Angesprochen sind u. a. Direktive in amtlichen Formularen, in didaktischen Instruktionen (Prüfungs- oder Übungsaufgaben) oder in Texten (etwa „vgl. S. 5“) 65 . Nun kann das Ausrufezeichen dort allerdings stehen, und zwar dann, wenn der Produzent beim Rezipienten von der im Direktiv ausgedrückten –––––––—–– 64
65
An dieser Stelle erhielte der zweite Teil der Definition der Exklamativ-Interpretation von Fries (1988) seinen systematischen Ort. Vgl. aber Gallmann (1985), der sämtliche Vergleichshinweise mit dem Ausrufezeichen versieht.
169 Handlungsanweisung abweichende Handlungspläne vermutet, die mit dem Ausrufezeichen entsprechend seiner Funktion negiert werden (vgl. [10]). (10)
(i) (ii) (iii) (iv)
Füllen Sie die roten Felder aus. Füllen Sie die roten Felder nicht aus! Unterstreiche die Substantive. Unterstreiche nur die Substantive!
Der Unterschied zwischen (10) (i) und (iii) einerseits und (10) (ii) und (iv) andererseits ist kein Unterschied der Nachdrücklichkeit, wie es in AR 1996 steht. Die Differenz besteht darin, dass der Produzent bei den ausrufezeichenlosen Konstruktionen den Hörer instruiert, einen (erwarteten) Handlungsplan umzusetzen; bei den ausrufezeichenhaltigen Konstruktionen wird der Rezipient instruiert, einen erwarteten Handlungsplan aufzugeben und stattdessen einen alternativen (in der Konstruktion verbalisierten) Handlungsplan umzusetzen. Dies gilt unabhängig davon, ob der Rezipient tatsächlich einen vom produzentenseitigen abweichenden Plan verfolgt hätte: Der Produzent nimmt an, dass es sich so verhält. Das Ausrufezeichen markiert bei Direktiven demnach die Negation des vor dem Direktiv gegebenen rezipientenseitigen Handlungsplans. Betroffen ist nicht die Aufrichtigkeitsregel, sondern die Einleitungsregel für Aufforderungen: „Es ist sowohl für S als auch für H nicht offensichtlich, daß H bei normalem Verlauf der Ereignisse A aus eigenem Antrieb tun wird“ (Searle 1969 [1983]: 100) wird verschärft zu: ‚Es ist für S (und für H) offensichtlich, dass H bei normalem Verlauf der Ereignisse aus eigenem Antrieb B statt A tun wird.‘ 66 Auf der Grundlage der bisher erreichten Differenzierung werden nun auch mit dem Ausrufezeichen gekennzeichnete Deklarative und Fragen einer Bearbeitung zugänglich: Für mit dem Ausrufezeichen versehene Deklarative scheint zu gelten, was Fries (1988: 4) in Bezug auf die Exklamativ-Interpretation herausgearbeitet hat, „daß der durch die Proposition des geäußerten Satzes denotierte Sachverhalt als normabweichend und vom Sprecher als unerwartet gekennzeichnet ist“, wobei diese Bestimmung rezipientenseitig gewendet werden muss: Mit der Ausrufezeichenmarkierung eines Deklarativs greift der Produzent explizit in das Kenntnissystem des Rezipienten ein: 67 Mit dem (einfachen) Deklarativ ist lediglich die Unterstellung verknüpft, dass dem Rezipienten der durch die Proposition des geäußerten Satzes denotierte Sachverhalt (bis zur Rezeption der entsprechenden Äußerung) unbekannt war. Wird ein Deklarativ mit dem Ausrufezeichen versehen, so wird darüber hinaus unterstellt, dass die mit der Proposition gegebene Information in Widerspruch zur Vorinformation des Lesers steht. Während also der einfache Deklarativ lediglich additiv auf das Kenntnissystem des Lesers zugreift, zielt der Schreiber mit dem Ausrufezeichen auf Modifikation: Das Ausrufezeichen instruiert den Rezipienten, bereits vorhandenes Wissen zu –––––––—–– 66
67
Möglicherweise sind auch fehlende Handlungspläne auf Rezipientenseite ausrufezeichensensitiv (vgl. z. B. miltärische Direktive Stillgestanden! Rechts um!); in diesen Fällen haben die Adressaten weder mit den den Direktiv Ausführenden deckungsgleiche noch davon abweichende Pläne – zumindest wird dies für das Empfangen und Ausführen von Befehlen als optimale Disposition unterstellt. Rezipient kann der Leser (Hans schläft doch!) oder der Verfasser (Das ist ja unglaublich!) sein. Im Fall des Eingriffs in das verfasserseitige Kenntnissystem spricht Rehbein (1977: 36) davon, dass „S [...] sein Wissen durch die Negation einer stillschweigenden Annahme modifiziert“ hat.
170 löschen und durch das mit dem Deklarativ gegebene Wissen zu ersetzen. Mit Searle (1969 [1983]: 100) verschärft sich die Einleitungsregel „Es ist sowohl für S als auch für H nicht offensichtlich, daß H p weiß“ zu ‚Es ist für S (und H) offensichtlich, dass H q statt p weiß‘. 68 Markiert das Ausrufezeichen eine Frage, ist die Umstrukturierung des produzentenseitigen Kenntnissystems angesprochen. Es handelt sich bei mit dem Ausrufezeichen versehenen Fragen typischerweise um Nachfragen, bei denen der Produzent bereits Gewusstes neuerlich erfragt (in Frage stellt), weil er das in einer Vorgängeräußerung Verbalisierte und nun in der Nachfrage präsupponierte Wissen nicht in sein Kenntnissystem integrieren kann: (11)
(i) (ii) (iii)
Was hat der gemacht?! Wie alt ist die?! Warum kommt der nicht?!
In der gesprochenen Sprache werden diese Fragen wie die Echo-w-Fragen auf dem w-Bestandteil betont (vgl. Kap. III, 3.2), was den Hörer darauf orientiert, dass sich die als offen markierte Stelle auf zuvor Gewusstes bezieht, das nun erneut in Frage steht. (12)
(i) (ii) (iii) (iv)
*?WaRUM kommt der nicht?! WArum kommt der nicht?! *?WoHER weißt du das?! WOher weißt du das?!
Unakzeptabel wird das Ausrufezeichen nach Fragen, wenn mit spezifischen sprachlichen Mitteln markiert ist, dass beim Schreiber ein tatsächliches Wissensdefizit vorliegt, wenn es sich also nicht um Nachfragen, sondern um „echte“ Fragen handelt: (13)
(i) (ii) (iii) (iv)
*?Was hat der eigentlich noch mal für einen Beruf?! *?Wie alt ist die jetzt wirklich?! *?Warum kommt der nicht?! Ich habe es vergessen. *?Wie heißt der doch gleich?!
Wieder ist die Einleitungsregel betroffen: „S kennt ‚die Antwort‘ nicht“ wird verschärft zu „S glaubt ‚der Antwort‘ nicht“, was soviel heißt wie: S ist davon überzeugt, dass die Proposition p nicht wahr ist und dass stattdessen q gilt. Einmal mehr erweist sich Glauben als dem Wissen nachgeordnete Operation (vgl. Eisenberg 1999 [22004]). Volitiv und Optativ – Eine Skizze Auch Wünsche sollen gemäß traditioneller Bestimmungen ausrufezeichensensitiv sein. Dabei wird dem Wünschen konstruktionsintern eine affektiv-emotionale Haltung und damit Nachdrücklichkeit unterstellt, was die Ausrufezeichensensitivität erklären soll. Nun lässt –––––––—–– 68
Wie bei den Direktiven könnte auch hier angenommen werden, dass das Ausrufezeichen auch dann steht, wenn der Produzent explizit zum Ausdruck bringen will, dass der Rezipient nicht über anderes, sondern über gar kein Vorwissen verfügt hat. Die Einleitungsregel würde entsprechend verschärft zu: „Es ist für S (und H) offensichtlich, dass H p nicht weiß“.
171 sich ein empirischer Unterschied zwischen Optativen (Möge er gewinnen) und Volitiven (Hätte ich nur gewonnen, Wäre er nur hier) feststellen: Während Optative häufig ausrufezeichenlos notiert werden, werden Volitive fast durchgängig mit dem Ausrufezeichen versehen. Beim Optativ, bei dem das Eintreten des gewünschten Ereignisses noch erreichbar ist, ist das Ausrufezeichen umso wahrscheinlicher, je weniger der Sprecher davon ausgeht, dass der Wunsch in Erfüllung geht (Möge es gelingen! vs. Möge es gelingen.). Erreicht wird dieser Effekt dadurch, dass mit dem Ausrufezeichen beim Optativ das (vom Sprecher für wahrscheinlich gehaltene) Nicht-Eintreten des erwünschten Ereignisses explizit negiert wird. Demgegenüber wird beim Volitiv das Nicht-Eingetretensein des gewünschten Ereignisses negiert. Nun ist eben dieses Nicht-Eingetretensein des erwünschten Ereignisses, das mit dem volitiven Wunschsatz probehalber aufgehoben wird, in der volitiven Konstruktion bereits präsuppositional kodiert. Die mit dem Volitiv gegebene Präsupposition resultiert aus der Bedeutung des Konjunktivs Präteritum, der Kontrafaktivität kodiert (Eisenberg 1999 [22004]). Wie beim Expressiv und beim Grüßen macht das Ausrufezeichen hier also eine in der Konstruktion ohnehin kodierte Negation overt. Die overte Markierung der in der Konstruktion ausgedrückten Kontrafaktivität führt im Effekt zu einer Verstärkung bzw. Intensivierung der Wunschkomponente (Hätte ich bloß die Rechnung bezahlt!), was traditionell dazu führt, das Ausrufezeichen als Indikator für „Nachdrücklichkeit“ zu charakterisieren. Der Konjunktiv Präsens (Optativ) kodiert demgegenüber Nicht-Faktivität; ausgedrückt wird nicht eine Negation von Fakten, sondern deren Abwesenheit (Eisenberg 1999 [22004]). Das Ausrufezeichen setzt damit nicht an einer ohnehin gegebenen Konstruktionseigenschaft an. Es steht dort nur dann, wenn das Nicht-Eintreten explizit negiert werden soll und erscheint deshalb auch bei mit dem Optativ formal verwandten Setzungen nie (Sei x eine Primzahl. vs. *Sei x eine Primzahl!). Fazit: Das Ausrufezeichen ist in seinem Kern präsuppositional. Es instruiert den Rezipienten, zugleich mit dem in der entsprechenden Konstruktion Verbalisierten die darin gegebene (nicht-verbalisierte) Vorgeschichte zu aktivieren. Mit dem Ausrufezeichen zeigt der Produzent an, dass die jeweils aktivierte Vorgeschichte außer Kraft gesetzt ist und dass nun für den Produzenten, für den Rezipienten oder für Produzent und Rezipient eine neue Konstellation gilt (resp. gelten soll). Die Rolle des Rezipienten/Produzenten ist damit die eines markierten Nichtwissenden/-planenden/-handelnden (resp. Anderswissenden/-planenden/handelnden). Eine Systematik von Ausrufezeichenkonstruktionen könnte danach vorgenommen werden, welche Eigenschaft der Vorgeschichte negiert wird: Bei Direktiven und Adhortativen wird der Plan für eine künftige Handlung negiert (= Prospektivität), bei Exklamativen und Grüßen eine aktuell geltende Handlungskonstellation (i. S. Rehbeins 1977) (= Simultaneität), bei Deklarativen und Fragen das bis zum Eintreten der Äußerung geltende Wissen (= Retrospektivität). Zusammen mit der Klassifizierung danach, ob Rezipient, Produzent oder Rezipient und Produzent betroffen sind, ergibt sich abschließend folgende Übersicht:
172 prospektiv Direktiv Komm! (b) produzentenseitig Entscheidungsbekundungen Ich geh jetzt! (a) rezipientenseitig
simultan ! !!! Wichtig !!! Exklamativ Heureka! Uaahhhh! Hurra! Igitt! Ist der aber groß!
(c) rezipienten-/ Adhortativ Begrüßen/Verabschieden/ produzentenseitig Lass uns gehen! Beglückwünschen, Bedanken ... Hallo! Tschüss! Glück auf! Danke!
retrospektiv Deklarativ Hans schläft! Volitiv Wäre sie doch hier! Frage WIE alt ist der?! Entdeckungsbekundungen 69 Das ist ja Betrug!
Tab. 2.: Die Systematik des Ausrufezeichengebrauchs
Punkt, Fragezeichen und Ausrufezeichen – Die Regulierung epistemischer Rollen Im Default-Fall des epistemischen Rollensystems ist der Produzent Wissender, der Rezipient Nichtwissender. Der Default wird mit dem Punkt markiert, über den bereits Gallmann (1996: 1458) sagt, er sei „nicht der unmarkierte oder neutrale Satzintentionsklassifikator, sondern in dieser Hinsicht völlig merkmallos“, wobei das, was Gallmann als „Satzintention“ identifiziert, in der vorliegenden Rekonstruktion als Äußerungsmodus (= Spezifizierung epistemischer Rollen) reanalysiert wurde. Ausrufe- und Fragezeichen intervenieren dann, wenn markierte Produzenten/Rezipientenrollen spezifiziert werden. Das Merkmal [+VERT] prädestiniert sie dafür: Das Fragezeichen sortiert den Rezipienten als Wissenden, den Produzenten als Nicht-Wissenden (wenn er diese Rolle auch, wie in Prüfungs- oder in Regiefragen, in nur strategischer Absicht übernimmt). Das Ausrufezeichen sortiert den Rezipienten/Produzenten als ausgezeichneten Nichtwissenden/-planenden/-handelnden oder als Anderswissenden/-planenden/-handelnden. Gegenüber den mit dem Punkt gekennzeichneten Konstruktionen (einfache Kenntnisnahme) vollzieht sich die Interpretation von Frage- und Ausrufezeichenkonstruktionen in zwei Schritten: Die dem Fragen folgenden Aktivitäten des Rezipienten sind (a) die Wissenssuche und (b) eine Wissensselektion. Die den Ausrufezeichenkonstruktionen folgenden resp. simultan vollzogenen Aktivitäten sind (a) die Negation des vor der Äußerung gegebenen Kenntnissystems/Handlungsplans/Handlungssystems und (b) die Implementierung neuer Kenntnisse/Pläne/Handlungen. Auf dem Hintergrund des vorgelegten Befundes wird eine Untersuchung von O’Connell & Kowal (1986) relevant: Die Autoren ermitteln die Korrelation zwischen Vorlesepausen und Interpunktionszeichen bei Radiopredigern. Die Pausendauer war nach dem Fragezeichen mit durchschnittlich 1.65 Sekunden am längsten; danach folgt das Ausrufezeichen, nach dem durchschnittlich 1.14 Sekunden pausiert wird. Der Punkt steht mit einer durchschnittlichen Pausenlänge von 0.98 Sekunden auf dem dritten Platz. –––––––—––
69
Unterstellt wird hier, dass weder S noch H bekannt war, dass der (mit das ausgedrückte) infragestehende Sachverhalt als Betrug gewertet werden muss. Andere Konstellationen sind denkbar.
173 Geht man mit Drommel (1974) davon aus, dass systematische Pausen zu erfassen sind als „Artikulationseinschnitte mit kommunikativer Relevanz“ und spezifiziert man ebenfalls mit Drommel diese kommunikative Relevanz als Hörerinstruktion, werden die Ergebnisse von O’Connell & Kowal (1986) einer Interpretation zugänglich: Dem Rezipienten wird bei Frage- und Ausrufezeichenkonstruktionen Zeit für die zweischrittige Verarbeitung gegeben, die einschrittige Verarbeitung bei Punktkonstruktionen geht mit entsprechend kürzeren Pausen einher. 70
3.3 Die P-Klitika < , ; . :> Als P-Klitika wurden Punkt, Doppelpunkt, Komma und Semikolon bestimmt. Schriftgrammatisch gemeinsam ist ihnen die fehlende Konkatenation. Graphetisch weisen sie die Eigenschaft [–VERT] auf. Funktional sagen P-Klitika nichts über die Einheit aus, an die sie klitisieren; sie geben ausschließlich Verkettungsanweisungen aus. Über die Art der Verkettungsanweisung wurde bislang allerdings nichts gesagt. Angesprochen wurden die Verkettungsinstruktionen für den Divis und den Gedankenstrich, die ebenfalls nicht über ein vertikales Aufbauelement verfügen. Sie instruieren den Leser zum Verkettungsabbruch mit der Folge, dass das bis zum Verkettungsabbruch prozessierte Wissen gespeichert und zu einem späteren Zeitpunkt weiterverarbeitet werden muss. Charakteristisch für Gedankenstrichvorkommen ist, dass der Verkettungsabbruch zu einem Zeitpunkt vorgenommen werden muss, zu dem das bis dahin verarbeitete Material noch nicht an höhere Prozessebenen weitergegeben werden kann. Die Einheiten links und rechts vom Gedankenstrich (vom Divis) bilden zusammen eine hierarchisch höhere Einheit. Für die PKlitika gilt dies nicht in gleicher Weise. Wie weiter gezeigt werden konnte, ist der Gedankenstrich nicht syntaxsensitiv: Der eingeleitete Verkettungsabbruch kookurriert nicht notwendig mit syntaktischen Grenzen, ebensowenig wie der Divis notwendig mit morphologischen Grenzen koinzidiert. Auch darin unterscheiden sie sich von den P-Klitika, die nur an syntaktisch definierbaren Grenzen auftreten. Dass jedoch eine einfache Beschreibung der syntaktischen Grenzen, an denen die P-Klitika auftreten, nicht zu widerspruchsfreien Definitionen führt, zeigt die Geschichte der –––––––—–– 70
Warum die Verarbeitung der Fragezeichenkonstruktion länger dauert als die der Ausrufezeichenkonstruktion, ist damit jedoch noch nicht beantwortet; dieser Frage kann in der vorliegenden Untersuchung auch deshalb nicht nachgegangen werden, weil O’Connell & Kowal (1986) nicht zwischen unterschiedlichen Fragetypen (speziell w-Frage und V1-Frage) unterscheiden. Es lässt sich vermuten, dass die Pausenzeiten bei diesen Fragetypen unterschiedlich sind: Bei V1-Fragen stehen genau zwei Antwortalternativen zur Verfügung, bei w-Fragen umfasst der Antwortraum eine prinzipiell offene Menge von Alternativen. Es kann daher vermutet werden, dass die Pausenzeiten nach w-Fragen länger sind als nach V1-Fragen. Hier müsste eine eigene empirische Untersuchung zu einer Klärung beitragen. Auch ob für unterschiedliche Ausrufezeichentypen unterschiedliche Pausenzeiten gelten, müsste eigens geprüft werden. Zu vermuten ist, dass die Interpretation von Ausrufezeichenkonstruktionen bei Expressiva kürzere Verarbeitungszeit in Anspruch nehmen als die Interpretation von mit dem Ausrufezeichen versehenen Deklarativen.
174 Interpunktionstheorie: Die bisherigen Versuche, das System von Punkt, Komma, Semikolon und Doppelpunkt zu erfassen, hat stets zu auflistenden, polyfunktionalen Charakterisierungen geführt oder auch zu dem Versuch, je eine Hauptregularität zu ermitteln und die restlichen Fälle als Ausnahmen zu sondern. Zusätzlich hat es sich als problematisch herausgestellt, die mit den P-Klitika begrenzten Einheiten klar zu definieren. Das betrifft vor allem den Satz resp. den Ganzsatz. Darüber hinaus bereiten Minimalpaare wie das folgende notorisch Probleme (Beispiel [1] aus Baudusch 2000: 52): (1)
(i) (ii) (iii) (iv)
Peter kam heute zu spät in die Werkstatt. Er hatte den Bus verpasst. Peter kam heute zu spät in die Werkstatt; er hatte den Bus verpasst. Peter kam heute zu spät in die Werkstatt: Er hatte den Bus verpasst. Peter kam heute zu spät in die Werkstatt, er hatte den Bus verpasst.
Aus der Perspektive einer Charakterisierung der Interpunktionszeichen über die syntaktischen Konstruktionen, die sie kennzeichnen, werden die Beispiele in (1) ununterscheidbar. Ein in der Interpunktionstheorie typisches Verfahren ist es, die gegebene Varianz auf der Grundlage von Beschreibungsebenen zu erklären, die in der sonstigen Rekonstruktion der entsprechenden Zeichen (also wenn keine Probleme wie unter [1] erkennbar sind) keine Rolle spielen. Entsprechend identifiziert Baudusch (2000: 52) die gegebene Varianz als subjektiv: „Die Verwendung der verschiedenen Satzzeichen [...] ist nur von subjektiven stilistischen Erwägungen abhängig und verändert die Aussage des Satzes bzw. der Sätze nicht.“ Bei Gallmann (1996: 1459) kommt die Textsemantik ins Spiel: „Der Unterschied liegt nicht in der Syntax – mit den Grenzsignalen [...] kann der Schreiber vielmehr zum Ausdruck bringen, wie eng er den textlichen Zusammenhang zwischen zwei Sätzen sieht. Diese Syngrapheme [gemeint sind < . ; , : >, U. B.] haben hier also die Nebenfunktion von textsemantischen Klassifikatoren.“ Gelegentlich dienen Beispiele wie die unter (1) für eine kritische Evaluation konstruktioneller Modellierungen der Interpunktion; angeführt werden solche Minimalpaare dann vor allem, um den über die syntaktische Konstruktionsspezifik definierten Satzbegriff zu problematisieren. Die vorgeschlagene Alternative eines über die Interpunktion definierten Satzbegriffs krankt jedoch an Zirkularität (Gallmann 1985: 38). Exemplarisch hierfür steht Glinz. Er konstatiert, die Einheit Satz sei „nur für mit Interpunktion versehene schriftkonstituierte Texte klar definierbar und intersubjektiv übereinstimmend abgrenzbar, nämlich als die Strecke Text, die durch Punkt, Fragezeichen oder Ausrufezeichen und nachfolgende Großschreibung auch sonst klein geschriebener Wörter [...] signalisiert wird“ (Glinz 1973: 58). In einem 1978 von Hans und Elly Glinz verfassten Schulbuch schlägt diese Definition, didaktisch verkürzt, in eine vom Lernerstandpunkt aus nutzlose Bestimmung um: „Als Satz bezeichnet man das Textstück, das mit Großbuchstaben anfängt und das durch Punkt, Ausrufezeichen oder Fragezeichen abgeschlossen ist.“ (Glinz & Glinz 1978: 105) Mit solchen Argumentationsmustern wiederholt sich, was Maas für das 18. Jahrhundert in Bezug auf die rhetorische Interpunktionsbegründung festgestellt hatte: Dort wurden die Interpunktionszeichen nicht mehr als Anweisungen für das Vorlesen erfasst; vielmehr wurde die (Standard-)Intonation des gekennzeichneten Ausdrucks zur Bedingung für das Auftreten von Interpunktionszeichen gemacht. Das Resultat des Leseprozesses wird zu seiner Bedingung.
175 Übertragen auf die syntaktisch basierte Offline-Annahme wird dieses Argumentationsmuster reproduziert: Der Satz wird nach dem Muster x kennzeichnet ein y zur Bedingung für das Auftreten des Punktes gemacht, wird also als Input für den Punkt identifiziert. Wo ein Schreiber von diesem Muster abweicht, wo also z. B. zwei mit dem Komma begrenzte Sätze zwischen Majuskel und Punkt stehen, muss entweder die Satzdefinition geändert werden oder die Definition des Punktes. Bei Glinz (1973) fallen beide Lösungen zusammen: Punkt und Satz werden aneinander definiert. Bedingende und bedingte Faktoren fallen in eins, was in der zirkulären Didaktik von Glinz & Glinz kulminiert, in der das angestrebte Resultat des Lernprozesses (das sichere Setzen des Punktes) zu seiner Voraussetzung gemacht wird. Bereits Heynatz (1782, zit. nach Höchli 1981: 229) meint: „Wer nicht beurtheilen kann, wo der Verstand aus ist, und ein neuer anfängt, dem ist weiter nicht zu helfen. Alles, was man für ihn thun kann, ist, daß man ihm einige Beispiele giebt.“ Eine extensionale Bestimmung soll die intensionale Ratlosigkeit kompensieren. Dass die Verantwortung für das Misslingen nachvollziehbarer Operationalisierungen an die Lernenden weitergereicht wird, ist vielleicht einer der prominentesten Züge von Didaktiken, die voraussetzen müssen, was sie zu lehren glauben. Im Rahmen einer Interpunktionsauffassung, nach der jedes Interpunktionszeichen eine klar beschreibbare Funktion übernimmt, ist die Arbeit mit Minimalpaaren essentiell. Denn nur dort, wo die konstruktionelle Umgebung identisch ist, wird die Eigenleistung der Interpunktionszeichen sichtbar. Wie an der Minimalpaarserie (2) erkennbar ist, leisten die PKlitika syntaktisch Verschiedenes: (2)
(i) (ii) (iii) (iv)
Der Mensch denkt. Gott lenkt. Der Mensch denkt; Gott lenkt. Der Mensch denkt, Gott lenkt. Der Mensch denkt: Gott lenkt. 71
Die Verknüpfung der gegebenen Propositionen [Mensch denken = P1] [Gott lenken = P2] hat prinzipiell zwei Lesarten, die ich der Einfachheit halber koordinativ und integrativ nenne. Die koordinative Lesart kommt zustande, wenn denken einstellig interpretiert wird. P1 und P2 werden als zugleich geltend erfasst (Lang 1977). Bei der integrativen Lesart wird denken zweistellig interpretiert. P2 wird in P1 integriert. Nicht jedes Interpunktionszeichen lizenziert beide Lesarten. Der Doppelpunkt erlaubt nur die integrative, das Semikolon nur die koordinative Lesart. Das Komma lässt beide Interpretationen zu, der Punkt keine von beiden. 72 Die beschriebene Lesartendifferenzierung stellt sich wie folgt dar: –––––––—––
71 72
Das Doppelpunktbeispiel stammt aus Brechts Mutter Courage. Die koordinative Lesart, die entsteht, wenn der Punkt zwischen P1 und P2 interveniert, kommt auf andere Weise zustande als die koordinative Lesart, die durch das Semikolon ausgelöst wird. Der Unterschied zwischen den Koordinationsmechanismen von Semikolon und Punkt wird an Beispielen deutlich, bei denen verschiedene Satzmodi in Folge erscheinen. Hier kann der Punkt stehen, das Semikolon nicht: Karls Anlage dröhnt. Denkt der nicht mit? vs. *Karls Anlage dröhnt; denkt der nicht mit?. Das Auftreten des Semikolons ist an die syntaktische Bedingung gebunden, dass P1 und P2 formidentisch realisiert sind; d. h. dass sie dieselbe Phrasenstruktur aufbauen. Mit
176 integrativ koordinativ
Punkt – –
Semikolon – +
Doppelpunkt + –
Komma + +
Damit sind bereits wesentliche Einsichten in die prinzipielle Funktionsweise der P-Klitika benannt, ohne in dieser Form noch hinreichend präzise zu sein. Wie die folgenden Beispiele zeigen, sind koordinative und integrative Lesarten, wie sie in (2) erzeugt werden konnten, lediglich Effekte, die aus abstrakteren Mechanismen abgeleitet werden müssen. (3)
Es gab keine Aufklärung darüber, ob er die Partei betrogen hatte. *Es gab keine Aufklärung darüber: ob er die Partei betrogen hatte. *Es gab keine Aufklärung darüber; ob er die Partei betrogen hatte. *Es gab keine Aufklärung darüber. Ob er die Partei betrogen hatte.
(4)
Alle fragten sich: Hatte er die Partei betrogen? *Alle fragten sich, hatte er die Partei betrogen? *Alle fragten sich; hatte er die Partei betrogen? *Alle fragten sich. Hatte er die Partei betrogen?
(5)
Nun liegt ein Hinweis vor; dass es auch andere Erklärungen gibt, liegt auf der Hand. *Nun liegt ein Hinweis vor: dass es auch andere Erklärungen gibt, liegt auf der Hand. *Nun liegt ein Hinweis vor, dass es auch andere Erklärungen gibt, liegt auf der Hand. Nun liegt ein Hinweis vor. Dass es auch andere Erklärungen gibt, liegt auf der Hand.
(3) und (4) sind auf die integrative Lesart beschränkt. Wie vorausgesagt können Punkt und Semikolon nicht stehen; abweichend zu der Voraussage aber ist in (3) nur das Komma, in (4) nur der Doppelpunkt lizenziert. In (5) liegt koordinative Lesart vor; der Punkt stellt diese Lesart textuell her (vgl. Fn. 71); der Doppelpunkt ist voraussagegemäß nicht lizenziert; das Semikolon darf stehen. Das Komma führt zu unerwünschten Ambiguitäten. Im Folgenden wird es also darum gehen, die Online-Instruktionen der P-Klitika, die zu den hier beschriebenen Lesarten führen, zu ermitteln.
–––––––—–– dem Semikolon wird demnach eine „echte“ Koordinationsanweisung gegeben; wenn der Leser auf ein Semikolon trifft, dann erhält er Hinweise darauf, wie die Phrasenstruktur der Folgekonstruktion aufgebaut ist (s. u.). Die mit dem Punkt erreichte koordinative Lesart in (2) (i) ist demgegenüber ein einfacher Reihenfolgeeffekt, der sich durch die Nacheinanderprozessierung von P1 und P2 ergibt. Dieser Effekt kann am besten mit textlinguistischem Instrumentarium erfasst werden: Nacheinander eingelesene Propositionen werden über konzeptuelle Deutungsmuster mental zu kohärenten/kohäsiven Einheiten verknüpft.
177 3.3.1 Das Komma Bereits 1833 schreibt Bauer (1833 [1967]: 298): „Nur über das Komma müssen wir ausführlich sprechen, da eine gründliche Bestimmung über den Gebrauch dieses Zeichens sehr schwer ist.“ Und über 150 Jahre später konstatiert Nerius (1987 [42007]: 190): „Die Funktionen des Kommas in der geschriebenen deutschen Literatursprache sind – im Gegensatz zur Funktion der meisten übrigen Satzzeichen – vielgestaltig und schwer überschaubar.“ Nun verwechseln Bauer und Nerius den Gegenstand mit seiner Beschreibung. Nicht die Funktionen des Kommas sind „schwer überschaubar“, sondern die Regeln, die sie zu beschreiben versuchen. Die Beschreibungsgeschichte des Kommas macht sich, wie es Schmidt-Wilpert & Lappé (1981) schon für das 19. Jahrhundert diagnostizieren, in einer beispiellosen Zersplitterung in Einzelfälle bemerkbar: Bereits Kegel (1824 [21826]) benötigt insgesamt 18 Kommaregeln. Sein Ausgangspunkt sind grammatische Strukturen, wobei er überwiegend auf lokale Kriterien zurückgreift – etwa Komma „vor jedem beziehenden Fürworte: welcher, welche, welches, der, die, das“ (ebd.: 7), Komma „[v]or den Bindewörtern: daß, damit, da, weil, um, da diese einen sogenannten eingeschlossenen Satz, oder einen Satz für sich anfangen“ (ebd.: 9). Die Ausweitung und einzelfallspezifische Fragmentierung der Kommaregeln sowie die Zugabe von Beispiellisten sind dabei nicht so sehr das Resultat differenzierterer Einblicke in die Architektur der Schriftsprache, sondern folgen der pädagogischen Intention, die orthographischen Regeln – zum Zweck der Lernbarkeit formuliert – am (einzuprägenden) Fall zu rekonstruieren. Dieser Perspektive ist auch der Schulmeister Konrad Duden verpflichtet. Er bringt es 1876 auf 25 Kommaregeln, Ausnahmeregeln nicht gerechnet. Die Regelwucherungen nehmen in den Auflagen des Duden bis 1991 ihren Lauf: War die Regelanzahl in der 9. Auflage von 1915, der ersten, in der die Interpunktion erscheint, auf insgesamt 9 Hauptregeln verkürzt worden, die zahlreiche, nicht klar unterschiedene Subregeln enthalten, so bringt es die 13. Auflage von 1947 bereits auf 30 Hauptregeln, die mehrfach verzweigen. In der 16. Auflage von 1967 sind lediglich 23 Hauptregeln angegeben – zusammen mit den Subregeln ergeben sich jedoch bereits 60 Kommaregeln. Die 20. Auflage des Dudens, die sog. Einheitsauflage von 1991, führt wieder 30 Hauptregeln an (Negativregeln kein Komma steht ... nicht mitgerechnet) – zusammen mit den Subregeln sind es 62 (wiederum Negativregeln herausgerechnet). Nicht einmal die Orthographietheoretiker blicken mehr durch (s. o., Nerius). In diese verfahrene Situation greifen die Reformer von 1996 ein: Sie entscheiden sich jedoch nicht dafür, mittels einer theoretisch angemessenen Rekonstruktion die Abstraktionsebene zu erreichen, auf deren Grundlage angemessene Regelformulierungen sowie didaktische Konzeptualisierungen hätten vorgenommen werden können, sondern nehmen einen Systemeingriff vor: Sie schaffen die Verbindlichkeit besonders fehlerträchtiger Kommapositionen (Infinitive, Partizipialgruppen) ab. Zehn Jahre später wird mit der ReReform ein Teil der 1996 abgeschafften Kommastellen wieder für verbindlich erklärt. Bislang fehlen profunde Studien zur Schreibsicherheit von Schreiber/innen des Deutschen vor und nach 1996. Es ist aber kaum vorstellbar, dass die orthographische Sicherheit zugenommen hat. Wissenschaftlich profunde Auseinandersetzungen mit dem Komma treten gegenüber Normierungsversuchen sowie didaktischen und pädagogischen Vermittlungsvorschlägen weitgehend zurück. Dabei hatte mit Primus (1993) schon vor der Reform eine Konzeption
178 vorgelegen, die die Systematik des Kommas präzise erfasst und die als Ausgangspunkt für eine Restrukturierung der einzelfallbezogenen Regelvielfalt hätte genutzt werden können: (6)
Ein Komma zwischen einem einfachen oder komplexen Ausdruck A und einem einfachen oder komplexen Ausdruck B ist regulär gdw. (a) und (b) oder (a) und (c) gelten: (a) Es gibt einen Satzknoten, der A und B dominiert. (b) Zwischen A und B interveniert eine syntaktische oder semantische Satzgrenze. (c) A und B sind koordiniert, und die Koordination ist nicht durch eine echte koordinierende Konjunktion gekennzeichnet. (Primus 1993: 246)
Aus dieser Kommadefinition resultieren drei Kommadomänen: Herausstellung 73 (Max, komm doch mal), Koordination (kalte, graue Winternächte) und die satzinterne Satzgrenze (Es regnete, als er das Haus verließ.). Wie Primus gezeigt hat, sind Herausstellung und Koordination in allen Schriftsystemen kommarelevant, die satzinterne Satzgrenze bei sentenzieller Subordination ist für das Deutsche charakteristisch. In Bredel & Primus (2007) wird die Bestimmung unter (6) mit einer Online-Analyse konfrontiert, in der das Komma nicht mehr konstruktionsspezifisch, sondern sprachverarbeitungstheoretisch gefasst wird. Unter dieser Perspektive ergibt sich folgende Bestimmung: (7)
1) 2a)
2b)
Setze die satzgrammatische Verknüpfung fort und Der dem Komma folgende einfache oder komplexe Ausdruck darf nicht unter den aktuell aufgebauten Mutterknoten untergeordnet werden und bildet auch selbst nicht den Kopf eines Mutterknotens für die Unterordnung der linken Nachbareinheit(en). (= Herausstellung oder Koordination) oder Alle dem Komma folgenden Einheiten müssen (zunächst) einem verbalen Mutterknoten untergeordnet werden, dessen Kopf noch nicht gelesen ist. (= Satzsubordination) (Bredel & Primus 2007: 112)
Die mit 2b) erfasste Kommatierung subordinierter Nebensätze, die nur für das Deutsche gilt, wird mit der sprachverarbeitungstheoretischen Modellierung von Mazuka & Lust (1990) begründet. Die Autoren nehmen an, dass die Verarbeitung linksverzweigender Sprachen eher bottom up, die Verarbeitung rechtsverzweigender Sprachen eher top down gesteuert wird. 74 Bei der Verarbeitung einer Struktur, die eine – für die jeweilige Sprache – –––––––—––
73 74
Altmann (1981). Ein phrasenstruktureller Strukturaufbau wird wissensgesteuert, also top down gewonnen, ein von Subkategorisierungseigenschaften gesteuerter Strukturaufbau ist demgegenüber ein itemabhängiger bottom up-Prozess. Bei bottom up-Verfahren werden Konstituenten einzeln aufgebaut, bevor ihre Relation zu höheren Konstituenten bestimmt wird. Bei top down-Verfahren werden Strukturen unabhängig von der Verfügbarkeit bzw. der lexikalischen Spezifik von Köpfen aufgebaut (Kimball 1973, Frazier 1987). Ob es sich bei diesen Strukturen um Phrasen im Sinn der Phra-
179 kanonische Verzweigung aufweist, entstehen weder in kopffinalen noch in kopfinitialen Sprachen besondere Probleme. Prozessschwierigkeiten entstehen, sobald eine für die jeweilige Sprache direktional nicht-kanonische Struktur verarbeitet werden muss, wenn also in einer kopffinalen Sprache eine kopfinitiale Struktur oder in einer kopfinitialen Sprache eine kopffinale Struktur verarbeitet werden muss. Das Deutsche verfügt bezüglich der Richtung der verbalen Kopfanbindung wegen der Spezifik der Stellung des Finitums zur Selektion von Satzmodi sowohl über rechts- als auch linksköpfige verbale Konstruktionen. Die Eigenschaft, dass die Position des Finitums im Deutschen nicht fixiert ist, wird theoretisch unterschiedlich erfasst: In der generativen Grammatik wird angenommen, das Deutsche sei bezüglich des verbalen Stellungsverhaltens zugrundeliegend linksverzweigend; Aussage- und Fragesätze entstehen durch Verbbewegung. In einer Oberflächengrammatik werden demgegenüber verschiedene, voneinander unabhängige Satzarten angenommen, die durch Verbstellung unterschieden werden. An den Daten ändert sich durch die verschiedenen Beschreibungsverfahren nichts: Die Stellung des Finitums im Deutschen ist nicht fixiert, sondern wird für die Konfiguration des Satzmodus funktionalisiert. Mit dem satzgrenzenmarkierenden Komma wird demnach die Verknüpfungsrichtung von Argumenten und Adverbialen an verbale Köpfe reguliert, die in anderen Sprachen wegen der fixierten Verbposition nicht erforderlich ist. 75 In Bredel (2007: 12f.) wird die Bestimmung aus Bredel & Primus (2007) weiter vereinfacht. Dort heißt es: „Das Komma signalisiert dem Leser, dass die Einheiten links und rechts vom Komma nicht satzintern 76 subordiniert sind.“ Weiter wird wie folgt argumentiert: Bei einem Verbot satzinterner Subordination benachbarter Einheiten stehen drei Möglichkeiten zur Verfügung: 1. Aufbau einer neuen Phrasenstruktur nach dem Komma: Es resultiert Herausstellung (Der Herd, der hat noch nie funktioniert). 2. Nicht-subordinative Verknüpfung: Es resultiert Koordination (Der Herd, der Schrank und die Stühle). 3. Satzübergreifende Subordination; d. h. Aufbau eines weiteren Satzknotens (clause), der dann als Ganzes subordiniert wird: Es resultiert eine Satzgrenze (Er verkaufte den Herd, weil er ihn in der neuen Wohnung nicht anschließen konnte.). Dabei reguliert das Komma lediglich die Art der Verknüpfung im genannten Sinn, ist aber sowohl gegen lexikalische als auch gegen phrasale Subordinationsreste unempfindlich: Bei der Herausstellung kann die herausgestellte Einheit z. B. kongruenzrelevante Kasusinformationen tragen (Den Karl, den habe ich noch nie gemocht). Bei der Koordination können konjunktübergreifende lexikalische Subordinationsreste erhalten bleiben (Die Kölner lieben, verehren und verteidigen ihre Stadt). Das ist anders bei den punkthaltigen P-Klitika: Doppelpunkt, Semikolon und Punkt greifen auf dieselben syntaktischen Strukturen zu, sind aber bezüglich der Subordinationsreste weniger durchlässig als das Komma; das führt dazu, dass sie jeweils nur eine der drei Kommadomänen ausfiltern: Das Semikolon ist auf bestimmte Koordinationsstrukturen –––––––—–– 75
76
senstrukturgrammatik handelt oder um eine universal vorgegebene CP-IP-VP-Struktur (Prittchett 1991, Valian 1991), ist dabei unerheblich. Das Niederländische weist dem Deutschen vergleichbare Wortstellungsregularitäten auf, verfügt aber gleichwohl nicht über das satzgrenzenmarkierende Komma. Ob dies möglicherweise mit der vergleichsweise problematischen Geschichte der orthographischen Normierung in den Niederlanden zu tun hat, vermag ich nicht zu entscheiden. Der Satzbegriff ist hier gefasst im Sinne des engl. clause, also als eine von einem finiten oder infiniten Verb(-komplex) projizierte Struktur.
180 festgelegt, der Doppelpunkt auf bestimmte Herausstellungsstrukturen, der Punkt auf satzexterne Satzgrenzen. Bevor diese Mechanismen im einzelnen bearbeitet werden, wird das Komma weiter profiliert. Für die Koordinationslesart soll mit Lobin (1993) und Ross (1967 [1970]) angenommen werden, dass es den Leser zu einem Kopiervorgang instruiert. Deshalb steht es nicht bei echt koordinierenden Konjunktionen, die diesen Mechanismus selbst in Gang setzen. Die Analyse des Kommas bei zu-Infinitiven (integrative Lesart) erlaubt eine detailliertere Sicht auf die Verarbeitung von Konstruktionen mit „integrativem Komma“ (s. o.) und trägt zur Klärung der sog. „Stärkehierarchie“ der P-Klitika bei (vgl. Kap. II, 3.2.). Komma und Koordination Koordination wird nur dann mit dem Komma markiert, wenn keine echt koordinierende Konjunktion interveniert. Das Merkmal echt koordinierend ist Behrens (1989) folgend durch repetitive Anwendung operationalisierbar: Demnach gelten als echt koordinierend all diejenigen Konjunktionen, die mehrfach nacheinander prozessiert werden können (8) (i). Diejenigen, die keine Mehrfachanwendung zulassen, sind nicht echt koordinierend (8) (ii); und genau diese verlangen das Komma. 77 (8)
(i) (ii)
klein und hübsch und liebenswert *klein, aber hübsch, aber liebenswert
Dieser weithin bekannte Befund hat zu verschiedenen Definitionen nicht echt koordinierender Konjunktionen Anlass gegeben: Mit einigem Recht nennt Primus (1993) die seit jeher als Konjunktionen klassifizierten nicht echt koordinierenden Konjunktionen Adverbien und Partikel. Sie macht geltend, dass „Partikeln wie aber, allein, nicht nur und jedoch [...] auch im Mittelfeld eines Koordinationsgliedes erscheinen [können]“ (Primus 1993: 248). Demgegenüber stehen echt koordinierende Konjunktionen obligatorisch vor dem zweiten Konjunkt. Lobin (1993) nimmt auf dem Hintergrund der Stellungsvariabilität von aber, allein, jedoch etc. zwei Lexikoneinträge an: In denjenigen Fällen, in denen die entsprechende Form nicht unmittelbar vor dem zweiten Konjunkt erscheint (Karl ist nicht zu sehen, kommt aber noch), sei aber Existimator, eine Art Partikel; als Koordinator stehe das Komma. 78 Dort, wo nicht echt koordinierende Konjunktionen unmittelbar vor dem zweiten Konjunkt stehen (Karl ist nicht zu sehen, aber er kommt noch), seien sie Koordinatoren. Folgt man dieser Argumentation, bleibt jedoch unklar, warum das Komma auch im zweiten Fall steht. Auch scheint mir keine weitere Evidenz dafür vorzuliegen, dass Ausdrücke wie aber, allein ... mehrere Lexikoneinträge erhalten sollten. Ich nehme auf der Grundlage der prozeduralen Argumentation Folgendes an: –––––––—–– 77
78
Es ist erstaunlich, dass diese – auch für Lerner und Lernerinnen – schnell einsehbare und praktikable Regel weder in Schulbüchern noch in Regelwerken zur Interpunktion zu finden ist. Unklar bleibt, von welchem Element/Merkmal die Koordination in der gesprochenen Sprache gesteuert wird. Lobin selbst reflektiert den Unterschied zwischen geschriebener und gesprochener Sprache nicht; implizit ist er an der geschriebenen Sprache orientiert, die jede Koordinationsoperation entweder mit Konjunktionen oder mit Interpunktionszeichen sichtbar macht.
181 Echt koordinierende Konjunktionen leisten bezüglich der Sprachverarbeitung dasselbe wie das Komma. Nicht echt koordinierende Konjunktionen tun dies nicht. Erfasst man die Koordination mit Lobin (1993) und Ross (1967 [1970]) als syntaktischen Kopiervorgang (Aufbau einer mit der Vorgängerkonstruktion identischen Phrasenstruktur 79 ), bedeutet das, dass die nicht echt koordinierenden Konjunktionen nicht zu einem Kopiervorgang oder nicht zu einem vollständigen Kopiervorgang mit anschließendem Datenabgleich instruieren; es steht das Komma, um diese Prozessierung zu induzieren. 80 Neben ihrer Positionsvariabilität weisen die nicht echt koordinierenden Konjunktionen gegenüber den echt koordinierenden Konjunktionen weitere Restriktionen bezüglich der zu verknüpfenden Konjunkte auf, die als Indikatoren für die Angemessenheit der hier formulierten Arbeitshypothese gelesen werden können. So kann z. B. der Satzmodus Frage von nicht echt koordinierenden Konjunktionen nicht reproduziert werden (9): (9)
Arbeitet Peter und/oder/bzw. lacht Egon? Arbeitet Peter, *aber/*denn lacht Egon? Wie lange arbeitet ihr und/oder/bzw. wann seid ihr fertig? Wie lange arbeitet ihr, *aber/*denn wann seid ihr fertig?
Dies gibt einen möglichen Hinweis darauf, dass nicht echt koordinierende Konjunktionen nicht alle Eigenschaften der Vorgängerkonstruktion reproduzieren. Dazu passt auch, dass die meisten der nicht echt koordinierenden Konjunktionen nur Satz-, nicht aber Phrasenkoordination zulassen; umgekehrt lassen alle echt koordinierenden Phrasenkoordination und Satzkoordination zu.
–––––––—–– 79
80
Im Gegensatz zu Ross sieht Lobin Koordination selbst als Phänomen der Sprachverarbeitung: „Im Gegensatz zu den Koordinationstheorien, die auf psycholinguistischer Seite die Sprechökonomie als Grund für die ‚Verkürzung‘ zweier Strukturen durch Tilgung annehmen, muß als die psycholinguistische Motivation der vorliegenden Theorie eher etwas wie Strukturökonomie angenommen werden. Betrachten wir diese Annahme einmal aus der Perspektive des Hörers. Das Parsen einer Äußerung ist ein komplexer kognitiver Akt, der zudem noch ständig der Gefahr einer partiellen Fehlanalyse [...] oder syntaktisch nicht auflösbarer Ambiguität ausgesetzt ist. Koordinative Konstrukte können unter dieser Voraussetzung als solche verstanden werden, bei denen auf ein erneutes Parsen verzichtet werden kann, da einige (in konkreten Sprechsituationen sogar häufig die meisten) Teile der syntaktischen Struktur der vorangegangenen Äußerung wiederverwendet werden kann [sic!].“ (Lobin 1993: 284) Zu weiteren theoretischen Konzeptualisierungen der symmetrischen Koordination vgl. Wesche (1995). Mit dem Phänomen der asymmetrischen Koordination haben sich m. W. zuletzt Büring & Hartmann (1998) befasst. Sie weisen nach, dass für Fälle wie Wenn du nach Hause kommst und der Gerichtsvollzieher steht vor der Tür ..., bei denen die Konjunkte keine phrasenstrukturelle Formidentität aufweisen, eine eigene Semantik anzusetzen ist, die eher mit der Semantik von Subordinationen vergleichbar ist. Auf diesem Hintergrund werten sie asymmetrische Koordinationen als Adjungierungen. Bei der Interpretation solcher Konstruktionen käme demnach die für die Koordination typische Kopierinstruktion nicht zum Zug. Wie sie unter prozeduraler Perspektive aufzufassen sind, muss hier offen bleiben. In Bezug auf das Komma ergibt sich kein Unterschied.
182 Das Komma bei zu-Infinitiven Zur Weiterbearbeitung der Satzgrenzenproblematik (vgl. Bredel & Primus 2007: 112, [2b]) ist vor allem die Kommaregularität bei zu-Infinitiven aufschlussreich, die sich an der Grenze der „Satzwertigkeit“ bewegen. 81 Uninteressant in diesem Zusammenhang sind die mit ohne, statt, um eingeleiteten, adverbial gebrauchten zu-Infinitive, die stets Satzgrenzen etablieren und bei denen das Komma bis 1996 obligatorisch stand und seit 2006 wieder obligatorisch steht. Unter Verkennung der Systematik wurden sie bis Duden (201991) (R 107) zusammen mit den zuInfinitiven ohne entsprechenden Nebensatzeinleiter als „erweiterte Infinitive“ behandelt (vgl. hierzu ausführlich Eisenberg 1979). Gut begründet ist die Regel (vor 1996), dass Konstruktionen mit zu-Infinitiv dann nicht mit dem Komma stehen, wenn ihr verbales Szenario nicht ausgebaut ist: Sie verhalten sich wie einfache Satzglieder. Es kommt nicht zu Anbindungsambiguitäten; es steht kein Komma. 82 Schwieriger ist die Situation bei zu-Infinitiven mit ausgebautem verbalem Szenario ohne Nebensatzeinleiter (Karin versprach mir am Mittwoch, länger zu arbeiten). Wie verschiedentlich herausgearbeitet wurde, spielt in diesen Fällen die Position der zuInfinitive eine herausragende Rolle (Eisenberg 1979, Primus 1993, Schmidt 1994, Gallmann 1997). Nach den bis 1996 geltenden Regeln wurden nichtkohärente Infinitive mit dem Komma markiert (10) (i), kohärente nicht (10) (ii) (hierzu ausführlich Gallmann 1997; Kohärenzbegriff nach Bech 1955 [21983]). (10)
(i) (ii)
Sie hatten den Betrag zu überweisen beabsichtigt. Sie hatten beabsichtigt, den Betrag zu überweisen.
Schmidt (1994) zieht aus dem Vergleich zwischen (10) (i) und (ii) den Schluss, dass das Komma nur in solchen Konstruktionen steht, in denen die kanonische Rektionsrichtung (nach links) nicht realisiert ist. Prominente Fälle, in denen auch bei nichtkanonischer Wortstellung kein Komma steht, sind Konstruktionen mit Anhebungsverben (11): (11)
(i) (ii)
Der Marathonlauf verspricht sensationell zu werden. Das Schiff drohte beim nächsten Sturm zu kentern.
Werden dieselben Verben als Kontrollverben gebraucht, ist das Komma bei nichtkanonischer Wortstellung obligatorisch:
–––––––—–– 81
82
Zur Nicht-Satzwertigkeit von A.c.I.-Konstruktionen, die – wie Modalverbkonstruktionen – nicht kommatiert werden, vgl. Primus (1987). Eine andere Herleitung des fehlenden Kommas bei nichtausgebauten Infinitiven unternimmt Schmidt (1994): Ausgehend von einer hierarchisch gestuften Anwendung verschiedener Regeltypen nimmt sie an, der Infinitiv bilde auf einer ersten Ebene eine kommarelevante Einheit; auf einer zweiten Ebene werde der nichterweiterte Infinitiv restrukturiert. Die angegebene Regel heißt: „Tilge k, wenn k nicht erweitert ist“ (ebd.: 43), mit k als graphematischer Interpunktionsphrase.
183 (12)
(i)
Die Veranstalter versprachen, einen sensationellen Marathonlauf zu organisieren. Der Kapitän drohte, das Schiff beim nächsten Sturm kentern zu lassen.
(ii)
Schmidt argumentiert, das Komma übernehme in diesen Fällen Disambiguierungsfunktion: Ohne das Komma werde die Anhebungslesart, mit dem Komma die Kontrolllesart spezifiziert. In der hier präferierten sprachverarbeitungstheoretischen Herleitung ergibt sich ein etwas anderer Befund, der die Nicht-Kommatierung der Anhebungsverben in die Nähe der Nicht-Kommatierung von Hilfsverben rückt: Im Duden bis 201991 sind diese Fälle unter R 107 zusammengefasst: „Der erweiterte Infinitiv mit ‚zu‘ [...] wird gewöhnlich durch Komma abgetrennt. [...] Es steht aber kein Komma: [...] wenn der erweiterte Infinitiv auf Hilfsverben oder als Hilfsverben gebrauchte Verben folgt.“ Diese Regel gibt eine allgemeine Einschätzung wieder, nach der der Unterschied zwischen (11) und (12) darin besteht, dass der Infinitiv in (11) zusammen mit dem Finitum einen Verbkomplex bildet. Die angegebene Regel betrifft Hilfsverben (haben, sein) sowie die Anhebungsverben (pflegen, scheinen, versprechen etc.). Bei einer weiteren Gruppe kann Duden (201991: 42) zufolge „zwischen dem Gebrauch als Hilfsverb und der Verwendung als selbständiges Verb nicht eindeutig unterschieden werden“. Es folgt eine Aufzählung der Fälle: „anfangen, aufhören, beginnen, bitten, denken, fürchten, gedenken, glauben, helfen, hoffen, meinen, verdienen, verlangen, versuchen, wagen, wünschen u. a.“ 83 Der Duden bis 201991 stellt hier die Kommasetzung frei. Wie Eisenberg (1979: 333) herausgearbeitet hat, sind die von Duden aufgeführten Fälle, in denen die angegebenen Verben wie Hilfsverben gebraucht werden, dadurch gekennzeichnet, dass „stets das grammatische subjekt ‚indirektes subjekt‘ zum infinitiv ist, wenn eine infinitivgruppe ergänzung ist“. Sie verhalten sich grammatisch ähnlich wie Hilfs- und Anhebungsverben: Die Syntax (Kongruenz) ist am Finitum markiert, der Infinitiv vergibt die Kasus-Rolle, wie in (13) dargestellt. (13)
S ind. subj subj NGr
N
V
Sie Das Er
verlangte scheint hat
ihren Bruder ihren Bruder
V zu sprechen (verlangen = „Hilfsverb“) zu stimmen (scheinen = Anhebungsverb) gesehen (haben = Hilfsverb)
Dass das Komma bei Anhebungsverben und den genannten „hilfszeitwörtlich gebrauchten Zeitwörtern“ (Duden 171973: 25) nicht steht, reflektiert die beschriebene Spaltung der Subjektfunktion (Vergabe der Kasus-Rolle vs. Kongruenz). Das Komma würde hier zwar die morphologische Kasuszuweisung eindeutig regulieren, die Zuweisung der Kasus-Rolle aber ignorieren. –––––––—––
83
Zu einer kritischen Durchsicht dieser Auflistung vgl. Eisenberg (1979).
184 Nun zeigen weitere Beispiele, dass die genannten Konstruktionen dann kommatiert werden, wenn weitere (direktional bedingte) Disambiguierungsprobleme bearbeitet werden müssen: (14)
(i) (ii)
Die Veranstaltung versprach ein Erfolg zu werden. Die Veranstaltung versprach erneut, ein Erfolg zu werden. (Gallmann 1985: 127)
Trotz Anhebungslesart steht in (14) (ii) ein Komma, um die Anbindungsambiguität von erneut zu disambiguieren. Ähnliche Beispiele gibt Schmidt (1994: 46f.) für das Verb bitten, für das im Duden (201991) angegeben worden war, es könne wie Hilfsverben gebraucht werden: (15)
(i) (ii) (iii)
Diesen Betrag bitten wir auf unser Konto zu überweisen. Diesen Betrag bitten wir höflich, auf unser Konto zu überweisen. Diesen Betrag bitten wir, bald auf unser Konto zu überweisen.
Es wird zugunsten der syntaktischen Anbindung und zuungunsten der Kasusrollenzuweisung entschieden. Wie in (7) (2b) vorausgesagt, instruiert das Komma bei Infinitiven den Leser, die Anbindungsrichtung der nach dem Komma folgenden Einheiten auf einen neuen verbalen Kopf auszurichten. Es wird aber dann nicht gesetzt, wenn eine anzubindende Einheit (Subjekt) syntaktisch (Kongruenz) und thematisch (Kasus-Rolle) an verschiedene Köpfe gebunden werden muss. 84 Muss ein weiterer, davon unabhängiger Anbindungskonflikt gelöst werden, wird zugunsten der syntaktischen Kopf-Anbindung entschieden. Das Komma trennt den die Kasus-Rolle vergebenden Kopf von seinem Dependens. Dieser letzte Punkt zeigt die Priorität der Phrasenstruktur bei der Sprachverarbeitung: Die korrekte konstituentenstrukturelle Zuordnung wird auf Kosten einer subkategorialen Zuordnung markiert. Die derzeit empirisch avancierteste Forschung syntaktischer Sprachverarbeitung liegt mit Friederici (1995, 1999) vor. Auf der Grundlage der Messung ereigniskorrelierter Potentiale (EKP) werden die Gehirnaktivitäten bei der Sprachverarbeitung im Millisekundenbereich gemessen, so dass differenzierte Aussagen sowohl zur Abfolge der Nutzung sprachlicher Informationen als auch zum topologischen Areal, in dem diese Prozessierung erfolgt, möglich werden. Aufgrund umfangreicher EKP-Messungen (ereigniskorrelierte Potentiale) schlägt Friederici ein dreiphasiges, strukturgetriebenes Modell der Sprachverarbeitung vor, das Frisch (2000: 107f.) so zusammenfasst: Phase 1 In dieser sehr frühen Phase (bis ca. 200 ms) laufen strukturbildende Prozesse ab. Lokale Verletzungen der Phrasenstruktur aufgrund einer falschen Wortkategorie reflektieren sich in einer frühen, links-anterioren Negativierung 85 (ELAN).
–––––––—–– 84
85
In ähnlicher Weise wäre dann bei A.c.I.-Konstruktionen und bei Modalverbkonstruktionen zu argumentieren, die ebenfalls obligatorisch nicht kommatiert werden. Die Ausdrücke „Negativierung“ und „Positivierung“ beziehen sich auf die Richtung der Amplitudenausschläge des Messinstruments: Negativierungen ergeben auf der Abszisse eine Frequenz nach oben, Positivierungen nach unten.
185 Phase 2 Die zweite Phase involviert alle Informationsarten, die, wenn sie eine Verletzung realisieren, im EKP etwa bei 400 ms einen maximalen Effekt in Form einer Negativierung hervorrufen. Dabei kann grob zwischen Prozessen unterschieden werden, die (a) eher auf semantische Information oder (b) eher auf syntaktische Information rekurrieren. So rufen Probleme bei einer semantischen Integration (Verletzung von semantischen Erwartungen oder von Selektionsrestriktionen) eine bilaterale, breit verteilte Negativierung hervor (N400). Demgegenüber evozieren Verletzungen, die syntaktische Lexikoninformation involvieren (also Numerus, Subkategorisierung, thematische Rollen, nicht Wortkategorie), eine Negativierung mit (links-)anteriorem Fokus (LAN). Phase 3 Die dritte Phase umfaßt Prozesse, die im EKP durch Positivierungen bei ca. 600 ms reflektiert werden, also durch P600-Effekte. Die P600 reflektiert Friederici (1995) zufolge ganz generell Bemühungen des Parsers, eine syntaktische Struktur zu reanalysieren, die an irgendeinem Punkt der Verarbeitung nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Hierbei kann es sich sowohl um Verletzungen von Präferenzen handeln als auch um Regelverletzungen.
Die EKP-Experimente bestätigen zum großen Teil die Annahmen von Ferreira & Henderson (1991) und Clifton, Speer & Abney (1991). Beim Parsen wird zuerst überprüft, ob die Wortkategorie des Folgematerials geeignet ist, eine passende Phrasenstruktur aufzubauen. Lexikalische Informationen wie Valenzeigenschaften oder thematische Rollen kommen postinitial zum Zug. Die Kommaregeln geben nun nicht nur bei den zu-Infinitiven, sondern auch ansonsten einen erstaunlich genauen Reflex dieser Situation: Wie Stetter bemerkt, sind die Kommaregeln für das koordinierende und das integrative Komma hinsichtlich ihrer Verwendung hierarchisch geordnet: „Das Komma 2 [gemeint ist das Komma mit integrativer Lesart, U. B.] wird dann entfallen können, wenn der Zusammenhang des betreffenden satzwertigen Satzgliedes durch zusätzliche Mittel angedeutet wird. Dies ist insbesondere der Fall, wenn das betreffende Satzglied Teil einer Aufzählung ist“ (Stetter 1997 [1999]: 48). Als Beispiele führt er an (ebd.): (16)
(i) (ii) (iii)
Unerschrocken und ohne mit der Wimper zu zucken ließ er alles über sich ergehen. Getränke, Kuchen und worauf immer sie Lust hatten wurde den Kindern reichlich gebracht. Müde, abgekämpft und aus allen Poren schwitzend gingen sie.
Der entscheidende Punkt ist, dass die Infinitivgruppe in (16) (i) ohne mit der Wimper zu zucken, der Satz in (16) (ii) worauf immer sie Lust hatten und die Partizipialgruppe in (16) (iii) aus allen Poren schwitzend, die (nach den alten Regeln) in anderen Kontexten mit dem integrativen Komma markiert werden, dann nicht kommatiert werden (und wurden), wenn sie als Konjunkte realisiert sind. Stetter führt die fehlende Kommatierung der genannten Konjunkte darauf zurück, „daß ein satzwertiges Satzglied dadurch, daß es als Glied einer Aufzählung geführt wird, hinreichend als Einheit ausgewiesen ist“ (Stetter 1997 [1999]: 49). Er leitet daraus den Grundsatz „R 1 geht vor R 2“ (ebd.) ab, wobei R 1 (Regel 1) die Koordinationslesart, R 2 (Regel 2) die Integrationslesart reguliert. Wenn also auf der Grundlage entsprechender sprachlicher Mittel (Koordinator) das phrasenstrukturelle Wissen zur Rezeption der Folgekonstruktion aufgebaut ist, kann die Kom-
186 mainstruktion, die zur integrativen Lesart führt, entfallen. Die Phrase bietet demnach eine Vorstrukturierung für die Implementierung der lexikalischen Elemente, deren interne Strukturiertheit dann nicht mehr eigens ausgewiesen wird. Eben diese Reihenfolge wird durch die EKP-Experimente von Friederici vorausgesagt und von den Kommaregeln reproduziert. 3.3.2 Das Semikolon Das Semikolon gilt als koordinationsanzeigend. In AR 1996, § 80 ist dieser Befund wie folgt ausgedrückt: „Mit dem Semikolon kann man gleichrangige (nebengeordnete) Teilsätze oder Wortgruppen voneinander abgrenzen.“ Weiter heißt es: „Mit dem Semikolon drückt man einen höheren Grad der Abgrenzung aus als mit dem Komma und einen geringeren Grad der Abgrenzung als mit dem Punkt.“ (Ebd.) Diese seit 1915 kodifizierte Sichtweise wird auch in wissenschaftlichen Analysen übernommen (vgl. Zifonun et al. 1997: 287, Gallmann 1985, Mentrup 1983). Geringerer und höherer Grad an Abgrenzung werden nun in der Regel nicht syntaktisch, sondern inhaltsbezogen expliziert. 86 Exemplarisch für diese Auffassung stehen Zifonun et al. (1997: 287): „Das Semikolon indiziert eine Koordination durch Juxtaposition [...] und zeigt einen – verglichen mit dem Punkt engeren, verglichen mit dem Komma loseren – inhaltlichen Zusammenhang zwischen kommunikativen Einheiten an“. Der Gebrauch des Semikolons gilt auf diesem Hintergrund als „fakultativ“ (Behrens 1989, Zifonun et al. 1997, Stetter 1997 [1999]). Bei Baudusch (2000: 52) heißt es: „Die Regeln für den Gebrauch des Semikolons erheben keinen Anspruch auf Verbindlichkeit. Denn es hat keine Funktion, die nur ihm eigen ist und die nicht auch vom Punkt oder vom Komma, gelegentlich auch vom Doppelpunkt erfüllt werden kann.“ Folgerichtig gilt die Verwendung des Semikolons als „Willensentscheidung“ des Schreibers und das heißt als „stilistisch“ motiviert: Bereits Zimmermann (1969: 20) hält die „Intention und damit [die] –––––––—–– 86
Eine eigene Aufgabe wäre die Rekonstruktion der Regulierung des Semikolons im Duden, die hier nur angedeutet werden kann: In der Vorbemerkung zur Regulierung des Semikolongebrauchs heißt es im Duden (191986: 57): „Da das Urteil darüber, ob einer dieser Fälle [das Komma zu schwach, der Punkt zu stark, U. B.] vorliegt, verschieden sein kann, lassen sich für die Anwendung des Semikolons nicht so strenge Richtlinien geben wie für die anderen Satzzeichen.“ Diese Formulierung unterscheidet sich inhaltlich in nichts von der von Konrad Duden 1876 (!) eingebrachten Beschreibung des Semikolons, wobei Konrad Duden – im Gegensatz zum Duden (191986) – noch eine graphetische Analyse und eine Angabe zu schreiberseitigen Gebrauchsbedingungen mitliefert: „Das Semikolon ist also ein Stellvertreter derjenigen beiden Satzzeichen, aus denen es zusammengesetzt ist, des Punktes und des Kommas. Daraus erklärt sich, daß der Gebrauch desselben nicht für alle Fälle durch Regeln festgesetzt werden kann; er hängt oft von der Auffassung des Schreibenden ab.“ (Duden 1876: 168) Im Einheitsduden (201991) ist der Hinweis auf fehlende Normierbarkeit gestrichen. In der Vorbemerkung heißt es nun lediglich noch: „Das Semikolon grenzt stärker ab als das Komma, aber weniger stark als der Punkt.“ (Ebd.: 55) Der Benutzer erhält dann lediglich – nach dem Muster der extensionalen Bestimmung – einige Beispiele. In dieser Form wird der Semikolongebrauch auch in die AR 1996 (§ 80) übernommen: „Mit dem Semikolon kann man gleichrangige (nebengeordnete) Teilsätze oder Wortgruppen voneinander abgrenzen. Mit dem Semikolon drückt man einen höheren Grad der Abgrenzung aus als mit dem Komma und einen geringeren Grad der Abgrenzung als mit dem Punkt.“
187 Interpretation [...] des Sprechers [sic!]“ für ausschlaggebend für den Semikolongebrauch; Gallmann (1985: 48) meint, die Regel für Nutzer solle folgenden Passus vorsehen: „Der Schreiber kann [...] den Punkt, den Strichpunkt oder das Komma als Grenzzeichen zwischen Ganzsätzen wählen, je nachdem [sic!] wie stark er die Sätze voneinander trennen will“. Baudusch (1981a: 2f.) schreibt: „Gibt der Schreibende dem Semikolon den Vorzug, läßt er sich vor allem von stilistischen Erwägungen leiten, die natürlich [sic!] semantisch motiviert sein müssen [sic!].“ 87 Im Folgenden wird die stilistische Offline- durch eine syntaktische Online-Analyse ersetzt: Am Beispiel der Verknüpfung der Propositionen P1 [Mensch denken] und P2 [Gott lenken] wurde bereits gezeigt, dass das Semikolon die integrative Lesart (d. h. die Subordination von P2 unter P1) nicht zulässt. Dieser Befund lässt sich empirisch weiter sättigen: (17)
(i) (ii) (iii) (iv)
Der Mensch denkt, dass Gott lenkt. *Der Mensch denkt; dass Gott lenkt. Der Mensch denkt, weil Gott lenkt. *Der Mensch denkt; weil Gott lenkt.
Mit dem Semikolon ist ein globales (nicht nur wie beim Komma ein unmittelbares) Subordinationsverbot verknüpft. Das Semikolon unterliegt jedoch auch bei koordinativen Verknüpfungen weitergehenden Restriktionen als das Komma: Es kann weder in Konstruktionen stehen, bei denen eine sog. Vorwärtstilgung (18) vorliegt, noch in solchen mit einer sog. Rückwärtstilgung (19).
–––––––—–– 87
Wie viele einmal in die „Stildiskussion“ geratene sprachliche Mittel wird das Semikolon zum kulturellen Seismographen. Baudusch (1984 [31989]: 48) meint, die „Handhabung“ des Semikolons setze „einen bestimmten Reifegrad in der stilistischen Beherrschung der geschriebenen Sprache voraus“. Seine Beherrschung gehöre „[z]u einem kultivierten und schöpferischen Sprachgebrauch“ (Baudusch 1981: 4). Maas (2000: 202) hält das Semikolon (vielleicht genau deshalb) schlicht für „snobistisch“. Und Adorno (1956 [1997]: 110f.) sieht im Verschwinden des Semikolons Anzeichen für den sicheren Kulturzerfall: „Die Prosa wird auf den Protokollsatz, der Positivisten liebstes Kind, heruntergebracht, auf die bloße Registrierung der Tatsachen, und indem Syntax und Interpunktion des Rechts sich begeben, diese zu artikulieren, zu formen, Kritik an ihnen zu üben, schickt bereits die Sprache sich an, vor dem bloß Seienden zu kapitulieren, ehe nur der Gedanke Zeit hat, diese Kapitulation eifrig von sich aus ein zweites Mal zu vollziehen. Mit dem Verlust des Semikolons fängt es an, mit der Ratifizierung des Schwachsinns durch die von aller Zutat gereinigte Vernünftigkeit hört es auf.“ Diese wenigen Bemerkungen können genügen, um die beeindruckenden Transformationen deutlich zu machen, denen nicht hinreichend bearbeitete Wissensbestände in der theoretischen Weiterbearbeitung unterliegen: Sprachliche Phänomene, die (noch) nicht unter Bezugnahme auf objektive Kriterien erfasst werden können, werden an die Subjektivität der Sprachbenutzer delegiert. Diese Delegation hat zwei Konsequenzen, die dicht beisammenstehen: Zunächst kann das störrische Datum – als per definitionem nicht objektiv rekonstruierbar – ausgesondert werden; in gleichem Zug wird es für „Stil“-Fragen verwertbar gemacht. Die (Nicht-)Verwendung des entsprechenden Phänomens im gesellschaftlichen Verkehr gilt dann – je nach Geschmack – als Index der Freiheit oder des Kulturzerfalls.
188 (18)
(i) (ii) (iii)
Der Zaunkönig ist ein Singvogel, lebt von Wespen und nistet in Baumkronen. *Der Zaunkönig ist ein Singvogel; lebt von Wespen und nistet in Baumkronen. Der Zaunkönig ist ein Singvogel; er lebt von Wespen und nistet in Baumkronen.
(19)
(i) (ii) (iii)
Karl druckt, Anna kauft und Hans liest die Zeitung. *Karl druckt; Anna kauft und Hans liest die Zeitung Karl druckt die Zeitung; Anna kauft und Hans liest sie.
Nun sind die Restriktionen in (2) (ii), (17), (18) und (19) auf denselben Mechanismus zurückzuführen, der sich aus der kompositionellen Struktur des Semikolons (Komma + Punkt) ergibt: (A) Das Semikolon fordert satzinterne grammatische Verknüpfung (vgl. 7 [1]) (Kommabestandteil). (B) Es verbietet unmittelbare Subordination (vgl. 7 [2a]) (Kommabestandteil). (C) Zusätzlich verbietet es die Auswertung/Weiterverwertung lexikalischer Informationen (Punktbestandteil als Modifikator des Kommabestandteils). Verbot (C) führt zu einer Verschärfung von Verbot (B): Betroffen von der nicht subordinativen Verknüpfung sind bei einem globalen Verbot der Auswertung lexikalischer Informationen nicht nur die unmittelbaren, sondern auch die mittelbaren Nachbarn. Für satzgrammatische Verknüpfung (Gebot A) steht also nur noch die Phrasenstruktur zur Verfügung. Diese Gebots-/Verbotsstruktur führt automatisch zur Koordination, wobei die koordinativ verknüpften Einheiten eine spezifische Struktur aufweisen: Weil keine Einheit aus der Vorgängerkonstruktion zur Sättigung des Mutterknotens zur Verfügung steht, handelt es sich bei Semikolonphrasen um vollständig gesättigte Phrasen, also maximale Projektionen. Die traditionelle Beschreibung des Semikolons als Indikator für „Perioden“ (exemplarisch Behrens 1989) erhält hier ihren systematischen Ort. Nunberg (1990: 96ff.) verweist auf einen spezifischen Interpretationseffekt von Konstruktionen, die mit dem Semikolon markiert sind, die gut mit der hier vorgelegten syntaktischen Analyse harmonieren. Er nimmt an, das Semikolon markiere einzelne Textbausteine globaler Textargumente. Die in den Textbausteinen repräsentierten Propositionen stünden nicht in einer explanativen oder elaborierenden Beziehung zueinander, sondern in einer rein reihenden. Mit dem Semikolon begrenzte Einheiten „count as descriptions of the same thing“ (ebd.: 99). Demnach konstituiert das Semikolon ebenso wie der Proto-Koordinator und eine Gemeinsame Einordnungsinstanz (GEI) (Lang 1977), ohne die Konjunkte spezifischer aufeinander zu beziehen. Es entsteht der von Lang bereits 1977 beschriebene Parallelisierungseffekt. Die hier vorgelegte Interpretation des Semikolons führt dazu, die Koordinationsstruktur in Sätzen wie (20) wie in (21) zu erfassen, also als Koordination von NPs, die als Koordinationsgruppe von der Präposition regiert wird: (20)
Unser Proviant bestand aus gedörrtem Fleisch; Speck und Rauchschinken; Ei- und Milchpulver; Reis, Nudeln und Grieß. (Duden 232004: 80)
(21)
[[Unser Proviant]NGr [bestand]V [ausPr [[gedörrtem Fleisch]; [Speck und Rauchschinken]; [Ei- und Milchpulver]; [Reis, Nudeln und Grieß]]KoGr]PrGr]S
189 Die alternative Konfiguration in (22), in der die Präposition als vorwärtsgetilgt interpretiert wird, in der also eine Mehrfachauswertung eines lexikalischen Ausdrucks erfolgt, sollte ausgeschlossen sein. (22)
*[[Unser Proviant]NGr [bestand]V [ausPr [gedörrtem Fleisch]]PrGr; [...Pr [Speck und Rauchschinken]]PrGr; [...Pr [Ei- und Milchpulver]]PrGr; [...Pr [Reis, Nudeln und Grieß]]PrGr]KoGr]S
Beim Komma sollten beide Strukturtypen möglich sein. Ein semantischer Lesartenunterschied ergibt sich hier jedoch nicht. Das ist anders in den Beispielen unter (23): (23)
(i) (ii) (iii) (iv)
Er hatte gesehen: [alte Hunde]; [Katzen und Mäuse]; [Kühe und Pferde]. Er hatte gesehen: [alte Hunde], [Katzen und Mäuse], [Kühe und Pferde]. Er hatte gesehen: [alte Hunde, Katzen und Mäuse], [Kühe und Pferde]. *Er hatte gesehen: [alte Hunde; Katzen und Mäuse]; [Kühe und Pferde].
Weil das Semikolon die Gruppierung unter (23) (i) vorschreibt, kann das Attribut alte keinen weiten Skopus haben. Das Semikolon ist hier lesartendesambiguierend und in dieser Hinsicht nicht „fakultativ“ (s. o.). „Stärker“ als das Komma, „schwächer“ als der Punkt – Zur Hierarchie der P-Klitika Mit der hier vorgelegten Online-Analyse lässt sich nun die in der Geschichte nur intuitiv zur Geltung gekommene Auffassung, der Punkt sei „stärker“, das Komma sei „schwächer“ als das Semikolon, sprachverarbeitungstheoretisch motivieren. Das koordinierende Komma, so wurde gezeigt, ist für Konjunktauslassungen und Konjunktwiederholungen durchlässig; die lexikalischen Einheiten aus der Vorgängerkonstruktion stehen nach dem Komma für eine Weiterverarbeitung zur Verfügung; d. h. auch, dass sie nach dem Komma für eine neuerliche Auswertung im Kurzzeitgedächtnis aktiv gehalten werden. Das Semikolon lässt demgegenüber keine lexikalische Mehrfachauswertung zu; die bis zum Semikolon eingelesenen lexikalischen Ausdrücke werden vom Leser nicht aktiv gehalten, sondern zu dem Zeitpunkt, zu dem das Semikolon eingelesen wird, zu größeren Einheiten verrechnet. Interpretiert man nun „Stärke“ und „Schwäche“ als Grad der Durchlässigkeit von für den Sprachverarbeitungsprozess relevanten Informationen, steht das Semikolon in der Tat zwischen Komma und Punkt: Während das Komma sowohl für lexikalische als auch für phrasale Informationen durchlässig ist, ist das Semikolon für lexikalische Informationen opak, erlaubt aber die Weiterverarbeitung phrasaler Informationen, was automatisch zur Koordinationslesart führt. Der Punkt als „stärkstes“ Zeichen erlaubt weder eine Weiterverarbeitung lexikalischer noch eine Weiterverarbeitung phrasaler Informationen (vgl. Kap. III, 3.3.3).
phrasale Information lexikalische Information
Komma + +
Semikolon + –
Punkt – –
190 Was in dieser Reihe fehlt, ist ein Zeichen, das dafür sorgt, dass lexikalische Information aktiv bleibt, phrasale Information aber deaktiviert wird. Diese Funktion übernimmt der Doppelpunkt, der sich komplementär zum Semikolon verhält. In (2) (iv) (Der Mensch denkt: Gott lenkt) konnte gezeigt werden, dass der Doppelpunkt zwar die integrative, nicht aber die koordinative Lesart erlaubt, was – wie in Kapitel III, 3.3.4 ausführlich gezeigt wird – darauf zurückzuführen ist, dass der Doppelpunkt nur lexikalische (im vorliegenden Fall die Valenz von denken), nicht aber phrasale Information aktiv hält. 88
phrasale Information lexikalische Information
Komma + +
Semikolon + –
Doppelpunkt – +
Punkt – –
Bezüglich seiner „Stärke“ stünde der Doppelpunkt nun zusammen mit dem Semikolon in der „Mitte“ zwischen Punkt und Komma. Wie Zimmermann (1969) und Baudusch (1981) meinen, ist der Doppelpunkt aber „stärker“ als das Semikolon, so dass sich die „Satzzeichenhierarchie“ in (24) ergibt: (24)
Punkt > Doppelpunkt > Semikolon > Komma
Übersetzt in die hier vorgelegte Argumentation wäre damit die Auflösung der phrasenstrukturellen Information ein für die Sprachverarbeitung bedeutsameres („stärkeres“) Datum als die Auflösung lexikalischer Information. Diese Argumentation harmoniert mit dem von Ferreira & Henderson (1991) sowie von Clifton, Speer & Abney (1991) hypostasierten und von Friederici auf der Grundlage von EKP-Messungen nachgewiesenen Sprachverarbeitungsmechanismus (s. o.), wonach phrasenstrukturelles Wissen beim Aufbau syntaktischer Strukturen als primäres in Anspruch genommen wird. Erst in einem zweiten Schritt kommen den genannten Autoren zufolge Subkategorisierungsinformationen (also lexikalisch spezifiziertes Wissen) zum Zug. Auf dem Hintergrund der bis hierher gewonnenen Befunde ist es nicht weiter erstaunlich, dass Kinder das koordinierende Komma vor dem integrierenden erwerben (Afflerbach 1997: 108). Phrasenstrukturelle Gegebenheiten sind psycholinguistisch basaler und können leichter abgerufen werden. Die didaktischen Interventionen starten auch in den Bildungsplänen nicht zufällig mit dem Aufzählungskomma (vgl. exemplarisch den Vorläufigen Rahmenplan Berlin, Grundschule 1989; in Klasse 4 sollen die Schüler/innen als erstes das „Komma bei Aufzählung“ kennenlernen). Eine herausragende Rolle bei der gesteuerten Aneignung des integrativen Kommas könnte auf der Grundlage der hier gewonnenen Befunde der Relativsatz einnehmen, der koordinative und integrative Merkmale vereint. Koordinativ ist er wegen der phrasenstrukturellen Doppelbelegung einer Konstituente; integrativ ist er, weil er von einem Substantiv („Bezugswort“) kategorial regiert wird. –––––––—–– 88
Die Beobachtung von Karhiaho (2003: 72), dass bei „der Verknüpfung mit dem Doppelpunkt [...] die Interpretation der Sachverhalte als nebeneinanderbestehend ausgeschlossen“ wird, trifft sich mit der hier herausgearbeiteten Komplementarität von Doppelpunkt und Semikolon: Denn das Semikolon kann überhaupt nur dort stehen, wo die „Sachverhalte als nebeneinanderbestehend“ interpretiert werden sollen (Nunberg 1990).
191 3.3.3 Der Punkt „Aber ich kenne doch einen Satz, wenn ich ihn sehe, also muß ich auch die Grenzen des Begriffes scharf ziehen können.“ (Wittgenstein 1984 [61999]: 112)
Der Punkt, so wurde vorläufig festgehalten, instruiert den Leser, weder phrasale noch lexikalische Informationen zu einer Auswertung verfügbar zu halten. Der Leser muss die syntaktische Verknüpfung abschließen und den syntaktischen Arbeitsspeicher leeren. Nach rechts interveniert die P-Majuskel, die zum Aufbau einer neuen Phrasenstruktur mit neuer lexikalischer Spezifizierung instruiert. Zusammen mit dem durch den Punkt ausgelösten Leeren des Arbeitsspeichers beginnt der Leser mit der semantischen Satzinterpretation, die von Just & Carpenter (1980) als sentence wrap up-Effekt in die Diskussion gebracht wurde. Die Autoren gehen davon aus, dass der Satzschluss zwei wesentliche Eigenschaften besitzt, die ihn für diese spezielle Berechnungsepisode auszeichnen. Die erste Eigenschaft bezieht sich auf innersententiale Strukturierungsprinzipien. Der Informationsaufbau von Sätzen folgt tendenziell der ThemaRhema-Struktur; neue Objekte oder Personen werden demnach häufig erst am Ende eines Satzes eingeführt. Außerdem gelte, dass referenziell noch nicht gesättigte Pronomina sowie noch nicht zugeordnete ș-Rollen während der syntaktischen Prozessierung offengelassen würden und erst mit dem Abschluss eines Syntagmas mit dem Suchprozess begonnen werde. Ähnlich verhält es sich mit möglichen Inkonsistenzen, die bis zum Syntagmenabschluss vom Leser geduldet, dann aber zu lösen versucht werden. Die zweite Eigenschaft bezieht sich auf die Verknüpfung von Sätzen in Texten. Die zwischen syntaktisch autonomen Sätzen herzustellenden Kohärenzbeziehungen erfordern spezifische, zum Teil aufwendigere Verarbeitungsprozesse (Textwissen, Weltwissen etc.) als innersententiale, von der syntaktischen Struktur gedeckte Verknüpfungen. Als empirische Unterstützung für die besondere Prozessierung sprachlichen Wissens am Satzende führen Just & Carpenter (1980) eine Augenbewegungsstudie an. Lesern wurden Satzpaare mit verschieden starken Kohärenzangeboten vorgelegt. (25)
(i) (ii)
It was dark and stormy the night the millionaire was murdered. The killer left no cues for the police to trace. It was dark and stormy the night the millionaire died. The killer left no cues for the police to trace.
Von einer direkten Inferenzbeziehung sprechen Just & Carpenter (1980) in Bezug auf (25) (i). Dort kann das erste Substantiv des zweiten Satzes (killer) als das in der Passivkonstruktion (was murdered) unbesetzte Agens des ersten Satzes interpretiert werden. Die Beziehung zwischen Täterschaft (killer) und Tat (to murder) ist grammatisch voraktiviert. Demgegenüber muss die Verknüpfung zwischen dem killer und dem toten Millionär in (25) (ii) durch Weltwissen hergestellt werden, da das Verb to die keine syntaktische und eine nur schwach konnotierte semantische Voraktivierung für killer in Gang setzt. Die Versuchspersonen benötigten für die Verarbeitung von (25) (ii) erwartungsgemäß länger. Die Auswertung der Augenbewegungen zeigte, dass die längere Lesezeit durch ein Ver-
192 weilen am Ende des zweiten Satzes zustande kam. Just & Carpenter sehen darin den Beweis, dass grammatisch nicht voraktivierte Informationen möglichst bis zum Satzende aufgeschoben werden, dann aber aktiviert werden, um sprachlich nicht ausgedrückte Kohärenz-/Kohäsionsbeziehungen herzustellen. Darüber hinaus konnten die eigenständigen Verarbeitungsprozesse am Satzende in Lesezeitstudien nachgewiesen werden. Bei einer von den Versuchspersonen selbstbestimmten wortweisen Präsentation von Sätzen tendierten die Probanden und Probandinnen zu längeren Pausen nach syntaktischen Phrasen sowie an potentiellen Satzgrenzen. Die längeren Pausen an den potentiellen Satzgrenzen sind Just & Carpenter (1980) zufolge auf kontextuelle Integrationsprozesse zurückzuführen. Der Zusammenhang zwischen dem sentence wrap up-Effekt und der Interpunktion wird bei Farke (1994) implizit ins Spiel gebracht. Bei der Beschreibung des experimentellen Designs ihrer Untersuchung, bei der sie den Probanden Sätze wortweise präsentierte, schreibt sie: „Das Satzzeichen erscheint nicht zusammen mit dem letzten Wort des Satzes, sondern auf einem eigenen Bildschirm, damit die Lesezeit des letzten Wortes nicht durch den sentence wrap up-Effekt kontaminiert wird“ (Farke 1994: 166). Neben den beschriebenen semantischen und pragmatischen Verarbeitungsprozessen, die am Satzende wirksam werden, ist ein wesentliches Resultat des sentence wrap up-Effektes, dass nach bzw. mit seiner Anwendung das syntaktische Arbeitsgedächtnis zerfällt. Darauf hat neben Just & Carpenter (1980) bereits früh Fillenbaum (1966) hingewiesen, der gezeigt hat, dass Sätze nach ihrer vollständigen Rezeption nicht mehr wörtlich, sondern sinngemäß wiedergegeben werden. Der Zerfall des syntaktischen Arbeitsgedächtnisses impliziert zugleich, dass keine der „gewrapten“ Einheiten mehr syntaktisch ausgewertet/weiterverarbeitet werden kann. Nach Anwendung von wrap up stehen weder phrasenstrukturelle noch lexikalische Informationen aus der Vorgängerkonstruktion zur Weiterverarbeitung zur Verfügung. Wann der wrap up-Prozess eingeleitet werden muss, ist für den Leser nun jedoch alles andere als klar: (26)
(i) (ii) (iii) (iv) (v)
Hans kommt Hans kommt bestimmt Hans kommt bestimmt für Gisela Hans kommt bestimmt für Gisela auf Hans kommt bestimmt für Gisela auf die Bühne
Nach allen mir bekannten Definitionen handelt es sich bei (26) (i) – (v) um Sätze. Nach keiner mir bekannten Definition wird die Konstruktion Hans kommt, die in (26) (i) ein Satz ist, in den Konstruktionen (26) (ii)–(v), die Hans kommt vollständig enthalten, als Satz interpretiert. 89 –––––––—–– 89
Das definitorische Problem in Bezug darauf, was ein Satz überhaupt ist, macht sich bereits quantitativ geltend: Bis 1935 zählt Seidel über 200 Satzdefinitionen, die dem Objekt wechselweise einen logischen, einen intonatorischen, einen sprachpsychologischen oder einen grammatischen Zuschnitt geben. Ehlich (1999: 51) spricht angesichts dieser Befundlage zu Recht von der „Fülle des Mangels“. „Man verläßt sich auf das, was man immer schon zu wissen meint.“ (Ebd.: 52) Die Aufarbeitung der sich durch die Tradition der Sprachwissenschaft ziehenden Schwierigkeit, den Satz
193 Das oben als Motto angegebene Wittgensteinzitat erweist hier seine (von Wittgenstein nicht intendierte) Funktion: Wenn Linguisten oder Muttersprachler Grammatikalitätsurteile darüber abgeben, ob eine gegebene Konstruktion ein Satz ist oder nicht, treffen sie OfflineEntscheidungen. Sie kennen den (als isolierte Konstruktion präsentierten) Satz, wenn sie ihn sehen. Leser dagegen müssen online entscheiden, ob das bis zu einem bestimmten Zeitpunkt eingelesene Material bereits ein Satz ist oder nicht. Im Leseprozess ergeben sich demnach neben der realen Satzgrenze (rSG) weitere potentielle Satzgrenzen (pSG). Eine potentielle Satzgrenze ist dann gegeben, wenn eine schriftliche Rezeptionseinheit einem gesättigten Syntagma (bzw. einer im Kontext syntaktisch vollständig auswertbaren Einheit) entspricht. Abbildung (27) illustriert die Verhältnisse: (27)
(i) (ii) (iii) (iv) (v)
Hans Hans Hans Hans Hans
fliegt fliegt fliegt fliegt
auf auf auf
die die
Bahamas
pSG1 pSG2 pSG3 pSG4
pSG5
mit seiner Neuen
…
pSG6
…
Bei der Online-Verarbeitung verlegt der Leser rSG trotz möglicher früherer pSGn möglichst weit nach rechts. Diese einzelnen Auswertungsoptionen übergeordnete Verarbeitungsstrategie ist als maximal chunk constraint (mcc) bekannt, ein Prozessierungsprinzip, das besagt, dass Leser aus ökonomischen Gründen bestrebt sind, jede Folgeeinheit in die aktuell aufgespannte syntaktische Konstruktion zu integrieren (Frazier & Rayner 1988). Die irreguläre Anwendung des mcc führt zu Garden-Path-Effekten, wie (28) (28 [i] aus Lohnstein 1993: 4) zeigt: (28)
(i) (ii)
Peter hört den Schrei der Frau auf dem Bahnhof entgleitet die Tasche Peter hört den Schrei der Frau weil er nahe bei ihr steht beginnt er sie zu trösten
In der Schrift wird rSG vom Punkt festgelegt. Bis dahin werden die eingelesenen Einheiten linear zu syntaktischen Konstituenten aufkonstruiert und gemäß der aktualisierten Phrasenstruktur verknüpft. Der Punkt instruiert den Leser, sämtliche Verknüpfungsoperationen zu beenden, und das heißt, mcc nicht weiterzuverfolgen und wrap up einzuleiten. Die vorliegende Analyse erlaubt nun auch eine von der Konstruktionsspezifik unabhängige Erfassung unterschiedlich gekennzeichneter Konstruktionen:
–––––––—–– als diskretes Objekt zu definieren, kann hier nicht geleistet werden. Zu einer weiterführenden Auseinandersetzung verweise ich stellvertretend auf den Band Deutsche Syntax. Ansichten und Aussichten von Hoffmann (1992), auf Hoffmann (1996), auf Müller (1985) sowie auf Zifonun et al. (1997).
194 (29)
(i) (ii)
So ist das eben, der eine gewinnt, der andere verliert, das war immer so, da kann man nichts machen. So ist das eben. Der eine gewinnt. Der andere verliert. Das war immer so. Da kann man nichts machen.
Die Beispielsätze unter (29) sind in Ossner (1998: 86) aufgeführt, der damit auf die problematische Definition des „Ganzsatzes“ verweist. Eine Analyse, die die schriftlichen Markierungen nicht in ihre Untersuchung einbezieht, kann keinen Unterschied zwischen (29) (i) und (ii) feststellen. Eine Offline-Konzeption der Interpunktion, die davon ausgeht, dass Interpunktionszeichen sprachliche Strukturen kennzeichnen, muss Komma und Punkt hier als Alternativen werten. Sie kann in solchen Fällen eventuell noch „stilistische“ (Baudusch 2000) oder semantische (Gallmann 1985) Effekte geltend machen, die jedoch eigens, d. h. unabhängig von den Konstruktionseigenschaften begründet werden müssten, was – soweit ich sehe – in aller Regel unterbleibt. Wird der Punkt als Markierung von „Ganzsätzen“ erfasst, so folgt daraus, „daß ein Ganzsatz das ist, was der Schreiber als solchen bestimmt [sic!] und keine unabhängige Größe des Sprachsystems“ (Ossner 1998: 86). 90 Primus (1996: 3) hält fest, dass in Fällen wie (29) (ii) „zwei vollständige Satzformen so miteinander verknüpft [werden], daß sie Teile eines Satzes bzw. Satzmodus sind und somit in einer konstituentenstrukturellen Darstellung von einem Satzknoten dominiert werden“. In Fällen wie (29) (i) „gibt es keinen Satzknoten, der beide Satzformen dominiert“ (ebd.). Rezeptionstheoretisch gewendet unterscheiden sich (29) (i) und (ii) durch verschiedene Anweisungen an den Leser. In (29) (i) erhält der Leser eine Kopierinstruktion und damit auch die Anweisung, die durch die Vorgängerkonstruktion strukturell fixierten satzmodalen Eigenschaften auch auf die Folgekonstruktion anzuwenden. Der Punkt in (29) (i) instruiert ihn zur Aufgabe von maximal chunk constraint. Die satzmodalen Eigenschaften der Vorgängerkonstruktion können dann nicht mehr mit denen der Folgekonstruktion verrechnet werden. So bietet der Punkt dem Leser den Vorteil, den syntaktischen Arbeitsspeicher leeren zu können (Entlastung des Arbeitsspeichers); aufgrund der Spezifik des Punktes aber, Satzmodusgrenzen festzulegen, besteht der Nachteil darin, dass der Leser nicht über ein Wissen bezüglich des Satzmodus der Folgeeinheit verfügt. Beim Komma kennt der Leser den Satzmodus der Folgeeinheit; der Nachteil besteht in einer höheren Strapazierung des syntaktischen Arbeitsspeichers (Aufrechterhalten syntaktischer Strukturen). Insofern handelt es sich bei (29) (i) und (ii) weder um „stilistische“ Varianten, noch ist der syntaktische Satzbegriff von den verschiedenen Interpunktionsentscheidungen berührt. Vielmehr werden dem Leser verschiedene Verarbeitungsoptionen offeriert. Welche von diesen Optionen zu rascherer Informationsaufnahme und/oder besseren Behaltensleistungen führt, kann nicht theoretisch beantwortet werden. Empirische Untersuchungen müssten zeigen, wann die Entlastung des Arbeitsspeichers und wann die Antizipation des Satzmodus dem Leser größere Vorteile bietet.
–––––––—––
90
Zur Problematisierung des Konstrukts „Ganzsatz“ und damit verbunden der Kodifizierungsgeschichte des Punktes vgl. Bredel (2005).
195 3.3.4 Der Doppelpunkt Als Zeichen mit dem Merkmal [+REDUP] sollte der Doppelpunkt auf die Domäne Text bezogen sein, als P-Klitikon sollte er zugleich das syntaktische Parsing steuern. Genau diese doppelte Bestimmung dominiert bisherige Rekonstruktionen des Doppelpunkts: Er gilt als „Satzmittezeichen“ (Syntax) mit „Ankündigungsfunktion“ (Text) (s. u.). Der syntaktische Steuerungsmechanismus wurde oben global definiert als Instruktion, die lexikalische Information der Vorgängerstruktur aktiv zu halten und ihre phrasale Information zu deaktivieren. Diese Bestimmung gilt es im Folgenden nachzuweisen. Im Anschluss an die syntaktische Detailanalyse kann gezeigt werden, dass die dem Doppelpunkt zugeschriebene textuelle Funktion (Ankündigung) aus seiner syntaktischen Funktion abgeleitet werden kann. Eine Annäherung an die Eigenschaften des Doppelpunktes soll jedoch zunächst über (a) seine historische Entwicklung und (b) seine Kodifizierungsgeschichte erreicht werden, in denen sich pragmatisch-textuelle und syntaktische Funktionen in spezifischer Weise kreuzen. Wie das folgende Beispiel illustriert, steht der Doppelpunkt noch im 18. Jahrhundert bevorzugt in Konstruktionen, die kata-/anaphorische bzw. kata-/anadeiktische Elemente enthalten – und zwar unabhängig von der syntaktischen Struktur dieser Einheiten: (30)
Da das sahe Judas, der ihn verrathen hatte, daß er verdammet war zum tode: gereuete es ihn, und brachte herwieder die dreyssig silberlinge den hohenpriestern und den und aeltesten; [/] Und sprach, Ich hab uebel gethan, daß ich [...]. [/] Da sprach Pilatus zu ihm: Hoerest du nicht, wie hart sie dich verklagen? [/] Und er antwortete ihm nicht auf Ein wort: also, daß sich auch der landpfleger sehr verwunderte. (Bibel 1736: 38f.) 91
Die folgenden Beispiele aus Interpunktionslehren illustrieren diese Form der Doppelpunktverwendung auch für das 19. Jahrhundert: (31)
(i)
(ii) (iii)
Da man aber bei dem Gebrauche des Komma’s im deutschen Style jedesmal einen logischen Einschnitt vorauszusetzen gewohnt ist: so ergiebt sich, daß unser Komma nicht überall ausreiche, und deswegen noch ein Zeichen von geringerer Bedeutsamkeit – ein halbes Komma – eingeführt werden müßte. (Kegel 1824 [21826]: 5f.) Man kann nun allerdings sagen: unsre Interpunktion beruhe auf wissenschaftlicherer Grundlage [...]. (Götzinger 1839 [1977]: 417) Wenn der Laut an und für sich Ausdruck der Empfindung und als Bestandtheil des Wortes nur sinnliches Element ist, das Wort aber nur die vereinzelte Vorstellung darstellt: so ist hingegen der Satz Ausdruck des Gedankens in einer dem Inhalte völlig angemessenen entwickelten Form. (Heyse 51849 [1972]: 781)
–––––––—–– 91
Die Bibeldrucke von 1736, 1797 und 1865 hat mir Hartmut Günther zur Verfügung gestellt, wofür ich ihm an dieser Stelle danken möchte.
196 Für Verwendungen wie die aufgeführten konnten für das 20. Jahrhundert nur noch einige wenige Belege recherchiert werden. Der Doppelpunkt hat seine syntaktisch unrestringierte Markierung von Konstruktionen mit phorischen oder deiktischen Bezügen weitgehend aufgegeben. Er steht nun regulär dort, wo die dem Doppelpunkt folgende Konstruktion syntaktische Autonomie aufweist (s. u.), während die lexikalischen Informationen aus der Vorgängerkonstruktion global für eine weitere Auswertung verfügbar bleiben. Diese zweite Eigenschaft schließt unmittelbar an seine historisch verbürgte Funktion an, phorische oder deiktische Bezüge zu indizieren. Die daraus ableitbare „Ankündigungsfunktion“ des Doppelpunktes ist für moderne Bestimmungen des Doppelpunkts kanonisch geworden. Die AR 1996 sehen folgende Bestimmung vor: § 81
Mit dem Doppelpunkt kündigt man an, dass etwas Weiterführendes folgt. [...] Dies betrifft: (1) wörtlich wiedergegebene Äußerungen oder Textstellen, wenn der Begleitsatz oder ein Teil von ihm vorausgeht: [...] (2) Aufzählungen, spezielle Angaben, Erklärungen oder dergleichen: [...] (3) Zusammenfassungen des vorher Gesagten oder Schlussfolgerungen aus diesem: [...]
Die wenigen sprachtheoretischen Analysen zum Doppelpunkt gehen nicht wesentlich über die Dudenregeln hinaus. Mentrup (1983: 95), der den Doppelpunkt zusammen mit dem Gedankenstrich bespricht, gibt an: „Der Schreiber unterbricht mit dem Gedankenstrich oder dem Doppelpunkt den Text oder Sätze [sic!] um ausdrücklich anzukündigen, daß noch etwas folgt.“ Mit dem Gedankenstrich werde die Unterbrechung betont, mit dem Doppelpunkt dagegen das Weiterführende. Gemeinsam sei dem ausdrücklich Angekündigten in beiden Fällen das „Unerwartete“. Gallmann (1985) sieht das ähnlich. Er weist dem Doppelpunkt zunächst Ankündigungsfunktion zu: „Über die semantische Funktion des Doppelpunktes scheinen sich die Orthographietheoretiker im wesentlichen einig zu sein: Der Doppelpunkt kündigt etwas an.“ (Ebd.: 150) 92 Bezugnehmend auf diese Charakterisierung wird auch hier ein enger Konnex zwischen dem Doppelpunkt und dem Gedankenstrich hergestellt: „In manchen Kontexten sind Doppelpunkt und Gedankenstrich denkbar, beispielsweise, wo etwas Überraschendes anzukündigen ist: das Merkmal ‚Überraschung‘ spricht für den Gedankenstrich, das Merkmal ‚Ankündigung‘ für den Doppelpunkt.“ (Gallmann 1985: 159) „Unerwartetes“, „Ankündigung“, „Wechsel“, „Abbruch“, „Weiterführung“, „Überraschung“: Das sind etwa die Begriffe, die in Konzeptionen zum Doppelpunkt (sowie zum Gedankenstrich) thematisch werden. Ortner (1982) spricht darüber hinaus von einer „Erwartungspause“, Stolt (1988) von einer „Staupause“, die vom Doppelpunkt ausgehe. Die Hauptregel der AR 1996 (§ 81, s. o.) legt es nahe, die Syntax nicht als zentrales Bestimmungskriterium für den Doppelpunkt zu nutzen. Lediglich ein Verweis in Abschnitt 2, „Gliederung innerhalb von Ganzsätzen“, orientiert den Nutzer auf die Syntax. In der Literatur ist eine Einordnung des Doppelpunktes als syntaktisches Gliederungszeichen üblich. –––––––—–– 92
Analog heißt es bei Behrens (1989: 91): „Der Doppelpunkt tritt [...] nicht zu einer lexikalischen Ankündigung hinzu, sondern seine Funktion kann selbst als ankündigend beschrieben werden.“
197 Er gilt dann als „Satzmittezeichen“ (Nerius 1987 [42007], Baudusch 1981, Mentrup 1983, Gallmann 1985, 1996). Die besondere Qualität des Doppelpunktes, Vorgänger- und Nachfolgekonstruktion nicht – wie das Komma – lediglich syntaktisch, sondern durch eine Ankündigungsstruktur aufeinander zu beziehen, wird als zusätzliche (meist eben herausragende) Bestimmung appliziert, ohne dass die Interaktion zwischen der syntaktischen Eigenschaft („Satzmittezeichen“, „Gliederung von Ganzsätzen“) und der pragmatischen Eigenschaft („Ankündigung“) 93 rekonstruiert würde. In der Detailrekonstruktion werden dann statt pragmatischer oder syntaktischer Eigenschaften textbezogene Bezüge geltend gemacht („spezielle Angaben“, „Zusammenfassungen“ etc.). Eine Systematik der hier zusammengetragenen Intuitionen ist bislang nicht erkennbar. Die Syntax des Doppelpunktes Für die nun folgende Analyse der syntaktischen Verhältnisse spreche ich von Doppelpunktstruktur, von Doppelpunktkonstruktion und – in Anlehnung an Nunberg (1990) – von Doppelpunktexpansion. Als Doppelpunktkonstruktion gilt die Einheit vor dem Doppelpunkt (nach links durch ein punkthaltiges Satzzeichen begrenzt); als Doppelpunktexpansion bezeichne ich die Konstruktion, die dem Doppelpunkt folgt (nach rechts durch ein punkthaltiges Zeichen begrenzt); die Gesamtkonstruktion ist die Doppelpunktstruktur: Doppelpunktstruktur Familienstand Doppelpunktkonstruktion
:
ledig Doppelpunktexpansion
Die Struktur der Doppelpunktexpansion Die Spezifik der Relation zwischen Doppelpunktkonstruktion und Doppelpunktexpansion illustriert (32): (32)
(i) (ii)
Die Begründung: dass er nicht unterschreiben könne, sei den Fans unverständlich gewesen. Die Begründung, dass er nicht unterschreiben könne, sei den Fans unverständlich gewesen.
Die syntaktische Rekonstruktion von (32) (i), (ii) zeigt, dass durch die Wahl von Doppelpunkt und Komma verschiedene syntaktische Strukturen definiert werden. –––––––—––
93
Gallmann (1985: 150) erfasst die Ankündigung als „semantische Funktion“, wobei „Semantik“ bei ihm lediglich ein Ausdruck ist, der sich von „Syntax“ abgrenzt. Zur Interaktion zwischen syntaktischen und „semantischen“ Eigenschaften des Doppelpunktes schreibt er: „Die abgegrenzten Texteinheiten sind primär semantisch umschreibbar; der Zusammenfall mit bestimmten grammatisch definierten Texteinheiten ist sekundär.“ (Ebd.)
198 (33)
(i)
Syntax der Doppelpunktstruktur NGr attr
S subj
NGr
S
S
Die Begründung: dass er nicht unterschreiben könne, sei den Fans unverständlich gewesen. (33)
(ii)
Syntax der Kommastruktur S NGr
subj
attr NGr
S
S
Die Begründung, dass er nicht unterschreiben könne, sei den Fans unverständlich gewesen. Evidenz für die vorgelegte syntaktische Analyse liefert der Korrelattest: (34)
(i) (ii)
Die Begründung: dass er nicht unterschreiben könne, das sei den Fans unverständlich gewesen. *Die Begründung, dass er nicht unterschreiben könne, das sei den Fans unverständlich gewesen.
Das Korrelat das, das „bei fast allen Verben mit Subjekt- und Objektsätzen in derselben Weise verwendbar“ (Eisenberg 1999 [22004]: 330) ist, vertritt stets eine Argumentstelle, nicht die Stelle eines Attributs. Es kann daher dort nicht stehen, wo ein Attributsatz (vgl. 34 [ii]) vorliegt, wohl aber stellvertretend für einen Subjektsatz (vgl. 34 [i]). Aus dieser Analyse leitet sich auch die Beschränkung in Bezug auf die Groß/Kleinschreibung ab, die die Doppelpunktexpansion als syntaktisch autonom ausweist: (35)
(i) (ii)
Die Begründung: Dass er nicht unterschreiben könne, sei den Fans unverständlich gewesen. *Die Begründung, Dass er nicht unterschreiben könne, sei den Fans ununverständlich gewesen.
Weiter gilt, dass in den Fällen, in denen die Einheiten innerhalb der Doppelpunktexpansion keine interpretierbare Verknüpfung zulassen, der Doppelpunkt nicht stehen kann:
199 (36)
(i) (ii)
Unsere Entscheidung, Ihre Bewerbung anzunehmen, verdanken Sie Frau Schmidt. *Unsere Entscheidung: Ihre Bewerbung anzunehmen, verdanken Sie Frau Schmidt.
Die Beobachtung, dass die Doppelpunktexpansion eine autonome Phrasenstruktur aufweist, trifft sich auch mit einer Überlegung von Behrens (1989), die den Doppelpunkt bei Gleichsetzungsnominativen als Kennzeichnung von syntaktischer Bindungslosigkeit rekonstruiert. Die Autorin legt folgende Beispiele zugrunde (ebd.: 91f.): (37)
(i) (ii) (iii) (iv)
Das Sprichwort heißt: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Rechnen: befriedigend Dieser Herr heißt Meier. Verbannt werden heißt sterben.
Das Auftreten des Doppelpunktes in (37) (i) und (ii) rekonstruiert sie wie folgt: Der Doppelpunkt steht nur dann, wenn die Stelle des Gleichsetzungsnominativs durch eine syntaktische Konstruktion besetzt ist, die nicht dafür ‚vorgesehen‘ ist, die also nicht durch andere syntaktische Mittel (z. B. morphologisch) in den Satz integriert ist. Der Doppelpunkt markiert eine abweichende Besetzung der Stelle des Gleichsetzungsnominativs [...]. (Behrens 1989: 92)
Die syntaktische Eigenständigkeit der Doppelpunktexpansion zeigt sich am deutlichsten daran, dass sie zwar Leerstellen aus der Doppelpunktkonstruktion sättigen kann; umgekehrt aber kann keine Einheit der Doppelpunktkonstruktion Einheiten der Doppelpunktexpansion sättigen. Diese Eigenschaft der Doppelpunktexpansion wird in Koordinationsstrukturen (38) sichtbar: (38)
(i) (ii) (iii) (iv)
Ich wollte nur noch schlafen. Ich wollte nur noch: schlafen. [Ich wollte nur noch schlafen]Konjunkt1 und [dann wäre alles gut]Konjunkt2 *[Ich wollte nur noch: schlafen]Konjunkt1 und [dann wäre alles gut]Konjunkt2
Problemlos ist die Koordination nach dem Doppelpunkt nur dann, wenn alle Konjunkte nach dem Doppelpunkt stehen: (39)
(i) (ii)
Ich wollte nur noch: [schlafen]Konjunkt1 und [vergessen]Konjunkt2 Ich wusste nur noch: [dass er kommen wollte]Konjunkt1 und [dass er etwas mitbrächte]Konjunkt2
Darüber hinaus kann die Doppelpunktexpansion eine subkategoriale Leerstelle mehrfach sättigen, obwohl dies syntaktisch nicht lizenziert ist (Beispiel aus Bredel & Primus 2007) (Lesart in [iii] nicht koordinativ):
200 (40)
(i) (ii) (iii) (iv)
Er hatte große Angst, es würde ihm niemand glauben. Er hatte große Angst: Es würde ihm niemand glauben. *Er hatte große Angst vor der Verhandlung, es würde ihm niemand glauben. Er hatte große Angst vor der Verhandlung: Es würde ihm niemand glauben.
Alle hier beschriebenen Effekte kommen durch die vom Doppelpunkt ausgegebene Instruktion zustande, die phrasenstrukturelle Verknüpfung abzuschließen (syntaktische Autonomie) bei gleichzeitiger Auswertung der in der Doppelpunktkonstruktion gegebenen lexikalischen Information. Diese Konfiguration ist nun typisch für Herausstellungsstrukturen, die hier in Anlehnung an Zifonun et al. (1997: 1495ff.) als Konstituierung eines linken oder rechten Außenfeldes gefasst werden, 94 wobei linkes und rechtes Außenfeld als Positionen rechts und links der kanonischen Ränder Vor- und Nachfeld definiert sind. Einheiten des linken Außenfeldes stehen vor Vorfeldeinheiten. Für diese Position prädestiniert sind Zifonun zufolge z. B. interaktive Einheiten (Na, wie war’s?) oder Thematisierungsausdrücke (Die Inge, die mag ich nicht). Gemeinsam ist den Einheiten im linken Außenfeld, dass sie „nicht [...] dem Satz zuzurechnen sind“ (Zifonun et al. 1997: 1577). Die Frage, wie das rechte Außenfeld bestimmt werden kann, ist schwieriger zu beantworten; dies nicht nur, weil rechte Klammer und Nachfeld häufig unbesetzt sind, sondern auch, weil „diese Ausdrücke [...] nicht immer die rechte Grenze des Nachfelds“ bilden – sie „werden oft auch davor oder zwischen Nachfeldeinheiten eingeschoben“ (Zifonun et al. 1997: 1646). Zifonun et al. (ebd.) geben statt einer topologischen eine syntaktische Bestimmung: „Einheiten des rechten Außenfelds unterscheiden sich von echter Nachfeldbesetzung dadurch, daß sie keine syntaktisch integrierten Bestandteile des betreffenden Satzes sind.“ Hauptkriterium für das Ansetzen der Außenfelder ist also in beiden Fällen die fehlende syntaktische Integration. 95 rechtes Außenfeld: (41) (i) Erik hatte für die Expedition mitgenommen: eine Fotoausrüstung, ein Zelt, eine Wasserflasche ... (ii) Er hat gesagt: „Josef hat verschlafen.“ (iii) Es wurden gebraucht: Helme, Nahrungsmittel und wasserfeste Kleidung. (iv) Ich brauche: Eier, Zucker und Milch. (v) Er sagte: „Josef hat verschlafen.“ Bei diskontinuierlich realisierten Prädikaten (41) (i) (ii) und bei Korrelatkonstruktionen (41) (iii) wird die Außenfeldkonstruktion auch ohne den Doppelpunkt sichtbar, ansonsten nicht (41) (iv) (v). Die Struktur der Konstruktionen in (41) ist aber stets dieselbe: –––––––—–– 94
95
Eine topologische Interpretation des Doppelpunkts wird auch von Karhiaho (2003) erwogen. Die Autorin bezieht diese Eigenschaft jedoch nicht auf alle Doppelpunktvorkommen, sondern nur auf bestimmte Gebrauchsformen, begründet diese Einschränkung jedoch nicht konsequent. Unter dieser Perspektive ist es besonders problematisch, dass Zifonun et al. (1997) die koordinierenden Konjunktionen zu den Außenfeldkonstruktionen rechnen: Denn gegenüber den ansonsten im linken Außenfeld stehenden Einheiten definieren Konjunktionen die Linearisierungsstruktur des Satzes.
201 linkes AF
VF Es Ich Er Er
lK werden brauche hat sagte
MF
rK gebraucht gesagt
: : : :
rechtes AF Eier, Zucker und Milch. Eier, Zucker und Milch. „Josef hat verschlafen.“ „Josef hat verschlafen.“
Stehen die Objekte im Mittelfeld, kann der Doppelpunkt nicht stehen: linkes AF VF Es *Es Er *Er
lK werden werden hat hat
MF Eier, Zucker und Milch : Eier, Zucker und Milch „Josef hat verschlafen“ : „Josef hat verschlafen“
rK gebraucht. gebraucht. gesagt. gesagt.
rechtes AF
linkes Außenfeld: (42) (i) Eine Fotoausrüstung, ein Zelt, eine Wasserflasche: Das hatte Erik für die Expedition mitgenommen. (ii) Herr Meier hatte sein ganzes Geld verloren. Trotzdem: Er gab nicht auf. linkes AF Ein Zelt …: Trotzdem :
VF Das Er
lK hatte gab
MF Erik nicht
rK mitgenommen. auf.
rechtes AF
Dass die Doppelpunktkonstruktion nicht ins Vorfeld „aufrücken“ kann, wenn dieses von keinem anderen Ausdruck besetzt ist, zeigt die folgende Darstellung. linkes AF VF Ein Zelt *Ein Zelt : Trotzdem *Trotzdem:
lK hatte hatte gab gab
MF Erik Erik er nicht er nicht
rK mitgenommen. mitgenommen. auf. auf .
rechtes AF
Gemeinsam ist allen Außenfeldkonstruktionen eine metakommunikative Spezifik; in Konstruktionen mit linkem oder rechtem Außenfeld hat eine der Einheiten diskurssteuernde oder kommentierende Funktion (Altmann 1981, Hoffmann 2002). Bearbeitet wird also neben einem bestimmten propositionalen Gehalt auch dessen Rezeption. Die Beispiele unter (43) aus Karhiaho (2003: 104) dokumentieren diese Eigenschaft: (43)
(i) (ii)
Damit keine Mißverständnisse aufkommen: Wir brauchen nach wie vor öffentlich geförderten Wohnungsbau. Damit keine Mißverständnisse aufkommen, brauchen wir nach wie vor öffentlich geförderten Wohnungsbau.
Mit (43) (i) liegt eine (vorweggenommene) Sprechhandlungsbegründung vor; der Sprecher/Verfasser begründet, warum er Wir brauchen … äußert. Mit (43) (ii) gibt der Spre-
202 cher/Verfasser eine propositionale Begründung für die mit brauchen wir … beginnende propositionale Sachverhaltsrekonstruktion. Derselbe Effekt wird bei Adverbialen erreicht, wie (44) dokumentiert (Beispiel nach Karhiaho 2003: 91f.): (44)
(i) (ii)
Die Feuerlöscher wurden in Betrieb genommen. Nur im zwölften Stock fehlte eine entsprechende Vorrichtung. Die Feuerlöscher wurden in Betrieb genommen. Nur: im zwölften Stock fehlte eine entsprechende Vorrichtung.
Die Struktur der Doppelpunktkonstruktion Die Doppelpunktkonstruktion enthält mindestens eine syntaktische/thematische Leerstelle, die von der Doppelpunktexpansion gesättigt wird. Diese Eigenschaft ist dort besonders evident, wo die Doppelpunktexpansion eine obligatorische Verbvalenz sättigt, also etwa bei der sog. direkten Rede (45) (ii): (45)
(i) (ii) (iii) (iv)
*Hans sagte. Hans sagte: „Dieter kommt.“ Hans sagte, dass Maria heiratet. *Hans sagte, dass Maria heiratet: „Dieter kommt.“
„Vorangestellter Begleitsatz“ und darauf bezogene „direkte Rede“ gelten sowohl in wissenschaftlichen Texten (Mentrup 1983, Gallmann 1985, Behrens 1989) als auch in Gebrauchstexten (Duden, sämtliche Auflagen; Berger 1968 [21982]; Stetter 1986) als auch in der Sprachdidaktik (Bildungspläne, Lehrwerke, Müller 1982) als Standarddomäne für den Doppelpunkt. 96 Hier liegen alle wesentlichen Eigenschaften sowohl der Doppelpunktkonstruktion als auch der Doppelpunktexpansion offen: Durch die lokutive und damit a priori auch syntaktische Selbständigkeit des Redeimports erfüllt dieser bereits kategorial die wesentliche Bedingung für Doppelpunktexpansionen: syntaktische Autonomie. Die nicht besetzte Argumentstelle des Verbs aus dem „vorangestellten Begleitsatz“ stellt den prototypischen Fall einer Leerstelle dar. Neben den syntaktisch optimalen Bedingungen für den Doppelpunkt weist die „Ankündigung der direkten Rede“ auch die optimale kommunikative Struktur auf: Es werden eine explizit metakommunikative und eine kommunikative Handlung verknüpft (s. o.). Was seine Normierung betrifft, ist der Doppelpunkt für Redeimporte klar geregelt: Er ist obligatorisch und kann durch kein weiteres Interpunktionszeichen substituiert werden (*Hans sagte „Dieter kommt.“). 97 Der Doppelpunkt nach vorangestelltem Begleitsatz eines Redeimports wird im Gegensatz zu anderen Doppelpunktverwendungen früh –––––––—–– 96
97
Empirisch ist diese Dominanz nicht unbedingt gerechtfertigt: Bei einer quantitativen Auswertung von 3000 Doppelpunktvorkommen in Tageszeitungen und belletristischen Werken zählte Karhiaho (2003) 1200 Doppelpunktvorkommen im Kontext der direkten Rede. Dass der Gedankenstrich hier nicht stehen kann, obwohl Doppelpunkt und Gedankenstrich partiell paradigmatisch austauschbar zu sein scheinen, verweist auf die Verschiedenheit dieser Satzzeichen (s. u. sowie Kap. III, 1.2).
203 erworben und macht kompetenten Schreibern/Schreiberinnen im Allgemeinen wenig Probleme. 98 Normiertheit, früher Erwerb und geringe Fehlerfrequenz gelten auch für solche Konstruktionen, bei denen wie in (46) eine kataphorische/katadeiktische Proform in der Doppelpunktkonstruktion steht, die auf die Ankunft einer Folgekonstruktion orientiert: (46)
(i) (ii)
Beachten Sie bitte Folgendes: Der Farn darf nicht übergossen werden. *Beachten Sie bitte Folgendes Der/der Farn darf nicht übergossen werden.
Zu unterscheiden sind die genannten Fälle vom strategischen Doppelpunktgebrauch: Bei dieser Verwendungsform erzwingt der Doppelpunkt die Öffnung einer syntaktischen oder semantischen Leerstelle, die vor seiner Ankunft nicht sichtbar war, wie es in dem bereits bekannten Beispiel (2) (wiederholt in [47]) der Fall ist: (47)
(i) (ii)
Der Mensch denkt, Gott lenkt. Der Mensch denkt: Gott lenkt.
Der Doppelpunkt instruiert den Leser, mindestens eine Einheit der Vorgängerkonstruktion als syntaktisch/thematisch offen zu interpretieren. Die syntaktische Öffnung, zu der der Doppelpunkt instruiert, ist nicht auf Verbvalenzen beschränkt: (48)
(i) (ii)
Sie können mir ein wundervolles Geschenk machen: daß ich bis zu diesem Tag nicht wieder gesund bin. *Sie können mir ein wundervolles Geschenk machen, daß ich bis zu diesem Tag nicht wieder gesund bin.
Syntaktisch handelt es sich bei der Doppelpunktexpansion um ein Attribut zu Geschenk. Das Komma ist hier ungrammatisch. Die Situation kehrt sich um, wenn statt des nichtdefiniten der definite Artikel steht: (49)
(i) (ii)
Sie können mir das wundervolle Geschenk machen, daß ich bis zu diesem Tag nicht wieder gesund bin. *Sie können mir das wundervolle Geschenk machen: daß ich bis zu diesem Tag nicht wieder gesund bin.
Ähnlich liegt der Fall in (50): 99 (50)
(i) (ii)
In Ihrer Gegenwart habe ich ein sehr merkwürdiges Gefühl: zu existieren. *In Ihrer Gegenwart habe ich ein sehr merkwürdiges Gefühl zu existieren.
–––––––—––
98
99
Zu Problemen von Unter- und Übergeneralisierungen des Doppelpunktes auf der Grundlage einer am Redeimport ausgerichteten, einseitigen Lehrinstruktion vgl. Barthel & Löffler (1976) sowie Bredel (2004). Beispiele (48) (i) und (50) (i) aus Quecksilber von Nothomb (2001: 36; Hervorhebungen von mir, U. B.).
204 (iii) (iv)
*?In Ihrer Gegenwart habe ich das sehr merkwürdige Gefühl: zu existieren. In Ihrer Gegenwart habe ich das sehr merkwürdige Gefühl zu existieren.
Der Doppelpunkt öffnet die durch den n-definiten Artikel syntaktisch geschlossene, im Subkategorisierungsrahmen aber vorgesehene Valenz von Geschenk resp. Gefühl, realisiert demnach eine lexikalisch, nicht aber syntaktisch lizenzierte Verknüpfung. Die Pragmatik des Doppelpunktes Die bisherige, überwiegend auf der Basis der syntaktischen Eigenschaften von Doppelpunktkonstruktion und Doppelpunktexpansion durchgeführte Analyse hat ergeben, dass der Doppelpunkt einen Konflikt zwischen thematischer und syntaktischer Verknüpfungsstruktur von Vorgänger- und Folgekonstruktion reguliert. Thematische Kontinuität kookkurriert mit syntaktischer Diskontinuität. Über die in der Literatur als zentral gesetzte pragmatische Charakterisierung des Doppelpunktes als „Ankündigungszeichen“ (s. o.) ist damit noch nichts gesagt. Dieser Zusammenhang soll im Folgenden auf der Grundlage der von Rehbein (1978) vorgelegten handlungstheoretischen Rekonstruktion des Musters Ankündigen in der mündlichen Kommunikation herausgearbeitet werden. Nach Rehbein ist die Ankündigung die Verbalisierung eines Plans zu einer zukünftigen Handlung mit dem Zweck, den Hörer, der nicht auf diese zukünftige Handlung vorbereitet ist, auf diese einzustellen. Bezogen auf die Vorgeschichte, die Geschichte und die Nachgeschichte der Ankündigung, die sprecher- und hörerseitig differenziert werden muss, ergibt sich die folgende Übersicht: Vorgeschichte
S
H
Geschichte Handlungsraum A Tätigkeit A Ankündigung Plan zu Handlung G (schematisierende Vorausschau) Tätigkeit A mit Fokuswechsel von A zu G Fokus auf A (‚verlängerter Fokus‘) HANDLUNGSLOCH Zäsur in Tätigkeit A
Nachgeschichte Handlungsraum G Tätigkeit G mit Fokus auf G (Neustart) Tätigkeit G mit Fokus auf G (Neustart)
Segmentative Zäsur der Handlungsräume A und G
Die Vorgeschichte und die Geschichte des Ankündigens sind in Handlungsraum A lokalisiert, die angekündigte Handlung G in Handlungsraum G. Die Vorgeschichte des Ankündigens ist eine gemeinsame Tätigkeit A von S und H. Beide, S und H, haben den Fokus auf dieser Tätigkeit. S weiß, dass eine Handlung G erfolgen wird (bzw. dass der Plan zur Handlung G existiert), H weiß dies nicht. S platziert eine ankündigende Handlung. In dieser ankündigenden Handlung verbalisiert S den Plan zu G für H. Er erreicht damit eine Umfokussierung von H auf G. H kann sich auf G einstellen.
205 Die Proposition der Ankündigung enthält konstitutiv eine „schematisierende Vorausschau“ auf die Handlung G; d. h., der propositionale Gehalt enthält mindestens ein deskriptives Element, das auf die Handlung G verweist. Handlung A ist damit metakommunikativ. Nach der ankündigenden Handlung (entweder unmittelbar danach oder zu dem Zeitpunkt, den S in der Ankündigung für G verbalisiert hat) kann G gestartet werden. Zwischen A und G besteht eine segmentative Zäsur. Die Ankündigung erweist sich in der hier vorgeschlagenen Konzeption als Gelenk zwischen einer Vorgängerhandlung und einer vom Hörer nichterwarteten, durch die Ankündigung nun aber erwartbaren Folgehandlung. Der Widerspruch, der sich in den bislang vorliegenden Modellierungen des Doppelpunktes zeigt, die zwischen dem Konzept der „Weiterführung“, die keinerlei Überraschung enthält, und dem „Unerwarteten“, das den Aspekt des Überraschenden gerade fokussiert, oszillieren, reflektiert den Widerspruch, den der Doppelpunkt löst: In Bezug auf die syntaktische Struktur gilt das „Unerwartete“, in Bezug auf die thematische Struktur die „Weiterführung“. Der Doppelpunkt selbst bildet das Scharnier zwischen Ankündigungshandlung und Angekündigtem. Er besetzt – Rehbeins Modell zufolge – die Position der segmentativen Zäsur zwischen der Ankündigungshandlung und der angekündigten Handlung; hier haben die „Staupause“ von Stolt (1988) und die „Erwartungspause“ von Ortner (1982) ihren systematischen Ort. Der Status der der Ankündigung folgenden (syntaktisch diskontinuierlich realisierten) Doppelpunktexpansion wird durch den Doppelpunkt als thematische Kontinuierungshandlung kenntlich gemacht. Die Doppelpunktkonstruktion wird demnach durch den Doppelpunkt zur schematisierenden Vorausschau; und das unabhängig davon, ob in der Doppelpunktkonstruktion bereits ein für den Leser erkennbarer hinweisender Ausdruck steht oder nicht (Unterscheidung zwischen strategischem und nichtstrategischem Doppelpunktgebrauch). Damit erweist sich nun auch die pragmatische „Ankündigungsfunktion“ des Doppelpunktes als aus seiner syntaktischen Funktionsweise abgeleiteter Effekt: Die „Ankündigungswirkung“ entsteht genau durch den vom Doppelpunkt syntaktisch prozessierten Widerspruch, dass etwas syntaktisch Unerwartetes thematisch erwartbar gemacht wird. Das syntaktisch Unerwartete ist zugleich Bedingung und Konsequenz des Stellungsverhaltens von Doppelpunktkonstruktionen/-expansionen: Durch die Außenfeldposition werden sie syntaktisch isoliert; sie müssen es sein, wenn und weil sie syntaktisch nicht integrierbar sind. Stehen sie im Außenfeld, entfalten sie ihre metakommunikative Spezifik. Die Ableitung des Ankündigungseffekts aus der syntaktischen Instruktion des Doppelpunktes zeigt, dass er in der traditionellen Literatur nur versehentlich zu den „Klassifikatoren“ (Gallmann 1996) gerechnet wird. Der Doppelpunkt gibt, wie alle anderen P-Klitika auch, eine (und zwar die beschriebene) Verkettungsoperation aus und gehört damit zu den in der Tradition so bezeichneten „segmentierenden“ Zeichen. Dass ihm Maas (2000: 105) einen Zwitterstatus einräumt í „Der Doppelpunkt ist in dieser Hinsicht [in Hinsicht auf segmentierende und kategorisierende Funktion, U. B.] ambig“ í, wird auf der Basis der vorangegangenen Überlegungen plausibel. Richtig wird es dadurch aber nicht. Auf dem Hintergrund der vorliegenden Analyse kann auch die historische Entwicklung des Doppelpunktes neu eingeschätzt werden: Historisch frühe Verwendungen des Doppelpunktes drücken zunächst unabhängig von der syntaktischen Struktur jede beliebige phorische/deiktische Relation aus; realisiert wird also lediglich der Instruktionsteil des Doppel-
206 punktes, der auf thematische Kontinuitätssicherung (das „Weiterführende“, AR 1996) orientiert. Im Lauf des 18. Jahrhunderts gibt der Doppelpunkt seine Verwendung genau dort auf, wo zwar eine thematische phorisch oder deiktisch angezeigte Orientierung erfolgt, aber die syntaktische Verknüpfung intakt ist. Der zu Beginn des Kapitels verfügbar gemachte Textausschnitt von 1736 (Matthäus 27, 1–10), der in (51) wiederholt ist, liest sich 1797 wie in (52) und 1865 wie in (53): (51)
Bibel (1736: 38f.) (i) Da das sahe Judas, der ihn verrathen hatte, daß er verdammet war zum tode: gereuete es ihn, und brachte herwieder die dreyssig silberlinge den hohenpriestern und den aeltesten; (ii) Und sprach, Ich hab uebel gethan, daß ich [...]. (iii) Da sprach Pilatus zu ihm: Hoerest du nicht, wie hart sie dich verklagen? (iv) Und er antwortete ihm nicht auf Ein wort: also, daß sich auch der landpfleger sehr verwunderte.
(52)
Bibel (1797: 38f.) (i) Da das sahe Judas, der ihn verrathen hatte, daß er verdammet war zum Tode; gereuete es ihn, und brachte wieder die dreyßig Silberlinge den Hohenpriestern und den Aeltesten; (ii) Und sprach: Ich habe uebel gethan, daß ich [...]. (iii) Da sprach Pilatus zu ihm: Hoerest du nicht, wie hart sie dich verklagen? (iv) Und er antwortete ihm nicht auf Ein Wort, also, daß sich auch der Landpfleger sehr verwunderte.
(53)
Bibel (1802 [21865]: 44f.) (i) Da das sahe Judas, der ihn verrathen hatte, daß er verdammt war zum Tode, gereuete es ihn, und brachte her wieder die dreißig Silberling den Hohenpriestern und den Aeltesten, (ii) Und sprach: ich habe übel gethan, daß ich [...]. (iii) Da sprach Pilatus zu ihm: hörest du nicht, wie hart sie dich verklagen? (iv) Und er antwortete ihm nicht auf Ein Wort, also daß sich auch der Landpfleger sehr verwunderte.
In subordinierenden Konstruktionen stehen statt des Doppelpunkts in (51) (i) und (iv) zunächst Semikolon oder Komma (52), später ausschließlich das Komma (53). Bei Redeankündigungen, die standardmäßig die Form aufweisen, die aktuell mit dem Doppelpunkt markiert wird (syntaktische Autonomie der Doppelpunktexpansion), lässt sich nun eine interessante Beobachtung machen: In der Fassung von 1736 ist nur die Redeankündigung mit dem Doppelpunkt gekennzeichnet, die zusätzlich eine katadeiktische Verweisung (da) enthält (51) (iii); die Redeankündigung, die keine deiktische/phorische Bindung aufweist (51) (ii), steht ohne den Doppelpunkt. Das ändert sich mit der Fassung von 1797; nun werden, seiner aktuellen Gebrauchsweise entsprechend, Redeankündigungen unabhängig von ihrer phorischen/deiktischen Explikation mit dem Doppelpunkt markiert.
207 Mit Abschluss des 19. Jahrhunderts ist der Doppelpunkt nur noch dort lizenziert, wo (a) eine Leerstelle der Doppelpunktkonstruktion gesättigt wird und wo (b) diese Sättigung durch eine syntaktisch diskontinuierlich realisierte Konstruktion erfolgt. Ungeachtet der historischen Veränderungen, die sich im 19. Jahrhundert bereits abzeichnen und die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts weiter ausprägen, notiert der Duden in der 9. Auflage von 1915: „Der Doppelpunkt steht vor dem Nachsatz, wenn der Vordersatz von größerm Umfang und mehrfach gegliedert ist“ (ebd.: XLI). Als Beispielsatz wird angeführt: „Wenn Friedrich den Obersten, dessen Regiment bei der Heerschau einen Fehler gemacht hatte, vor der Front mit herbem Scheltwort tadelte; wenn er mehr an die geleistete Arbeit dachte als an die Beschwerden der Arbeiter; wenn er ruhelos mit seinem Fordern auch der schnellsten Tat voraneilte: so verband sich mit der tiefen Ehrfurcht vor dem großen Herrscher auch eine Scheu, wie vor einem, dem nicht irdisches Leben die Glieder bewegt.“ (Ebd.) Erkennbar ist die anadeiktische Funktion des Nachsatzes (so), 100 die kennzeichnend für den Doppelpunktgebrauch im 18. und noch partiell im 19. Jahrhundert war, die von Duden aber nicht gesehen wird. Immerhin noch bis 1973 wird als eine reguläre Doppelpunktdomäne die Schließung von Perioden angegeben. R 72 des Duden (171973) lautet: „Der Doppelpunkt steht vor dem Nachsatz im durchgegliederten mehrfach zusammengesetzten Satz (Periode).“ Als Beispiel wird ein Zitat von Ernst Moritz Arndt bemüht, dessen Tod auf das Jahr 1860 datiert: „Wo dir Gottes Sonne zuerst schien; wo dir die Sterne des Himmels zuerst leuchteten; wo seine Blitze dir zuerst seine Allmacht offenbarten und seine Sturmwinde dir mit heiligem Schrecken durch die Seele brausten: da ist deine Liebe, da ist dein Vaterland [...].“ (Ebd.: 32) 101 Die Kodifizierung hinkt der orthographischen Praxis um gute 100 Jahre hinterher. Die Verwandtschaft von Doppelpunkt und Gedankenstrich Wie bereits angemerkt, wird dem Doppelpunkt häufig eine Verwandtschaft zum Gedankenstrich bescheinigt (Duden bis 201991, AR 1996, Mentrup 1983, Gallmann 1985, Behrens 1989, Stolt 1988). Zur Unterstützung dieser Ansicht werden Konstruktionen wie die unter (54) angeführt: (54)
(i) (ii) (iii) (iv)
Plötzlich: ein vielstimmiger Schreckensruf! Plötzlich – ein vielstimmiger Schreckensruf! (AR 1996) Honeckers Absage – kein Grund zur Panik. Honeckers Absage: kein Grund zur Panik. (Stolt 1988: 11)
In Kapitel III, 1.2 wurde die Auffassung vertreten, dass Gedankenstrich und Doppelpunkt auf verschiedene Textrepräsentationsebenen zugreifen. Argumentiert wurde, dass der Gedankenstrich als „Augenzeichen“ auf der typographisch regulierten Textorganisation operiert (kartographische Topologie); als „Subvokalisationszeichen“ nimmt der Doppelpunkt auf die syntaktisch regulierte Textorganisation Bezug (Satztopologie). –––––––—–– 100 101
Zur deiktischen Qualität des Ausdrucks so vgl. Ehlich (1987). Die anadeiktische Funktion des Nachsatzes (da), denen solche Konstruktionen den Doppelpunkt verdankt hatten, wird in Duden (171973) nicht wahrgenommen.
208 Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Beispielen in (54) sind damit aber noch nicht erklärt. In der Literatur werden zur Bearbeitung der verschiedenen Effekte von Doppelpunkt und Gedankenstrich Beispiele angeführt, in denen der Doppelpunkt stehen kann, nicht aber der Gedankenstrich (55), sowie solche, in denen der Gedankenstrich erlaubt ist, nicht aber der Doppelpunkt (56): (55)
(i) (ii) (iii) (iv) (v) (vi)
Hans sagte: „Dieter kommt.“ *Hans sagte – „Dieter kommt.“ Beachten Sie Folgendes: ... *Beachten Sie Folgendes – ... Note: befriedigend *Note – befriedigend
(56)
(i) (ii) (iii) (iv) (v) (vi)
Er hatte das Geld – gestohlen. *Er hatte das Geld: gestohlen. Er hatte – doch noch – gewonnen. *Er hatte: doch noch: gewonnen. Sind alle gekommen? – Ja, wir können starten. *Sind alle gekommen?: Ja, wir können starten.
Zur Bearbeitung dieser Unterschiede werden überwiegend Ad-hoc-Erklärungen angeboten: Stolt (1988: 5) meint, dass „der Gedankenstrich Pause und Neuansatz deutlicher markiert, während der Doppelpunkt die Zusammengehörigkeit betont“. Gallmann (1985) sieht die Ähnlichkeit zwischen Doppelpunkt und Gedankenstrich zwischen der Betonung des Ankündigungscharakters und der Betonung der Überraschung. Im ersten Fall stünde der Doppelpunkt, im zweiten der Gedankenstrich. Wie Stolt meint Mentrup (1983) – wie bereits beschrieben –, mit dem Gedankenstrich werde die Unterbrechung betont, mit dem Doppelpunkt dagegen das Weiterführende. Gemeinsam sei dem ausdrücklich Angekündigten in beiden Fällen das „Unerwartete“. Um den hier zur Diskussion gestellten Vorschlag zu begründen, der Doppelpunkt nutze Eigenschaften der Satztopologie, der Gedankenstrich solche der kartographischen Topologie, sind Minimalpaare geeignet, bei denen die Alternation zwischen Gedankenstrich und Doppelpunkt einen robusten Interpretationsunterschied auslöst. Auf diesem Hintergrund kann dann auch gezeigt werden, welche textinterpretatorischen Ereignisse durch syntaktische und welche durch kartographische Verfahren getriggert werden. Wieder einmal bietet der Beispielsatz aus Brechts Mutter Courage den idealen Ausgangspunkt zur Bearbeitung des Problems: (57)
(i) (ii)
Der Mensch denkt: Gott lenkt. Der Mensch denkt – Gott lenkt.
Wie gezeigt, erzwingt der Doppelpunkt die integrative Lesart, indem er eine (hier syntaktische) Leerstelle der Vorgängerkonstruktion öffnet. Genau dieses Potential fehlt dem Gedankenstrich. Demgegenüber erzwingt der Doppelpunkt eine thematisch kontinuierliche Lesart, der Gedankenstrich eine thematisch diskontinuierliche.
209 Wie (56) (i) zeigt, ist der Gedankenstrich bezüglich der syntaktischen Eigenschaften von Vorgänger- und Folgeausdruck unempfindlich; damit befindet er sich auch bezüglich der syntaktischen Regulierungsfunktion in Opposition zum Doppelpunkt, für den eine syntaktisch diskontinuierliche Konstruktionsanbindung konstituierend ist. Doppelpunkt und Gedankenstrich verhalten sich demnach bezüglich thematischer und syntaktischer Anbindung komplementär:
Doppelpunkt Gedankenstrich
thematische Kontinuität + –
syntaktische Kontinuität – +102
Dieser Befund harmoniert gut mit der eingangs vertretenen Auffassung, der Gedankenstrich greife direkt auf Kohärenz-/Kohäsionseigenschaften zu, der Doppelpunkt auf die Syntax. Die Überschneidungen zwischen spezifischen Doppelpunkt- und Gedankenstrichvorkommen, wie sie in (54) sichtbar werden, resultieren daraus, dass die syntaktisch fundierte Eigenschaft des Doppelpunktes, ein Außenfeld zu öffnen (s. o.), zu einem textuellen Effekt führt, der dem von Gedankenstrichkonstruktionen in manchen Konstruktionen zum Verwechseln ähnlich wird. Am Beispiel (54) Plötzlich :/– ein vielstimmiger Schreckensruf stellt sich der Unterschied zwischen Gedankenstrich- und Doppelpunktinterpretation wie folgt dar: In der Doppelpunktumgebung wird der Ausdruck plötzlich (durch die Spezifik der metakommunikativen Funktion von Außenfeldkonstruktionen) metakommunikativ verwendet. Der Leser wird mit darauf vorbereitet, dass im nachfolgend Verbalisierten ein Ereignis verfügbar gemacht wird, das – wie es der mit dem Doppelpunkt markierte Ausdruck plötzlich voraussagt – überraschend eingetreten ist. Mit dem Gedankenstrich wird die verbalisierte Szene ikonisch nachgebildet: Der Leser befindet sich zu dem Zeitpunkt, da er den Gedankenstrich erkennt, in derselben Situation wie der Verfasser zum Zeitpunkt des Eintreffens des vielstimmigen Schreckensrufs. Für den Leser ist der vielstimmige Schreckensruf demnach ebenso überraschend wie für den Verfasser (in der erlebenden Situation). Mit dem Gedankenstrich wird die Abfolge der Ereignisse in der Schrift nachgebildet. Dieser Unterschied ist so subtil, dass er für Alltagsschreiber kaum von Bedeutung ist. Er zeigt aber, dass Gedankenstrich und Doppelpunkt auch dort, wo sie scheinbar frei alternieren, verschiedene Funktionen übernehmen. Um den herausgearbeiteten Befund nun abschließend zu pointieren, sind die bislang nicht bearbeiteten Beispiele (55) relevant: Der Gedankenstrich kann dann nicht stehen, wenn die Vorgängerkonstruktion eine explizite Ankündigung enthält; in der Terminologie Rehbeins ist der Gedankenstrich dort nicht erlaubt, wo die lexikalische/syntaktische Konstruktion der Vorgängereinheit selbst als „schematisierende Vorausschau“ interpretiert werden muss. –––––––—–– 102
Beispiele, in denen der Gedankenstrich in Parenthesen gebraucht wird, sind insofern kein Gegenbeleg, als die vom Gedankenstrich angezeigten Parenthesen syntaktisch nicht diskontinuierlich organisiert sein müssen, wie Beispiel (64) (iii) zeigt. Spezifische syntaktische Eigenschaften sind demnach weder notwendige noch hinreichende Bedingung für den Gebrauch des Gedankenstrichs (Kap. III, 2.3).
210 Doppelpunkt und Gedankenstrich lösen die „Ankündigungsfunktion“ also durch ganz verschiedene Prozesssteuerungen aus. Der Doppelpunkt instruiert den Leser, das in der Vorgängerkonstruktion Verbalisierte als Ankündigung (schematisierende Vorausschau) zu interpretieren. Der Fokuswechsel von A nach G (s. o.) ist thematisch vorbereitet. Der Gedankenstrich instruiert den Leser, das in der Vorgängerkonstruktion Verbalisierte thematisch nicht mit dem in der Nachfolgekonstruktion Verbalisierten zu verknüpfen. Der Fokuswechsel von A nach G geschieht thematisch unvorbereitet. Der Doppelpunkt steht demnach nach Ankündigungen, der Gedankenstrich steht für Ankündigungen: Vorgeschichte Tätigkeit A mit Fokus auf A
Geschichte [verb.Ankündigung [ – ]
] :
Nachgeschichte Tätigkeit G mit Fokus auf G
In diesem Zusammenhang gewinnen die Ad-hoc-Intuitionen aus der Literatur an Bedeutung, die sich auf die Effekte der zugrundeliegenden Struktur beziehen: Stolts Auffassung, der Gedankenstrich markiere Pause und Neuansatz deutlicher, der Doppelpunkt die Zusammengehörigkeit (s. o.), bezieht sich auf die dem Doppelpunkt inhärente Funktion anzuzeigen, dass das in der Vorgängerkonstruktion Verbalisierte den Leser auf das in der Nachfolgekonstruktion Verbalisierte vorbereitet („Zusammengehörigkeit“), während mit dem Gedankenstrich diese Verknüpfungsbeziehung gerade dementiert wird („Pause“, „Neuansatz“). Mentrups Einschätzung, der Gedankenstrich betone die „Unterbrechung“, der Doppelpunkt das „Weiterführende“, ist derselben Spezifik geschuldet. Das Doppelpunkt und Gedankenstrich Gemeinsame, das „Unerwartete“, fokussiert beim Doppelpunkt auf die syntaktische Struktur, beim Gedankenstrich auf die thematische. In Gallmanns Auffassung, nach der Doppelpunkt und Gedankenstrich dann in einem paradigmatischen Austauschverhältnis stehen, wenn „etwas Überraschendes anzukündigen ist“, werden die Funktionen von Doppelpunkt und Gedankenstrich systematisch kontaminiert. Wenn er schreibt, das „Merkmal ‚Ankündigung‘“ spreche eher für den Doppelpunkt, so ist damit seine Funktion angesprochen, die Vorgängerkonstruktion als schematisierende Vorausschau auszuweisen. Wenn er meint, dass das „Merkmal ‚Überraschung‘“ für den Gedankenstrich spreche, so bezieht er sich darauf, dass der Wechsel von A nach G in Gedankenstrichkonstruktionen thematisch unvorbereitet erfolgt. Als falsch hat sich die von Gallmann und Behrens vertretene Auffassung erwiesen, der Doppelpunkt kündige etwas an (Gallmann 1985: 150), seine Funktion könne „selbst als ankündigend beschrieben werden“ (Behrens 1989: 91). Richtig ist, dass der Doppelpunkt eine Vorgängerkonstruktion als Ankündigung ausweist. Eben dies unterscheidet ihn vom Gedankenstrich.
IV
Zusammenfassung – Das Gesamtsystem
Am Beginn der Arbeit stand folgender Befund: Die Interpunktion ist sowohl in der Kodifizierungsgeschichte als auch in der Theoriegeschichte ein weithin vernachlässigtes Phänomen. Das hat nicht nur Nachteile. Durch das weitgehende Ausbleiben von normierenden Eingriffen konnte sich ein äußerst stabiles System entwickeln. Das ist nur beim Komma anders, dessen Deregulierung 1996 vorangetrieben wurde, was durch die Re-Reform von 2006 nur partiell behoben wurde. Die Konsequenzen dieses Systemeingriffs sind noch nicht abzusehen. Dass es überhaupt zu Systemeingriffen kommt, ist in gewisser Hinsicht Folge einer Verkettung theoriegeschichtlicher Fehlentwicklungen (Kap. I), die in geraffter Form wie folgt rekonstruiert werden kann: Bis in die 1980er-Jahre hinein galt die Orthographie fast überall als von außen gemachtes Normensystem; für eine sich als deskriptiv verstehende Sprachwissenschaft war sie entsprechend kein relevanter Gegenstand. Auseinandersetzungen mit der Orthographie fanden hauptsächlich im pädagogischen Diskurs statt, wo es zentral um Lernbarkeit ging. In diesem Zusammenhang etablierten sich zwei Denkgewohnheiten – mit weitreichenden Folgen für die Erfassung vor allem des Interpunktionssystems, das nicht nur die Pädagogik, sondern auch die Sprachwissenschaft und die Kodifizierung erfasste. Erstens etablierte sich eine kasuistische Perspektive: Zum Zweck der Lernbarkeit wurden interpunktionsrelevante Fälle für eine curriculare Abarbeitung gelistet. Diese Fälle wurden zweitens wegen der Anforderung einer für Lernprozesse relevanten Operationalisierung konstruktionsspezifisch, nach dem Muster ‚x kennzeichnet y‘ (mit x für ein Interpunktionszeichen und y für eine Konstruktion) beschrieben. Durch diese methodologische Engführung entstehen überall Probleme: Durch Hinzufügen immer neuer Regeln wird eine lückenlose Aufzählung interpunktionsrelevanter Konstruktionen versucht. Nicht rekonstruierbare Reste werden als Ausnahmen formuliert. Ist eine Kernregel nicht mehr als solche zu halten, d. h. gibt es mehr Ausnahmen als Regelfälle, gilt ein Zeichen als polyfunktional, oder aber die nicht erklärbaren Fälle werden – wie bei Behrens (1989) – global in eine theoretisch eigens dafür eingerichtete Peripherie ausgelagert und damit für die Analyse unschädlich gemacht.1 Auch die Kodifizierung der Interpunktion im Duden ist diesem Muster verpflichtet. Zunehmend differenziertere Einsichten in sprachliche Strukturen führten zu zunehmend differenzierteren Kasuistiken – bis eben für niemanden mehr ein Durchkommen war. Paradoxerweise hat die an Lernbarkeitszwecken orientierte Beschreibung der Interpunktion dazu geführt, dass sie nicht mehr gelernt werden konnte. Und hier greifen die Reformer ein. Statt einer Systemrekonstruktion aber schlagen sie eine Regelreduktion vor. Die verfahrene Situation der Interpunktionstheorie hat in der vorliegenden Arbeit auf allen Beschreibungsebenen einen Neuansatz erforderlich gemacht: Herausgearbeitet wur–––––––—–– 1
Mit Festlegungen, die bestimmte, mit dem eigenen Modell nicht kompatible Fakten zu Ausnahmen machen, kann zwar die Inkonsistenz der eigenen Konzeption entschärft werden, nicht aber kann das Faktum (die Ausnahme) selbst abgeschafft werden. Das muss sie auch nicht, solange gilt, dass die Ausnahme die Regel bestätigt. Mit dieser Unterstellung wird das störende Faktum nachgerade zum letzten Beweis für die Richtigkeit der Regel, die es erst zur Störung gemacht hat. Die Theorie ist damit doppelt gegen das widerständige Material autorisiert.
212 den die graphetischen (Kap. II, 2) und die graphotaktischen Eigenschaften (Kap. II, 3) der Interpunktionszeichen. Bei der funktionalen Bestimmung wurden die formalen Merkmale auf Teilaktivitäten des Lesens abgebildet; auf dieser Basis konnte jedem Zeichen eine (und nur eine) leseprozesssteuernde Funktion zugeordnet werden (Kap. III). Das daraus entstandene kompositionelle Online-Modell der Interpunktion wird im Folgenden zusammengefasst und weiter profiliert. Neben der gerafften Reproduktion der Ergebnisse werden auch Zusammenhänge aufgedeckt, die bislang unbenannt bleiben mussten, weil die Struktur der Arbeit auf die Bearbeitung von Zeichen mit bestimmten gemeinsamen Eigenschaften zugeschnitten ist. Querverbindungen zwischen Zeichen, die über andere Gemeinsamkeiten verfügen, konnten – wenn überhaupt – nur in Exkursen besprochen werden. Ziel des vorliegenden Kapitels ist die Darstellung der Logik des Gesamtsystems; die graphetischen/graphotaktischen Merkmale werden systematisch auf die funktionale Struktur bezogen.
1 Interpunktionsklassen – Das Merkmal LEERE Die wesentliche, graphetisch und graphotaktisch motivierte Unterscheidung ist die zwischen Interpunktionszeichen mit leerer und nichtleerer Grundlinie, die eine Zweiteilung des Inventars in Filler (Merkmal [+LEER]) und Klitika (Merkmal [–LEER]) rechtfertigt. Zusammen mit der Unterscheidung der zwei weiteren formal relevanten Merkmale VERTIKALITÄT und REDUPLIKATION ergibt sich das folgende System: (1) Klitika [–LEER]
[–VERT] [–REDUP] [–VERT] [+REDUP]
[+VERT] [–REDUP]
[+VERT] [+REDUP]
Filler [+LEER] [–VERT] [–REDUP] [–VERT] [+REDUP] [+VERT] [+REDUP]2
Filler und Klitika weisen eine komplementäre Verteilung auf der Textfläche auf (Kap. II, 3.1): Die Filler besetzen einen eigenen segmentalen Slot, die Klitika lehnen sich an ein Stützzeichen an. Aufgrund ihres klitischen Status sind die Klitika auf nichthorizontale Bauelemente sowie auf vertikale Anordnung beschränkt. Zeichen wie *, * oder * etc., die in Kap. II, 2.6 als zu diesem Zeitpunkt der Argumentation noch unerklärbare Systemlücken angesprochen worden waren, kann es deshalb nicht geben. Bei den Fillern, bei denen die Ausdehnung in die Horizontale zugelassen ist, ist die horizontale Reihung das Mittel der Wahl. Sie wird angewendet, sobald mehr als ein darstellbares Element visualisiert wird. Das ist beim Gedankenstrich und bei den Auslassungspunkten der Fall, die folglich wie in (2) (i) und nicht wie in (2) (ii) visualisiert werden: –––––––—–– 2
Zur Erfassung der Auslassungspunkte als zugrundeliegend vertikal vgl. Kapitel II, 2.2.
213 (2)
(i) (ii)
ĺ
* *< >
Ausgehend von der Annahme, dass die Schreibfläche nicht nur eine materiale Bedingung für das Lesen und Schreiben ist, sondern die Anordnung von Schrifteinheiten selbst als Ressource bei der Herstellung von Bedeutungen genutzt wird, wurde die Unterscheidung zwischen Klitika und Fillern funktional bestimmt: Aus der Leseforschung ist bekannt, dass beim Lesen okulomotorische und subvokalisatorische Tätigkeiten relevant sind (Kap. III, 1.1). Das Auge übernimmt die Erkennung von Wörtern, die an der graphischen Oberfläche mit leeren Slots separiert und damit optisch salient gemacht werden, und die Vermessung der Kartographie, die Anordnung von graphischem Material und suprasegmentalen Leerräumen, mittels derer die lokale Informationsstruktur des Textes organisiert ist (Kennedy 1983, Gross 1994). Der Vokalisationstrakt unterstützt (möglicherweise optional) die Kontinuierung und Strukturierung syntaktischer und semantischer Einheiten (Rayner & Polatsek 1989). Dieser Zusammenhang war leitend für die Erfassung der Filler als „Augenzeichen“, die auf graphisch kodierten Einheiten operieren, also auf sprachlichen Strukturen/Bedeutungen, die durch An-/Abwesenheit graphischen Materials konstituiert sind (Wort, kartographisch hergestellte Kohärenz), und Klitika als „Subvokalisationszeichen“, die auf sprachlich kodierten Einheiten, also auf sprachlichen Strukturen/Bedeutungen, die mittels gegebener Schriftzeichen kodiert sind (Satz, semantische und pragmatische Information), operieren. Der Unterschied besteht demnach zwischen der Regulierung graphisch kodierter Einheiten und sprachlich kodierter Einheiten.
2 Schriftgrammatik – Das Merkmal VERTIKALITÄT Um den Klitisierungsstatus der Klitika näher bestimmen zu können, wurde in Kapitel II, 3.5 die Konstituentenstruktur des Schriftwortes (SW) rekonstruiert, das definiert ist als Buchstabenfolge, die rechts und links von einem Spatium (leerer Slot) begrenzt ist. Vorgeschlagen wurde ein Modell, in dem unterschiedliche Informationen, die an Schriftwörtern kodiert sind (syntaktische, lexikalische, pragmatische), durch verschiedene Schichten repräsentiert sind. Auf der Basis ihres graphotaktischen Verhaltens (Kontakt mit Buchstaben und weiteren Interpunktionszeichen, Iteration, obligatorische Paarigkeit) wurden in Kap. II, 3.7 für die Klitika verschiedene Klitisierungsschichten angenommen (vgl. [3]). Für die Filler, die eigene Slots besetzen, wurde eine separate, ebenfalls mit den verschiedenen Schichten interagierende Strukturanalyse vorgeschlagen (Kap. II, 3.6).
214 SW3
(1)
(Position)
AR
MB
ER < . , ; :>
(Konstituente)
BU
BU*
BU
(ALI)
b1
b2
bn-1
bn
(Buchstabe)
b1Min
b2Min
bn-1Min
bnMin
d
o
r
< ...
t.
>
Die Interpunktionszeichen, die an eine Position klitisieren, teilen sich lediglich den Slot mit einem Segment. Die Rede war von Positionsklitisierung. Die nichtvertikalen Filler eingerechnet, kann global von Positionsbezug gesprochen werden. Die Anlehnung an eine Konstituente oder an ein Segment (K- und S-Klitisierung, vgl. Kap. III, 3.7) wurde Einheitenklitisierung genannt. Wiederum die nichtvertikalen Filler eingerechnet, kann von Einheitenbezug gesprochen werden. Nicht zufällig koinzidiert die Unterscheidung zwischen Positions- und Einheitenklitisierung mit dem Merkmal VERTIKALITÄT, wie (2) zeigt. (2) [–VERT] Positionsbezug [+VERT] Einheitenbezug
Funktional sind Interpunktionszeichen mit Einheitenbezug (Merkmal [+VERT]) „klassifizierend“ (s. u.), Interpunktionszeichen mit Positionsbezug (Merkmal [–VERT]) machen lediglich Aussagen über die Art der Verknüpfung/Verkettung von Vorgänger- und Folgekonstruktion. Die Verkettungs-/Verknüpfungsinstruktionen der nichtvertikalen Zeichen konnten im einzelnen wie folgt spezifiziert werden: Die nichtvertikalen Klitika organisieren die Verknüpfung syntaktischer Wörter/Phrasen: Im Default-Fall werden benachbarte Wörter unter Ausnutzung gegebener lexikalischer und phrasaler Informationen subordinativ verknüpft. Die nichtvertikalen Klitika verweisen global auf ein Subordinationsverbot unmittelbarer Nachbarn und sind weiterführend durch unterschiedliche Durchlässigkeit lexikalischer Information und phrasaler Informationen gekennzeichnet (Kap. III, 3.3), woraus sich die in der Literatur diskutierten Resultate der von syntaktischen Interpunktionszeichen markierten Einheiten (Primus 1993, 1996) sowie eine Begründung für die immer wieder diskutierte „Stärkehierarchie“ (Baudusch 1986, 1995) gewinnen lassen. (3) zeigt die Verhältnisse: –––––––—––
3
Zu den Abkürzungen vgl. Kap. II, 3.5.
215 (3)
SUB – – – –
LEX + – + –
PHR + + – –
Resultat: Koordination oder Herausstellung oder satzinterne Satzgrenze Koordination maximaler Projektionen Herausstellung maximaler Projektionen satzexterne Satzgrenze
SUB = Subordination unmittelbarer Nachbarn LEX = Durchlässigkeit der lexikalischen Information PHR = Durchlässigkeit der phrasenstrukturellen Information
Die nichtvertikalen Filler sowie das Spatium (als segmentaler Slot) und der Absatz (als linear-suprasegmentaler Slot) organisieren die Oberflächenverkettung von Buchstabenund Wortfolgen: Im Default-Fall werden ununterbrochene Buchstabenfolgen (BU*) zu Worteinheiten kombiniert; alle Buchstaben einer Buchstabenfolge stehen für die Konstituierung des lexikalischen Ausdrucks und seiner wortsyntaktischen Eigenschaften zur Verfügung. Divis und Spatium unterbrechen die Buchstabenfolge, geben also global ein Verbot für eine normale Verkettungsoperation aus – mit unterschiedlicher Durchlässigkeit für lexikalische und wortsyntaktische Informationen aus der bis dahin gelesenen Buchstabenfolge. Spatium (SP) sowie die drei Funktionen des Divis, Ergänzungsstrich (ES), Bindestrich (BS) und Trennstrich (TS), unterscheiden sich danach, welche Information betroffen ist (Kap. III, 2.2). So kann nach dem Spatium weder wortsyntaktische noch lexikalische Information aus der vorangegangenen Buchstabenfolge weiterverarbeitet werden. Beim Bindestrich wird die Ausnutzung der ihm folgenden Buchstabenfolge für die lexikalische Wortkonstitution opak (die Buchstabenfolge rechts vom Bindestrich gehört nicht zum Lexikoneintrag der Buchstabenfolge links vom Bindestrich); die Konstituierung eines syntaktischen Wortes muss jedoch weiter aufrechterhalten werden etc. Im Überblick ergibt sich die Darstellung in (4): (4) TS BS ES SP
VBU* – – – –
WLEX + – + –
WSYN + + – –
Resultat: –lexikalisches Wort, –syntaktisches Wort +lexikalisches Wort, –syntaktisches Wort –lexikalisches Wort, +syntaktisches Wort +lexikalisches Wort, +syntaktisches Wort
VBU* = Verkettung wie bei unmittelbaren Buchstabennachbarn (BU*) WLEX = Durchlässigkeit der wortlexikalischen Information WSYN = Durchlässigkeit der wortsyntaktischen Information
Ganz analog kann der Gedankenstrich rekonstruiert werden. Schriftwortfolgen (SW*) werden im Default-Fall zu kohärenten Informationseinheiten kombiniert; alle Schriftwörter einer Schriftwortfolge stehen für die kohärente Aufkonstruktion zur Verfügung. Der Gedankenstrich und der Absatz (ABS) unterbrechen die Schriftwortfolge, geben also global ein Verbot für eine normale (d. h. kohärente) Verkettungsoperation aus. Sie unterscheiden sich danach, ob sie satzintern vorkommen, also die inkohärente Aufkonstruktion von Text-
216 einheiten auslösen (Er hatte das Buch – gestohlen), oder ob sie satzextern vorkommen und zur inkohärenten Aufkonstruktion von Diskurseinheiten führen („Was, jetzt?“ – „Nein!“) (Kap. III, 2.3). (5) TGS BGS/ABS EGS ENDE
VSW* – – – –
TE + – + –
DE + + – –
Resultat: –Texteinheit, –Diskurseinheit +Texteinheit, –Diskurseinheit –Texteinheit, +Diskurseinheit +Texteinheit, +Diskurseinheit
VSW = Verkettung wie bei unmittelbaren Schriftwortnachbarn (SW*) TE = Durchlässigkeit von Eigenschaften von Texteinheiten DE = Durchlässigkeit von Eigenschaften von Diskurseinheiten
Zeichen mit dem Merkmal [+VERT] sind Rollenzeichen. Die vertikalen Filler, und , leiten den Leser dazu an, die Kodierrolle mit dem Schreiber zu tauschen: Er wird vom Rekodierer zum Enkodierer von Wortformen (Apostroph) oder von Bedeutungen (Auslassungspunkte). Die vertikalen Klitika sind . Die nichtreduplizierten vertikalen Klitika, Frageund Ausrufezeichen, definieren eine vom Default abweichende epistemische, die reduplizierten Klitika, Klammern und Anführungszeichen, eine vom Default abweichende interaktionale Rolle (Kap. III, 2.1 u. 2.2). Im epistemischen Normalfall, der durch den Punkt gekennzeichnet ist, übernimmt der Leser noch nicht verfügbare Wissensbestände. Im Gegensatz dazu greifen Frage- und Ausrufezeichen auf bereits verfügbare leserseitige Wissensbestände zu: Das Fragezeichen instruiert ihn zur Wissenssuche und anschließender Wissensselektion; der Leser ist Wissender. Das Ausrufezeichen instruiert ihn, vorgängige Wissensbestände außer Kraft zu setzen und mit neuem Wissen zu überschreiben; der Leser ist ausgezeichneter Nicht-Wissender4 (Kap. III, 3.2). Für Anführungszeichen und Klammern wurde ein interaktionaler Rollenwechsel veranschlagt. Im Defaultfall richtet sich der Schreiber als covert writer an einen covert reader, wobei er die Eigenperspektive (Origo1) innehat. Die Anführungszeichen indizieren einen deiktischen Rollenwechsel (von O1 zu O¬1); Schreiber und Leser befinden sich in einem lokutiven Fremdsystem. Die Klammern indizieren einen kommunikativen Rollenwechsel. Der Schreiber wird zum overt writer, der Leser zum overt reader (Kap. III, 3.1). Die Gesamtanalyse lässt die Konstruktion eines Lesemodells zu, das die unmarkierten Leserrollen (den Default) aus den markierten Abweichungen rekonstruiert:
–––––––—–– 4
Die in Kapitel III, 3.2.2 ausgearbeiteten Zugriffsweisen des Ausrufezeichens auf Planen/Handeln/Wissen wurden hier lediglich aus Darstellungszwecken auf „Wissen“ verkürzt.
217 (6)
unmarkierte Leserrollen (graphisch unmarkiert)
okulomotorisch
subvokalisatorisch
aktional Rekodierer
interaktional kommunikativ covert reader
(7)
epistemisch Nicht-Wissender
deiktisch primäre Origo
markierte Leserrolle (graphisch markiert)
okulomotorisch
aktional Enkodierer
subvokalisatorisch
interaktional kommunikativ overt reader
deiktisch sekundäre Origo
epistemisch
Wissender
N-Wissender5
3 Das Merkmal REDUPLIKATION Für das Merkmal REDUPLIKATION war herausgearbeitet worden, dass es Auskunft über die Domäne gibt, auf der ein Zeichen operiert. Nichtreduplizierten Fillern und Klitika gemeinsam ist ihr Bezug zu Einheiten des Sprachsystems: Die Domäne der nichtreduplizierten Filler ist das graphisch kodierte und via Okulomotorik rezipierte Wort. Die Domäne der nichtredupli–––––––—––
5
Gemeint ist der ausgezeichnete Nicht-Wissende gegenüber dem einfachen Nicht-Wissenden (vgl. Kap. III, 3.2.2).
218 zierten Klitika ist der via subvokalisatorischer Begleitung rezipierte, sprachlich kodierte Satz. Für die reduplizierten Interpunktionszeichen (Filler , ; Klitika , , ) lassen sich zwei Beobachtungen machen: Zum einen sind sie besonders anfällig für polyfunktionale Bestimmungen. Zum anderen gelten sie durchgängig als weniger stark normiert als ihre nichtreduplizierten Verwandten. Nicht zufällig zählt Gallmann (1996) – ohne eine entsprechende formale Analyse – alle reduplizierten Zeichen und nur diese zu den „Syngrapheme[n] mit stärker klassifizierender Funktion“ (ebd.: 1462).6 Bei der Definition von „Klassifikation“ führt Gallmann an, Doppelpunkt, Klammer, Anführungszeichen, Auslassungspunkte und Gedankenstrich übernähmen die „Funktion der textsemantischen Klassifizierung“ (ebd.: 1462). Was Gallmann unter „Textsemantik“ versteht, wird nicht weiter expliziert, weist aber in die richtige Richtung. Denn die Domäne der Zeichen mit dem Merkmal [+REDUP] ist der Text, bei dem – wie bei der Sprachstruktur – zwischen okulomotorischer und subvokalisatorisch begleiteter Rezeption zu unterscheiden ist. Okulomotorisch rezipiert wird die kartographische Struktur, die Kohärenzeigenschaften transportiert; Abweichungen der kartographisch gegebenen Kohärenz werden durch die reduplizierten Filler, , indiziert. Sie signalisieren dem Leser Inkohärenz der Schriftwortfolge. Subvokalisatorisch rezipiert wird die Informationsstruktur des Textes. Die Klasse der reduplizierten Klitika konstituieren entsprechend „metatextuelle Elemente“ (Fritz 7 2005: 1069). Sie weisen den Einheiten, die sie markieren, textfunktionale Merkmale zu: Ankündigung , Fremdrede , Kommentar . Kein anderes Klitikon (und kein Filler) übernimmt eine solche Funktion. Die Zusammenhänge zwischen Doppelpunkt, Anführungszeichen und Klammer, deren gemeinsame Klassenzugehörigkeit nur auf den ersten Blick kontraintuitiv ist, sind aber sehr viel enger: Die Eigenschaft des Doppelpunkts, syntaktisch autonome Strukturen zu konstituieren (Kap. III, 3.3.4), bringt ihn in die Nähe der Anführungszeichen in ihrem konventionellen Gebrauch (vgl. Kap. III, 3.1.1). Beide, konventionelle Anführungsphrase und Doppelpunktphrase, sind syntaktisch autonom, beide werden trotz fehlender syntaktischer Passung in die Trägerkonstruktion „eingehängt“. Sie treten nicht zufällig häufig – und zwar dort, wo beide ihre prototypischen Eigenschaften voll entfalten und obligatorisch stehen, also bei der angekündigten direkten Rede – miteinander auf. (1) Max rief: „Nun lass uns gehen!“ Die Anführungszeichen verweisen auf die quotationelle Autonomie, die automatisch syntaktische Autonomie nach sich zieht, die vom Doppelpunkt markiert wird, wodurch die Vorgängerkonstruktion automatisch Ankündigungscharakter erhält. Die zweite Eigenschaft des Doppelpunktes, eine Vorgängeräußerung zur Ankündigung zu machen, bringt ihn in die Nähe der Kommentierungsklammer (Kap. III, 3.1.2). Beide leisten im Prinzip dasselbe – lediglich die Vollzugsorte unterscheiden sich: Für die Kommentierungsklammer wurde geltend gemacht, dass sie nie äußerungsinitial auftritt. –––––––—––
6
Für die restlichen Interpunktionszeichen wird von der „Segmentierungsfunktion“ gesprochen (vgl. auch Maas 2000 sowie Kap. II, 3.3 der vorliegenden Arbeit).
219 (2)
(i) (ii)
*(Wenn du mich fragst) das ist ein Skandal. *(Italo Calvino) Wenn ein Reisender in einer Winternacht
Erlaubt sind konstruktionsfinale und konstruktionsinterne Kommentierungsklammern: (3)
(i) (ii) (iii)
Das ist (wenn du mich fragst) ein Skandal. Das ist ein Skandal (wenn du mich fragst). Wenn ein Reisender in einer Winternacht (Italo Calvino)
Der Doppelpunkt weist nun ein spiegelbildliches Serialisierungspotential auf: (4)
(i) (ii) (iii) (iv)
Wenn du mich fragst: das ist ein Skandal. *Das ist ein Skandal: wenn du mich fragst. Italo Calvino: Wenn ein Reisender in einer Winternacht *Wenn ein Reisender in einer Winternacht: Italo Calvino
Die Ankündigungsfunktion des Doppelpunktes erweist sich somit als seriell an die Initialposition einer Äußerung fixiertes Kommentierungshandeln. Dabei gilt: Geht der Kommentar dem zu Kommentierenden voran, ist er eine Ankündigung, die sich hier nun einmal mehr als Sekundäreffekt des Stellungsverhaltens von Doppelpunktkonstruktionen erweist. Reduplikation und Ikonizität Ein weiterer Befund soll die hier vorgenommene Klassenbildung auf der Grundlage des Merkmals Reduplikation stützen. Im Gegensatz zu den nichtreduplizierten Zeichen7 sind die reduplizierten Zeichen ikonisch: Für den Gedankenstrich und die Auslassungspunkte war bereits argumentiert worden, dass sie ein Stück Zeile (Gedankenstrich) bzw. ein Stück beschriebene Zeile (Auslassungspunkte) imitieren, wobei sie genau dort stehen, wo normalerweise Wortketten stehen, zwischen Spatien (Gedankenstrich: xxxxxx – xxxxx, Auslassungspunkte: xxxxx ... xxxxx). Klammer und Anführungszeichen, die via Vertikalität auf die Rollenstruktur verweisen, imitieren durch ihre Öffnungsrichtung die Relation zwischen Eigenem und Fremdem: In ihrer zugrundeliegenden Form zeigt die Öffnung jeweils auf die dem Verfasser nähere Rolle (Klammer: xxxx ¢xxxx² xxxx, Anführungszeichen: xxxx ²xxxx¢ xxxx). Der Doppelpunkt schließlich imitiert durch die Wiederholung desselben Elements den Sprachverarbeitungsmechanismus, zu dem er instruiert (Wiederaufnahme/Mehrfachauswertung eines lexikalischen Elements).
–––––––—–– 7
Möglicherweise sind auch der Apostroph (als Buchstabenimitat) und der Divis (als Slotimitat) ikonisch. Dies sollte angesichts ihrer auf Okulomotorik ausgerichteten Rezeptionsmechanik nicht überraschen.
220
4 Das System der Interpunktion im gegenwärtigen Deutsch Die Analyse hat ergeben, dass jedes Interpunktionszeichen als Tripel formaler Merkmale erfasst werden kann, mit dem seine Identität im System bestimmt werden kann.
VERTIKALITÄT (Instruktionstyp) [–VERT] Verkettung/ Verknüpfung [+VERT] Rollenwechsel
REDUPLIKATION (Auswertungsdomäne) [+REDUP] [–REDUP] Sprachsystem Text Satz Wort
--
--
--
--
LEERE (Kodiermodus) [–LEER] sprachlich [+LEER] graphisch [–LEER] sprachlich [+LEER] graphisch
Die Lücken sind systemgerecht. Sie entstehen aufgrund der Gesetzmäßigkeit, dass der Satz eine sprachlich, das Wort eine graphisch kodierte Einheit ist. Satzbezogene Filler oder wortbezogene Klitika kann es daher nicht geben. Allein der Text, der sowohl durch Eigenschaften der graphisch kodierten, also kartographischen Oberflächenstruktur als auch durch Eigenschaften der sprachlich kodierten Informationsstruktur konstituiert ist, ist für Filler und für Klitika zugänglich. Klarer kann ein System in formaler und in funktionaler Hinsicht kaum sein.
V
Ausblick
Die Leseforschung hat sich bislang nicht in der erforderlichen Intensität mit der Frage befasst, welche Auswirkungen die (regelgerechte) Interpunktion auf den Leseprozess hat. Als theoriebasierte Hypothesenbildung über die Steuerung des Leseprozesses durch Interpunktionszeichen gibt auch die vorliegende Arbeit keine empirischen Aufschlüsse über das tatsächliche Verhalten von Leser/innen und Schreiber/innen. Hinweise auf die leserseitige Nutzung des Kommas und des Punktes im Englischen geben Baldwin & Coady (1978), Hill (1996), Hill & Murray (1998, 2000) sowie Hill & Gompel (2002). Die Untersuchungen von Steinhauer & Friederici (2001) sowie Steinhauer (2003) verweisen auf die Leserelevanz des Kommas im Deutschen. Allerdings zeigt Steinhauer (2003) auch Unterschiede bezüglich der Nutzung des Kommas von Leser/innen auf: Versuchspersonen, die eine hohe Interpunktionssicherheit beim Schreiben aufwiesen, wiesen auch beim Lesen eine hohe Kommasensitivität auf; bei Versuchspersonen mit geringer Interpunktionssicherheit beim Schreiben war die Kommasensitivität auch beim Lesen geringer ausgeprägt. Für eine Interpunktionsdidaktik, die bislang ausschließlich auf den Produktionsprozess ausgerichtet ist, ist dieser Befund von außerordentlichem Interesse. Wie Kinder lernen, die Interpunktion beim Lesen zu nutzen und in welcher Relation Lese- und Schreiberwerb der Interpunktion steht und ob es möglicherweise – jenseits von unterschiedlichen Graden der Interpunktionssicherheit – unterschiedliche Nutzungstypen gibt, darüber ist nichts bekannt. Die vorgelegte Rekonstruktion der Interpunktion bietet möglicherweise Ansatzpunkte für eine Beantwortung dieser Fragen. Unter Berücksichtigung des Gesamtsystems kommt in den Blick, dass Schreiber und Schreiberinnen mit dem Erwerb der Interpunktion nicht lediglich die syntaktische Struktur sprachlicher Handlungen, sondern ebenso textspezifische Strukturen vergegenständlichen. Unter erwerbstheoretischer Perspektive von außerordentlichem Interesse wäre in diesem Zusammenhang die Ermittlung der Nutzungsreihenfolge der von den Interpunktionszeichen sichtbar gemachten Ebenen der Sprachverarbeitung. Geht die Markierung der sprachlich kodierten der Markierung von graphisch kodierten sprachlichen Einheiten voran? Beziehen sich die Kinder bei der Organisation der Linearstruktur zuerst auf das Rollenhandeln oder auf die syntaktische Verknüpfung? Ist die bevorzugte Auswertungsdomäne das Sprach- oder das Textsystem? Nicht nur die mir vorliegenden Daten, sondern auch die bisherigen Forschungsbefunde zeigen, dass (hörende) Kinder in der Produktion zuerst den Punkt verwenden. Die Selektion des Punktes könnte darauf hindeuten, dass zu Beginn des Interpunktionserwerbs die sprachlich markierten Einheiten, die syntaktische Verknüpfung sowie die sprachliche (nicht die textuelle) Struktur relevant gesetzt werden.1 Sieht man sich allerdings die konkreten Punktierungsentscheidungen der Schreibnovizen an, so ist zu Beginn nicht die Syntax, sondern der turn, eine äußerlich wahrnehmbare Struktureinheit, die relevante sprachliche Bezugsgröße. Erst mit der Zeit gelingt eine Übertragung der Eigenschaften von (kommunikativ relevanten) turn-Grenzen auf (syntaktisch –––––––—––
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Bei nichthörenden Kindern ist das anders (Ruiz 1996): Ihr Start in die Interpunktion mit dem Gedankenstrich zeigt eine Orientierung an okulomotorischen, auf den Textkörper bezogenen Sprachtätigkeiten.
222 relevante) Satzgrenzen. Die Interpunktionsdidaktik macht sich die Erkenntnis des Fortschreitens von äußerlich wahrnehmbaren zu kognitiv präsenten Eigenschaften insofern zunutze, als sie den Kindern die Pause als punkt- oder kommarelevanten Indikator anbietet (Küttel 1997). Nun ist die rhythmisch-prosodische Struktur der gesprochenen Sprache jedoch gerade nicht mit der Kommasetzung koinzident. Insbesondere wird mit intonatorischen Mitteln neben der Kontinuierung von Phrasen auch der Wissensabgleich zwischen Sprechern und Hörern organisiert (Peters 72005), der gerade keinen Reflex in der Kommasetzung hat. Mit der intonatorisch fundierten Interpunktionsdidaktik werden demnach didaktogen erzeugte Artefakte geschaffen: Die Kinder beginnen dort Pausen zu sprechen/zu hören, wo sie (auf der Grundlage unabhängiger Evidenzen) das Komma oder den Punkt setzen.2 Völlig unklar ist bislang, wie die verschiedenen Teilkompetenzen (Selektion von Rollen, syntaktische Verknüpfung, Strukturierung von Satz- und Textsystem, Zugriff auf sprachlich vs. graphisch kodierte Einheiten) miteinander interagieren. Der gigantische Misserfolg einer einseitig am Komma ausgerichteten Interpunktionsdidaktik3 ist vielleicht dadurch zu erklären, dass die Kommasetzung als interpunktorische Teilkompetenz mit weiteren Teilkompetenzen der Durchgliederung von Texten in bisher nicht erschlossener Weise interagiert. Die einseitige Orientierung auf einen Teilaspekt des Gesamtsystems wirkt möglicherweise ähnlich blockierend wie die einseitige Orientierung auf die Laut-BuchstabenBeziehung beim Erwerb der Wortschreibung.4 In diesem Zusammenhang gewinnen auch Hypothesen über verschiedene Nutzungsresp. Erwerbsprofile an Bedeutung. Wie Parkes (1993: 70ff.) gezeigt hat, sind vor der Standardisierung der Interpunktion in verschiedenen Epochen verschiedene Interpunktionsmodi zu verzeichnen. Der Autor unterscheidet „deiktische“ und „equiparative“ sowie eher paradigmatische (bei Parkes „pausierende“) und syntagmatische (bei Parkes „relationierende“) Interpunktionsverfahren. Die deiktischen Verfahren sind auf die Markierung der lokalen Informationsstruktur orientiert, die equiparativen Verfahren stärker auf die strukturgeleitete Segmentierung. Mit paradigmatischen Interpunktionsverfahren werden einzelne Struktureinheiten gekennzeichnet. Mit syntagmatischen Verfahren werden Verknüpfungsbeziehungen zwischen den Struktureinheiten sichtbar gemacht. Frühe Schriftzeugnisse belegen, dass es zu unterschiedlichen Zeiten bei unterschiedlichen Schreibern unterschiedliche Präferenzen bei der Nutzung dieser Verfahren gab. Es wäre lohnenswert zu überprüfen, ob es in der aktuellen Schreibpraxis ähnlich gelagerte Präferenzen gibt. Eine relativ einfache Methode könnte erste Aufschlüsse geben: Wie herausgearbeitet wurde, stellen Klammer, Gedankenstrich und Komma nur oberflächlich gesehen gleichwertige Alternativen bei der Parentheseauszeichnung dar. Die Einzelanalysen haben gezeigt, dass das Komma auf syntaktische Eigenschaften der Parenthese Bezug nimmt, die Klammer auf propositionale; mit der Kennzeichnung eines Oberflächendefekts orientiert der Gedankenstrich auf den Äußerungsvollzug (schreiberseitige Planbildung beim Formulieren). –––––––—––
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Vgl. hierzu auch Andresen (1983). Barthel & Löffler (1976), Kolakowsky (1980), Bergner (1980), Menzel (1985), Baudusch (1993), Nussbaumer & Sieber (1995). Vgl. hierzu Günther (1998).
223 Die Auswahl der Parenthesekennzeichnung könnte genutzt werden, um vorauszusagen, welche Bezugsgrößen ein Schreiber/eine Schreiberin bei der Ausgliederungstätigkeit präferiert. Der Schreiber, der die Klammer bevorzugt, wählt tendenziell ein deiktisches, paradigmatisches Verfahren; der Schreiber, der das Komma wählt, bevorzugt die equiparative, syntagmatische Auszeichnungspraxis. Die Wahl des Gedankenstrichs deutet auf die Bevorzugung von deiktischen, syntagmatischen Verfahren hin. Zusammen mit weiteren Präferenzen í z. B. die Wahl des Punktes, des Semikolons oder des Kommas zur Markierung von Satzfolgen oder die Entscheidung zwischen Doppelpunkt (syntagmatisch) und Punkt (paradigmatisch) bei spezifischen Ankündigungsstrukturen; die extensive Nutzung des Ausrufezeichens (deiktisch) statt des Punktes (equiparativ) – ergeben sich spezifische Schreibprofile. Eine professionelle Lernprozessbegleitung hätte auf der Grundlage des Wissens um die Interaktion der verschiedenen Teilkompetenzen die Aufgabe, den Schülern und Schülerinnen strukturiertes Material zur Entdeckung nicht nur der Leistung der Einzelzeichen, sondern auch der Entdeckung des Gesamtsystems zur Verfügung zu stellen. Mit einer Orientierung an den graphetischen Formklassen, die hier zugleich als Funktionsklassen bestimmt wurden, könnten die verschiedenen Systeme, auf denen die Interpunktionszeichen operieren, isoliert und konzentriert bearbeitet werden. Die Unterscheidung zwischen Fillern und Klitika orientiert weiter auf das Potential einer kontrollierten Bearbeitung der Schreibfläche, deren interpretative Ressource in der Interpunktionsdidaktik sowie in der Textdidaktik insgesamt, soweit ich sehe, bislang nicht genutzt wird. Im hier vorgeschlagenen Sinn wäre die Interpunktionsdidaktik insgesamt form-, nicht normbezogen. Der Normaspekt wurde aus der vorliegenden Arbeit vollständig ausgeklammert. Dies ist alles andere als üblich. Neben Behrens (1989) und Nunberg (1990), die eine normunabhängige Systemrekonstruktion zur Diskussion stellen, gibt es keine Arbeit zum Interpunktionssystem, die nicht mindestens partiell im Kontext von Reformbemühungen stünde. Die Rekonstruktion des Systems steht dann im Dienst der Ausfilterung reformbedürftiger Schreibpraktiken. Trotz z. T. gegenläufiger Behauptungen wird in diesen Arbeiten zumindest implizit davon ausgegangen, orthographische Regeln unterlägen dem regulation sense (Stetter 1991; Kap. I, 1 der vorliegenden Arbeit). Unter Verkennung der Gesamtsystematik und unter Verkennung der Tatsache, dass nicht das System, sondern seine Beschreibung reformbedürftig ist, wird auf dieser Grundlage eine „Vereinfachung“ des Systems angestrebt. Die Reformvorschläge sind entsprechend robust und systemverfälschend (Mentrup 1983). Erfasst man das System auf der Basis des instruction sense (Stetter 1991; Kap. I, 1) als die Summe der Regularitäten, durch die es strukturiert ist, ist die Norm nichts weiter als die Explikation des Systems (Eisenberg 1983). Das Ausspielen der Norm gegen das System wird obsolet (Stetter 1994). In den Vordergrund tritt dann die didaktisch relevante Frage, wie eine Systembeschreibung aussehen soll, die nicht nur die Gegebenheiten des Systems angemessen erfasst, sondern die zugleich so formuliert ist, dass sie Nutzer/Nutzerinnen, die die Regularität des Systems nicht kennen, bei Schreibentscheidungen angemessen unterstützt. Wenngleich eine solche Regelformulierung für den Erwerb und den Gebrauch der Interpunktion gleichermaßen essentiell ist, konnten in der vorliegenden Arbeit nicht einmal Ansatzpunkte zur Beantwortung geliefert werden. Denn für den Entwurf eines für Nutzer und Nutzerinnen handhabbaren Regelentwurfs fehlen praktisch alle Voraussetzungen. We-
224 der ist bekannt, bei welchen Schreibschwierigkeiten Schreibende ein Regelwerk zu Rate ziehen, noch weiß man etwas über die Praxis des Nachschlagens. Die Relation zwischen dem knowing how und dem knowing that beim Schreiben und beim Schreiberwerb ist nur in Umrissen bekannt (Klotz 1996). Solange diese Zusammenhänge nicht gründlich untersucht sind, ist eine Diskussion um eine angemessene Regelformulierung für Erwerbs- und Gebrauchszwecke zwecklos.
VI
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