Nachleben des antiken Geistes im Abendland bis zum Beginn des Humanismus: eine Überschau 9783111605203, 9783111230023


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German Pages 467 [468] Year 1960

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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung des Verfassers
DIE GRUNDLAGEN
I. Die Antike als geistiges Erlebnis – Bewegende Kräfte – Kairos – Terminologie – Renaissancebegriff — Humanismus – Auf¬tauchen neuer Ideale – Betrachtungsweisen
II. Bedeutung von Übersetzungen – Kunstentwicklung – Anfänge der Dichtung – Bedeutung des Griechentums – Überblick über das dichterische Schaffen – Das klassische Griechentum als erste Stufe des Altertums – Paideia und römische Humanitas – Rö¬mische Dichtung als zweite Stufe — Das Erbe des klassischen Altertums
III. Die Spätantike als dritte Stufe des Altertums — Synkretismus — Verschmelzende und starre Haltung — Schicksal der klassischen Kultur — Mittel ihrer Erhaltung: Auctores, Exempla, Allegorie — Die spätantike Stadtkultur und ihre Auflösung
IV. Umfang und Schicksal des antiken Erbes — Kräfte, die seine Wirkung bestimmen — Wandel der Auffassungen und Deutun¬gen — Schwieriges Erfassen geschichtlicher Erscheinungen und Vorgänge — Ordnungen — Periodisierung
V. Das Verhältnis der Menschen zum antiken Erbe — Mittelalter, Wiedergeburt und Wiedergewinnung in ihrem Verhalten gegen¬über den drei Stufen der Antike als Grundriß und Gliederung dieses Buches — Ihre geistigen Haltungen — Andere Gliederungs¬möglichkeiten
I VERMITTLUNG
1. Das Ende des Altertums
2. Die geistige Welt der Spätantike
3. Antike und Christentum
4. Wahrung der Einheit
5. Auseinandersetzungen
6. Die Erhaltung des Erbes
7. Wege des griechischen Geistes
8. Imperium Romanum
9. Die erste Renaissance
10. Schola
11. Feindschaft und Ferne
12. Platon und Aristoteles
13. Festigung der gelehrten Überlieferung
14. Übergänge und Brücken
15. Wandlung im Zeichen des Aristoteles und seiner Logik
16. Summa
17. Rhetorik und Dichtung
18. Kunstprosa und Stoffe
19. Höhe der Dichtung
20. Ausklang des Mittelalters
II WIEDERGEBURT
1. Renatae litterae
2. Vater einer neuen Zeit
3. Die Bewegung der Handschriften
4. Die antiken Götter und die Kunst
Namenregister
Sach- und Ortsregister
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Nachleben des antiken Geistes im Abendland bis zum Beginn des Humanismus: eine Überschau
 9783111605203, 9783111230023

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R. NEWALD, NACHLEBEN DES ANTIKEN GEISTES IM ABENDLAND BIS ZUM BEGINN DES HUMANISMUS

NACHLEBEN DES ANTIKEN GEISTES IM ABENDLAND BIS ZUM BEGINN DES HUMANISMUS

EINE ÜBERSCHAU VON

RICHARD NEWALD

MAX NIEMEYER VERLAG / TÜBINGEN 1960

Alle Rechte vorbehalten Copyright by Max Niemeyer Verlag Tübingen 1960 Printed in Germany Gesamtherstellung: Graphische Kunstanstalt Jos. C. Huber KG., Diessen vor München

ζΆ/leinen Lehrern und meinen Sch lern

VORWORT Mit der Herausgabe des zweiten Bandes von Karl Borinskis Werk »Die Antike in Poetik und Kunsttheorie« hat Richard Newald sich schon früh in ein Forschungsgebiet eingearbeitet, dem er dann rund dreißig Jahre lang seine besondere Aufmerksamkeit und Liebe und großen Fleiß gewidmet hat. Aus der breiten Kenntnis der einschlägigen Literatur entstanden seine Beiträge zu Forschungsarbeiten und Bibliographien. Das Werk, das diese Kenntnisse, Forschungen und Erfahrungen zusammenfassen sollte, war auf zwei Bände berechnet. Nur der erste kann hier der Öffentlichkeit vorgelegt werden. In einem Brief vom 31. 10. 1949 schrieb Newald: »Letzte Woche starb der Verleger Hans von Chamier, mit dem ich einen Vertrag über das Antikebuch hatte... Das Manuskript des 1. Bandes ist seit Januar druckfertig.« — Es war in der damaligen Zeit nicht möglich, einen anderen Verleger zu finden, das Werk blieb im Schreibtisch liegen, und die Verhältnisse ermutigten nicht dazu, den zweiten Band über die vielfältigen Vorarbeiten hinaus in Angriff zu nehmen. Nur einen Ausschnitt aus dem Thema auf engem Raum und mit strengem Bezug auf die deutsche Literatur veröffentlichte Newald in »Deutsche Philologie im Aufriß« unter dem Titel: »Klassisches Altertum und deutsche Literatur.« 1954 setzte der Tod seiner Arbeit und seinen Plänen ein jähes Ende. — Der Anregung und Vermittlung von Professor Helmut de Boor habe ich es zu verdanken, daß der Verleger Dr. Hermann Niemeyer sich des Werkes annahm. Es war vor der Drucklegung noch manches daran zu tun. Vor allem mußte die für zwei Bände angelegte Einleitung (Die Grundlagen) gekürzt werden. Das war möglich, ohne daß der Wortlaut des Textes, wie er jetzt gedruckt vorliegt, irgendwelche wesentliche Änderung erfuhr. In den weiteren Kapiteln bestand die vorsichtige Überarbeitung lediglich in der Streichung vermeidbarer Wiederholungen, in der Glättung stilistischer Unebenheiten oder Aufhellung von Unklarheiten, wie sie der Autor selbst vor der Drucklegung noch vorgenommen hätte. Dieser Arbeit sowie der Herstellung

VIII der Register konnte ich mich um so eher unterziehen, als ich meinen Mann darin immer unterstützt habe. Nicht gering war die Schwierigkeit, das Manuskript der Anmerkungen druckfertig zu machen. Ich habe so viel, wie mir möglich war, nachgeprüft; alles war nicht zu erreichen, und ich muß um Nachsicht bitten, wenn sich Irrtümer herausstellen sollten. Doch kann ich hoffen, daß das nicht häufig geschehen wird, da die Nachprüfung der erreichbaren Zitate eine große Zuverlässigkeit der anscheinend so flüchtigen Aufzeichnungen bewiesen hat. Zu danken habe ich vor allem Professor Helmut de Boor und Dr. Hermann Niemeyer für das tätige Interesse an diesem Werk. Mein Dank gilt ferner Dr. Brigitte Ristow, die mir durch gründliches Lesen des Manuskriptes, durch den ersten Hinweis auf die Notwendigkeit der Kürzung des einleitenden Kapitels und schließlich durch das Mitlesen der Korrekturen große Hilfe geleistet hat, und Dr. Herbert A. Frenzel, dessen abschließende kritische Überprüfung der Kürzung und Zusammenfassung des Grundlagentextes mir hilfreich und wertvoll war. Berlin, am 17. September 1959 Helene Newald

IX

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort

VII

Inhaltsverzeichnis

IX

Vorbemerkung des Verfassers

XI

DIE GRUNDLAGEN

l

I. Die Antike als geistiges Erlebnis — Bewegende Kräfte — Kairos — Terminologie — Renaissancebegriff — Humanismus — Auftauchen neuer Ideale — Betrachtungsweisen

l

II. Bedeutung von Übersetzungen — Kunstentwicklung — Anfänge der Dichtung — Bedeutung des Griechentums — Überblick über das dichterische Schaffen — Das klassische Griechentum als erste Stufe des Altertums — Paideia und römische Humanitas — Römische Dichtung als zweite Stufe — Das Erbe des klassischen Altertums

10

III. Die Spätantike als dritte Stufe des Altertums — Synkretismus — Verschmelzende und starre Haltung — Schicksal der klassischen Kultur — Mittel ihrer Erhaltung: Auctores, Exempla, Allegorie — Die spätantike Stadtkultur und ihre Auflösung

21

IV. Umfang und Schicksal des antiken Erbes — Kräfte, die seine Wirkung bestimmen — Wandel der Auffassungen und Deutungen — Schwieriges Erfassen geschichtlicher Erscheinungen und Vorgänge — Ordnungen — Periodisierung

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V. Das Verhältnis der Menschen zum antiken Erbe — Mittelalter, Wiedergeburt und Wiedergewinnung in ihrem Verhalten gegenüber den drei Stufen der Antike als Grundriß und Gliederung dieses Buches — Ihre geistigen Haltungen — Andere Gliederungsmöglichkeiten

32

I VERMITTLUNG 1. Das Ende des Altertums 2. Die geistige Welt der Spätantike 3. Antike und Christentum

45 . . . .

45 62 82

4. Wahrung der Einheit 5. Auseinandersetzungen 6. Die Erhaltung des Erbes 7. Wege des griechischen Geistes 8. Imperium Romanum 9. Die erste Renaissance 10. Schola 11. Feindschaft und Ferne 12. Platon und Aristoteles 13. Festigung der gelehrten Überlieferung 14. Übergänge und Brücken 15. Wandlung im Zeichen des Aristoteles und seiner Logik 16. Summa 17. Rhetorik und Dichtung 18. Kunstprosa und Stoffe 19. Höhe der Dichtung 20. Ausklang des Mittelalters

112 119 131 151 168 182 192 204 216 230 243 . . . 257 271 284 308 329 351

WIEDERGEBURT

374

1. 2. 3. 4.

374 386 398 408

Renatae litterae Vater einer neuen Zeit Die Bewegung der Handschriften Die antiken Götter und die Kunst

Namenregister

425

Sach- und Ortsregister

443

XI

VORBEMERKUNG Seit Choleyius seine Geschichte der deutschen Poesie nach ihren antiken Elementen (2 Bände, Leipzig 1854/56) schrieb, hat es im deutschen Sprachgebiet niemand mehr unternommen, den historischen Ablauf der Bewertung und Aufnahme der Antike in der deutschen Literatur zu schildern. Die Schwierigkeit, das ungeheure Material zu einer umfassenden Darstellung auch nur annähernd zu bewältigen, übersteigt die Kräfte eines einzelnen. Hier sind dem größten Ehrgeiz Grenzen gesetzt. Umfangreiche Arbeiten greifen eine Gestalt, einen Dichter, einen Gedanken oder eine antike Geisteshaltung heraus und verfolgen ihre Schicksale im Wandel der Zeiten oder bei den einzelnen Völkern, andere untersuchen, wie sich eine Stileinheit oder eine einzelne Persönlichkeit zur Masse des antiken Erbes verhält; scharfsinnige Kleinarbeit hat eine Fülle von Beziehungen aufgedeckt. Ich möchte das Vorgehen jener mit dem Wirken eines Scheinwerfers vergleichen, dessen grelle Lichter uns einen Teil des Geschehens überdeutlich vor Augen führen, das benachbarte aber im Dunkeln lassen, diese hingegen arbeiten mit dem Vergrößerungsglas und lassen die richtigen Maße verkennen. Mögen sie beide den Ruhm strenger Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch nehmen und denjenigen, der vom Kleinen den Blick immer wieder in die weiten geistigen Räume schweifen läßt, oberflächlich nennen: der Vorwurf des Dilettantismus sollte ihn nicht treffen, wenn er auch die Dinge so darstellt, wie sie sich in seinem Innern spiegeln. Freilich muß er sich bewußt sein, daß sein Bild keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit hat. Weder für sich selbst noch für andere kann er ein für allemal Verpflichtendes und Normatives aussagen, Typen schaffen und Gesetze geben. Er kann den gesamten Ablauf nur so darstellen, wie er ihm eben in diesem Augenblick, unter dieser Beleuchtung und diesen ganz besonderen Umständen erscheint. Wie verschiedene Künstler, ja selbst der einzelne zu verschiedenen Zeitpunkten, den gleichen Gegenstand nie in der gleichen Form gestalten können, weil sowohl ihr eigenes Selbst wie der Vorwurf

XII

Veränderungen unterworfen sind, die außerhalb des mechanisch Erreichbaren stehen, so geht es auch dem Vertreter der Wissenschaft, wenn er eine betrachtende geistige Schau wagt, in der er das Leben, Weben und Walten, Kommen und Gehen in einem historischen Ablauf zeichnet und es wie ein Naturgeschehen darstellt. Er arbeitet mit anderen Mitteln als der Künstler, dessen Werk von vornherein zum Genießen und Mitempfinden geschaffen ist und uns die Möglichkeit offenläßt, es in unserem Sinn zu verstehen und in uns aufzunehmen, in einem Sinn, der weit entfernt liegen kann von dem, was der Schöpfer wollte. Die wissenschaftliche Arbeit ist vielleicht oft gefährdet von der Absicht des Verfassers, den Leser zu seiner Meinung zu bekehren, in ihm einen sei es auch stummen Helfer und Parteigänger zu gewinnen bei einer Auseinandersetzung mit den Meinungen anderer. Der Drang nach Erforschung der Wahrheit mag dabei eine starke Triebfeder sein. Aber Wahrheit und Wert haben im Lauf der Geschichte nie eine absolute Geltung. Das Hochgepriesene fällt der Verachtung anheim und das Verdammte steigt aus dunkler Tiefe ins Licht empor. Gleichwohl nähme man jedem wissenschaftlichen Forschen den Sinn, wenn man sein Ziel nicht in der Aufdeckung der Wahrheit erkennen wollte. Das Streben danach gibt den schärfsten Ansporn, es erfordert Strenge gegen sich und andere, es ist die unmittelbarste Triebkraft, von der man besessen sein muß, um derentwillen man viel auf sich nehmen, auf vieles verzichten muß. Auf ihr ruht das wissenschaftliche Ethos. Diese seelische Grundhaltung hat in mehr als einer Hinsicht etwas Tragisches an sich, sie wird im Kampf mit jenen, die über größere Machtmittel verfügen, den Kürzeren ziehen, aber sie wird nur nachgeben, wenn sie zur Erkenntnis gelangt ist, daß sie im Irrtum befangen war. Auch dazu gehört Mut und Entschlossenheit, wie zu dem unbeirrten Streben nach einem unerreichbaren Ziel. Eine Überschau über große geistige Räume sollte gerade in Zeiten, die viel geleistet haben und denen neue Gesichtspunkte und neue Stoffe zugekommen sind, einmal gewagt werden. Der dies Wagnis unternimmt, ist mit seiner Arbeit ein Glied der Gemeinschaft, auf deren Leistung er angewiesen ist, er mag sie bejahen oder ihr gegenüber zweifeln, er braucht sie auf jeden Fall. Er geht von der Überzeugung aus, daß den Analysen die Synthese folgen muß, wenn er auch erkennt, wieviel noch fehlt, um eine lückenlose Zusammenfassung zustande bringen zu können.

XIII

Dankbar wurden die Arbeiten anderer, die ich seit zwei Jahrzehnten ständig verfolgt habe, benutzt, ohne daß im einzelnen darauf Bezug genommen wird, um den gelehrten Ballast nicht zu erhöhen. Vom angeeigneten und verwerteten Besitz mitzuteilen sehe ich als vornehmste Aufgabe des Buches an. Was ich als Ziel vor Augen habe, legte ich in einem Vortrag dar, den ich im Herbst 1933 in Freiburg i. Br. gehalten habe (gedruckt in GRM Jahrg. 1934 S. 106-115). Im Wesentlichen bestehen auch in der vorliegenden Darstellung die dort angedeuteten Probleme. Mit meiner Widmung danke ich den anregenden Kräften, ohne die ich dieses Buch nie hätte schreiben können, meinen Lehrern an der Universität, aus deren Übungen und Vorlesungen und persönlichem Gespräch mir reiche Anregungen zuflössen, aber auch denen am Gymnasium, an deren Schule zu Kremsmünster ich meine erste Bildung erlangte, damals freilich ohne zu ahnen, daß in den ehrwürdigen Mauern dieses Stiftes die gleichbleibend lebendige Tradition des antiken Erbes seit fast 12 Jahrhunderten wirkt! Meinen Schülern gilt die Widmung, weil mir meine Lehrtätigkeit reiche Gelegenheit bot, die Fragen des Nachlebens der Antike zu behandeln und durchzudenken. Ohne die Anregungen, die mir aus ihrem Kreis zugeflossen sind, ihr immer lebendiges Interesse und ihre nie müde werdende Aufmerksamkeit hätte ich mich kaum entschlossen, diesen Versuch zu unternehmen. Freiburg im Breisgau Im Jahre 1949

Richard Newald.

DIE GRUNDLAGEN I. Die Antike als geistiges Erlebnis — Bewegende Kräfte — Kairos — Terminologie — Der Renaissancebegriff — Humanismus — Auftauchen neuer Ideale — Betrachtungsweisen

Gegenstand einer Betrachtung, die das Nachleben des antiken Geistes im Abendland verfolgen will, sollte jede Persönlichkeit sein, die einmal von dem Eindruck eines antiken Denkmals innerlich ergriffen wurde und den Nachfahren darüber Zeugnis abgelegt hat. Abgesehen von der Unmöglichkeit einer Sammlung und Sichtung solcher Äußerungen vergangener Zeiten zwischen Antike und Gegenwart, von denen viele durch ihre Gleichartigkeit langweilig wirken müssen, wäre es für einen einzelnen heutigen Menschen eine unlösbare Aufgabe, eine Art Bestandsaufnahme von entscheidenden Epochen zu machen, sie anderen Epochen im Sinne von Verschiedenheit und Gemeinsamkeit gegenüberzustellen und ihre Veränderungen zu ergründen. Wenn auch solche Inventuren und Registraturen gemacht und auf ihrer Grundlage manche Erkenntnis für diese Arbeit gewonnen wurden, so dürfen sie doch nicht in einem leblosen Schema in Erscheinung treten. Ein solches ergäbe sich auch, wenn man ohne Rücksicht auf historische Situationen und die dadurch bedingten anderen Einstellungen die möglichen mit den eingetretenen Reaktionen zusammenhielte. Es ist durchaus denkbar, daß sich beide decken, wenn auch einzelne häufiger auftreten dürften als andere. Die Äußerungen über Eindrücke, welche antike Denkmäler in den Menschen ausgelöst haben, wechseln zwischen begeisterter Hingabe, Bekenntnissen der eigenen Unzulänglichkeit oder kalter Ablehnung. Dabei hängt die Art der Reaktion viel weniger von dem Wissensstoff oder der Masse des geistig Erworbenen ab als von äußeren und inneren Umständen, dem jeweiligen Stande der Kultur, in der sich der Beurteiler, seine engere und weitere Umgebung oder seine Epoche bewegen. Die Bestimmung des Begriffes Nachleben und überhaupt gei2 N e w a i d , Nachleben

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Lebcnsvorgänge

stiges Leben rührt an einen Vorgang, der das Geheimnis des Lebens an sich in geistigen oder organischen Bezirken umschließt. Wir müssen uns damit bescheiden, festzustellen, daß das Wunder des Lebens da ist, daß ihm ein Zeugungsprozeß vorangegangen sein muß. Es trifft den Sinn der Erscheinung nicht, von Mischung zu sprechen, wo es sich um ein Ineinanderwachsen, um Neugestaltung und Entwicklung handelt. Solange der Hauch der Antike die Menschen einer späteren Zeit nicht berührt, bleibt sie als Bildungsgut eine tote Masse, bis der Geist aus der Ruhe aufersteht, Fesseln sich lösen und trübende Schleier verwehen. Es ist für die Miterlebenden eines solchen geistigen Zeugungsprozesses unmöglich, das Einmalige und Besondere zu erkennen, das Keimkräftige aufzuspüren und bewußt weiterzuentwickeln, die Aufgabe zu erfassen, welche ihnen und ihren Nachkommen zufällt oder mit deren Erfüllung eine spätere Zeit sie betraut. Soll der Zeugungsvorgang in dem Gebiet, dessen Darstellung wir uns zur Aufgabe gesetzt haben, gezeigt werden, so ist es erforderlich, die beiden Gruppen, aus deren Vereinigung das Neue entsteht, gegeneinander zu halten. Die eine ist die Stoffmasse des antiken Erbes, welche später beschrieben werden soll, die andere ist die sich immer wieder verändernde geistige Situation, die aus dem Wesen einzelner Individuen und Gemeinschaften erschlossen werden muß. Die Möglichkeit einer zeugenden Vereinigung beider Gruppen ist immer vorhanden, aber sie tritt nur selten und unter ganz bestimmten Voraussetzungen ein. Es trifft das Wesen des Vorgangs nicht ganz, wenn die antike Stoffmasse als der ruhende und die Zeitlage als der bewegende Teil angesehen werden, doch ist soviel sicher, daß in jener die passiven und in dieser die aktiven, von Verstand und Gefühl getragenen Entwicklungsmöglichkeiten liegen. Die vielen Symbole, unter denen man versucht, eine Entwicklung darzustellen, die bildhaften Ausdrücke, unter denen sie vergegenwärtigt werden soll, deuten alle auf einen Lebensvorgang hin, in dem zahllose Erscheinungen auftreten, die in ihrem richtigen Kräfte- und Wirkensverhältnis nicht erkannt werden können. Wir suchen nach Ursache und Wirkung, stellen Veränderungen fest, wir glauben zu erkennen, daß die Bewegtheit größere Werte schafft als die Starrheit der Ruhe, als die feste Fügung, die sich ewige Dauer anmaßt. Wir nennen die Erscheinungen krank oder gesund, lebenskräftig oder absterbend und bewerten damit nach unserem Gefühl. Wir suchen augenfällige Pa-

Bewegende Kräfte — Kairos

3

rallelen, stellen Zusammenhänge fest, ohne den Urgrund des ewigen Wechsels und der ewigen Umwertung erfassen zu können; denn der Wechsel ist das einzig Beständige. Die Antike kann nur dann wirken, wenn sie in das Erleben des mit ihr sich begegnenden Geistes einbezogen oder wenn sie selbst zum geistigen Erlebnis wird. Man behilft sich bei der Frage, welche Voraussetzungen festzustellen sind und zu welchem Zeitpunkt sie sich erfüllen, meist mit der Vorstellung von der Reife einer Zeit, einer aufwärtsstrebenden Entwicklung, welche neue Gebiete erschließt. Aber das sagt über das Wesen der Erscheinung nur wenig aus. Es fehlen zur näheren Bestimmung eines solchen Vorganges, der sich jenseits der ratio abspielt, die Begriffe; es gibt jedoch ein Wort, mit dem sie sich andeuten lassen: der griechische Begriff des Kairos. Die Griechen bezeichnen mit diesem Wort das rechte Maß, die Ausgewogenheit der Verhältnisse, den entscheidenden, insbesondere den günstigen Zeitpunkt. Wenn wir es hier im Zusammenhang mit dem Nachleben der Antike für den Zeitpunkt geistigen Werdens und Ausgangspunkt geistiger Lebensvorgänge einführen, so soll es uns auch den Anfang einer geistigen Entwicklung, das Aufgehen und Keimen eines fruchtverheißenden Samens bezeichnen. Nur in unzulänglichen Bildern können wir versuchen, einen solchen Vorgang faßbar zu machen. Nach der griechischen Vorstellung greift der Kairos selbständig ein, er hat die Entscheidung über alles. Nur Kindern des Glücks erschließt der Kairos seine helleuchtende Siegesgewißheit. Nicht der Spürsinn allein veranlaßte Alexander den Großen dazu, seinen Feldzug gerade an diesem Zeitpunkt zu unternehmen, oder Cäsar, den Rubikon zu überschreiten und eine Entscheidung herbeizuführen. Andere vorher und nachher haben ähnliches gewagt: Hannibal, Wallenstein, Napoleon. Man pflegt ihr Wollen als Hybris zu bezeichnen, ein Hinausstreben über das eigene Können, eine Versuchung der ewigen Mächte, die über Sein oder Nichtsein entscheiden. Das Kairosproblem ist daher mit dem Fortunaproblem eng gepaart. Wir messen am Erfolg. Alles was die Kairosmenschen wagen, wird zu einem glücklichen Ausgang geführt. Das drückt die astrologische Weisheit von Jahrtausenden aus, indem sie die Planetenstellung in der Geburtsstunde als entscheidend für das Menschenschicksal ansieht. Sonne und Jupiter als Königssterne verheißen erfolgreiches Abschließen großer Unternehmungen. Der Saturn aber läßt Unmögliches begehren und großes Wollen an den Mächten des Schicksals scheitern. So 2»

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Probleme der Terminologie

werden alle Handlungen des Menschen in Abhängigkeit gesetzt von dem großen Geiste, der über ihnen waltet und sie führt, wenn sie selbst zu bestimmen scheinen. Wir dürfen nicht nach physikalischen Auswirkungen der Kräfte fragen und forschen; denn das hieße, Räder und Triebfedern aus Ideen und Gedanken machen, die geistige Kraft aber leugnen, die in ihnen wohnt. Die Kairosmenschen verstehen den Ruf der Zeit, sie können die gegebenen Verhältnisse ausnützen, und das ist das Geheimnis ihres Erfolges. Der Kairos verteilt Licht und Schatten in der geschichtlichen Entwicklung, er hebt eine Erscheinung aus der Masse, er bewertet und wählt, er führt den Suchenden zu seiner Aufgabe und Sendung, bewegt die Masse, ist die tätige Macht im Reiche des Geistes, er schaltet mit Kräften des Gefühls und Verstandes, bevorzugt die einen und setzt die anderen zurück. Er führt Entwicklungen zum Abschluß oder unterbricht sie jäh und läßt sie unvollendet. Dennoch ist er kein Fatum, sondern er will gesucht und erschlossen werden. Er liebt den Strebenden und Tätigen. Es braucht nicht zu verwundern, daß die Terminologie der Literaturgeschichte eng mit der kunstgeschichtlichen übereinstimmt. Ausdrücke wie Romanik, Gotik, Barock, Rokoko stammen daher, während die Ausdrücke Klassik, Klassizismus und Romantik ursprünglich auf Erscheinungen des Schrifttums angewendet wurden. Die in verwirrender Fülle vorhandenen Bezeichnungen, denen nicht immer eine klare BegrifFsbildung zugrunde liegt, stellen sich als manchmal gefährliche Denkhilfen ein, heben einheitliche Merkmale hervor, die im Gegensatz zu vorausgehenden oder nachfolgenden Perioden erkannt wurden. Eine solche Betrachtungsweise führt zur Mechanisierung eines geschichtlichen Vorganges. Die Denkhilfen sind kaum zu entbehren; dennoch sollen sie in der kommenden Darstellung nicht allzu häufig gebraucht und die Fülle des Nebeneinander der verschiedenartigen Erscheinungen nicht ihnen zuliebe aus der Betrachtung ausgeschieden werden. Eine Geschichte der kulturwissenschaftlichen Terminologie von Worten wie Renaissance, Humanismus, Klassik, Kultur sowie Arbeiten über den kulturwissenschaftlichen Wortschatz bedeutender Denker sind trotz manchen Ansätzen noch nicht geschrieben worden. Sie würden einem Versuch wie dem vorliegenden erst den nötigen Unterbau bieten und vor mancher vorschnellen Behauptung oder Vermutung bewahren. Die ersten Belege eines Wortes, sein Gebrauch in

Gebrauch des Wortes »Renaissance«

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einem bestimmten geistigen Kreis sind für die geschichtliche Entwicklung des dazugehörigen Begriffes von entscheidender Bedeutung. Sie nicht zu erkennen oder als nebensächlich zu betrachten kann zu bedenklichen Vermutungen führen. Den Urgrund seiner Herkunft verleugnet kein an das Wort sich bindender Begriff. Das Wort Renaissance gebrauchen wir in vielfacher Anwendung, es versinnbildlicht uns einen geistesgeschichtlichen Vorgang. Im Wortdreiklang Renovatio, Reformatio, Renaissance wird diese zur Dominante, in der historischen Folge zur wichtigsten und entscheidendsten unter diesen gleichartigen Erscheinungen. Renovatio heißt Erneuerung, das Alte bloßlegen, es vom Schutt zeitlicher Ablagerungen säubern. Reformatio heißt Bilden mit neuer Zutat im Sinne des Gestaltens, und Renaissance Wiedergeburt, Lebendigwerden von etwas Totem, Vernichtetem. Es scheint wesenhaTt für den Gebrauch dieser Worte zu sein, daß das erste im Kreise der Ottonen1 zu Bedeutung gelangt, das zweite auf kirchlichem Grund zu einem bevorzugten Ausdruck der Konzile des 15. Jahrhunderts wird und das dritte die Wiederaufrichtung und das Lebendigwerden politischer und staatlicher, religiöser und wissenschaftlicher Macht bedeutet. In solchem Sinne wird das Wort renasci von Livius gebraucht, von Rutilius Namatianus2 sehnsuchtsvoll ausgesprochen und in dem Zeitalter, dem es den Namen gab, zu einem sein Wesen bestimmenden Ausdruck gemacht. Man könnte mehr darüber sagen, wenn man auch nur einigermaßen über die volle Verwendung des Wortes und seine Geschichte Auskunft zu geben vermöchte. Von der Seite des Kairos her gesehen ist jede der genannten Erscheinungen eine Äußerung des Nachlebens und verstärkten Wirkens antiker Autoren und Geisteskräfte. Man spricht in der abendländischen Entwicklung von einer karolingischen, einer Ottonischen Renaissance, einer Renaissance des 12. Jahrhunderts. Damit wird das Lebendig- und Wirksamwerden alter verschütteter Kräfte und Formen, ihre Wiederherstellung und Säuberung von Schlacken, das Zurückgreifen in die Vergangenheit bezeichnet. Verlangen nach Klarheit 1

P. E. Schramm, Kaiser, Rom und Renovatio I, Studien. In: Studien der Bibliothek Warburg 17 (1929). 2 K. Borinski, Die Weltwiedergeburtsidee in den neueren Zeiten I. In: Sitz.-Ber. d. Bayr. Akad. d. Wiss., philos.-philol. u. histor. Kl. Jahrg. 1919, 1. Abh. 62. — H. Fuchs, Zur Verherrlichung Roms und der Römer in dem Gedichte des Rutilius Namatianus. In: Festband f. Felix Staehelin. Basler Zeitschr. f. Gesch. u. Altertumskunde Bd. 42. Basel 1943.

6

Der Renaissancebegriff

und Sehnsucht nach der Wiederkehr eines einmal vorhanden gewesenen Zustandes, Nutzbarmachen bewährter Anregungen für die Gestaltung der Zeit bestimmen die Richtung des Willens. Immer ist das eigene Erleben der Anlaß, eine Stelle oder einen Autor in einem tieferen Sinne zu verstehen als die anderen, welche sich vorher darum bemüht haben. Daraus wird klar, daß Renaissancen immer auch Wendepunkte in der Geschichtsschreibung sind, weil sie immer Äußerungen von einer Wandlung, die durch Unzufriedenheit mit der Gegenwart, Hoffnung auf eine glücklichere Zukunft, dem Willen, aus der Vergangenheit zu lernen, hervorgerufen wird. Die ständige Wiederkehr von Renaissancen — wenn auch in unregelmäßigen Abständen — ist typisch für die Geschichte des Abendlandes. Viele Anregungen mögen dabei mitspielen, die das Zusammentreffen günstiger Umstände herbeiträgt. Zum Wesen der Erscheinung führt uns der Name, Wiedergeborenwerden, um sich entwickeln und wachsen zu können, Verbrauchtes auszuscheiden, Neues aufzunehmen. Den Renaissancen geht wohl immer eine Alterserscheinung voraus, und damit ein Gefühl 3er Minderwertigkeit der eigenen Zeit und ihrer Leistung. Das kann sich umsetzen in einen Willen zu Macht, Größe und gesteigerter Geltung, der sich in der Wiedererweckung einer fernen Vergangenheit zu erfüllen versucht. Dazu kommt aber auch noch eine innere Verbundenheit durch Verwandtschaft, ein in große Verhältnisse gesteigerter Familiensinn. So fühlen sich die romanischen Völker als unmittelbare Erbberechtigte an der römischen Kultur und Sprache. Durch die gemeinsamen Ursprünge haben auch die Völker des Nordens teil daran, aber die ihren eigenen Gesetzen gehorchende und nach ihnen geformte Sprache hat das Band der Verwandtschaft gelockert. Ein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit ist dennoch vorhanden. Eine bedeutsame Voraussetzung für das Nachleben antiken Geistes auf deutschem Boden ist, daß er weithin ehemals römischer Kolonisationsboden war. Hieraus erklärt sich die geographische Lage jener Stätten, an denen sich die Renaissancen des Mittelalters am deutlichsten auswirkten. Die erste Wiedergeburt des reinen und nicht durch römische Prismen gebrochenen Lichtes wird durch den Untergang von Byzanz, dessen Flammen im Abendland wie ein Wetterleuchten empfunden wurden, beschleunigt. Italien bot sich selbst und seinen neu erwachten Lerneifer dem geretteten Geistesgut an und gewährte den flüchtigen Großen Schutz, Obdach und Lehrstellung. Das Morgenland kennt den Begriff Renaissance nicht. Der Helle-

Der Humanismus

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nismus lebte im Islam weiter und dieser hat die antike Welt mit Waffen erobert, aber er ist ihrer geistig-kulturellen Überlegenheit verfallen. »Dem Orient fehlt eben«, wie Carl Heinrich Becker3 sagt, »der Eros zur plastischen Darstellung seines Ich sowohl in der bildenden Kunst wie im Drama.« Der Eros ist die treibende Kraft, die im Westen immer wieder zu Renaissancen führt. Er vereinigt den aktiven Geist der Zeiten und die passive Masse der Antike. Die Antike ist das Begehrte, der Geist der Zeit wirbt um sie und sucht sie zu besitzen. Nie aber kann dieser Besitz von Dauer sein, er ist vorübergehend. Renaissancezeiten sind kurzlebig wie Euphorion. Klassische Walpurgisnacht und Helena-Akt sind poetische Verklärungen des Renaissancevorganges, wie er sich in der europäischen Geschichte wiederholt von Fausts Gang zu den Müttern, vom Phantasiebild der Magierszene am Kaiserhof angefangen über den Ausspruch Mantos: »Den lieb' ich, der Unmögliches begehrt« bis zur Burg im Peloponnes und der Geburt Euphorions. Den Kairos dieses symbolischen Renaissancevorganges deutet eben auch die klassische Walpurgisnacht an: nur in dieser Nacht kann Faust sein Ideal finden, nicht in jeder beliebigen Stunde seines Lebens. Ganz anders verhält es sich mit dem Humanismus. Er bedeutet eine ganz bestimmte Einstellung zum Leben und zu den Menschen, also eine Welt- und Lebenssicht. Zwar greift auch der Humanismus zurück nach Vorbildern aus der Antike, aber er will sie praktisch tätig verwerten, er will einen realen Gewinn aus ihnen ziehen. Jeder Humanismus ist prosaisch, jede Renaissance poetisch-künstlerisch. Beide sind von der Antike abhängig, ja ohne das antike Erbe gar nicht zu denken, aber die Renaissance geht ausschließlich auf das Formale und seine Wiedergeburt in einem neuen Geiste ein, der Humanismus hingegen auf das Tatsächliche, um es sich zur Gestaltung seines Lebens nutzbar zu machen. Daher sind humanistische Perioden von langer Dauer, sie können sich über Jahrhunderte erstrecken, wie etwa vom Ende des 15. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts oder von der Humanitas Erasmiana bis zum Humanitätsbegriff Herders und Humboldts4. Sie sind immer wiederkehrende Weltanschauungsformen. Die Grenze zwischen den Vertretern des Humanismus und denen der Renaissance ist nicht scharf zu ziehen; denn irgend ein Sonnen3 4

C. H. Becker, Das Erbe der Antike im Orient u. Okzident. 1931. 36. R. Newald, Humanitas, Humanismus, Humanität. 1947. 35 ff., 52 ff.

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Verquickungen

strahl der Renaissance leuchtet immer in den praktisch orientierten Humanismus und irgendein realer Zug wird immer im Renaissancebild erkennbar. Es kommt also ganz auf den Blickpunkt an und so ist es durchaus nicht zu verwundern, daß dieselbe Periode der Geistesgeschichte bald Humanismus bald Renaissance genannt wird. Aber daß man den Ausdruck Renaissance vornehmlich auf die Kunst, den Ausdruck Humanismus auf die Wissenschaft bezieht, ist ein Beweis für die idealistische Form der einen und die realistische der anderen Erscheinung. Darum ist auch die Verbindung zwischen Humanismus und Reformation so eng, während sich die Verbindung zwischen Renaissance und Reformation nur schwer herstellen läßt. Wie eng aber solche Verquickungen dennoch erscheinen, mag uns ein Beispiel zeigen. Aus humanistischer Einstellung heraus greift man zu den autores, zu den Quellen, geht an die Anfänge zurück, wie die Reformation sich ja auch ganz auf das Urchristentum beruft, weil sie seinen Kern, die reine Lehre, durcK die Entwicklung gestört sieht. So befinden sich beide in Kampfpose. Die Renaissance hingegen wählt aus dem Material, das der Humanismus zu Tage fördert, aus einem bestimmten Stilgefühl das ihr Zusagende aus, weil sie spürt, daß in der Vergangenheit ein ähnlicher Formwille wie in der Gegenwart nach Ausdruck ringt. Es ist allerdings gefährlich, mit solchen Gefühlsmomenten als treibenden Kräften zu rechnen, weil ihr Wesen schwer einzuschätzen ist, aber als umgestaltende Faktoren müssen sie berücksichtigt werden. In dem heute kaum mehr überschaubaren Schrifttum zu diesem Gegenstand herrscht keine Übereinkunft über den Gebrauch der Worte Renaissance und Humanismus im geistesgeschichtlichen Sinne. Es besteht zwischen den Erscheinungen keine Gegensätzlichkeit oder Polarität, keine Beiordnung, kein Neben- und Gegeneinander sondern eine Durchdringung. Der Kairos als stilbestimmende Macht bringt Gleiches und Ähnliches zusammen, läßt das Licht Vergils durch die Jahrhunderte leuchten, führt zur plötzlichen Entdeckung der Volksdichtung in den Werken Homers und läßt die deutsche Klassik an den plastischen Marmorkopien hellenistischer Kunstübung sich begeistern. Im Auftauchen neuer Ideale erkennen wir auch immer eine beschwingende Freude, die aus den Quellen herausgelesen werden kann, nicht gewaltsam in sie hineingelegt zu werden braucht, wenn auch das Schrifttum der Vergangenheit nur den toten Buchstaben bietet ohne den Geist, aus dem heraus es geschaffen wurde und einzig zu verstehen ist. Das Er-

Neue Ideale — Betrachtungsweisen

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leben, aus dem es geformt wurde, die ganzen Voraussetzungen, auf denen es ruht, müssen rekonstruiert werden. Trotz scharfsinniger Interpretation und Überwindung der Schwierigkeiten, welche die sprachliche Form uns entgegenstellt, können wir das Werk in seiner zeitlichen Größe mit den Maßstäben, die die Zeitgenossen daran legten, nicht erfassen. Unser Standpunkt, Zustimmung oder Mißbilligung, läßt sich nicht ausschalten. Freier stehen wir dem Werk der bildenden Kunst gegenüber, in dessen Einzelheiten wir uns leichter versenken können, ohne den Blick aufs Ganze zu verlieren. Im Literaturwerk setzen wir Akzente und Betonungen, stören dadurch Zusammenhänge und gewollten Sinn. Das gleiche antike Zitat, das der mittelalterliche Schreiber einer Florilegiensammlung entnimmt, um es als exemplum zu gebrauchen, kann im Zeitalter der Renaissance ein lebendiges Zeugnis sein. Wenn wir das Pathos und die innere Bewegtheit, in der es erfaßt wurde, lebendig vor uns hätten, könnten wir es besser und richtiger deuten, während wir so nur zu unbeweisbaren Vermutungen kommen. Die Formensprache der Kunst ist augenfällig, die der Literatur klingt in das innere Ohr. Das sollte uns zur Vorsicht gemahnen und den Leistungen der Methode nicht zu große Zumutungen stellen lassen. Es sind letzten Endes gefühlsmäßige Kriterien, die uns den harmonischen Zusammenklang von Stoff und Form in einem Zeitalter, in einem Werke der bildenden Kunst oder der Dichtung als Stil empfinden lassen. Auch hier ist der Kairos am Werke. Mögen auch die gleichen Elemente in anderen Zeiten vorhanden sein, so ist doch das Wesentliche ihr Zusammentreten in einem ganz bestimmten Mischungs- und Durchdringungsverhältnis. Bei den beiden Betrachtungsweisen, die dem Gegenstande angemessen sind, kann man einerseits eine antike Gestalt, Idee oder Form, ein Symbol oder Werk, einen Dichter oder Schriftsteller als lebendige Kraft ansehen und ihr Nachwirken in langer Folge entwickelnd darstellen: ein lohnender Gang durch die Zeiten, das Wandeln mit einem Schatten aus dem Totenreiche, der Gestalt und Leben gewinnt, wenn sein Kairos gekommen ist. Mancher beschwört ihn mit unzulänglicher Formel. Aber nicht nur dem einzelnen, sondern einer ganzen Generation kann das tiefe Verständnis für eine antike Erscheinung wunderbar aufgehen. Andrerseits kann die Frage nach der Auswirkung der Antike als Masse auf eine Periode, ein Volk, eine Schule, eine Persönlichkeit gestellt werden. Es soll damit das Gesamtbild der Antike in einer Wider-

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Betrachtungsweisen

Spiegelung oder Verzerrung entworfen werden. Das ist viel schwieriger, weil man hier das Bild, das man sich selbst von der Antike macht, völlig ausschalten muß. Bilddarstellungen, die dem gleichen geistigen Kreis entstammen, können uns lehren, mit den Augen der Vergangenheit zu sehen und vor Fehlurteilen bewahrt zu werden. Eine andere Antikeauffassung als die unsere kann der Ausdruck eines ausgeprägten Stilgefühls sein; denn auch in ihrer Verzerrung vermag die Antike eine wohltätige Macht auszuüben, und man sollte sich hüten, der naiven Antikeauffassung früherer Jahrhunderte zu spotten. Ihnen war die Antike vielleicht mehr als uns, denen das Bewußtsein, daß sie ein täglich neu zu erobernder Besitz ist, zu entschwinden droht. Vielleicht hat unsere zu große Kenntnis der Antike es uns unmöglich gemacht, sie so zu erleben und so intensiv als Wunschbild zu fühlen wie die Renaissancen vergangener Jahrhunderte. So wie die Mystik, die Vereinigung der sich emporschwingenden Seele mit der Gottheit selbst, ein Wunschbild bleiben muß, so ist jede Renaissance, deren Ziel darin beteht, die Antike so wiederzuerleben, wie sie das Altertum selbst erlebt hat, unvollziehbar.

II. Bedeutung von Übersetzungen — Kunstentwicklung — Anfänge der Dichtung — Bedeutung des Griechentums — Überblick über das dichterische Schaffen — Das klassische Griechentum als l. Stufe des Altertums — Paideia und römische Humanitas — Römische Dichtung als 2. Stufe — Das Erbe des klassischen Altertums

Das jeweilige zeitliche Verständnis einer Erscheinung aus der Antike im Schrifttum tritt uns wohl am deutlichsten bei Übersetzungen entgegen; denn sie wollen das Original ersetzen, es den Zeitgenossen lebendig machen. Der Übersetzer fühlt, daß Stoff, Stimmung, Naturauffassung, Menschendarstellung und Motive des Originals auf seine Zeit Eindruck machen müssen. Es ist nie mit e i n e r Übersetzungsleistung in der Geschichte getan; denn das Original ist zeitlos, es verewigt gleichsam den Sprachzustand, aus dem heraus es geschaffen wurde, die Übersetzung ist zeitgebunden, sie stellt sich als Mittlerin zwischen das Original und ihren Leser; sie verkennt ihre Aufgabe, wenn sie ihrem Sprachzustand Dauer verleihen möchte. Der Über-

Übersetzungen

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setzet muß sich bewußt sein, daß seine Arbeit nur eine Phase in der Geschichte des Nachlebens des Originals ist und daß seine Sprache eben nur den Sprachgeist seiner Zeit vermitteln kann, daß sie also den Späteren nie von absolutem sondern nur von relativem Werte sein kann, insofern sie Belege dafür bietet, daß viele Stellen im Sinne des Geistes einer gewissen Epoche, ja des einzelnen selbst — denn auch die Übersetzungen der gleichen Vorlage von Vielen werden nie den gleichen Wortlaut haben können — interpretiert wurden. Die Übersetzung läßt das Persönliche durchschimmern. Übersetzen ist somit eine immer wieder nötig werdende Aufgabe. Das wird deutlich, wenn man etwa deutsche Horazübersetzungen aneinander reiht, wie dies Imelmann mit der Ode Donec gratus eram getan hat5. Übersetzen ist im Grunde ein Verpflanzen des Originals aus den Bedingungen, durch die es allein lebt und existiert, in andere, in denen es nur ein Schattendasein führen kann. Oft wird eine Stelle vieldeutig verstanden und unsere Interpretation versagt, wo es dem Dichter doch sicher nur um e i n e n Sinn ging. Und selbst wenn wir jedes Wort des Originals in seiner speziellen Bedeutung erklären können, wir wissen doch nicht, wie es den Zeitgenossen erklang und welche Vorstellungen und Gefühle sie damit verbanden. Immer wieder schleichen sich unsere zeitgebundenen Begriffe in die Erklärung des Vergangenen ein und lassen uns zur vollen Erkenntnis nicht durchdringen. Die letzte Voraussetzung für den Übersetzer ist eine Form von Genialität, die der dichterischen naheliegt, aber bescheidener, einfühlender, weiblicher und entsagender ist. Der Übersetzer ist Sprachrohr, Vermittler, Interpret des Originaldichters, er muß mit seinen Mitteln die gleiche Wirkung zu erzielen versuchen, die das Original auslöst. Der Übersetzer ist sich nicht immer bewußt, daß sein Werk viel von der Ursprünglichkeit des Originals einbüßt, wenn er den einer fremden Vergangenheit gemäßen Stil in den seiner Zeit umdenkt, umdichtet, verzeitlicht. Mag er auf dem Standpunkt stehen, daß das fremde Werk durch eine neue Dichtung erschlosssen werden kann, oder ein Durchschimmern des Originals in seinem Werk für seine Aufgabe halten: er geht in beiden Fällen vom Standpunkt einer Souveränität der Sprache aus; das einemal ist es seine, das anderemal die des Originals. In beiden Fällen kann eine 5

]. Imelmann, Donec gratus eram. 1899. Zu diesen Ausführungen: R. Newald, Von deutscher Ubersetzerkunst. Zeitschr. f. deutsche Geistesgesch. 1. Jahrg. (1935).

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Übersetzung als Wertung

vollendete Übersetzung entstehen. Auch sie ist vom Kairos, der Kongenialität von Autor und Übersetzer, dem Mitschwingen des Zeitund Formgefühls, dem gleichgerichteten Stil abhängig. Historisierende Zeiten wie das 19. Jahrhundert, das selbst keinen eigenen Stil schuf, haben sich deshalb bemüht, den Stil von Werken aller Zeiten und Völker in Übersetzungen nachzuahmen. Auf seinem Leidensweg des Nachlebens erlebt ein Werk des klassischen Altertums selten einen Kairos in einer Übersetzung. Vielen unwürdigen Händen ist es wehrlos ausgeliefert, viele nehmen es für ihr persönliches Wollen in Anspruch ohne Gefühl für seine wirkliche Größe und Bedeutung! Aber zu gewissen Zeiten ist doch wenigstens eine Seite des antiken Autors ins rechte Licht gesetzt worden, wie etwa bei Horaz, der deshalb ein so gutes Beispiel ist, weil wir von keinem antiken Dichter so gut über seine Lebensumstände unterrichtet sind. Er ist der Hebefrohe Zecher, der Hofdichter, der Kritiker seiner Zeit, der Theoretiker der Dichtkunst, der glühende Patriot, der pathetische selbstbewußte Prophet. Selten, daß alle diese Wesenszüge in einem einheitlichen Nachbild späterer Zeiten zu ihrem Recht kommen. Immer nur sind es einzelne, die besonders hervorgehoben werden und sich der Beliebtheit Nachgenießender und Nacherlebender erfreuen. Freilich wird man von den wenigsten Werken der Antike Übersetzungen beibringen können, von denen jede typisch für eine bestimmte Stileinheit ist. Dennoch stellt uns die Betrachtung von Übersetzungen und ihrer Geschichte auf einen mittleren Boden des Verstehens antiker Werke, insofern einer Übersetzung immer schon eine hohe Wertung des Werkes oder seines Verfassers vorausgehen muß und sie das Zeichen für ein Volkstümlichwerden ist. Sie steht also in der Mitte zwischen zwei ausgeprägten Erscheinungen des Fortlebens der Antike: die eine wird von der eine geistige Bewegung tragenden Schicht bestimmt, erkennt in der Antike neues modernes Gedankengut, das umgestaltend auf die Zeitverhältnisse wirken soll, und ist zuerst nur das Reich einiger weniger Vorahner und Entdecker. Ihr Entwicklungsgang und erstes Aufleuchten ist deutlich erkennbar. Nicht so bei der anderen, die in einer breiten, langsam sich bewegenden Unterschicht nie ganz scharf sichtbar wird. Sie kennt keine Höhen und Tiefen, ihre einzelnen Glieder liegen, weil sie der mündlichen Überlieferung anvertraut sind, nicht klar zutage. Selten tritt sie an die Oberfläche jenes Gebietes, das wir als Literatur anzusehen pflegen; denn ihre Formen gehören in ein wichtiges Arbeitsgebiet der volkskundlichen Forschung. Als

Kunstentwicklung

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gesunkenes Kulturgut lebt die Antike weiter in Brauch, Sitte, Mimus und Märchen. Es ist im Einzelfall oft nicht zu entscheiden, ob der Ausgangspunkt eines solchen Stoffes oder Motives wirklich in der Antike liegt, ob er sich im Bereich früherer Ahnen vorfindet oder gleichen Voraussetzungen seine Entstehung verdankt. Stoffe, Motive und Formen verschiedenster Herkunft werden in diesem Fluß mitgeführt als Geschiebe, verbeult, zerstoßen, durchlöchert, gerieben, mit anderem zusammengekittet, beinahe unkenntlich, manchmal die frische Farbe bewahrend und lebendig erhalten, ein andermal mit einer grauen Schicht überzogen und dem Vergessenwerden geweiht. Dieser langsam dahinströmende Fluß kann uns in der vorliegenden Untersuchung nicht so beschäftigen, wie er es längst verdient hätte. Wir werden es nur in seinen Fluten manchmal geheimnisvoll aufleuchten sehen. Es ist jener Fluß, dessen Wasser dann in den weiten Strom des Vergessene münden. Und doch ist er der Träger von Gestalten, Formen und Wesen, in denen einmal pulsierendes, frohes Leben wohnte, in dem lebendigste Antike heimisch war. Wandel und Entwicklung im Leben der Völker werden oft als organischer Ablauf aufgefaßt. Der Anstieg zur Höhe wird gern unter dem Bilde des Blühens, also eines naturhaften Vorganges, sein Abstieg als Zerfall nach dem Bilde eines den Naturgewalten ausgesetzten Gebäudes, das zur Ruine wird, angesehen. Demnach wird der verheißungsvolle Werdegang, der knospenhafte Zustand, in dem alle Voraussetzungen der Entfaltung liegen, vielleicht den meisten Reiz auf seinen Betrachter ausüben. Der Zustand wissender und erfahrener Reife, der Höhepunkt, ist auch da ein kurzer Augenblick. Der Tod eines Mäzenaten, eine soziale Umschichtung der herrschenden und das geistige Antlitz einer Zeit bestimmenden Stände, der Verlust politischer Selbständigkeit oder die Auswirkung anderer umwälzender Kräfte bringt die Erkenntnis mit sich, daß die schöne Zeit, in der Kunst und Dichtung höchstes Ansehen genossen, vorbei sei. Damit stehen mancherlei Erscheinungen und Stimmungen im Zusammenhang — Resignation, Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen, Lebensangst, Weltflucht — bis aus dem Chaos dieser uneinheitlichen Regungen wieder ein einheitlicher Wille zur Kunst geboren wird, der die widerstrebendsten Züge zur Einheit zusammenschweißt und einen Stil schafft, der Junges und Lebenskräftiges mit Altem und Absterbendem, Diesseits und Jenseits zu verbinden sucht. Das Ausspielen

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Anfänge der Dichtung

und Ausleiern dieser Formenwelt wird dann als Dekadenz oder als Krankheit empfunden, deren gefährliche, erlahmende und vernichtende Auswirkungen nur neue Gewalten überwinden können. Der Ablauf einer Kunstentwicklung ist keineswegs an bestimmte Zeiträume gebunden. Gleichzeitige Höhepunkte aller Künste sind selten. Man spricht auch innerhalb einer Kunstentwicklung von Vorahnern und Nachzüglern. Die Daseinsbedingungen einer einheitlichen Kultur- oder Stilperiode sind schwer zu bestimmen, weil auch da wieder die gefühlsmäßigen Antriebe, welche sie hervorrufen, nicht faßbar sind. Eine barocke Stilperiode kann einer klassischen unmittelbar folgen, beide können aber auch durch Jahrhunderte voneinander getrennt sein. Man wird dann immer wieder barocke Ansätze beobachten, wie etwa in der deutschen Literatur zwischen 1250 und 1600, ohne von einer eigentlichen barocken literarischen Kunst sprechen zu können, wenn man sie auch vornehmlich in der satirischen Dichtung zu erkennen glaubte. Die geschichtliche Darstellung einer Kunstentwicklung pflegt den Ablauf auch zu mechanisieren, indem sie in äußeren Einflüssen einen Anstoß zur Wandlung erkennen möchte. Aber sie stellt doch bloß das Freiwerden von Kräften fest und sucht diese in ihren Auswirkungen zu erfassen. Die Lebensverhältnisse und damit die Entstehungsbedingungen der künstlerischen Ausdrucksformen sind bei allen Völkern der Urzeit bis zur Bildung der Nation und dem Gebrauche der Schrift die gleichen. Die Dichtung, alt wie die Sprache selbst, dient der Kultur. Rhythmus und Formelhaftigkeit, Wiederkehr der gleichen Wortfolgen sind die Gestalt; Gebet, Arbeitslied, Festgesang, Beschwörung, Segen, Weisheitsspruch und Heldenverehrung der Stoff der lyrisch-epischen Urdichtung. Ihre Wiege liegt im Orient, ihre erste, fruchtbar werdende und uns noch berührende Entfaltung im schriftlich überlieferten Denkmal erlebt sie im Abendland. Landschaft und Geschichte, Lebensraum und Lebenszeit wirken auf sie ein. Mit ihrer schriftlichen Festlegung ist ihr naturhaftes Wachstum zu Ende, ist der ständige, an der Gestaltung des Wortes festhaltende Zweig der Überlieferung geschaffen. Der andere mündliche wuchert weiter, zerspielt und zersingt die Form und klare Prägung, er erliegt der Macht der Formel. Mit der Erfindung und dem Gebrauche der Schrift, des Werkzeuges der Mitteilung über Raum und Zeit, ist erst der Boden für die Literatur, das Schrifttum im weitesten Sinne, geschaffen. Dadurch vergrößert sich die Wirkungsmöglichkeit des einzelnen Menschen ins Unendliche.

Bedeutung des Griechentums

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Das erste große abendländische Denkmal, das am Eingang der Geschichte europäischer Dichtung steht, sind die griechischen Epen Homers6. Sie sind Abschluß und Anfang, sie blicken auf ein Leben des Kampfes und unsteter Wanderung zurück, sie lüften den Schleier, der über dem Jugendalter der Völker liegt, sie bedienen sich einer reichen Kultursprache, in der die Dialekte geeint sind. Mögen es Samenkörner aus dem Orient sein, die hier aufgingen: das herrliche Wachstum der homerischen Epen ist europäischem Boden entsprossen, das Vorbild und Meisterstück aller epischen Dichtung, wie Bethe sagt. Von da ab hat das Griechentum seinen vorbildlichen Charakter durch alle Zeiten und bei allen Völkern, die Wert darauf legen, unter die Kulturnationen gezählt zu werden, bewahrt. Es ist nie ganz vergessen, oft verkannt und mißdeutet worden, vielleicht auch verurteilt; aber daß es immer wieder Spätergeborene mit magischer Kraft an sich zog, kann nur den einen Grund haben, daß es den Menschen zum Maß aller Dinge gemacht hat: des Lebens, der Götter, des Weltalls, des Tieres und der Pflanze. Dadurch konnte es die Forschung erschaffen und begründen, Methoden ausbilden, Ideale aufstellen, in ahnungsvoller Seelenschau und mit der Macht der Erfahrung zugleich ein Weltgebäude errichten, dessen Grundfesten die gesamte abendländische Kultur tragen. Der Hauch der Muse, der den epischen Dichter berührt, ist in allen Schöpfern lebendig, denen das Gnadengeschenk einer echten Begeisterung von den Göttern in die Seele gelegt wurde. Religiöse und poetische Begeisterung setzt Platon im Phaidros gleich: „Sie faßt eine reine und unberührte Seele, erweckt und berauscht sie zu Gesängen und jeder anderen Poesie, sie preist die unzähligen Taten der Alten und lehrt die Nachfahren. Wer aber ohne der Musen Begeisterung zu den Pforten der Poesie kommt, überzeugt, daß Technik allein ihm genüge, ein Dichter zu werden, er ermangelt der Weihe und seine Verstandesdichtung verschwindet vor der Poesie der Begeisterten7." Wenn der späte Enkel ein aus tiefstem inneren Erleben geborenes Werk verstehend genießt und erfaßt, wird ihm das Wesen einer unsterblichen Dichtung im Wiederklingen und Mitschwingen der eigenen Seele deutlich. Wir empfinden die lebendige Harmonie von Stoff und . Bethe, Die griechische Dichtung. In: Handbuch d. Lit.-Wiss. 1924. Einleitung l ff. 7 Platon, Phaidros 245 A, zitiert nach E. Bethe, a. a. O. 259.

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Das dichterische Schaffen: Epos, Lyrik

Form, wir verspüren dagegen in der Epigonendichtung die abgegriffene Gestalt, die die feinen Linien der ersten Prägung verloren hat. Homer ist der Vater der Dichtkunst. Lyrik, Tragödie und Elegie gehen von ihm und der Stoffwelt aus, als deren alleiniger Schöpfer und Meister er im Altertum gilt. Der Ich-Roman des Odysseus und das dramatische Streitgespräch der Heerkönige am Eingang der Ilias mögen die fruchtbare Verwertung im einzelnen zeigen. Homer ist der Begründer der Geschichtsschreibung, der Heldengenealogie, er schildert die sagenhafte Geburt nationaler Geschichte. Viele — man kann ohne Übertreibung wohl sagen die meisten — Gestalten, Züge, Stoffe und Motive der Weltliteratur sind in den homerischen Epen vorgebildet, keine wesentliche menschliche Eigenschaft wird übergangen, nicht kleinliche Moral sitzt über die Schlechten zu Gericht. Bildhaft tritt Gedankliches und Seelisches vor uns: Götter geben ihren Lieblingen Entschlüsse und Rede ein. Bildhafte bunte Bewegtheit gestaltet die Gemälde, nicht immer in der berufenen epischen Breite, auch kurz und treffend; mit Liebe oder Verachtung den Helden gegenüber ist der Dichter nicht zurückhaltend. Wir wissen, wo er steht. An diesen Werken lernt der Gebildete seit Jahrtausenden, was Stil ist. Der erwachenden abendländischen Menschheit hat wahrlich ein Großer das unsterbliche immer tönende Morgenlied gesungen. Nach der belehrenden Weisheit und traurigen Lebenserfahrung Hesiods erklingen die Saiten der großen Lyriker. Sie lösen sich aus der Tradition des Gebets und der kultischen Chorlyrik, vertreten der ritterlich-epischen Standespoesie gegenüber ein demokratisches Element, ob sie nun aus tiefem inneren Erleben dichten, sich klug abwägend an die Belehrung halten oder in die Seelen anderer hineindenken, sich der Gunst höfischer Mäzenaten und Tyrannen erfreuen, vom Lebensgenuß singen oder trauriges Schicksal künden. Den dichtenden Frauen löst Sappho für alle Zeiten die Zunge. Unruhe, Sehnsucht und Ahnung einer neuen gefühlsstarken Zeit läßt die Lyrik, an der das ganze Griechenvolk beteiligt ist, ausklingen. Von Athen, der Schöpferin neuer Formen in Staat und Gesellschaft, der Gestalterin der höchsten Kunstform, strahlt das klassische Griechenland aus im Drama und seiner unvergleichlichen Beweglichkeit, die von Erhabenheit und Ausgelassenheit harmonisch umspielt ist. Religiöse Weihe, Musik, Tanz, Volksfeste in der Natur sind sein Anfang, Mythos sein Stoff, Handlung sein Wesen, Seelenerschütterung sein Zweck. Aischylos hauchte dieser Kunst unsterbliches Leben ein.

Drama, Philosophie

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Sein Erbe nehmen zwei ewige Charaktertypen auf: Sophokles mit dem in sich geschlossenen Weltbild, Menschennot und Leid in tiefster Seele empfindend und doch zuversichtlichen Sinnes, Euripides, der Unfertige, jugendlich Drängende, der so tief wie keiner in die Seele der Frau geblickt hat, unerschöpflich an großen Gedanken, die Grenzen überschreitend und ohne Nachfolge. Beide erlebten Aristophanes, den frech-genialen Kritiker seiner Zeit. Er weiß, daß die Kunst des schönen Scheins zu Ende ist, daß die Sonne der Klassik gesunken ist. Er läßt Dionysos den Strich ziehen zwischen den großen Tragikern und der Meute unfähiger Epigonen8: »Vergebens suchtest du den schöpferischen Geist, Den Dichter, der ein festes Wort zu sprechen wagt.« So könnte auf dem Epitaph der griechischen Dichtkunst stehen. Aber geschichtliches, politisches, geistiges und künstlerisches Erleben schuf im gleichen geistigen Räume neben den Meistern des Meißels und Maßbandes den erhabenen Lehrer der Weisheit Sokrates und seinen größeren Schüler Platon. »Das Unvergleichliche und Unvergängliche in seinen Schriften ist die unlösliche Vereinigung von schärfstem Denken und Himmelssehnsucht mit dichterischer Gestaltungskraft, die Kleinstes und Größtes, Äußerliches und Tiefstes mit spielender Leichtigkeit und hinreißendem Schwung anschaulich darzustellen und bildhaft zu gestalten vermochte9.« Wenig wüßten wir vom historischen Geschehen, der inneren Unruhe und Aufgewühltheit dieser Zeit, wenn nicht die Geschichtsschreibung offenen Sinnes die politische Entwicklung begleitet hätte: Redner und Politiker selbst, harte Ankläger, die sich den Schmerz über den Niedergang und die Kurzsicht der Menschen von der Seele schreiben. Als die politische Macht dem Süden entschwand und in Makedonien gesammelt wurde, nachdem die letzten Patrioten vergeblich um ihre Selbständigkeit gefochten hatten, lebte am Hofe des welterobernden Jünglings der zweite große Weltphilosoph Aristoteles, der Sachwalter der Klarheit, strenger Logiker, Meister der Begriffsbestimmung und Abgrenzung, der Erdgebundene, der große Ethiker und Denker, dessen Fackel in Tiefen der menschlichen Seele, Wege der Erfahrung, Bahnen der Natur und Kreise der Kunst hineinleuchtet. Mit der bürgerlichen Komödienkunst Menanders, mit dem Verlust der politischen Selbständigkeit in den kulturtragenden Staatswesen ist das selbständige 8 1

Aristophanes, Die Frösche v. 96/97. E. Bethe, a. a. O. 256.

3 N e w aid, Nachleben

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Paideia und römische Humanitas

Wachstum der griechischen Dichtung gelähmt. Die Ausbildung hellenistischer Wissenschaft, die Entwicklung der Dichtung über eine barocke Periode zur Dekadenz, die Internationalisierung des griechischen Geisteserbes für die Mittelmeerwelt sind Erscheinungen, in welchen das große geistige Vermächtnis Athens sich bewährt und eine lebendig lodernde Kraft bleibt. In mehr als drei Jahrhunderten vollzog sich dieses Schauspiel auf dem Hintergrund einer bewegten Zeit. Zum erstenmal zeigte das klassische Griechenland — Homer, die Dramatiker, der Hexameter, die Komödie — seine zur Nachahmung anregende Kraft in Rom. Es ist weniger die Dichtung, die in L. Livius Andronicus, Naevius, Ennius — Plautus ist auszunehmen — kaum ins öffentliche Leben tritt, als die Bildung, deren Macht die Römer geistig bezwingt. Sie, die Paideia, mit der Virtus romana zu vereinigen müht sich Cato. In der Auseinandersetzung mit ihr und in der Hervorkehrung der politischen Interessen entwickelt sich das kulturelle Leben. Im Kreis um den jüngeren Scipio vereinigt sich römische Geburtsaristokratie mit griechischem Geistesadel und stellt dem Barbarentum einen neuen Begriff der Bildung, die Humanitas, gegenüber. »Mit innerer Selbstgewißheit verbindet sich eine überlegene äußere Lebensart, die nie sich selbst und die eigene Lebensform vergessen darf. Die Milderung des Allzuherben, die Lockerung des Starren und Steifen, die Beschwingung erdhafter Schwere: dies liegt ganz besonders in der Forderung der Humanitas, die Anmut und Geist, Laune und Witz und die Würze der Ironie verlangt. Und es ist klar, daß sich für diesen homo humanus, der die Paideia besaß, die Forderung der »Menschlichkeit«, der Philanthropia, von der wahrhaft mitfühlenden Ergriffenheit des Herzens und der verstehenden Milde bis zur liebenswürdigen und korrekten Haltung in allen äußeren Lebenslagen nur in verstärktem Maße erneuerte; ja gerade den erworbenen persönlichen Bildungsbesitz nicht eigensüchtig bei sich zu verschließen, sondern immer freigebig von ihm mitzuteilen, Kultur zu verbreiten, erscheint als Pflicht. An keine philosophische Lehre, an kein System war diese humanitas gefesselt, wie sie ja auch nicht etwa einer Philosophenschule entstammt. Der freien, griechisch-römischen Geistespaarung entsprossen, besitzt sie eine wundervolle Elastizität und beharrt, wo immer sie wieder auftaucht, nur auf der Grundidee der reinen Menschenbildung10.« 10

R. Pfeiffer, Humanitas Erasmiana. In: Studien der Bibliothek Warburg 22 (1931) 3 f.

Römische Dichtung

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Die fast zwei Jahrhunderte währende Auseinandersetzung mit dem Griechentum findet mit Cicero ihren Abschluß. »Er vermochte das Griechentum so in sich aufzunehmen, daß er weder nach Gesinnung noch nach Stil die nationalrömische Seite verleugnen mußte und verkennen ließ. Er i s t . . . der erste Vertreter der ... griechisch-römischen Weltkultur, die ihren Siegeszug durch die romanischen und germanischen Kulturen genommen hat, der Form nach der feinste und bedeutendste Meister der lateinischen Prosa11.« Nun erst entfaltet sich im engen Anschluß an das Griechentum nach den inneren und äußeren Kämpfen um die politische Macht in der beginnenden Kaiserzeit die römische Dichtung. Bezeichnend, daß an ihrem Anfang das Lehrgedicht von Lukrez, dem Jünger Epikurs, über das Werden der Welt, der Kultur und Bildung, der Naturvorgänge steht, reiche Anregungen hellenistisch-griechischer Gedanken dem Abendlande vermittelnd. Ihm folgt vor der klassischen Entfaltung in jugendlichem Übermut und zügelloser Leidenschaft Catulls unsterbliche Kleinkunst. Wir bewundern die Größe der Leistung, das Nebeneinander der fertigen Formen, die Gestaltung der Sprache, den Einbruch des Vorbildes, doch wir vermögen nicht in das stille Wachstum einer bodenständigen, aus eigener Kraft zur Höhe aufsteigenden Kunst zu blicken. Nationales Pathos, maßvolle Klangschönheit, abwägende Wahl der Kunstmittel, Heldentum und Befriedung, Harmonie zwischen Kühnheit und Ruhe, das ist Vergils Werk. Künder des Ruhmes und der Größe, weltweiser Abgeklärtheit, naturhaften Lebens, freudigen Genusses, Härten ertragenden Gleichmutes, Spötter und Verehrer, Pfleger der Formenschönheit, inniger tiefer Empfinder, Deuter der Kunst: das ist Horaz. Gedankenspieler, Träumer, Bildschöpfer, Gestalter des Innenlebens: das ist Tibull. Frech, übermütig, mit Sinn für das Komische: Properz. Bewußt schließt sich Ovid an diese Vorgänger an, in der Gesellschaftsdichtung die Leichtigkeit der Behandlung zeigend, der Dichter der Liebe und Sage, mit seiner Lust zu fabulieren, der Meister der Märchenstimmung. Spanische Herkunft vermählt sich mit römischem Geist im Nachfahren Ciceros, dem Prinzenerzieher und Staatsmann L. Annaeus Seneca, dem Gestalter des Humanitätsbegriffes, dem Meister der Form und geschliffenen Sentenz, dem Vertreter stoischer Lebenshaltung, dem Tragödiendichter und Erben der griechi11

A. Kappelmacher, Die Literatur der Römer bis zur Karolingerzeit. In: Handb. d. Lit.-Wiss. 1934, 223.

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Das Erbe des klassischen Altertums

sehen Meister; und gleichen Blutes mit ihm Lucan, der barocke Gestalter der Geschichte, der mit der Begeisterung eines jugendlichen Herzens die trügerische Kraft der Fortuna darstellt und seine Zypressenzweige auf das Grab der römischen Freiheit streut. Vertritt die Dichtung das entwicklungsfähige, fortschreitende und hin und wieder auch schon dekadente Element, wenn man an Epigrammatiker mit ihrem Pathos des Zornes oder an Lebemänner wie Petronius denkt, so wird die Geschichtsschreibung schon seit Sallust zur Hüterin alter Tugend. Aus ethischem Empfinden schreibt Livius seine Geschichte und Tacitus seine sehscharfen Werke mit ihrer blühenden Ausdrucksfülle, der fanatischen Tatsachenforschung und Leidenschaft. Er ist der letzte der echten großen Römer. Und daneben die Theoretiker des Landbaus, der Weltweisheit, der Naturwissenschaft, Kunst und Literatur, die großen Praezeptoren der Zukunft. In zwei Jahrhunderten schuf das Römertum seine großen Dichtwerke. Wohl liegen noch andere bedeutungsvolle außerhalb dieser Zeit — auch mancher Grieche wirkte außerhalb der oben bezeichneten drei Jahrhunderte — aber in ihr spielt sich das Entscheidende ab, von ihr strahlt der unvergängliche Ruhm erreichter Größe über die Jahrhunderte. An sie knüpft rückblickend das neue Geschlecht an, ihre Erhabenheit, Bewegtheit, Kraft und Leistung sind Vorbild, ihre Ideen bleiben lebendig. Nachher mischt sich anderes Geistes- und Kulturgut ein, Zersetzung und Durchbildung wirken nebeneinander. Der große Körper besitzt nicht mehr genug eigentätiges Leben in sich, um sich zu erhalten. Er gibt Blut, Leben und Geist ab und kann das Fehlende nicht mehr ersetzen. Von da an können wir von einem Erbe des klassischen Altertums sprechen, einem lebendigen, tätigen, freien Erbe, dessen Wirkenskraft nun einsetzt und der Überlieferung Europas anvertraut ist zu Fluch oder Segen; denn ein Erbe verpflichtet. Vieles kann die Antike den Menschen sein: Kehrichthaufen oder Königreich, modernder Baumstamm, irrlichthaft schimmernd oder immer noch treibende lebenspendende Wurzel — ein riesenhafter Proteus in tausendfältiger Gestalt und Verwandlung. Man mag durch die Zeiten streifen, durch vertraute und fremde Länder, durch leuchtende Tage und finstere Nächte: immer wird sich die Antike als Führerin erweisen, als Sternbild, das bald in weiter Ferne, bald in scheinbarer Nähe helleuchtend oder zart schimmernd sichtbar ist.

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III. Die Spätantike als dritte Stufe des Altertums — Synkretismus — Verschmelzende und starre Haltung — Schicksal der klassischen Kultur — Mittel ihrer Erhaltung: Auctores, Exempla, Allegorie — Die spätantike Stadtkultur und ihre Auflösung

Das Wort Antike ist bisher in dem allgemeinen Sinne des Altertums gebraucht worden. Spricht man von klassischer Antike, so ist darunter die klassische Zeit des Griechen- und Römertums zu verstehen, die beiden Kulturstufen, deren literarische Schöpfungen eben skizziert wurden. Der Begriff Antike im weiteren Sinne bezieht noch eine dritte Entwicklungsstufe oder Kulturperiode mit ein, der man verschiedene Namen wie Epigonenzeit, Hellenismus, Synkretismus oder Spätantike gegeben hat. Sie fängt nach landläufiger Ansicht irgendwann nach Alexander dem Großen an und hört irgendwann vor Karl dem Großen auf. Nur vom einseitigen Standpunkt des klassischen Griechentums und der darin verkörperten Stileinheit und Geschlossenheit der Systeme aus wird man auf die geringe schöpferische Kraft, Dekadenz und Uberlieferungsgebundenheit der Spätantike verächtlich hinabblicken und ihr Altersschwäche vorwerfen. Würden wir lediglich das klassische Griechentum, die Wandlungen der ihm zuteilgewordenen Auffassung und den Weg seiner Wiedererkenntnis in diesem Buche behandeln, so könnten wir unser Ziel auf zwei voneinander getrennten Wegen erreichen, indem wir einmal mit dem Einströmen der griechischen Kultur in das klassische Römertum begännen und ihrer Auswirkung in den romanischen Ländern nachspürten, das anderemal die Brechung der griechischen Kulturstrahlen im Orient und Mittelmeerraum beobachteten und auf den Spuren ihres Lichtscheines durch die einzelnen Kulturperioden wanderten. Beide Wege führen durch ein Gestrüpp von Mißverständnissen, Zurechtbiegungen, bewußten oder unbewußten Fälschungen, durch Nebel und unwirtliches Land; sie entfernen sich weit von Sonne und Klarheit und finden nur mühsam dahin zurück. Daher dürfte es ersprießlicher sein, von der Spätantike, ihren Geisteshaltungen und Gedankengängen auszugehen, trotz der trübenden Rolle, die sie in diesem großen Schauspiel spielt. Sie verbaut für mehr als ein Jahrtausend den Zugang zu den richtigen Kenntnissen vom reinen Griechentum und legt sich als Mittlerin zwischen das klassische Altertum und die neueren Jahrhunderte, die sich um dessen Erkennt-

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Synkretismus

nis bemühten. Sie zerstört die Einheit und den Bildungsstoff der eigenständigen griechischen Kultur, zerspielt die Formen, zerstückelt geschlossene und einheitliche Organismen und Werke, zerbröckelt die Systeme, löst Gedanken aus dem Zusammenhang, wählt das ihr Zusagende aus einem unerschöpflich scheinenden Vorrat, versieht es mit eigener Zutat und mischt es mit Elementen anderer Herkunft zu neuen Gebilden. Ähnliches kann auch in Epigonenzeiten beobachtet werden, die sich bewußt sind, daß sie den Schöpfungen ihrer Väter nichts Gleichwertiges an die Seite setzen können, und die durch eine breite, volksläufige Überlieferung gekennzeichnet sind. Dadurch, daß das edle Kunstgut sich ausbreitet, verliert es an Ursprünglichkeit. Es wird mißbraucht, bis es von den geistig tragenden Gesellschaftsschichten abgetan wird. Dann gilt es für banal und verschwindet als abgesunkenes Kulturgut aus den Bereichen der Bildung. Es wird zur Formel, zur Schablone. Kaum einer ahnt, woher es stammt und daß es einst der Ausdruck geistiger Höhe und formender Kraft war. Dennoch bestimmt dieser Auflösungsprozeß oder Absinkevorgang nicht ausschließlich das Antlitz der Spätantike. Sie offenbart sich vielmehr in einer staunenswerten geistigen Regsamkeit und einem ständigen Kampf um den Besitz geistiger Güter auf einer verbreiterten Grundlage. Wir nennen diese Erscheinung den Synkretismus. Das Wort bezeichnet in seiner ursprünglichen Bedeutung eine Eigenschaft der Kreter, sich in der Not gegen einen gemeinsamen Feind zusammenzuschließen. So stärken einander geistig verwandte Lehrmeinungen, die von verschiedenen Ursprüngen stammen, durch engen Zusammenschluß und setzen sich durch. Der Boden, auf dem dies vor sich geht, ist der Südosten des Mittelmeerbeckens, und der geistige Mittelpunkt, wie es kaum wieder einen gab: Alexandrien, ein Umschlagplatz materieller und geistiger Güter. Was da aufeinanderstieß, mußte sich bewähren, seine Kraft und Lebensfähigkeit beweisen, sich mit fremden Elementen zusammenschließen, Welten versöhnen und neues Licht ausstrahlen oder einen Kampf um Sein oder Nichtsein führen. Finden solche Auseinandersetzungen mit dem vollständigen Sieg einer Machtgruppe ihren vorläufigen Abschluß, so wird der Beobachter aus zeitlicher Ferne sehen können, daß die von den Siegern bekämpften Methoden und Praktiken mit der Vernichtung ihrer Träger keineswegs tot sind sondern sich gleichsam wie rächende Erinnyen den Siegern ins Genick setzen und sie zu Handlungen und Taten veranlassen, die in einem nicht von Affekten sondern von vernünftigen und

Verschmelzung

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weitherzigen Grundsätzen bestimmten Zustande nie ausgeführt würden. Auch dem Wahn werden wir auf den Spuren der Antike begegnen. Seine Entfesselung hat der Menschheit nie Segen, Freude und Glück eingebracht, weil er ihr inneres Gleichgewicht stört. — In der regen geistigen Atmosphäre des östlichen Mittelmeergebietes strömten immer neue Erfahrungen, Erlebnisse und Gesichte in das Weltbild ein und bildeten sich Anschauungen und Grundsätze immer wieder neu. Die Voraussetzungen dazu liegen in der spätantiken Stadtkultur, ihren Bildungsstätten, den Philosophenschulen, dem Ansehen und der Verehrung, die die Lehrer der Weisheit und Gotteswissenschaft überall genossen. Selbst wenn wir vom Aufstieg neuer Naturerkenntnisse und Sehweisen, von den Auseinandersetzungen und Ausgleichungen zwischen Osten und Westen, von ständigen Bemühungen um die Wahrheit und um neue Erkenntnisse, von der hohen Bewertung geistiger Leistungen absehen: in der spätantiken geistigen Gemeinschaft des Mittelmeerbeckens sind viele schöpferische und aufnehmende Kräfte am Werke. In dem Völkergewimmel lösten sich enge nationale Bindungen und Schranken, konnte ein allgemeiner Menschheitsbegriff sich bilden, hatten die im Leben stehenden Gelehrten Gelegenheit einander kennen zu lernen, öffentlich im Gespräch oder auf schriftlichem Wege ihre Meinungen zu äußern, Angriffe abzuwehren und mit ihrer Kritik einzusetzen. Daraus erklärt es sich, daß das Originelle und Einmalige, die Schöpfung neuer Formen und Gestalten hier viel weniger gut gedeihen konnten als das bereits Vorhandene, Lebendige, Bewährte, Gewohnte und Vertraute, das sich leicht einer anderen Auffassung und Formung anpaßt. Angleichuns; und Variation, Paraphrase und Erklärung, das Denken in neuen Ordnungen, Zusammenschau der irdischen Gegebenheiten mit dem Geahnten, visionär sich Offenbarenden: alle geistigen Bemühungen zielen dahin, die Einzelheit in große und größte Zusammenhänge zu stellen, auf den Pfaden des Denkens und Fühlens zu Erkenntnissen zu gelangen, den geistigen Wirkungskreis zu weiten. Vielgestaltig sind die Baustoffe, deren man sich bedienen konnte. Das Erbe des klassischen Griechentums bildet die Voraussetzung; denn seine Sprache bot das äußere Gewand für die geistigen Inhalte, deren Geltungsbereich in zwei Ebenen lag. Als Wirklichkeiten und Einmaligkeiten konnten sie im Sinne der ursprünglichen Formung angewendet werden, als Sinnbilder standen sie für Erscheinungen, die in zeitlicher oder überirdischer Ferne lagen und damit dem Denken der Zeit

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Starre Haltung

näher gebracht wurden. Nun stellte sich neben das Schrifttum und die Überlieferung geistiger Werte des Griechentums die »älteste Urkunde des Menschengeschlechts«, die Bibel. Im Synkretismus erhielt die ehrwürdige Schrift des alten Bundes die "Weltgeltung eines Erbauungsbuches, das zugleich über Leben und Treiben der Menschen und Völker, ihr Schicksal und ihre Not berichtete, eindringlich das Walten des einen großen Gottes vorführte und dem Forschenden Aufschluß gab über Ursprung und Bestimmung des Menschengeschlechtes. Das ehrwürdige Alter und die heilige Weihe, welche sich über die Bibel, das von Gott selbst geoffenbarte Werk, breitete, ließen es zwecklos erscheinen, dem Ursprung der Dinge und des Seins auf eigenen Wegen forschend nachzugehen oder die Grenzen des erkennenden Wissens in das Reich des Glaubens hineinzuverschieben. Was das klassische Griechen- und Römertum geleistet hatten, verliert daneben an Bedeutung, weil es nur von Menschen geschaffen wurde, ohne den sichtbaren Beistand Gottes, der das auserwählte Volk der Juden und, nachdem sich dieses als unwürdig erwiesen hatte, die im Geiste starke Gemeinschaft der Christen überall begleitet, lenkt, straft und belohnt. Das sind die Voraussetzungen für die beiden geistigen Haltungen, welche die Spätantike kennzeichnen: die synkretistische, welche die Elemente eines vielfältigen Gedankengutes, ohne nach seiner Herkunft zu fragen, immer wieder zu vereinigen strebt, und die andere, welche die Reinheit der Überlieferung zu wahren sucht und darauf bedacht ist, einzelne Lehren und Systeme frei von fremden Einflüssen und Zutaten zu halten. Starrheit, Dogmatismus, Orthodoxie, Rechtgläubigkeit, Fanatismus, Kampf auf Leben und Tod, Wahn sind die Begleiter und Folgen dieser Haltung, versöhnender Ausgleich, Kompromißfreudigkeit, Toleranz, milde Zusammenschau die des Synkretismus. Die geistigen Interessen bei diesen häufig gegeneinander gerichteten Haltungen liegen in den Bereichen der Philosophie und Theologie und nur dann in denen der Ästhetik, Politik, Wirtschaft oder Naturwissenschaft, wenn diese imstande sind, der allgemeinen Weisheitslehre und Religion zu nützen. Schon in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung ergeben sich die Voraussetzungen der Einstellung zu den geistigen Werten, welche nahezu ausschließlich für das Mittelalter gilt, auf weite Strecken und für viele Menschen auch noch in unseren Tagen. Es entspricht dem Werden und tatsächlichen Geschehen nicht, in der Geschichte der abendländischen Menschheit die Überwindung der religiösen Unduldsamkeit und den Aufstieg der Duldsam-

Schicksal der klassischen Kultur

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keit zu sehen. Wir sollten uns vor Augen halten, daß es bei den theologisch-philologischen Streitfragen, bei der Erklärung und Auslegung von Texten immer um die Erkenntnis geistiger Werte ging, deren Bestand die Menschen zutiefst in ihrem Sein berührte und für die sie, wenn es ihnen erforderlich schien, mit Leib und Seele eintraten. Der Synkretismus erfüllt eine wichtige Aufgabe. Er löst gleichsam die klassische Kultur Griechenlands auf, macht sie in ihren Teilen mundgerecht und zeugt damit für die Unvergänglichkeit des Erbes, indem er es mit neuem Leben erfüllt. Er überdeckt auch die reinen Formen des Griechentums und versperrt den direkten Zugang zu ihnen. Er umgibt sie wie das schlafende Dornröschen mit einer dichten Dornenhecke. Es ist, wie wenn die Fülle der Gesichte unfaßbar würde und sich den forschenden Blicken für immer entzöge. Was bleibt, sind die Ansehen heischenden Namen, welche mit magischer Kraft ausgestattet werden. Das aber, was hinter ihnen steht, die Schöpfungen ihrer Träger, entzieht sich der Erfassung, weil es die Züge der Wirklichkeit, der Einheit verloren hat. An die Namen aber kann sich der Glaube an die Autorität ihrer Träger heften und sie als Schiedsrichter und Gewährsleute aufrufen. Im gleichen Sinne verbindet sich auch kraft des Alters und der Bewährung das Beispiel und die weitergegebene, aus dem Zusammenhang gelöste Einzelheit mit dem Glauben an ihre ewig verpflichtende Gültigkeit. Als dritte Erscheinung, in der das antike Erbgut weitergegeben wird, ist die Verflüchtigung ins Geistige, die neue Sinngebung anzusehen, die es durch die Allegorie erhält. Ausschließliche Geltung gewinnen die drei Arten der Handhabung, welche das Erbe retten, Auctores, Exempla und Allegorie, gegen den Ausgang der Spätantike. Ihre Wirkung ist bis in unsere Tage zu verspüren. Man ist versucht, anzunehmen, daß mit ihrer Beseitigung oder ihrem Aufgeben auch die antiken Bildungsbestände gefährdet sind oder aus Ruhe und Gleichmaß gebracht werden. In den Grundzügen bestimmen sie ausschließlich das Verhältnis des Mittelalters zur Antike. Daraus gewinnen wir feste Maßstäbe zur Beurteilung des Mittelalters; denn in dem Zusammenhang, in welchem sich dieses Zeitalter zeigt, erfüllt es die Aufgabe der Vermittlung, der Wahrung einer Tradition, der Weitergabe einer ganz bestimmten, sich gleichbleibenden geistigen Haltung, die im Laufe der Zeit verblaßt, aber zu Beginn und am Schluß besonders deutlich in Erscheinung tritt. Man könnte sagen, eine Kreislinie kehre zu ihrem Ausgangspunkt zurück.

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Spätantike Stadtkultur

Die einheitliche Haltung ist bereits in der Spätantike vorgezeichnet; denn diese ist es — nicht das klassische Griechen- und Römertum — die immer wieder übernommen wird. Sie pflanzt sich fort, entwickelt sich weiter in neue Räume hinein, die ihrem Wesen nicht oder nur zum Teil entsprechen. Im Zeitalter des Hellenismus oder Synkretismus mit der Mittelmeerküste als Wirkungsraum äußert sich eine einzigartige, hochentwickelte Stadtkultur. Was da organisch zusammengewachsen ist, ist verschiedenster Herkunft: Orientalisches, Griechisches und Römisches breitete sich über den Resten der eigenständig gewachsenen Kulturen aus und wuchs zur Einheit zusammen, deren Elemente kaum aus dem Komplex zu trennen sind. Die Sprache dieser Kultur, das Griechische, bewies eine besondere Anpassungsfähigkeit, sei es im Handelsverkehr, im täglichen Leben oder bei der Unterhaltung über die schwierigsten Fragen. Feste Gewohnheiten erbten sich von Generation zu Generation fort, ohne daß über Sinn und Bedeutung nachgedacht wurde. Das Entscheidende lag in der Bewährung und Einheit der Bildung, in der Weite gemeinsamer Interessen und Gewissensangelegenheiten, der gemeinsamen, durch frische Zufuhr sich immer wieder erneuernden Kultur, deren Hauptträger der griechische Weltbürger war. Solange die Einheit dieser Kultur gewahrt werden konnte, behielten auch ihre Elemente die zeugende und zusammenbindende Kraft. Aus ihnen entwickelten sich die neuen Weltbilder und Systeme, die das Irdische, über dessen Wesen gesammelte Erfahrungen Auskunft gaben, und das Überirdische zusammenschlössen. Weltkörper und Himmelsordnungen entsprachen harmonischen Zahlenverhältnissen. Ihre Bedeutung, ihren Sinn und Einfluß auf das Menschenleben zu ergründen, geheime Kräfte sich dienstbar zu machen, um die Grenzen des Menschlichen überschreiten zu können, im Mikrokosmos die unfaßbaren Ordnungen des Makrokosmos und die unendlichen Weiten des Weltalls zu erkennen, die treibenden Geisteskräfte und ihre Äußerungen in den bewegten Himmelskörpern zu erfassen, deren Beziehungen zu den Menschen und ihrem Seelenleben herzustellen, das Verhältnis des Schöpfers zum Geschaffenen, Gottes zu Welt und Menschen festzulegen, Träume zu deuten, den Verstand zu üben, sich zur Schau des Unfaßbaren vorzubereiten: welche Fülle von Aufgaben, Lösungen und Möglichkeiten! Kein Wunder, daß der Sinn für das Vergangene und unmittelbare Geschehen in dieser Zeit sich wenig regte, daß sie arm ist an Geschichtsschreibern, aber umso reicher an Gottesgelehrten und

und ihre Auflösung

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Philosophen, die den geschichtlichen Stoff in ihrem Sinne und zur Erfüllung besonderer Zwecke verwerteten, daß es der Dichtung ähnlich erging, Inhalt und Stoff bedeutungsvoller waren als Formen und schöner Bau. Die breite Masse der Stadtbewohner, denen handwerkliche Arbeit und Handel das Brot gaben, zehrten geistig von einem ausgedehnten Uberlieferungsgut. In einem solchen kamen Stoffe von verschiedenster Herkunft und ungleichen Alters zusammen, deren Ursprung und Quellen nicht festzustellen sind. Wir stoßen da auf Stoffe und Motive, die uns von Eulenspiegel und Münchhausen her, aus Anekdoten, Wanderwitzen, Clownsspäßen, Marionetten-, Handpuppen- oder Schattenspielen und Märchen vertraut sind. Unter ähnlichen Voraussetzungen und Entstehungsbedingungen können sie von verschiedenen Ursprüngen kommen. Der prahlerische Soldat und der aufschneiderische Jäger sind nicht auf eine Heimat oder ein Volk beschränkt. Fest sind die Formen, in die sich dieses herrenlose Gut hüllt, fest die wesentlichen Inhalte, welche der einzelne nach seiner Fähigkeit ausschmückt oder mit eigener Zutat versieht, fest die Formeln, in denen das Gleiche oder Ähnliche immer wiederkehrt, fest auch die Tonfolgen und Rhythmen, je nachdem es der Anlaß erforderte. In den Äußerungen der Kunst, des Lebens, Verkehrs und Handels zeigen sich die gleichen Erscheinungen, welche Zeitaltern eigentümlich sind, deren Wesen nicht von den großen Persönlichkeiten geprägt sondern von den zusammengeschlossenen Gliedern einer Kulturgemeinschaft getragen wird. Innere Zersetzung und äußere Störungen lösten schließlich diese Kultur auf. Als Symptome der Zersetzung können die Werke von Lukian, der sich über die Wunderwelt der homerischen Dichtungen und die Spitzfindigkeiten der Philosophen lustig macht, und Martial, der sich über die Langeweile der klassischen Dichtkunst hinwegsetzen will, angesehen werden; als äußere Gründe der Auflösung müssen der Untergang des römischen Weltreichs, der neuen, kurzlebigen Germanenreiche, der Einbruch der Mohammedaner in Nordafrika, der Brand der großen Bibliothek in Alexandrien, die nie wieder ihresgleichen in der Welt fand, angesehen werden. Die drei Mächte, welche nun das Schicksal des Abendlandes bestimmen, sind Christentum, Germanentum und Antike. Zwar sind die künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen der Antike zertrümmert, ihre sichtbaren und unsichtbaren Schöpfungen zerstört, aber sie bewiesen dennoch lebenerzeugende Kräfte.

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Ende der kulturellen Einheit

Das Ausschlaggebende für Schicksal und geistigen Weiterbestand der Antike war die Auflösung der antiken Stadtkultur. Nun fehlte es an einer breiten Entwicklungsbasis. Von kleinen geistigen Gemeinschaften und traditionsbewahrenden Bildungsinstituten, den Klöstern und Schulen, wurde das Vermächtnis der Antike übernommen, gehütet und weitergegeben. Erst als sich die Bildungsgrundlagen wieder verbreiterten, mit dem Aufstieg der spätmittelalterlichen Stadtkultur ergaben sich neue Möglichkeiten zur Aneignung und breiteren Ausnutzung des Erbes. Seine Teile, die sich, um ihr Eigenleben zu erhalten, den Bedürfnissen der Zeit angepaßt hatten, begannen sich wieder zum Ganzen zusammenzuschließen. Nie wieder aber ist eine solche lebendige, weltumspannende kulturelle Einheit geschaffen worden. Ihr Abglanz begegnet uns im Zeitalter des Humanismus. Dieser erfüllt seine universale abendländische Sendung in der Bemühung um den Zusammenschluß der Gleichgesinnten. Er glaubte, sein Ziel durch die Wiederherstellung der sprachlichen Reinheit des klassischen Latein erreichen zu können. Es ist seine Tragik, daß dieses Ausdrucksmittel nur eine geistige Elite, eine Aristokratie der Wissenden vereinigte, daß die Voraussetzungen und Grundlagen kultureller Einheiten schließlich doch von den einzelnen Völkern in deren Nationalsprachen geschaffen und gelegt werden konnten. Somit bedeutet die Wiedereroberung oder Wiedergeburt der Antike, die Wiedergewinnung der geistigen Haltung des Synkretismus zugleich auch das Ende dieser geistigen Einheitskultur, welche sich so lange bewährt hatte. Damit ist dieser entwicklungsgeschichtliche Vorgang nur im Hauptstrang dargestellt; denn gleichzeitig mit dem Einbrechen des Mohammedanismus in das südöstliche Mittelmeergebiet und dem Werden des christlichen Abendlandes vollzieht sich die Auflösung der hellenistischspätantiken Einheit in der arabischen Welt und die Aufnahme der einzelnen Teile in das Mittelalter, dessen Werden und Entwicklung unmittelbar an die römische Überlieferung anschließen. Ein Blick auf die Verständigungsmittel der Menschheit, die Sprachen und ihren Geltungsbereich, läßt diesen Vorgang deutlich erkennen. Während sich die griechische Sprache als Kulturträgerin in das byzantinische Reich zurückzog, weitete sich im westlichen Abendland der Geltungsbereich der lateinischen Sprache. Dadurch legten sich über den Zugang zum klassischen Griechentum viele Hindernisse. Seine Wiedergewinnung und Nutzbarmachung für das Abendland waren des Schweißes der Edlen wert.

29 IV. Umfang und Schicksal des antiken Erbes — Kräfte, die seine Wirkung bestimmen — Windel der Auffassungen und Deutungen — Schwieriges Erfassen geschichtlicher Erscheinungen und Vorgänge — Ordnungen — Periodisierung

Die Geschichte des antiken Erbes im Abendlande läßt sich mit verschiedenen Erscheinungen vergleichen, mit verschiedenen Bildern von Bewegungsvorgängen veranschaulichen. Wenn wir uns Vorgänge und Entwicklungen im geistigen Leben der Vergangenheit vergegenwärtigen wollen, so müssen wir uns darüber klar sein, daß die Phase, welche wir vielleicht annähernd festhalten, nur eine einmalige Situation zeigt, deren Einmaligkeit aber erst dann zum Bewußtsein kommt, wenn bereits eine andere Phase eingetreten ist, deren äußere Umrisse und Kern mit denen der ersten Phase schon längst nicht mehr übereinstimmen. Der Umfang des Wissens um die Antike, der seit dem Zeitalter des Humanismus zunimmt, steht in keinem festen Verhältnis zum Ausmaße ihres Wirkens. Es kommt auch auf die innere Beziehung zur Antike an und damit spielt eine schwer darstellbare Größe in die Überlegungen und Erkenntnisse hinein. Wie wenige antike Kunstwerke sahen Winckelmann und Goethe im Original oder in Gipsabgüssen und noch dazu in welchen! Was schlummert im 18. Jahrhundert noch lang unter der Erde, bis es aus Rom, Pompeji, Korinth, Mykene, Athen, Pergamon auferstand! Es darf also nicht allein auf Masse und Stoff ankommen, sondern wichtig sind vor allem die treibenden und gestaltenden Kräfte, die Disposition zum Verstehen. Diese geistig gestaltenden Kräfte, Idea oder Forma, sind ein Vermächtnis der Antike. Es ist festzuhalten, daß die allgemeine ästhetische Theorie des Abendlandes bis in das 19. Jahrhundert hinein das griechische Wort Idea und seine lateinische Entsprechung Forma im Sinne der Beseelung eines Werkes durch geistige Kräfte auffaßt. Wenn diese geistigen Kräfte auch im Wandel der Zeit ihre Wirkung verändern, an Macht, Ansehen und Bedeutung einbüßen, wenn auch die äußere Erscheinung erstarrt, ihre frischen und lebendigen Farben verliert oder sonst Einbußen erleidet, wenn Schablone und Konvention den Begriff der Kunst und des Schöpfertums ersetzen: das Göttliche, der Funke, aus dem das Prometheusfeuer in glücklichen Augenblicken auf-

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Wandel der Auffassungen und Deutungen

lodert, bewährt sich doch als Licht und Wärmespender. Der Segen oder Fluch der Vergänglichkeit liegt in seinem Wesen. Es gibt also kaum eine Erscheinung, ein Motiv, eine Gestalt, eine Persönlichkeit oder ein System, das einem solchen Schicksal oder Wandel in der Beurteilung nicht unterworfen gewesen wäre. Verfolgt man, soweit es mit unseren Mitteln möglich ist, diesen ständigen Wandel und sucht man nach seinen Gründen und Ursachen, so kann man nicht selten feststellen, daß eine vom Standpunkt ihres Anregers oder Schöpfers gerechtfertigte oder aus innerer Überzeugung vorgetragene Auffassung — mag sie noch so zeitgebunden und ungerecht sein — sich immer wieder mit dem beurteilenden Gegenstand verbinden kann und eine beinahe ebenso zähe Lebenskraft wie er selbst bewährt. Haben wir ein Recht, von Irrtümern, Befangenheiten, Naivitäten oder Anmaßung zu sprechen? Diese so oft beobachtete Erscheinung sollte uns die Verantwortung zum Bewußtsein bringen, die wir auf uns nehmen, wenn wir als Erklärer und Deuter behaupten, wir erst hätten die Wahrheit gefunden. Die andauernde intensive Beschäftigung der Humanisten und klassischen Philologen mit der Antike, die scharfsinnigen Festlegungen der Chronologie, die Erklärung der Texte und Heranziehung der Scholien lösen das einheitliche Gesamtbild der Antike in seine Bestandteile und Entwicklungsphasen auf. So wurde die Voraussetzung zu einer geschichtlichen Erfassung der einzelnen Teile, Persönlichkeiten, Erscheinungen und Vorgänge geschaffen. Sie sondern sich gleichsam von der Masse ab. Damit ist nicht gesagt, daß die vorhergehende Zeit nichts über die Reihenfolge der Geschehnisse wußte. Wohl kannte man die Reihe der römischen Könige, die Schicksale der Republik und die lange Kette der Kaiser. Aber die Vorstellungen, die man davon hatte, zeigen, daß die Verhältnisse der eigenen Zeit unbedenklich in die Vergangenheit verlegt wurden. Nicht nur die Consules als Bürgermeister von Rom oder die bildlichen Darstellungen der Schlachtenszenen setzen ein solches Bild voraus, in dem Vergangenheit und Gegenwart in Eins gesehen werden, sondern auch die Vorgänge im täglichen Leben von der Arbeit und jeglicher Beschäftigung angefangen bis zu den Vorstellungen und Fragen der Religion und Politik werden von der Gegenwart aus gesehen und erkannt. Wohl wußte man im allgemeinen über das Alter der Erscheinungen Bescheid, aber man war sich weder über die Entwicklung klar noch über die Wandlung der Bildungsverhältnisse. Man sieht die eigene Zeit in die Antike

Schwieriges Erfassen — Ordnungen

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hinein, wenn man Orpheus als fahrenden Sänger betrachtet, Laertes, den Vater des Odysseus, auf einem Krongut im Gau arbeiten läßt, wenn die Erscheinungen gegenwartsnah aufgefaßt und beurteilt werden, wenn die Gestalten der Antike gleichsam in die Gewänder einer späteren Zeit hineinschlüpfen und sich mit ihnen verwandeln. Da kann es sein, daß dieses oder jenes Gewand ihrem Wesen und Lebensstil nicht schlecht entspricht, aber im Ganzen wirken diese Bilder auf eine noch spätere Zeit, die mehr über die Antike weiß, wie eine ungewollte Parodie. Eine Zeit, der längst schon die Schönheit der antiken Statuen zu einem künstlerischen Erlebnis geworden war, die wußte, daß die Reliefdarstellungen auf den antiken Triumphbogen, Säulen und Sarkophagen Wirklichkeiten abbildeten, spiegelte dennoch ihr eigenes Wesen oder auch das ideale Vorbild ihres Menschentums im klassischen Altertum und war sich über die geistigen Grundlagen, Wachstums- und Entwicklungsbedingungen, die notwendige Folge der Erscheinungen, doch nicht klar. Das Bemühen um die Erkenntnis des einheitlichen Ablaufs einer so großen Bewegung wie der Wandlung und Nutzbarmachung des antiken Erbes verlangt nach der Bestimmung fester Punkte: Anfang, Ende, Ausgehen von Entwicklungen, Aufstieg und Niedergang. Es ist eine der vielen Aufgaben der Wissenschaft vom Vermächtnis der Antike, im Chaos sinnvolle Ordnungen zu erkennen. Werden die Ordnungen von der Idee aus gesucht und gefunden, so vollzieht sich der Vorgang in umgekehrter Reihenfolge wie dann, wenn der sinnvolle Zusammenhang von den Wirklichkeiten und Gegebenheiten aus erschlossen wird. Für die Ordnung an sich ist es gleichgültig, ob sie auf dem ersten platonischen oder dem anderen aristotelischen Wege gewonnen wurde. Zum Unsegen wirkt sie sich als festes Schema im zweiten Falle häufig aus. Auch zeitliche Ordnungen können einen solchen Systemzwang ausüben und damit den Weg zu den Erkenntnissen verbauen. Das Bild des Wachstums, Absterbens und Wiedergeborenwerdens läßt das geistige Leben zu ausschließlich als Organismus erscheinen, während es etwa unter dem optisch-geometrischen Bild eines sich bewegenden und verändernden Kreises einseitig als Mechanismus angesehen wird. Ein Kompromiß zwischen beiden Betrachtungsweisen ist unmöglich, ein Wechsel zwischen ihnen stört die Einheit der Anschauung und Auffassung. Die vorliegende Darstellung, welche einer geschichtlichen Entwicklung zu folgen hat, verzichtet darauf, den Stoff in Gruppen und

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Periodisierung

Untergruppen unterzubringen oder schematisch in Abschnitte aufzuteilen. Das heute oft mißverständlich gebrauchte Wort Periode — Periodos — bedeutet den Weg oder Gang um etwas herum, das heißt, daß die Kreislinie eine als Einheit zu fassende Erscheinung von ihrer Umgebung deutlich abgrenzt und damit einen in sich geschlossenen harmonischen Inhalt versinnbildlicht. Die Kreislinie kann aber auch im Hinblick auf ihre zeitliche Entstehung angesehen werden. Die Entfernung von ihrem Ausgangspunkt erfolgt auf dem Gang des Kreisbogens, sodaß der nach der Zurücklegung eines Halbkreises im Abstand eines Durchmessers vom Ausgangspunkt her erreichte Punkt die weiteste Entfernung vom Ursprung bezeichnet. Dann kehrt der Weg auf dem Umfang des anderen Halbkreises zurück, wodurch jeder Punkt des einen Halbkreises seinen Gegenpol im anderen Halbkreis erhält. So kann der Kreis das Sinnbild zugleich einer in sich geschlossenen Kulturperiode, die als Einheit erkannt wird, sowie eines geschichtlichen Ablaufs sein. Der erreichte Endpunkt ist aber — das muß festgehalten werden — nicht gleich zu bewerten mit dem Anfangspunkt. Der abschließende Punkt hält seinem Ursprung den Spiegel vor. In ihm wohnt eine Erfahrungspotenz, die der Anfangspunkt nicht besitzt. In diesem Sinne verstehen wir den Periodos, wenn wir nun das Gerüst des abendländischen Geistesaufbaus entwerfen, große Geltungsbereiche gemeinsamer Haltungen und Ziele abstecken und den gewaltigen Stoff in sinnzusammenfassende Kreise stellen.

V. Das Verhältnis des Menschen zum antiken Erbe — Mittelalter, Wiedergeburt und Wiedergewinnung in ihrem Verhalten gegenüber den drei Stufen der Antike als Grundriß und Gliederung dieses Buches — Ihre geistigen Haltungen — Andere Gliederungsmöglichkeiten

Bei der Darlegung der Periodisierungsgrundsätze hat sich gezeigt, daß der Gegenstand eine entwicklungsgeschichtliche Behandlung und das Bedürfnis nach Übersicht die Setzung von Marksteinen erfordern. Die weite Strecke, die wir uns zu durchmessen vorgenommen haben, durchwandert jeder einzelne, der sich ehrlich um die Erfassung der Antike bemüht. Man gelangt über die Erwerbung der elementaren Sprachkenntnisse, die Lektüre der Denkmäler zum Verständnis und

Marksteine

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zur Erklärung ihrer Inhalte. Aus diesen formt sich allmählich ein Bild, dessen Sinn und Bedeutung mühsam errungen werden müssen. In bestimmten Lebensphasen üben gewisse Einzelheiten eine besondere Anziehungskraft aus und stoßen auf ein mitfühlendes Verstehen. An ein Ende gelangt der einzelne auch in einem arbeitsreichen Leben nie und gar den Weitergang der Entwicklung zu bestimmen, vermag er nur in beschränktem Maße. Auf das stetig sich wandelnde Verhältnis der Menschen zum Erbe der Antike übertragen und unter der Voraussetzung, daß sowohl die Masse des Stoffes wie die Seelenhaltungen, in denen er aufgenommen und verarbeitet wird, sich ändern, sehen wir die geistige Zucht einer Lehrzeit, deren Wesen exempla und auctores bestimmen, sodann ein mutiges Vorwärtsstoßen in neue geistige Räume, eine Zeit des überlegten Sammeins und Sichtens der gewonnenen Erkenntnisse und schließlich eine Periode besinnlichen Uberblickens von langen Entwicklungen. Spätantike und Mittelalter, sodann Renaissance, Humanismus und Barock, schließlich Irrationalismus, Idealismus, Liberalismus und Nationalismus können wegen ihrer einheitlichen Haltung als drei gesonderte, große Räume auseinandergehalten werden. Der erste erfüllt im großen Zusammenhang die Aufgabe der Vermittlung des Erbes, im zweiten beginnt der Aufstieg des klassischen Griechentums, doch tritt dieses noch weit hinter das Römertum zurück. Im dritten endlich leuchtet die Sonne Homers, strahlt die Schönheit Athens, das heißt: das klassische Griechentum wird wiedergewonnen. Da erst wurden die drei Stufen der Antike, die in umgekehrter Reihenfolge wieder mühsam erklommen werden mußten, erkannt: klassisches Griechentum, klassisches Römertum, hellenistische Einheitskultur im Mittelmeerraum. Deshalb setzen wir um die Wende zum 14. Jahrhundert in der Umwelt Petrarcas den ersten und um die Wende zum 18., als der wahre Homer und der echte Platon wiedergewonnen wurden, den zweiten Markstein. Einen abschließenden in unseren Tagen zu setzen, da die Urgeschichte und das denkende Bemühen vor Sokrates besonders viele gelehrte Interessen auf sich ziehen und die Einstellung zur Kunst der Antike und ihren geistigen Hintergründen durch die Ausgrabungen von Kunstwerken der Früh- und Blütezeit tiefgreifender Wandlung unterworfen ist, wagen wir nicht. — Die Renaissance gewann das klassische Römertum und die Spätantike wieder. Von Irrationalismus, Idealismus und Romantik wurde die Bedeutung des 4 N e w a l d , Nachleben

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Grundriß und Gliederung

klassischen Griechentums erkannt. Aus dem Chaos unserer vernichteten oder wenigstens auf harte Bewährungsproben gestellten Kultur blicken wir zurück in das Urzeitalter griechischer Weisheit, die sich darum bemühte, Ordnungen zu erkennen und zu schaffen. So schließen sich ohne Zwang und Gewalt drei große Entwicklungsphasen zum Ganzen zusammen und können in drei konzentrischen Kreisen versinnbildlicht werden. Wenn in diesem Buche die drei konzentrischen Kreise als Grundriß für die Gliederung und Periodisierung dienen sollen, so ist damit weder der Organismus des Stoffes durch einen Mechanismus ersetzt, noch ein Gebilde, das sich in drei Dimensionen ausdehnt, in zwei gepreßt. Dieser Grundriß ist im Sinne der Projektion eines Körpers auf eine Fläche zu verstehen. Wird durch die drei Kreise ein waagerechter Durchmesser gezogen, so entstehen zwei gleiche Teile — ein oberer und ein unterer — deren jeder aus einem inneren Halbkreis und zwei ihn umgebenden halben Ringen besteht. Der äußerste obere Ring versinnbildlicht das klassische Griechentum, der anschließende innere das klassische Römertum und der Halbkreis die Spätantike. Somit enthält die obere Hälfte des Grundrisses die Projektion des Antikeraumes, wie die untere den Nachlebenraum zeigt, dessen drei Teile von innen nach außen als Mittelalter, Wiedergeburt und Wiedergewinnung bezeichnet werden, die voneinander annähernd abgegrenzt werden durch die Jahreszahlen 1300 und 1700. Somit schließen sich Spätantike und Mittelalter in einem Kreis zusammen, der auch die einheitliche Bezeichnung Vermittlung trägt. Klassisches Römertum und Wiedergeburt, sowie klassisches Griechentum und Wiedergewinnung vereinigen sich in den beiden nacheinander gefügten Ringen. Der innerste Kreis umschließt, wie gesagt, in seiner oberen Hälfte die Spätantike, in seiner unteren das Mittelalter. Die Einheit dieses Periodos wurde durch die gleiche geistige Haltung gegenüber dem Erbe der Antike gebildet. Das Erbe wurde nicht als Gesamtheit und organisch gewachsenes Bildungsgut, als geschlossenes System oder als Werk einzelner Persönlichkeiten übernommen und weitergegeben. Es wurde vielmehr in größere und kleinere Bruchstücke aufgeteilt, die als Motive, Ornamente, Leseblüten, Formeln und Elemente in einem breiten, überlieferungsgebundenen Bildungsstrom ihre Wesenheit bewahrten. Die Persönlichkeiten verloren ihre Eigenart; denn ihr Wesen wurde aus späten Kompendien von mosaikartig zusammengefügten Lebensbildern erschlossen, aus einem Gemisch von einzelnen Zügen

Die Antike und das christliche Weltbild

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und Anekdoten, nach deren innerer Wahrheit niemand fragte. Niemand bemühte sich, einen der weisen Meister oder vorbildlichen Dichter aus der Einheit von Schöpfer und Werk zu begreifen. Die kritische Scheidekunst schlummerte noch. Bei dieser Einstellung zu den Erscheinungen und dem überlieferten Material ist es nicht zu verwundern, daß sich neben der echten Antike eine Pseudoantike auftat, Schrifttum und Bildungsgut, das aus alten Elementen neu geschaffen wurde und sich Verbreitung und Ansehen durch einen berühmten Namen sicherte. Intuitives Stilempfinden, Einfühlungsvermögen, Nachahmungstrieb und Geltungsbedürfnis waren die Triebfedern dieser eigentümlichen Werke; viel weniger wurden sie von dem Bestreben geschaffen, die Mitmenschen und Nachfahren zu täuschen. Wahrheits- und Echtheitsbeweis erbrachte ein Name, ein Gewährsmann; er haftete für die Richtigkeit wie ein Augenzeuge. Damit war die Sendung der Antike für den ganzen Zeitraum im wesentlichen erfüllt. Der Gewährsmann war nach dieser Auffassung bis an die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit durchgedrungen, das heißt, er hatte die rein menschlichen Fähigkeiten erschöpft. Ihm fehlte das göttliche Licht, die niedersteigende Gnade, die Offenbarung des Weltlenkers. Deshalb konnte der Christ über den alten Griechen und Römer triumphieren, dem solche Möglichkeiten fehlten. Aber er stand doch so stark unter dem Eindruck des ihm als Erbgut übertragenen Wissensstoffes, den er in Einzelheiten und in der Gesamtheit durch enzyklopädische Werke auf weite Strecken vergeblich sich anzueignen bemüht war, daß Versuche, darüber hinauszukommen, antike Gedanken, Lehren, Erfahrungen, Instrumente und Methoden durch neue zu ersetzen oder zu vervollkommnen und selbständig weiterzudenken, ganz selten sind. Eine der Hauptaufgaben des Mittelalters war es, die antiken Reste und zersplitterten Teile im christlichen Weltbild unterzubringen. Erst mit der langsamen Überwindung dieser Haltung begann eine neue Zeit, in der sich das Verhältnis zum antiken Erbgut änderte, in der dieses gleichsam zu einem neubeseelten Baustoff wurde und das Denken der Zeit beschwingte. Das wird besonders auf dem Boden der Welterkenntnis in der Überwindung des ptolemäischen Systems und der mühsamen Beseitigung seiner dogmatischen Geltung offenbar. Zugrunde lag diesem Vorgang das Erwachen der Kritik an feststehenden Ordnungen, deren Gültigkeit nun mit kühn angemaßtem Recht bezweifelt wurde, weil Erfahrungen und Beobachtungen sich nicht mehr

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Befreiung des Denkens

der Autorität fügen konnten. Forscherdrang, Wahrheitssehnsucht und Überdruß an einer von sinnlos gewordenen Dogmen niedergehaltenen geistigen Unselbständigkeit waren die Triebfedern der sich befreienden Menschheit. Einst hatte sie sich aus der Freiheit des klassischen Griechentums langsam unter das Joch geistiger Abhängigkeit gestellt, und nun begann sie, die Riemen und Knoten zu lösen. Dieses Bild soll aber nicht den Eindruck entstehen lassen, als sei damit diese große geistesgeschichtliche Periode, welche fast eineinhalb Jahrtausende umspannt, als sinnloser Stillstand gekennzeichnet oder schlechter bewertet als andere. Wir sehen aus dem Druck, den das antike Bildungsgut ausübte, und an den gleichartigen Auseinandersetzungen mit ihm, welche Macht es besaß, und daß diese Zeit des scheinbaren Stillstandes oder Niederganges nötig war. Die geistige Aneignung des antiken Erbes erfolgte nur zum Teil von den Enkeln und unmittelbaren Nachkommen des Erblassers; mehr war von jenen Völkern zu leisten, die erst gleichsam in dieses Bildungsgut hineinwachsen mußten. Von diesem Standpunkt aus könnte man das Mittelalter die erste große Lehrzeit der abendländischen Völkergemeinschaft nennen und muß dann noch besonders auf die Bemühungen der semitischen, asiatischen und slawischen Völker sowie ihre kulturschöpferischen Leistungen aus dem griechischen Erbe hinweisen. Über der Einheit dieses innersten Kreises faßt der mittlere Ring eine bewegtere geistige Welt zusammen. Er schließt das klassische Römertum und das ganze Zeitalter der Wiedergeburt zu einer Einheit zusammen. Im Wesentlichen geht es um die Wiedergewinnung des Römertums, seiner geistigen Haltungen, literarischen und zivilisatorischen Leistungen. Daraus erklärt es sich, daß die romanischen Völker in hervorragendem Maße an dieser neuen Entwicklung beteiligt sind. Man kann auch von einem philologischen Zeitalter sprechen, weil seine Leistungen an den alten Texten, in Ausgaben und Übersetzungen bleibende Werte wiedergewannen und festhielten. Gesetzgeberische Strenge und organisatorischer Sammeleifer hielten einander die Waagschale. Die Bildungsziele richteten sich an den antiken Vorschriften der Schule, Poetik, bildenden Kunst, Arzneikunde, Technik, ja sogar des Bauwesens und der Kriegsführung aus. Beispiel und Ansehen behielten ihre verpflichtende Gültigkeit. Die Bedürfnisse der Zeit fügten sich einer aus der Antike gezogenen Norm. Das Ideal des Hofmannes und Diplomaten, des weltgewandten Politikers und Kavaliers, des eindrucksmächtigen Redners und des von mäzenatischen

Wiedergewinnung des Römertums

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Gönnern begünstigten Dichters ruht auf antik römischer Grundlage. Noch war das äußere Bild nicht in allen der Wahrheit entsprechenden Zügen wiedergewonnen, noch war die antike Welt der Götter und Genien, der Heroen der Tapferkeit, des Wagemuts und der Weisheit in Sphären gerückt, die keines Menschen Fuß betrat. Aber das Interesse an allem, was die Antike schuf, an Denkmälern, Münzen, Gemmen, Ruinen, Inschriften und Trümmern nahm zu. Das Odium des Heidentums, das sie umgab, verließ sie langsam, es legte den Menschen keine Zurückhaltung mehr auf, obwohl Darstellungen und Schilderungen von Liebe und Sinnlichkeit der Sitte und Konvention noch gefährlich werden konnten. Deshalb wurde der jugendliche Leser bevormundet, er sollte von den Abgründen zurückgehalten werden und keinen Blick werfen in eine Welt, der das Menschliche in seinen freiesten und natürlichsten Erscheinungsformen nicht fremd war. Es ist ungerecht, von Gliederpuppen, gespreizten Haltungen, allmächtiger Konvention und lastendem Zwang des Gesetzes zu sprechen; denn mit den wiedergewonnenen Stoffen, Gestalten, Motiven und Systemen verbanden sich Bedürfnisse und Bestrebungen des geistigen Lebens der Zeit. Die Formen füllten sich mit sinnvollem Gehalt. Das Eigenwüchsige verband sich mit dem Gedankengut des antiken Erbes, das in eine gleichsam beschwingte Bewegung gerät, errungen und erworben wird. Was uns an den Bildern und Erscheinungsformen starr anmutet, rührt von dem lastenden Vermächtnis einer Vergangenheit her, von dem man sich langsam befreien mußte. Erst der Überdruß an der pathetischen Haltung, die Aushöhlung des tragenden Sinnes und die Erschöpfung der Ausdrucksmittel führten diese Entwicklung die Bahnen sacht hinab und stärkten den Willen, in einen anderen geistigen Raum vorzustoßen. Je stärker Wunsch, Sehnsucht und Wille waren, ein neues Weltbild zu schaffen, umso eindringlicher schallte der Ruf: »Zurück zu den Quellen!« Mit der Forderung des Apostels einer neuen Epoche »Zurück zur Natur« und der leidenschaftlichen Ahnung: »Natur, Natur, nichts so Natur wie die Griechen!« wendete sich das aus dem Dunkel ins Helle strebende Geschlecht der Einmaligkeit des Griechentums zu. Damit wird der zweite Ring und der dritte konzentrische Kreis erreicht. Er umschließt das wiedergewonnene klassische Griechentum mit der neuen von der Idee her bestimmten Weltanschauung, die ähnlich der griechischen nur glaubt, was sie in redlichem Bemühen erkannt und sich erarbeitet hat, was sie aus der Erfahrung weiß, deren Zeit-

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Wiedergewinnung des Griechentums

gefühl mit den einzelnen Epochen der Vergangenheit feste Vorstellungen verbindet. Sie warf endlich die Fesseln und Bindungen der exempla und auctores von sich ab, gewann die einzelnen Erscheinungen als Gesamtheiten und in sich geschlossene Organismen wieder. Sie entdeckte den Menschen wieder als das Maß aller Dinge. Ihre Ordnungen beugten sich keiner Starrheit und keinem Zwang, sie ergaben sich wie von selbst aus der Natur der Dinge. Worte wie Harmonie, Kalokagathie, Sophrosyne, Anmut, Würde kehrten nun auf eine kurze Zeit unter den Menschen ein. Es öifneten sich die Grenzen zwischen Natur, Kunst, Ethos und Recht, zwischen Religion und Bekenntnis, weil sich der einzelne freiwillig unter dem Gesetz seiner Bildung an ewig gültige Ordnungen band, die im klassischen Griechentum zuerst weithin sichtbare Geltung hatten. Diese Klassik, an deren Formung der deutsche Geist einen hervorragenden Anteil hat, ist eine Schöpfung für wenige Augenblicke und gleicht in einzelnen Merkmalen dem Höhepunkt eigenständiger griechischer Kultur. Von der gewonnenen Höhe führte der Weg wieder talwärts. Wenn wir in der Wiedergewinnung des Griechentums das bestimmende Kennzeichen dieses letzten Periodos erkannten, so muß betont werden, daß dieser ganze Vorgang schon sehr früh, etwa gleichzeitig mit der Wiedergeburt des Altertums einsetzt, daß seine erste Entwicklungsstufe die Wiedergewinnung des klassischen Römertums war, in dem schon viele Elemente der griechischen Bildung wieder zum Leben erstanden und für die Bildung wirksam geworden waren, daß diese zuerst erworben und angewendet werden mußten, daß die in die Zukunft rüstig Hineinschreitenden schließlich jeden Stab und jede Stütze von sich werfen konnten, als sie dem klassischen Hellas Äug' in Auge gegenüberstanden. In vielen geistigen Bezirken ist die gleiche Erscheinung zu beobachten, wenn auch nicht überall zur selben Zeit. Wenn wir mit dem Bild der drei konzentrischen Kreise einen Grundriß für die Gesamtdarstellung gewannen und geistige Vorgänge aus drei Jahrtausenden als bewegte Einheit zu erkennen glauben, die Wiederbelebung alten Bildungsgutes und seine Vereinigung mit dem Streben der Nachgeborenen als einen Prozeß zu erfassen bemüht sind, so müssen wir uns bewußt bleiben, daß die Bauten, die sich darüber erheben, nicht nach vorgefaßten Plänen ausgeführt wurden, daß sich andere Grundrisse über den ersten legten und alles ein anderes Antlitz bietet, wenn sich die Blickpunkte ändern, von denen aus die Schau erfolgt.

Entwicklungsphasen

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Geht man den Schöpfungen und Leistungen der Antike nach, so läßt sich beobachten, daß im 11. Jahrhundert viele bis dahin immer noch wirksame Elemente ihr inneres Leben verloren, daß auf vielen Gebieten ein Punkt der weitesten Entfernung von der Antike erreicht wurde, und dann zuerst kaum merklich das Bemühen um die Wiedergewinnung der alten Kulturgüter und deren Verschmelzung mit den geistigen Bedürfnissen der Zeit einsetzte. Einzelne literarische, vor allem prosaische Formen der Spätantike jedoch verloren erst im 16. Jahrhundert ihre Bedeutung und wurden dann durch neue oder antike, von neuem Geist beseelte ersetzt. Dieser Vorgang tritt am deutlichsten mit dem Einsetzen des Schrifttums über die Theorie der Literatur und Kunst in Erscheinung. Auch am Schicksal der antiken Götter lassen sich einzelne entscheidende Entwicklungsphasen festlegen. Schon die philosophischen Systeme und Spekulationen der Antike stellten das Dasein der homerischen Götterwelt in Frage. Dämonenglaube und mathematisch-astronomische Zahlenharmonie wiesen den Göttern in den höheren Himmelsregionen neue Wirkungskreise zu. Sie lösten sich gleichsam in der Natur, in den Elementen auf oder vereinigten ihr Dasein, das nur noch der Name als Symbol oder konventionelles Zeichen weitertrug, ganz mit den Planeten. Als solche gewannen sie mit der Sternenweisheit wieder Gewalt über Menschen und Schicksale. Magie und verbotene Kunst nahmen sie bereitwillig im Reich der Dämonen auf, so daß sie auch in die Hölle versetzt werden konnten. Dann erstanden sie aus dem Planetenglauben, der Zahlenspekulation, den zukunftverkündenden Orakeln zu neuem Leben und strahlender Schönheit in der Kunst der Renaissance und vereinigten oft ihre Gestalt und ihre Symbole mit den Allegorien der Tugenden und Laster. Das weitverzweigte Schrifttum über die Genealogie der Götter, die neue Versenkung in Ovids Verwandlungen und Fasten schlug Brücken zum Weissageschrifttum, den Bemühungen um die Kalenderreform und das neue Weltbild, das an die Stelle des alten ptolemäischen trat. Über die Allegorie endlich erschloß sich erst das wahre, ursprüngliche Wesen der homerischen Götter bei der Wiedergewinnung des Griechentums. Ein anderes Grundrißgerüst ergibt das Schicksal der beiden großen griechischen Philosophen Platon und Aristoteles, ihrer Systeme und ihrer Gedankenwelt im Abendlande. Wirkenskräftig erhielt sich der Platonismus auf weiteste Strecken bis in die Gegenwart in seiner spätantiken neuplatonischen Formung. Erfolgreicher widersetzte sich

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Platon und Aristoteles

das System des Aristoteles den Anpassungs- und Auflösungsbestrebungen der Spätantike. Über Naturphilosophie, mystische Schau, Geheimlehre und -kult stellte sich eine wichtige Verbindung mit dem Christentum her, das daraus manche wenn auch mitunter seine ursprüngliche Gestalt bedrohenden Kräfte gewann. Der Neuplatonismus konnte der orientalischen Schau und dem Erkenntnisbemühen des Ostens besser entgegenkommen als die Geistesklarheit und Erfahrungswissenschaft des Aristoteles. Sehr früh schon setzte das Bestreben ein, die beiden antiken Systeme zur Einheit zusammenzuschließen, in den Brücken, welche die allegorische Deutung Philos zwischen der Bibel und Homer schlug. Ähnlich bemühten sich die späteren Kirchenväter um den Einbau des Aristotelismus und Neuplatonismus in das Christentum. Auf gleichen Pfaden wandelten Augustin und Boethius, sie nahmen eine Haltung ein, die Bessarion wieder aufnimmt. Die Bemühung um eine endgültige Einheit des neuen christlichen Weltbildes und die Heranziehung antiker Elemente krönte die Summa des Thomas von Aquino. Aber in diesem Werke triumphierte Aristoteles über Platon. Das Kräftespiel, das die beiden antiken Philosophen entfesselten, ist immer wieder zu beobachten. Immer bewegt sich das Pendel, nie steht es ganz still in der Einheit. In allen Mystikern und Naturphilosophen lebt Platons Geist, der Neuplatonismus schlägt seine Zelte in der Renaissance des 12. Jahrhunderts und besonders in den französischen Bildungsstätten Chartres und St. Victor auf; über die Araber und Hoch- und Spätscholastik gewinnt Aristoteles das Antlitz d e s Philosophen und der absoluten Autorität, die dem sich den Wirklichkeiten zuwendenden Sinne der Zeit, den geistigen, wirtschaftlichen und politischen Forderungen entsprach. Die Rettung des Aristoteles, welche später Georg von Trapezunt versuchte, indem er Platon zu einem Fälscher und Zauberer machte, zeigt, daß alles Bestreben, auch das des Cusanus und Bessarion, Platonismus und Aristotelismus in einem System zusammenzuschließen, ein fruchtloses Beginnen ist. Die Spannungen zwischen den beiden Gedankenwelten konnten nie für lange Zeit ausgeschaltet werden. Man begreift aber, daß dieser Versuch immer wieder unternommen wurde und doch nur selten so glückte, daß er in die Weite oder gar für immer seine Geltung bewahren konnte. Mit der Zurückweisung des platonischen Verleumders setzt der merkbare Aufstieg Platons im Zeichen seiner Landsleute Gemistos Plethon und Bessarion ein. Die reine platonische Lehre aber wurde erst wieder im 18. Jahrhundert

Ausgleich ihrer Systeme

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über den Neuplatonismus zurückgewonnen. Da erst vollzog sich die klare Scheidung der nun gleichberechtigt nebeneinander stehenden Systeme, welche RafFael in seiner Schule von Athen schon längst vorweggenommen hatte. Der Ausgleich zwischen den beiden Systemen kann nur dann hergestellt werden, wenn ihr Daseinsrecht festgelegt und ihr Geltungsbereich abgesteckt wird. Das war erst möglich, als die Systeme aus den Texten erschlossen waren, als die Echtheit der Werke feststand, deren Chronologie und Entstehungsbedingungen sich zeigten, als sie sich als historisch gewordene Organismen offenbarten, als man wußte, daß nicht mehr beliebige Teile aus dem System genommen werden konnten. Weder das Ergebnis von Vereinigungs- und Ausgleichsbestrebungen noch der Kampf zwischen den beiden Systemen, von denen eines zur absoluten Geltung drängte, boten die Möglichkeit, die beiden Weltauffassungen Platons und Aristoteles' wiederherzustellen. Nun erst konnten sie nebeneinander bestehen wie einst. Jedes System hatte seine besondere Bedeutung, seine Verdienste und Vorteile, jedes bedarf des Maßes; denn beider Geschichte zeigt, daß ein übersteigerter Platonismus in phantasievolle Spekulationen ausartet und ein übertriebener Aristotelismus in festen Ordnungen erstarrt. Wie die mittelalterliche Philosophie ihren Höhepunkt erreichte und ihre Vollendung fand in der Anpassung des aristotelischen Systems an die höchsten geistigen Bedürfnisse und Bestrebungen, so fand die poetische Theorie, die neue Wissenschaft und Grundlegung der Philologie, in der Poetik des Aristoteles ihr Gesetzbuch. Auch in dieser Disziplin wurde ein Ausgleich zwischen den freien platonischen und neuplatonischen Ideen und dem System des Aristoteles gesucht. Der vom Geiste beseelte Poeta Vates, Idea und Forma können auch in ihren Verzerrungen die platonische Herkunft nicht verleugnen. Das unter dem Einfluß der Antike aus liturgischen und bodenständigen Anfängen und Ursprüngen sich lösende Drama erforderte die Anwendung von Gesetzen, die sich bewährt hatten und gleichsam kodifiziert waren. Die Definition der Tragödie als Kanon der drei Einheiten und die Katharsisauffassung, sowie die Nachahmungstheorie waren die Pfeiler der Lehre von der Dichtung. Wie gut konnte sich das kleine poetische Regelbuch des Aristoteles den Bedürfnissen und dem Stilwillen der Zeit anpassen! Das Schicksal seiner Poetik führt von der absoluten zur relativen Geltung, von der klassischen Tragödie Frankreichs zur Anerkennung Shakespeares und dem Beweis, daß auch er

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Stoizismus und Christentum

den Gesetzen dieser Poetik folgte, von der sklavischen Nachahmung der stoischen Märtyrertragödie des Seneca zu Goethes Iphigenie, vom Kunstgesetz zum Stilgesetz, von der Darstellung vorbildlicher Lebenshaltung zu der der Schönheit und Größe des Menschen, vom starren Gesetz zu jenem, das uns die Freiheit geben kann. Das Joch der aristotelischen Poetik konnte vorübergehend von revolutionären Geistern im Zeichen eines überspannten Irrationalismus abgeschüttelt werden: es kehrte dennoch wieder zurück, als der Beweis gelang, daß jedes dramatische Schaffen unter den in der Poetik geformten untrüglichen Gesetzen steht, ja auch noch, als sich die Poetik nicht mehr nach der inneren Form, der Einheit von Mitleid, Schrecken und Bewunderung, dem menschlichen Mittelpunkt, ausrichtete, als die Mannigfaltigkeit und geschichtliche Gebundenheit des künstlerischen Schaffens entdeckt wurde. Das war etwa zur gleichen Zeit, als die lange, immer wieder zu beobachtende und von Zeit zu Zeit deutlich hervortretende Tradition der antiken Rhetorik endlich ihre Bedeutung verlor und die Stillehre ein Bündnis mit der Poetik schloß. Der Stoizismus schlug feste Brücken zum Christentum; in der Haltung der Märtyrer konnte er sich für lange Zeit festsetzen. So aber wie er das heidnische Tor in die neue Weltreligion schon im ersten Jahrhundert öffnete, wie Cicero einer der wichtigsten Vermittler zum christlichen Humanismus wurde und Seneca durch seinen angeblichen Briefwechsel mit dem Apostel Paulus auch äußerlich an der neuen Weltanschauung mitbaute, so schloß das Wiedererstehen beider im Zeitalter der Renaissance auch die Pforte der christlich-antiken Einheit, um die das Mittelalter rang. Im Zeichen des Stoizismus löste sich die heidnische Komponente vom christlichen Humanismus. Wir können diesen Vorgang, der uns in den Bereich der Ideengeschichte führt, vom 16. Jahrhundert an verfolgen. Er ist mit der Geschichte der Schule, der Bildung und dem Wandel ihrer Ideale aufs engste verknüpft. Gestalten, Stoffe und wiedererkannte Persönlichkeiten werden auf den Pfaden ihres Nachlebens von Liebe, Respekt, Haß oder Verachtung begleitet, ohne daß der Kern ihres Wesens davon berührt wird. Sie zeigen eine gewisse Anpassungsfähigkeit, so daß ihr Bild starken Wandlungen unterworfen ist, weil ihm immer zeitbedingte Züge angeheftet werden. Im Bereich der Ideen hält sich das antike Erbgut am reinsten. Sie gleichen sich den Bedürfnissen der Zeit und des Augenblicks an und können ihre Lebenskraft zäher bewahren, weil sie sich nicht an be-

Der Weg des antiken Erbes

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stimmte Formen zu binden brauchen. Ihre Geschichte zu schreiben ist schwer, weil dies nur auf philologischer Grundlage geschehen, im Nachspüren der Wortbedeutung erfolgen kann. Die Betrachtungen, denen dieses Buch gewidmet ist, lehren, daß Erkenntnissse, die ganzen Zeiten nutzbar werden sollen, nur langsam und schwer errungen werden, daß eine Erscheinung Jahrhunderte ruhen kann, bis der Kairos eintritt, daß jeder Teil sowie die Gesamtheit des antiken Erbes einen Punkt erreicht, der seinem Ursprung geistig am fernsten steht und von da ab mühevoll den gleichen Weg in umgekehrter Richtung zurückwandelt. Einmal im Zeitalter der Wiedergeburt tritt das Überlieferungsgut hervor, wird von gelehrt-wissenschaftlichem oder künstlerisch-schöpferischem Bemühen aufgegriffen, und einmal im Zeichen der Wiedergewinnung zeigt es mühsam erschlossene Züge seines wahren Antlitzes. Immer ist ein Nachlassen zeitgebundener Anregungen und Impulse, ein Aufsteigen neuer Elemente und geistiger Interessen zu beobachten, aber ein unveränderlicher Kern bleibt dennoch, vom dem wir annehmen können, daß er ewigen Bestand hat. Wir wissen nicht, unter welchen Voraussetzungen er entstand und unter welchen Bedingungen er in die geistige Welt der Menschen eindrang. Wir werden uns manchmal mit der Annahme täuschen, daß er aus dem Griechen- oder Römertum geboren wurde. Vielleicht ist er eine geistige Prägung aus Urvätererkenntnissen und stieg aus der Dämmerung des Unbewußten an das Licht des Tages, in die Welt der homerischen Sonne empor. Das Entscheidende aber bleibt in diesen Zusammenhängen, daß er in der Antike vorhanden war und daß wir durch ihn, wenn wir von seinem Strahlungsbereich berührt werden, mit der Antike verbunden sind. Fassen wir nach Huizingas Begriffsbestimmung Geschichte als »geistige Form, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt«, so gilt für uns, Rechenschaft abzulegen über die Nachwirkung jener einzigartigen, alles umspannenden Kultur, die scheinbar zerstört wurde, als die Barbaren über das römische Weltreich hereinbrachen und eine neue Zeit einleiteten, in der die Sieger auf den Schlachtfeldern, die Zerstörer des Kapitols schließlich überwunden wurden von dem entwicklungs- und anpassungsfähigen geretteten Geist, der nicht in Königssälen, Kabinettssitzungen und Volksversammlungen lebt und webt, sondern in einsamer stiller Gelehrtenstube, im heißen geistigen Ringen, im Werben und Kämpfen, Erhal-

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Träger des antiken Erbes

ten, Verteidigen und Formen, bei den wahren Trägern der Zeit, an der sie ihr unsterblich Teil haben.

I.

VERMITTLUNG 1. Das Ende des Altertums Aus literarischen Zeugnissen Anfänge und Endpunkte von Entwicklungen herauszulesen ist keineswegs so leicht wie aus politischen Ereignissen. Das Ende des weströmischen Reiches ist im Jahr 476 durch die Vernichtung seiner politischen Selbständigkeit eingetreten. Die Tatsache, daß Odoaker Traditionen der römischen Herrschaft mit seinem Stammeskönigtum vereinigt und den Beamtenapparat weiterarbeiten läßt, ist aber nicht gut als Beweis für ein absolutes Ende anzuführen. Verwirrender noch sind Zeugnisse für Leben und Tod auf geistigem Boden. Plutarch erzählt in seiner Schrift De defectu oraculorum, deren Titel allein schon zum mindesten einen Zweifel an den in der Blütezeit so hoch verehrten Stätten religiösen Kultes andeutet, von einer geheimnisvollen Stimme, die Thamos, dem mit Namen gerufenen Steuermann eines größeren Schiffes, den Auftrag gegeben habe, wenn er an die Paloden komme, zu verkünden, daß der große Pan gestorben sei. Dies habe Thamos getan, worauf man ein großes Klagen von Vielen gehört habe. Sogar Kaiser Tiberius habe sich für diese Geschichte interessiert und sie sich von Thamos selbst erzählen lassen. Seine Gelehrten hätten ihm gesagt, dieser Pan sei der Sohn des Merkur und der Penelope gewesen. — Das ist vielleicht die älteste antiheidnische Legende, sie kann christlich, aber doch wohl besser im Sinne einer als bewußt im Niedergang befindlichen Kultur aufgefaßt werden. Das Ende des Heidentums ist da, die Götter entschwinden in der Natur, sie legen sich zur Ruhe, versinken im Wasser. Wie oft haben spätere Zeiten sie als Dämonen wieder auftauchen sehen, nachdem ihr Schicksal längst besiegelt schien. Die Heiligen, die ihnen entgegentreten oder gegen die ihre Höllenmacht wirkungslos ist, sind mit stärkeren Waffen ausgerüstet. Als Naturgeister und zarte Nebelgestalten in einer phantasiebelebten Welt oder als Planeten leben die anti-

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Der Glaube an die Dauer der antiken Welt

ken Götter weiter. Sie gehören zur Natur und teilen das Schicksal des Chores der Helena, der sich nach dem Entschwinden seiner Herrin, nachdem der Griechentraum Fausts zu Ende geträumt ist, in den Elementen auflöst. — Ein Zeugnis des heiligen Basilius1, das rund dreihundert Jahre nach der von Plutarch erzählten Geschichte niedergeschrieben wurde und das Lob einer idealen Zurückgezogenheit in der Natur kündet, weiß nichts besseres als Vergleichsgegenstand für die idyllische Ruhe dieses seines Lieblingsplatzes heranzuziehen als die Insel der Kalypso. Unter dem Eindruck der Zerstörung Roms durch Alarich richtet Rutilius Namatianus ein poetisches Lob- und Dankgebet an die Dea Roma und sehnt ihre Wiedergeburt aufs innigste herbei2. Quae restant, nullis obnoxia tempora metis, Dum stabunt terrae, dum polus astra feret. Illud te reparat, quod cetera regna resolvit: Ordo renascendi est crescere posse malis. In den Collectanea, die dem Beda Venerabilis3 zugeschrieben werden, findet sich der häufig zitierte Satz: Quam dm stahlt Colyseus, stahit et Roma, quando cadet Colyseus, cadet et Roma, quando cadet Roma, cadet et mundus, Diese beiden Aussprüche liegen drei Jahrhunderte auseinander. Man könnte den ersten ins 15. Jahrhundert, da die Wiedergeburt der alten Welt und Größe herbeigesehnt wurde, versetzen und den Bedas einem Römer aus Alarichs Zeit zuschreiben, der sich die Ewigkeit seiner Vaterstadt an einem großen Denkmal vergegenwärtigen muß und seinen Glauben daran stählen will. Die vier Beispiele, die man wohl noch beliebig vermehren könnte, zeigen, wie schwer es ist, von einem Ende der antiken Welt zu sprechen. Als ihre Philosophen den Vertretern der christlichen Lehre längst die Führung übergeben hatten, ihre Götter versunken waren, ihre Statuen und Theater als Stätten des Teufels zerstört und gemieden wurden, war noch immer der Glaube an ihre Größe und die Ewigkeit ihrer Einrichtungen lebendig. Sie hatte noch immer eine Macht, mit der gerechnet werden mußte, die Furcht und Entsetzen einflößen, die 1

Basilius, Epist. 14 (al. 19) Migne, Patrol. Graeca v. 32, 276 sq.