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German Pages 326 [328] Year 1998
Amicus Plato magis arnica veritas
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Amicus Plato magis arnica veritas Festschrift für Wolfgang Wieland zum 65. Geburtstag Herausgegeben von
Rainer Enskat
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1998
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Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme
Arnicus Plato magis amica veritas : Festschrift für Wolfgang Wieland zum 65. Geburtstag / hrsg. von Rainer Enskat. — Berlin : New York : de Gruyter, 1998 ISBN 3-11-015563-X
© Copyright 1998 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin
Inhaltsverzeichnis Vorwort
VII
HANS-GEORG GADAMER Gruß zum 65. Geburtstag von Wolfgang Wieland
XIII
CARL FRIEDRICH VON WEIZSÄCKER Gruß zum 65. Geburtstag von Wolfgang Wieland
XV
WERNER BEIERWALTES Heideggers Gelassenheit
l
THEODOR BODAMMER Über die Kunst, gut zu sprechen
36
RÜDIGER BUBNER Die Metaphysik im Hintergrund der Unterscheidung des Transzendentalen vom Spekulativen
48
WOLFGANG DETEL Eine terminologische Rekonstruktion von Arist. Cat. 1—5
60
THEODOR EBERT Wer sind die Ideen freunde in Platons Sophisfes?
82
RAINER ENSKAT Authentisches Wissen
101
GÜNTER FIGAL Handlungsorientierung und anderes als das
144
KLAUS OEHLER Platons Semiotik als Inszenierung der Ideen
154
GEROLD PRAUSS Auf der Flucht vor individuellen Eigenschaften oder Der verkannte Platon
171
MANFRED RIEDEL Europa in Leibniz' Geschichtsdenken
194
VI
Inhaltsverzeichnis
ERHARD SCHEIBE Wie argumentieren Philosophen? Eine Fallstudie
219
RAINER SPECHT Zum Verhältnis von Wissen und wahrem Urteil in Lockes „Essay" . . 228 ELISABETH STRÖKER Objektivität in der Naturwissenschaft — nochmals befragt
252
HERMANN WEIDEMANN Platon über die Dialektik von Freundschaft und Liebe (Lysis 212a 8-213d 5)
268
REINER WIEHL Denkpsychologie und Denkontologie. Richard Hönigswalds und Wolfgang Cramers Philosophien der Subjektivität
277
Schriftenverzeichnis Wolfgang Wielands
300
Namen- und Sachverzeichnis
. 305
Vorwort Wolfgang Wieland begeht am 29. Juni 1998 seinen 65. Geburtstag. An diesem Tag steht er im Mittelpunkt nicht nur derer, die sich gemeinsamer akademischer Wege und persönlicher Begegnungen erinnern. Wieland steht an diesem Tag im Mittelpunkt auch eines anderen, viel größeren Kreises. Zu diesem Kreis gehören alle, die der Sache der Philosophie verpflichtet sind und die Erfahrung gemacht haben, daß ihre eigene Arbeit durch die Auseinandersetzung mit Wielands Beiträgen zur Philosophie in einer unverwechselbaren Weise profitieren kann. Es ist unmöglich, die vielen in aller Welt zu überblicken, die inzwischen durch diese Auseinandersetzung gelernt haben. Möglich ist indessen etwas anderes: man kann ein Symbol dieses Kreises schaffen. Vor einiger Zeit haben daher Lehrer und Schüler, Kollegen und Freunde von Wolfgang Wieland die schöne Aufgabe übernommen, sich an einem solchen Symbol zu versuchen. Und wie es sich für ein Symbol gehört, das diesen Namen verdient, hat auch dieses Symbol ein anschauliches Substrat, das man sogar in die Hand nehmen und vorzeigen kann — hier ist es! Unter diesem Symbol haben sich die Autoren der folgenden Texte versammelt, um Wolfgang Wieland anläßlich seines Eintritts in die wohlverdiente Zeit des freiesten wissenschaftlichen und philosophischen Tätigseins zu gratulieren. Jeder tut dies auf seine Weise. Doch alle haben sich unter einem gemeinsamen Motto versammelt. Dieses Motto soll nicht zuletzt daran erinnern, daß man Freunde braucht, mit denen man sich auseinandersetzen kann, wenn man zu philosophieren sucht. Wieland selbst hat schon sehr früh die Freundschaft eines ganz bestimmten Partners in dieser Auseinandersetzung gesucht — Amicus Plato. Amicus Plato — das ist der Anfang eines lateinischen Mottos, das auf ein griechisches Muster zurückgeht. Es findet sich anscheinend zuerst bei dem Aristoteliker des 5. nachchristlichen Jahrhunderts loannes Philoponos. Dessen Kosmologie gehörte vor nunmehr knapp vierzig Jahren zum Thema von Wielands Heidelberger Habilitationskolloquium. Im selben Jahr, 1960, wurde er auf Grund einer richtungweisenden Untersuchung zur Aristotelischen Physik habilitiert. Als er fast fünfundzwanzig Jahre später — nach Professuren an den Universitäten Hamburg, Marburg, Göttingen und Freiburg — an die Heidelberger Universität zurückkehrte, um die Professur zu übernehmen, von der er sich in diesen Monaten verabschiedet, gab er seinen Einstand mit einem großen Platon-Buch. Aus diesem Buch kann man nicht zuletzt lernen,
VIII
Vorwort
wie außerordentlich anspruchsvoll Platons philosophische Freundschaft ist: Amicus Plato magis amica veritas — Freund Platon, größere Freundin Wahrheit. Dieses Motto ist offensichtlich kein Satz, sondern ein Anakoluth. Doch Wielands Platon-Buch kann auch darauf aufmerksam machen, daß dieser Anakoluth hinter seiner syntaktischen Undurchsichtigkeit eine kleine philosophische Rätselaufgabe verbirgt. Er läßt nämlich den sachlichen Zusammenhang im dunkeln, der zwischen Platons Freundschaft und der noch größeren Freundschaft der Wahrheit besteht. Wielands Platon-Buch enthält die Auflösung des Rätsels: ein Freund ist Platon nur dann, wenn die Wahrheit die größere Freundin ist; oder auch: ein Freund ist Platon nur für den, für den die Wahrheit die größere Freundin ist. Nicht alle Autoren, die zu der folgenden Sammlung beigetragen haben, setzen sich mit der Philosophie Platons auseinander. Das ist durchaus kein Schönheitsfehler. Denn die Auflösung, die Wielands Platon-Buch für die philosophische Rätselaufgabe des lateinischen Mottos gibt, liefert auch nur eine exemplarische Bewährungsprobe für drei allgemeine Arbeitshypothesen, in deren Licht Wolfgang Wieland während der vergangenen vier Jahrzehnte die philosophische Forschung gefördert hat: jeder philosophische Klassiker ist nur für denjenigen ein Freund, für den die Wahrheit die größere Freundin ist; man kommt der Wahrheit mit Mitteln der Philosophie nur dann näher, wenn man lernt, sich von den philosophischen Klassikern in freundschaftlicher Weise helfen zu lassen; man lernt nur dann, sich von den philosophischen Klassikern in freundschafdicher Weise helfen zu lassen, wenn man ihnen umgekehrt in freundschafdicher Weise unterstellt, daß die Wahrheit auch für sie die größere Freundin ist. Diese Arbeitshypothesen hat Wieland in seiner Auseinandersetzung mit der philosophischen Überlieferung im Licht einer einzigen, einfachen Regel fruchtbar zu machen gesucht — durch die Regel, bei jeder überlieferten philosophischen Theorie vor allem nach den Bedingungen zu suchen, von denen ihre Wahrheit abhängt. Offensichtlich stellt diese Regel an das Problembewußtsein, die methodische Kunst und die Urteilskraft eines Lesers philosophischer Texte die strengsten Anforderungen. Doch Wieland ist nicht müde geworden, daran zu erinnern, daß die Auseinandersetzung der Philosophie mit ihrer eigenen Geschichte auf der Linie dieser Regel die beste Chance hat, Erträge zu erzielen, die einen aufschlußreichen philosophischen Gehalt haben: es kommt nicht darauf an, eine überlieferte philosophische Theorie zum Objekt von neuen geisteswissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen und anderen empirischen Wahrheiten zu machen; es kommt vielmehr darauf an, sie im Schutz solcher Wahrheiten als das ernst zu nehmen, was sie auf der Linie der Intention ihres Urhebers ohnehin ist — ein Medium entdeckenden Ler-
Vorwort
IX
nens, in dem man immer wieder von neuem neue und aufschlußreiche Wahrheiten erarbeiten kann. Welche Aufschlüsse hat Wieland selbst durch diese Methode der Auseinandersetzung mit der philosophischen Überlieferung erzielt? In den schwierigen Erörterungen der vergangenen Jahrzehnte um die spannungsvollen Beziehungen zwischen Theorie und Praxis, Erkenntnis und Interesse hat Wieland schon früh, Anfang der sechziger Jahre, darauf aufmerksam gemacht, daß die komplizierte Struktur dieser Beziehungen bereits durch Platon und Aristoteles in einer überaus lehrreichen Weise untersucht und beschrieben worden ist. In einer Vielzahl von Analysen sowohl der Logik wie der Ethik des Aristoteles hat Wieland während der vergangenen drei Jahrzehnte in der Forschung und in der Lehre dazu beigetragen, daß man den sachlichen Gewinn besser einschätzen kann, den es einträgt, wenn man die Aristotelische Auffassung von der Struktur dieser Beziehungen so ernst nimmt, wie dies mit möglichst strengen Methoden der Interpretation und der Analyse möglich ist. Doch schon 1970, in einem Aufsatz anläßlich des 70. Geburtstags seines Lehrers Hans-Georg Gadamer, hat Wieland die wichtigste philosophische Aufgabe in diesem Zusammenhang durch die Frage nach Kriterien dafür formuliert, daß etwas aus praktischen Gründen wert ist, gelernt, erkannt, entdeckt oder gewußt zu werden. Anders als fast alle anderen professionellen Philosophen unserer Tage hat Wieland indessen nicht direkt versucht, diese Frage nach dem Wissenswerten allgemein und prinzipiell mit Mitteln der Philosophie zu beantworten. Stattdessen hat er, von 1965 bis 1970, dabei gleichzeitig die Pflichten eines Ordinarius der Philosophie wahrnehmend, ein Medizinstudium absolviert und 1973 mit der Approbation zum Arzt beendet. Dies war ein langer, anstrengender und entbehrungsreicher Weg. Doch am Beispiel der praktischsten aller Wissenschaften hat er in einer ganz unmittelbaren Weise Strukturen des Wissenswerten studiert. Denn es sind die Strukturen der diagnostischen und der therapeutischen Aufgaben des Arztes, was dafür sorgt, daß das mit wissenschaftlichen, vor allem mit naturwissenschaftlichen Methoden erworbene Wissen der Medizin aus praktischen Gründen wert ist, gewußt zu werden. Es ist daher kein Zufall, daß in den medizintheoretischen Arbeiten Wielands mancherlei Strukturen beleuchtet werden, die nur darauf warten, daß man ihren exemplarischen Charakter zugunsten einer allgemeinen Theorie des Wissenswerten fruchtbar zu machen sucht. Seine logischen, erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Analysen der ärztlichen Diagnose haben ebenfalls in indirekter Weise eine exemplarische Funktion. Sie können in beispielhafter Weise Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen einer kognitiven Kompetenz klären, wie sie zuerst und vor
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Vorwort
allem von Aristoteles in einen thematischen Brennpunkt der philosophischen Aufmerksamkeit gerückt worden war und in der Neuzeit auf den Namen der Urteilskraft getauft worden ist. Während der vergangenen fünfundzwanzig Jahre hat sich Wieland auf diesen Wegen mit viel beachteten systematischen Untersuchungen an der Klärung von theoretischen und ethischen Grundfragen der Medizin und der ärztlichen Praxis beteiligt.* Wielands Weg in die Medizin war daher nur scheinbar ein Weg aus der Philosophie. Die empirischen und die praktischen Arbeitserfahrungen des Mediziners und Arztes haben in Wahrheit nur noch einmal das Gespür für kognitive Grenzerfahrungen geschärft, wie sie von der Philosophie nur allzu leicht vernachlässigt werden. Im Rückgriff auf die vom Platonischen Sokrates demonstrierte Gestalt der dialektischen Gesprächskunst hat Wieland die eine von diesen Grenzerfahrungen durchsichtig zu machen gesucht. Am Leitfaden Platonischer Dialoge zeigt er, in welchem Sinne sowohl das alltägliche und das wissenschaftliche wie das theoretische und das praktische Wissen der Menschen gleichsam eine gespaltene Struktur hat: auch noch so viele wahre Sätze und wahre Meinungen würden kein Wissen bilden, wenn sie nicht intrinsisch mit den persongebundenen kognitiven, methodischen und technischen Fähigkeiten und Fertigkeiten verflochten wären, mit deren Hilfe man von solchen Sätzen und Meinungen in erfolgsträchtiger Weise Gebrauch macht. Ohne dieses nichtpropositionale Gebrauchswissen wäre auch ein propositionales Wissen von noch so vielen wahren und nichttrivialen Sätzen kein Wissen, das diesen Namen verdienen würde. Die andere kognitive Grenzerfahrung, die Wieland nicht zuletzt auch im Licht seiner medizinischen und ärztlichen Arbeitserfahrungen zu analysieren sucht, zeichnet sich im Zuge seiner Untersuchungen zu Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft ab. Diese Untersuchungen sind zwar noch nicht abgeschlossen. Doch die beiden erkenntnistheoretischen Schlüsselgedanken dieser Kritik markieren schon von Anfang an die Grenze, an der die zu analysierende Erfahrung gewonnen werden kann: jede Erkenntnis verdankt sich nach Kant einem unmittelbaren emotionalen Vorspiel; und die Begünstigung einer Erkenntnis durch ein solches emotionales Vorspiel ist nach Kant dann optimal, wenn sich dieses Vorspiel durch die Erfahrung der Schönheit einer Naturerscheinung einstellt. Damit gibt Kant aber in indirekter Weise auch zu verstehen, daß die Erfahrung der Schönheit einer Naturerscheinung * Im zweiten Heft des Jahrgangs 1998 der „Zeitschrift für medizinische Ethik" setzen sich namhafte Mediziner, Medizintheoretiker und Medizinhistoriker anläßlich des 65. Geburtstags von Wolfgang Wieland unter dem Leitthema „Medizin als praktische Wissenschaft" mit dessen systematischen Beiträgen zur Klärung von Grundlagen medizinischen und ärztlichen Erkennens und Handelns auseinander.
Vorwort
XI
durch keine menschliche Veranstaltung ersetzt werden kann, wenn es darum geht, die optimale Begünstigung der dem Menschen möglichen Erkenntnis zu finden. Es liegt auf der Hand, welche Bedeutsamkeit einer gründlichen Analyse dieser Zusammenhänge in einer Zeit zuwächst, in der sich die Menschen in fast planmäßiger Weise die realen Möglichkeiten zu entziehen scheinen, die Schönheit einer Naturerscheinung zu erfahren. Es ist auch deswegen sehr zu hoffen, daß Wielands Untersuchungen zu diesem Themenkreis ans Licht der Öffendichkeit kommen. Eine Emeritierung enthält — im Gegensatz zur Erfahrung der Schönheit einer Naturerscheinung und trotz der Ehrung, die normalerweise mit ihr verbunden ist — nicht automatisch irgendeine Gunst, von der die Schaffenskraft des künftigen Emeritus profitieren könnte. Um so mehr darf man Wolfgang Wieland in diesen Tagen wünschen, daß er jenseits aller akademischen Verpflichtungen endlich die Muße und die Kraft finden möchte, die die Fruchtbarkeit seiner Arbeit in der kommenden Zeit mindestens so trefflich begünstigen, wie dies andere Umstände bisher auch vermocht haben. Halle, im Frühling 1998
Rainer Enskat
Gruß zum 65. Geburtstag von Wolfgang Wieland Wie sollte mir nicht die erste Szene ständig in den Sinn kommen, wenn ich heute einen meiner besten Kollegen aus Anlaß seines 65. Geburtstags grüße und ihn meiner bleibenden Anteilnahme an seinem Wirken versichere. Wie lange ist das eigentlich her, daß in einem Heidelberger Seminar, in dem ich Schelling behandelte, auf einen meiner Themenvorschläge ein mir noch unbekannter Student durch Ablieferung eines Manuskripts antwortete? Wie immer, war auch in diesem Falle mein Verfahren gewesen, mögliche Themen zu empfehlen, ohne mich zu verpflichten, deren Behandlung in die Seminardiskussion selber einzugliedern. So las ich mit sehr großer Befriedigung das mir von Wieland vorgelegte Manuskript, freilich nicht, ohne ihm auch eine ausdrückliche private Kritik zukommen zu lassen. Ein halbes Jahr später ist er dann wiedergekommen, und seine Arbeit war wesendich verbessert. Daraufhin sagte ich ihm erfreut, das können Sie jetzt bei der Fakultät als Dissertation einreichen. Daraufhin sagte er stotternd, aber Herr Professor, ich habe noch keine 6 Semester. Das war nicht nur verblüffend, sondern nahm mir auch manche Last von den Schultern, ob ich nicht bei manchem anderen meiner Schüler es falsch machte, wenn ich ihnen ihre Arbeit zu oft zurückgab und Verbesserungen verlangte. Nun hatte mich Wieland auf der Gegenseite überholt. Sehr bald ging er dann auf meine Empfehlung zu Weizsäcker nach Hamburg. Ich verfolgte dort mit Stolz seine Erfolge, insbesondere des Buches über die Aristotelische Physik, in der auch die philologische Hand von Ernst Kapp zu spüren war. Dann, nach seiner Habilitation in Heidelberg, ging seine Karriere weiter, ganz ohne daß ich auch nur einen Finger zu rühren hatte, nach Marburg, Göttingen, Freiburg und schließlich zurück nach Heidelberg. Hier war es das dritte Mal, daß ich wirklich selbst mit im Spiele war, hatte es allerdings auch dem Verständnis meiner Kollegen zu verdanken, daß an den noch nicht lange nach Freiburg Berufenen, der den Ruf nach Heidelberg zunächst abgelehnt hatte, die Frage erneut gerichtet wurde, ob er nicht vielleicht doch für Heidelberg zu gewinnen sei. Seine Antrittsvorlesung war dem Begriff der Ästhetik in Kants Kritik der Urteilskraft gewidmet, und seitdem bestand neben freundschaftlich kollegialen Berührungen fast eine jede Begegnung zwischen mir und ihm in meiner Frage, ob er wohl in Ausarbeitung der (inzwischen) gedruckten Antrittsvorlesung seine weitere Kant-Forschung der Öffentlichkeit vorlegen werde. In der
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Gruß zum 65. Geburtstag von Wolfgang Wieland
Regel antwortete er: Das habe ich inzwischen auf die lange Bank geschoben und fest verschnürt beiseite gelegt, weil mich meine anderen Aufgaben, als Sekretär der Akademie der Wissenschaften und als akademischer Lehrer in Heidelberg, zu sehr in Anspruch nehmen. Das kommt erst nach meinem Rückzug vom Lehramt in Frage. Nun naht der Augenblick heran, in dem Wieland das akademische Recht hat, sich nur noch der Forschung zu widmen, und so gratuliere ich ihm nicht nur zu diesem Ehrentage, sondern wünsche auch uns, daß er vielleicht, nachdem er inzwischen das Kant-Paket wieder aufgeschnürt hat, nach so vielen anderen Leistungen auch noch dieses sein Versprechen erfüllt. Wir werden es ihm alle danken. Hans-Georg Gadamer
Gruß zum 65. Geburtstag von Wolfgang Wieland Als ich 1957 als gelernter theoretischer Physiker einen philosophischen Lehrstuhl in Hamburg übernahm, wandte ich mich an Hans-Georg Gadamer mit der Bitte, mir einen jungen gelernten Philosophen als Assistenten zu empfehlen. Als der erste Versuch sich als undurchführbar erwies, wandte ich mich zum zweitenmal, telefonisch, an Gadamer. Er sagte: „Ja, dann muß ich Ihnen eben den Besten schicken." Und Wolfgang Wieland wurde mein Assistent. Da nun die Festschrift zu Wielands 65. Geburtstag vorbereitet wird, hatte ich den Wunsch, ihm einen Aufsatz beizusteuern, in dem ich sage, was ich von ihm gelernt habe: von Platon bis zur Geisteswissenschaft unseres Jahrhunderts. In meinem Buch „Zeit und Wissen" (1992), im Kapitel II, 11, habe ich einiges davon aufgeschrieben. Ob ich wohl der neue Theätet war und er ein Träger der Tradition der Akademie, ein persönlicher Schüler Platons? Ob ich ihn im Dialog sagen lassen durfte, wie ein so Geschulter die Probleme des Denkens unserer Zeit erkennt, ja, löst? Aber diesen Dialog zu schreiben, das überstieg meine Kraft. Und der Versuch, die Probleme der Politik und der Physik unserer Zeit auszusprechen, absorbierte das, was mir im Alter von suchender und formulierender Kraft noch geblieben ist. So beschränke ich mich auf einen Gruß des Dankes und der guten Wünsche, wie ein alter Schüler des jüngeren Lehrers. Carl Friedrich von Weizsäcker
WERNER BEIERWALTES
Heideggers Gelassenheit Die [ursprüngliche] Einheit besteht in der Gelassenheit [des] Willens und des Seins, d. i. wo der Wille das Sein läßt und das Sein vom Willen gelassen wird. Schelling, Initia Philosophiae Universae
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Produktiv aufnehmend und kritisch verändernd zugleich steht Martin Heidegger im philosophischen Kontext seiner Zeit: Er setzt sich mit dem Neukantianismus verschiedenster Prägung auseinander: mit den Problemen von Logik, Erkenntnistheorie und Metaphysik, wie sie von Franz Brentano, Hermann Lotze, Paul Natorp, Emil Lask und Heinrich Rickert diskutiert wurden; er übernimmt nicht nur einige Impulse aus der Phänomenologie, insbesondere der seines Lehrers Edmund Husserl, sondern läßt sie zum Grund- und Leitgedanken seiner eigenen Phänomenologie des Daseins in „Sein und Zeit" (1927) werden und verbindet in ihm die Intention der SelbstDurchdringung des Daseins, welches wir selbst je sind, sowohl mit dem Begriff des „Phänomens" als einem — etymologisierend gedacht — Sich-Zeigen der „Unverborgenheit" (Wahrheit), als auch mit einem neuen Begriff von Hermeneutik; diese sollte im Gegenzug zum Gebrauch dieses Begriffes in der Philosophie der Geisteswissenschaften und des Historismus Wilhelm Diltheys und des Grafen Yorck von Wartenburg nicht primär als eine Methode verstanden werden, die Beliebiges als Verstehbares auslegt, sondern als Tätigkeit der Auslegung des Auslegenden selbst: Hermeneutik als verstehender Selbstbezug des Daseins. Martin Heidegger hat seit „Sein und Zeit" mit wachsender Rigorosität und geradezu autistischer Selbstprofilierung den hohen, gewaltigen, jegliche andere Möglichkeit des Philosophierens verdrängenden Anspruch erhoben, er habe zuerst nach dem „Sinn von Sein gefragt", das Sein (Seyn) durch Destruktion — im Sinne einer „Verwindung" — von Metaphysik „gedacht"
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Werner Beierwaltes
oder 2umindest „an-gedacht". Gemäß seiner Selbsteinschätzung ist er damit in einen Gedanken vorgestoßen - ,Sein als Sein in der Differenz zum Sein als Seiendem' —, den „Metaphysik" gar nicht habe denken können: sie hat sich vielmehr — in Heideggers beschränkender Sicht —, ihren eigenen Anfang vergessend, verlassend, verdeckend nur ins vergegenständlichende Vorstellen des Seins von Seiendem verstrickt. Die aus dieser systematischen Seinsvergessenheit oder Seins Verlassenheit erwachsende „Not" vermochte sie aufgrund eben dieser Denkstruktur überhaupt nicht zu erfahren. Sie hat sich dadurch aus der dem Denken aufgegebenen Seins-Ftzge. selbst ausgeschlossen und ist dergestalt zum Mißgeschick der gesamten Entwicklung des abendländischen Denkens und der mit ihm wesenhaft verbundenen Kultur geworden — der jVerfalT des Denkens von Sein nach einem ersten „Einblitz" in Heraklit und Parmenides schreitet demnach von Platons angeblicher Reduktion der Wahrheit auf eine bloße Richtigkeit des Blickens hin fort in ein objektivierendvorstellendes, universal verrechnendes Denken, das seinerseits die Voraussetzung für die neuzeitliche Wissenschaft und Technik erstellt — mit ihren verheerenden Folgen im „Atomzeitalter". Wenn Heidegger auch nur Ansätze zu einer einigermaßen plausiblen und in sich standfesten Begründung dieses seines Anspruchs hat geben wollen, so mußte er sich auf diejenigen Phasen oder Ausformungen der Metaphysik interpretierend einlassen, die für seine Grundthese gemäß seinem eigenen Vorbegriff ausschlaggebend sein konnten: so in der relativen Nähe zur Gegenwart vor allem mit Kant, dessen Philosophie in Heideggers Kritik stellvertretend oder gar paradigmatisch für den nie geschriebenen zweiten Teil von „Sein und Zeit" stand, mit Hegels Begriff der Erfahrung und der Negativität im Zusammenhang mit seiner eigenen „Dialektik" von Sein und Nichts, aber auch mit Leibni^ um dessen Fassung des Satzes vom Grund zum Abstoßund Differenz-Punkt seiner eigenen Formulierung des Satzes vom Grund als einen „Satz ins Sein" festzulegen; weiterhin — aus derselben Zeit, dem Anfang der Vierziger jähre — ist seine Auseinandersetzung mit Schellmgs Begriff der Freiheit und vor allem mit Nietzsches Konzepten des „Willens zur Macht" und des „Nihilismus" bedeutsam, in denen Heidegger das Letzte der Metaphysik als deren Selbstzerstörung sah. Namen ohne Ende! Ohne daß ich nun durch genaueres Beschreiben weitere Bereiche von Heideggers Auseinandersetzung mit dem philosophischen und dichterischen Überlieferungszusammenhang erörtern könnte, muß ich doch zur Eingrenzung meines Themas auf dieses verweisen: am intensivsten ist Heidegger mit den Gnechen verbunden — „den einzigen großen Lehr-
Heideggers Gelassenheit
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meistern des Denkens" — zunächst vor allem mit Aristoteles, zunehmend kritisch — im Zusammenhang mit der Ausarbeitung seiner geschichtsphilosophischen These zur „Metaphysik" — mit zentralen Fragen der Platonischen Philosophie, und dann ganz zentral für die Konturierung seiner Frage nach einem „anderen Anfang", in dem das Sein denkbar würde, mit dem sogenannten „ersten Anfang", den „Vbrsokratikern" Anaximander, Parmenides und vor allem mit Heraklit. Diesen Rückgang insbesondere zu den frühen Griechen als zu dem „Ältesten des Alten" vollzieht Heidegger keineswegs nur aus einem bloß historischen Interesse, sondern als den Weg seines prätendiert eigenen Denkens, das er in eben diesem Rückgang herausbildet und in Grundworten artikuliert, die ohne „die Griechen" kaum denkbar wären: Sein als das Selbe ( ), Zeit als Struktur von Sein, Sein als „Anwesen", Physis als das von sich selbst her Aufgehende, & als das Sich-von-sichselbst-her-Zeigende — die Unverborgenheit oder Lichtung des Seins — , Logos als das Vorliegen-Lassen des Vorliegenden - im Sinne Heideggers die griechische Form des von ihm als „gebendes" („Es gibt"), Wahrheit als Unverborgenheit herausbringenden Ereignisses. Alle diese Grundworte sind Perspektiven des selben SEINS. Auch Gelassenheit rechne ich zu den Grundworten des Heideggerschen Denkens. Es meint einen Wesenszug dessen, was er im emphatischen, eigentlichen Sinne ,Denken' nennt. — Für Wort und Begriff ,Gelassenheit' kann man zu Recht die mittelalterliche Mystik als Herkunftsbereich assoziieren. Dies trifft für Heideggers eigene geschichtliche Orientierung durchaus zu. Er verbindet ,Gelassenheit' aber zugleich mit dem von Heraklit als Fragment 122 überlieferten, rätselhaften Wort: , von ihm als „Nähe" in einem aktiven, „bewegenden" Sinne verstanden. Nicht primär als Ruhe oder Beruhigtheit, sondern als „Bewegung" und Stand aus dieser Bewegung heraus ist Gelassenheit zu denken — als ein Sich-Lassen oder Sich-Einlassen ins Denken von Sein. Gelassenheit1 gehört als ein solches Grundwort in die Weise von Heideggers Denken, die er selbst die „Kehre" nennt. Diese meint nicht etwa eine „Kehrtwendung" oder grundlegende Änderung der Richtung seines Denkens, „Kehre" ist vielmehr Wendung seines Gangs des Denkens auf dem selben Weg in das selbe Ziel, auf dem und auf das hin er seit „Sein und Zeit" 1
„Gelassenheit" steht im Kontext von anderen „Ge..."- Bildungen, die für Heideggers Sprachdenken konstitutiv sind. Er sieht in der „Vorsilbe" „Ge-" den Verweis auf eine sammelnde, einigend zusammenfügende Bewegung im Bezug auf den jeweiligen „Stamm" eines Wortes — etwa in „Ge-stell", „Gefahr", „Geschick" (als die „Versammlung des Schickens ins Anwesen"), Geschichte als „das Geschieht", „Geviert", „Gebirg" [des Seins] als Summe des Bergens, das „Gering" des Spiegel-Spiels der Welt, „Gedicht" und „Gedanc". — Zur „Gegend" bzw. „Gegnet" vgl. unten S. 11 ff.
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Werner Beierwaltes
zugeht: Die Frage nach dem „Sinn von Sein" wendet sich („kehrt sich") in die Frage nach dem Sein als der Differenz zum Verhältnis von „Sein und Seiendem", nach dem Seyn als „Ereignis". Wie der wahre, „eigentliche" Dichter immer nur an einem Gedicht dichtet, so denkt der „Denker" , sofern er diesem Anspruch entspricht, in all seinen Metamorphosen immer nur das Eine und Selbe. So kann die „Kehre" in Heideggers Denken gemäß seiner eigenen Einschätzung allenfalls als Modifikation des zuvor schon An-Gedachten verstanden werden: „Kehre" als Übergang aus dem Sein als „Dasein", welches wir selbst je sind (im Sinne von „Sein und Zeit") in ein quasi „transsubjektives" , sich selbst „ereignendes" Seyn, das in sich das Unverborgene und Lichtende und versammelnd („ "!) Zusprechende ist, dem der Mensch — sich öffnend — „ge-hört". Von diesem Gedanken bestimmt versucht Heidegger mit aller Rigorosität einer verändernden „Rückkehr" in seiner Destruktion des „metaphysischen" Vorstellens und des Seins als eines bloß Seienden aus dem ersten (geschichdichen) Anfang der frühen Griechen einen „anderen Anfang" beginnen zu lassen: das Denken oder An-Denken des „Seins" (Seyns, SEYNS) als das Sich-Geben, Sich-Lichten oder Ereignen seiner selbst als des Selben. Für diesen in vielfältigen Ansätzen unternommenen Versuch bedarf es im Sinne Heideggers einer anderen Sprache als die der „Metaphysik", also einer Sprache, die nicht auf diskursives Argumentieren, auf Begründung und Bestimmung des „Gegenstandes" durch ein begreifendes Denken setzt; sie kehrt sich vielmehr in ein dichtendes Denken, ein denkendes Dichten. Eine solche Einheit von Denken mit dem Dichten2 läßt die Frage, was denn nun das Seyn „definitiv" sei, gar nicht erst zu. Einzig zu sagen ist dies: den unendlichen Näherungen zeigt Es sich immer tautologisch als ES SELBST.3 Gegen eine vergegenständlichende, begrifflich „definitive" Fixierung bleiben wir mit Ihm systematisch in der Schwebe. Den Weg ins Seyn als Ereignis hat Heidegger in einem spätexpressionistisch hochgespannten, auf Seyn einschwörenden, aber auch hermetisch abweisenden Denk- und Sprachstil vorgestellt v.a. in seinen zwischen 1936 und 1938 ausgearbeiteten, „lange gehüteten" und zumindest in „Philosophenkreisen" „lange erwarte2
3
Zu Heideggers Maxime, das Denken müsse „ dichterischer werden", vgl. z. B.: Holzwege, Frankfurt 1950, 294 f. 303. 343 unten. Aus der Erfahrung des Denkens, Pfullingen 19652, 23; 25. Dem entspricht Heideggers Hölderlin-Deutung im ganzen: eine „Näherung" (s. !) von Dichten und Denken, die „nahe wohnen auf getrenntesten Bergen". Die Sätze aus dem Brief „Über den ,Humanismus"': „Das „Sein" — das ist nicht Gott und nicht ein Weltgrund. Das Sein ist weiter denn alles Seiende und ist gleichwohl dem Menschen näher als jedes Seiende ..." sind paradigmatisch und symbolisch für Heideggers Antworten auf seine Frage „Was ist das Sein?": Trotz vieler positiver „Identifikationen" gleichen sie eher einer ihr Ziel umkreisenden, andeutenden, „ahnend" vorbereitenden „negativen Theologie". Das zuvor aus dem „Humanismusbrief' Zitierte steht in „Platons Lehre von der Wahrheit", Bern 1954, 76.
Heideggers Gelassenheit
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ten" , aber erst 1989 veröffentlichten „Beiträgen zur Philosophie", die als Unter-, jedoch eigentlich als Haupt-Titel: „Vom Ereignis" tragen4. Die „Beiträge" sind das in sich konsequenteste Dokument einer ,neuen Mythologie', an der Heidegger dichtet. Sie weist in das ereignende Geschehen von Seyn; dieses ist zugleich der „Raum" einer „Dämmerung" des „letzten Gottes"5. Heideggers Sprechen von der „Gelassenheit" wird aus der Bewegung der Kehre ins Seyn einigermaßen verstehbar. Es entspricht der Selbstdarstellung der Kehre in den „Beiträgen" auch in seiner sprachlichen („dichtenden") Gebärde: nicht fremder zwar und „geschwollen"-erhabener (was schwerlich möglich ist!), aber doch um einiges trivialer — durch den „Einbruch von Natur" und „Heimat" in die Sprache des Denkens. Einen extensiven Gebrauch des Wortes „Gelassenheit" hat Heidegger vorbereitet in einem darauf hinführenden Umgang mit dem Wortfeld des „Lassens" — so etwa, wenn er davon spricht, daß das Denken „Anwesendes als Anwesendes anwesen sein lasse", daß Freiheit ein „Seinlassen von Seiendem" oder ein „Sicheinlassen auf die Entborgenheit des Seienden"6 sei, daß wir — uns „absetzend" vom vorstellenden Denken der „Metaphysik" — in einem Grund-Ja/^; des Denkens „uns loslassen", der ein „Sprung" ist dahin, „wohin wir schon eingelassen sind: in das Gehören zum Sein"7. Was für Heidegger im eigentlichen Sinne »Gelassenheit' heißt, entfaltet er in zwei Texten: zum einen in einer Rede bei der Feier zum 175. Geburtstag des Komponisten Conradin Kreutzer, gehalten am 30. Oktober 1955 in seiner Heimatstadt Meßkirch8 — ein Plädoyer für Gelassenheit als das Loslassen oder SichBefreien aus dem vorstellenden, rechnenden und verrechnenden Denken, um nicht von der Technik als dem Resultat eben dieser Art des Denkens auf eine Weise gefesselt, behext oder verblendet zu werden, „daß eines Tages das rechnende Denken als das einige in Geltung und Übung bliebe"9; zum anderen in einem der „Feldweg-Gespräche", als Fiktion 1944/45 geschrieben; es hat das aus einem Wort bestehende Fragment 122 Heraklits zum Titel: „ . Ein Gespräch selbstdritt auf einem Feldweg zwischen einem Forscher, einem Gelehrten und einem Weisen"10. Bevor ich diesem Gespräch 4
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Nachwort des Herausgebers F. W. v. Herrmann (Gesamtausgabe [= GA] 65, Frankfurt 1989) 519. Beiträge 411. 416. Holzwege 338, 239. Vom Wesen der Wahrheit, Frankfurt 1943, 19543, 14 ff. Was ist Metaphysik?, Frankfurt 198613, 42: „Sichloslassen in das Nichts". Der Satz der Identität, in: Identität und Differenz, Pfullingen 1957, 24. Publiziert bei Neske in Pfullingen 1959, 11-28. Ebd. 27. G A 77, hg. v. Ingrid Schiißler, Frankfurt 1995, 1-159. Die Seiten 105-157 entsprechen mit einigen Veränderungen dem schon 1959 bei Neske in Pfullingen herausgegebenen Text:
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Werner Beierwaltes
„auf einem Feldweg" nachgehe, scheint mir eine Bemerkung dazu aufschlu reich, wie sich ein Feldweg in der „Heuberger Heimat" mit dem Feldweg des Denkens verbindet oder gar aus ihm entspringt: Der Feldweg „l uft aus dem Hofgartentor zum Ehnried ... vom Feldkreuz her biegt er auf den Wald zu ..."n. Aus der Erinnerung Heideggers, der diesen Weg oft gegangen ist, — wenn „die R tsel einander dr ngten [aus den „Schriften der gro en Denker" aufgegeben] und kein Ausweg sich bot, half der Feldweg" — wird der Feldweg nicht nur zu einer Metapher des Weges des Denkens (konkret: des auf ihm Denkenden), sondern er w chst zu einer geradezu mythischen Gr e auf, der eine symbolische Kraft innewohnt. Der Denkende ist hier dem „Schritt des Landmannes, der in der Morgenfr he zum M hen geht", nahe12. Vom Feldweg geht ein „Zuspruch" aus, „der Zuspruch des Selben: das Einfache verwahrt das R tsel des Bleibenden und des Gro en ... Die Weite aller gewachsenen Dinge, die um den Feldweg verweilen, spenden Welt. Im Ungesprochenen ihrer Sprache ist, wie der alte Lese- und Lebemeister Eckehardt sagt, Gott erst Gott"13. Der Zuspruch des solcherma en personifizierten Feldweges ist nicht fax jeden h rbar. Er spricht vielmehr nur so lange, „als Menschen sind, die in seiner Luft geboren, ihn h ren k nnen. Sie sind H rige ihrer Herkunft, aber nicht Knechte von Machenschaften"14. Aus dem Zuspruch des Feldweges spricht sozusagen der Logos des Heraklit, dessen Sprache wir als ihm H rige und daher ihm GeH rende entsprechen m ssen (όμολογεΐν)15. Auch dies ist „heraklitisch" am Feldweg, da die dem Zuspruch des Feldweges H rigen die „Wenigen" sind — oi πολλοί κακοί16, — die „Wenigen", oder, Heraklit, Nietzsche und Heidegger verb ndend, „die gro en und verborgenen Einzelnen"17, die im ei-
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„Zur Er rterung der Gelassenheit. Aus einem Feldweggespr ch ber das Denken", in: Gelassenheit, 1959, I9602, 29 — 73 (dies ist wieder aufgenommen in „Aus der Erfahrung des Denkens 1910-1976", GA 13, hg. v. H. Heidegger, Frankfurt 1983, 37-74). Martin Heidegger, Der Feldweg, Frankfurt 1989, mit alten Fotos bebildert und mit einem Nachwort versehen von Hermann Heidegger. Heidegger hat die Analogie des Denkers zum Landmann gepflegt: „Das Denken legt mit seinem Sagen unscheinbare Furchen in die Sprache. Sie sind noch unscheinbarer als die Furchen, die der Landmann langsamen Schrittes durch das Feld zieht" (Brief ber den „Humanismus", in: Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 19542, 119. Vgl. auch die sogenannten „Bauernschuhe" van Goghs in „Der Ursprung des Kunstwerkes", in: Holzwege 7-65; 22 f.). Der Feldweg (wie Anm. 11) 17. Ebd. 21. Vgl. Frg. 50. Hierzu: Heidegger, Logos, in: Vortr ge und Aufs tze, Pfullingen 1954, 215 f.: im όμολογεΐν west das „eigentliche H ren" (dem Logos ent-sprechen) ... Eigentliches H ren ist: „den Λόγος schon geh rt haben mit einem Geh r, das nichts Geringeres bedeutet als: dem Λόγος geh ren." Heraklit, Fragment 104. Vgl. auch Fragment 29. Beitr ge 414.
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gentlichen Sinne „Denkenden", konträr zu den Heutigen, die schwerhörig für die Sprache des Feldweges bleiben. Ihnen fällt nur noch „der Lärm der Apparate" ins Ohr, sie sind die Zerstreuten, die sich nicht auf eben diesen Weg und seinen Zuspruch sammeln18, welcher der Einfache ist. So ist ihnen gerade „das Einfache entflohen". Derartig Uneigentliche sind auch die Vergänglichen, über die Zeit und Geschichte hinweggeht. „Aber die Wenigen werden überall die Bleibenden sein". Obgleich der Denkende mit dem „Schritt des Landmannes" verbunden ist oder mit der bedächtigen Arbeit des Vaters im Walde beim Holzmachen („Holzwege"!), erhebt er in gehöhtem Selbstbewußtsein und zugleich in stilisierter Bescheidenheit diesen Anspruch, dessen Recht der den Feldweg des Denkens Gehende aus seinem Hören auf dessen Zuspruch ableitet. Ihm erwächst eine „wissende Heiterkeit" — das in der Sprache der Heimat Johann Peter Hebels und Heideggers gesagt: „Kuinzige". „Niemand gewinnt es, der es nicht hat, die es haben, haben es vom Feldweg"19. Dieses „heitere Wissen" , das aus dem „Kuinzigen" entspringt oder mit ihm identisch ist, ist als Gabe des Feldwegs „ein Tor zum Ewigen"20. Die so gedeutete Erinnerung an den Feldweg in Meßkirch, der für alle steht, gehört nicht zu einer für Heidegger unwesentlichen Art von „Heimatdichtung" über eine Oase frühen Glücks, über die Abgeschiedenheit des einfachen, ursprünglichen Lebens gegenüber dem dekadenten Lärm der großen Städte21, sie sagt vielmehr etwas aus über seinen eigenen Denkweg, über die bleibende Erfahrung des Ursprünglichen in der späteren Entwicklung — die „Kehre" im Selben; für sie gilt analog das, was Heidegger über seine theologischen Anfänge selbst sagt: „Herkunft aber bleibt stets Zukunft"22. Ich begleite jetzt das erdachte Gespräch , „selbstdritt auf einem Feldweg", der der Eine, vom Hofgartentor ausgehende und auf den Wald zubiegende ist, mit einigen Überlegungen, die die Bedeutung von ,Gelassenheit' für Heideggers Denken der ,Kehre' herausheben sollen. Das Gespräch vollzieht sich zwischen einem Forscher, einem Gelehrten und einem Weisen. Der „Weise" will kein „Philosoph" sein, sondern eher das, was Heidegger unter einem „Denker" versteht. Weil dies Heideggers Selbsteinschätzung entspricht, spricht aus dem „Weisen" mit Sicherheit Er 18 19 20
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Logos als „Sammlung"! Der Feldweg 23. Ebd. 23. Vgl. auch: „Schöpferische Landschaft: Warum bleiben wir in der Provinz?" (1933), in: Aus der Erfahrung des Denkens, GA 13, 9 ff. Aus einem Gespräch von der Sprache zwischen einem Japaner und einem Fragenden, in: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, 96.
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selbst. Eine gewisse Epoche gegenüber dieser Benennung (84) wird unter einer bestimmten Bedingung wieder zurückgenommen. Der Einschränkung des „Forschers": „So wäre es fast gefährlich für einen Menschen, wenn er je jWeiser' genannt würde", antwortet der „Weise" selbst: „Vermutlich wäre dies seine größte Gefahr, die er nie überwinden, höchstens aber nur dann bestehen könnte, wenn er so Rätselhaftes zu vermuten hätte, daß ihm nie eine Zeit bliebe, an seinen Namen 2u denken". Und dies trifft genau für Heidegger zu — zum Selbstschutz gegen die Usurpation des Namens des Göttlichen im Sinne Platons zumindest: Die Sterblichen allein, durch das Fragen des Eros getrieben, philosophieren, von den Göttern jedoch „philosophiert keiner und keiner strebt danach, weise (oder ein Weiser) zu werden — denn er ist es — und auch wenn ein anderer weise sein sollte, philosophiert er nicht"23. — In der verkürzten Fassung des Gespräches, in der „Erörterung der Gelassenheit" von 1959, heißt der „Weise", vielleicht im Blick auf die zuvor genannte „größte Gefahr", immerhin — sterblich bescheidener — nur „Lehrer". — Philosoph, im Unterschied zu dem „Weisen", oder Philosophiehistoriker aber ist der „Gelehrte". Er wartet mit vielen Thesen, Definitionen, communes opiniones auf, die Heidegger immer wieder als Reduktionen zu entlarven versucht, so z. B. die Bestimmung des Menschen als ,animal rationale' (22), die Subjekt-Objekt-Relation im Akt des Erkennens, das Denken als eine Art des Vorstellens — so ziemlich alles, was Heidegger selbst der „Metaphysik" anlastet. — Der „Forscher" schließlich ist Naturwissenschaftier, ein Physiker, Repräsentant des technischen Denkens, auf den Fortgang, die „Bewegung" des Gespräches drängend, während der „Weise" Ruhe will; denn das eigentliche Gespräch „will nichts" im Sinne eines intentional hervorgebrachten Ergebnisses (58). Beide, der Forscher und der Gelehrte, fordern immer wieder den „gesunden Menschenverstand" ein (19, 21), sie spiegeln in gewisser Weise auch Heideggers eigene Kritik oder die Vorwegnahme einer Kritik gegenüber seinem eigenen ungewöhnlichen Sprachgebrauch (19), sie bestehen immer wieder darauf, daß doch jedermann verstehe, was gemeint sei, während der „Weise" gerade derartige Aussagen, die Selbstverständliches suggerieren, in Frage stellt und in ihnen eher ein verborgenes Rätsel vermutet. Beide trumpfen mit festgefügtem Wissen auf, während der „Weise" — wie Heraklits ,Herr, dessen das Orakel zu Delphi ist'24 — nichts geradeheraus sagt, aber auch nicht systematisch verbirgt, sondern lediglich „weist", andeutet, Winke gibt, ahnt, den Mut zum Vermuten im Gespräch aus dem Gespräch lernt und steigert, freilich nicht aus dem hier konkret geführten und stilisierten Ge23 24
Symposium 204 a. Frg. 93.
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sprach. Der „Weise" ist ein Lehrer des bewußten (selbstreflexiven) Sprechens, welches Voraussetzung eines angemessenen Denkens des Seins oder mit diesem selbst identisch ist. So stellt der „Weise" das scheinbar Unbefragte, fraglos und un-gedacht veräußerte Wissen des „Gelehrten" und des „Forschers" ständig in Frage, indem er angesichts des (allzu) geläufigen Gebrauchs von Begriffen immer wieder der inneren Weisung der Sprache selbst folgend — "Die Sprache spricht, nicht wir sprechen" — auf eine streng, echt, ursprünglich oder eigentlich gedachte Bedeutung zurückgeht. So sind nahezu alle Hauptworte der Philosophie, die zu Grundworten Heideggers geworden sind, anders zu hören und zu denken: Die Frage ist keine Frage, die Antwort ist keine Antwort auf eine Frage (sondern das „Gegenwort zum Wort" [aus dem althochdeutschen ,anti-wurti' herausgehört25]), das Denken ist kein Denken, das Sein ist kein Sein, auch das Ding ist kein Ding, das Haus ist kein Haus (der „Forscher" befürchtet nach dem Einwurf des „Weisen", daß er „im eigenen Hause der Physik ein Fremder sein sollte"; darauf der „Weise": „Vielleicht ist der Mensch überhaupt in seinem Haus nicht zu Hause" [37]), und das Gespräch ist kein Gespräch — d. h.: Gespräch ist nicht nur „Dialog" als ein Sprechen über Etwas, das sich zwischen Sprechenden vollzieht; „Gespräch" im eigentlichen Sinne ist „doch noch etwas anderes. Was, das ist allerdings schwer zu sagen" ... Das eigentliche Gespräch bestimmt sich aus dem „Wesen der Sprache"; vielleicht aber sollte auch die ,Kehre' dieser Fügung als „Sprache des Wesens" bedacht werden, so daß Sprache, das Wesen der Sprache als das Sprechen eines hypostasierten ,Sprachwesens', sich aus dem Gespräch bestimmte - „seit ein Gespräch wir sind ..."26. Dieses „Gespräch", sich aus der Sprache bestimmend, verpflichtet also die im erdachten konkreten Gespräch auf dem Feldweg miteinander Sprechenden zu der bereits aus „Sein und Zeit" intensiv empfohlenen „Eigentlichkeit" der Rede gegenüber dem landläufigen (auch die Sprache der Wissenschaften bestimmenden) Verfall ins „Gerede". Vielleicht möchte Heidegger auch durch den Gang des Gesprächs einen Lernprozeß im „Gelehrten" und im „Forscher" dokumentieren, indem deren Sprache zunehmend „eigentlicher" wird, sich dem Sprechen des „Weisen" immer mehr angleicht und so dem Denken geeigneter wird. Im Blick auf dieses, oder zumindest auf die Einübung ins 25
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gegerwott' erscheint als eine „Übersetzung" von ,iz«nwurti' oder , nicht war" — also vor-endlich im Stand des Absoluten, in dem er als dieses selbst „sache min selbes [causa sui] und aller dinge" war82.
III
Die Forderung, den Stand eines Nicht-Wissens über die intensive Bewegung des Erkennens und Wissens hinaus erreichen zu sollen, ist kein Plädoyer für eine Verdrängung von Wissen, Vernunft und Erkenntnis überhaupt, sondern eine Anweisung für den intendierten Übergang des Wissens in ein nichtgegenständliches Denken, das einer ,docta ignorantia' („unbekantez bekantnüsse"83) oder aber dem reine Einfachheit seienden und sich dennoch selbst erfassenden, absoluten Wissen gleichkommt. Dieses „Wissen" steht über einem diskursiv in Zeit verfahrenden Wissen wie das götdiche ,super-esse' über dem ,esse creatum seu finitum'. Der „Weise", alias Heidegger, läßt im Feldweg-Gespräch da, wo der Name des Meister Eckhart genannt wird, seinen „Gelehrten" sagen: „aber die von uns [im gegenwärtigen Feldweg-Gespräch] genannte [und auch im 78
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Predigt 21; DW I 359,4. Dieses „Eine Notwendige" (Lukas 10,42: unum autem est necessarium): Predigt 86; DW III 486,3: „des einen ist not, nicht zwei". Vgl. hierzu W Beierwaltes, Primum est dives per se. Meister Eckhart und der Liber de causis, in: On Proclus and his influence in Medieval Philosophy, ed E. B. Bös and P. A. Meijer, Leiden 1992, 141-169. Von abegescheidenheit, DW V 413,3 f. DW II 488,5 f. ebd. 492,3. 503,6. Predigt „Et cum factus esset Jesus annorum duodecim etc.", Pfeiffer 25, 39.
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folgenden gemeinte] Gelassenheit meint doch offenbar nicht das Abwerfen der sündigen Eigensucht und nicht das Fahrenlassen des Eigenwillens zugunsten des göttlichen Willens"84. Derartiges, was der „Gelehrte" für die im Feldweg-Gespräch gemeinte Gelassenheit negiert, hat Heidegger zwar in den von ihm gebrauchten „Reden der Unterweisung" lesen können85; jedoch repräsentieren diese Sätze des frühen Werks Eckharts bei weitem nicht den ganzen Eckhart - gerade in dieser Frage! Sich auf diese Aussage (des eigenen Willens „entwerden", um sich in den Willen Gottes einzulassen) als den Grundzug von Eckharts Gelassenheit zu fixieren und damit die Behauptung zu verbinden, sie bliebe bei ihm immer noch „innerhalb des Willensbereiches", stellt ein eklatantes Mißverstehen des Eckhartschen Denkens dar. Man könnte dies (wie so Vieles bei Heidegger) auf sich beruhen lassen, wenn daran nicht die Legitimation und möglicherweise auch die Überzeugungskraft von Heideggers Selbstunterscheidung gegenüber der philosophisch-theologischen Tradition, und dies heißt: der „Metaphysik" hinge. Ich halte es deshalb für geboten und sachlich aufschlußreich, Heideggers geschichtsphilosophisches und philosophiegeschichtliches Konstrukt von „Metaphysik", das wesentliche Grundzüge der Geschichte des Denkens systematisch verdrängt, ausspart oder nivelliert, auch im Blick auf sein Verhältnis zu einem zentralen Gedanken der mittelalterlichen Philosophie und Theologie kritisch in Frage zu stellen. Heideggers „Abstoß" der „Metaphysik" leuchtet einem von apodiktischen, alternative-losen, streng zusetzenden Behauptungen leicht Faszinierbaren umso eher ein, je weniger differenziert die zu „verwindenden" „Vorstellungen" — trotz gelegentlicher, begleitender Demutsgebärde — von ihm selbst vorgestellt werden. Dabei scheint sich bisweilen das Verhältnis zur Tradition, wie es Bernhard von Chartres nach John of Salisbury's Aussage in einer vielschichtigen Metapher zu erfassen versucht hat86, geradezu umzukehren: „Wir" sitzen nicht als Zwerge (die — zum Ausgleich — eines weiteren Blickes fähig sind) auf den Schultern von Riesen, sondern vielleicht doch als Riesen (die endlich das Zu-Denkende zu denken vermögen) auf den Schultern bewußt und folgenreich konstruierter Zwerge. Eine derartige „Verzwergung" der Metaphysik suggeriert de facto ständig die Vorstellung, als ob Metaphysik im Gefolge Platons und des Aristoteles ihrer eigenen Zeit voraus immer schon und ausschließlich ein rein rationales, d. h. begrifflich verrechnendes, (im Sinne Heideggers) "logistisches" Denken vom Typus einer Spätscholastik oder einer - selbst nicht minder restringierten - Wölfischen Me84 85 86
S. 109. Vgl. z. B. DW V 225,3 f. 283,2 f. Vgl. R. K. Merton, Auf den Schultern von Riesen, Frankfurt 1983.
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taphysik gewesen wäre. Es geht mir also in meinem kritischen Blick auf Heideggers Verhältnis zu einem Grundgedanken Meister Eckharts nicht um den Nachweis von Unrichtigkeiten philologischer Art (obgleich diese grundsätzlich den Gedanken sachlich irreführen), sondern primär um eine Vergewisserung der geschichdichen Entfaltung des genuinen metaphysischen Denkens als eines prägenden Elementes unterschiedlicher geschichtlicher Epochen — auch in diesem Bereich. Von Eckhart jedenfalls gibt es in der Tat „Vieles zu lernen": eine gedanklich intensive, ihrer Möglichkeiten und Grenzen bewußten Form von Metaphysik. So geht auch Heideggers universale und zugleich empfindlich beschränkende Behauptung, „Metaphysik" kenne keine ,Gelassenheit', weil sie dem vorstellenden Denken verhaftet bleibe und nicht das Nicht-Wollen wolle (also Gelassenheit „noch" oder nur „innerhalb des Willensbereiches" zu denken imstande sei), an der stärksten Intention Eckharts und der ihm folgenden Mystiker, Johannes Tauler etwa und Heinrich Seuse, acht- und wortlos vorbei. Um dies zu sehen, bedarf es keiner De(kon)-struktion von Texten auf angeblich oder wirklich Ungesagtes, Verborgenes hin, es liegt vielmehr offen zutage. In derselben, schon angeführten Predigt über die geistige Armut heißt es als Auslegung des ersten Teils des schon zitierten Satzes: „Daz ist ein arm mensche, der niht enwil und niht enweiz und niht enhät": „Wenn einer mich fragte, was denn das sei: ein armer Mensch, der nichts mil, so antworte ich darauf und sage so: Solange der Mensch dies noch [an sich] hat, daß es sein Wille ist, den allerliebsten Willen Gottes erfüllen zu wollen, so hat ein solcher Mensch nicht die Armut, von der wir sprechen wollen; denn dieser Mensch hat [noch] einen Willen, mit dem er dem Willen Gottes genügen will und das ist nicht rechte Armut. Denn, soll der Mensch wahrhaft Armut haben, so muß er seines geschaffenen Willens so ledig sein, wie er's war, als er [noch] nicht war. Denn ich sage euch bei der ewigen Wahrheit: Solange ihr den Willen habt, den Willen Gottes zu erfüllen, und Verlangen habt nach der Ewigkeit und nach Gott, solange seid ihr nicht arm; denn nur das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts begehrt1^1. In den Ohren der Inquisition von Köln und Avignon müssen derartige Sätze Häresie indizieren (zumindest ,sententiae male sonantes' sein); mehr aber noch ein Satz wie dieser: wir sollten Gott bitten, „daß wir Gottes [um Gottes willen] ledig werden"88, also auch ihn „lassen", um aus ihm, dem „Gott", in die „Gottheit" - die 87 88
DW II 491,3 ff. Übersetzung von Josef Quint, ebd. 728. Ebd. 493,8. Vgl. auch DW I 196,7: „got durch got läzen." DW II 107,4 ff. Die rede der underscheidunge, DW V 225,3.
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reine Einheit — „durchzubrechen". „Das H chste und u erste, das der Mensch lassen kann, das ist, da er Gott um Gottes willen lasse"89. Wenn der Gott oder die Gottheit, die sich nur dem Gelassenen oder im gelassenen Durchbrechen sich gibt, reines Sein als reine Einfachheit ist („ez ist ein und ein l ter einunge"90), kann man nicht bei dem Gott bleiben, der sich dem Denken im Geschaffenen vielf ltig zeigt, auch nicht bei dem (von Eckhart selbst intensiv durchdachten) tnnitanschen Gott als einer sich selbst durchdringenden und durchlichtenden Reflexivit t, einem Sein, das in sich „bewegte" Bez glichkeit von Denken und Lieben ist; derartige Versuche, Gott als den im Grunde Unbegreifbaren zu begreifen, bilden eine notwendige Stufe in der Analyse von Aussagen der Heiligen Schrift ,per rationes naturales philosophorum'91, die selbst wieder zu lassen ist. — Wer also in die Gelassenheit und damit in die Einung mit dem „g ttlichen Gott"92 finden will, kann gerade nicht bei einem „Gott" verharren, der mich wollen k nnte, der mein Sich-F gen in seinen Willen forderte. Negation des Willens, den Willen Gottes zu wollen, ist das Ende — die Vollendung — eines Weges, der das Bewu tsein in den Stand und in die Ruhe des g ttlichen Eins-Seins aufhebt, in dem dieses vor der Sch pfung „war". Vielleicht ist dieses „got durch got zu lazen" auch gleichbedeutend mit der Negation eines „ged hten" umwillen eines „gewesenden" Gottes"93. Die von mir vorhin nur in ihrem Anfang
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Predigt 12; I 196,6 f: Daz h chste und daz n chste, daz der mensche gel zen mac, daz ist, daz er got durch got laze. — Eine erstaunliche Parallele hierzu („Gott lassen") findet sich bei Schelling im Kontext seiner eigenen Bestimmung der „wahren" Philosophie; er spielt dabei wohl auf Dionysius Areopagita an, seine S tze ber das „Alles-Lassen" aber entsprechen dem eckhartischen Begriff der radikalen Gelassenheit und Armut: „Hier mu alles Endliche, alles, was noch ein Seyendes ist, verlassen werden, die letzte Anh nglichkeit schwinden; hier gilt es alles zu lassen [αφελε πάντα: Plotin V 3 3, 17, 38] — nicht blo , wie man zu reden pflegt, Weib und Kind, sondern was nur Ist, selbst Gott, denn auch Gott ist auf diesem Standpunkt nur ein Seyendes ...". Gott m sse vielmehr als „Uebergottheit" gedacht werden, wie „einer der vorz glichsten Mystiker fr herer Zeiten gewagt hat ... zu reden" [Dion. Areop., De divinis nominibus XIII 3; 229,13 (Suchla): ύπερθεότης XI 6. 223,6: ύπέρθεος IV 1; 143,10: ύπέρθεος θεότης] ... „Also selbst Gott mu der lassen, der sich in den Anfangspunkt der wahrhaft freien Philosophie stellen will ... Wer wahrhaft philosophieren will, mu aller Hoffnung, alles Verlangens, aller Sehnsucht los seyn, er mu nichts wollen, nichts wissen, sich ganz blo und arm f hlen, alles dahingehen, um alles zu gewinnen" [ganz analog den hier und im Folgenden herausgehobenen S tzen Eckharts zu Armut und Gelassenheit]: Schelling, ber die Natur der Philosophie als Wissenschaft (1821), Werke, Stuttgart 1861,217 f. Ebd. 197,6. In loh. 2; LW III 4,4 ff. Die rede der underscheidunge, DW V 205,10. - Heidegger, Identit t und Differenz, Pfullingen 1957, 71: „der g ttliche Gott" des „gott-losen Denkens" gegen ber dem Gott der „Metaphysik". Die rede der underscheidunge, DW V 205,6 ff.
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zitierte Auslegung des Eckhartschen Satzes, der sei arm, „der nichts will ...", fährt fort: „Darum bitten wir Gott, daß wir ,Gottes' ledig werden und daß wir die Wahrheit dort erfassen und ewiglieh genießen, ... wo ich stand und wollte, was ich war, und war, was ich wollte. So denn sagen wir: Soll der Mensch arm sein an Willen, so muß er so wenig wollen und begehren wie er wollte und begehrte, als er nicht war. Und in dieser Weise ist der Mensch arm, der nichts m//"94.
IV
Aus einer philosophischen Theologie im Übergang vom 13. ins 14. Jahrhundert und einer Philosophie unserer Gegenwart ist kaum eine „Einheit" zu konstruieren oder — für gegenwärtiges Denken — eine reproduzierende Wiederholung des Selben anzunehmen. Die selben Begriffe, in den selben Worten oder Benennungen erscheinend, haben ihre Bedeutung durch ihre geschichtliche Entfaltung zu unterschiedlichen Kontexten und Grundabsichten hin verändert. Schon von dieser an sich trivialen Einsicht her läge es mir fern, Meister Eckhart krampfhaft — die geschichtlichen und sachlichen Differenzen einebnend — auf eine spätere philosophische Position hin zu „aktualisieren". Dessen ungeachtet könnte Eckharts zentraler Gedanke und sein sich in theoretischen Reflexionen offenbarendes Lebensinteresse aus einem congenialen (sympathetischen) christlichen Bewußtsein heraus in eine gegenwärtige, philosophisch geleitete Spiritualität produktiv aufgenommen werden. ,Gelassenheit' als ein Grundwort Meister Eckharts und Martin Heideggers fordert deshalb über die geschichtliche Distanz hinweg eine Überlegung zum Bezug der beiden im Blick auf Analogie und Differenz geradezu heraus. Einiges in diesem Felde ist zuvor schon deutlich geworden. Wenn ich nun darüber hinaus eine bestimmte Nähe Heideggers zu Eckhart heraushebe, dann möchte ich Heidegger freilich nicht zu einem „neuen Eckhart" ohne explizit christliche Intention oder ihn gar - begriffsblind - zu einem „Mysti-
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Predigt 52; DW II 493,7 ff.; die Übersetzung Quints ebd. 728. Zum „Wollen" des „NichtWollens" bei Heidegger vgl. — außer den Passagen im Feldweg-Gespräch 58 ff. 65. 67 (sich auf das „Nicht-Wollen einlassen"). 71 — aus einem Gespräch von der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, 100: „Das Wissenwollen und die Gier nach Erklärungen bringen uns niemals in ein denkendes Fragen. Wissenwollen ist stets schon die versteckte Anmaßung eines Selbstbewußtseins, das sich auf eine selbsterfundene Vernunft und deren Vernünftigkeit beruft. Wissen#O//£« will nicht, daß es vor dem Denkwürdigen verhoffe."
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ker"95 stilisieren. Heideggers Bezug zu Meister Eckhart96 kann aber auch 95
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Mit dieser Aussage verbinde ich einen Begriff von philosophischer Mystik, für den der reflexive innere „Aufstieg" des Denkens und die jede Form des Begreifens übersteigende Einung mit dem göttlichen Prinzip, — dem -neuplatonisch gedachten - Einen, oder die Re-Identifikation mit dem Gotte („Gottesgeburt" in der Seele - etwa im Sinne Eckharts) konsumtiv sind. Vgl. ausführlich hierzu in meinem „Denken des Einen", 123 — 154 („Henosis"); 385 — 425 (Aufstieg und Einung bei Bonaventura). — Weiterhin: A. M. Haas, Was ist Mystik?, in: Abendländische Mystik im Mittelalter, Symposium Kloster Engelberg 1984, hg. v. K. Ruh, Stuttgart 1986, 319 — 341. — Heideggers eigene Vorstellung von „Mystik" changiert je nach seinem lebensgeschichtlichen Kontext zwischen positiver Einschätzung „echter und großer Mystik" (vgl. oben Anm. 53) und polemischer Herabsetzung des Begriffs, der einem „vulgären", gedankenlosen, irrational-diffusen Gebrauch gleichkommt. Zu diesem Verhältnis vgl. Meister Eckhart, Mystic and Philosopher. Translation with commentary by Reiner Schürmann, Bloomington/London 1978, 192-213: „Wandering Identity (Meister Eckhart and Heidegger)": Dieser Abschnitt entspricht (im großen und ganzen) Schürmanns Aufsatz über „Heidegger and Meister Eckhart on Releasement, in: Research in Phenomenology 3,1973, 95-119. — O. Pöggeler, Mystische Elemente im Denken Heideggers und Dichten Celans, in: Neue Wege mit Heidegger, Freiburg 1992, 426 ff. (Nähe u. Differenz auch für .Gelassenheit' abwägend). — J. D. Caputo, The mystical element in Heidegger's thought, Athens Ohio - London 1978 (19842), bes. 140 ff. [Caputo kommt in der Einschätzung von Heideggers (offenem) Eckhart-Verständnis teilweise zu kritischen Resultaten, denen die meinen analog sind, z. B. S. 180 f.]. F.-W. von Herrmann, Gelassenheit und Ereignis (wie Anm. 62). A. M. Haas, Kunst rechter Gelassenheit, Bern 1995, 247-269: „Gelassenheit — Semantik eines mystischen Begriffs", 249 ff. P. Capelle, Heidegger et Maitre Eckhart, in: Revue des sciences religieuses 70, 1996, 113 — 124. Vgl. auch R. Safranski in Abschnitt V dieses Textes. [Nach Abschluß meines Manuskripts habe ich den Aufsatz von E. Wolz-Gottwald: „Martin Heidegger und die philosophische Mystik" (Philosophisches Jahrbuch 104, 1997, 64 — 77) kennen gelernt. Das spezifische Ziel seiner Überlegungen ist es, von einer Bestimmung christlich-mittelalterlicher Mystik im Sinne der Victoriner ausgehend, eine „Mystik der Denk-Wege Heideggers" (72ff) herauszustellen, die vor allem Heideggers „Reflexion über den existenziellen Wandel der Transformation" (75) beträfe. Obgleich Wolz-Gottwald die Differenz Heideggers zu „Vertretern christlicher Mystik, wie Hugo von St. Viktor oder Meister Eckhart" (77) durchaus bewußt hält, sieht er beide Denkweisen und Lebensformen in einem Interesse an einer „Philosophie der existentiellen Transformation" (78) eng verbunden. Schwer nachvollziehbar ist allerdings z. B. die von Wolz-Gottwald beanspruchte Parallele der Denkbewegung von „Sein und Zeit" — „der Ruf des Gewissens, wenn der Mensch so der Unterkunft des Man ,beraubt' wird oder eigentliches Seinkönnen plötzlich .aufleuchtet'" (75) — mit dem genuin mystischen Aufstiegs-Weg zur Einung: „illuminatio" und „raptus". Letzteres meint in mystischem Kontext nicht „berauben" (75), sondern das „Hingerissenwerden" in Gott hinein („raptus Pauli usque ad tertium caelum": 2 Cor. 12,2 f.). - In meiner Kritik an Heideggers Ausblendung des neuplatonischen Denkens aus seiner Konstruktion der Geschichte der „Metaphysik" (Verweis hierauf S. 68 mit Anm. 24) ging es mir nicht primär um das „Mystische" als Bezugspunkt in dieser Denkform, sondern um die „Differenz": Plotin, Proklos, Dionysios haben zwar nicht das SEIN als Differenz, sondern das EINE als Differenz zu allen Seins-Verhältnissen gedacht, damit aber die Differenz als Differenz vor allem Differenten. Durch diesen Hinweis ist freilich keine Gleichung von Heideggers SEIN und neuplatonischem EINEN intendiert, es soll vielmehr die — von Heidegger eingeforderte — „Systemstelle" im metaphysischen Denken angezeigt werden, die von Heidegger nie expressis verbis analysierend thematisiert wurde. So blieb eine mögliche (und notwendige) Irritation seiner Grundthese zum „Seins-Geschick" aus. (Vgl. auch meine oben in Anm. 38 zitierte Abhandlung zu Heideggers Platon-Rezeption.) — Diese Ausblendung ist (vielleicht auch) verstehbar als eine Vorform eines .ironischen
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nicht auf eine bloß"formale Anknüpfung an Eckhart"97 reduziert werden, so daß er „mit Hilfe Meister Eckharts sein Eigenes" denke, „das sich nicht aus Meister Eckhart herleiten läßt"98. Die als eindeutig trennend suggerierte Unterscheidung von „Form" und „Inhalt" trifft für bewußte Rezeptionsvorgänge schwerlich zu. So kann die Anknüpfung Heideggers an die Bewegungsform Eckhartschen Denkens, die der prononciert eckhartische Begriff ,Gelassenheit' mit sich bringt: Ablassen, Loslassen, Aus-Sich-selbst-Herausgehen, Sich-Befreien auf die Vollendung eines Weges von Denken und Leben hin, Sich-Einlassen in dieses Ziel im Aufgeben aller Intentionalität, die sich primär als Nicht-Wollen erweist, — eine Anknüpfung also an diese Formen des „Lassens" kann nicht nur als eine äußere, sozusagen ablösbare oder aufgesetzte „Form" gedeutet werden, die von der sachlichen Grundeinsicht rein gar nichts (in ihr Eigenes) mitgenommen hätte. Schon die Bewegung auf diesem Weg sollte nicht als eine dem Gedanken äußerliche, instrumenteile „Methode" eingeschätzt werden. Freilich kann Heideggers Seyn als Ereignis, dessen „Näherin" die Gelassenheit ist, als gebendes [„ES gibt"] Geschehen und Geschick nicht mit dem christlichen Begriff des Gottes als Sein, als über jeder „Etwas" zusprechenden Aussage seiendes Über-Sein oder als trinitarische Selbstentfaltung und gründender Grund (der Seiendes „sein läßt"!) unmittelbar konkurrieren, obgleich auch hierzu verdeckte Sach-Bezüge Heideggers trotz differenten Interesses bestehen. Es trifft schon im Sinne einer bloß immanenten Interpretation nicht zu, daß Gelassenheit für Eckhart eine Sache der Lebensform sei, hingegen für Heidegger ein Akt des Seins selbst, das „Seiendes sein läßt"99. Heideggers Gelassenheit als ein Sicheinlassen auf die „Entborgenheit des Seienden"100 oder auf die Unverborgenheit des Seyns (wie sie der Feldweg dem Denkenden zuspricht) in einer geduldigen Einübung ins (zukünftige, andere) Denken erscheint mir als ein wesentliches Moment in einer Bestimmung des denkenden Lebens, a. h. auch des individuellen Denkers, dem es in seinem Fragen einzig um das einzig Fragwürdige — das Seyn — geht. — Wenn man bei einem „Vergleich" für den Begriff Gelassenheit primär beider Begriffe von Sein im Blick hat (Sein als zeitfrei Unwandelbares versus Seyn als jGeschick'), so könnte Zeit-Freiheit oder
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Eklektizismus', wie ihn postmoderne philosophische Literaten als Lizenz zur eigenen Entlastung, zur Verdrängung oder selbst-inszenatorischen Veränderung von Texten und Fragmentierung von Traditionen für sich in Anspruch nehmen und dies auch Anderen konzedieren. Wer Einspruch gegen derartige Dekonstruktionen erhebt, wird umstandslos in die Rolle des unbegabten Beckmessers versetzt.] So F.-W. von Herrmann, a. a. O. 372. Ebd. So R. Schürmann, a. a. O. 204. Vom Wesen der Wahrheit (1930) [wie Anm. 6] 15.
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Zeitlichkeit durchaus als Differen^ gelten. Wenn hingegen Gelassenheit für Eckhart und Heidegger primär eine Bewegung auf dem Wege des Denkens (und für Eckhart der religiösen, christlichen Erfahrung) ist, dann ist Gelassenheit für beide ein grundsätzlich zeitlicher Akt, der für Eckhart freilich in der Einung mit dem götdichen Einen ins zeit-freie Sein und ins Nicht-mehrDenken übergeht101. Es ist auch nicht denkbar, in dem Sinne Heidegger von Eckhart klar zu unterscheiden, daß das Ziel des Weges des Gelassen- Werdens im Sinne Eckharts das Sein oder das Eine als Gott sei, für Heidegger jedoch das Seyn von „Gott" als different gedacht werden müsse. Dies behauptet allerdings Heideggers Satz: „Das „Sein" — das ist nicht Gott und nicht ein Weltgrund", es ist: „Es selbst"102. Heideggers „Beiträge zur Philosophie" indes und zusammen mit ihnen und in ihnen die sein Denken wesendich prägenden //öMr//«-Interpretationen bringen einen Bezug von Seyn und dem Gott oder den Göttern ins Spiel, dessen untrennbare Nähe zum SEYN zu bedenken wäre. Heideggers Gott (ver-) birgt in sich allerdings eher Hölderlinisches und darin Griechisch-Mythisches in verwandelter Form denn spezifisch Christliches. Das „Offene", in das .Gelassenheit' sich einläßt, ist aber immerhin als der „ Wesensraum für das Erscheinen oder Sichentziehen des Heiligen, des Götdichen und des Gottes" verstehbar103. Der sich von „Metaphysik" abstoßende Impetus Heideggers, der auch im Feldweg-Gespräch allenthalben spürbar ist, trifft für ,Gelassenheit' zumindest dadurch ins Leere, daß der „Weise" Heideggers Eckbarts Grund-Einsicht und -Absicht nicht erkannt hat, die Aufhebung von Intentionalität, also auch des Wollens als deren Grundform, sei Bedingung und Vollzug von Gelassenheit. Zu Heideggers Gelassenheit gehört wesentlich das bewußte Loslassen des vorstellenden, vergegenständlichenden, verdinglichenden, rechnenden und Betreibenden' Denkens — identisch mit dem Typus neuzeitlicher technologischer Vernunft — zugunsten eines „besinnlichen", auf die Unverborgenheit des Seyns sich einlassenden Denkens; dieses — das Seyn — freilich bleibt
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Die Behauptung Schürmanns (209): „The history of being itself forbids Eckhart to diink about the temporality of releasement" ist eklatant falsch. Die Zeithaftigkeit der Bewegung des Lassens wird erst in dem „Stand" oder in der „Ruhe" des Gelassen-Seins aufgehoben (Entzeitlichung), vgl. z. B. Pred. 12; DW 202, l ff. 203, 2 ff. 102 Heidegger, Über den „Humanismus", 76 (vgl. Anm. 3). 103 p_w von Herrmann, a. a. O. 385. — Das Lassen des Willens als eine Voraussetzung des Sich-Einlassens in Seyn, Gelassen-Sein als „Ruhe" aus der Bewegung, hat ein metaphysischbegründetes chrisdiches Pendant: die erfüllende Beruhigung oder Ruhe (requies) der denkend-aufsteigenden Bewegung im „Ort der Orte", oder im absoluten „Ort von Allem", der Gott ist. Vgl. hierzu Werner Beierwaltes, Eriugena (wie Anm. 29) 303 ff. Dies ist ein auch für Eckharts Denken bestimmender Gedanke der Metaphysik, der in Heideggers ,Gelassenheit' nicht „destruiert" ist — wozu auch nichts drängen sollte!
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in vieler Hinsicht dunkel. Dadurch, daß Heidegger Eckharts Gelassenheit offenkundig auf eine asketische Einübung in ein gottgefälliges' Verhalten einschränkt, kommt (ihm) gar nicht in den Blick, daß Eckhart durch seine Protreptik zur Gelassenheit durchaus Analoges zu ihm selbst in der Einschätzung von Erkennen und Vernunft (intellectus) intendiert: Eine Überwindung nämlich von diskursiv-argumentierendem, Vernunft- und bild-haftem Denken, das (an sich) für zentrale Bereiche seiner Theologie unabdingbar ist, auf ein nicht mehr gegenständliches (oder vergegenständigendes) Denken hin, das einem intuitiven Einswerden mit dem Einen göttlichen Ziel des Weges gleichkommt. Auf diesem Weg geht er sogar über „vernünftige" Bestimmungen des Gottes und der ,divina' ,per rationes naturales philosophorum' hinaus in eine begreifend nicht mehr faßbare und aussprechbare „Gottheit": „Gott" „um Gottes willen zu lassen" (so Meister Eckhart) wird zum „Durchbruch" in die „Gottheit" als ein das Denken, Sprechen und Tun vollendend-übersteigendes Einungsgeschehen. Wenn für Heidegger ,Gelassenheit' ein Grundwort ist, in dem sich die Nähe zum Denken des Seyns als Ereignis anzeigt, wenn deren Bewegung wesentlich in dieses Denken gehört oder gar dieses selbst ist, dann hat er in ihr oder durch sie, d. h. in ihrem Geltungsbereich, „Metaphysik" nicht destruiert, sondern vielmehr eines ihrer (in ihrer philosophischen Bedeutung wenig gekannten) Theoriepotentiale und Denkbewegungen auf ein Erstes hin im Interesse seines eigenen, freilich nur an-gedachten Grundgedankens säkularisierend umbesetzt. Der (System-)Sinn oder die Funktion von Weg, Bewegung und Ziel sind für beide Weisen von Gelassenheit durchaus vergleichbar. Und ohne die Nähe zu Eckharts radikal „befreiender" Bewegung in Gelassenheit als Überwindung aller Weisen der Intentionalität eines modalen, kategorial reflektierenden Denkens ist Heideggers eigener Gedankenzug kaum denkbar, wie unzulänglich auch seine spezifische Begegnung mit Eckhart gewesen sein mag. Dies gilt in analoger Weise für ,Armut'104. Diese Aussage will nicht „Gleichheiten" behaupten, wo sie nicht möglich sind, sie soll auch nicht von dem Sachverhalt ablenken, daß Eckharts Konzeption eines sich selbst als reines Denken gründenden und entfaltenden Seins, sein Begriff des trinitarisch sich selbst durchlichtenden, reflexiv sich mit sich selbst vermittelnden Gottes und der ihn „übergreifenden" Gottheit — ungeachtet der sachlichen Unterschiede — von wesentlich größerer Klarheit und innerer Differenziertheit ist als Heideggers quasimythischer, glasperlenspielartiger, aus seiner hermetisch verschlossenen und zugleich pseudeoschwierigen Sprache heraus kaum übersetzbarer und nur so hinreichend diskutierba104
Vgl. oben S. 18 und 24.
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rer ,Gedanc', der das Seyn als Ereignis, Lichtung, Geviert umkreist; sie sollte allerdings die Diagnose mitbegründen, daß ,Gelassenheit' zu den kryptogamtheologischen Momenten gehört, die Heideggers Denken trotz seines Einspruchs gegen die „onto-theologische Verfassung" der „Metaphysik" nachhaltig bestimmen105.
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Rüdiger Safranski hat seiner informativen und umsichtigen Heidegger-Biographie den Titel gegeben „Ein Meister aus Deutschland"106. Die unmittelbare Anregung zu diesem Titel scheint mir aus Paul Celans „Todesfuge" zu stammen. In ihr kehrt „ein Meister aus Deutschland", eindringlich schmerzhaft fugiert, viermal wieder in der Erinnerung an die Tötung der Juden durch die Nazis in den Konzentrationslagern: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, sein Auge ist blau, er trifft dich mit bleierner Kugel, er trifft dich genau ...". Safranski hat, indem er Heidegger als einen „Meister aus Deutschland" benennt, diese Verbindung zu Celan notiert in der letztlich unbestimmt bleibenden Bemerkung im Vorwort seiner Biographie: „Er [Heidegger] hatte durch seinen politischen Umtrieb auch etwas von jenem „Meister aus Deutschland", von dem in Paul Celans Gedicht die Rede ist"107. Zuerst aber soll der Leser bei dem Titel „Ein Meister aus Deutschland" an den Meister Eckhart denken, der von Safranski auch als ein „Meister aus Deutschland" apostrophiert wird und sowohl durch Heidegger als auch durch den Tod in 105
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Einzubeziehen in eine derartige Überlegung wäre auch „Ereignis" im Blick auf die christlichneuplatonische Konzeption der freien Selbtserschließung Gottes (als ,bonum', welches ,diffusivum sui' ist), weiterhin die „Hut" und die „Huld", die „Gunst" und das „Opfer", das „Wort, aus dem die Wahrheit des Seins zur Sprache kommt", die Metamorphose des „Heiligen" (Hölderlin), aber auch der aus Heideggers Auffassung des Wesens der Sprache immer wiederkehrende Gedanke einer Sprache, die sich selbst spricht, nicht aber der Mensch, so etwa in „... Dichterisch wohnet der Mensch", Vorträge und Aufsätze 190: „Denn eigentlich spricht die Sprache [als das ^prachwesen']. Der Mensch spricht erst und nur, insofern er der Sprache entspricht" [das von Heidegger so verstandene heraklitische ]. Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957, 161: „Die Sprache spricht, nicht der Mensch. Der Mensch spricht nur, indem er geschichtlich der Sprache entspricht" — christlich gedacht: der Mensch als „Hörer des Wortes", das sich ihm im Offenbarungs-Geschehen frei eröffnend zuspricht; — Sprache als „Haus des Seins" und der Mensch als dessen hörender und hütender „Hirt". Die „deutsche Philosophie" ist in der Gestalt Heideggers — trotz aller Abwehrversuche — immer noch „eine hinterlistige Theologie" (Nietzsche, Der Antichrist § 10). Auf diese verborgene (und auch offen sich zeigende) Bewußtseinslage hin wären vor allem Heideggers „Beiträge zur Philosophie" zu bedenken. Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München 1994. S. 14. Das Gedicht oder auch nur sein Titel „Todes fuge" wird von Safranski nicht zitiert.
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Auschwitz in ein fast absurdes Zwielicht gerät. Seine Motivation, Heidegger an Meister Eckhart anzunähern, beschreibt Safranski so: „Martin Heidegger — Ein Meister aus Deutschland. Er war wirklich ein ,Meister' aus der Schule des Mystikers Meister Eckhart. Wie kein anderer hat er in einer nichtreligiösen Zeit den Horizont für religiöse Erfahrung offengehalten. Er hat ein Denken gefunden, das den Dingen nahe bleibt und vor dem Absturz in die Banalität bewahrt"108. Auch dieser Hinweis auf eine Vergleichbarkeit des Magister Eckardus und des Deutschen Meisters' aus Meßkirch bleibt unbestimmt und irreführend. Abgesehen davon, wie „religiöse Erfahrung" und „nicht-religiöse Zeit" im 13./14. Jahrhundert und im 20. Jahrhundert einigermaßen präzise (auch in ihrem Unterschied) gedacht werden sollten und wie Safranskis Reduktion auf Eckhart und Heidegger im Blick auf die ihnen zugesprochene Tätigkeit („Offenhalten des Horizontes für religiöse Erfahrung, Bewahrung vor dem Absturz in die Banalität") überhaupt begründet werden könnte — für Heidegger fielen mir in puncto „Religion", ihm weit zuvor, eine ganze Reihe anderer Namen ein: Martin Buber z. B., Franz Rosenzweig, Max Scheler, Dietrich von Hildebrand ... — stört mich zumindest die anachronistische Zusammenspannung beider unter dem Horizont des Deutschen. Unbelastet ist zwar die im Mittelalter geläufige Bezeichnung Eckharts als „Eckardus Theutonicus, homo doctus et sanctus"109; — „Eckehart der Deutsche" aber war er in einem ganz anderen Sinne für die nationalsozialistische Weltanschauung: In einer grotesken Verzeichnung seiner Person und seiner Schriften erklärt Alfred Rosenberg Meister Eckhart zum „größten Apostel des nordischen Abendlandes", der „deutschen Glaubenswerte"; „in ihm kam die nordische Seele zum ersten Mal ganz zum Bewußtsein ihrer selbst"; durch ihn tritt „an die Stelle der jüdisch-römischen Weltanschauung das nordisch-abendländische Seelenbekenntnis als die innere Seite des deutsch-germanischen Menschen, der nordischen Rasse"; aus „Eckeharts Seele" werde einmal der deutsche Glaube geboren: der Glaube, „daß das nordische Blut jenes Mysterium darstellt, welches die alten Sakramente ersetzt und überwunden hat"110. 108
S. 14. 109 Ygi j-[ Stirnimann und R. Imbach (Hg.), Eckardus Theutonicus, Homo doctus et sanctus, Freiburg/Schweiz 1992, z. B. 169 (in dem Beitrag von L. Sturlese zu Meister Eckharts Weiterwirken). 110 A. Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, 193312 (meine Zitate: S. 218. 230. 259. 252. 114). Eine anonyme, scharfe und kompetente Kritik dieser Eckhart-Farce hat Bernhard Lakebrink, ein Schüler von Alois Dempf, in den von Clemens August Graf von Galen, Bischof von Münster, herausgegebenen „Studien zum Mythus 20. Jahrhunderts", einer „Amtlichen Beilage zum Kirchlichen Amtsblatt für die Diözese Münster, 1934, 84—114 publiziert. Vgl. auch Ingeborg Degenhardt, Studien zum Wandel des Eckhartbildes, Leiden 1967, 261 ff.
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Weniger suggestiv, aber angemessener ist es, das Verhältnis Heideggers zu Meister Eckhart von der in sich komplexen Nähe und Ferne der in beiden sich zeigenden Sach-Problematik her zu durchdenken, als dem zwiespältigen Vorschlag zu folgen, sie als „Deutsche Meister" verbünden zu sollen.
THEODOR BODAMMER
Über die Kunst, gut zu sprechen In seinen „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" korrigiert Hegel das landläufige Bild von den Sophisten. Durch ihren Gegensatz gegen Sokrates und Platon seien sie in den schlimmen Ruf der „Sophisterei" gekommen. Dies Wort bedeute gewöhnlich, „daß willkürlicher Weise durch falsche Gründe entweder irgend ein Wahres widerlegt, schwankend gemacht, oder etwas Falsches plausibel, wahrscheinlich gemacht wird" (XIV, 8). Dieser Vorstellung vom Sophisten als einem der Wahrheit nicht verpflichteten, spitzfindigen Wort- und Gedankenverdreher stellt Hegel ein im ganzen recht positives Bild entgegen. Die Sophisten seien „die Lehrer Griechenlands" gewesen, „durch welche die Bildung überhaupt in Griechenland zur Existenz" gekommen sei (9). Ihre Aufgabe sei es gewesen, Unterricht in den Wissenschaften, in Musik und Mathematik wie in der Weisheit zu erteilen. Statt in festen Schulen zu unterrichten, seien sie herumgereist und hätten ihre Lehrtätigkeit in den Städten als einträgliches Gewerbe betrieben. Hegel hebt ausdrücklich hervor, die Sophisten seien vor allem „Lehrer der Beredsamkeit" gewesen; sie seien damit auf das Bedürfnis von Bürgern eingegangen, durch die Kunst der Rede und Argumentation demokratische Entscheidungsprozesse zu beeinflussen. Doch worin besteht „die Kunst, gut zu sprechen"? Dieser Frage widmet Hegel eine längere Betrachtung, in der eigene Überlegungen und paraphrasierender Kommentar zu Platons „Protagoras" ineinanderfallen (11 ff.). Über eines ist sich Hegel von vornherein klar: Im eigentlichen Sinne „gut" spricht nicht bereits jemand, der über genügend Sprachkenntnisse und rhetorische Geschicklichkeit verfügt. Schön reden ist nicht auch schon „gut sprechen". Das zu seiner Zeit beliebte Parlieren in französischer Sprache wertet Hegel als „Schwatzen". Gleich in mehreren Formulierungen charakterisiert er, worauf es beim guten Sprechen ankommt. So heißt es z. B.: „Aber das bloße Sprechen macht es nicht aus, sondern die Bildung gehört dazu. Man kann eine Sprache ganz regelrecht inne haben; wenn man aber die Bildung nicht hat, ist nicht gut sprechen" (13). Dieser Satz könnte die Vorstellung hervorrufen, Hegel sei ein Freund einer sich mit humanistischen Inhalten schmückenden Bildungssprache. Doch so ist Hegels Äußerung nicht gemeint. In welchem Sinn hier von Bildung gesprochen wird, geht deutlicher
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schon aus der folgenden Bemerkung hervor: „Dazu gehört die Bildung, daß dem Geiste gegenwärtig sind die mannigfaltigen Gesichtspunkte, daß ihm diese sogleich einfallen, daß er einen Reichtum von Kategorien hat, unter denen ein Gegenstand zu betrachten ist" (13). Bildung bedeutet hier also keine bloße Anhäufung von Bildungswissen, sondern steht für eine „Fertigkeit", die Fähigkeit nämlich, alle die Aspekte in die Betrachtung des Gegenstandes einzubeziehen, die für ein sachkundiges Urteil und den angemessenen Umgang mit der Sache erforderlich sind. Mit ausdrücklichem Hinweis auf Aristoteles ,Topik' ergänzt Hegel seine Ansicht von gebildeter Beredsamkeit, wenn er formuliert: „Zur Beredsamkeit gehört aber besonders das: an einer Sache die vielfachen Gesichtspunkte herauszuheben, und die geltend zu machen, die mit dem in Zusammenhang sind, was mir als das Nützlichste erscheint. Solche konkrete Fälle haben viel Seiten: diese unterschiedenen Gesichtspunkte aber zu fassen, dazu gehört ein gebildeter Mann; und das ist die Beredsamkeit, diese hervorzuheben, die anderen dagegen in den Schatten zu stellen. Darauf bezieht sich auch des Aristoteles Topik, diese , Kategorien, Gedankenbestimmungen anzugeben, wonach man sehen muß, um reden zu lernen" (12). Das heißt also: Wer gut reden will, darf eine Sache nicht einseitig betrachten; er muß vielmehr fähig sein, sie in der ganzen Vielfalt der Zusammenhänge zu sehen, die für ihr Verständnis und den Umgang mit ihr relevant sind. Er soll darüber hinaus in der Lage sein, die verschiedenen Aspekte der Sache so zu ordnen und gegeneinander abzuwägen, daß sich die für die Nützlichkeitsbeurteilung entscheidenden von den mehr beiläufigen Gesichtspunkten abheben lassen. Der ,gut' Sprechende muß deshalb gleicherweise Nähe wie Distanz zur Sache haben. Er hat sie gleichsam von innen genau zu kennen, und er muß das Bezugsfeld, in dem sie steht, soweit überblicken, daß er die Relevanz der Teilaspekte für die Lösung des anstehenden Problems erkennen kann. Erst wer also in solcher Weise umsichtig und gedanklich reflektiert, der inneren strukturellen wie der äußeren beziehungsmäßigen Eigenart einer Sache einigermaßen gerecht zu werden vermag, kann den Anspruch erheben, „gut zu sprechen". Auch Philosophen haben die Aufgabe, „gut zu sprechen". Hegel nennt ausdrücklich Sokrates und Platon, die die Verpflichtung guten Sprechens für sich übernommen haben (23). Doch nicht allein Philosophen haben diese Verpflichtung einzulösen, sie gilt ebenso für Politiker. Ein welterfahrener gebildeter Staatsmann sei derjenige, „der eine Mitte zu treffen weiß, praktischen Verstand hat; d. h. der nach dem ganzen Umfang des vorliegenden Falls handelt, nicht nach Einer Seite desselben" (7). Umsichtiges Handeln setzt einen umfassenden, alle relevanten Aspekte einbeziehenden Klärungsprozeß
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voraus. Der Politiker sieht sich auf diese Weise genötigt, gut zu sprechen. Interessant ist nun, daß Hegel auch von der Aufklärung und Bildung seiner Zeit ganz allgemein sagen kann, sie ständen „ganz auf demselben Standpunkt" (22). Das zeigt, daß für Hegel der Anspruch, gut zu sprechen, generell gilt: Jeder aufgeklärte und gebildete Mensch hat die Verpflichtung, gut zu sprechen. Besondere Schwierigkeiten bereitet demjenigen, der gut zu sprechen versucht, gewöhnlich die Wahl der Kriterien, nach denen sich die verschiedenen Sachaspekte in eine Ordnung und Rangfolge bringen lassen. Was ist für die Beurteilung eines vorliegenden Falles letztlich entscheidend, welche Aspekte haben sich unterzuordnen? An dieser Stelle beginnt auch die Kritik Hegels an den Sophisten. Partikulare untergeordnete Gesichtspunkte seien von ihnen willkürlich als entscheidende höchste Prinzipien aufgestellt worden. Die Sophistik sei beim interessegeleiteten Raisonnieren aus Gründen stehengeblieben. Und weil sich für alles, auch das Schlechteste, gute Gründe fänden, habe die subjektive Reflexion der Sophisten das bisher Feste, Überzeugungen der Religion und Sittlichkeit, wankend gemacht und aufgelöst, ohne selbst zu neuen festen Grundlagen zu gelangen (20 ff.). Dem ethischen Relativismus der Sophisten stellt Hegel Platons Orientierung an der Idee des Guten gegenüber. Nicht das jeweils bessere oder Nützliche habe zu entscheiden, sondern das Gute selbst. Hegel findet große Worte für dieses „Gute, als solches": es ist „das Allgemeine", „Anundfürsichseiende", „die Substanz", „das Ewige", „Gott", „das Wahre" (23 ff.). Das an und für sich Gute ist „ein Festes", „was der Geist ewig in sich findet" (23). Es wird „durch das Denken hervorgebracht" als das „Allgemeine, welches sich in sich selbst bestimmt, sich reaüsirt, und realisirt werden soll, — das Gute als Zweck der Welt, des Individiuums" (70). Die Idee des Guten sei das „gewußte Gute", das vom Denken subjektiv gesetzt werde, aber so, daß es zugleich „objektiv", als „an und für sich seiendes Allgemeines", ist; es sei die „Einheit des Subjektiven und Objektiven" (46 u. 70). „Alles", so kann Hegel zusammenfassend sagen, „was Werth für den Menschen hat, das Ewige, Anundfürsichseyende ist im Menschen selbst enthalten, aus ihm selbst zu entwickeln" (74). Dem Sophisten Protagoras gesteht Hegel zu, er sei nicht bloß „bildender Lehrer", sondern auch „ein tiefer gründlicher Denker" gewesen (30). Doch gegen den bekannten Homo-mensura-Satz des Protagoras wendet Hegel gleichfalls ein, er bleibe unbestimmt und mehrdeutig. Denn als Maß aller Dinge könne man zum einen den zufälligen Menschen in seiner Partikularität erklären, es könne aber auch „der Mensch nach seiner vernünftigen Natur und seiner allgemeinen Substantialität" als „absolutes Maaß" genommen wer-
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den (30). In dieser Bestimmung käme der Satz auch bei Sokrates und Platon vor; „hier ist der Mensch das Maaß, indem er denkend ist, sich einen allgemeinen Inhalt gibt" (31). Das ist Hegels eigene Überzeugung. Für ihn übt die Kunst des guten Sprechens deswegen eigentlich erst derjenige wirklich aus, der nicht allein eine Sache in ihrer Vielseitigkeit zu sehen in der Lage ist, sondern der darüber hinaus beim Abwägen der verschiedenen Gesichtspunkte über den richtigen Maßstab, das „absolute Maaß", verfügt, nämlich das Wissen vom an und für sich Guten. Große emphatische Worte lassen den skeptischen Betrachter unserer Tage schnell mißtrauisch werden. Hinter den Euphemismen verbergen sich oft gerade ungelöste Probleme. Die feste Grundlage guten Sprechens im Wissen des an und für sich Guten als absolutem Maß zu sehen, dürfte heute aus vielen Gründen kaum mehr möglich sein. Schwierigkeiten solcher Art hat z. B. Karl R. Popper deutlich Ausdruck gegeben. Für ihn gehört Hegel zu den falschen Propheten der Philosophie, und Platon, so jedenfalls, wie er ihn verstand, zu den ebenso verführerischen wie in ihrer Wirkung verhängisvollen Zauberern. Protagoras dagegen zählt wegen seiner Nichtfestgelegtheit für Popper gerade zu den großen Philosophen einer offenen humanen Gesellschaft.1 Wie Protagoras plädiert auch Popper nicht für das schlechthin Gute, sondern für das jeweils Bessere und Nützliche. Im Besitz des Wissens vom Wahren und Guten selbst zu sein, erschiene ihm als Anmaßung einer prophetisch orakelnden Philosophie. Wer sich im Besitz der Wahrheit dünkt, schirmt sich gegen Kritik ab, zeigt sich intolerant und ist, wenn er Gegenrede erfährt, nicht am Erkenntnisgewinn, sondern an der Selbstverteidigung interessiert. Das Wahre und das Gute können nur als regulative, nicht als höchste konsumtive Prinzipien für das Denken und Handeln von Menschen in Anspruch genommen werden. Von der Position Poppers aus würde es, um gut zu sprechen, genügen, das Wahre und Gute ernsthaft und konsequent zu suchen; auf den Besitz einer festen sicheren Grundlage kann Popper verzichten. Zu Platon und seiner Idee des Guten hat die gegenwärtige Platonforschung neue Brücken gebaut, indem sie dessen skeptischen Grundzug Wahrheitsansprüchen gegenüber herausgearbeitet hat.2 Die literarische Form von Dialogen ermöglicht es Platon, Wahrheitsbehauptungen bestimmten Sprechern zuzuordnen, im Gespräch der verschiedenen Sprecher miteinander 1
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Vgl. dazu Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 1: Der Zauber Platons, Bd. 2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, Bern und München 1957/ 8. Vgl. zum folgenden vor allem W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Götüngen 1982, S. 50 ff.
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Wahrheit positionsgebunden zwar perspektivisch sichtbar zu machen, die Wahrheitsfrage im ganzen aber in der Schwebe zu lassen. Dieses Vorgehen entspricht Sokrates' selbstkritischer Einsicht, zu wissen, daß er — letztlich — nicht weiß. Der Leser der Dialoge empfängt nicht eigentlich Lehren Platons, auch keine Ideenlehre, sondern er nimmt teil an offenen Gesprächen. So erfährt er zwar manches Wissenswerte über Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit, Frömmigkeit, Liebe, die Annahme einer Unsterblichkeit der Seele, die Notwendigkeit der Annahme von Ideen und vieles mehr. Doch letzte, systematisch abschließende Antworten auf die verhandelten Fragen werden ihm nicht gegeben. Der Erkenntnisgewinn der Platonlektüre ist deshalb vor allem die Schärfung des Bewußtseins für die aufgeworfenen Probleme und zugleich dafür, daß menschliche Rede an hinterfragbare Voraussetzungen gebunden ist. Auch Platons Einführung von Ideen erscheint vor diesem Hintergrund in einem anderen Licht. In ihr findet nicht einfach so etwas wie eine transzendente Erkenntnis ewiger göttlicher Gedanken ihren Niederschlag. Platon sieht sich zu einer Annahme von Ideen genötigt, um Funktion und Bedeutung allgemeiner sprachlicher Ausdrücke klären zu können. Selbst die Idee des Guten läßt sich anders deuten, als Hegel oder Popper es taten. Es ist eine alte Beobachtung, daß Platons Idee des Guten inhaltleer bleibt. Das schlechthin Gute wird von Platon inhaltlich nicht festgeschrieben. Das legt die Annahme nahe, daß auch sie eine nur regulative Funktion besitzt. Offenbar soll sie als eine übergeordnete Orientierungshinsicht den Gebrauch von Gütern und Normen in konkreten Lebenssituationen regeln helfen.3 In einer solchen Funktion gewinnt sie indes eine zentrale Bedeutung für die Kunst, gut zu sprechen. Die Systematisierung und Abwägung der verschiedenen Sachaspekte, die der gut Sprechende vornehmen muß, hat in der Intention zu geschehen, das zu erkennen und praktisch zu ermöglichen, was in einer gegebenen Lage tatsächlich als ,gut' gelten kann. Wegen des grundsätzlichen Hiatus zwischen allgemeinen Gesetzesannahmen und besonderen individuellen Situationen ist diese Aufgabe nicht schon damit gelöst, daß man die Werte, Normen, Regeln, Gesetze oder Theorien kennt. Zu ihrer situationsgerechten Verwendung braucht es die sich an der Idee des Guten orientierende Urteilskraft des gut Sprechenden. Erst sie kann auf sensible, nicht von vornherein festgelegte Weise zwischen der einmaligen Situation und dem Allgemeinen und Notwendigen vermitteln. .Philosophie' im buchstäblichen Sinn — darauf hat bereits Sokrates ausdrücklich hingewiesen4 — ist ,Liebe zur Weisheit'. Der Philosoph ist ein 3 4
W. Wieland, a. a. O., S. 95 ff. Platon, Symposion 204 a 5 ff.
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Freund des Guten, Wahren und Schönen. Sie sind nicht sein jederzeit verfügbarer, fester Besitz, doch er sucht sie und sieht sich ihnen verpflichtet. Wer ,gut' sprechen will, kommt deshalb an der Philosophie nicht vorbei. Die Kunst guten Sprechens ist letzdich eine philosophische Kunst. Darum beherrscht auch niemand diese Kunst so vollkommen wie Sokrates, das Urbild aller Philosophen, und sein literarischer Vermittler und Mitgestalter Platon. Am Beispiel einer Schrift Platons soll deshalb einmal demonstriert werden, wie gutes Sprechen aussehen kann. Unter den Dialogen Platons gibt es ein Werk, das nur stellenweise ein Gespräch, in der Hauptsache eine Folge von Reden ist. Diese Schrift, das ,Symposion', empfiehlt sich als Beispiel für Platons Kunst guten Sprechens, wechseln hier doch die unterschiedlichen Aspekte der in ihr verhandelten ,Sache' nicht gar so schnell, wie es sonst in den Gesprächen des Sokrates geschehen kann. ,Gut sprechen' ist nicht ,schön reden' — das hatte sich schon gezeigt. Trotzdem kann auch das ,gut Sprechen' ein kunstvolles Gewand anlegen. Im ,Symposion' ist bereits der literarische Rahmen und die Anordnung der Reden mit ästhetischem Sinn gestaltet. Gleich zu Beginn des JDialogs' stellt Platon Distanz zu den geschilderten Ereignissen her, indem er verschiedene Erzählebenen einführt. Auf dem Heimweg nach Athen erzählt Apollodor dem Glaukon und Freunden, was ihm selbst einmal Aristodemos, ein leidenschaftlicher Verehrer des Sokrates, von einer schon Jahre zurückliegenden Feier zu Ehren des Tragödiendichters Agathon berichtet hat. Unter den Personen, die sich zu dieser Feier eingefunden haben, sind bekannte Persönlichkeiten Athens. Durch seine literarische Rahmenkonstruktion nimmt Platon seinen Lesern jedoch die Möglichkeit einer historischen Rekonstruktion der Ereignisse und siedelt die bei der Feier gehaltenen Reden auf einer fiktiven Ebene an. Nur ungefähr, wenngleich in einigen Teilen durch Sokrates selbst bestätigt, könne berichtet werden, wie die Reden gelautet haben. Auf diese Weise versetzt Platon die Reden in einen ironischen Schwebezustand zwischen Fiktion und dem Anschein historischer Realität. Die Anordnung der Reden verrät gleichfalls die geschickt inszenierende Hand Platons. Die Reden alternieren in ihrer Gewichtung: Phaidros beginnt mit einer nicht allzu langen Rede, die die Funktion eines thematisch hinführenden und manches nur erst andeutenden Prologs übernimmt. Die zweite und vierte Rede, von Pausanias und Aristophanes gehalten, bilden bereits sich steigernde Höhepunkte, hinter denen die dritte kürzere Rede des Arztes Eryximachos und die fünfte, von euphemistischen Superlativen überquellende Rede des Dichters Agathon zurücktreten. Der überschwengliche Lobpreis des Agathon dient Platon als Kontrastfolie, um daran die gedanklich reflektierten Äußerungen des Sokrates abzuheben, der, obwohl er vorgibt,
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keine so schönen Reden halten zu können, im ganzen den stärksten Beitrag zum Thema beisteuert — auch dies ein Exempel dafür, daß ,schön reden' und ,gut sprechen' nicht dasselbe sind. Eine trunken-bizarre Lobrede des später hinzugekommenen Alkibiades auf Sokrates als lebende Verkörperung des Eros in einem Menschen bildet den komödiantischen Epilog des ganzen. In der Anordnung der Reden läßt sich so bereits eine unterschiedliche Akzentuierung der verschiedenen Aspekte erkennen, unter denen die sieben Sprecher ihr aufgegebenes Thema in den Blick nehmen. Doch obwohl sich die Themen in ihrer Aussagekraft voneinander unterscheiden, gibt es doch keine, die nichts zur Sache beizutragen hätte; selbst die schwächste Rede hat noch perspektivischen Einblick in die Sache zu gewähren. Es ist wie bei einer Bergwanderung, die über eine Reihe verschieden hoher Gipfel führt: Platon umschreitet sein Thema, indem er gleichsam von Rede zu Rede wie von einem Berggipfel zum nächsten weiterwandert und von jedem den vielseitigen Gegenstand seines Interesses neu ins Auge faßt. Sammelt man den gedanklichen Gehalt der Reden, so ergibt sich ein buntes, in sich sogar widersprüchliches Bild, wobei sich die Widersprüche entflechten, sobald sie auf die verschiedenen Sprecher und ihre jeweilige perspektivische Position rückbezogen werden. Das Thema der Reden ist der ,Eros', die leidenschaftliche Ergriffenheit durch das Schöne. Ohne den Wendungen und Feinheiten der Reden hier im einzelnen folgen zu können, soll doch wenigstens sichtbar werden, in welcher perspektivischen Vielfalt sich Platon dieses Themas annimmt. Phaidros beginnt seine Rede mit einer kurzen mythologischen Rückerinnerung: in Hesiods ,Theogonie' zählt ,Eros' zu den vier ältesten, selbst ungeborenen Urgottheiten; und auch Parmenides und Akusilaos stimmten mit Hesiod darin überein, daß ,Eros' unter die ältesten Götter gehört. Diesen theogonisch-kosmischen Aspekt nimmt erst Eryximachos wieder auf. Phaidros wendet sich gleich dem nächsten großen Thema zu: der sittlichen Vervollkommnung von Lebenden durch den Eros. Denn durch ihn entsteht ebenso die Scham vor dem sittlichen Häßlichen wie der Wetteifer im sittlichen Schönen. Er schenkt Mut und begeistert so sehr zur Tugend, daß Liebende sogar bereit sind, füreinander zu sterben. Schließlich trifft Phaidros noch eine gewichtige Unterscheidung: „Göttlicher ist der Liebende als der Geliebte, ist in ihm doch der Gott" ( , 180b 3). Das Thema der sittlichen Vervollkommnung durch den Eros greift Pausanias auf und vertieft es. Seine Rede ist ein großes Plädoyer für den pädagogischen Eros und zugleich ein ethischer Rechtfertigungsversuch homoerotischer Beziehungen zwischen Freunden. Relevant wird in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen einem ,himmlischen' und einem ,ge-
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wohnlichen' Eros ( — , 180el). Der gewöhnliche' oder ,gemeine' Liebhaber liebt den Körper mehr als die Seele; er ist unbeständig, und was er liebt, hat gleichfalls keinen Bestand. Wer dagegen vom ,himmlischen' Eros ergriffen ist, liebt die edle Wesenart eines Menschen und bleibt ihm treu, weil er sich mit dem Bleibenden verbunden hat. Der ,himmlische' Eros vermag sich zur Philia, der dauerhaften Freundschaft zwischen wahren Freunden, weiterzuentwickeln. Der Arzt E r y x i m a c h o s verleiht dem Eros eine kosmische Dimension: er sei die treibende Urkraft allüberall in der Welt, in Pflanzen, Tieren, im Menschen, in allem Seienden. Auch Eryximachos unterscheidet zwei Arten des Eros: einen Krankheiten verursachenden Eros des Unmaßes und einen heilsamen Eros. Dieser schaffe eine maßvolle Mischung und einen harmonischen Ausgleich zwischen den Gegensätzen. Die Heilkunde ebenso wie die Musik beruhten auf dem Wissen vom Wirken des rechten Eros in Harmonie und Rhythmus. Den naturphilosophischen, medizinischen und ästhetischen Hinsichten des Eryximachos fügt der Komödiendichter A r i s t o p h a n e s einen anthropologischen Aspekt hinzu. Eros wird zum Ausdruck für das Verlangen und Streben der Menschen nach Ganzheit. Dem psychischen Bedürfnis von Menschen nach Ergänzung durch den fehlenden Teil gibt Aristophanes eine mythologische Erklärung. Zu diesem Zweck erzählt er den Mythos von den ursprünglich kugelförmigen Menschen, die Zeus im Zorn über ihre Hybris mitten entzweischneidet und die sich seither je nach ihrer anderen Hälfte sehnen. Diese mythische Erzählung gehört sicher zum Köstlichsten von dem, was Platon geschrieben hat. Selbst der Schönredner A g a t h o n verleiht dem bisher entstandenen Bild vom Eros noch einen zusätzlichen Farbton. Teile seiner Rede könnte man einen Kurzbeitrag zu einer Psychologie der erotischen Liebe nennen. Der Eros sei etwas überaus Flüchtiges: er flieht das Alter, die Mißgestalt, aber auch die Rauheit des Gemüts. Er ist anmutig, zart, geschmeidig, anschmiegsam und hat seinen Wohnsitz in der schönen Seele und überall, „wo ein schönblühender und schönduftender Ort sich findet" (196b2). Eros duldet keine Gewalt, wie er auch umgekehrt nichts gewaltsam erzwingt, sondern alles, was er tut und gewährt, geschieht freiwillig. Eine schöpferische Kraft sei Eros und wohne allem musischen Schaffen inne. Behauptete Phaidros anfangs, Eros gehöre zu den ältesten Göttern, so betont Agathon, er sei der jüngste, weil ewig junge Gott. Sokrates selbst hält keine Lobrede auf den Eros. Nach einer ironischen Würdigung der Rede des Agathon verwickelt er diesen zunächst in eine Diskussion und berichtet dann von einem Gespräch mit Diotima, einer weisen
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Frau aus Mantineia, die ihn über den Eros belehrt habe. Der Eros suche, was er nicht besitzt; er suche und liebe das Schöne, sei deshalb selbst nicht schön, aber auch nicht häßlich, sondern ein Mittleres. Er sei weder ein alter noch ein junger Gott; denn er sei gar kein Gott, vielmehr ein Daimon, ein Mittleres oder ein Vermittler zwischen Gott und Mensch. Seine Herkunft von einer armen und unwissenden Mutter ( ) und einem klugen wegkundigen Vater ( ) zeige ihn als jemand, der arm und reich zugleich ist. Seine Mittelstellung zwischen Unwissenheit und Wissen mache ihn zum Philosophen, der die Weisheit liebt (204 b 2). Diotima korrigiert und erweitert auch die bisherige Annahme, Eros sei die Liebe zum Schönen. Wo jemand vom Schönen berührt und ergriffen wird, bleibt er nicht rezeptiv, sondern gerät durch das Schöne in leidenschaftliche Bewegung. Eros sei deswegen ein „Zeugen im Schönen", oder besser: „Drang zum Zeugen und Hervorbringen im Schönen", ein Streben, in dem sich zugleich „der Drang zur Unsterblichkeit" spiegele (206 e 2 ff). Der Zeugungsdrang könne sich leiblich und geistig betätigen. Die ,Kinder' aus geistiger Zeugung seien allerdings schöner und in höherem Maße unsterblich als die aus leiblicher Zeugung. Schließlich weiht Diotima ihren Schüler Sokrates in die letzten Mysterien des Eros ein, und damit gewinnt die Thematik eine mystisch-religiöse Ausweitung. Wer sich durch die Kraft des Eros vom Schönen ergreifen läßt, gerät in einen Entwicklungsprozeß, der viele Arten der Erfahrung des Schönen umspannt. Der Eros entzündet sich wohl an leiblicher Schönheit, er liebt aber ebenso und noch mehr die Seelenschönheit, das Schöne in Handlungen, Sitten und Gesetzen, die Schönheit von Erkenntnissen, erhabenen Reden und im Streben nach Weisheit. Der vom Eros Berührte ist „dem weiten Meer des Schönen" zugewandt. Die Erfahrung des Schönen weitet sich universell aus. Die Entwicklung im ,erotischen' Umgang mit dem Schönen kulminiert bei Platon bekanntlich in der Schau des Schönen selbst. Es ist nicht eben leicht, sich diesen letzten Schritt in der Stufenfolge der Erfahrung des Schönen verständlich zu machen. Vermutlich dürfte es nicht hinreichen, in der Schau des einen Schönen in allem, was schön ist, allein eine vortheoretische Ausdrucksweise für dasjenige zu sehen, was im Sinne Kants als transzendentale Bedingung für die Möglichkeit einer Erfahrung von Schönem überhaupt beschrieben werden könnte. Nimmt man die religiösen Sprachwendungen Platons an dieser Stelle ernst, dann scheint es sich eher um die seelisch erfahrbare Möglichkeit eines mystischen Einswerdens mit dem Schönen und der Verwandlung durch das Schöne zu handeln. Das „Göttlich-Schöne" mit den Augen zu schauen, mit denen es zu sehen ist, und bei ihm zu sein ( ), wird zur wahren Vollkommenheit und Sinnerfüllung des
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Lebens. Der Schauende ist mit dem Schönen so sehr eins geworden, daß das Schöne nicht mehr nur am oder im Geschauten ist, sondern gleicherweise im Schauenden. Er ist erfüllt von Schönheit, er selbst ist schön geworden. Zu dieser Auslegung paßt es, daß in der anschließenden Rede des Alkibiades Sokrates als Erote gepriesen wird. Selbst nicht von körperlich schöner Gestalt, ist Sokrates doch so sehr erfüllt vom Streben nach dem Schönen, Wahren und Guten, daß er auf Alkibiades erotisch unwiderstehlich anziehend wirkt. Sokrates ist in den Augen des Alkibiades schön. Seine eigentümliche Schönheit übertrifft die körperliche Schönheit anderer. Der Rundgang durch die Reden des Symposion dürfte hinreichend gezeigt haben, wie das Phänomen des Eros, die schöpferisch tätige Liebe zum Schönen, von Platon umsichtig von verschiedenen perspektivischen Standorten aus in den Blick genommen wird. So reihen sich mythologische, naturphilosophische, ethische, pädagogische, soziale, anthropologische, medizinische, ästhetische, psychologische, mystisch-religiöse Aspekte derart aneinander, daß sie sich zuletzt zu einem vielfältigen Ganzen zusammenschließen, in dem wiederum einige Züge bedeutungsmäßig hervortreten. Man kann Hegel also ohne Vorbehalt recht geben, wenn er Platon namentlich zu den Repräsentanten der Kunst guten Sprechens zählt. In einem Beitrag über „Das spezifische Können der Philosophie als " hat sich Josef König vor Jahren einmal mit dem Thema befaßt.5 Auch König ist sich klar darüber, daß es sich beim im philosophischen Sinn nicht lediglich um ein rhetorisch geschliffenes Redenkönnen handelt. Ebensowenig sei es aber auch identisch mit dem der Einzelwissenschaften. Deren Sachprobleme seien nicht zugleich und unmittelbar auch Probleme der sprachlichen Formulierung. Die Wissenschaft orientiere sich an ihren Gegenständen, die Sprache sei ihr nur gleichsam ein durchsichtiges und ungetrübtes Medium, durch das hindurch sie auf die Sache blicke. Das der Philosophie lasse dagegen eine solche Differenz zwischen der Sache und der Sprache, in der über die Sache gesprochen wird, nicht zu. Der Ausdruck des Gedankens sei selber und unmittelbar wieder ein sachliches Problem der Philosophie. Spezifisch philosophische Gegenstände wie Gott, Welt, Seele, Leben, Sein, Werden, Vernunft, Bewußtsein, Schicksal, Glück, Zufall, Notwendigkeit, Subjekt, Objekt, Natur, Geschichte seien sprechende Beispiele für diese Sachlage. Sie seien stets beides zugleich: Sachen als auch Gedanken; der Unterschied von Gedanke und Sache sei nur „ein in 5
Bei dem Beitrag handelt es sich um einen Colloquiumsvortrag, den Josef König 1935 vor der Göttinger Philosophischen Fakultät gehalten hat. Die Rede ist wiedererschienen in: J. König, Vorträge und Aufsätze, hg. v. G. Patzig, Freiburg/München 1978, S. 15 — 26.
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sie hineingespiegelter" (21). Aus dem Sprechen und Ausdrücken von Gedanken erwüchsen dem Philosophieren immer 2ugleich auch sachliche Probleme integrativer Art. Das Gut-Sprechen-Können sei deshalb für die Philosophie selbst eine sachliche Aufgabe. Plato und Aristoteles scheinen diese Aufgabe unter dem Titel ,dialektisch' im Auge gehabt zu haben. Das , das erörternde Hin- und Herkehren eines Gegenstandes in gemeinsamer Unterhaltung, sei für das Philosophieren unmittelbar und an und für sich relevant. Mit ändern Worten: Das der Philosophie ist ein ihren Gegenstand als solchen selbst erst konstituierendes Sprechen. Die Beachtung der innigen Verwobenheit von Gedanke, Sprache und Sache ist sicher für das Philosophieren von größter Wichtigkeit. Doch reicht diese Charakterisierung hin, um das spezifische Sprechen-Können der Philosophie zu beschreiben? Verfügt nicht die Dichtung über ein gleichartiges Können, zumal wenn sich die Themen der Poesie mit denen der Philosophie überschneiden (bei den von König erwähnten Themen z. B. Gott, Welt, Seele, Leben, Werden, Schicksal, Glück, Zufall, Natur)? Und konstituiert nicht politische Rede auch allererst ihren Gegenstand, indem sie — mehr und anders als die fiktive Sprache der Dichtung — unmittelbar durch die Art ihres Sprechens nicht nur neue Gedanken und Bilder hervorruft, sondern mit den neuen Vorstellungen oft auch neue gesellschaftliche Wirklichkeiten? Und läßt sich in den Einzelwissenschaften tatsächlich die Sache von der Sprache über sie ablösen? Das mag vielleicht für einige experimentelle Wissenschaften den Anschein haben, gilt aber im allgemeinen nicht in den sogenannten Geisteswissenschaften. Ja, hat nicht jedes ernsthafte Gespräch, in dem sich Menschen in ihrer jeweiligen Lebenssituation über das für sie Gute, Wahre oder Schöne zu verständigen suchen, die Eigenschaft, beim Sprechen selbst erst die Sache, um die es geht, erstehen zu lassen? Hat nicht jede authentische Sprache eine gegenstandskonstitutive Funktion? Will man das spezifische der Philosophie gegen Bereiche der Wissenschaft, der Dichtung, der Politik, des alltäglichen Lebens abgrenzen, muß man sicher noch andere Kriterien ins Spiel bringen. Doch möglicherweise ist es sogar ein Vorteil, daß sich solche Abgrenzungskriterien nur schwer präzis angeben lassen. Könnte doch die insistierende Selbstverpflichtung auf ein spezifisches Sprechen-Können der Philosophie gerade zu manirierten und verstiegenen Formen philosophischen Redens den Anlaß geben. Wenn man philosophische Literatur unserer Tage in die Hand nimmt und durchblättert, hat man nicht selten den Eindruck, es gehe darum, etwas keineswegs Neues nur auf eine neue ungewöhnliche Art zu sagen. Selbstverständlich kann man König beipflichten, wenn er sowohl auf die Berechtigung als auch auf die Grenzen der Forderung nach größerer Verständlichkeit, Einfachheit und Durchsichtigkeit aufmerk-
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sam macht. Es sind zwar längst nicht alle Probleme in der Philosophie so schwierig, daß man unverständlich sprechen muß. Doch neben den vermeidbaren Unverständlichkeiten mag es auch solche geben, die als sachlich unvermeidbare sozusagen „eine raison d'etre des Philosophierens" darstellen (26). Hegels Explikation der Bedingungen guten Sprechens, wie er sie von den Sophisten hergenommen hat, ist nicht wie bei König speziell auf das der Philosophie bezogen. Die Verpflichtung, gut zu sprechen, gilt hier vielmehr für jeden gebildeten Sprecher, der ein Problem in der Vielseitigkeit seiner Aspekte umsichtig zur Sprache bringen und die verschiedenen Gesichtspunkte in der Weise abwägend systematisieren und beurteilen möchte, daß dadurch eine an der Idee des Guten orientierte Lösung des Problems möglich wird. Eine solche Kompetenz guten Sprechens ist auch für den Philosophierenden verbindlich. Bei der Einlösung dieser Verbindlichkeit kommt es im allgemeinen nicht darauf an, eine spezifisch philosophische Sondersprache zu entwickeln. Welche Sprache sich finden läßt, hängt von der Sprachkompetenz des Philosophierenden ebenso ab wie von den Themen, die er philosophisch zu reflektieren versucht. Die sprachliche Explikation einer Sache kann dabei sicher nicht immer die spielerische Leichtigkeit eines platonischen Dialogs besitzen. Trotzdem können die Dialoge Platons weiterhin als Musterbeispiele guten Sprechens gelten.
Literatur G. W. F. Hegel, Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein der Freunde des Verewigten, Bd. 14: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, hg. v. K. L. Michelet, Zweiter Band, Berlin 1833. Josef König, Vorträge und Aufsätze, hg. v. G. Patzig, Freiburg/München 1978. Platon, Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hg. v. G. Eigler, Darmstadt 1977. Platon, Das Trinkgelage oder über den Eros. Übertragung, Nachwort und Erläuterungen von Ute Schmidt-Berger, Frankfurt a. M. 1985 (die übersetzten Platon-Zitate sind diesem Bändchen entnommen). Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. l und 2, Bern und München 1957/8. Wolfgang Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982. Wolfgang Wieland, Praxis und Urteilskraft, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 28 (1974), S. 17-42.
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Die Metaphysik im Hintergrund der Unterscheidung des Transzendentalen vom Spekulativen I. Kant hat mit der Parole der Kritik Karriere gemacht, indem er sein Unternehmen geradewegs dem Geiste der Aufklärung als des „Zeitalters der Kritik" unterstellte.1 Bis heute ist der Erzkritiker Kant eine in der Philosophie und außerhalb derselben populäre Figur geblieben. Manch einer hält ihn gar für den Propheten des „nachmetaphysischen Zeitalters". Terminologisch hingegen bezeichnet Kant sein Projekt als Transzendentalphilosophie, womit er an die Schulsprache der Scholastik anknüpft. In der transzendentalen Wendung der Philosophie haben schon Zeitgenossen die eigentliche Innovation Kants gesehen. Auf transzendentalphilosophischen Spuren sind die idealistischen Nachfolger Kants eine Weile weitergegangen, bis Hegel mit der positiven semantischen Besetzung des Begriffs der Spekulation und dessen methodologischer Auslegung endgültig über den Bereich der Transzendentalphilosophie hinausschreitet. Die Vorläufer Hegels und unmittelbaren Nachfolger Kants waren weniger entschieden, vermutlich weil ihnen die Problemlage weniger klar gewesen ist. Noch Fichte versichert eingangs seiner Programmschrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre von 1794, er wisse, „daß er nie etwas wird sagen können, worauf nicht schon Kant, unmittelbar oder mittelbar, deutlicher oder dunkler, gedeutet habe".2 Mit diesem in der Kant-Nachfolge verbreiteten Topos der Explikation des Implizierten oder der Nachreichung der nötigen Prämissen zu den schon vorliegenden Resultaten eröffnen sich die Jüngeren eigene Wege.3 Um dem Druck des übermächtigen Vorbilds in der Kantischen Transzendentalphilosophie nicht zu erliegen, bedienen sie sich eines altbewährten 1
2 3
KrV, A XI. J. G. Fichte, Akad.-Ausg. 1/2, ed. Lauth/Jacob, 110 (Werke ed. I. H. Fichte, I 30). Vgl. den berühmten Brief Schellings an Hegel vom „Dreikönigsabend 1795" und Hegels Antwort (Hegel, Briefe I, Hamburg 1952, 13f£). Dazu das „Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus" (Anfang).
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Schemas, das auf die innerakademischen Debatten des Platonismus zurückgeht: nämlich des Dualismus von Esoterischem und Exoterischem. In der Substanz präsentiert Fichte bekanntlich mit seiner Wissenschaftslehre einen ganz neuen Ansatz, wie dem Autor dank seines ausgeprägten Selbstbewußtseins schon zu Beginn klar war. Die eben zitierte Formulierung geht wohl auf das Konto einer überlegten Publikationsstrategie. Das gilt erst recht von Schellings Identitätsphilosophie, die aus einer ursprünglichen Platonrezeption, die wir inzwischen genauer überblicken,4 sowie der darauf folgenden, wohlbekannten Debatte mit Fichtes Ansatz hervorgegangen war. Schellings System des transzendentalen Idealismus von 1800 benutzt den von Kant übernommenen Terminus des Transzendentalen nicht einmal mehr als Aktualität verheißende Formel, sondern als Ausdruck der Anhänglichkeit an ein bereits klassisch gewordenes Paradigma. So gesehen hat der spätere Neukantianismus, dem der idealistische Höhenflug vom wissenschaftlichen Standpunkt aus nicht seriös vorkam, mit einem gewissen Recht die ganze Epoche mit dem Verdikt „Kant und die Epigonen" abgetan.5 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts fand daher die Parole von Otto Liebmann, es sei zu Kant zurückzugehen, weithin Gehör.6 Es blieb dem Hegel der Jenenser Periode nach 1800 vorbehalten, die als Grundzug modernen Philosophierens etablierte Transzendentalität einer eigentlichen Diagnose zu unterziehen. Dies geschieht in einem gewissen Abstand vom Protagonisten und seinen ideenreichen Varianten aus der letzten Dekade des 18. Jahrhunderts. Gerade die Pluralität der originellen und auch der weniger bedeutenden Stimmen im Nachhall Kants nötigt Hegel, das Geheimnis der kanonisierten Transzendentalphilosophie freizulegen, um auf diese Weise seinen eigenen Weg ins System zu finden. Hatte man bisher behauptet, Kant durch Bereicherung zu interpretieren, so meldet sich nun das Erfordernis der Emanzipation. Hegel nennt den Kern des transzendentalphilosophischen Unternehmens mit Emphase „Reflexion". Davon distanziert er sich mit seinen kritischen Studien in Jena. Der Untertitel der polemisch ausgerichteten Schrift Glauben und Wissen von 1802 zielt auf die sog. „Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie". 4
5
6
Vgl. „Die Entdeckung Platons durch Schelling und seine Aneignung durch Schleiermacher", in: Bubner, Innovationen des Idealismus (Göttingen 1995). So der Titel eines bekannten Buches von O. Liebmann aus dem Jahre 1865. Immerhin hatte der heute vergessene F. E. Beneke mit seinem Aufruf „Kant und die philosophische Aufgabe unserer Zeit" (1831) den Ton bereits getroffen. Vgl. neuerdings R. P. Horstmann, „Der Deutsche Idealismus — ein Aufstand der Epigonen?" (Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46, 1996).
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Hegel läßt dieser Diagnose eine wesentliche Konsequenz folgen, indem er seine genuine Verfahrensweise im Philosophischen als Reflexion der Reflexion qualifiziert. Dafür steht dann der Titel der „Spekulation" bereit. Wiederum wird ein herkömmlicher Terminus inhaldich neu gefaßt. Kant hatte „Spekulation" noch durchaus ambivalent benutzt.7 Im Mittelalter, bei Thomas von Aquin8 etwa, kann „ratio speculativa" wie selbstverständlich für theoretisches Wissen im Unterschied zu praktischem verwandt werden. Unter dem Einfluß des Empirismus, insbesondere Lockes, wandelt sich das Spekulative später zu einer verdächtigen Vokabel.9 Hegel tritt dieser Tendenz mit Nachdruck entgegen. Zunächst entwickelt er, in Zusammenarbeit mit seinem erfolgreicheren Jugendfreund Schelling, ein alternatives Konzept der Kritik, das sich vom vulgär gewordenen Gedankengut der Aufklärung abhebt. Gerade jene mit dem jCommon-sense* verschwisterte Kritik, also die zur Alltäglichkeit habitualisierte Reflexion, die Einseitigkeit einer dominanten Verstandeskultur wird nun ihrerseits zum Gegenstand der Kritik. Der entscheidende Einsatzpunkt für Hegels dialektisches Philosophieren liegt in der Durchleuchtung der eigenen Epoche. Denn auf der historischen Ebene hatte sich der erfolgreiche Aufruf zur Verbreitung des Lichtes der Vernunft insgeheim zur Einseitigkeit eines subjektivistischen Standpunktdenkens verkehrt. Aufklärerische Kritik erschien plötzlich als ein nicht konsequent zu Ende geführtes Geschäft. Im Unterschied zu den Vorläufern und Zeitgenossen ist es für Hegels Denkweg charakteristisch, die historische Signatur seiner Epoche mit der Intention wissenschaftlicher Philosophie im Sinne eines Systems zu verbinden. Das erste Produkt dieser außerordentlichen Mischung des Kontingenten und des Absoluten stellt natürlich die Phänomenologie des Geistes dar. Die vorbereitende Problemlage findet sich in der in Jena geführten Auseinandersetzung zwischen Transzendentalphilosophie und Spekulation. Das will ich im folgenden genauer betrachten.
II.
Allerdings steht noch eine wichtige Frage aus, die vorher geklärt werden muß, damit wir das ganze Panorama der Opposition des transzendentalen und des spekulativen Ansatzes in der Philosophie erfassen. Die offene Frage 7 8
9
Z. B. KrV, A 5. Z. B. S. Th. 1-22, 91,3. In der Berliner Akademie der Wissenschaften, wo auf Anordnung von Friedrich dem Großen das Französische herrschte, gab es eine „classe de philosophic speculative", die Logik, Metaphysik und Moral verhandelte.
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lautet: unter welchem Blickwinkel hat denn Kant sein radikales Programm einer Erneuerung der Philosophie angelegt? Wir stehen mitsamt dem Frühidealismus so stark unter der Faszination, die von dem Zauberwort einer Transzendentalphilosophie ausgeht, daß wir für selbstverständlich und ausgemacht halten, was in deren Namen eigentlich betrieben wird. Lassen wir die geläufigen Definitionen wie „die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis" beiseite und wenden wir uns weniger oft zitierten Passagen der Kritik der reinen Vernunft zu. In Randerläuterungen am Eingang und am Ende seines Werkes läßt Kant keinen Zweifel daran, daß er auf der Linie der Metaphysik weiterzuforschen beabsichtigt. Mendelssohns Diktum vom „alles zermalmenden Kant"10 hat den Destrukteur der Metaphysik ins Zentrum des Interesses gerückt. Das ist weniger als die halbe Wahrheit, wie sich leicht demonstrieren läßt. Kant11 hält nämlich Metaphysik für eine „Naturanlage (metaphysica naturalis)", die nur bisher schlecht verwaltet und nicht auf dem Niveau einer Wissenschaft bearbeitet worden sei. Wir müssen uns auf das tief unbefriedigende Schicksal einer vermeintlichen Wissenschaft der reinen Vernunft besinnen, in der statt Sicherheit und Wahrheit tatsächlich endloser Streit und Uneinigkeit vorherrschen, um die Notwendigkeit einer Reform zu erkennen, die endgültig Ordnung schafft. Die Instrumente dazu liefert eine schulmäßige Doppeldistinktion, nämlich diejenige zwischen analytischen und synthetischen Urteilen, sowie diejenige von Erkenntnissen a priori und a posteriori. Mit Recht wird in der Kantexegese diese Kombination vordringlich behandelt. Aber wer glauben wollte, daß die in die Lehrbücher eingegangene Frage „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" vollkommen neu sei, verkennt die durchgängige Orientierung Kants an der Metaphysik. Jene zitierte Fragestellung verdankt sich allein einer Uminterpretation der begrifflichen Mittel, mit denen die Metaphysik ehedem zu Werke gegangen war. Synthetisch heißen solche Wahrheiten, die nicht allein logischer Natur sind, und apriorisch heißen reine Erkenntnisse, die von Empirie frei sind. Das gehört im Grunde seit Aristoteles zum Argumentationsbestand. Also liegt eine gewisse Ironie vor, die Kant wohl kaum bewußt war, als er sein Hauptwerk mit einem Motto aus Bacon eröffnete. Francis Bacons Instauratio magna wollte die Wissenschaft grundlegend erneuern im Gegenzug gegen die aristotelisierende Scholastik und in der Absicht einer definitiven Überwindung der Erblast der Metaphysik. Gemäß dieser Frontstellung liefert Bacon 10 11
Im „Vorbericht" zu den Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes (1785). KrV, B 19 ff. (Die philologischen Differenzen zwischen Auflagen sind hier unerheblich, weil Kant auch sonst vielfach die Überzeugung vertritt).
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ein Plädoyer zugunsten der Methodik der Induktion, zugunsten des Experiments und vor allem der Nützlichkeit einer technisch umsetzbaren Naturerkenntnis. Das Motto, das Kant aus Bacon entlehnt, lautet: „quum revera sit infiniti erroris finis et terminus legitimus".12 Diesen pathetischen Nekrolog auf die zu Grabe getragene Metaphysik zitiert Kant eingangs seiner Kritik der reinen Vernunft, die der Aufgabe dient, der Metaphysik im Namen der Wissenschaft neues Leben zu geben. Kant stellt sich planmäßig in eine Linie mit dem Programmatiker der neuzeitlichen Wissenschaft. Aber er verfolgt das Ziel der Rehabilitation der Metaphysik. In der „Transzendentalen Methodenlehre" am Ende der Kritik der reinen Vernunft lesen wir im Abschnitt über „Architektonik der reinen Vernunft" das Folgende: „Weil die systematische Einheit dasjenige ist, was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft, d. i. aus einem bloßen Aggregat derselben ein System macht, so ist Architektonik die Lehre des Szientifischen in unserer Erkenntnis überhaupt".13 Die alte Metaphysik habe dergleichen intendiert; sie habe aber darin gefehlt, daß sie den obersten Rang unter allen Disziplinen des Wissens sich nur ungenau durch das Merkmal des Allgemeinen zuzuschreiben vermochte. Was man ehedem Ontologie, d. h. allgemeine Seinslehre genannt habe, sei schärfer als Transzendentalphilosophie zu fassen,14 welche „Verstand und Vernunft selbst in einem System aller Begriffe und Grundsätze, die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen, (betrachtet,) ohne Objekte anzunehmen, die gegeben wären". Kant antwortet Bacon gleichsam, wenn er am Ende jenes Abschnitts aus der Methodenlehre resümiert: „Metaphysik (ist) die Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft ... Daß sie, als bloße Spekulation, mehr dazu dient, Irrtümer abzuhalten, als Erkenntnis zu erweitern, tut ihrem Werte keinen Abbruch, sondern gibt ihr vielmehr Würde und Ansehen durch das Zensoramt, welches die allgemeine Ordnung und Eintracht, ja den Wohlstand des wissenschaftlichen gemeinen Wesens sichert, und dessen mutige und fruchtbare Bearbeitungen abhält, sich nicht von dem Hauptzwecke, der allgemeinen Glückseligkeit, zu entfernen".15 Es zeigt sich, daß die erklärte Loyalität zum szientifischen Gedanken der Neuzeit, statt die überflüssige Metaphysik zu liquidieren und das Glück des Menschen im technischen Nutzen der Glückseligkeit zu verfolgen, vielmehr umgekehrt die allgemeine Glückselig12 13
14
15
Bacon, Works (ed. Spedding, Ellis, Heath), Vol. I, London 1858, 133 (vgl. KrV, B II). A 832. KrV, A 845, vgl. A 247: „der stolze Name einer Ontologie, welche sich anmaßt, von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnis a priori in einer systematischen Doktrin zu geben ..., muß dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen". A 850 f.
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keit durch einen kulturellen Aufstieg fördert, der ohne Metaphysik nicht erlangt werden kann. Nehmen wir zu diesen offiziellen Bekundungen aus Kants Hauptwerk noch das plastische Wort aus dem Begleitbrief, mit dem er sein Hauptwerk dem Freunde Marcus Herz empfiehlt: „Schwer wird diese Art Nachforschung immer bleiben. Denn sie enthält die Metaphysik von der Metaphysik".16 Deutlicher geht es kaum. Die Transzendentalphilosophie beschreibt bei aller Kritik am traditionellen Gegenstandsdenken der reinen Vernunft ihre Vorgehensweise letztlich doch mit Mitteln der Metaphysik. Hier wird gewissermaßen metatheoretisch erörtert, was die Metaphysik tut. Und da erscheint es problematisch, wie der Gegenstandsbezug als solcher gedeutet werden muß. Nicht die besonderen Gegenstände der alten ,metaphysica specialis', die Gott, Welt und Seele heißen, sind hier Thema. Vielmehr verwandelt sich die Frage in das mögliche Gegenstandhaben der Vernunft überhaupt. Nicht bestimmte überlieferte Gegenstände, sondern Gegenständlichkeit ist in der Relation von reiner Vernunft und Erfahrung, oder in der Interaktion von Apriori und Aposteriori Thema. Darin spiegelt sich, wenngleich auf die Ebene der Strukturanalyse transponiert, der klassische Dualismus von Subjekt und Objekt, der die ganze neuzeitliche Philosophie durchzieht. Mithin erfolgt die Kopernikanische Wendung Kants auf demselben Boden, der schon die methodische Skepsis des Descartes trug. Die Epochenabhängigkeit wirkt im Hintergrund des Aufbruchs- und Abschlußpathos von Kant weiter.
III. Das ist Hegels Einsicht, wenn er von der Reflexionsphilosophie der Subjektivität als einem typisch modernen Charakterzug in der Philosophie seiner Gegenwart spricht. Dabei hilft zur Einsicht, daß „die Vollständigkeit der Formen" solchen Philosophierens inzwischen hervorgetreten sei. Diese Voraussetzung bietet allein die geschichtliche Entwicklung der Philosophie, denn aus bloßen Kräften des Nachdenkens hätte man spontan darüber eine Kontrolle nie und nimmer gewinnen können. Die Vertreter der Reflexionsphilosophie taten, was sie tun mußten, nachdem sie die Aufgabe erfaßt hatten, welche das Schicksal der Metaphysik ihnen stellte. So glaubte Kant eben, das altehrwürdige Unternehmen einer reinen Vernunftwissenschaft sei um den 16
Datiert „nach dem 11. Mai 1781" (Akad.-Ausg. X, 251 ff.). — Vgl. zum ganzen Komplex meinen Aufsatz „Metaphysik und Erfahrung", in: Bubner, Antike Themen und ihre moderne Verwandlung (Frankfurt am Main 1992, 134 ff.).
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Preis der Trennung des Apriori vom Aposteriori durch Reflexion als kritische Transzendentalphilosophie zu erneuern. Dies war bei allem Raffinement der Untersuchung, strategischen Zurüstung und Komplexität des Aufbaus eben doch in gewisser Weise „naiv". Die Spuren der Naivität in der Reihe der Nachfolger geben den Dogmatismus der Prämissen frei, die aus der Verstandeskultur der Neuzeit stammen. Diese „Heerstraße" der Aufklärung, wie Hegel sich ausdrückt,17 gehört auf die Seite der Bildung des Zeitalters.18 Zu ihr hat man sich nun in ein geklärtes Verhältnis zu setzen, nachdem man den Einfluß der Geschichte auf das systematische Philosophieren allererst wahrgenommen hat. Ein solchermaßen geklärtes Verhältnis kann freilich seinerseits nichts anderes sein als ein Verhältnis der Reflexion, nachdem die undeutliche Alternative einer „intellektuellen Anschauung" abgelehnt wird. In diesem Punkte zieht Hegel schließlich die Grenze zu Schelling. Wenn also der zeitbedingte Dogmatismus auf der Höhe der gegenwärtigen Systeme darin besteht, ein Reflexionsverhältnis zugrundezulegen, das undurchschaut bleibt und bleiben muß, um die Systemaussichten nicht zu erschüttern, so besteht die dialektische Reaktion auf die Beobachtung dieses Sachverhalts ihrerseits in einer neu zu schaffenden Reflexion der Reflexion. Hier beginnt bei Hegel die affirmative Besetzung des semantisch schillernden Ausdrucks der „Spekulation". Hegel ist zu danken, daß er dem Ausdruck der Spekulation erstmals einen präzisen Sinn gab. Die ausführlichste Exposition dieses Zusammenhangs, der dann für die Logik Hegels die entscheidende Operationsbasis liefern sollte, findet sich bekanntlich in der ersten Veröffentlichung aus der Jenenser Zeit. Die sog. Differen%schriftlf) widmet sich nach den einleitenden Bemerkungen allgemeiner Art über „Philosophie in ihrer Zeit" im Anfangsteil der strukturellen Diagnose und Kur der Reflexionsphilosophie.20 Die Reflexion ist ein gängiges Instrument der Philosophie. Aber als Instrument ist sie nur Mittel und nicht Zweck. Die latente Täuschung, die das eine für das andere nimmt, und Übung im Reflektieren für das Wesen der Philosophie hält, muß aufgedeckt und beseitigt werden. Das geschieht, indem das Philosophieren entschlossen auf das Absolute als eigentlichem Fluchtpunkt des Systems bezogen
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„Über das Wesen der philosophischen Kritik überhaupt und ihr Verhältnis zum gegenwärtigen Zustand der Philosophie insbesondere", Werke in 20 Bänden (Frankfurt/M 1970 u. ö.), Bd. 2, 171-187, 177. Werke Bd. 2, 430 f., 452 f. u. ö. Differen^ des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie in Beziehung auf Reinholds Beiträge %ur leichtern Übersicht des Zustands der Philosophie %u Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, \. Heft (1801); Werke Bd. 2, 7-138. Werke Bd. 2, 25 ff.
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wird. Wer wirklich Ernst macht mit den Intentionen der Nachkantianer, darf das Absolute nicht in der unendlichen Nervosität und Beweglichkeit einer Serie von Reflexionen untergehen lassen. Er kann gleichwohl nicht auf eine Verfügung über das Absolute in intentione recta setzen und so etwa die alte Metaphysik resümieren.21 Das Absolute dient bloß zum Organisationsprinzip der Reflexionsarbeit. Es stellt die Erinnerung an die ungelöste Aufgabe der Metaphysik rein methodisch wieder her. Es offeriert keine inhaltliche Fixierung. Nach der Destruktion reflexionsphilosophischer Selbstgewißheit durch den das Reflexionstraining überschießenden Bezugspunkt des „Absoluten" kippt die vertraute Konstellation der durch Reflexion geschaffenen Entgegensetzung des Verstandes um in eine elementare Bewegung, welche dessen Einseitigkeiten zum Verschwinden bringt. Es handelt sich um eine von der Reflexion selbst zu erbringende Leistung der Auflösung ihrer skierotischen Produkte. Durch metatheoretische Anwendung der Reflexion auf Reflexion wird strukturell die Spekulation in Gang gebracht. Die dabei unverzichtbare Orientierung aufs Absolute gibt der dialektischen Begriffsbewegung im Sinne der Verflüssigung von Bildungsgestalten ein Telos vor. Wichtig ist nämlich, daß die Selbstbeziehung der Reflexion nicht zur iterativen Reproduktion von Metaebenen ad infinitum verkommt. Das wäre die sog. „schlechte Unendlichkeit". In der Jenaer Phase ist diese konstitutive Einsicht der Dialektik noch nicht voll ausgereift, insofern Hegel sich wie ein Parteigänger Schellings verhält. Vor allem teilt er halbherzig dessen Plädoyer für intellektuelle Anschauung als authentische Alternative zur Überwindung der Trennung durch Reflexion. Aber mit der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes am Ende seiner Lehrjahre zieht Hegel den scharfen Trennungsstrich zu Schelling. Der zu sich selbst gelangte Autor der Phänomenologie polemisiert nun gegen die Armut und Leere eines Identitätsprinzips, das den ewigen Unterschied des Subjektiven und des Objektiven als der zwei Relate jeder Reflexion lediglich verwischt. Die Indifferenz, die Schelling als das Jenseits aller Differenz beschworen hatte, endet im Formalismus. Metaphern dafür, die Hegel heranzieht, sind die monochrome Malerei oder die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind.22 Folglich muß die Spekulation gegen diese innere Gefahr der Selbstverdunkelung methodische Vorkehrungen treffen. Methodische Vorkehrungen sollen sowohl 21
22
Das versucht bekanntlich Bardili, der gegen die „Philodoxie" der subjektivitätsbesessenen Zeitgenossen in seiner Logik am „Denken als Denken" festhalten will (Reinhold wählte zur Verteidigung gegen die philodoxen Anwürfe von Hegel und Schelling den Außenseiter Bardili als Kombattanten). Phänomenologie des Geistes, ed. Hofmeister, Hamburg 1952, 19, 41 ff. (Werke Bd. 3, 22, 48 ff.).
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Rüdiger Bubner
transparent wie auch anwendbar sein. Das heißt man muß noch erkennen können, was auf der Höhe des spekulativen Denkens vor sich geht, und man muß dies noch verfolgen.
IV.
Diese anspruchsvollen Bedingungen, die Hegel hinsichtlich der Methode aufstellt, vermag Spekulation nur als artikulierte und insoweit auch kontrollierbare Bewegung zu leisten. Während in der intellektuellen Anschauung alle Differenzen auf dem Gipfel der philosophischen Bemühung verlöschen, um einer Harmonie von der Art ästhetischer oder religiöser Gestimmtheit zu weichen, so muß an die Stelle solcher Erlösungssehnsucht die „Anstrengung des Begriffs" treten. Sie besteht im korrekten Vollzug der aufeinander bezogenen Reflexionsschritte, dessen Kontrolle im Ablauf der Bewegung selber liegt, welche ihrerseits an keinem Punkte eines rätselhaften Stillstands zur letzten Ruhe kommt, wo nichts sich mehr differenzieren ließe. Daß Differenzieren auch Fesdegen bedeutet, war Hegel klar. Er würdigt daher die entgegensetzende Arbeit des Verstandes als integralen Teil der Spekulation. Er verharrt indes nicht grundlos bei einem fixen Verstandesprodukt wie etwa der Opposition von Apriori und Aposteriori. Woher stammt nun aber der Anstoß, solches Standpunktdenken wieder zu verflüssigen? Sicherlich nicht aus irgendeiner kontingent gemachten Erfahrung, durch welche Information von außen irgendwie einströmt. Das würde bedeuten, das Denken in heteronomer Abhängigkeit befangen zu halten, ohne daß es sich selber zu helfen wüßte. Das Denken muß also, will es sich methodisch emanzipieren, auf die Spontaneität der Kraft des Reflektierens zurückgreifen. Gilt es doch, die fixen Produkte bereits getaner Reflexionsarbeit neu zu beleuchten. Auf dem Niveau der Phänomenologie des Geistes beispielsweise wird dieser Vorgang zwar mit einem Erfahrungsbegriff beschrieben, der aber höchst unorthodox auszulegen ist. Erfahrungen zu machen bedeutet hier, eine historisch initiierte Uminterpretation des Weltbilds für das Bewußtsein als „Für-es eines An-sich"23 nachzuzeichnen. Diese viel diskutierte Rückwendung eines gelungenen Verstehens auf sich selber hat nichts mehr gemein mit dem Einfluß der Außenwelt auf die Sinne, woran der Empirismus festhielt. Die phänomenologische „Erfahrung" stellt vielmehr die Delegation der Reflexionsleistung an zwei Partner vor. Was sich in der Reflexion des Phänomenologen als das „Für-uns oder 23
Vgl. Einleitung in die Phänomenologie, a. a. O., 73 (Werke Bd. 3, 79).
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An-sich" gezeigt hatte, muß vom phänomenologisch thematisierten Bewußtsein selber nachvollzogen werden. Diese phänomenologische Erfahrung ist freilich nicht alles. In Wahrheit besteht die Freiheit der Spekulation darin, den zunächst vom philosophischen Phänomenologen äußerlich angestoßenen Akt zu verinnerlichen und nunmehr aus freien Stücken zu vollziehen. Am Ende der Phänomenologie beginnt daher die „Wissenschaft der Logik". Sie ist der „reine Äther des Geistes", wo formales, nämlich erfahrungsloses Denken doch über Inhalte verfügt und inhaltsschwere Gedanken, wie solche, die an die ehemalige Metaphysik erinnern, durchgedacht werden. Der immanente Prozeß der Gedankenentwicklung der systematischen Logik verwirklicht die Spekulation. Insofern gilt das in der Jenaer Vorbereitungsphase geschaffene Modell der Reflexion von Reflexion, das wir bereits kennenlernten, durch und durch für das Hauptwerk Hegels.24 Allerdings hat Hegel zum besseren Verständnis seiner spekulativen Methode eine Akzentsetzung vorgeschlagen, die wohl eher didaktisch zu nehmen ist, und nicht die Sache vollkommen trifft. Es geht um die plakative Distinktion des Negativen und des Positiven. Eingangs der Logik heißt es beispielsweise: „In dem Fassen ... des Positiven im Negativen besteht das Spekulative".25 Offenbar soll die negative Arbeit des Verstandes durch den positiven Gewinn einer weiterweisenden Vernunftsynthese ergänzt oder vervollständigt werden. Genau genommen aber erfolgt die Begriffsbewegung im Rahmen des Systems nicht in einem negativen und einem positiven Akt. Es kommt bloß auf wechselnde Ansichten ein und desselben Vorgangs an, wenn man von der falschen Selbstgewißheit einer innerlich blinden Unruhe des Nachdenkens über Gegenstände fortgeht zu der Vermittlung, die im SubjektObjekt-Dualismus schon angelegt, aber eben nicht realisiert ist. Der entscheidende Wechsel der Ansichten bleibt nicht dem Belieben überlassen, wie es die „äußere Reflexion" kennzeichnet, die fallweise und von irgendwoher an die Sache herantritt. Hierfür scheint das Stichwort vom „vollbrachten Skeptizismus" gut zu passen, der auch den Zweifel bezweifelt oder das Negieren negiert. Von einem dialektisch vollbrachten Skeptizismus sagt die Logik un-
24
25
Vgl. Wissenschaft der Logik, „Allgemeiner Begriff der Logik", ed. Lassen, Hamburg 1951, Bd. I, 23 ff., v. a. 38 (Werke Bd. 5, 35 ff., v. a. 52); Enzyklopädie §§ 9, 82 (Werke Bd. 8, 52 f., 176 ff.). Wissenschaft der Logik, a. a. O., I 38 (Werke Bd. 5, 52). Die Differen^schriß hatte hingegen noch behauptet: „dies ist die negative Seite des Wissens, das Formale, das, von der Vernunft regiert, sich selbst zerstört. Außer dieser negativen Seite hat das Wissen eine positive Seite, nämlich die Anschauung" (Werke Bd. 2, 41 f.).
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umwunden, daß er mit dem „Entschluß, rein denken zu wollen", identisch sei.26 Die Zurückhaltung angesichts einer simplen Gegenüberstellung des Negativen und Positiven hält vorschnelle Mißdeutungen ab. Sie empfiehlt sich nicht zuletzt im Blick auf die Auseinandersetzung des späten Schelling mit Hegel. Schelling sucht auf die Deklassierung, die ihm in der Vorrede zur Phänomenologe von 1806 widerfahren war, über Jahrzehnte seines Lebens hinweg zu antworten mit einer teilweise ressentimentgeladenen Polemik. Derzufolge habe Hegel Schellings ursprüngliche Einsichten usurpiert und zu einem Negativismus des Logischen ausgebaut, dem der Positivismus des Wirklichen folgen müsse, wo der Begriff über sich hinaus auf das tatsächliche Sein geht. Im ganzen galt Schellings langwährende Bemühung in seiner Spätphilosophie dem Projekt einer Überbietung des Idealismus, ohne seinen spezifischen Ansatz zu verraten. Auf diesen Altersstreit der Jugendfreunde soll hier freilich nicht weiter eingegangen werden.27
V.
Wir haben bisher das Spekulative in seiner Genese aus dem Transzendentalen betrachtet. Es darf nun nicht der Anschein entstehen, als sei das spekulative Denken eine Position, die wie die Transzendentalphilosophie in ihren Spielarten auf einem geheimen Dogmatismus aufruht. Deshalb ist die Philosophie Hegels auch nur schwer zu vergleichen mit einer Prinzipienphilosophie, wie sie von Reinhold über Fichte bis zu dem Schelling von 1800 vorgetragen worden ist. Natürlich weiß Hegel sich mit den Nachkantianern darin einig, daß über Kants restriktive Vernunftkritik hinauszugehen sei. Er sieht aber den in der Sache klärenden und von der historischen Lage geforderten Progreß der Philosophie nicht in der Veranschlagung eines wie immer auszulegenden Grundes, der als ein Uranfang feststeht, und aus dem die Entzweiung hergeleitet werden muß. Der fundamentalen Opposition von Subjekt und Objekt, die sich in der Kultur der Neuzeit festgesetzt hat, ist philosophisch nicht beizukommen, indem dem Gegensatz erneut ein Gegensatz entgegengesetzt wird: und zwar diesmal der Gegensatz von Einheit und Entzweiung. Die Möglichkeiten einer so gelagerten Verarbeitung des von Kant hinterlassenen Erbes waren allesamt bereits durchprobiert worden. Spekulation ist kein zusätzlicher Kandidat in dieser Reihe. 26 27
Enz. § 78 A (Werke Bd. 8, 168). Vgl. immer noch: W Schulz, Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings (1955).
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Wenn demnach spekulative Methode keineswegs die Veranschlagung eines alternativen Prinzips ist, das in Konkurrenz zu Fichtes Ich oder Schellings Identität tritt, dann heißt Spekulation in Wahrheit nur der Vorgang des Durchsichtigwerdens von Formationen der Reflexionskultur, die sich fundamentalistisch versteift haben. Und das gilt, wenn man die Wissenschaft der Logik studiert, nicht nur für die Reflexionsphilosophie der Zeitgenossen, sondern für alle Metaphysik der Vergangenheit. Die Stationen der klassischen Metaphysik bis zur Gegenwart werden in der Logik spekulativ verarbeitet, ohne daß dabei irgendeine realistische Chronologie eingehalten wird. So gibt die Spekulation der Geschichte begrifflich zurück, was sie von dieser empfangen hatte. Hegels Lehre vom absoluten Geist, wenn anders in ihr die Verfahrensanweisung der Spekulation kulminiert, geht entschlossen die Allianz von Metaphysik und Geschichte ein. Damit beginnen die zwei Seiten des Ewigen und des Zeitlichen zu interagieren. Das ist zweifellos eine Herausforderung, der auch wir uns noch gegenüber sehen.28 Denn die Metaphysik hatte seit ihren Anfängen auf Ewigkeit plädiert, während die uns überlieferte Geschichte dieser reinen Vernunftwissenschaft dem Anspruch offenkundig widersprach. Kant hatte als erster diesen Widerspruch nicht nur beklagt, wie das alle Autoren der frühen Neuzeit seit Bacon getan hatten, sondern daraus vielmehr eine neue Aufgabe formuliert, wie Metaphysik künftig „als Wissenschaft wird auftreten können". Kants Nachfolger haben unterschiedliche Vorschläge erörtert, wie Wissenschaft neu zu konstituieren sei. Hegels Spekulation hat es dann vermocht, die Problemlage offenzuhalten und nicht durch Standpunktwahl zu verengen. Er hat aber zugleich und in eins damit das systematische Kunststück fertiggebracht, den Gang durch die Formationen der alten wie der neuen Metaphysik methodisch rekonstruierbar zu machen.
28
Vgl. „Vollendung oder Aufhebung der Metaphysik" in meinem Aufsatzband Innovationen des Idealismus (Göttingen 1995).
WOLFGANG DETEL Eine terminologische Rekonstruktion von Arist. Cat. 1—5 (1) Aristoteles unterscheidet im Rahmen seiner frühen Ontologie in der Kategorienschrift vier Arten von Entitäten, und ein bedeutender Teil der Forschung hat sich seit jeher mit der Rekonstruktion dieser Entitäten beschäftigt. Die traditionelle Interpretation, die bis heute ihre Vertreter gefunden hat, nimmt an, daß Aristoteles eine ontologische Klassifikation in konkrete Einzeldinge („individuelles Substantielles", erste Usia), Spezies und Genera („allgemeines Substantielles", zweite Usia), bestimmte, individuelle Eigenschaften („individuelles Nichtsubstantielles") und allgemeine Eigenschaften oder Spezies bzw. Genera von individuellen Eigenschaften („allgemeines Nichtsubstantielles") mit einem ontologischen Primat der ersten Usia vorschlagen wollte. Dabei wird unterstellt, daß individuelle Eigenschaften nur durch ihre Träger individualisiert werden, nicht mehreren Dingen zugesprochen werden können und jeweils mit ihren individuellen Trägern untergehen. Die vieldiskutierte Untrennbarkeitsbehauptung in Cat. 2, l a 24 —25 wird daher so verstanden, daß eine individuelle Eigenschaft ihrer Existenz nach von der Existenz genau ihres spezifischen individuellen Trägers abhängig ist.1 Seit Owens klassischem Aufsatz von 19652 wird hauptsächlich über die Annahme gestritten, Aristoteles habe in der Kategorienschrift über individuelle Eigenschaften reden wollen. Loux hat durchaus recht mit dem Hinweis, daß die Debatte der letzten Jahrzehnte von diesem Problem beherrscht wurde.3 Die Gegner der traditionellen Interpretation in dieser Frage sind der Auffassung, Aristoteles verstehe unter den „bestimmten" Eigenschaften der dritten — oben aufgeführten — ontologischen Kategorie voll determinierte, nicht weiter spezifizierbare, aber im Prinzip allgemeine Eigenschaften, die in dem Sinne kein Subjekt haben, daß sie nicht von etwas als einem Zugrundeliegenden ausgesagt werden. Die Untrennbarkeitsthese in Cat. 2 besagt dann nur, daß bestimmte Eigenschaften von irgendeiner ersten Usia existentiell abhängig sind.4 1 2 3 4
Vgl. Oehler (1984), ad Cat. 2. Owen, G. E. L. (1965): Inherence, in: Phronesis (1965), 97-105. Loux (1991), 21-22. Vertreter der traditionellen Interpretationslinie sind z. B. Allen, R. E. (1969): Individual Properties in Aristotle's „Categories", in: Phronesis (1969), 31 —39; Hartmann, E. (1977): Substance, Body, and Soul, Princeton; Heinaman, R. (1981): Non-Substantial Individuals in the
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Beide Lager neigen dazu, aus ihrer Interpretation der ontologischen Klassifikation bestimmte Annahmen über das Bestehen der Relationen „y wird von als einem Z (= Zugrundeliegendes) ausgesagt" und „y ist in als einem Z" zu folgern. Beispielweise soll nach der traditionellen Interpretation gelten, daß das allgemeine Substantielle über das individuelle Substantielle sowie das allgemeine Nichtsubstantielle über das individuelle Substantielle ausgesagt wird, und daß das allgemeine Nichtsubstantielle im allgemeinen Substantiellen sowie das individuelle Nichtsubstantielle im individuellen Substantiellen ist. Individuelles kann also nur im Individuellen, Allgemeines nur im Allgemeinen sein. Dagegen kann nach der alternativen Deutung zumindest in einigen ihrer Varianten auch individuelles Nichtsubstantielles in allgemeinem Substantiellem und allgemeines Nichtsubstantielles auch im individuellen Substantiellen sein. Beide Interpretationsansätze tendieren jedoch dazu, über diesen Zuschreibungen eine sorgfaltige Rekonstruktion der beiden beteiligten ontologischen Relationen zu unterlassen und sie eher anhand von Beispielen zu erläutern — vermutlich unter dem Eindruck, daß auch Aristoteles selbst in der Kategorienschrift wenig zu einer Explikation beiträgt. Eine angemessene Interpretation der „Kategorien" sollte jedoch dem Umstand Rechnung tragen, daß die ontologischen Relationen in der Kategorienschrift theoretisch primär sind und für die ontologische Klassifikation vorausgesetzt und benutzt werden. Daher sollte mit einer Rekonstruktion dieser Relationen begonnen werden, die allerdings die von Aristoteles angeführten konkreten Beispiele für zulässige Relata durchaus in den Blick nehmen darf. Neuerdings spricht man in diesem Kontext gern von „metaphysischen Prädikationen", um zu betonen, daß Aristoteles primär ontologische Relationen zwischen Entitäten und nicht linguistische Differenzierungen im Blick hat. Diese Ausdrucksweise ist übermäßig pointiert, denn so wahr es ist, daß es Aristoteles primär um ontologische Relationen geht, so richtig ist es auch, daß beide Relationen in Gestalt verschiedener Formen von „Zusprechen" linguistisch zum Ausdruck kommen. So ist z. B. klar, daß wichtige Varianten der traditionellen und der alternativen Interpretation u. a. dadurch voneinander unterschieden werden können, daß nach den traditionellen Interpretationen in der Kategorienschrift zwei Formen des Zusprechens oder besser der Satzbildung differenziert werden, nämlich das Prädizieren und das Identifizieren, während nach den alternativen Interpretationen zwei Formen
„Categories", in: Phronesis (1981), 295-307; Graham, D. (1988): Aristotle's Two Systems, Oxford. Werdin (1997) beschäftigt sich mit anderen Fragen, als sie hier diskutiert werden, insbesondere, wie alle drei „Onymien" als gruppierende Prinzipien die Liste der Kategorien gerieren können.
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der Prädikation differenziert werden, nämlich die essentielle und die akzidentelle Prädikation.5 In jedem Falle sollte allerdings festgehalten werden, daß Aristoteles die unqualifizierte Existenz irgendwelcher Relata, die die beiden in Cat. eingeführten ontologischen Relationen erfüllen, von vornherein voraussetzt. Ihm geht es vor allem um die Spezifikation dieser Entitäten und die Klärung ihrer Existenzweise. In einigen der neueren Arbeiten zur aristotelischen Prädikationstheorie und der ihr zugrundeliegenden Ontologie läßt sich eine ernsthafte Bemühung um einen präziseren terminologischen Zugriff feststellen. Es ist vor allem das Verdienst von Alan Code, in einigen einflußreichen Aufsätzen auf den lange übersehenen Umstand aufmerksam gemacht zu haben, daß die aristotelische Prädikationstheorie nicht in die terminologischen Raster der modernen, an Frege orientierten Standardanalyse von Prädikationen hineingepreßt werden darf, weil sie eine eigene, spezifische Struktur hat, die dem an Frege geschulten Blick zu entgehen droht.6 In seiner eigenen Rekonstruktion, die mittlerweile in der Literatur vielfach „Code-Jargon" genannt wird und weitgehend Anerkennung gefunden hat, geht Code von der richtigen Intuition aus, daß die „essentielle" Relation „y wird von als einem Z ausgesagt" der theoretisch fundamentale Begriff der aristotelischen Prädikationstheorie ist. Nach Code gilt für zwei Entitäten y und x, die diese Relation erfüllen, daß y Teilstruktur von ist und maximal viele Eigenschaften an erklärt. In diesem Fall schreibt Code: Ist y. In Anlehnung an die Relation „y ist in als einem Z" definiert Code eine zweite Relation „x Hat y", die an der Intuition orientiert ist, daß x das y Hat in der Weise, wie typischerweise Bronze die Form einer Statue hat. Auf dieser terminologischen Grundlage rekonstruiert Code dann sämtliche weiteren Termini und Elemente der aristotelischen Prädikationstheorie. Es ist allerdings klar, daß Code sich dabei nicht auf die frühe Version dieser Theorie in der Kategorienschrift beschränkt, denn wichtige Intuitionen, die er mit den Grundbegriffen der Prädikationstheorie verbinden möchte, werden von Aristoteles erst später eingeführt; beispielsweise spielt der Aspekt der Erklärungskraft essentieller Prädikationen in den ,Kategorien' noch keine Rolle, und die Form-Materie-Analyse, die Code der Hat-Relation zugrundelegt, beginnt sich erst mit der ,Physik' herauszuschälen. Der zuletzt genannte Punkt ist darüber hinaus auch systematisch bedenklich und folgenreich, denn für Code ist die Hat-Relation gegenüber der Ist-Relation derivativ; 5
6
Zur alternativen Interpretation im Anschluß an Owen vgl. Frede (1978), Furth, M. (1988): Substance, Form, and Psyche, Cambridge; Dancy, R.: On Some of Aristotle's First Thoughts about Substance, in: Philosophical Review (1975), 338 — 373, sowie neuerdings Lewis, F. (1991) und Loux, M. (1991). Vgl. Code (1983), Code (1984).
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daher bleibt ihm die Perspektive verschlossen, daß für Aristoteles die FormMaterie-Analyse der reifen Metaphysik möglicherweise die essentielle Prädikation theoretisch fundieren soll. So wichtig und interessant Codes Interpretationsvorschag also ist, es handelt sich nicht um den Versuch, speziell die Prädikationslehre und Ontologie der Kategorienschrift, sondern die Prädikationstheorie des „reifen" Aristoteles zu rekonstruieren; und dabei werden möglicherweise systematische Beziehungen zwischen früher und reifer Metaphysik bei Aristoteles verschleiert, die auch für das Verständnis von Met. Z-H wichtig sein könnten. Daher scheint der Versuch lohnend, zunächst eine begriffliche Rekonstruktion speziell der Lehre der ,Kategorien' anzustreben. Genau diesen Versuch hat neuerdings Frank Lewis unternommen, und zwar ausdrücklich unter der Perspektive, die Analyse der frühen aristotelischen Ontologie für eine angemessene Interpretation der Ersten Philosophie in Met. Z-H zu verwenden.7 Lewis geht zu Recht davon aus, daß die Grundbegriffe in der Kategorienschrift — also die beiden metaphysischen Relationen und der Usiabegriff - zwar ansatzweise erläutert, aber nicht zirkelfrei definiert werden. In seinem Rekonstruktionsvorschlag führt er daher die beiden fundamentalen Relationen mit einer so schwachen notwendigen Bedingung ein, daß sie als fast primitiv auftreten: (a) (b)
y wird ausgesagt von nur dann, wenn y zur selben Kategorie gehört wie und eine erste Substanz ist; y ist in nur dann, wenn y und zu verschiedenen Kategorien gehören und eine erste Substanz ist.
Auf der Grundlage von (a) und (b) werden dann die wichtigsten weiteren Begriffe der Kategorienschrift eingeführt, z. B. die verschiedenen Varianten der beiden in (a) und (b) eingeführten Relationen. (c)
(d)
(e)
(f)
7
wird ausgesagt! von y gdw (i) und y zweite Substanzen sind und (ii) für jede primäre Substanz z gilt, daß y von z ausgesagt wird, und wenn von z ausgesagt wird, und (iii) es tatsächlich erste Substanzen gibt, von denen y ausgesagt wird wird ausgesagt von y gdw (i) und y zu derselben nicht-substantiellen Katego- rie gehören, und (ii) für jede erste Substanz z gilt, daß y in z ist nur, wenn in z ist, und (iii) es tatsächlich erste Substanzen gibt, in denen y ist. ist ini y gdw (i) zu einer nicht-substantiellen Kategorie gehört und y eine zweite Substanz ist, und (ii) es eine erste Substanz gibt, so daß y von z ausgesagt wird und in z ist. wird ausgesagt von y gdw von y ausgesagt! oder ausgesagt oder ausgesagt wird.
Vgl. Lewis (1991).
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(g) (h)
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x ist in y gdw in oder im y ist. wird metaphysisch prädiziert von y gdw in y ist.
von y ausgesagt wird oder
Diese Andeutungen lassen bereits klar werden, daß Lewis die Strategie einer rigorosen begrifflichen Explikation verfolgt, die insbesondere auch die systematische Gesamtstruktur der frühen Ontologie und Prädikationstheorie in den ,Kategorien' offenlegen soll. Diese Strategie scheint mir insgesamt durchaus erfolgversprechend zu sein; die spezifische Rekonstruktion allerdings, die Lewis vorschlägt, ist in verschiedener Hinsicht problematisch. So ist beispielsweise die Einführung der grundlegenden metaphysischen Relationen in (a) und (b) zugleich zu schwach und zu stark — zu schwach, weil Aristoteles' Hinweise auf die genauere Bedeutung der Relationen und auf die assoziierten ontologischen Intuitionen im Text der Kategorienschrift in keiner Weise ausgenutzt werden, und zu stark, weil der Begriff der ersten Usia benutzt wird, den Aristoteles systematisch erst unter Verwendung der beiden Relationen einführen will, so daß (a) und (b) Zirkel enthalten, die tunlichst vermieden werden sollten. Ähnliches gilt für (c) — (e), denn dort wird z. B. zur Explikation der Varianten der beiden metaphysischen Relationen nicht nur der Begriff der ersten Usia, sondern auch der Begriff der zweiten Usia und der nicht-substantiellen Kategorie benutzt. Dadurch verbaut sich Lewis auch die Möglichkeit, über den genaueren Sinn, die Grenzen und die offenen Fragen des frühen „Essentialismus" bei Aristoteles etwas Erhellendes auszumachen und den vollen begrifflichen Reichtum der Kategorienschrift auszuschöpfen. (2) Wenden wir uns zunächst der Relation „y wird von als einem Z ausgesagt" zu (diese Relation sei im folgenden auch durch „Rl" abgekürzt). Aristoteles deutet an, daß Rl u. a. durch folgende geordnete Paare von Entitäten erfüllt wird: (Mensch, Sokrates); (Wissen, grammatisches Wissen); (Lebewesen, Mensch).8 Da ferner aus Rl (Lebewesen, Mensch) und Rl (Mensch, Sokrates) folgt Rl (Lebewesen, Sokrates),9 ist (Lebewesen, Sokrates) ein weiteres Paar, das Rl erfüllt. Aristoteles gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, daß Rl in diesen verschiedenen Fällen eine unterschiedliche Form annimmt. In allen Fällen muß es sich also um exakt dieselbe Relation handeln. Man sollte Rl im Rahmen von Cat. 1—5 nicht vorschnell als theoretisch primitiv ansehen, denn Aristoteles gibt im Text von Cat. einige wohlbekannte explikative Hinweise auf Rl, die in einer begrifflichen Rekonstruktion natürlich möglichst ausgenutzt werden sollten: 8 9
Vgl. Cat. 2, la21-22; lb2-3; 3, Ibl3; 5, 2bl9. Vgl. Kat3, lblO-16.
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(i)
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Häufig wird betont, daß wenn y von als einem Z ausgesagt wird, sowohl der Name „y" als auch das Definiens „D" von „y" von prädiziert wird (Cat. 5, 2al8-25; 3al7-21; 3B5-15).
Hier wird zur Erläuterung die Relation „y wird von prädiziert (kategoreisthai)" verwendet, die vom Ausgesagt-Werden (legesthai) sorgfältig zu unterscheiden ist. In der Kategorienschrift ist das Prädizieren offenbar eine theoretisch primitive Relation; in anderen Schriften wird sie dadurch erläutert, daß wenn y von x prädiziert wird, y dem zukommt (hyparchei, vgl. An. Prior. I 4, 26 u. 23) oder y das umfaßt (periechei, vgl. Met. V 26, 1023 b 31). Diese Hinweise sprechen dafür, das Prädizieren ebenfalls als eine ontologische Relation aufzufassen, auch wenn Aristoteles zuweilen davon spricht, daß „Namen" (onomata) prädiziert werden: wenn y von prädiziert wird, dann ist ein y, oder gehört zu den y-Dingen. Diese Erläuterung sollte in der Kategorienschrift und ihrer Metaphysik als fundamental gelten: Dl D2
y wird von prädiziert, wenn zu den y-Dingen gehört ist y, falls y von prädiziert wird
Die ist-Relation in D2 darf nicht ohne weiteres mit dem kopulativen „ist" im Fregeschen Sinne identifiziert werden, denn nach Aristoteles wird beispielsweise Lebewesen von Mensch prädiziert (Cat. 5, 2a 37). Dies wird auch daran deutlich, daß die ist-Relation im Gegensatz zum kopulativen „ist" im Fregeschen Sinne transitiv ist, denn nach Cat. 5, 2a37 —2bl gilt T
Wenn gilt:
ist y, und y ist z, so gilt auch:
ist z.
Zumindest soll T gelten für den Fall = Sokrates, y = Mensch, z = Lebewesen. Interessant ist dabei, daß T auf der weiteren These beruht, daß wenn es kein gäbe mit ist z, auch für kein y mit ist y gelten würde y ist z. Die ist-Relation läßt also eine ontologische Hierarchisierung zu: es gibt Fälle x, y und z, so daß zu den y-Dingen, y zu den z-Dingen und auch zu den zDingen gehört; aber wenn das so ist, kann y nur deshalb zu den z-Dingen gehören, weil x, das y ist, auch zu den z-Dingen gehört; oder anders formuliert, wenn x zu den y-Dingen gehört, dann hängt die Zugehörigkeit von y zu gewissen z-Dingen davon ab, daß auch x zu den z-Dingen gehört. Eine weitere Erläuterung von Rl versucht Aristoteles auf der Basis der Synonymitätsrelation zu geben (Cat. 5, 3a 33-b9), die natürlich ebenfalls eine ontologische Relation zwischen Entitäten ist: (ii)
wenn y von x als einem Z ausgesagt wird, so sind x und y synonym.
Da jedoch x und y genau dann synonym sind, wenn sie den Namen und sein Definiens gemeinsam haben (Cat. l, Ia6—11; 5, 3b7 —8), besagt (ii) dasselbe wie (i). Dennoch weisen (i) und (ii) zusammen auf ein wichtiges Kennzeichen
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Wolfgang Detel
der Relation Rl hin. Dinge a und b, die in Hinsicht auf einen Namen „y" homonym sind, weisen in Hinsicht auf „y" keine gemeinsame Struktur auf, denn „y" verweist bei a auf eine andere Eigenschaft als bei b. Wenn synonyme Dinge a und b nicht nur einen gewissen Namen „y" gemeinsam haben, sondern auch dessen Definiens „D", dann soll offenbar gerade ausgeschlossen werden, daß „y" in Hinsicht auf a und b auf strukturell Verschiedenes verweist. Die Synonymität von a und b hinsichtlich des Namens „y" sichert also die Identität von a und b in Hinsicht auf ihre y-Struktur. Es ist allerdings zu beachten, daß die Umkehrung von (ii) nicht gilt: aus der Synonymität von und y folgt nicht, daß y von als einem Z ausgesagt wird. So sind beispielsweise Rind und Mensch in Hinsicht auf ihre Lebewesen-Struktur synonym (Cat. l, Ia8—12), aber weder wird Rind von Mensch noch Mensch von Rind als einem Z ausgesagt. Die Pointe der Synonymität von Dingen, die in der Rl-Relation zueinander stehen, besteht gerade darin, daß Rl asymmentrisch ist, während die Synonymität eine symmetrische Relation ist: ein Zugrundeliegendes ist mit dem, was von ihm ausgesagt wird, in einer bestimmten Hinsicht identisch. Weitere Hinweise zur Erläuterung der Rl-Relation gibt Aristoteles unter Verwendung der Teil-Relation.10 Nach Cat. 2, Ib5 — 7 gilt: wenn y schlechthin unteilbar (haplos atomon) und der Zahl nach Eines ist, dann gibt es kein derart, daß y von einem als Z ausgesagt wird. Es liegt nahe, das „und" in der Phrase „unteilbar und der Zahl nach Eines" ähnlich wie in Cat. 5, 3bl2 explikativ zu lesen, denn Dinge können der Zahl nach, der Art nach oder der Gattung nach unteilbar oder Eines sein (Met. V6, 1016 b32-1017 a2). Aristoteles behauptet demnach (iii)
Wenn es ein gibt derart, daß y von als einem Z ausgesagt wird, dann ist y nicht der Zahl nach Eines, d. h. ist in diesem Sinne nicht unteilbar.
Nach (iii) hat ein y, das von einem als Z ausgesagt wird, gewisse Teile, und es fragt sich daher, welches seine Teile sind. Zwei Bemerkungen können an diesem Punkt weiterhelfen. Erstens, Dinge, die wir als unteilbar bezeichnet haben, können gleichwohl physische Teile haben, wie z. B. Sokrates, dessen Kopf, Arme, Hände usw. seine physischen Teile repräsentieren (Cat. 7, 8bl5 —20), und dabei weist Aristoteles ausdrücklich darauf hin, daß dieser 10
Es ist das Verdienst von Frede (1978), auf die systematische Rolle der Teil-Relation in Cat. hingewiesen zu haben. In Hinsicht auf den entscheidenden nicht-physischen Teilbegriff, der mit der Relation „y wird von als einem Z ausgesagt" zusammenhängt und in den Begriff des Individuums (atomon) eingeht, verwendet Frede den Ausdruck „subjektiver Teil" (in Abgrenzung vom „integralen" oder physischen Teil), kommt jedoch nicht entscheidend über die richtige, aber wenig aussagekräftige Bestimmung hinaus, daß subjektiver Teil von y ist gdw y von als einem Z ausgesagt wird.
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Umstand keine Verwirrung erzeugen sollte, weil er die metaphysische Unteilbarkeit oder „Individualität" nicht berührt (Cat. 5, 3a29-32); wenn also z. B. von Sokrates behauptet wird, er hätte keine Teile, und von Mensch, er hätte Teile, dann ist nicht ein physischer Teilbegriff im Spiel. Zweitens, in Cat. 5, 3bl2-18 wird die Teilbarkeit von Mensch oder anderen Spezies eng mit dem Umstand in Verbindung gebracht, daß Spezies von vielen Dingen ausgesagt werden, d. h. daß sie Allgemeines sind relativ zu den Dingen, von denen sie ausgesagt werden. Damit ist es plausibel anzunehmen, daß folgende These im Spiel ist: (iv)
Wenn y von vielen verschiedenen Xj als Zugrundeliegenden ausgesagt wird, dann sind die x; nicht-physische Teile von y.
Für eines der Beispiele von Relata, die Rl erfüllen, gibt es für (iv) eine ausdrückliche Bestätigung: Arten können nämlich als Teile ihrer Gattungen aufgefaßt werden (Met. V2,5, 1023b 18-19, 24-25). Aber es muß auch einen Sinn geben, in dem Sokrates und Platon Teile von Mensch sind, und in diesem Sinn können Sokrates und Platon jedenfalls nicht als physische Teile von Mensch gelten. (3) Welche metaphysische Intuition steht hinter den Erläuterungen (i) — (iv) zur Relation Rl? Vermutlich kann man sich dieser Frage am leichtesten über die Beispielfälle (b) und (c) nähern. Die Mensch-Struktur ist ein Spezialfall der Lebewesen-Struktur, d. h. die Lebewesen-Struktur hat eine spezifische, engere Substruktur, die identisch ist mit der Mensch-Struktur. Darum muß die Mensch-Struktur natürlich das Definiens von Lebewesen erfüllen, und Mensch und Lebewesen sind hinsichtlich dieses Definiens synonym. Dieses Definiens ist ja das, was alle Arten von Lebewesen gemeinsam haben, d. h. das, was im Schnitt aller Dinge liegt, die von allen Arten von Lebewesen prädiziert werden. Dieselbe Relation Rl, die zwischen Lebewesen und Mensch besteht, soll nach der Kategorienschrift auch zwischen Mensch und Sokrates bestehen. So wie Menschen spezifische Lebewesen sind, so soll Sokrates ein spezifischer Mensch sein; und daher ist er u. a. auch ein spezifisches Lebewesen. Hingegen ist zwar Weiß eine spezifische Farbe und Sokrates ist weiß, aber Sokrates ist nicht eine spezifische Farbe, weil er nicht ein spezifisches Weißes ist. Wenn Mensch als vernünftiges Tier definiert wird, so sind Menschen und Sokrates vernünftige Tiere, und daher sind auch Mensch und Sokrates hinsichdich dieses Definiens von Mensch synonym. Die intime Verbindung, die Sokrates mit Mensch eingeht, versucht Aristoteles in der Kategorienschrift in unterschiedlicher Weise deudich zu machen. Mensch ist das, was Sokrates ist und was ihn im eigendichen Sinne
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erkennbar macht (z. B. 2b30 —37); vor allem aber ist Sokrates ein „tode ti", ein Dies von der Art Mensch (3blO), und wie sich „alles andere" zu Sokrates verhält, so verhält es sich auch zu seiner Art und Gattung, denn was immer von Sokrates prädiziert wird, wird von einem Menschen und einem Lebewesen prädiziert (3al-6). Michael Loux scheint an diesem Punkt mit Recht auf eine Parallelstelle in APo 14 hinzuweisen, wo Aristoteles diesen Zusammehang zwischen einem als Dies von der Art y, dem y als Was-es-ist von und der spezifischen Weise der Prädikationen von als einem Dies von der Art y durch die vieldiskutierte Formel erläutert, daß ein Gehendes „als ein anderes Ding" gehend ist und, sofern ein Gehendes weiß ist, „als ein anderes Ding" weiß ist, daß hingegen Sokrates als ein Dies von der Art „nicht als ein anderes Ding das ist, was er wirklich ist".11 Es scheint mir jedoch nicht ausreichend zu sein, diese Formeln mit Loux dadurch zu erläutern, daß wenn Sokrates weiß ist, es stets noch eine andere, vom Weißen verschiedene Eigenschaft „Mensch" gibt, die von Sokrates prädiziert wird, während wenn Sokrates Mensch ist, es eine solche Eigenschaft nicht geben wird und Sokrates „in his own right" Mensch ist. Denn die Phrase „in his own right" ist mehr als vage, und auch von jedem Menschen werden mit Sicherheit stets viele andere Eigenschaften prädiziert (wenn auch nicht ausgesagt).12 Wir sollten eher davon ausgehen, daß der frühe Aristoteles die Idee explizieren will, daß ein als Dies von der Art y ein spezifisches y-Ding ist. In Apo 14 beschreibt er diesen Sachverhalt so, daß das, was es wirklich ist, nicht als ein z-Ding mit z y ist: Sokrates ist in seinem Sokrates-Sein nicht wirklich verschieden vom Mensch-Sein, wohl aber z. B. vom Weiß-Sein.13 Und wenn wir ontologisch Sokrates mit seinem Sokrates-Sein und Mensch mit Mensch-Sein gleichsetzen dürfen, so bedeutet dies, daß Sokrates in einer bestimmten Hinsicht nicht wirklich verschieden von Mensch ist. In der Tat sind nach Aristoteles zwei Dinge nur verschieden, wenn sie dem Stoff oder der Form nach verschieden sind;14 Mensch hat keinen Stoff, also können Sokrates und Mensch nicht dem Stoff nach verschieden sein, und der Form nach sind sie identisch. Diese Hinweise scheinen anzudeuten, daß Aristoteles die Relation Rl generell als asymmetrische partielle Identität auffaßt, wie sie durch die enge 11 12
13 14
Vgl. Apo 14, 73B5-8 und Loux (1991), 37ff. Siehe dazu auch Apo 122, 83al-35. Vgl. Loux (1991), 40 — 41. Im übrigen weist Loux darauf hin, daß Arten ihre Mitglieder heraussortieren, aber dabei verwendet er das Merkmal der Sortalität, das es erst zu rekonstruieren gilt, In Met IV4, 1007a26 drückt sich Aristoteles präzise so aus. Vgl. Met. V7.
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Verbindung der Synonymität mit Rl bereits vorgezeichnet und durch die Relation der Spezifizität gerade exemplifiziert wird. Wie es zu Lebewesen ein spezifisches Lebewesen gibt, das mit Mensch identisch ist, so gibt es zu Mensch einen spezifischen Menschen, der mit Sokrates identisch ist; jedoch gibt es keinen spezifischen Menschen, der mit Lebewesen identisch wäre, und erst recht keinen spezifischen Sokrates, der mit Mensch identisch wäre (es gibt ja überhaupt keinen „spezifischen Sokrates"). Dieser Aspekt der asymmetrischen partiellen Identität scheint den Gesichtspunkt zu liefern, von dem her sich sagen läßt, daß die Relation Rl ebenso zwischen Lebewesen und Mensch wie zwischen Mensch und Sokrates besteht. Wir können demnach sagen: D3
y ist partiell identisch mit x, falls es ein spezifisches y, etwa y', gibt derart, daß y' identisch ist mit x.
Daraus, daß y partiell identisch ist mit x im Sinne von D3, folgt dann nicht, daß x auch partiell identisch ist mit y, d. h. die Asymmetrie ist erfüllt. Setzen wir nun ferner mit Aristoteles voraus D4
y und x sind synonym hinsichtlich der Struktur z gdw gilt: (a) y ist z und x ist z (d. h. x und y haben den Namen „z" gemeinsam) (b) ist D das Definiens von z, so gilt: y ist D und x ist D (d. h. der gemeinsame Name „z" verweist auf eine identische Struktur D)
Dann folgt aus dem Bisherigen Tl
Ist y partiell identisch mit x und ist D das Definiens von y, so sind y und x synonym hinsichtlich der Struktur y (mit y = D)
Man könnte sagen, daß es nach Tl die Struktur D ist, die jenen Aspekt repräsentiert, hinsichtlich dessen y partiell identisch ist mit x. Auf diese Weise wird die symmetrische Synonymie-Beziehung in die asymmetrische Beziehung der partiellen Identität integriert. Zugleich scheint klar zu sein, daß wenn y partiell identisch ist mit x, y und x nicht voneinander „getrennt" werden können und y nicht unabhängig von x existieren kann. Damit wird folgende Unterscheidung nahegelegt: D5
(a) x ist physischer Teil von y, falls x und y voneinander getrennt werden können und x unabhängig von y existieren kann; (b) x ist konstitutiver Teil von y, falls und insofern gilt: (i) solange x existiert, gilt: - x ist y; - x und y können nicht voneinander getrennt werden; (ii) y kann nicht unabhängig von jenen x; existieren, von denen gilt (für alle i): Xj ist y (d. h. falls es kein x; gibt mit Xj ist y, existiert y nicht)
Möglicherweise ist es eine schwierige Frage, ob z. B. Kopf und Hände physische Teile von Sokrates sind, weil sie in ihrer Funktionsbestimmung von
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Sokrates als Gesamtorganismus abhängen. Aber sicherlich hat Sokrates physische Teile, z. B. Blut und Knochen; ebenso sind Steine physische Teile eines Hauses. Es gilt dann T2
Ist y partiell identisch mit x, so ist
konsumtiver Teil von y.
Mit Tl und T2 wird deutlich, daß die Intuition der partiellen Identität im Sinne von D3 die wichtigsten Erläuterungen für Rl, die Aristoteles im Text der Kategorienschrift gibt, konsistent zu deuten gestattet. Wir können demnach zusammenfassend sagen: D6
j wird von als einem Z ausgesagt, falls y partiell identisch ist mit x.
Dann folgt: T3
Wenn y von x als einem Z ausgesagt wird, so gilt: (a) es gibt ein z und ein Definiens D von z, so daß gilt: — x ist z und y ist z; — x ist D und y ist D; — x und y sind synonym in Hinsicht auf z (b) x ist konsumtiver Teil von y.
Im Anschluß an den Code-Jargon, der mittlerweile in der neuesten Literatur auf erhebliche Akzeptanz trifft, wollen wir auch schreiben: D7
x Ist y gdw y von x als einem Z ausgesagt wird.
Nach Abschnitt (2) (oben S. 64) gilt dann z. B. (a)' (b)'
Sokrates Ist Mensch Mensch Ist Lebewesen
aber allenfalls (c)'
Sokrates ist aschfahl.
Die aristotelische Prädikationstheorie der Kategorienschrift gruppiert Prädikationen also anders als die Standard-Analyse der an Frege orientierten modernen Prädikationstheorie: Aristoteles analogisiert (a)' und (b)' und unterscheidet diese beiden Fälle von (c)'; Frege und seine Nachfolger analogisieren (a)' und (c)' und unterscheiden diese beiden Fälle von (b)'. Es gibt eine Reihe von ernsten Problemen mit dieser Analyse. Eines davon betrifft die Frage, was es genauer heißen kann, daß Mensch mit einem konkreten Einzelding wie Sokrates partiell identisch ist, d. h. daß Sokrates synonym mit Mensch und zugleich konstitutiver Teil von Mensch ist, wobei unterstellt ist, daß Sokrates zu den Menschen gehört. Die Synonymität von Sokrates und Mensch ist vielleicht noch am ehesten verständlich: Sokrates erfüllt wie Mensch das Definiens von Mensch, und dieses Definiens liegt im Schnitt aller Gemeinsamkeiten, die alle konkreten Menschen aufweisen. Aber
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inwiefern Sokrates ebenso wie z. B. Platon konsumtiver, also nicht-physischer Teil von Mensch sein kann, bietet härtere Verständnisschwierigkeiten, denn der Mensch geht mit Sokrates nicht unter; allerdings würde der Mensch untergehen, wenn es keine einzelnen Menschen gäbe. Sokrates ist also allenfalls ein konsumtiver Teil von Mensch, insofern und solange Mensch von ihm als einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, und insofern es stets irgendwelche Dinge geben muß, von denen Mensch als etwas Zugrundeliegendem ausgesagt werden kann. Die Idee andererseits, daß Sokrates nicht unabhängig von Mensch existieren kann, ist in den ,Kategorien' noch nicht klar formuliert. Insofern ist Teil (b) von D5 sowohl zu ungeordnet als auch überpointiert, und wir sollten lieber in einem schwächeren Sinne sagen: D8
ist konsumtiver Teil von y nur dann, wenn gilt: (a) es gibt zu allen Zeiten irgendwelche xj, von denen gilt: Xj ist y; (b) gäbe es zu irgendeinem Zeitpunkt t kein mit ist y, so würde y zu t nicht existieren; (c) gehört zumindest für einen endlichen Zeitraum zu den in (a) genannten XiJ (d) solange existiert, gilt: ist y.
Mehr kann dazu im Rahmen der Kategorienschrift nicht gesagt werden. Ein weiteres, überaus prekäres Problem besteht darin, daß wenn y partiell identisch ist mit und y eine Struktur ist, kaum der Folgerung zu entgehen ist, daß auch eine Struktur ist. Die Kategorienschrift verfügt jedoch über keinerlei theoretische Mittel, auch nur zu erwägen, ob Sokrates mit einer gewissen Struktur identifiziert werden kann. Zwar läßt sich, wie bereits angedeutet, nach Aristoteles sagen: D9
Wenn ein Dies von der Art y ist, so ist y mit ein Dies von der Art y ein spezifisches y ist.
partiell identisch, insofern
Aber was es genauer heißt, daß ein Dies von der Art y ein spezifisches y ist und insofern selbst mit einer spezifischen Struktur identifiziert werden könnte, ist im Rahmen der frühen Metaphysik in den ,Kategorien' nicht explizierbar. Tatsächlich schließen die bisherigen Bestimmungen nicht explizit aus, daß etwa die metrische Struktur des Kleiner-als-fünf-Meter-Seins partiell identisch mit Sokrates ist. Anders formuliert, der Umstand, daß Sokrates möglicherweise mit einer spezifischen Mensch-Struktur, keinesfalls aber mit einer spezifischen Struktur des Kleiner-als-fünf-Meter-Sein identifiziert werden könnte, läßt sich theoretisch noch nicht einholen. Gerade dieser Unterschied läßt sich aber, intuitiv und vorgreifend formuliert, als Differenz zwischen „essentiellen" und „akzidentellen" Strukturen wahrnehmen. Im Rahmen der frühen Metaphysik ist das Äußerste, was sich hier sagen läßt, daß eben auch für den Fall, daß etwa Mensch von Sokrates als von einem Zu-
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grundeliegenden ausgesagt wird, die IdentitätsForderung, die eine Konsequenz der partiellen Identität ist, aufrechtzuerhalten ist, auch wenn an diesem Punkt keine weiteren Explikationen mehr möglich sind: Sokrates ist buchstäblich identisch mit einer spezifischen Mensch-Struktur, auch wenn diese Identität nicht näher ausgedeutet werden kann; und dies gilt z. B. in bezug auf Mensch, aber nicht in bezug auf Kleiner-als-fünf-Meter-Sein. Dieser Gesichtspunkt wird betont, wenn wir D9 leicht umschreiben: D10
Wenn ein Dies von der Aft y ist, so ist (buchstäblich) identisch.
mit einer spezifischen y-Struktur
Somit sind D8 und Dl0 als Erläuterungen zu D6 zu verstehen für den Fall, daß das in D6 genannte x ein Dies von der Art y ist. Zugleich soll damit Aristoteles' These aufgefangen werden, daß wenn y von als einem Z ausgesagt wird, in jedem Falle y zu dem gehört, was wirklich ist, d. h. im Wases-ist von liegt (Cat. 5, 2b8 —15). (4) Aufgrund der mit D1-D10 und T1-T3 etablierten Basis lassen sich nun relativ schnell einige weitere Bestimmungen und Thesen zu Rl einführen. Wenn eine Entität unteilbar und also ein „Individuum" ist (vgl. Cat. 2, Ib6; 5, 3bl2), so ist der konstitutive Teilbegriff angesprochen: Dl l
y ist Individuum, falls es kein gibt derart, daß
konstitutiver Teil von y ist.
Wenn ferner y von als einem Z ausgesagt wird, so kann es im allgemeinen natürlich ein ' geben, so daß y auch von x' als einem Z ausgesagt wird, denn wenn y mit partiell identisch ist, folgt keineswegs, daß y nur mit partiell identisch ist: T4
Wenn y von als einem Z ausgesagt wird, gibt es im allgemeinen mindestens ein ' derart, daß y von x' als einem Z ausgesagt wird (d. h. y ist Allgemeines relativ auf x und x').
Obgleich der Ausdruck „Definiens" in die Bestimmung von Synonymität eingeht, wird er doch strikt genommen für eine Explikation der partiellen Identität und damit der Relation Rl nicht vorausgesetzt. Wir können daher einige der wichtigsten essentialistischen Ausdrücke neu einführen. Zunächst gilt nach Aristoteles, wie schon angedeutet: D12
Wenn y von x als einem Z ausgesagt wird, so wird x durch y erkennbar, und y ist ein Was-es-ist von x (d. h. y ist das, was x ist).
Dann läßt sich sagen D13
Wenn y ein Was-es-ist von x ist und y identisch ist mit x, so ist y Definiens von x, und der Satz „x Ist y" ist eine Definition von x.
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Schließlich kann man sich überlegen, daß wenn konsumtiver Teil von y und z physischer Teil von ist, z nicht konsumtiver Teil von y ist, denn die physischen Teile von Sokrates sind z. B. nicht buchstäblich identisch mit einer spezifischen Mensch-Struktur (Sokrates' Blut ist ja nicht Mensch); und wenn konstitutiver Teil von y und zugleich physischer Teil von z ist, dann ist z ebenfalls nicht konstitutiver Teil von y, denn die Gesamtheiten, deren physischer Teil etwa Sokrates ist, sind nicht buchstäblich identisch mit einer spezifischen Mensch-Struktur (das Athenische Heer, in dem Sokrates kämpfte, ist ja nicht Mensch). Wir können demnach festlegen: T5
T6
Wenn y von x als einem Z ausgesagt wird und z physischer Teil von ist, dann gibt es keine spezifische y-Struktur y' derart, daß y' identisch ist mit z (d. h. es ist nicht der Fall, daß y von z als einem Z ausgesagt wird). Wenn y von als einem Z ausgesagt wird und physischer Teil von z ist, dann gibt es keine spezifische y-Sruktur y' derart, daß y' identisch ist mit z (d. h. es ist nicht der Fall, daß y von z als einem Z ausgesagt wird).
Die Thesen T5 und T6 finden sich in dieser Form nicht im Text von Cat. vor; ihrem Inhalt nach beschreiben sie natürlich ein y, das von einem als Z ausgesagt wird, als sortak Struktur von x. Nach verbreiteter (und plausibler) Auffassung der Literatur ist die schwierige Passage in Kat 5, 3bl3 —24 jene Stelle, in der Aristoteles der sortalen Deutung dessen, was von einem Ding als Zugrundeliegendem ausgesagt wird, noch am nächsten kommt. Wir müssen schließlich noch daran erinnern, daß gilt: T7
Wenn y von als einem Z ausgesagt wird, so gilt: Wenn existiert, so gilt ist y.
Diese These ergibt sich aus D5 und D8; sie folgt aber auch daraus, daß y partiell identisch ist mit x, falls überhaupt existiert. Dem Inhalt nach bestimmt T7 ein y, das von einem x als Z ausgesagt wird, als notwendige Struktur von x. Damit läßt sich festlegen: Dl4
Dl 5
Wenn y von x als einem Z ausgesagt wird, so ist (a) y Eigenschaft von x, insofern T4 gilt; (b) y notwendig für x, insofern T7 gilt; (c) y sortal für x, insofern T5 und T6 gelten; (d) y essentielle Eigenschaft von x, insofern (a) — (c) gelten. y ist Art oder Gattung von x, falls y essentielle Eigenschaft von x ist.
Damit ist eine Explikation des ontologischen Essentialismus in der frühen Metaphysik des Aristoteles geleistet - freilich unter der Kautele, daß D9-D10 vorauszusetzen sind, die ihrerseits nicht mehr explizierbar oder auch nur hinreichend verständlich sind. Eine letzte Differenzierung des Individuum-Begriffs aus DU ist noch nachzuliefern. Nach Cat. 2 gibt es zwei Sorten von Individuen — nämlich
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solche, die in be2ug auf ein bestimmtes x individuell sind, d. h. dieses nicht als konsitutiven Teil enthalten, die jedoch von anderen Xj, die verschieden sind von x, als Zugrundeliegenden ausgesagt werden; ferner aber auch solche Individuen, die von keinem Ding als einem Zugrundeliegenden ausgesagt werden. Wir können diese Unterscheidung folgendermaßen festhalten: Dl6
Dl7
y ist x-individuell, falls gilt: (a) y wird nicht von x als einem Z ausgesagt; (b) es gibt ein ' derart, daß y von x' als einem Z ausgesagt wird. y ist individuell, falls y ein Individuum im Sinne von DU ist.
Mit Dl 6 wird also ein gegenüber Dl 7 bzw. DU schwächerer Individuenbegriff herausgearbeitet, der es ermöglicht, von ein- und derselben Struktur 2u sagen, sie sei individuell und allgemein — freilich unter verschiedenen Aspekten, d. h. in Hinsicht auf verschiedene Dinge. Nehmen wir schließlich an, eine spezifische z-Struktur z' sei identisch mit y und eine spezifische y-Struktur y' sei identisch mit x; dann ist y' auch eine spezifische z-Sruktur, die mit x identisch ist. Es folgt also, was Aristoteles in Cat. 3, lblO-16 sagt: T8
Wenn z von y als einem Z ausgesagt wird und y von x als einem Z ausgesagt wird, so wird auch z von x als einem Z ausgesagt.
(5) Es bleibt noch die Diskussion der Relation „y ist in x als einem Z" (die im folgenden auch durch „R2" abgekürzt sei). Folgende Relata erfüllen u. a. nach Aristoteles R2: (bestimmtes grammatisches Wissen, Seele); (bestimmtes Weiß, Körper); (Farbe, Körper); (Wissen, Seele); (Weißes, Körper); (Farbe, Körper) und folglich auch (Farbe, bestimmter Körper).15 Im letzten Beispielfall ist Körper gegenüber dem bestimmten Körper etwas Allgemeines, und insofern ist Frede (1978) zuzustimmen, daß es möglich ist, daß etwas in einem Allgemeinen als einem Z ist. Es ist aber zu beachten, daß das „folglich" in 2b2 von Aristoteles selbst im Sinne einer notwendigen Bedingung interpretiert wird: dafür, daß Farbe im Körper als einem Z ist, ist es eine notwendige Bedingung, daß Farbe im bestimmten Körper als einem Z ist. Auch im Falle von R2 lassen sich eine Reihe von explikativen Hinweisen zusammentragen: (i)
15
Nach Cat. 2, Ia24—25 ist, wenn y in x als einem Z ist, y nicht Teil von x; dies wird in Cat. 5, 3a29 —32 durch den Hinweis erläutert, daß diese These damit vereinbar ist, daß x physische Teile hat. Daß also y nicht Teil von x ist, falls y in x als einem Z ist, muß genauer bedeuten, daß y nicht konstitutiVgl. Cat. 2, la26-28; 1B8-9; Ia29-30; lbl-2; 5, 2a30-31; 2bl-3.
Eine terminologische Rekonstruktion von Arist. Cat. 1 — 5
(ii)
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ver Teil von ist; daher berührt der Umstand, daß y in als einem Z ist, nicht die Möglichkeit, daß individuell ist. Die Deutung der Untrennbarkeitsthese in Cat. 2, Ia25 — also der These, daß wenn y in als einem Z ist, y nicht unabhängig von existieren kann — mag umstritten sein, aber in jedem Fall schließt diese These aus, daß wenn y in als einem Z ist, y physischer Teil von ist; denn wäre y physischer Teil von x, so könnte y unabhängig von existieren.
Also gilt zumindest Dl8
Wenn y in Teil von x.
als einem Z ist, so ist y weder konstitutiver noch physischer
Es folgt T9
Wenn y in x als einem Z ist, so ist es damit vereinbar, daß x individuell ist und physische Teile hat.
Weitere Explikationen von R2 resultieren aus der Beziehung von R2 und Rl: (iii)
(iv)
Es scheint klar, daß wenn y in x als einem Z ist, es nicht der Fall ist, daß y von x als einem Z ausgesagt wird, z. B. weil, wenn y von x als einem Z ausgesagt wird, x und y synonym sind, während dies niemals gilt, wenn y in x als einem Z ist (Cat. 5, 2al9-34; 3al5-21). Andererseits scheint es klar zu sein, daß wenn y in x als einem Z ist, es Fälle gibt, in denen y von keinem x als einem Z ausgesagt wird, aber auch Fälle, in denen y von einem x' ausgesagt wird, das von x verschieden ist (Cat. 2, la23-24; Ia29-bl).
Wir können demnach festhalten: Dl9 D20 D21
Wenn y in x als einem Z ist, so gilt nicht, daß y von x als einem Z ausgesagt wird. Es gibt y derart, daß gilt: wenn y in x als einem Z ist, so gibt es mindestens ein x' =/= x derart, daß y von x' als einem Z ausgesagt wird. Wenn y in x als einem Z ist und D Definiens von „y" ist, so gilt nicht: x ist D.
Es folgt dann T10
Wenn y in x als einem Z ist, so gilt: (a) x ist nicht konstitutiver Teil von y, d. h. y ist x-individuell; (b) entweder y ist individuell, oder es gibt ein ' derart, daß y nicht x'- individuell, d. h. Allgemeines in bezug auf x' ist.
Es ist natürlich auffällig, daß in allen Beispielen, die R2 erfüllen, das Zugrundeliegende entweder Körper oder Seele ist. In jedem Fall aber ist klar, daß dasjenige, welches in einem Zugrundeliegenden ist, eine Spezies S hat derart, daß das Zugrundeliegende zu den S-Dingen gehört; wenn z. B. das Weiße in Sokrates als einem Zugrundeliegenden ist, so gehört Sokrates zu den farbigen Dingen, und Farbigkeit ist die Art von Weiß, oder die Farbe ist die Art des Weißen.
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Wir wollen daher sagen: D22
Hat y, falls gilt: (a) y ist in als einem Z (b) ist y (c) es gibt ein z, derart daß gilt:
ist z, und y Ist z.
(6) Von hier aus läßt sich nun die Entitäten-Klassifizierung der Kategorienschrift sauber einführen: D23
D24
Tl l
T12
D25
D26
T13 T14
y heißt erste Usia, falls gilt: (a) es gibt kein x, derart daß gilt: Ist y (b) es gibt kein x, derart daß gilt: Hat y (c) es gibt ein z, derart daß gilt: y Ist z y heißt qveite Usia von x, falls gilt: (a) x Ist y (b) y ist nicht individuell Wenn y zweite Usia von x ist, so gilt — entweder, daß x erste Usia ist - oder, daß es ein z gibt derart, daß x zweite Usia von z ist. (a) Wenn x erste Usia ist, so gibt es ein y derart, daß gilt: x Ist y und x ist ein Dies von der Art y. (b) Wenn y zweite Usia von x ist, so gibt es kein z derart, daß y ein Dies von der Art z ist, sondern y ist sortales und notwendiges Allgemeines relativ auf x. y heißt spezifisches Ak^iden^ von x, falls gilt: (a) x Hat y; (b) es gibt ein x'^x, so daß gilt: x' Ist y y heißt generelles Ak^iden^ falls gilt: (a) es gibt ein x, so daß gilt: x Hat y; (b) es gibt kein z, so daß gilt: z Ist y. Es gibt vier Arten von Entitäten: erste Usia, zweite Usia, spezifisches Akzidenz, generelles Akzidenz. (a) Es gibt ^uei Arten von Individuen: erste Usia und Akzidenz; (b) Es gibt ^wei Arten von Universalien (Allgemeinem): zweite Usia und Akzidenz.
Aus der bisherigen Rekonstruktion folgt eine bestimmte Position hinsichtlich der vieldiskutierten Frage, ob Aristoteles in der Kategorienschrift von „individuellen" Eigenschaften spricht, und wenn ja, in welchem Sinne: zwar spricht Aristoteles von Akzidenzien, die in der Tat individuell sind — genauer individuell oder zumindest x-individuell; aber das bedeutet nur, daß die Akzidenzien entweder überhaupt keine konsumtiven Teile haben, oder daß ein bestimmtes Zugrundeliegendes, das sie Hat, nicht ein konstitutiver Teil von ihnen ist. Im Falle spezifischer Akzidenzien folgt überdies, daß es gewisse
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Entitäten gibt, die konsumtive Teile von ihnen sind und in Hinsicht auf die sie allgemein sind; und im Falle genereller Akzidenzien folgt zwar, daß es keine Entitäten gibt, die ihre konsumtiven Teile sind, aber es folgt nicht, daß es keine Entitäten gibt, relativ auf die sie Allgemeines sind. Das ist alles, was die Kategorienschrift zu diesem Problem zu sagen hat; alles Weitere ist Spekulation. Dieses Ergebnis verdient festgehalten zu werden: T15
(a) Wenn y spezifisches Akzidenz ist, so gibt es ein derart, daß y xindividuell ist, und es gibt x; derart, daß y Allgemeines relativ auf die Xi ist ( Xj); (b) Wenn y generelles Akzidenz ist, so ist y individuell, aber daraus folgt nicht, daß es keine Entitäten gibt, relativ auf die y Allgemeines ist.
Es folgt also T16
(a) Es gibt genauer drei Arten von Individuen: — erste Usia (individuell und in keiner anderen Entität) — generelles Akzidenz (individuell und in einer anderen Entität) - spezielles Akzidenz (x-individuell und in einer anderen Entität) (b) Es gibt ywei, möglicherweise sogar drei Arten von Allgemeinem:
— zweite Usia — spezielles Akzidenz — möglicherweise auch generelles Akzidenz (d. h. dies ist jedenfalls nicht ausgeschlossen). Wir können nun die verschiedenen Varianten der Ist-Relation Rl und der Hat-Relation R2 auflisten: D27
D28
D29
D30
D31
D32
x Isti y, falls gilt: (a) Ist y; (b) ist erste Usia Ist2 y, falls gilt: (a) Ist y; (b) ist zweite Usia Ist3 y, falls gilt: (a) Ist y; (b) ist weder erste Usia noch zweite Usia; (c) es gibt ein z, so daß gilt: z ist erste Usia, und z Hat Ist4 y, falls gut: (a) ist weder erste Usia noch zweite Usia (b) es gibt ein z, so daß gilt: z Hat x, und z Isti y x Hati y, falls gilt: (a) x Hat y; (b) x ist erste Usia x Hat2 y, falls gut: (a) x ist zweite Usia (b) es gibt ein z, so daß gilt: z ist erste Usia, und z Isti x, und z Hati y·
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D33
D34 D35
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x Hats y, falls gilt: (a) x ist weder erste Usia noch zweite Usia (b) es gibt ein z, so daß gilt: z ist erste Usia, und z Hati x, und z Hati y. y wird von als einem Z ausgesagt, falls gilt: Isti y, oder Ist2 y, oder Ists y, oder Isu y. y ist in als einem Z, falls gilt: Hati y, oder Hati y, oder Hats y.
Für diese verschiedenen Varianten der Ist-Relation und der Hat-Relation lassen sich folgende Beispiele angeben: Sokrates Isti Mensch; Mensch Ist2 Lebewesen; das grammatische Wissen Ist3 Wissen; das Weiße IsU Mensch; Sokrates Hati Röte; (ein) Mensch Hata Röte; das Weiße Hat3 Röte. Wenn die ersten Usiai nicht existieren, dann existiert nichts von den anderen Dingen, denn alle diese anderen Dinge sind entweder in den ersten Usiai oder werden von ihnen ausgesagt (Cat. 5, 2b5 —6c). Die metaphysischen Relationen Rl und R2 repräsentieren also nicht nur eine ontologische Beziehung, sondern auch eine ontologische Abhängigkeit: D36
Wenn y von als einem Z ausgesagt wird oder wenn y in als einem Z ist, dann ist y in seiner Existenz abhängig von der Existenz von x.
Daraus folgt zunächst mit D23 (d. h. nach Definition der ersten Usia): T17
Wenn y erste Usia ist, so gibt es keine Entität, von deren Existenz y in ihrer Existenz abhängig ist.
Und ferner natürlich T18
Wenn y zweite Usia oder generelles Akzidenz oder spezifisches Akzidenz ist, so gibt es eine Entität, von deren Existenz y in seiner Existenz abhängig ist.
Aber in Cat. 2b5-6c wird eine These behauptet, die stärker ist als T17-18 — nämlich daß alle Entitäten, die nicht erste Usiai sind, in ihrer Existenz letztlich von der Existenz von ersten Usiai abhängig sind. Für diese stärkere These skizziert Aristoteles eine Begründung. Nach Cat. 5, 2a 35 — 63 läßt sich nämlich sagen: Tl 9
T20
Wenn y von als einem Z ausgesagt wird und x eine zweite Usia ist, dann gibt es eine erste Usia z, so daß gilt, — daß von z als einem Z ausgesagt wird; — und daß folglich auch y von als einem Z ausgesagt wird. Wenn y in als einem Z ist und ein generelles Akzidenz ist, dann gibt es eine erste Usia z, so daß gilt, — daß in z als einem Z ist, - und daß folglich auch y in z als einem Z ist.
In Cat. 5, 2b37 —3a6 behauptet Aristoteles jedoch noch mehr, und zwar zunächst, daß etwas auch in einer zweiten Usia sein kann und dann insofern auch von einer ersten Usia existentiell abhängig ist:
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Wenn y in als einem Z ist und eine zweite Usia ist, dann gibt es eine erste Usia z, so daß gilt, — daß von z als einem Z ausgesagt wird, — und daß folglich y in z als einem Z ist.
Es ist mindestens T21, was an dieser Stelle behauptet wird; aber vieles spricht dafür, daß Aristoteles eine noch stärkere These verteidigt, nämlich T22
Wenn y in als einem Z ist, so gilt: — ist zweite Usia; — es gibt eine erste Usia z derart, daß — daher ist y in z als einem Z.
von z als einem Z ausgesagt wird;
Und damit gilt auch die Folgerung, die in 2b37 —3a6 explizit angegeben wird: T23
Wenn y in als einem Z ist und eine erste Usia ist, dann gilt: — es gibt eine zweite Usia z mit Ist z; — und daher ist auch y in z als einem Z.
Nach T22 und T23 gilt z. B., daß ein Mensch genau dann weiß ist, wenn ein bestimmter Mensch weiß ist. Erst aus D35 zusammen mit T17-T23 folgt T24
Wenn eine Entität ist, die nicht eine erste Usia ist, dann ist Existenz von der Existenz einer ersten Usia abhängig.
in ihrer
Bereits aus T20 —T21, erst recht aber aus dem stärkeren T22 —T23 folgt, was schon Frede (1978) behauptet hat: daß eine Entität nicht notwendig in einer ersten Usia ist, sondern auch in einer zweiten Usia oder in einem generellen Akzidenz sein kann, und daß die existentielle Abhängigkeit spezifischer Akzidenzien sich nicht notwendig auf eine bestimmte einzelne erste Usia bezieht. Im Kontext der Abhängigkeitsthesen ist jedoch noch ein weiterer Hinweis relevant, mit dem Aristoteles auf einen Unterschied zwischen Rl und R2 aufmerksam macht (vgl. Cat. 5, 3b33-4a9): T25
(a) Wenn y in als einem Z ist, so gilt: (i) es gibt ein ' x, so daß x' mehr oder weniger y ist als x; (ii) es gibt Zeitpunkte ti, t2 (ti t2), so daß x zu ti mehr oder weniger y ist als zu t2j (b) Wenn y von x als einem Z ausgesagt wird, so gilt: (i) es gibt kein ' derart, daß x' mehr oder weniger y ist als x; (ii) es gibt keine Zeitpunkte ti, t2 (ti 12), so daß x zu ti mehr oder weniger y ist als zu t2.
Dieser Unterschied hängt natürlich damit zusammen, daß die erste Usia hinsichtlich der Akzidenzien für Konträres empfänglich ist und sich, allgemeiner formuliert, hinsichtlich ihrer Akzidenzien verändern kann. Dieses Merkmal soll sogar das entscheidende Charakteristikum der ersten Usia sein (Cat. 5, 4alOf£):
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Wolfgang Detel
T26
Wenn y in als einem Z ist und eine erste Usia ist, so (a) ist für y' empfänglich, wenn y' das Konträre zu y ist; (b) kann sich in Hinsicht auf y verändern.
Im Gegensatz zu den zweiten Usiai kommen viele Akzidenzien in speziellen Nuancen oder Ausprägungen an den ersten Usiai vor, aber es scheint Aristoteles' Meinung zu sein, daß diese speziellen Nuancen in nicht-relationalen Prädikationen nicht sprachlich zum Ausdruck kommen, oder daß es jedenfalls eine untere Grenze der Nuancen-Differenzierungen gibt, die klassifikatorisch noch erfaßt werden können; jenseits dieser Grenze kann sprachlich nur noch mit der Relation „mehr oder weniger" operiert werden. Man kann darüber spekulieren, ob Akzidenzien an einer Usia sogar in einer Nuance vorliegen, die nur jeweils einer einzigen ersten Usia zu eigen ist; aus dem Text der Kategorienschrift folgt darüber jedoch nichts Definitives. Es läßt sich nur sagen, daß Aristoteles diejenige Phrase, die er für Entitäten verwendet, die er für „individuell" im modernen Sinne verwendet, nämlich „der Zahl nach eines zu sein", niemals auf Akzidenzien anwendet. Dieses exsilentio-Argument läßt eher vermuten, daß Aristoteles kein Akzidenz für individuell im modernen Sinne gehalten hat. Mit T26 scheint einer der wichtigsten Gesichtspunkte markiert zu sein, die Aristoteles veranlaßt haben, seine frühe Ontologie weiterzuentwickeln und schließlich in Met. Z-H neu zu reformulieren. Denn in der ,Physik' wird der Prozeß des Werdens an der ersten Usia, wie er in T26 skizziert wird, so verallgemeinert, daß nun auch das Werden und Vergehen der ersten Usia analysiert wird: die erste Usia ist nun eine Art von Entität, die sich über die Form-Materie-Analyse differenzierter beschreiben läßt. Die Verschiebung von der frühen zur reifen Ontologie bei Aristoteles kann u. a. dadurch beschrieben werden, daß nach der frühen Ontologie Sokrates konstitutiver Teil von Mensch ist und zugleich Sokrates von nichts anderem mehr konstitutiver Teil ist. Neuerdings kennzeichnet man diesen Übergang auch so, daß Aristoteles in der Kategorienschrift noch die These der doppelten Nicht-Analysierbarkeit vertritt (d. h. die These, daß weder die erste Usia noch das essentielle Verhältnis zwischen zweiter und erster Usia weiter analysierbar sind) und diese These dann im Anschluß an die Untersuchung des Werdens in der ,Physik' im Rahmen der reifen Metaphysik Met. Z-H aufgibt.16 Eine genauere terminologische Rekonstruktion von Cat. 1 — 5 zeigt, daß diese Beschreibung nur zur Hälfte richtig ist: der Begriff der ersten Usia gilt in Cat. in der Tat in dem Sinne als nicht weiter analysierbar, als die innere ontologische Struktur 16
So Lewis (1991) und Loux (1991).
Eine terminologische Rekonstruktion von Arist. Cat 1 — 5
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der ersten Usia nicht näher aufgeschlüsselt wird; dagegen ist es bemerkenswert, daß sich Aristoteles bereits in Cat. 1—5 ernsthaft um eine Explikation der essentiellen Relation zwischen zweiter und erster Usia bemüht (dies kommt in der oben vorgeschlagenen terminologischen Rekonstruktion dadurch zum Ausdruck, daß die essentielle Relation in Dl4 — und sogar die Ist-Relation in D7 — theoretisch derivativ eingeführt werden). Der Essentialismus gilt demnach für Aristoteles von Anfang an als eine Position, die philosophisch zu hinterfragen und zu explizieren ist. Erst die Form-MaterieAnalyse der ersten Usia ermöglicht Aristoteles allerdings eine raffiniertere und erfolgreichere Explikationsstrategie, wie sie in Met. Z-H präsentiert wird. Erst diese Strategie vermag den Essentialismus in einer interessanten Weise philosophisch zu fundieren und u. a. besser verständlich zu machen, inwiefern Sokrates in dem Sinne ein spezifischer Mensch war, daß er mit einer spezifischen Mensch-Struktur buchstäblich identisch war.
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THEODOR EBERT
Wer sind die Ideenfreunde in Platons Sopbistes? In der Diskussion philosophischer Lehren, die Platon im Sophistes durch den Mund des Besuchers aus Elea im Gespr ch mit dem jungen Theaitetos vortragen l t, kommt es an einer Stelle (246 a ff.) zur Schilderung eines „Gigantenkampfes" zwischen zwei entgegengesetzten und sich bek mpfenden Lagern. Ihr Streit geht um die ουσία, um das Sein, genauer um die Frage, wem eigentlich berhaupt der Charakter des Seins zukommt. Auf der einen Seite stehen, etwas vereinfacht gesagt, die „Materialisten", von denen es hei t, da sie alles aus dem Himmel und dem Unsichtbaren auf die Erde herunterziehen (246 a 8 —9), da sie, wie der eleatische Besucher sagt, mit ihren H nden Steine und B ume umklammern. Nach ihnen gilt als seiend nur das, was k rperlich ist (246 b l -2). Ihnen gegen ber stehen die Ideenfreunde (οί των ειδών φίλοι 248 a 4 —5), die sich, wie es hei t, „von oben herab aus dem Unsichtbaren" verteidigen (vgl. 246 b 7). Sie lassen als das wahre Sein nur die „denkbaren und unk rperlichen Eide" zu (νοητά άττα και ασώματα είδη 246 b 7 —8). Beide Positionen werden von dem Besucher aus Elea einer kritischen Pr fung unterzogen. W hrend die Materialisten leicht als die materialistischen Naturphilosophen der jonischen Tradition zu identifizieren sind1, scheint es nicht so klar, wer sich hinter den Ideenfreunden verbirgt, und die Diskussion dar ber ist auch heute noch nicht zu einem Abschlu gekommen. Diese Frage betrifft deshalb nicht blo ein Einzelproblem in der Interpretation des Dialogs Sophistes, weil die philosophische Position der Ideenfreunde mit Wendungen umschrieben wird, die an die Darstellung der Ideenlehre in den mittleren Dialogen, etwa im Phaidon2 oder in der Politeia, erinnern. Daher impliziert eine Kl rung der Frage nach der Identit t der Ideenfreunde immer auch eine Antwort auf eine Frage, deren eigentliche Brisanz erst im gr eren Kontext 1
2
Obwohl es auch hier abweichende Meinungen gibt: So wurde in der lteren Literatur, etwa bei Zeller (1922, II, i, 297 Anm.), bei D mmler (1882, 51 ff.) sowie bei Natorp (1922, 289), die Ansicht vertreten, da es sich bei diesen Materialisten um die Kyniker, um Antisthenes und seinen Kreis, handelt. Die Mehrzahl der neueren Arbeiten, beginnend mit Cornfords Kommentar (vgl. Cornford 1935, 229 ff.), sieht in diesen Materialisten aber die jonischen Vorsokratiker. — Vollst ndige Literaturangaben im Literaturverzeichnis. Phaidon 78d-e, vgl. a. Phaidros 247 d-e.
Wer sind die Ideenfreunde in Platons Sophistes?
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des platonischen QEuvres sichtbar wird: Wollte Platon hier eine Kritik an der früher von ihm vertretenen Ideenlehre vorbringen? Wenn das seine Absicht war, dann sind wir mit demselben Problem konfrontiert, das auch etwa die Ideenkritik des Parwenides so vertrackt macht: Warum wird dann diese Lehre in einem (nach allem, was wir wissen) späteren Dialog, dem Timaios nämlich, abermals vorausgesetzt? Handelt es sich aber nicht um eine Kritik einer eigenen Position, dann hat es offenbar Philosophen gegeben, die vor oder gleichzeitig mit Platon Positionen vertraten, die Platon, wie es scheint, selber in den mittleren Dialogen vertreten hat. Wer sind diese Philosophen, und in welchem Verhältnis steht der Platon der mittleren Dialoge zu ihnen?
L
Was diese Stelle des Sophistes interessant macht, ist also zunächst einmal der Umstand, daß sich von ihr aus eine wichtige Information über ein, wie es scheint, zentrales Lehrstück Platons gewinnen läßt, und zwar ganz gleichgültig, für welche der möglichen Alternativen wir uns entscheiden. Aber es gibt noch einen weiteren Gesichtspunkt, der diesem Textabschnitt eine über ein Einzelproblem eines Dialoges hinausgehende Bedeutung gibt: Mit der Frage, wer sich hinter den verbirgt, ist auch ein hermeneutisches Problem der platonischen Dialoge verknüpft, das Problem nämlich, wie Platon einen Dialog wie den Sophistes gelesen haben will, anders gesagt, mit welchen Lesern Platon rechnet. Im Unterschied zu der Frage der Identität der Ideenfreunde wird allerdings dieses Problem in der Literatur zum Sophistes, soweit ich sehe, nirgends explizit gemacht, wie überhaupt hermeneutische Fragen der Platondeutung eher selten für die philosophische Deutung der platonischen Dialoge fruchtbar gemacht werden.3 Es wird zweckmäßig sein, diese beiden Fragen getrennt zu behandeln und zunächst die unterschiedlichen Deutungsvorschläge, die für die Ideenfreunde vorliegen, auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen. Eine knappe Zusammenfassung dieser Positionen hat David Ross in seinem Buch „Plato's Theory of Ideas" von 1951 gegeben; ich zitiere ihn: Different views have been held about the identity of these ,Friends of Forms'. It has been held (1) that they were Megarians; (2) that they were Italian Pythagoreans; (3) that they were Platonists ,who, resting in their 3
Eine rühmliche Ausnahme ist hier Wolfgang Wieland, der in seinen Untersuchungen (insbesondere Wieland [1982]) zu Platon gerade die Notwendigkeit betont hat, im engeren Sinne philosophische Fragestellungen mit den hermeneutischen Fragen der Dialogform zu verbinden.
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Theodor Ebert imperfect realization of an earlier phase of his own teaching and reverting to Pythagorean and Eleatic elements, held the doctrine in the form in which it is often controverted by Aristotle'; (4) that Plato is referring here to himself in an earlier phase. Ross, (1951) 105 f.
(das Zitat im Zitat stammt aus der Vorrede von L. Campbell in seiner Ausgabe des Sophistes und Politikos, Campbell 1867, p. Ixxv). Die erste Position unter den von Ross aufgezählten, die die Ideenfreunde mit den Megarikern identifiziert, wurde von Schleiermacher, von Zeller und, ihm folgend, von Bonitz und Apelt4 vertreten. Für die italischen Pythagoreer votieren Proklos, außerdem Mallet, Burnet und Taylor5; die dritte Ansicht (Platoniker, die auf pythagoreische und eleatische Elemente zurückgreifen) wurde von Campbell in seiner Einleitung zu seiner Ausgabe des Sophistes vertreten.6 Die Auffassung schließlich, daß Platon hier seine eigene Theorie kritisiert, wurde von Grote, Wilamowitz, Überweg, Jackson, Praechter, Th. Gomperz, Grube, Friedländer, Cornford vertreten,7 und ihr schließt sich auch Ross8 selber an. Auch Guthrie im Bd. 5 seiner Geschichte der antiken Philosophie vertritt diese Position.9 Der vor einigen Jahren verstorbene Erlanger Philosoph Wilhelm Kamiah hat diese Meinung ebenfalls vertreten, wie schon der Titel seiner dem Sophistes gewidmeten Schrift anzeigt.10 Auch die neuesten Kommentare wollen in den Ideenfreunden den Platon der mittleren Dialoge wiedererkennen; so sagt etwa de Rijk in seinem Kommentar zur Frage der „identity of the ,Friends of the Forms'": The question having been intensely debated, modern scholarship has made it certain that the Idealist theory presented here represents the classic shape 4
5
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Vgl. Schleiermacher (1824) 140 f.; Zeller (1922) 252 Anm. 2 und 3, der dort auch die ältere Literatur verzeichnet; Bonitz (1875) 182 Anm. 42; Apelt (1891) 89. Vgl. Proklos, In Parm. 5a2 Cousin, iv, 149; Mallet (1845) liiiff.; Taylor (1926) 386; Burnet (1930) 309 Anm. 2, der sich dabei auf Proklos beruft. Campbell, Ed. of Soph. Ixxv; ähnlich Natorp (1922) 292 f., der hinter den Ideenfreunden des Sophistes niemand anders sehen will „als solche Platoniker, die nicht mit dem Meister fortgeschritten, sondern bei der oberflächlichen, dinghaften Auffassung der Ideen stehen geblieben waren (...)". (a. a. O. 293); vgl. a. Ritter (1920 = Platon II) 131 -134 sowie Runciman (1962) 76. Gegen Natorp argumentiert H. Gomperz (1905) 483 f. - Cherniss (1944) 439 Anm. 376, will unter den Freunden der Ideen Eudoxos erkennen, nicht, wie Friedländer (1960) III, 476 Anm. 44 ihm unterstellt, „eine gegen Eudoxos gerichtete Strömung in der Akademie". Grote (1875) III, 482; WUamowitz (1919) I 558 f.; Überweg (1861) 277; Jackson (1885) 197-202; Praechter, der darin (vgl. Überweg/Praechter [1926] 297 f.) „nur eine Fiktion oder zu Unrecht gezogene Konsequenz" durch den Besucher aus Elea sieht. Th. Gomperz (1925) II 444; Grube (1935) 296 f.; Friedländer (1960-1964) III 476 Anm. 44; Cornford (1935) 242-246. Ross (1951) 107. Guthrie (1978) 141: „I do not see how anyone can doubt that Plato is preparing the reader for a modification of his own metaphysics." Platans Selbstkritik im Sophistes, München 1963, S. 35 f.
Wer sind die Ideenfreunde in Platons Sophistes?
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of Plato's theory of Forms as it is found in the earlier (pre-critical) dialogues, most clearly in Phaedo and Republic.! J
Als Vertreter der neueren Forschung, die das gezeigt haben sollen, wird auf Cornford und Bluck verwiesen.
II.
Prüfen wir, wie es Ross selber dann auch tut, diese Positionen auf ihre Stichhaltigkeit. Die Ansicht, daß es sich bei diesen Ideenfreunden um die Megariker handelt, die dank der Autorität Schleiermachers und Zellers in der Literatur des 19. Jahrhunderts eine Reihe von Anhängern gefunden hat, ist, soweit ich sehen kann, in der neueren Literatur nirgends mehr vertreten worden; in der Sammlung der Megarikerfragmente von Döring und in der Sokratiker-Sammlung von Giannantoni wird unsere Stelle überhaupt nicht mehr als mögliche Quelle für die Vertreter dieser Schule in Betracht gezogen; und in seinem RE-Artikel bestreitet K. v. Fritz ausdrücklich, daß die Ideenfreunde etwas mit den Megarikern zu tun haben; wörtlich sagt er zu der Stelle Soph. 242 b ff. folgendes: In diesem ganzen Passus ist nichts enthalten, was mit irgendeiner der für Eukleides bezeugten Lehren so zusammenhinge, daß man ein Recht hätte, die Stelle auf ihn zu beziehen, während die Mehrheit der von den angenommenen der Einheitslehre des Eukleides eher widerspricht.12
Im übrigen scheint es auch eher unwahrscheinlich, daß Platon eine Gruppe, die zu seiner Zeit doch allenfalls eine lokale Bedeutung hatte, in den Status einer Partei in diesem Gigantenkampf erhebt, deren Gegner die Materialisten der jonischen Tradition sein sollen. Hinzu kommt, daß Eukleides zu dem noch früheren dramatischen Datum des Gesprächs, also im Jahr 399, kaum mehr als einer unter mehreren Schülern des Sokrates gewesen sein kann. Ähnliche Überlegungen lassen es auch als ausgeschlossen erscheinen, daß Platon hier eine Gruppe der Akademie unter dem Titel der „Ideenfreunde" hat auftreten lassen wollen. Damit bleiben als weitere, jedenfalls eher ernstzunehmende Kandidaten die Positionen (2) und (4): die italischen Pythagoreer und die Kritik Platons an einer früher von ihm vertretenen Position. Dabei ist die überwiegende Mehrzahl der heutigen Platonerklärer der Ansicht, daß Platon hier eine Selbstkritik an jener Form der Ideenlehre übt, wie wir sie etwa im Phaidon finden. In der Tat sind ja die Übereinstimmungen 11 12
de Rijk (1986) 102. v. Fritz (1978) 86.
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zwischen dem Sophistes und dem Phaidon, allerdings auch zwischen dem Sophistes und dem (späteren) Timaios gar nicht zu leugnen. Daraus wird dann die Folgerung gezogen, daß Platon an dieser Stelle des Sophistes eine früher von ihm vertretene Fassung der Ideenlehre einer Kritik unterzieht.13 Dagegen ist die Position, daß Platon hier italische Philosophen im Blick habe, soweit ich sehen kann, in den letzten Jahrzehnten von niemandem mehr vertreten worden. Ich möchte nun im folgenden keine neue Position beziehen, sondern eine bereits vertretene mit neuen Argumenten stärken, und dabei insbesondere auch die jeweils gegen die abweichende Position vorgebrachten Gegenargumente auf ihre Stichhaltigkeit prüfen. Die Auffassung, die ich unterstützen möchte, ist die von Mallet, Burnet und Taylor (und in der Antike von Proklos) vertretene These, daß sich unter den Ideenfreunden italische Philosophen, d. h. (in irgendeinem Sinn) Pythagoreer verbergen, also in der Zählung von Ross die Position Nr. 2. Was ist für sie und was ist gegen sie vorgebracht worden? Und was läßt sich gegen ihre Konkurrentin sagen bzw. womit lassen sich die zur Unterstützung der These, daß Platon hier eine Selbstkritik übt, vorgebrachten Argumente entkräften? Der älteste Zeuge für die Deutung der Ideenfreunde als Pythagoreer ist der Neuplatoniker Proklos. Er sagt folgendes: Es gab nämlich auch bei den Pythagoreern die Ideenlehre ( ), und das macht auch er (= Platon) selbst im (Dialog) Sophistes klar, indem er die Weisen aus Italien als Ideenfreunde bezeichnet; aber derjenige, der die Ideen am meisten hochachtet und sie ausdrücklich annimmt, ist Sokrates. ... Proklos, In Parm. iv, S. 149 Cousin
Wie Burnet (1930, 309 Anm. 2) richtig hervorhebt, ist dies das einzige Zeugnis, das aus der Antike zur Frage der Ideenfreunde erhalten geblieben ist; und Burnet betont, daß Proklos offenbar auch von keiner abweichenden Deutung weiß. Während Burnet selber sich nur auf diese Bemerkung von Proklos stützt, hat sein Mitstreiter Alexander Taylor eine weitere wichtige Beobachtung beigesteuert: Taylor macht nämlich darauf aufmerksam, daß der Besucher aus Elea einen Hinweis auf die Identität der Ideenfreunde gibt, when he says (248 b) that Theaetetus probably will not know their views, but he is acquainted with them himself , because he has lived with 13
Zu den wenigen neueren Forschern, welche die Kritik an den Ideenfreunden nicht für eine Selbstkritik Platons halten, gehört Wolfgang Wieland (vgl. Wieland [1982] 106-112, insbes. 112). Wieland weist zurecht daraufhin, daß wir es hier mit einer „Ideenlehre ohne Sokrates" zu tun haben (ibid. 112). Die Funkdon dieser Kritik an der Ideenlehre sei es, so Wieland, „vor einer zu naiv vorgenommenen Thematisierung und Vergegenständlichung der Idee" zu warnen (ibid. 112). Allerdings äußert sich Wieland nicht zu der Frage, ob es sich bei den Ideenfreunden um eine historisch greifbare Gruppe von Philosophen handelt.
Wer sind die Ideenfreunde in Platons Sophistes?
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the men in question. As the speaker is certainly an Italian Eleatic — he refers to his own personal recollections of Parmenides (237 a) - we must plainly look to Italy for these rationalistic dualists. Taylor a. a. O. 386
Ob die Ideenfreunde als „rationalistic dualists" richtig charakterisiert sind, kann hier dahingestellt bleiben. Der Hinweis aber auf diese Bemerkung des eleatischen Besuchers zur Bekanntschaft mit den Ideenfreunden ist in der Tat ein gewichtiges Argument. Denn hier hat offenbar ja Platon selber einen Wink für die Identifizierung dieser Gruppe gegeben. Taylor hätte sich übrigens nicht nur auf die Stelle 237 a berufen können, um plausibel zu machen, daß der Besucher aus Elea sich in der Philosophie in Großgriechenland auskennt, sondern einfach auch darauf, daß der Besucher aus Elea schon ganz zu Anfang des Dialoges als jemand aus dem Umkreis des Parmenides und Zenon vorgestellt wird (216 a 3), der über bestimmte Ansichten, die man in seiner Heimat ( 217al) über Sophist, Politiker und Philosoph hat, Auskunft geben kann. Es ist also jemand, der als Experte für das, was in Großgriechenland an philosophischen Ansichten herrscht, eingeführt worden ist. Ross hat diese Argumente gleichwohl zu entkräften versucht, aber wie ich denke, mit nicht ganz fairen Argumenten. Er bezieht sich auf Taylor und macht dazu folgenden Einwände: It is not altogether easy to choose between the second and the fourth view. But one must hesitate before accepting the view that there was in Italy a school of the type that Taylor presupposes, a school that is not mentioned in any writer other than Proclus. Ross a. a. O. 107
Nun, zunächst geht es bei Taylor nicht um die Annahme einer nur bei Proklos erwähnten Schule, wie Ross es hier darstellt, sondern um die Annahme, daß eine ganz wohl bekannte philosophische Richtung, die der Pythagoreer nämlich, die Ideenlehre vertreten hat. Diese Annahme, daß eine bekannte Schule eine bestimmte Doktrin gelehrt hat, ist jedenfalls plausibler als die Annahme einer sonst ganz unbekannten Schule. An der von Taylor zitierten Proklos-Stelle werden die Pythagoreer schließlich ausdrücklich genannt. Daß Proklos der einzige antike Autor ist, der die Ideenfreunde mit den Pythagoreern identifiziert, ist sicherlich richtig, aber da dies das einzige antike Zeugnis überhaupt zu der Frage der Identität der Ideenfreunde ist, kommt ihm besonderes Gewicht zu. Natürlich ist es nicht auszuschließen, daß Proklos keine unabhängigen Quellen für seine Behauptung hat, sondern seine These auch nur aus der Bemerkung des eleatischen Besuchers herausliest; aber auch in dem Fall läßt sich jedenfalls sagen, daß diese Deutung für einen griechisch sprechenden Gelehrten der Spätantike durch den Text nahegelegt war.
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Theodor Ebert
Ross attackiert dann Taylors Berufung auf die Bemerkung des Besuchers, da er, der Eleate, die Antwort der Ideenfreunde besser verstehe als Theaitetos, δια συνήθειαν (248 b 8). Taylor hatte das umschrieben mit: ... he (i. e. the Eleatic Stranger. — Th. E.) ist acquainted with them himself δια συνήθειαν, because he has lived with the men in question, (a. a. O. 386)
Dazu Ross: ... his interpretation of δια συνήθειαν is not the only possible one. συνήθεια may mean Acquaintance', and it may be on that understanding that Proclus based his interpretation. But in several passages it means ,habituation', and if that be what it means here, it can be explained by supposing that the Stranger, a professed philosopher, is more used to the sort of discussion in question than Theaetetus, a new-comer from mathematics to philosophy. On the whole, then, the other interpretation is more probable; the ,Friends of the Forms' are Plato's earlier self and those who had accepted his earlier view. a. a. O. 107
Die Folgerung, die Ross hier ziehen will, ist schon allein deswegen nicht gerechtfertigt, weil er — einmal zugestanden, da der griechische Ausdruck tats chlich den Sinn von ,habituation' haben kann — kein Argument daf r vorgebracht hat, da dieser Ausdruck an unserer Stelle tats chlich diesen Sinn hat. Sein Erkl rungsvorschlag, da , wenn der Ausdruck an unserer Stelle diese Bedeutung hat, der Sinn des Gesagten erkl rt werden kann „by supposing that the Stranger, a professed philosopher, is more used to the sort of discussion in question than Theaetetus, a new-comer from mathematics to philosophy", ist schon deshalb sehr unwahrscheinlich, weil Theaitetos kurz vorher, als es um die Materialisten ging, umgekehrt als jemand vorgestellt wurde, der seinerseits mit diesen Leuten bekannt ist (246 b 4 —5). Hier stehen sich nicht ein „new-comer to philosophy" und ein „professed philosopher" gegen ber, sondern zwei Leute, die aufgrund ihres unterschiedlichen geographischen Hintergrundes mit jeweils einer der beiden Parteien dieses Gigantenkampfes bekannt sind. In der Tat ist ja die Annahme naheliegend, da Theaitetos als Athener mit den Materialisten der jonischen Naturphilosophie bekannt geworden ist; schlie lich war der Einflu bereich Athens die g is und ihre K sten; von dorther aber stammten die Materialisten der jonischen Tradition. Was schlie lich die Bedeutung des Ausdrucks συνήθεια anlangt, so kann zwar dieses Wort auch den Sinn von ,Gew hnung' haben; Ross verweist auf Pol. 516 a 5, 577 a 2 (gemeint wohl 517 a 2), 620 a 2; Theaet. 157 b 2, 168 b 7; Nomoi 655 e 6, 656 d 8, 865 e 3; das sind, mit Ausnahme einer Stelle aus dem (pseudo-platonischen) 3. Brief alle im Lexikon von Ast zus tzlich zu der Sophistes-Stelle angef hrten Belege. Die Grundbedeutung des Adjektivs
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συνήθης, von dem das Substantiv συνήθεια abgeleitet ist, ist die von ,vertraut', ,bekannt (mit)'. So wird in Pol. II, 375 e 3 von den Hunden gesagt, da sie den „Vertrauten und Bekannten gegen ber" (προς μεν τους συνήθεις τε και γνωρίμους) ganz zahm sind; im Lackes sagt Nikias ber sein Verh ltnis zu Sokrates: „Ich bin mit ihm vertraut" (εγώ δε συνήθης τέ είμι τωδε 188 a 4). hnlich sagt Kriton zu Beginn des gleichnamigen Dialoges, da er wegen seiner h ufigen Besuche mit dem Gef ngnisw rter bereits vertraut ist (συνήθης ήδη μοί εστίν 43 a 7). Nun kann man nat rlich nicht nur mit Personen vertraut und bekannt sein, sondern auch mit einer Umgebung oder einer Praxis, und dann hat man sich an diese Umgebung oder Praxis gew hnt: So mu derjenige, der im H hlengleichnis nach der Befreiung aus der H hle wieder in dieselbe zur ckkehrt, dort erst „mit dem dort herrschenden Dunkel hinreichend vertraut werden" (ίκανώς συνήθης γενέσθαι τω παρόντι σκότφ 517d6-7); daher hat dann das Wort συνήθεια an den Stellen Pol. 516 a 5, 517 a 2 auch den Sinn von ,Gew hnung', weil es jeweils um Anpassung an eine Umgebung geht. An der Stelle aus dem Mythos des Er (Pol. X, 620 a 2) ist mit συνήθεια die Vertrautheit mit fr heren Lebensumst nden gemeint. An den Stellen Theaet. 157 b 2 und 168 b 7 bezeichnet συνήθεια die Gewohnheit eines Sprachgebrauchs. Bei dem dreimaligen Auftreten des Wortes συνήθεια im Text von Nomoill, 655 e 4 —6 (im Zusammenhang der Musikerziehung) wird es jedesmal als Gegenbegriff zu Natur (φύσις) gebraucht; hier bezeichnet es angenommene Gewohnheiten im Unterschied zur angeborenen Naturanlage. Auch an der anschlie enden Textstelle 656 d 8 geht es um eine Gew hnung (an Tanzfiguren und Melodien). Bei seinem Auftreten in NomoilK, 865 e 3 schlie lich hei t συνήθεια soviel wie die gewohnte Lebensumgebung einer (ermordeten) Person. An allen diesen Textstellen stellt der Begriff συνήθεια eine Beziehung (von Personen) zu Umgebungen, zu (Lebens-)Umst nden her, nicht speziell zu anderen Personen. Aber an einer anderen, nicht bei Ast angef hrten und auch nicht bei Ross erw hnten Textstelle wird der Ausdruck in der Tat wohl eher so gebraucht, da damit die Beziehung zu einer Person vorausgesetzt ist. Im Menon gibt Sokrates seinem Gespr chspartner eine Definition der Farbe, von der er zuvor gesagt hat, da sie κατά Γοργίαν (76 c 4) ausfallen wird: in der Art des Gorgias. Dann wird ein St ck der empedokleischen Physik, n mlich die Porenlehre, von Sokrates referiert („Sagt ihr nicht, da es nach Empedokles - κατά Έμπεδοκλέα - Abfl sse von den Dingen gibt?" c7 —8). Nach diesem Referat gibt Sokrates dann seine Definition der Farbe unter Benutzung der Abflu - und Porentheorie des Empedokles: Die Farbe sei der Abflu von den Figuren (oder Dingen, wenn man Diels
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χρημάτων folgen will), die dem Gesichtssinn angemessen und wahrnehmbar sei (76 d 4 — 5). Menon ist ber diese Worterkl rung ganz begeistert, aber Sokrates, der diese Begeisterung gar nicht teilt, erwidert darauf: „Sie ist n mlich nach der dir gewohnten Weise (κατά συνήθειαν) abgefa t." (76 d 8. Schleiermacher) Und er weist darauf hin, da nach dem gleichen Muster auch andere Sinneswahrnehmungen erkl rt werden k nnen. Hier nimmt das κατά συνήθειαν nur das vorher gebrauchte κατά Γοργίαν und κατά Έμπεδοκλέα wieder auf. Hier bezeichnet συνήθεια eine Vertrautheit mit einer bestimmten Art und Weise sich auszudr cken, die ihren Grund in der Bekanntschaft mit Gorgias und Empedokles hat. An unserer Stelle des Sophisfes haben wir es aber ebenfalls mit einer Situation zu tun, in der die Ansichten bestimmter Philosophen, der Ideenfreunde, referiert werden. Es ist zweckm ig, den Text dieser Stelle (248 a 4 ff.) vorzustellen: Besucher: La uns nun zu der anderen Gruppe gehen, zu den Ideenfreunden. Verdolmetsche du uns auch ihre Ansichten (τα παρά τούτων). Theait.: Das soll geschehen. Bes.: „Ihr behauptet, da das Werden und das Sein voneinander getrennt sind, nicht wahr?" Theait.: „Ja." Bes.: „Und da wir mit unserem K rper aufgrund der Wahrnehmung am Werden teilhaben, aufgrund des Denkens aber mit unserer Seele am wahren Sein, welches, wie ihr sagt, sich immer auf gleiche Weise verh lt (άεϊ κατά ταύτα ωσαύτως), w hrend das Werden sich immer anders verh lt." Theait.: „Das sagen wir freilich." Bes.: „Aber dieses Teilhaben, ihr Allerbesten, als was sollen wir es eurer Auffassung nach in den beiden F llen verstehen? Nicht als das eben von uns Er rterte?" Theait.: „Als was denn?" Bes.: „Als ein Leiden oder Wirken, das aufgrund eines Verm gens bei Dingen, die aufeinander einwirken, entsteht?" — Vielleicht aber, Theaitetos, kannst du ihre Antwort hierauf nicht wirklich verstehen, ich aber vielleicht eher, wegen meiner Vertrautheit (δια συνήθειαν). Theait: Welches Argument bringen sie denn vor?
Der Besucher erkl rt darauf, da die Ideenfreunde das vorher den Materialisten gegen ber gegebene Kriterium des Seins, das Verm gen, zu wirken oder eine Wirkung zu erleiden, nicht allgemein akzeptieren, sondern es nur f r den Bereich des Werdens gelten lassen. Es liegt auf der Hand, was hier dazu f hrt, da der Besucher aus Elea Theaitetos aufkl ren mu : Nicht eine mangelnde Schulung in dialektischer Diskussion auf Seiten des Theaitetos, sondern seine Unbekanntheit mit einer speziellen Ansicht der Ideenfreunde. In der Bemerkung, mit der der Besucher
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die Diskussion abbricht, in der Theaitetos den Vertreter der Ideenfreunde spielen sollte, ist von „ihrer" (n mlich der Ideenfreunde) Antwort die Rede, und Theaitetos will wissen, welches Argument „sie", die Ideenfreunde, vorbringen. Der Besucher beruft sich hier nicht auf eine allgemein bessere Kenntnis der vorsokratischen Philosophie, sondern auf seine Kenntnis dieser Personen und ihrer Lehren. So versteht ihn brigens auch beispielsweise Cornford: „I, who am familiar with them" l t er den Eleaten sagen. berdies w re auch die Bedeutung ,Gew hnung' oder ,Gewohnheit' im Zusammenhang mit der F higkeit des eleatischen Besuchers zu philosophischer Untersuchung ganz ungew hnlich: F higkeiten werden durch aktive Anstrengung erworben, Gewohnheiten und Gew hnungen sind dagegen mit passivem Verhalten konnotiert. Im brigen ist das Wort συνήθεια bei anderen Schriftstellern derselben Zeit durchaus im Sinne von Bekanntschaft, Vertrautheit mit anderen Personen belegt, etwa bei Isokrates (I, l εν ταϊς προς αλλήλους συνηθείαις, der engl. bersetzer der Loeb-Ausgabe gibt den Ausdruck hier sogar mit „friendship" wieder), bei Aischines (2.23; 2.152) oder Aristoteles (etwa De Gen. An. III 2, 753 a 12, wo von der συνήθεια και φιλία bestimmter Lebewesen zu ihrer Nachkommenschaft die Rede ist).
III. Wenn aber an der Stelle Soph. 248 b 8 der Ausdruck συνήθεια nur die Bedeutung von Bekanntschaft (mit den Ideen freunden) haben kann, dann liegt es offenbar in der Absicht des Autors P/aton, diese Philosophen als nach Italien geh rig vorzustellen. Und dann k nnen diese Philosophen wohl nur, wie Proklos uns schon versichert, Pythagoreer sein. Wenn sich dennoch die berwiegende Mehrheit der Platonausleger gegen diese Deutung der Ideenfreunde entschieden hat, so vor allem deshalb, weil die bereinstimmungen der Lehre der Ideenfreunde mit der Darstellung der Ideenlehre insbesondere im Phaidon in der Tat frappierend sind. Nur: Gegen diese Auffassung, da Platon an der diskutierten Stelle im Sophistes seine eigene fr here Philosophie darstellt und kritisiert, scheinen mir Einw nde naheliegend, deren Gewicht von den Anh ngern der These, da wir es im Sophistes mit einer Selbstkritik Platons zu tun haben, m. E. untersch tzt werden.14 Sie h ngen mit der zweiten der oben angesprochenen Fra14
Von John Malcolm ist daraufhingewiesen worden, da eine revidierte platonische Ontologie „including active intelligences, Forms, or whatever," f r den anschlie enden Teil der Diskussion vollkommen irrelevant ist (Malcolm [1983] 126). Und mit A. Dies (1963, 117) ist er der Ansicht, da die Definition des Seins als „F higkeit zu wirken und zu leiden" (vgl.
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gen zusammen, der hermeneutischen Frage, wie Platons Dialoge allgemein und der Sophistes im besonderen zu lesen sind. Zunächst einmal sind Platons Dialoge nicht Traktate in der äußeren Form von Dialogen; es sind Gesprächsdarstellungen, die zu einem großen Teil am Modell der elenktischen Widerlegung eines Gesprächspartners orientiert sind. Daß dieses Modell der Gesprächsführung, ein Modell, dessen Regeln die Aristotelische Topik, insbesondere im Buch I und Buch VIII, überliefert hat, den Befragungen des Sokrates in den sogenannten sokratischen Dialogen Platons zugrunde liegt, ist seit den Arbeiten von Gregory Vlastos zu diesem Thema auch in der angelsächsischen Platonforschung weitgehend anerkannt.15 Eine hermeneutische Konsequenz, die sich aus der Beachtung dieses Modells für platonische Dialoge ergibt, ist die, daß aus den Antworten von Gesprächspartnern des Sokrates, auch dann, wenn diesen von Seiten des Sokrates nicht widersprochen wird, nicht ohne weiteres auf eine Billigung dieser Antwort durch den fragenden Sokrates und schon gar nicht auf eine Meinung des Autors Platon geschlossen werden darf. Nun scheint allerdings, daß dieses Modell einer elenktischen, widerlegenden Gesprächsführung und der daraus zu ziehenden hermeneutischen Konsequenz für den Sophistes keine Rolle spielt. Denn im Fall dieses Dialogs wird das Verfahren der gesprächsweisen Befragung eines Partners durch den Besucher aus Elea als Alternative zu einem kontinuierlichen Vortrag (wie wir ihn ja etwa im Timaios finden) unter der Bedingung gewählt, daß sich ein „unproblematischer" Gesprächspartner findet (vgl. Soph. 211 c — d). Kein Zweifel auch, daß der für diese Rolle von Sokrates vorgeschlagene Theaitetos in dieser Hinsicht den Erwartungen des eleatischen Gastes gerecht wird: Nirgendwo im Sophistes gewinnen wir den Eindruck, daß Theaitetos sich auf eine Position versteift, von der ihn erst eine elenktische Widerlegung wieder abbringt; nirgendwo geht es hier aber auch um das Erreichen einer gemeinsam geteilten Aporie, wie so oft in den sokratischen Dialogen; die Befragung
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247 e), mit der sowohl die Position der Materialisten wie die der Ideenfreunde in Schwierigkeiten gebracht wird, eine Rolle nur für die Argumentation des eleatischen Besuchers hat, nicht aber eine positive Lehre Platons darstellt. Das würde man in der Tat erwarten, wenn Platon in diesem Dialog eine revidierte Metaphysik vorstellen wollte. Vgl. vor allem G. Vlastos (1983), mit Überarbeitungen wieder abgedruckt in Vlastos (1994). Gegen Vlastos' Annahme, daß der Gebrauch des Elenchos auf die (frühen) sokratischen Dialoge bis zum Gorgias einschließlich beschränkt ist, scheinen mir allerdings Zweifel angebracht; auch der Menon, den Vlastos als nach dem Gorgias liegend ansetzt und in dem er einen von Platon erfundenen metaphysisch orientierten Sokrates diskutieren sieht (vgl. etwa Vlastos [1991] 53), ist ein elenktischer Dialog; und dasselbe gilt auch etwa für den unzweifelhaft späten Theaitetos. Für die Diskussion des Sophistes kann allerdings die Frage, ob und inwieweit der Elenchos auch noch in den späten Dialogen Platons zu finden ist, auf sich beruhen bleiben.
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durch den namenlosen Gast zielt vielmehr darauf ab, ein Wissen, über das dieser verfügt, in der Form eines Gesprächs anderen mitzuteilen. Gleichwohl, so scheint mir, gibt es zwischen einem Traktat des Autors Platon und dem nicht-elenktischen Dialog Sophistes immer noch einen erheblichen Unterschied, selbst wenn man unterstellt, daß Platon durch den Mund des Eleaten auch systematische eigene Ansichten (etwa über die Möglichkeit falscher Aussagen und Meinungen) darlegen läßt. Denn wir haben es auch in diesem Dialog mit der Fiktion eines Gespräches mit ganz bestimmten Personen zu tun, mit Personen, die alle mit einem spezifischen Charakter und Hintergrund versehen sind.16 Sowohl bei Diogenes Laertius (3.48) wie bei Albinos (EisagogeT), die hier beide in wörtlicher Übereinstimmung vermutlich dieselbe ältere Quelle ausschreiben, wird mit Blick auf die Dialoge Platons ein Dialog charakterisiert als „eine Rede, die aus Frage und Antwort besteht, ein politisches oder philosophisches Thema hat und eine angemessene Charakterzeichnung ( ) der teilnehmenden Personen sowie eine passende Diktion enthält". Die Bedeutung einer Charakter^eichnung der Dialogpartner, ihrer dramatischen Plausibilität, war also für antike Interpreten Platons eines der wichtigsten Merkmale des (platonischen) Dialoges. Daß sie es auch für Platon selbst und seine Zeitgenossen war, dafür spricht einfach die formale Nähe dieser literarischen Form zum griechischen Drama. Für das griechische Drama ist es selbstverständlich, daß das Handeln und Verhalten einer Figur aus dem Kenntnisstand dieser Figur heraus verständlich und erklärbar sein muß. Die dramatische Plausibilität der Zeichnung von Dialogfiguren durch Platon, wie sie mit der Formel der , der angemessenen Charakterzeichnung, gefordert wird, ist nun in unserem Zusammenhang für die Frage von Belang, ob Platon im Sophistes tatsächlich eine in den mittleren Dialogen zu findende Position durch den Mund des eleatischen Gastes kritisieren läßt. Nun sind zwar die Dialoge Platons nicht so voneinander geschieden wie die Dramen eines der griechischen Tragödiendichter; aber die Textstellen, an denen in einem Dialog auf einen anderen Bezug genommen wird, sind relativ selten, und sie lassen sich so gut wie immer aus der dramatischen Situation des Gespräches erklären. 16
Michael Frede, der gerade die Unterschiede des Sophistes zu den elenktischen Dialogen betont (vgl. Frede [1996]), scheint mir dagegen die Bedeutung zu unterschätzen, die der Auswahl bestimmter Personen für die Darstellung philosophischer Positionen in den Dialogen zukommt. Gerade in den Spätdialogen treffen wir ja mehr als in den frühen und milderen Dialogen auf Dialogfiguren mit einem ganz spezifischen philosophischen Hintergrund: Dem Besucher aus Elea im Sophistes und im Politikos treten in dieser Hinsicht der Pydiagoreer Timaios (im gleichnamigen Dialog) sowie die beiden Eleaten Parmenides und Zenon (im Parmenides) an die Seite.
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So erwähnt Sokrates zu Beginn des Dialoges Sophistes 217 c im Gespräch mit dem Besucher aus Elea, daß er als junger Mann Zeuge einer langen und schönen Diskussion mit dem alten Parmenides war, was als Anspielung auf die dramatische Situation des Dialoges Parmenides gelesen werden kann. Diese Erwähnung des Zusammentreffens mit Parmenides ergibt sich aber zwanglos aus der Begrüßungssituation zu Beginn des Sophistes. Inhaldiche Verbindungen zum Parmenides (über die Erwähnung der eleatischen Diskussionsmethode hinaus) werden damit nicht hergestellt. Wenn im Politikos an mehreren Stellen auf die Diskussionen des Sophistes zurückverwiesen wird (266 d 5, 284 b 7, 286 b 9),17 so ist das innerhalb dieses Dialoges, der ja unmittelbar an den Sophisten anschließt und bei dem sich die Gruppe der Anwesenden gegenüber dem Sophistes nicht ändert (es wird nur der Dialogpartner des eleatischen Besuchers ausgetauscht: statt Theaitetos der jüngere Sokrates), dramatisch vollkommen plausibel: Hier wird nicht auf einen anderen Dialog verwiesen, sondern auf die gerade beendete Diskussion über den Sophisten Bezug genommen. Entsprechendes gilt auch für die Bezugnahmen im Sophistes (216 a) und im Politikos (258 a) auf den am Vortage stattgefundenen Dialog Theaitetos. Wenn zu Beginn des Timaios die Hauptlinien des Staatsentwurfs der Politeia vorgestellt werden, so findet das seine Erklärung ebenfalls in der dramatischen Situation: Schließlich treffen sich im Timaios die Gesprächspartner des am Vortage (so die Fiktion des Autors vgl. 17 a 2) stattgehabten Staatsdialoges wieder, mit einer abwesenden Person. Falls die Bemerkung des Kebes im Phaidon (73 a 7 — b2), daß die sokratische These vom Lernen als Wiedererinnern sich durch Befragung von Personen an geometrischen Figuren zeigen lasse, eine Bezugnahme auf die „Geometriestunde" des Menon sein sollte, so läßt sich auch das aus der dramatischen Situation der Gesprächspartner erklären; der Kebes des Phaidon ist ein Angehöriger des sokratischen Kreises, der sich an viele Gespräche mit Sokrates erinnert (vgl. Phaid. 72 e). In all diesen Fällen ist eine solche Bezugnahme durch Sprecher und Situation des Dialogs psychologisch plausibel und dramatisch glaubwürdig. 17
Von Michael Erler und Klaus Döring bin ich dankenswerterweise darauf hingewiesen worden, daß der Rückverweis Polit. 284 b 7: in der Literatur teilweise als Zitat eines Buchtitels gelesen wird (so etwa bei Alline [1915] 55, Nachmanson [1941] 10 und bei Schmalzriedt [1970] 49 Anm. 36). Der Wortlaut des Griechischen macht das aber keineswegs zwingend, und die dramatische Situation scheint das eher unwahrscheinlich zu machen: Die Präposition läßt sich an dieser Stelle zwanglos als „hinsichtlich" verstehen, vgl. etwa Liddell/Scott/Jones sub voce A.I.7 „in respect of mit Belegen aus Sophokles und Platon. Gegen den Gebrauch dieser Wendung als Buchtitel spricht der Umstand, daß Platon damit einer Figur der am selben Tage stattfindenden und an das Gespräch des Sophistes anschließenden Unterredung über den Staatsmann das voraufgegangene Gespräch wie ein Buch zitieren lassen würde.
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Aber für die in diesen Dialogen verhandelten Themen läßt sich festhalten, daß selbst da, wo Dialoge unmittelbar aneinander anschließen, wie etwa der Timaios an die Politeia oder der Politikos an den Sophistes und dieser an den Theaitetos, selbst da werden Positionen, die in dem jeweils früheren Dialog vertreten worden sind, so gut wie nie explizit aufgegriffen und erneut diskutiert oder kritisiert. Zu Beginn des Timaios werden zwar die Themen des Staatsgesprächs resümiert, aber irgendeine Folge für den anschließenden Dialog hat das nicht. Woher soll aber eigentlich der neu angekommene Besucher aus Elea, der sich im Jahre 399 mit Sokrates bzw. mit dessen jungen Freunden unterhält, etwas von einer Ideenlehre Platons oder des platonischen Sokrates wissen? Ihm eine solche Kenntnis zu unterstellen, würde gegen die dramatische Plausibilität der Dialogsituation verstoßen. Hinzu kommt etwas anderes: Die Schilderung des Gigantenkampfes gehört in einen Abschnitt des Gesprächs zwischen dem Besucher aus Elea und Theaitetos, in dem Positionen vorsokratischer Philosophen zur Frage, was das Seiende ist, abgeklopft werden: Parmenides wird mehrmals ausdrücklich genannt und seine Lehre einer Kritik unterzogen (237 a, 241 d, 242 c), und an der Stelle 242 c —243 a wird deutlich ausgesprochen, daß wir in einer Diskussion vorsokratischer Lehren stehen. Die Diskussion der Pluralisten (243d-244b) und die der Monisten (244b-245 d) sind Teü dieser Diskussion, ebenso ist es aber die Erörterung der beiden Parteien der Gigantomachie, die sich 246 a anschließt. Und daß die „Titanen" eine Gruppe der vorsokratischen Philosophie vertreten, wird in der Mehrzahl der Kommentare anerkannt. Es wäre dann aber ein grober Anachronismus, wenn Platon hier eine Position, die erst nach der im Sophistes fingierten Gesprächssituation möglich wurde, als eine der beiden in diesen Gigantenkampf verstrickten Parteien darstellen würde. Noch etwas kommt hinzu: Der Besucher aus Elea sagt von dem Streit zwischen den beiden Parteien: Hierüber herrscht zwischen ihnen, Theaitetos, für immer ein gewaltiger Streit. 246 c 2-4
Mit dem „für immer" ( ) ist zwar nicht gemeint, daß es diesen Streit für alle Zeiten gibt, sondern daß für die Dauer der Existenz dieser beiden Gruppen dieser Streit stets vorliegt. Wenn aber eine dieser beiden Gruppen die Philosophie des Platon der mittleren Dialoge sein soll, dann ist nicht einzusehen, wieso diese Charakterisierung auch nur im entferntesten zutreffen könnte. Denn zu der Zeit, als Platon diese Dialoge verfaßt, sind die Vertreter der jonischen Philosophie, die hier als Materialisten angesprochen
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werden, allenfalls mit der Ausnahme Demokrits, längst nicht mehr unter den Lebenden. Demokrit wird aber bei Platon bekanndich nirgends erwähnt, und eine Auseinandersetzung mit ihm läßt sich jedenfalls weder von seiner Seite noch von der Seite Platons aus belegen. Einen Streit zwischen Positionen, bei denen Platon auf der einen Seite und die jonischen Naturphilosophen auf der anderen zu finden sind, kann es kaum gegeben haben. Und die Art und Weise, wie dieser Streit geschildert wird, setzt eine zumindest ungefähr gleichzeitige Existenz der Streitenden voraus. Es scheint mir bei unvoreingenommener Betrachtung dieser Textstelle eigentlich kein Weg an der Konsequenz vorbeizuführen, daß die Ideenfreunde des Sophistes vorsokratische Philosophen sind, und der Hinweis, den uns Platon sonst noch gibt, die Bemerkung des Besuchers aus Elea zu seiner mit diesen Philosophen, machen es mehr als wahrscheinlich, daß hier auf italische Philosophen Bezug genommen wird, und das können dann nur Personen aus dem Umkreis des Pythagoreismus sein.18 Ein letztes Argument für die Deutung der Ideenfreunde als italische Pythagoreer liefert uns schließlich der platonische Timaios. Denn auch in diesem Dialog bildet ein erkenntnistheoretischer Dualismus den Ausgangspunkt einer ontologischen Unterscheidung: Zuerst nun haben wir, meiner Meinung nach, dies zu unterscheiden: Was ist das immer Seiende, das kein Werden hat, und was ist das immer Werdende, aber niemals Seiende; das eine ist durch Denken mit Überlegung erfaßbar, immer auf gleiche Weise seiend, das andere hingegen ist durch Meinung zusammen mit überlegungsloser Wahrnehmung meinbar, entstehend und vergehend, nie wahrhaft seiend. Tim. 27 e 5 — 28 e 4
Das ist die dualistische Position der Ideenfreunde des Sophistes. Wenn Timaios dann an späterer Stelle die Ideenlehre explizit einführt, so muß man als unvoreingenommener Leser den Eindruck gewinnen, daß hier jemand als Vertreter der Ideenfreunde sozusagen aus dem Innern des Kampfes berichtet, von dem im Sophistes die Rede ist: Gibt es ein Feuer selbst für sich selbst und all das, wovon wir stets in dieser Weise reden, als selbst gemäß sich selbst jedes seiend, oder gibt es allein als derartige Wirklichkeit habend das, was wir auch sehen oder sonst vermittels des Körpers wahrnehmen, und neben diesen gibt es in keiner Weise noch irgendetwas, sondern ganz umsonst behaupten wir jeweils die Exi-
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J. Skemp versteht in seiner annotierten Ausgabe des Politikos (vgl. Skemp [1957] 48 Anm.) die an der Stelle Polit. 285 a l erwähnten als Pythagoreer. Wenn Skemp mit dieser Beobachtung recht hat, dann hätten wir hier einen Beleg dafür, daß sich der eleatische Gast auf diese italischen Philosophen beziehen kann, ein Umstand, der der Deutung der Ideenfreunde als Pythagoreer zusätzliche Plausiblität verleiht.
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stenz einer denkbaren Idee von jedem (είδος εκάστου νοητόν), und das w ren nichts als leere Worte? Tim. 51 b7 — c 5 Die Entscheidung zwischen den Positionen der Ideenanh nger und der Materialisten wird von Timaios durch R ckgriff auf eine erkenntnistheoretische Distinktion getroffen: Wenn Vernunft (νους) und wahre Meinung (δόξα αληθής) zwei verschiedene Gattungen sind, dann existieren auf alle Weise jene f r sich seienden Ideen, die von uns nicht wahrnehmbar, sondern nur denkbar sind. Wenn sich aber, wie es einigen scheint, wahre Meinung und Vernunft in nichts unterscheiden, dann m ssen umgekehrt die Dinge als ganz unumst lich betrachtet werden, die wir durch den K rper wahrnehmen. Aber die beiden genannten Zust nde sind als zwei anzusetzen, weil sie unabh ngig voneinander entstehen und sich unterschiedlich verhalten. Denn das eine entsteht in uns durch Belehrung, das andere durch berredung. Das eine geht immer mit wahrer berlegung zusammen, das andere ist ohne berlegung. Das eine ist durch berredung nicht zu beeinflussen, das andere dagegen wohl. Und von dem einen mu man sagen, da jeder Mensch daran teilhat, an der Vernunft haben nur die G tter Anteil, vom Menschengeschlecht nur ein kleiner Teil. Da das so ist, mu man bereinstimmend sagen, da es ein einheitliches, sich gleich verhaltenden Eidos gibt (εν μεν είναι το κατά ταύτα είδος έχον), unentstanden und unverg nglich, welches weder von anderswoher etwas Anderes in sich aufnimmt noch selbst in ein Anderes bergeht, unsichtbar und auch sonst nicht wahrnehmbar, dessen Betrachtung dem Denken zukommt. Das nach ihm Benannte und jenem hnliche ist ein Zweites, wahrnehmbar, entstanden, immer bewegt, an einer Stelle entstehend und von da wieder verschwindend, durch Meinung zusammen mit Wahrnehmung erfa bar. Tim. 51d3 — 52a7 Hier wird die περί των ειδών θεωρία tats chlich als Gegenposition gegen eine materialistische Theorie der Wirklichkeit entwickelt. Und die Formulierungen, mit denen die Ideen an der diskutierten Textstelle des Sophistes charakterisiert werden, finden sich in den von Timaios gebrauchten Wendungen wieder.19 19
Diese Stelle wird merkw rdigerweise in den Diskussionen der Sekund rliteratur ber die Ideenlehre kaum herangezogen. Es ist, soweit ich sehen kann, die einzige Stelle im platonischen Werk, an der von einem Vertreter der Ideenlehre diese Theorie nicht nur einfach behauptet wird (wie es etwa der Sokrates des Phaidon oder der Poliieia tut), sondern auch der Versuch einer Begr ndung unternommen und eine Verteidigung gegen einen Einwand versucht wird. Die Ideen werden postuliert aufgrund des Unterschiedes zwischen zwei Weisen der Welterfahrung (um nicht schon von „Erkenntnis" zu reden): Denken und Wahrnehmen. Ein erkenntnistheoretischer Dualismus liegt dem ontologischen Dualismus zugrunde. Des weiteren ist h chst aufschlu reich, gegen welchen Einwand, gegen welche Position Timaios hier die Ideenlehre verteidigt: Es ist keiner der Einw nde, wie sie etwa im Parmenides formuliert werden, kein Hinweis auf Iterationsprobleme bei Annahme der Ideen etc. Es ist eine sensualistische bsy. materialistische Position, eine Position, die nur Wahrnehmbares f r seiend h lt.
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Daß Timaios ein Freund der Ideen (und ein Gegner der Materialisten) ist, zeigen die zitierten Stellen des Timaios zur Genüge; da er aus Lokroi an der italischen Südküste stammt (Tim. 20 a l—5), dürfte er zu jenen Philosophen gehören, auf die sich die Bemerkung des eleatischen Gastes bezieht, daß er ihre Lehren aufgrund seiner Vertrautheit mit ihnen besser kennt als der Athener Theaitetos. Daß Timaios ein Philosoph pythagoreischer Observanz ist, wird nicht nur durch seine italische Herkunft (und durch das, was er in seinem Vortrag mitteilt) wahrscheinlich gemacht; seine Heimatstadt wird überdies bei Cicero (de fm. V, 87) als Heimat mehrerer Pythagoreer, neben Timaios noch Arion und Echekrates, erwähnt.20 Wenn aber die Ideenfreunde des Sophistes tatsächlich pythagoreische Philosophen sind, dann gibt es für die Deutung der Dialoge, wie Phaidon und Politeia, in denen sich ganz ähnliche Aussagen zu den Ideen finden wie in der Darstellung der Position der Ideenfreunde, nur zwei Möglichkeiten. Entweder zu zeigen, daß zwischen den mittleren Dialogen Platons und der Lehre der Ideenfreunde sachliche Differenzen bestehen, die eine Identifizierung ausschließen. Das ist der Weg, den Burnet, Taylor und — wenn auch aus anderen Gründen — Cherniss versucht haben. Oder aber, wenn dieser Weg als nicht gangbar angesehen wird, dann muß man zugeben, daß auch etwa im Phaidon eine Ideenlehre vertreten, oder vielleicht besser: von Sokrates dargestellt wird, die in wesentlichen Zügen pythagoreisch ist. Auch die Entscheidung für die zweite Möglichkeit muß nicht schon besagen, daß Platon ein bloßer Epigone des italischen Pythagoreismus ist, wozu ihn sein erster und vielleicht schärfster Kritiker Aristoteles hat machen wollen. Ich habe an anderer Stelle gezeigt, zu welch souveränem Umgang Platon mit pythagoreischem Material, nämlich mit der Lehre von Seelenwanderung und Wiedererinnerung, und zwar durchaus in kritischer Absicht, in der Lage ist.21 Für die Ideenlehre mag Ähnliches gelten. Dem würde die kritische Behandlung der Ideenfreunde im Sophistes durchaus entsprechen. Und wer sagt uns eigentlich, daß etwa der Phaidon nur eine Version dieser Lehre enthält?
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Natürlich verlangt die im Zusammenhang des Sophistes vorgeschlagene Deutung des Timaios, daß wir diesen (und auch andere Dialoge Platons) nicht einfach als Mitteilungen des Autors Platon über seine jeweils vertretenen Ansichten lesen, die er wechselnden Dialogfiguren in den Mund gelegt habe. Ein Festhalten an dieser traditionellen Lesart der Dialoge Platons führt allerdings zu einem Platon, der einen für einen Denker seines Ranges bemerkenswerten philosophischen Schlingerkurs fährt: Von der Annahme der Ideenlehre (in den mittleren Dialogen) zu ihrer Kritik im Parmenides und Sophistes und dann wieder zu Übernahme der kritisierten Theorie im Timaios. Vgl. Ebert (1974) 84-104 sowie Ebert (1994) passim.
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RAINER ENSKAT Authentisches Wissen Was die Erkenntnistheorie beim Platonischen Sokrates lernen kann
I Wie so manche andere philosophische Disziplin kann auch die Erkenntnistheorie ihren geschichtlichen Ursprung in einer Platonischen Schrift finden. Im Dialog „Theaitet" werden die Fragen, was Wissen und was Erkennen ist, zum ersten Mal in musterhafter Weise erörtert. Diese Themen sind bis heute nicht zur Ruhe gekommen. Seit ungefähr einer Generation beteiligt sich auch die Epistemische Logik an einer Klärung solcher Probleme. Diese ist bekanntlich eine Fortsetzung der klassischen Erkenntnistheorie mit anderen Mitteln. Sie bearbeitet Probleme der klassischen Erkenntnistheorie dadurch, daß sie logische Gebrauchs for men der sog. epistemischen Verben studiert — also von Worten und Phrasen wie „wissen", „meinen", „erkennen", „überzeugt sein" und „evident sein". Sie sucht die Ergebnisse ihrer Untersuchungen mit einer Strenge zu systematisieren, die den Anforderungen eines Kalküls genügt. Auf ihrem bisherigen Weg hat die Epistemische Logik der Erkenntnistheorie die Augen für eine vorher ungeahnte Fülle von Möglichkeiten der Selbstkontrolle und der Selbstdisziplinierung geöffnet. Und sie hat diese Möglichkeiten im Zuge einer geradezu stürmischen Entwicklung fruchtbar gemacht. Wenn man indessen die Platonischen Anfänge der Erkenntnistheorie nicht ganz aus den Augen verliert, dann kann man allerdings gewahr werden, daß die klassische Erkenntnistheorie und die Epistemische Logik unter einem gravierenden gemeinsamen Mangel leiden, der sich zumindest nicht in planmäßiger Weise überwinden läßt: beiden steht kein Sokrates zur Verfügung. Ein Hinweis auf diesen Umstand ist nicht ein Ausdruck einer philosophiegeschichtlichen Sentimentalität, sondern bloß eine philosophiegeschichtliche Pointierung einer sachlichen Diagnose. Diese Diagnose kann man erhärten. Zu diesem Zweck kann man zwei bekannte erkenntnistheoretische Gedankenexperimente prüfen. Das eine stammt aus der klassischen Antike und wird von Platon mit Hilfe seiner Sokrates-Figur in dem Dialog veranstaltet,
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der dem Andenken des Mathematikers Theaitet gewidmet ist; das andere ist seit ungefähr einer Generation so etwas wie ein experimentum crucis der Erkenntnistheorie. Die Vergleichbarkeit der beiden Experimente über die geschichtliche Kluft hinweg ist dadurch gewährleistet, daß sie beide mit derselben Versuchsanordnung arbeiten. Die beiden Experimente unterscheiden sich aber gravierend durch einige Regeln, nach denen ihre Urheber mit der gemeinsamen Versuchsanordnung arbeiten. Man kann zeigen, daß das Platonische Experiment dem modernen Experiment auf Grund von einigen ganz bestimmten sokratischen Experimentierregeln in einer Weise überlegen ist, die ein neues Licht auf die Struktur des Wissens werfen kann.
II
Das erkenntnistheoretische Problem, das man hier als Leitfaden benutzen kann, ist zum ersten Mal im Jahre 1963 von dem amerikanischen Philosophen Edmund Gettier herausgearbeitet worden. Der Aufsatz von Gettier stand unter der Frage, ob eine gerechtfertigte wahre Meinung das Wesen des Wissens ausmache.J Dieser zweieinhalbseitige Aufsatz hat während der vergangenen rund dreißig Jahre eine ganze Lawine von Reaktionen ausgelöst. Nach aktuellen Übersichten haben sich Artikel, Aufsätze, Essays, Buchkapitel und Bücher in einer Menge von dreistelliger Größenordnung mit dem von Gettier umrissenen Problem auseinandergesetzt.2 Sowohl der Aufsatz wie das Problem ist zu einem Klassiker der modernen Erkenntnistheorie geworden. Gettier führt seinen Lesern das Problem vor Augen, indem er an die differenzierteste Arbeitsdefinition des Wissensbegriffs anknüpft, die sich in Platons Dialog „Theaitet" findet.3 Wenn man diese Arbeitsdefinition mit Hilfe einiger ganz elementarer formaler Mittel der modernen Erkenntnistheorie stilisiert, dann nimmt sie die folgende Gestalt an: a weiß, daß-p, dann und nur dann, wenn: 1. es ist mähr, daß-p 2. a meint, daß-p 3. a ist berechtigt zu meinen, daß-p.
Jede von diesen Bedingungen soll eine notwendige Bedingung dafür sein, daß eine Person über ein Wissen verfügt; und alle drei Bedingungen zusam1 2
3
Edmund L. Gettier, Is Justified True Belief Knowledge?, in: Analysis 23 (1963), S. 121-3. Vgl. die bibliographische Auswahl bei: Peter Bieri (Hrsg.), Analytische Philosophie der Erkenntnis, Weinheim 41997, S. 478-80, Nr. (101)-(190). Vgl. Platon, Tht. 210ab.
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men sollen eine hinreichende Bedingung dafür sein. Dies ist die gemeinsame Versuchsanordnung von Gettier und Platon. Beide suchen indessen auch zu zeigen, allerdings mit Hilfe von ganz verschiedenen Mitteln, daß diese Arbeitsdefinition keine hinreichende Wissensbedingung fixiert. Wie es sich für einen tüchtigen Sokratesschüler gehört, nimmt Gettier die Arbeitsdefinition unter die Lupe, indem er sie im Rahmen von zwei konkreten Fallerörterungen untersucht.4 Nun gehört es allerdings zu den Verdiensten von Gettiers Arbeit, daß er durch seine Gestaltung dieser beiden Gedankenexperimente einen Weg eröffnet hat, auf dem man die formale Unzulänglichkeit dieser klassischen Arbeitsdefinition in einer methodisch kontrollierbaren Weise vor Augen führen kann. Diese Kontrollierbarkeit zeigt sich vor allem darin, daß die vielfältigen Fallerörterungen und Gedankenexperimente, mit deren Hilfe man nach Auswegen aus der von Gettier diagnostizierten Verlegenheit gesucht hat, einen ganz bestimmten gemeinsamen methodischen Grundzug zeigen. Die anschließende Variante dieser Fallerörterungen und Gedankenexperimente zeichnet sich durch einen elementaren wissenschaftsgeschichtlichen Realitätsgehalt aus. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeichnet sich folgende Situation ab: Lavoisier hat ein neues elementares Gas entdeckt. Dieses Gas ist dadurch eindeutig charakterisiert, daß ohne seine Beteiligung keine Verbrennung geschieht. Lavoisier tauft dieses Gas auf den Namen „oxygene" (Sauerstoff). Diese Taufe ist bei Lavoisier durch einen Gedanken motiviert, zu dessen Gunsten Lavoisier Arbeitserfahrungen wie kein anderer Naturforscher seiner Zeit aktivieren kann. In diesem Rahmen hatten vor allem jahrzehntelange Experimente mit der Oxydation von Metallen, mit der Gewinnung von Salzen aus Säuren mit Hilfe von Metallen und umgekehrt mit der Gewinnung von Säuren aus Salzen mit Hilfe von Wasserstoff eine hervorragende Rolle gespielt. Mit diesen Methoden gewinnt Lavoisier durch gezielte Untersuchung aller ihm bekannten Säuren die zu seiner Zeit verläßlichsten Indikatoren und Evidenzen zugunsten des Gedankens, daß an der Konstitution jeder Säure ein sauer machender, gasförmiger Stoff beteiligt ist, also auch an der Konstitution von Salzsäure. Damit ist eine Situation (S 1) gegeben, an der folgende Elemente beteiligt sind (i)
Sauerstoff ist dasjenige elementare Gas, ohne das keine Verbrennung geschieht (1) & Sauerstoff ist von Wasserstoff verschieden (2) & Dasjenige elementare Gas, ohne das keine Verbrennung geschieht, ist an der Konstitution von Salzsäure beteiligt (3) Vgl. Gettier, S. 121-3.
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Man sieht leicht und man kann auch leicht im einzelnen zeigen, daß aus (i) folgt. (ii)
Es gibt ein von Wasserstoff verschiedenes elementares Gas, das an der Konstitution von Salzsäure beteiligt ist.5
Lavoisier hat also gute, ernstzunehmende Gründe zugunsten der Wahrheit der Meinung, daß es ein von Wasserstoff verschiedenes elementares Gas gibt, das an der Konstitution von Salzsäure beteiligt ist. Lavoisier meint dies also nicht nur, er ist auch so gut wie kein anderer Chemiker seiner Zeit zu dieser Meinung berechtigt. Und nun folgt ein außerordentlich wichtiger methodischer Zug in Gettiers Fallerörterung. Denn eine Regel seines Gedankenexperiments erlaubt und verlangt, daß der Experimentator Tatsachen ins Spiel bringt, die für das epistemische Subjekt, das als Versuchsperson fungiert, verborgen sind. Der Versuchsleiter eines Gettier-Experiments weiß also grundsätzlich mehr als das epistemische Subjekt, dem in diesem Rahmen die Rolle der Versuchsperson zufällt.6 Wie geht daher das Experiment weiter, wenn man diese Gettier-Regel, diese epistemische Überlegenheits-Regel, auf das Beispiel anwendet? Man kann die Fortsetzung des Experiments wiederum mit Hilfe von Material der Wissenschaftsgeschichte bestreiten. Im Jahre 1810 entdeckt nämlich der englische Chemiker Humphrey Davy, der Vater der Elektrochemie, daß Chlor ein elementares Gas ist und daß an der Konstitution von Salzsäure ausschließlich Wasserstoff und Chlor beteiligt sind. Damit ist die folgende Situation eingetreten: der Satz (ii) aus Lavoisiers epistemischer Situation (S 1) ist wahr, denn es gibt ein von Wasserstoff verschiedenes elementares Gas, das an der Konstitution von Salzsäure beteiligt ist; und damit ist außer den Bedingungen 2. — 3. der (dritten) Theaitetischen 5
6
Man kann diese Folgerung kontrollieren, indem man ihre Elemente mit formalen Mitteln folgendermaßen repräsentiert: man wählt als Variablen zur unbestimmten Bezugnahme auf elementare Gase kleine griechische Buchstaben ( , , , ...); man wählt als individuelle Namen für die erwähnten konkreten elementaren Gase die großen Anfangsbuchstaben von deren deutschen Namen (S, W); und man wählt zwei kleine griechische Buchstaben für die beiden komplexen Eigenschaften, für die Verbrennung notwendig zu sein ( ) bzw. an der Konstitution von Salzsäure beteiligt zu sein ( ). Dann bekommt die Konjunktion (i) die logische Form S = (1) & S W (2) & ( ) (3). Wegen der Identität (1) erhält man durch die insofern zulässige Substitution in (3) den Satz (8) und wegen (2) die Konjunktion S W & 5. Aus dieser Konjunktion folgt durch Existenzgeneralisierung der Satz . W& , der die wortsprachliche Formulierung (ii) formal repräsentiert. In die Rolle einer Versuchsperson gerät das epistemische Subjekt in solchen Zusammenhängen ausschließlich durch den unscheinbaren Umstand, daß es in der semantischen Rolle der Dritten Person auftaucht; zur Tragweite, die die methodische Nutzung dieser semantischen Rollenperspektive für die erkenntnistheoretische Problembehandlung mit sich bringt, vgl. unten S. 107-10.
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Arbeitsdefinition des Wissensbegriffs auch die 1. Bedingung erfüllt. Aber trotzdem und gerade im Widerspruch mit dem Definiendum dieser Arbeitsdefinition kann man dem epistemischen Subjekt, also Lavoisier, nicht ein Wissen attestieren. Denn der wichtigste Grund für die Berechtigung des epistemischen Subjekts, die Meinung zu hegen, daß es ein elementares von Wasserstoff verschiedenes Gas gibt, das an der Konstitution von Salzsäure beteiligt ist, dieser wichtigste Grund wird durch a&n. falschen Satz ausgedrückt, daß Sauerstoff an der Konstitution von Salzsäure beteiligt sei. Aber offenkundig kann man einer Person, die einen wahren Satz aus falschen Gründen für wahr hält, auch dann kein Wissen attestieren, wenn das Bestehen des Sachverhalts, den der falsche Satz beschreibt, für diese Person gleichwohl evident ist. Evidenz schützt vor Irrtum nicht. Und damit zeigt das analysierte Beispiel, daß die ausgereifteste Arbeitsdefinition des Wissensbegriffs aus Platons „Theaitet" keine hinreichende Bedingung des Wissens entwirft. Wendet man diese Arbeitsdefinition auf die einschlägigen Elemente des erörterten Beispiels an, dann kann man die Grundzüge von Gettiers Verfahren im Rahmen des folgenden Argumentationsschemas stilisieren (AS 1): L. weiß, daß es ein von Wasserstoff verschiedenes elementares Gas gibt, das an der Konstitution von Salzsäure beteiligt ist, weil (1) es ist wahr, daß ... (2) L. meint, daß ... (3) L. ist berechtigt zu meinen, daß ... weih es ist für L. evident, daß Sauerstoff an der Konstitution von Salzsäure beteiligt ist;7 aber. L. weiß nicht, daß nicht Sauerstoff — sondern Chlor — an der Konstitution von Salzsäure beteiligt ist; indessen: der Versuchsleiter des Gettier-Expenments weiß, daß nicht Sauerstoff — sondern Chlor — an der Konstitution von Salzsäure beteiligt ist.
Das Verdienst von Gettier ist insofern hauptsächlich methodologischer Art. Es besteht darin, daß er die Grund^üge eines Verfahrens ausgearbeitet hat, mit dessen Hilfe man einen gravierenden formalen Mangel der bis dahin ausgereiftesten Arbeitsdefinition des Wissens an Hand der unterschiedlich-
7
Im Sinne von Roderick M. Chisholm, Erkenntnistheorie (engl. 966), München 1979, ist die für das Wissen-daß-p einer Person unentbehrliche Eviden!£-d&ß-p im Fall dieses konkreten Wissensattests also deswegen nicht fehlerlos, weil sie durch einen falschen Satz (den daß-Satz innerhalb des weil-Satzes) verliehen wird, vgl. S. 148 — 69, bes. S. 150—63. Vgl. hierzu auch unten S. 10917.
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s ten Beispiele immer wieder von neuem in kontrollierbarer Weise ermitteln kann. Und die Literatur zum Thema wimmelt förmlich von Variationen solcher Beispiele. Aber es ist bis heute nicht gelungen, diese Lücke zu schließen, die zwischen mehreren notwendigen Teilen einer hinreichenden Bedingung des Wissens und einer hinreichenden Bedingung klafft. Gleichwohl wird das zugrundeliegende Definitionsschema allgemein als der ausgereifteste Teil der intendierten Wissensdefinition akzeptiert. Und damit hat sich die paradoxe Situation ergeben, daß das ausgereifteste Definitionsfragment des Wissens unter der chronischen Infektion mit dieser Gettier-Lücke leidet. Wofür ist diese Infektion ein Symptom? Dafür, daß es abwegig ist, nach einer hinreichenden (deflnitorischen) Bedingung des Wissens zu suchen?8 Dafür, daß es ratsam ist, die Anforderungen an die Spezifität einer solchen Bedingung nicht zu überspannen?9 Oder dafür, daß man immer noch nicht weiß, wie man mit berechtigter Aussicht auf Erfolg nach einer solchen Bedingung suchen kann?10
III
Jeder Leser von Platons „Theaitet" weiß, daß die kritisierte Arbeitsdefinition auch in diesem Dialog nicht das letzte Wort ist. Sie wird in diesem Kontext ebenfalls kritisiert und verworfen.11 Andererseits ist die methodische Überlegenheit von Gettiers kritischem Verfahren unübersehbar. Man kann jedoch auf einen Aspekt aufmerksam machen, unter dem eine fundamentale Schwäche auch dieses Verfahrens sichtbar werden kann. In diesem Zusammenhang ist es eine der wichtigsten Pointen von Platons „Theaitet", daß der Dialog diesen Aspekt nicht nur beachtet hat und daß er ihn nicht nur geradezu planmäßig fruchtbar gemacht hat, sondern daß er ihn darüber hinaus zum thematischen Gegenstand direkter Aussagen gemacht hat. 8
9 10
11
Vgl. zuletzt z. B. Edward Craig, Was wir wissen können. Pragmatische Untersuchungen zum Wissensbegriff, Frankfurt/M. 1993, bes. S. 30 ff.; Peter Baumann, Ist der Begriff des Wissens definierbar?, in: Die britische Tradition in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Beiträge des 17. Internationalen Wittgenstein Symposiums (Hg. J. Hintikka/K. Puhl), Kirchberg am Wechsel 1994,8.27-34. Vgl. Craig, a. a. O. S. 77 ff. Daß Gedankenexperimente ä la Gettier ein unerläßliches Hilfsmittel solcher Suchmethoden abgeben, ist eine generelle These z. B. von Bieri, op. cit. S. 37 f.; vgl. auch Craig, a. a. O. S. 49 f. Zu der gleichwohl ebenso naheliegenden wie berechtigten skeptischen Frage, ob sog. Gedankenexperimente ä la Gettier den Namen eines Experiments überhaupt aus irgendwelchen ernst zu nehmenden, methodologischen Gründen verdienen, vgl. unten S. 132 ff. Tht. 201 c8-21 Ob.
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Die angedeutete Schwäche von Gettiers kritischem Verfahren ist deswegen so fundamental, weil sie ganz innig mit einem, auch von Gettier befolgten, methodischen Grundmuster sowohl der klassischen Erkenntnistheorie wie der epistemischen Logik verwoben ist. Unter diesen Umständen trifft es sich, daß diese Schwäche von dem amerikanischen Philosophen John Searle an Hand eines ganz simplen und ganz unscheinbaren Indizes umschrieben worden ist. In seinem Buch von 1983 „Intentionalität" hat er diese Diagnose gezielt vorbereitet und in einem Aufsatz aus dem Jahre 1987 in „The Journal of Philosophy" hat er sie mit einer massiven Kritik an einem methodischen Grundmuster sowohl der klassischen Erkenntnistheorie wie der epistemischen Logik verbunden.12 Searle gibt zu verstehen, daß die klassische, vor allem neuzeitliche erkenntnistheoretische Behandlung von intentionalen Einstellungen wie dem Wissen und dem Erkennen und auch die epistemische Logik „express a metaphysical preference for the third-person point of view, a preference which is assumed and not argued for".13 Im Gegenzug möchte Searle zeigen, daß auch eine epistemische Einstellung wie das Wissen oder das Meinen "goes on at a level of intrinsic first-person intentionality".14 Searle kann daher argumentieren: „... our neglect of the first-person case leads us to have a false model"15 auch des Wissens und des Meinens.16 Das Symptom für die methodische Schwäche der Erkenntnistheorie könnte also gar nicht einfacher und unscheinbarer sein: es besteht in dem Umstand, daß die Erkenntnistheorie die Strukturen des Wissens, des Meinens und der anderen epistemischen Einstellungen, Akte und Leistungen nicht sinkt genug an Hand von epistemischen Attesten studiert, die mit Hilfe des Ersten Personalpronomens „ich" formuliert sind. Im Grundmuster eines Gettier-Experiments taucht dieses Symptom also in dem Umstand auf, daß das epistemische Subjekt durchweg nicht durch das Erste Personalpronomen, sondern in der Regel durch einen Individuenausdruck zum Gegenstand gemacht wird, der mit der Perspektive der Dritten Person verbunden wird. Offenbar sollte man hier sofort die kritische Rückfrage anmelden, wie ein so unscheinbarer Umstand ein Indiz für eine so fundamentale methodische Schwäche der Erkenntnistheorie abgeben kann, wie Searle dies behauptet. 12
13 14 15
16
John R, Searle, Indeterminacy, Empiricism, and The First Person, in: The Journal of Philosophy, N°. 3, March 1987, S. 123-46. S. 146. a. a. O. S. 145. a. a. O. S. 146. Searles Kritik klingt wie ein Echo der methodologischen Bemerkung Kants, wonach es „(... in keiner anderen Art der Nachforschung der Fall ist), (daß ... man ... dem Objekte, welches man erwägen wollte, sein eigenes Subjekt unterschieben müsse)", Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Philosophische Bibliothek Band 37a, Hamburg 1956, A353-4.
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Man kann die von Searle behauptete Bedeutsamkeit dieses Symptoms verdeutlichen. Zu diesem Zweck kann man zunächst zeigen, daß die Vernachlässigung der Perspektive der Ersten Person zugunsten der Perspektive der Dritten Person auch zu einem falschen Modell des Wissens führt, wie Searle dies ja zu verstehen gibt. Um dies einzusehen, braucht man lediglich scharf darauf zu achten, daß die epistemischen Standardatteste mit der Perspektive auf eine andere Person formuliert werden. Durch diese Perspektive sind nämlich auf eine zunächst ganz unscheinbar anmutende, formale Weise die Position und die Rolle von so etwas wie einer epistemischen Superinstanz vorgesehen. Diese epistemische Superinstanz übt die Rolle eines Richters über das epistemische Format einer anderen Person aus — also darüber, ob deren epistemische Einstellungen, Akte, Leistungen oder Fehlleistungen das Format einer Meinung oder eines Wissens, einer Erkenntnis oder eines Irrtums haben und dgl. Doch erst in einem methodischen Rahmen wie dem Gettier-Experiment kommen die Position und die Rolle dieser epistemischen Superinstanz in ihrer ganzen Tragweite zum Zuge. Denn der Versuchsleiter des Gettier-Experiments ist diejenige Instanz, die nicht nur formal und funktional mit einer epistemischen Superinstanz identifiziert wird, die einem anderen epistemischen Subjekt Wissensatteste und andere epistemische Atteste ausstellt. Im Rahmen des Gettier-Experiments werden diese Position und Rolle darüber hinaus mit einem Versuchsleiter besetzt, der grundsätzlich über mehr Wahrheiten und vor allem auch über wichtigere Wahrheiten verfügt als die Versuchsperson, also als das eigentliche epistemische Subjekt. Und damit werden durch diese unscheinbare formale Regieanweisung des Gettier-Experiments die Position und die Rolle entweder eines allwissenden Wesens oder aber die eines Weisen eingeführt, also einer epistemischen Superinstanz, die alle möglichen epistemischen Formate der jeweiligen Versuchsperson deswegen mit unbedingter Zuverlässigkeit beurteilen kann, weil sie entweder alle Wahrheiten oder aber weil sie alle wichtigen Wahrheiten weiß. Das Gettier-Experiment enthält also in Gestalt dieser zunächst ganz harmlos anmutenden Regel ein Stück schlechter Metaphysik. Denn es arbeitet mit einer Fiktion, nämlich mit einer unter Menschen unerfüllbaren Voraussetzung über die Struktur des Wissens des Versuchsleiters. Es arbeitet insofern also, wie Searle es umschrieben hat, mit einem falschen Modell des Wissens'. Doch gerade die Verführung zu diesem falschen Wissensmodell wird dadurch vorbereitet, daß die epistemischen Standardatteste durch ihre semantische Form für eine Präferenz der Perspektive der Dritten Person sorgen. Mit dieser reductio ad absurdum ist das Potential von Searles Kritik an der Vernachlässigung der Perspektive der Ersten Person noch nicht erschöpft. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt man, wenn man die Gegen-
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probe macht, indem man das Resultat des Gettier-Experiments einmal strikt aus der Perspektive der Ersten Person formuliert. Stilisiert man dieses Resultat zunächst wie üblich mit Hilfe der Perspektive der Dritten Person, dann erhält man das Gerüst, das durch das Argumentationsschema (AS 1) (vgl. oben S. 105) umrissen ist. Transformiert man nun dieses Gerüst des GettierExperiments strikt in die Perspektive der Ersten Person, dann zeigt sich im Handumdrehen, daß dieses ganze Experiment mitsamt seinen Standardresultaten aus dieser Perspektive überhaupt nicht mit Erfolg durchgeführt werden kann. Das Argumentationsschema (AS 2) führt dies Scheitern vor Augen: Ich weiß, daß es ein von Wasserstoff verschiedenes elementares Gas gibt, das an der Konstitution von Salzsäure beteiligt ist, weil: (1) es ist wahr, daß ... (2) ich meine, daß ... (3) ich bin berechtigt zu meinen, daß ... weil: es istßir mich evident, daß Sauerstoff an der Konstitution von Salzsäure beteiligt ist indessen: ich weiß, daß nicht Sauerstoff - sondern Chlor - an der Konstitution von Salzsäure beteiligt ist Der zweite weil-Satz und der indessen-Satz sind offenkundig unverträglich. Denn wenn ein Sachverhalt für jemand evident ist, dann ist es damit unverträglich, daß er im selben Atemzug das Gegenteil des Sachverhalts weiß, der für ihn evident ist.17 Diese Unverträglichkeit markiert gleichsam die SollBruchstelle in der Versuchsanordnung des Gettier-Experiments. Denn sie
17
Obwohl wissen-daß-nicht-p und evident-sein-daß-p nicht einen manifesten Widerspruch bilden, implizieren sie doch einen solchen: wissen-daß-nicht-p impliziert meinen-daß-nichtp, und dies impliziert (1) «Vv!tf-meinen-daß-p; da aber evident-sein-daß-p wiederum (2) meinen-daß-p impliziert, machen (1) und (2) den Widerspruch explizit, der es epistemisch unerträglich macht, sich eine Evidenz-daß-p und ein Wissen-daß-nicht-p in Personalunion zu eigen zu machen. Einen theoretischen Rahmen, in dem diese Folgerung gültig ist, bietet z. B. Chisholm, op. cit. In der von Chisholm entworfenen theoretischen Sprache fallen die beiden Stränge (a, b) dieser Folgerung so aus: (a) wenn nicht-p von jemand gewußt wird, dann (!') ist nicht-p für ihn fehlerlos evident (D6.4, S. 158); wenn (l'), dann (2') ist nichtp für ihn jenseits eines vernünftigen Zweifels (Dl.3, S. 29); wenn (2'), dann (3') ist es für ihn vernünftiger, nicht-p zu akzeptieren, als nicht-p zurückzuhalten (Dl.l, S. 23); wenn (3'), dann (4') ist es für ihn vernünftiger, nicht-p zu akzeptieren, als p zu akzeptieren; und wenn (4'), dann (5') ist es nicht der Fall, daß es für ihn vernünftiger ist, p zu akzeptieren, als nichtp zu akzeptieren (Asymmetrie-Regel im Sinne von (3), S. 30/1). (b) Wenn p für jemand evident ist, dann (1+) ist p für ihn jenseits eines vernünftigen Zweifels (vgl. oben); wenn (l + ), dann (2+) ist es für ihn vernünftiger, p zu akzeptieren, als p zurückzuhalten (vgl. oben); wenn (2+), dann (3+) ist es für ihn vernünftiger, p zu akzeptieren, als nicht-p zu akzeptieren (vgl. oben). (a)(5'') und (b)(3+) widersprechen einander.
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signalisiert, daß eine Person die Grenze ihrer epistemischen Belastbarkeit überschritten hat: sie kann sich zwei verschiedene epistemische Einstellungen wie die des Wissens und der Evidenz, sofern sie sich mit ihnen in einen propositionalen Widerspruch verwickelt, nicht mehr in Personalunion zu eigen machen. Insofern kann es zwar zunächst konsequent erscheinen, daß diese beiden Einstellungen im Rahmen des ursprünglichen Gettier-Experiments auf zwei verschiedene Personen verteilt sind, auf die Person des Versuchsleiters und auf die Person des epistemischen Subjekts. Doch diese widerspruchsfreie Verteilung war dafür mit der Absurdität der Voraussetzung verbunden, der Versuchsleiter sei entweder allwissend oder aber weise. Doch wie kann man aus diesem Dilemma zwischen Inkonsistenz und Absurdität herausfinden? Diese Inkonsistenz und diese Absurdität sind bloß verschiedenartige Indizien für denselben Kardinalfehler, den auch Searle im Auge hat — für die Vernachlässigung der Perspektive der Ersten Person. Die strikte Beachtung dieser Perspektive gehört indessen zu den wichtigsten methodischen Leistungen von Platons erkenntnistheoretischem Dialog „Theaitet".
IV
Die Perspektive der Ersten Person wird in Platons Dialogen mit Hilfe eines bestimmten methodischen Grundmusters respektiert. Platon hat dieses Muster zunächst in seinen frühen Dialogen entwickelt und erprobt. In diesen sogenannten Tugend-Dialogen geht es bekanntlich hauptsächlich, zumindest aber vordergründig und in der Regel, um ethische Probleme. Die Innovation nun, die Platon im Dialog „Theaitet" vorführt, besteht zu einem wesentlichen Teil darin, daß es ihm hier zum ersten Mal gelungen ist, dieses methodische Muster im Rahmen einer ganz und gar nicht-ethischen Problemstellung zu bewähren. Bei dem fraglichen Muster handelt es sich um ein spezielles Identifikationsmuster. Eine gewisse Schwierigkeit, dieses Identifikationsmuster zu durchschauen, stammt daher, daß es nicht nur an bestimmte Argumentations formen gebunden ist, sondern auch an die Mittel von Platons Dialogregie. Am leichtesten ist dieses Muster vielleicht am Beispiel des Dialogs „Laches" zu durchschauen. In diesem Dialog werden nicht bloß in abstrakten und argumentativen Formen die Fragen erörtert, was das Wesen der Tapferkeit ist18
18
Vgl. Lach. 190 de.
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und ob nicht vielleicht die Tapferkeit sogar das Wesen aller menschlichen Tüchtigkeit ausmacht.19 Darüber hinaus besetzt Platon zwei dialogische Hauptrollen mit Personen, die auch Gestalten der athenischen Realgeschichte aus der Lebenszeit des historischen Sokrates sind: sowohl Laches, der Namengeber des Dialogs, wie auch Nikias ist ein nicht unbedeutender Heerführer aus der Zeit des Peleponnesischen Kriegs. Und diesen beiden militärischen Führern werden durch Platons Dialogregie Vorschläge zur Definition der Tapferkeit sowie Argumente zur Verteidigung und zur Kritik solcher Vorschläge in den Mund gelegt. Die methodische Pointe dieser Regietechnik Platons ist klar: da die Tüchtigkeit eines militärischen Führers wesentlich auch von seiner Tapferkeit abhängt, gerät ein militärischer Führer, der eine Definition der Tapferkeit vorschlägt, unversehens in die Rolle eines Richters über seine eigene Tüchtigkeit. Indem er direkt über das Wesen der Tapferkeit spricht, spricht er indirekt über sich selbst und über das Format seiner eigenen Tüchtigkeit. Und damit zeichnet sich auch das methodische Muster ab, auf das es hier ankommt: in allen solchen Fällen ist der Autor einer Definition identisch mit einem paradigmatischen Beispiel aus dem Anwendungsbereich seiner Arbeitsdefinition bzw. des so definierten Begriffs; er personifiziert und verkörpert diese Definition bzw. den so definierten Begriff. Dieses Muster läßt sich offenkundig immer dann, aber auch nur dann, fruchtbar machen, wenn es um die Analyse, Definition und Anwendung von Begriffen geht, an denen wesentlich eine personale Komponente beteiligt ist, die also Begriffe von personalen Attributen wie eben Tugenden, Tüchtigkeiten, Fertigkeiten, Charaktereigenschaften, Talenten, Dispositionen, Leistungen, Fehlleistungen und dergleichen sind. Denn nur unter dieser Voraussetzung haben die Elemente aus dem Anwendungsbereich dieser Begriffe und ihrer Definitionen den Status von Personen und damit denselben Status wie die Wesen, die sich im Horizont der menschlichen Erfahrung um das Definieren von Begriffen, speziell von Begriffen personaler Attribute kümmern können. Es geht hier nicht darum, Platons oder Sokrates' ungeschriebene Methodenlehre zu rekonstruieren. Es wäre zwar nicht schwer, dasselbe methodische Muster an Hand anderer platonischer Dialoge, z. B. an Hand des „Euthyphron" oder des „Kriton" zu exemplifizieren. Doch wenn man den charakteristischen Anteil zu erfassen sucht, den der Platonische Sokrates an der Ausarbeitung erkenntnistheoretischer Problemstellungen hat, dann kommt das eben aufgezeigte Identifikationsmuster hierfür vorzüglich in Frage. Es ist
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Vgl. Lach. 199 de.
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nämlich eine von den bedeutsamsten Leistungen Platons, daß er mit Hilfe seiner Sokrates-Gestalt gezeigt hat, wie man dieses Identifikationsmuster ebenfalls für die Arbeit der Erkenntnistheorie fruchtbar machen kann. Und der wichtigste literarische Ort für dieses erkenntnistheoretische Probestück ist der Dialog „Theaitet".
V
In den Erörterungen des „Theaitet" hat Platon wiederum mit Mitteln der Dialogregie dafür gesorgt, daß das sokratische Identifikationsmuster 2um Zuge kommen kann. Eines von diesen dialogischen Regiemitteln zeigt sich darin, daß der Namengeber des Dialogs als ein hochbegabter Mathematiker und als ein ebensolches philosophisches Talent eingeführt wird.20 Sein philosophisches Engagement bekundet Theaitet vor allem durch die Bemerkung, daß er sich bisweilen schon selbst und von sich aus gefragt habe, was Wissen und Erkenntnis sei.21 Überdies läßt Platon den Theaitet sogleich zu Beginn der Unterredung eine Probe seiner Doppelbegabung ablegen. Auf die Frage des Sokrates, ob er den Unterschied zwischen einer Exempüfizierung des Begriffs des Wissens und seiner Definition verstehe, antwortet Theaitet — zumindest im zweiten Anlauf — mit einer Analogie aus der Mathematik: dieser Unterschied sei dem Unterschied analog zwischen der (geometrischen) Exemplifizierung von Quadraten und allen anderen Rechtecken einerseits und andererseits einem allgemeinen Verfahren, durch das die geometrischen Unterschiede auf den arithmetischen Unterschied zwischen quadratischen und allen anderen (natürlichen) Zahlen zurückgeführt werden.22 Die Pointe dieser Analogie stammt nun aber nicht ausschließlich aus ihrem mathematischen Inhalt, sondern auch aus dem Umstand, daß sie von Theaitet selbst gefunden wird. Diese Pointe wird nur noch verstärkt durch den anderen Umstand, daß Theaitet die Frage, was Wissen ist, ebenfalls schon selbst und von sich aus gestellt hat. Er wird damit durch Platons Dialogregie als ein Gesprächspartner eingeführt, der durch eine ganz bestimmte Gestalt von Personalunion ausgezeichnet ist: 1. er stellt eine von den erkenntnistheoretischen Schlüsselfragen selbst und von sich aus; 2. er ist auf Grund einer von ihm selbst entworfenen und durchschauten Analogie gegen den Fehler gefeit, die Frage nach dem Wesen des Wissens durch irgendwelche 20
21 22
Vgl. Tht. 143 e -144 b, 146 b. Vgl. Tht. 148b-e. Vgl. Tht. 147 c-148 b.
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Beispiele zu beantworten, die zwar vielleicht die notwendigen und hinreichenden Bedingungen des Wissens erf llen m gen, ohne da er aber selbst diese Bedingungen durchschauen w rde; er ist vielmehr selbst und von sich aus schon auf dem Weg, nach diesen Bedingungen zu suchen und zu beschreiben, sobald er sie ausfindig gemacht hat; 3. er personifiziert auf Grund seiner mathematischen Kompetenz wiederum durch sich selbst ein Beispiel aus dem Anwendungsbereich des Wissensbegriffs — daher ist Theaitet immer dann, wenn er selbst und von sich aus eine Definition des Wissensbegriffs vorschl gt, identisch mit einem paradigmatischen Beispiel aus dem Anwendungsbereich der vorgeschlagenen Definition und des definierten Begriffs; 4. Theaitet schl gt selbst die erste Arbeitsdefinition des Wissensbegriffs vor: Wissen ist sinnliche Wahrnehmung;23 5. Sokrates bringt Theaitet durch den Appell an dessen mathematische Kompetenz dahin, selbst einen Anspruch auf Wissen mit einem Sachverhalt zu verbinden, von dem man grunds tzlich nicht ein Zeuge durch Sinneswahrnehmung sein kann — n mlich mit einem mathematischen Sachverhalt; 6. Sokrates bringt Theaitet dahin, seine anfangliche Arbeitsdefinition des Wissensbegriffs selbst zu verwerfen.24 Auf diese Weise hat Platon also zun chst einmal schon mit Mitteln der Dialogregie von Anfang an daf r gesorgt, da das charakteristische sokratische Identifikationsmuster auch im Rahmen von Er rterungen eines zwar personalen, aber nicht-praktisch-normativen Begriffs, n mlich eines epistemischen Begriffs, fruchtbar gemacht werden kann. Eine weiterf hrende Pointe taucht unter einem anderen Aspekt auf: Platon ist es ebenfalls im „Theaitet" zum ersten Mal gelungen, dieses Identifikationsmuster zum ausdr cklichen Gegenstand thematischer Aussagen zu machen. In ihrer abstraktesten, komprimiertesten und daher auch am schwersten verst ndlichen Form findet sich eine solche Aussage in der ber hmten Formel, da das Denken ein Gespr ch der Seele mit sich selbst ber dasjenige sei, was sie jeweils untersucht (Tht. 189c). Doch diese r tselhafte Formel wird im Fortgang des Dialogs nicht blo auf mannigfache Weise erl utert; sie wird sogar vollst ndig erl utert. Denn Sokrates und Theaitet einigen sich Schritt f r Schritt ganz umstandslos darauf, da man eine um den Erwerb von Wissen bem hte Untersuchung einer Frage nur dann in einer angemessenen Weise durchf hrt, wenn man folgenderma en vorgeht: 1. man mu selbst fragen (προς αυτόν ... ερωτών, 196a 5 — 6); 2. man mu die selbst gestellte Frage selbst durchsprechen (έσκέψατο λέγων προς αυτόν, 196a5); 3. man mu nach dem Gegenstand der selbst gestellten Fragen selbst suchen (αύτη ή ψυχή καθ'αύτήν έπορέγεται, 186a4-5) und selbst 23 24
Vgl. Tht. l Siel-3. Vgl. Tht. 186e.
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nach ihm forschen (αυτή δι'αύτής ή ψυχή ... έπισκοπειν, 185d9-e2); 4. man mu auf diese Weise aus sich selbst lernen (μαθησόμενος παρ'έαυτοΰ, 198e4— 5), also die selbst angestellte Untersuchung auch selbst durch eine Antwort auf die selbst gestellte Frage beenden. Die Schl sselvokabel in allen diesen Zusammenh ngen ist das griechische Wort αυτός (selbst). Dieses Wort bildet bekanndich die lexikalische Wurzel von Fremdworten wie „Authentizit t" und „authentisch". Und damit zeichnet sich der sachliche Aspekt ab, unter dem bei Platon die methodische Pointe des Identifikationsmusters erst richtig zum Zuge kommt. Es gen gt noch nicht ganz, da irgendein Dialogpartner identisch ist mit einem paradigmatischen Beispiel aus dem Anwendungsbereich eines er rterten personalen Begriffs bzw. einer von dessen Arbeitsdefinitionen. Vielmehr mu ein solcher Dialogpartner dar ber hinaus auch noch in mehrfacher Weise eine Authenti^it tsbedingung erf llen. Er mu also die Bedingung erf llen, etwas ganz Bestimmtes selbst, also in authentischer Weise zu tun, zu leisten oder zu vollbringen. An dieser Stelle zeichnet sich allm hlich eine nicht mehr ganz unkomplizierte Verflechtung zwischen dem sokratischen Identifikationsmuster und dieser Authentizit tsbedingung ab. Bevor diese Verflechtung noch komplizierter wird, sollte man aufh ren, sie in abstrakter Weise zu behandeln. Statt dessen sollte man diese Verflechtung an einem einfachen Beispiel konkret darstellen. Zu diesem Zweck braucht man sich blo an das knappe halbe Dutzend von produktiven Beitr gen zu halten, die Theaitet im ersten Drittel seines Gespr chs mit Sokrates zu diesem Dialog leistet. Denn diese Beitr ge sind gerade in dem zwischen Sokrates und Theaitet besprochenen Sinne authentisch. Und hier schlie t sich nun der erste Kreis, auf den man sich einl t, wenn man mit Searles Kritik an der Vernachl ssigung der Perspektive der Ersten Person beginnt. Es gibt ja ein ganz einfaches und konventionelles sprachliches Mittel, einen Authentizit tsanspruch zum Ausdruck zu bringen — eben das Erste Personalpronomen. Wer das Erste Personalpronomen korrekt benutzt, signalisiert, da er etwas ganz Bestimmtes selbst, also in authentischer Weise getan, geleistet oder vollbracht hat. Ein Beispiel f r einen solchen Authentizit tsanspruch mag so banal sein wie der Bericht „Ich habe vom Heidelberger Schlo zum Marsilius-Platz gefunden" oder so anspruchsvoll wie die Mitteilung „Ich habe einen neuen Jupiter-Mond entdeckt" oder von der dipalen Tragik des Gest ndnisses „Ich habe meinen Vater erschlagen". In jedem derartigen Fall signalisiert der korrekte Benutzer des Ersten Personalpronomens einen Anspruch auf eine mehr oder weniger banale Hervorbringung, so da er darin von niemand vertreten werden kann — eben einen Anspruch auf Authentizit t.
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Und damit kann man auf höchst einfache Weise zeigen, wie Theaitet sowohl das sokratische Identifikationsmuster wie auch die sokratische Authentizitätsbedingung erfüllt: 1. Ich frage mich, was Wissen ist (authentische Definitionsfrage} 2. Ich definiere wissen-daß-p durch sinnlich-wahrnehmen-daß-p (authentischer Definitionsvorschlag) 2*. Ich weiß, daß-p, dann und nur dann, wenn ich sinnlich wahrnehme, daß-p (formale Stilisierung des authentischen Definitionsvorschlags) 3. Ich weiß, daß z. B. 17 eine ein nicht-quadratisches Rechteck charakterisierende, oblonge Zahl ist (authentisch erworbenes Wissen um einen mathematischen Sachverhalt} 4. Ich nehme nicht sinnlich wahr, daß z. B. 17 eine ein nicht-quadratisches Rechteck charakterisierende, oblonge Zahl ist (authentisch erworbene Einsicht in den Umstand, daß ein Fall authentisch erworbenen Wissens das Definiens des authentischen Definitionsvorschlags nicht erfüllt) 5. Ich weiß, daß-p, nicht dann und nur dann, wenn ich sinnlich wahrnehme, daß-p (authentische Korrektur des authentischen Definitionsvorschlags (2*.J). 6. Ich verwerfe die Definition von wissen-daß-p durch sinnlich-wahrnehmen-daß-p (authentische Verwerfung des authentischen Definitionsvorschlags (2.)).
Dieser Katalog zeigt, daß Theaitet bis zum Ende des ersten Drittels des Dialogs nach den zwischen ihm und Sokrates abgestimmten Kriterien sechs wichtige authentische Leistungen erbracht hat; und er hat diese Leistungen eben in Personalunion erbracht. Diese Personalunion ist es ja, der das sokratische Identifikationsmuster zugrunde liegt. Und damit schließt sich der zweite Kreis. Denn es ist diese Verknüpfung der Authentizitätsbedingung mit dem personalen Identifikationsmuster, was in der Versuchsanordnung des GettierExperiments fehlt. Nach den beiden sokratischen Experimentierregeln muß die Versuchsperson — hier also Theaitet — sowohl die paradigmatischen Fälle von Wissen durch die eigene Person verkörpern (3.) wie auch die Frage der Erfüllung oder Nichterfüllung der Arbeitsdefinition (2*.) durch die demonstrierten Fälle in persönlicher Regie überprüfen wie auch, wenn sich im Fall der Nichterfüllung ein Widerspruch wie zwischen 2. - 4. abzeichnet, die Arbeitsdefinition in %wei authentischen Akten verwerfen (5. —6.). Aber gerade in diesen Punkten verletzt das Gettier-Experiment die beiden Sokratischen Experimentierregeln. Denn gerade dasjenige paradigmatische Wissen, das man im Licht dieser Regeln benötigt, um das Format einer Arbeitsdefinition des Wissens zuverlässig prüfen zu können, ist nach den Regeln des Gettier-Experiments exklusiv für den Versuchsleiter reserviert. Der Versuchsleiter, aber nicht die
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Versuchsperson, also gerade nicht das eigentliche epistemische Subjekt, ist daher die letzte richterliche Instanz, die das Format jeder Arbeitsdefinition des Wissens zuverlässig beurteilen kann. Hingegen nach den Sokratischen Regeln muß das Wissen, das nach den Regeln des Gettier-Experiments exklusiv für den Versuchsleiter reserviert ist, von der Versuchsperson wenigstens geteilt werden und zwar so, daß sie über dieses Wissen aus ihrer Perspektive, also aus der Perspektive der Ersten Person verfügt, weil sie es in einem Akt ,entdeckenden Lernens' selbst erworben hat.
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Was ist Wissen? Wenn man einen Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage bei Platon und bei Platon im Dialog „Theaitet" sucht, dann kann man ihn in dem sachlichen Spannungsfeld finden, das Platon mit Mitteln der Dialogregie inszeniert, indem er seinen Lesern - und dem Sokrates des Dialogs — ein Bild von der erkenntnistheoretischen Schwangerschaft vor Augen führt, die Theaitets Seele im Licht von Sokrates' Diagnose durchmacht (vgl. 148c 6 ff., 150b 7 ff). Entgegen der nächstliegenden und in der Regel auch beherzigten Interpretationshypothese ist diese Schwangerschaft allerdings nicht ausschließlich in den drei Arbeitsdefinitionen greifbar (vgl. l Siel -3, 187b5-6, 201c8-dl), von denen Theaitet durch Sokrates mit Hufe von dessen Hebammenkunst (vgl. 149al —151d3) entbunden wird. Diese Schwangerschaft wird auch gleichsam in der Anamnese manifest, die Theaitet durch den Bericht entwickelt, den er von seinen jüngsten mathematischen Arbeitserfahrungen gibt. Im Rahmen dieser Anamnese demonstriert Theaitet, daß seine mathematischen Arbeitserfahrungen einen schwer zu überschätzenden Anteil an der Genese und an dem spezifischen Format seiner erkenntnistheoretischen Schwangerschaft haben. Wenn Sokrates seine Hebammenkunst auf diese Schwangerschaft anwendet, dann tut er dies also in unmittelbarer Kenntnis dieser ihm von Theaitet selbst präsentierten Anamnese. Doch was für Informationen und Orientierungshilfen kann Sokrates — und Platons Leser — durch sie gewinnen? Werden Sokrates' skeptische Prüfungen von Theaitets erkenntnistheoretischen Bemühungen vielleicht von Anfang an als Versuche inszeniert, Theaitet zu einer erfolgreichen Reflexion auf die erkenntnistheoretischen Schlüsselelemente seines mathematischen Arbeits- und Erfahrungsberichts zu verhelfen? Hat Platon Theaitets Anamnese vielleicht sogar so inszeniert, daß sie auf diejenigen charakteristischen Bedingungen von Wissen und Erkenntnis verweist, wegen deren Vernachlässigung
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der Dialog in einer Aporie endet (vgl. 21 Ob 4 ff.) und Gettier-Experimente diese Aporie mit anderen Mitteln fortsetzen? Theaitet ber hrt solche Elemente sogleich am Anfang seiner Bem hungen um eine sachgerechte Antwort auf Sokrates' Frage, was Wissen und Erkenntnis (επιστήμη) ist (146c3). Als Musterbeispiele f r das Erfragte erw hnt er in einem und demselben Atemzug nicht nur die Geometrie (146c7 —8) und die anderen von Theodoros gelehrten mathematischen und physikalischen Wissenszweige (c 8 —d 1; vgl. auch 145c 7 — d 3), sondern in demselben Sinne auch die Schuhmacherkunst (dl) und die anderen K nste (τέχναι) der Handwerker (d 2 — 3). Durch eine unmittelbare R ckfrage sorgt Sokrates f r Klarheit und Konsens dar ber, da das Schuhmachen insofern in die Kompetenz von Wissen und Erkenntnis (επιστήμη) geh rt, als es um das Wissen und Erkennen des Verfertigens von Schuhen geht (146d7 — 9). Zwar verfehlen Theaitets Exemplifizierungen die Anforderungen an eine auch blo formal korrekte Antwort auf die Frage nach dem Wesen von Wissen und Erkenntnis alleine schon deswegen, weil man diese Frage mit Hilfe der Methode der Exemplifizierung grunds tzlich nicht ersch pfend beantworten kann. Dennoch zeichnet sich auch im Zug dieser unzul nglichen Methode ganz eindeutig und vor allem ganz unkontrovers eine methodisch-technische, pragmatische Komponente von Wissen und Erkenntnis als ein Leitaspekt ab, an dem sich die gemeinsame Suche der Dialogpartner nach einer solchen Antwort orientieren kann. Derselbe Aspekt kommt denn auch sofort zum Zuge, wenn Sokrates auf die formale Eigenart der Unzul nglichkeit der Methode der Exemplifizierung aufmerksam macht: man durchl uft auf diese Weise einen endlosen Weg (άπέραντον όδόν, 147c4), weil man jedes Beispiel f r etwas, was unter den Begriff von Wissen und Erkenntnis f llt, in Form einer endlosen Aufz hlung (vgl. hierzu 146e 8 — 10) durch ein neues Beispiel fortsetzen kann. Selbstredend soll Theaitet durch diese Kl rung in erster Linie dahin gebracht werden, seine definitorischen Anl ufe einer methodologischen Korrektur zu unterziehen. Diese soll daf r sorgen, da er die charakteristischen Bedingungen von Wissen und Erkenntnis auf einem endlichen Weg durchl uft und durch einen einzigen Satz ausspricht (ένι λόγω προσειπεΐν, 148d7). Zwar absolviert Theaitet die ihm damit gestellte Aufgabe lediglich indirekt, auf dem Umweg ber eine mathematische Analogie. Und immerhin erntet er f r die Vorarbeit, die er mit diesem mathematischen Muster leistet, Sokrates' gro es Lob (vgl. 148b 4, d 4 —7). Platon selbst indessen, in seiner Rolle des Regisseurs von Theaitets mathematischem Werkstatt-Bericht, nutzt diesen Umweg zur Inszenierung einer Schl sselmitteilung des ganzen Dialogs. In zwei Schritten l t er Theaitet berichten, wie Theodoros' Sch ler unter der Anleitung ihres Lehrers an dem
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Problem gearbeitet haben, das die Methoden-Analogie zum erkenntnistheoretischen Definitionsproblem abgibt: l. we sie die Frage gefanden haben, wodurch man die unendlich vielen gleichseitigen und die unendlich vielen ungleichseitigen Rechtecke zusammenfassend charakterisieren k nne (147d4 — e 1); 2. wie sie die Antwort gefunden haben (147e 2—148b 3), indem sie in vier Schritten unter den (nat rlichen) Zahlen nach ihr gesucht haben (vgl. 147d 4-e l, e 5-6, e 9-148a 5, a 7-b 3). Mit diesem Werkstatt-Bericht signalisiert Platon durch den Mund Theaitets, da man — sei es der Theodoros oder der Sokrates des Dialogs oder irgendeiner von dessen Lesern — Theaitet drei epistemische Atteste ausstellen kann; a.
b.
c.
Theaitet wei , wie man zu seiner Zeit in erfolgstr chtiger Weise untersuchen kann, ob eine (nat rliche) Zahl wie z. B. 17 charakteristisch f r ein ungleichseitiges Rechteck ist oder nicht Theaitet hat so, wie man zu seiner Zeit in erfolgstr chtiger Weise untersuchen kann, ob eine (nat rliche) Zahl wie z. B. 17 charakteristisch f r ein ungleichseitiges Rechteck ist oder nicht, auch selbst, und zwar fehlerlos, untersucht, ob eine (nat rliche) Zahl wie z. B. 17 charakteristisch f r ein ungleichseitiges Rechteck ist oder nicht; Theaitet hat selbst herausgefunden, da eine (nat rliche) Zahl wie z. B. 17 charakteristisch f r ein ungleichseitiges Rechteck ist.
Selbstverst ndlich sind das methodisch-technische Know-how (Attest a.), die von diesem Know-how angeleiteten Untersuchungsaktivit ten (Attest b.) und die mit seiner Hilfe erzielten Resultate (Attest c.), die Theaitet durch diese Atteste zugeschrieben werden, in Theaitet zumindest vorl ufig noch nicht mit dem h chsten Grad an Authentizit t verk rpert. Diesen h chsten Grad hat Sokrates im Auge, wenn er Theaitet das Ziel seiner skeptischen Unterredungen durch die Bemerkung erl utert, er suche seine Gespr chspartner zumindest langfristig dahin zu bringen, m glichst Vieles und Sch nes selbst durch sich selbst zu entdecken und zustande zu bringen (αυτοί παρ' αυτών πολλά και καλά εύρόντες τε και τεκόντες, 150d7-8). Dieser graduelle Mangel an Authentizit t verbietet es daher, den Lernerfolgen Theaitets den eminenten Titel von Entdeckungen zu verleihen. Er wirft daf r um so mehr Licht auf die Wichtigkeit von Funktionen einer anderen Gestalt des Dialogs. Denn Theodoros, der au er in drei Episoden des Dialogs (143c9 — 144d7, 161a5-162c2, 168c2-184b3), eine Hintergrundgestalt bleibt, spielt gerade in diesem Hintergrund eine zwar unscheinbare, aber nichtsdestoweniger bedeutsame Rolle. Unter dem Vorzeichen seiner lebenslang erprobten und bew hrten mathematischen Kompetenz wird er als Prototyp des erfahrenen W chters ber die Erfolgstr chtigkeit des methodisch-technischen Knowhow eingef hrt, den seine Sch ler mit seiner Hilfe erwerben. Nicht nur ist
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in seiner individuellen Gestalt die Expertengemeinschaft der Mathematiker seiner Zeit auf ihrem höchsten Niveau symbolisiert. Durch seine Gestalt gibt Platon auch zu verstehen, daß die bewährten und von dieser Expertengemeinschaft akzeptierten Methodenstandards und Erfolgskriterien in den mathematischen Studien respektiert werden, die ein Schüler des Theodoros wie Theaitet absolviert.25 Indem Platon Theaitet einen Bericht über dessen persönliche mathematische Arbeitserfahrungen in Theodoros' Schule in den Mund legt, verweist er mit Mitteln der Dialogregie auf drei charakteristische Bedingungen von Wissen und Erkennen: auf die Unerläßlichkeit eines bewährten methodisch-technischen Know-how (Attest a.), auf die Unerläßlichkeit der von diesem Knowhow geleiteten persönlichen Untersuchungsaktivitäten (Attest b.) und auf die Unerläßlichkeit von Erfolgen, wie sie nur im Licht dieses Know-how und mit Hilfe solcher Untersuchungsaktivitäten erzielt werden können (Attest c). Bei alledem bleibt die Authentizität (selbst, durch sich selbst), mit der sich ein Wissens- und Erkenntnisbeflissener jeweils mit Erfolg oder ohne Erfolg darum bemüht, einen Sachverhalt oder dessen Gegenteil bzw. das Bestehen oder das nicht-Bestehen eines Sachverhalts ausfindig zu machen, in der Obhut der Methodenstandards und der Erfolgskriterien, die sich in der gemeinsamen Arbeit der Mitglieder der Expertengemeinschaft (die man-Bedingung in den epistemischen Attesten a. und b.; s. o. S. 118) bewährt haben.
VII
Welche erkenntnistheoretische Tragweite Platon selbst seiner Inszenierung von Theaitets mathematischem Arbeits- und Erfahrungsbericht beimißt, geht zum ersten Mal unmittelbar aus der schroffen Paradoxie hervor, die er seinen Lesern — und dem Sokrates des Dialogs — zumutet, wenn er einer und derselben Person eben diesen Bericht und die fast im selben Atemzug ausgesprochene definitorische Probethese in den Mund legt, daß Wissen nichts anderes als Wahrnehmung sei. Paradox ist dieser Regieeinfall Platons deswegen, weil Platon angesichts seiner eigenen mathematischen Bildung der wohlbegründeten Erwartung seiner Leser förmlich ins Gesicht schlägt, daß der Autor nur zu gut seiner eigenen Einsicht Rechnung tragen könne, wonach man gerade mit mathematischen Mitteln ein Wissen erlangen könne, das Theaitets erste Probedefinition nicht erfüllt. In der Person Theaitets nimmt 25
Diese Rollenverteilung und ihre Wichtigkeit betont zuletzt Myles Burnyeat, The Theaetetus of Plato, Indianapolis/Cambridge 1990, S. 3 ff.
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diese paradoxe Verknüpfung sogar die Form einer pragmatischen Inkonsistenz an: was Theaitet im ersten Anlauf über das Wesen von Wissen und Erkennen behauptet, ist unverträglich mit dem, was er selbst tut und leistet, sofern er z. B. Quadratzahlen und Quadratwurzeln ermittelt, die Flächeninhalte von gleichseitigen Rechtecken durch Quadratzahlen, die von ungleichseitigen Rechtecken durch andere Zahlen charakterisiert und andere geometrische und arithmetische Probleme erarbeitet, bearbeitet und löst. Alles, was er mit Blick auf geometrische Figuren und Konstruktionen sowie mit Blick auf Zahlen, Berechnungen, Gleichungen und Ungleichungen tut und leistet, hängt weder unter dem Aspekt von Korrektheit und Unkorrektheit noch unter dem Aspekt von Erfolg und Mißerfolg von irgendwelchen Sinneswahrnehmungen ab. Daß Platon den Dialog mühelos so hätte inszenieren können, daß diese pragmatische Inkonsistenz durch eine bescheidene synergistische Anstrengung von Sokrates und Theaitet im Handumdrehen ans Licht gebracht worden wäre, zeigt sich indessen rund drei Dutzend Stephanus-Seiten später. Denn immerhin kostet es Sokrates in dieser Phase der Diskussion nicht die geringste Mühe, Theaitet zu dem Zugeständnis zu animieren, daß Zahlen und geometrische Eigenschaften — nicht weniger als formale Eigenschaften wie die Ähnlichkeit und die Unähnlichkeit (vgl. 185cd) — insofern zum selben kognitiven Typ gehören, als sie nicht sinnlich wahrgenommen werden können (vgl. 186de), so daß geometrisches und arithmetisches Wissen und Erkennen unstrittige Beispiele für Wissen und Erkennen abgeben, obwohl sie die erste von Theaitet vorgeschlagene Definition nicht erfüllen. Die Verwerfung der ersten von Theaitet vorgeschlagenen Definition signalisiert daher nicht einfach deren formale Inkorrektheit und sachliche Unangemessenheit. Sie signalisiert nicht zuletzt auch, daß Theaitet es nicht vermocht hat, diesen Vorschlag im Licht seiner persönlichen mathematischen Arbeitserfahrungen auch bloß zu überwachen oder zu überprüfen. Die Mathematik-Vergessenheit, die Theaitet mit dem förmlichen Auftakt der erkenntnistheoretischen Unterredungen daher geradezu schlagartig demonstriert, ist aber nur eine von zwei Fehldispositionen Theaitets, die alle begrifflichen und argumentativen Anstrengungen scheitern lassen, mit deren Hilfe Sokrates Theaitet dahin zu bringen sucht, daß dieser selbst von den erkenntnistheoretisch relevanten Elementen Gebrauch macht, mit denen Theaitets Seele im Licht von Sokrates' mäeutischer Diagnose schwanger ist. Sogar Theaitets zunächst so primitiv anmutende, von Sokrates jedoch durchaus ernst genommene, Exemplifizierung von Wissen und Erkennen durch Hinweis auf die spezifischen Tätigkeiten der Handwerker büßt im Horizont dieser Fehldispositionen für Theaitet alle erkenntnistheoretisch relevanten Züge ein. Denn wenn Sokrates die Augen, die Ohren und die anderen verwandten
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leibhaftigen Elemente der Sinnesfunktionen als Werkzeuge der Seele (vgl. 184b8 —185a7) umschreibt, gelingt es Theaitet nur allzu offensichtlich nicht, die Analogie zu durchschauen, mit deren Hilfe man diese Umschreibung erkenntnistheoretisch fruchtbar machen kann: analog wie (t chtige) Handwerker wissen, wie man die f r ihre spezifischen Verfertigungstechniken charakteristischen Werkzeuge gebrauchen mu , wenn man die f r die potentiellen Benutzer tauglichen Produkte zustande zu bringen sucht, wird die Seele in diesem Kontext als die Instanz eingef hrt, die wei , wie man von Sinnesfunktionen Gebrauch machen mu , wenn man ein Wahrnehmungswissen zuwege zu bringen sucht, wie es z. B. Richter unter Umst nden ben tigen, wenn sie sich nicht blind mit bestimmten Wahrheitsanspr chen abfinden wollen, wie sie von bestimmten Zeugen mit ihren Aussagen verbunden werden (vgl. 201b7 —c7). Dieses wahrnehmungstechnische Know-how der Seele wird denn auch ganz koh rent am Beispiel einer entsprechenden wahrnehmungstechnischen Fehlleistung erl utert, wie man sie sich dann einhandelt, wenn man nicht korrekt darauf achtet, wie man z. B. die angemessenen r umlichen Distanzen zu ber cksichtigen hat, in denen man in zuverl ssiger Weise wahre und authentisches Wahrnehmungswissen formulierende Aussagen ber unterschiedliche sinnenf llige Gegenst nde treffen kann (vgl. 191b2 —6, 193b9-d2).26 Die dritte Herausforderung an die erkenntnistheoretische Schwangerschaft von Theaitets Seele wird von Sokrates sogar mit Hilfe von g nzlich unverbl mten Anspielungen auf die methodisch-technischen, pragmatischen Komponenten von mathematischem Wissen und Erkennen lanciert. Nachdem Sokrates das Wissen und Erkennen einer Sache unter Theaitets Zustimmung darauf zur ckgef hrt hat, da man die Sache gelernt und gefunden habe (μεμαθηκέναι ή ηύρηκέναι το πράγμα 197e5), vergleicht er das Bem hen um Erkenntnis und Wissen ganz allgemein mit dem Jagen (θηρεύειν, 198a2) und gewinnt im Handumdrehen Theaitets Zustimmung, da man insbesondere die Rechenkunst (άριθμητικήν ... τέχνην, 198a5) als die Jagd nach Wissen und Erkennen von allem Geraden und Ungeraden (θήραν επιστημών αρτίου τε και περιττού παντός, 198a7 —8) auffassen k nne. Obwohl Sokrates die komplexen, erfolgsorientierten T tigkeiten des arithmetischen Suchens 26
Hier taucht die hochkontroverse Frage auf, ob man nach Plato von sinnenf lligen Dingen Wissen haben kann oder nicht. Zugunsten der Auffassung, da man die Antwort auch nach Platon nicht in schlichter Weise vom blo en Faktum der Sinnenfalligkeit und insbesondere von der Wechselhaftigkeit der Eigenschaften dieser Dinge abh ngig machen k nne, sondern vor allem beachten m sse, ob man Fehler bei der Beobachtung solcher Dinge, also beim wahrnehmungsgest tzten Erwerb von Meinungen ber sie begehe oder nicht, argumentiert mit philologischer und sachlicher Umsicht Nicholas P. White, Plato on Knowledge and Reality, Indianapolis 1976, bes. eh. VII.
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und Untersuchens ( , 198c4-5), Lernens und Findens zusammenfassend noch einmal als eine Kunst ( , 198a 10) charakterisiert, zeigt Theaitet noch nicht einmal den geringsten Hauch einer Reflexion auf eine erkenntnistheoretische Tragweite dieser von Sokrates mit einer geradezu aufdringlichen Umständlichkeit hervorgehobenen methodisch-technischen Komponente nicht nur des mathematischen Wissens und Erkennens. Anstatt sich von Sokrates' Anspielungen zu exemplarischen Fallerörterungen einladen zu lassen, in denen methodisch-technische Verfahrenselemente des arithmetischen und des geometrischen Suchens und Untersuchens, Lernens und Findens analysiert, erörtert und charakterisiert werden könnten — so wie Theaitet es in seinem präludierenden mathematischen Arbeitsbericht gan^ von selbst (!) getan hatte —, begnügt er sich damit, durch banale Mikro-Floskeln seine durchgängige Übereinstimmung zu signalisieren.27 Platon hätte Theaitets vorläufige Unfähigkeit, einer Frucht seiner erkenntnistheoretischen Schwangerschaft durch sich selbst auf die Spur zu kommen, nicht greller beleuchten können. Noch nicht einmal Sokrates' mäeutische Hilfestellungen vermögen ihm zu einer fruchtbaren Reflexion auf die erkenntnistheoretisch relevanten Elemente seiner mathematischen Arbeitserfahrung zu verhelfen. Ein umso größeres Gewicht fällt daher den Aspekten zu, unter denen Platon diese Hilfestellungen durch die literarische Gestalt des Sokrates inszeniert. Denn Platon bringt die methodisch-technische Komponente des mathematischen Suchens und Untersuchens, Lernens und Findens in einem Kontext zur Sprache, in dem es um die Prüfung von Theaitets probeweiser Auffassung geht, Wissen und Erkennen einer Sache erschöpfe sich in der wahren Meinung von dieser Sache. Auf diese Weise unterläuft und hinterfragt Platon diese Auffassung, indem er die mit ihr zumindest verträgliche Auffassung verwirft, das Wissen und das Erkennen einer Sache garantiere dem epistemischen Subjekt so etwas wie einen dauerhaften Besitz an dieser Sache. Durch die Taubenschlag-Analogie (vgl. 197d 4 ff.) gibt Platon vielmehr unmißverständlich zu verstehen, daß die wahren Meinungen, die jemand hegt, ganz unbeschadet ihrer Wahrheit, ähnlich flüchtig sind wie Tauben in einem Käfig, wenn man nach ihnen greift. Doch schon im „Menon" hatte Platon durch Sokrates' Mund die Flüchtigkeit von wahren Meinungen betonen und diese ihre Flüchtigkeit zum cha27
Jan Szaif, Platons Begriff der Wahrheit, Freiburg/München, 1996, geht in seiner minutiösen Untersuchung sogar so weit, die spezifischen pragmatischen und kognitiven Momente, die in der Jagdanalogie der mathematischen Arbeit verbunden sind, so unmittelbar auf das mathematische Vokabular selbst — z. B. für das Zählen ( ) — zu übertragen, daß das griechische Wort in diesem Kontext geradezu im Sinne von Aktivitäten des Suchens und Findens von Zahlen gebraucht wird, vgl. S. 38062.
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rakteristischen Defizit stempeln lassen, durch das sie sich strukturell von Erkennen und Wissen unterscheiden.28 Dies strukturelle Defizit kann indessen berwunden werden, indem es demjenigen, der eine wahre Meinung hegt, gelingt, diese durch eine logosf rmige Bindung an (rechtfertigende) Gr nde (δήση αιτίας λογισμω, 98a4) immer fester mit seiner Person zu verflechten. Und das einfachste Beispiel, das Platon in diesem Kontext Sokrates in den Mund legt, um die Form zu illustrieren, in der es einer Person gelingen kann, eine von ihr gehegte wahre Meinung diesen Gestaltwandel zugunsten von Erkennen und Wissen durchmachen zu lassen, greift ausgerechnet auf ein Elementarparadigma alles methodisch-technischen Know-how zur ck — auf die Wegekundigkeit: die wahre Meinung, die jemand mit Blick auf den Weg nach Larissa hegt, unterscheidet sich vom Erkennen und Wissen dieses Weges dadurch, da der Erkennende und Wissende diesen Weg selbst gegangen ist (vgl. 97a 10 —b6), so da er wei , wie man nach Larissa findet. Wenn man diese elementare, aber umso klarere Charakterisierung eines strukturellen Unterschiedes zwischen wahrer Meinung und Erkenntnis und Wissen aus Sokrates' Mund so aufnimmt, wie es Freunde tun, wenn sie zur wechselseitigen Belehrung Gespr che f hren (φίλοι οντες βούλοιντο άλλήλοις διαλέγεσθαι, 75d 3), dann kann man auch diese Charakterisierung kunstvoller pr fen (δει δη ... διαλεκτικώτερον άποκρίνεσθαι, 75d 3-4) als es Menon mit banalen Zustimmungsfloskeln signalisiert (vgl. 97a 13, b 4). Zu einer solchen kunstvolleren Auseinandersetzung geh rt der Versuch, den Autor Platon selbst in ein solches weiterf hrendes, freundschaftliches Gespr ch einzubeziehen. Durch ein solches Gespr ch kann man ausfindig zu machen suchen, ob man sogar Platon selbst zum Freund dadurch gewinnen kann, da man unterstellt, er habe Sokrates diese paradigmatische Strukturcharakterisierung von Erkennen und Wissen deswegen in den Mund gelegt, weil er, Platon, wenn schon nicht wissenderweise, so doch vermutungsweise (ουκ είδώς ..., αλλά είκάζων, 98bl-2) annehme, da man der ,gr eren Freundin' mit einer solchen Charakterisierung noch am n chsten komme.
VIII Mit der Abfassung und Ver ffentlichung des „Theaitet" zeigt Platon daher nicht nur, da er ein weiterf hrendes erkenntnistheoretisches Gespr ch selbst sucht, sondern vor allem auch, unter welchen Aspekten er es f r fruchtbar h lt. Die drei Definitionsvorschl ge, mit denen er Theaitet in aller 28
Vgl. Men. 97c 9-98b 2.
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Form zum 'Zuge kommen läßt, werden im Licht ihrer Unzulänglichkeiten, auf die sich Theaitet und Sokrates am Ende eingehender Prüfungen einigen, zwar ausdrücklich verworfen (vgl. 186 e, 201 bc, 210 ab). Doch diese Diagnosen sind auch wiederum in keinem der drei Fälle so differenziert, daß sie die formalen Eigenschaften dieser Unzulänglichkeiten genauer spezifizieren würden. Sie lassen daher die Möglichkeit offen, daß zwar durch keinen von Theaitets Vorschlägen eine für die Charakterisierung von Erkennen und Wissen hinreichende Bedingung erfaßt wird, wohl aber jeweils eine charakteristische Bedingung irgendeines anderen formalen Typs. Die zwischen Theaitet und Sokrates völlig unkontroverse Annahme eines mit Hilfe der Sinneswahrnehmung erworbenen Wissens — im Gegensatz zu wahren Meinungen aus zweiter, dritter oder noch weitläufigerer Hand — stellt beispielsweise klar, daß Theaitets erster Definitionsvorschlag eine für die Charakterisierung von Erkennen und Wissen weder notwendige noch hinreichende Bedingung erfaßt. Nimmt man Sokrates' instrumentale Charakterisierung der leibhaftigen Oberflächenelemente der Sinneswahrnehmung wie Augen, Ohren und Nase hinzu, dann wird klar, daß die Unzulänglichkeit dieses Vorschlags daher rührt, daß Theaitet einen speziellen Modus des Erwerbs von Wissen, also einen Modus des Erkennens, mit einer für die Charakterisierung von Erkennen und Wissen sowohl notwendigen wie hinreichenden Bedingung verwechselt. Zusammen mit der Wegekundigkeit, wie sie im „Menon" am Beispiel des Wegs nach Larissa erläutert wird, ist mit der Wahrnehmung ein zweiter Modus des Wissenserwerbs, also ein zweiter Erkenntnismodus, umrissen. Und ebenfalls im „Menon" ist es unübersehbar, daß die wichtigste Anstrengung der Geometrie-Lektion (vgl. Men. 82b —85b) nicht etwa dem Beweis der Wahrheit der Meinung oder des sie formulierenden Satzes gilt, daß ein Quadrat, dessen eine Seite mit der Diagonale eines anderen Quadrats identisch ist, genau doppelt so groß wie dieses ist. Vielmehr gilt diese Anstrengung dem Ziel, daß der Geometrie Treibende das entsprechende Erkennen und Wissen selbst aus sich selbst ( , 85d 4, vgl. auch d 6) gewinnt, indem er sich auf das entsprechende Suchen, Finden und Lernen, also auf erfolgsträchtige, methodisch-technische Erwerbsmodi für geometrisches Wissen, versteht (vgl. 84blO, c5-6, cl2-dl) 2 9 . 29
Nicholas P. White sieht Platon daher schon im „Menon" mit dem Ziel am Werk, ein Muster zu inszenieren, in dem die Authentizitätsbedingung von Wissen und Erkennen anfängt, in einen Brennpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken: „... try to put ourselves in the best possible position to determine the matter for ourselves"; „... we must investigate the matter for ourselves ... we must go and examine ..."; „... we want to aquire that information by examining the thing ourselves ..."; „... one must be able in some fashion to examine that object oneself on one's own behalf", a. a. O. S. 37 f.
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Die unausgetragene Spannung zwischen diesen beiden m glichen Zielen mathematischer Lektionen wird von Platon im Rahmen des „Theaitet" mit Mitteln der Dialogregie zu einer erkenntnistheoretischen Pr fung ausgearbeitet: die Probe-These des jungen, aber hochbegabten Mathematikers Theaitet, Wissen sei nichts anderes als wahre Meinung, wird dadurch auf die Probe gestellt, da Sokrates ihn provoziert, zu der Rolle Stellung zu nehmen, die das Suchen und Untersuchen, das Finden und Lernen f r das Erkennen und Wissen des Mathematikers spielt. Doch weder durchschaut Theaitet die erkenntnistheoretische Relevanz dieser Provokationen, noch bemerkt er die provokatorischen Z ge von Sokrates' entsprechenden Fragen. Gleichwohl tr gt er diesen Provokationen immerhin wenigstens in formaler Weise Rechnung, indem er seinen zweiten Definitionsvorschlag im Rahmen des dritten Vorschlags selbst (!) relativiert und das Wissen au er von der Wahrheit einer Meinung auch noch von einem .Logos' abh ngig macht, mit dem die Wahrheit einer Meinung im Fall des Wissens verflochten ist (vgl. Tht. 201 c 9 —d 1). Und Sokrates bekr ftigt die formale Richtigkeit und das sachliche Erfordernis dieser Erg nzung, indem er die nur noch rhetorische Frage stellt, was Erkennen und Wissen unabh ngig (χωρίς) vom ,Logos' und der wahren Meinung denn wohl auch sein sollten (τίς γαρ αν και έτι επιστήμη εΐη χωρίς λόγου τε και ορθής δόξης 202d 6/7). Durch die χωρίς-Konstruktion wird berdies ganz offensichtlich signalisiert, da man in Gestalt der Meinungs-, der Wahrheits- und der Logos-Komponente von Erkennen und Wissen drei f r deren Charakteristik notwendige Bedingungen gesammelt hat. Doch welche Unzul nglichkeit der Logos-Bedingung verhindert, da die Konjunktion aus diesen drei Bedingungen f r die definitorische Charakterisierung von Erkennen und Wissen hinreicht? Die Formulierung der Logos-Bedingung ist nicht nur so vieldeutig wie das griechische Wort, durch das sie ausgedr ckt wird. Sie verfehlt auch im erheblichen Ma den Differenzierungsgrad, mit dem Sokrates schon im „Menon" die ,logosf rmige Bindung der wahren Meinung an (rechtfertigende) Gr nde' unter den f r das Erkennen und Wissen charakteristischen Bedingungen respektiert hat. Und ebenso verfehlt Theaitet die Konkretisierung, die Sokrates ebenfalls schon im „Menon" f r diese differenzierte LogosBedingung gefunden hat: er zeichnet den leibhaftigen, aktiven Gang einer Person nach Larissa als ein Muster daf r aus, wie eine Person in authentischer Weise daf r sorgen kann, da sie die Bedingung erf llt, eine wahre Meinung in logosf rmiger Weise an rechtfertigende Gr nde zu binden, also eine Erkenntnis zuwege zu bringen und eben dadurch Wissen zu erwerben. Selbstverst ndlich w re es absurd, das Faktum und das Ma von Theaitets erkenntnistheoretischer Unzul nglichkeit im Licht des status quaestionis zu diagno-
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stizieren, den Sokrates damit im Rahmen des „Menon" signalisiert. Nach den Spiekegeln von Platons Dialogregie hat Theaitet an den Unterredungen dieses Dialogs nun einmal nicht teilgenommen — weder als stiller Zuhörer noch als aktiver Gesprächspartner. Man kann ihm daher nicht gut einen Regreß unter ein erkenntnistheoretisches Reflexionsniveau attestieren, an dessen Erarbeitung er weder als Ohrenzeuge noch als Diskutant beteiligt war. Dennoch hat Platon eine Möglichkeit gesehen und genutzt, dies Reflexionsniveau in den Unterredungen des „Theaitet" planmäßig zu berücksichtigen, indem er es mit unterschiedlichen Mitteln der Dialogregie in Szene setzt. Die Schlüsselszene für diesen Rückgriff Platons auf den vom Dialog bereits vorausgesetzten erkenntnistheoretischen status quaestionis bietet Theaitets mathematischer Arbeits- und Erfahrungsbericht: Platon setzt Theaitet auf diese Weise als Personifizierung des Wissens in Szene, zu dessen Charakteristik im „Menon" außer der Wahrheit einer — oder mehr als einer — Meinung es gehört, daß man sich um eine solche wahre Meinung mit Hilfe von erfolgsorientierten und erfolgsträchtigen, methodisch-technisch disziplinierten Aktivitäten in authentischer und erfolgreicher Weise bemüht hat. Und es ist offensichtlich diese epistemische Personifizierung, was es sowohl dramaturgisch verständlich macht wie auch in methodischer und sachlicher Hinsicht rechtfertigt, daß Sokrates immer wieder von neuem versucht, Theaitet zu einer erkenntnistheoretischen Reflexion auf dies so strukturierte und von ihm personifizierte Wissen zu animieren. Doch alle diese Versuche schlagen fehl.
IX
Damit hat Platons Dialog-Regie indessen eine Situation geschaffen, die es möglich macht und rechtfertigt, die Aporie, in die der Dialog mündet, in behutsamer Weise auch auf eine minimale und unscheinbare erkenntnistheoretische Insuffizienz der Theaitet-Gestalt des Dialogs zurückzuführen: Theaitet gelingt es trotz aller mäeutischer Kunstgriffe durch Sokrates nicht, sich ausdrücklich auch bloß in der einfachsten Form selbst mit dem paradigmatischen Beispiel zu identifizieren, das in den Anwendungsbereich des Wissensbegriffs gehört, den er selbst durch die von ihm demonstrierte mathematische Arbeit und Erfahrung in seiner Person, wenn auch auf einem noch vorläufigem Kompetenzniveau, verkörpert. Der Reflexionsschritt, dem hier die Schlüsselrolle zufällt, ist sowohl in formaler wie in sachlicher Hinsicht, denkbar einfach: Theaitet braucht sich das Know-how, die Untersuchungsaktivitäten und die Untersuchungserfolge, die ihm vom Theodoros oder vom Sokrates des Dialogs oder von irgendeinem Leser angesichts seines mathema-
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tischen Arbeits- und Erfahrungsberichts in Form von drei epistemischen Attesten zugeschrieben werden können (vgl. oben S. 118 f., a. —c.), lediglich selbst zuzuschreiben: a.+ b.+
c.+
ich weiß, wie man zu meiner Zeit in erfolgsträchtiger Weise untersuchen kann, ob eine (natürliche) Zahl wie z. B. 17 charakteristisch für ein ungleichseitiges Rechteck ist oder nicht; ich habe so, wie man zu meiner Zeit in erfolgsträchtiger Weise untersuchen kann, ob eine (natürliche) Zahl wie z. B. 17 charakteristisch für ein ungleichseitiges Rechteck ist oder nicht, auch selbst, und zwar fehlerlos, effektiv untersucht, ob eine (natürliche) Zahl wie z. B. 17 charakteristisch für ein ungleichseitiges Rechteck ist oder nicht; ich habe selbst herausgefunden, daß eine (natürliche) Zahl wie z. B. 17 charakteristisch für ein ungleichseitiges Rechteck ist.
Trotz der extremen Bescheidenheit der reflexiven Anstrengung, die solche epistemischen Selbstattribuierungen einem Gesprächspartner des Platonischen Sokrates wie Theaitet abverlangen, fällt ihnen eine erkenntnistheoretische Schlüsselrolle zu.30 Auf diese Schlüsselrolle kann man aufmerksam werden, wenn man durch einen zweiten Schritt von den konkreten Personen und von den konkreten propositionalen Gehalten der ob-Sätze und der daßSätze abstrahiert, durch die die Untersuchungsthemen und die Untersuchungsresultate formuliert werden, die diesen Personen im Rahmen solcher epistemischen Atteste zugeschrieben werden. Das Resultat einer solchen Abstraktion (oder Generalisierung) hat offenbar die Form: a.* b.*
c.*
jemand weiß, wie man zu seiner Zeit in erfolgsträchtiger Weise untersuchen kann, ob-p oder ob-nicht-p jemand hat so, wie man zu seiner Zeit in erfolgsträchtiger Weise untersuchen kann, ob-p oder ob-nicht-p, auch selbst, und zwar fehlerlos, untersucht, obp oder ob-nicht-p jemand hat selbst herausgefunden, daß-p bzw. daß-nicht-p.
Die Schlüsselrolle selbst, die dies Resultat einer Abstraktion bzw. Generalisierung für die Charakterisierung des Wissens spielen kann, fallt alsbald in die Augen, wenn man nach der Eignung dieses Abstraktionsresultats fragt, wahren Meinungen eine wissensverbürgende, eine — in Platons Sprache ausgedrückt — Jogosförmige Bindung an Gründe' zu garantieren. Zwar kann man diese Frage, wenn nicht alles täuscht, nicht mehr mit Mitteln Platons 30
Daß es Platon mit der Authentizitätsbedingung des Wissens so ernst ist, daß er sogar dem Leser seiner Dialoge sowohl zumutet wie zutraut, .selbst durch sich selbst' z. B. eine wissenswerte dialogintern inszenierte Fehlleistung nachträglich zu durchschauen, zeigt am Beispiel eines logischen Argumentationsfehlers in Platons „Lysis" Hermann Weidemann, Platon über die Dialektik von Freundschaft und Liebe (Lysis 212a8 —213d5), in diesem Band S. 268-76, bes. S. 275 ff.
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beantworten. Aber sie führt — mit Mitteln Platons — bis an einen Punkt, von dem aus der Leser seines Dialogs nur noch einen einzigen Schritt zu tun braucht, um eine Antwort zu finden, die im Blick auf Platon lediglich offen läßt, ob er sie einer freundschaftlichen und vielleicht noch kunstvolleren Prüfung' wert gefunden hätte. Man findet die Antwort am ehesten, wenn man wieder bei elementaren formalen Klärungs- und Präzisierungsmitteln der modernen Erkenntnistheorie Hilfe sucht. Denn die einzige Sachfrage, die die drei epistemischen Attestformen wirklich noch offen lassen, wenn man in ihnen schon Kandidaten für die Rolle sieht, wahren Meinungen eine wissensverbürgende, ,logosförmige Bindung an Gründe' zu garantieren, ist auch nur noch die Frage nach den formalen Eigenschaften dieser ,logosförmigen Bindung'. Die drei Attestformen selbst bilden ja lediglich das Substrat, das gerade durch die gesuchte ,logosförmige Bindung' in die Rolle des wissensverbürgenden Grundes versetzt wird. Spitzt man die Zielrichtung dieser Frage daher noch um einen letzten Grad zu, dann erkundigt man sich nach der logischen Form, durch die die drei epistemischen Attestformen a.* —c.* mit jenem platonisierenden, definitorischen Bedingungsgefüge verflochten sind, das in den gegenwärtigen Diskussionen zwar als der ausgereifteste Teil eines solchen Gefüges akzeptiert wird, aber im Rahmen von Gettier-Experimenten dieselbe formale und inhaltliche Unzulänglichkeit zeigt wie am Ende der Prüfungen im Rahmen von Platons „Theaitet". Die plausibelste informelle Antwort auf diese Frage lautet dann: wenn epistemische Atteste der Formen a.* —c.* wahr sind, dann tragen sie zum Wissen-daß-p einer Person jedenfalls und mindestens insofern bei, als sie gemeinsam die notwendige und hinreichende Bedingung für die Berechtigung dieser Person abgeben, die wahre Meinung-daß-p zu hegen. In der formalen Stilisierung fällt dies das Wissen einer Person charakterisierende Bedingungsgefüge dann offenbar so aus: jemand weiß, daß-p, dann und nur dann, wenn: 1. es ist wahr, daß-p 2. jemand meint, daß-p 3. jemand ist berechtigt zu meinen, daß-p, dann und nur dann, wenn: (i) jemand weiß, wie man zu seiner Zeit in erfolgsträchtiger Weise untersuchen kann, ob-p oder ob-nicht-p (ii) jemand hat so, wie man zu seiner Zeit in erfolgsträchtiger Weise untersuchen kann, ob-p oder ob-nicht-p, auch selbst, und zwar fehlerlos, untersucht, ob-p oder ob-nicht-p (iii) jemand hat selbst herausgefunden, daß-p.31 31
Das Know-how, um das es hier geht, zeigt zwei funktionale Seiten. Im Blick auf das propositionale Wissen, das man nur mit seiner Hilfe gewinnen kann, zeigt es alle Züge eines nichtpropositionalen Enverbswissens. Doch da man auch dies Erwerbswissen so zu gebrauchen wissen muß, daß man das jeweils intendierte propositionale Wissen effektiv gewinnt, bildet
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Doch wenn dies Bedingungsgefüge tragfähig ist — was kann die Erkenntnistheorie dann beim Platonischen Sokrates lernen? Sie kann zunächst lernen, daß es sich lohnt weiterzufragen, wenn es um die Suche nach charakteristischen Bedingungen des Wissens geht. Am Ende dieses Fragens und Suchens kann sie Gründe kennenlernen, aus denen man einsehen kann, weswegen die Hoffnung von Anfang an verfehlt ist, man könne den Begriff des Wissens definieren. Dies liegt in erster Linie daran, daß das Wissen einer Person durch dessen intrinsische Verflechtung mit dem Know-how dieser Person (Bedingung 3.(i) — (iii)) eine Komponente enthält, durch die der Charakter des Wissens situationsabhängig ist: Methoden und Techniken für den Erwerb und die Kontrolle eines Wissens-daß-p können im Laufe der Zeit (vgl. die ZeitBedingung in den beiden Wissensbedingungen 3. (i) — (ii)) durch erfolgsträchtigere Verbesserungen, Ergänzungen oder Substitutionen modifiziert werden; und Modi und Stile des Gebrauchs solcher Methoden und Techniken durch wissensbeflissene Personen können ebenfalls im Laufe der Zeit solche Wandlungen durchmachen. Bei den Zeitspannen solcher Modifikationen kann es sich um kurzfristige Situationswechsel, um längerfristige Lebensphasen, um Wandlungen zwischen Generationen oder um säkulare oder sogar epochale Gestaltwandel handeln. Und bei den Trägern solcher Modifikationen kann es sich ausschließlich um individuelle Personen oder auch um Gruppen oder sogar auch um Institutionen handeln. Die Antwort auf die Frage, ob das Hegen einer wahren Meinung-daß-p durch eine Person ein Wissen-daß-p verkörpert oder nicht, hängt daher in entsprechend vielfältiger Weise von der Antwort auf die Frage ab, mit welchem situationsabhängigen Grad authentischer Anstrengung und in welchem situationsabhängigen Modus und Stil diese Person von welchen situationsabhängig kultivierten Methoden und Techniken zum Erwerb dieser Meinung Gebrauch gemacht hat. Mit dieser vielfältigen Situationsabhängigkeit des Know-how und seines Gebrauchs durch eine Person ist eine chronische — wenngleich komparative — begriffliche Unbestimmtheit des Know-how verbunden. Sie ist es, wodurch es einem verwehrt ist, in dem Bedingungsgefüge 1. —3. (iii) eine Definition zu sehen. Diese vielfältig vermittelte Situationsabhängigkeit des Wissens hat in der kritischen Auseinandersetzung mit Gettiers Pionierarbeit vom Anfang bis
es die funktionale Kehrseite des Gebrauchswissens, mit dessen Hilfe man es zugunsten propositionaler Erfolge investiert. Wie Platon Struktur und Funktionen dieses Gebrauchswissens in seinen Dialogen darstellt, untersucht Wolfgang Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982.
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zum vorläufigen Ende, wenn auch in der Regel in indirekter Weise, eine Schlüsselrolle gespielt. Sie taucht in der Regel in Gestalt von Hilfsbegriffen auf, die von den Autoren benutzt werden, wenn sie epistemische Situationen durchleuchten, in denen Personen zwar über wahre Meinungen verfügen, aber dies Verfügen über wahre Meinungen in einer Weise von Umständen ihres Erwerbs abhängt, die mit unseren intuitiven Leitauffassungen von den charakteristischen Bedingungen des Wissens unverträglich ist. Dies ist regelmäßig dann der Fall, wenn es ^ufalligen Umständen zugeschrieben werden kann, daß eine Person über eine wahre Meinung verfügt.32 Die verzweigte erkenntnistheoretische Kasuistik, die sich inzwischen um solche Beispiele für einen zufälligen Erwerb von wahren Meinungen rankt, kann im günstigen Fall nur zwei Ergebnisse haben. Im bescheidenen Fall macht sie darauf aufmerksam, daß die paradoxen Resultate von Gettier-Experimenten auch deswegen möglich sind, weil die dritte das Wissen einer Person charakterisierende Bedingung, wonach diese zum Hegen einer Meinung-daßp berechtigt ist, übermäßig unspe^ißsch ist, weil sie die Bedingungen einer solchen Berechtigung im dunkeln läßt. Im günstigeren Fall führen sie zu der Einsicht, wie man diese Bedingung so spezifizieren kann, daß sich die wichtigsten Schwächen ihrer unspezifizierten Vorgängerversion so überwinden lassen, daß man allen wichtigen intuitiven Leitauffassungen von den das Wissen einer Person charakterisierende Bedingungen gerecht wird. Die wichtigste Schwäche des klassischen Bedingungsgefüges — also der Bedingungen 1. —3., aber ohne 3. (i) —(iii) — zeigt sich in einem formalen Indiz: die Berechtigung einer Person zum Hegen einer Meinung-daß-p ist verträglich damit, daß sie diese Meinung in einer zufalligen Weise erworben hat; die Zufälligkeit dieses Erwerbs ist indessen unverträglich mit dem Wissenscharakter des Habitus, in dem eine Person über einen wahren Satz-daß-p verfügt. Auch Platon hat von Anfang an gesehen, was für komplizierte und von Zufälligkeiten geprägte Beziehungen sich zwischen den kognitiven Dispositionen, Einstellungen und Aktivitäten abzeichnen, wenn man die dynamischen Faktoren in Rechnung stellt, die durch das Know-how einer Person — oder durch dessen Ermangelung — mit diesen Dispositionen, Einstellungen und Aktivitäten verflochten sind. Im „Menon" faßt er nicht nur eine Situation ins Auge, in der eine Person, die noch niemals mit mathematischen Fragen in Berührung gekommen ist, zum ersten Mal und im Rahmen einer geometrischen Übungslektion eine Erfahrung ,entdeckenden Lernens'33 32
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Den Anfang mit solchen Erörterungen macht Michael Clark, Knowledge and Grounds: A Comment on Mr. Gettier's Paper, in: Analysis 24 (1963), S. 46 —8; zum vorläufigen Ende vgl. vor allem Craig, a. a. O. S. 56 ff., 59 ff, 62 ff. So lautet der programmatische Titel einer chronisch aktuellen didaktischen Konzeption, vgl. C. Neber (Hg.), Entdeckendes Lernen, Weinheim 31994.
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macht, indem sie zu der wahren Meinung gef hrt wird, da ein ber der Diagonale eines gegebenen Quadrats konstruiertes Quadrat doppelt so gro ist wie das gegebene Quadrat. Vor allem sagt Platon von einer Person, die unter solchen Umst nden wahre Meinungen erworben hat, da ihr diese von ihr erworbenen wahren Meinungen (nach ihrem Erwerb) wie im Traum begegnen (αύτω ώσπερ οναρ ... άνακεκίνηνται αϊ δόξαι αύται (seil, αληθείς) Men. 85c 9 — 10), also so, da eine solche Person gerade die Wege nicht in authentischer Weise kontrollieren kann und daher auch nicht in authentischer Weise Rechenschaft ber die Wege ablegen kann, auf denen man in kontrollierbarer und erfolgstr chtiger Weise diese wahren Meinungen erwerben kann. Platons Traumanalogie ist in diesem speziellen erkenntnistheoretischen Kontext daher in der einen Hinsicht ein Hilfsmittel, mit dem er darauf aufmerksam macht, da die Zuf lligkeit des Erwerbs einer wahren Meinung in erster Linie auf die pers nliche, habituelle oder dispositionelle Verfassung des Inhabers einer so erworbenen Meinung zur ckzuf hren ist. Diese Verfassung unterscheidet sich von der des Wissenden charakteristischerweise so, da sie derjenigen analog ist, in der jemand wahre Meinungen lediglich tr umt. In der anderen Hinsicht ist diese Traumanalogie ein Hilfsmittel, um die Unvertr glichkeit zwischen einem Wissen-da -p und der Zuf lligkeit des Erwerbs der wahren Meinung-da -p in suggestiver Weise zu pointieren. Doch wie es sich f r ein Indiz geh rt, das diesen Namen verdient, weist auch dies formale Indiz der Unvertr glichkeit in die Richtung, in der man sich mit berechtigter Aussicht auf Erfolg an einer berwindung der Schw che des klassischen Bedingungsgef ges versuchen kann. Es orientiert n mlich ber den sachlichen Aspekt, unter dem einem solchen Versuch der intendierte Erfolg beschieden sein kann: dieser Versuch hat dann Erfolg, wenn er eine — oder mehr als eine — Bedingung ermittelt, in deren Licht der Modus des Erwerbs einer wahren Meinung durch eine Person die charakteristische Qualifikationsh rde f r jeden Wissensdurstigen ist. Eine solche Bedingung liefert das methodisch-technische Know-how, mit dessen Hilfe eine Person in einem Feld ihrer Orientierung, Suche, Untersuchung oder Forschung wahre Meinungen ber Elemente dieses Feldes erwirbt. Denn zuf llig f llt der Erwerb einer wahren Meinung-da -p durch eine Person immer nur relativ zu einem bew hrten epistemischen Ma aus: sowohl die authentischen Anstrengungen wie die Erfolgstr chtigkeit des methodischtechnischen Know-how, die von dieser Person in den Erwerb dieser Meinung investiert werden, verfehlen ein solches Ma in mindestens einer relevanten Hinsicht, so da sie diese Meinung eben insofern in zuf lliger Weise erwirbt. Sogar im raffiniertesten Gettier-Experiment verfehlt das epistemische Subjekt mit der neuralgischen wahren Meinung-da -p, die es sich zuf lligerweise' zu
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eigen gemacht hat, ein Wissen-daß-p denn auch durchgängig wegen irgendeines Mangels an Sorgfalt, Umsicht, Gründlichkeit, Skepsis oder irgendeiner anderen pragmatischen Tugend für den Gebrauch eines methodisch-technischen Know-how oder aber wegen irgendeines Mangels an einem einschlägigen Know-how selbst. Der intrinsische Zusammenhang zwischen der Zufälligkeit eines Erwerbs von wahren Meinungen und einem epistemischen Maß, das solche Zufälligkeiten auf ein defizitäres Know-how oder auf defizitäre Modi seines Gebrauchs zurückführt, wird sogar in der jeweiligen Gestalt des Versuchsleiters eines Gettier-Experiments greifbar. Denn dieser Versuchsleiter ist nicht nur regelmäßig über genau die Tatsachen informiert, über die die Versuchsperson, also das eigentliche epistemische Subjekt, gerade nicht informiert ist, so daß der wahren Meinung des epistemischen Subjekts auch wegen dieses Informationsdefizits der Gestaltwandel zu einem Wissen verwehrt zu sein scheint. Damit sind die Fiktionen, durch die das epistemische Format des Versuchsleiters eines Gettier-Experiments charakterisiert ist, noch nicht erschöpft. Ihre Klimax erreichen diese Fiktionen erst im Rahmen einer weiteren stillschweigend befolgten Regel. Diese erlaubt es jedem Veranstalter eines solchen Experiments, systematisch von allen Techniken, Methoden, Modi und Stilen zu abstrahieren, ohne deren Zuhilfenahme überhaupt kein Mensch auch bloß über eine einzige von den Informationen bzw. wahren Meinungen verfügen könnte, über die dieser Versuchsleiter selbst jedesmal mit traumwandlerischer Sicherheit verfügt. Der Versuchsleiter eines Gettier-Experiments wird insofern wie ein Wesen eingeführt, das über seine Informationen bzw. wahren Meinungen ohne jedes authentische Zutun, und daher auch ohne Zeitverlust und ohne Anstrengung verfügt — also wie ein Gott.34 Holt man diese deifizierte epistemische Superinstanz, analog wie es Cicero von Sokrates' geschichtlichem Verdienst um die Philosophie gesagt hat, aus dem erkenntnistheoretischen Himmel herunter, in dem sie mit der Souveränität eines autonomen Drehbuchautors epistemische Rollen erfindet, diese Rollen mit der Souveränität eines autonomen Regisseurs mit epistemischen Subjekten besetzt und diese Subjekte mit der Souveränität einer allwissenden oder weisen Instanz mit Informationen bzw. wahren Meinungen ausstattet, die außerdem auch noch souverän kalkulierte Defizite enthalten, und versetzt diesen epistemischen deus ex machina auf die erkenntnistheoretische Erde
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Vgl, hierzu auch wieder Craig, Abschn. IV., bes. S. 122 f., der auf mehr oder weniger verkappte deistische Elemente in der überlieferten Erkenntnistheorie aufmerksam macht, allerdings ohne die quasi-deistischen Fiktionen zu durchschauen, von denen die Rolle des Versuchsleiters eines Gettier-Experiments getragen wird.
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der mehr oder weniger anstrengenden und zeitraubenden Modi des Wissenserwerbs wirklich lebender Menschen — dann verlieren Gettier-Experimente endgültig auch den letzten Anschein, Experimente zu sein, die diesen Namen verdienen würden. Pseudo-Experimente sind sie ganz einfach deswegen, weil die Regeln ihrer Durchführung ihren Veranstaltern die planmäßige Möglichkeit eröffnen, nicht das geringste epistemische Risiko einzugehen. PseudoExperimente a la Gettier sind zum Erfolg verurteilt. Ihre Veranstalter befolgen die gemeinsame Regel, daß jeder von ihnen gänzlich souverän verfügen darf, worin der Zufall besteht, an dem der Wissensanspruch des jeweiligen epistemischen Subjekts scheitert. Durch diese Souveränitätsregel sind die Veranstalter von Fallerörterungen a la Gettier hermetisch abgeschirmt gegen alle Zufälligkeiten des Erwerbs der wahren Meinungen, über die sie exklusiv verfügen. Alle Fragen nach irgendwelchen kontrollierbaren und erfolgsträchtigen Methoden und Techniken ihres Erwerbs dieser wahren Meinungen sind systematisch abwegig. Diese wahren Meinungen und ihre Inhalte erschöpfen sich in der Rolle, die kognitiven und informatorischen Defizite der eigentlichen epistemischen Subjekte in den Szenarios dieser Fallerörterungen anzuzeigen und zu konkretisieren. Ihrer Herkunft nach könnten sie, wie der epistemische deus ex machina, der souverän über sie verfugt, auch vom Himmel gefallen sein.
XI
Doch welches sind unter diesen Voraussetzungen die ,irdisch-menschlichen', also alt pragmatischen Funktionen, die durch die epistemische Rollenverteilung abgebildet werden, die in einem Szenario a la Gettier angesichts des Anteils des Zufalls am Erwerb wahrer wie auch falscher Meinungen vorgezeichnet ist? Die Antwort liegt fast schon auf der Hand: jeder Wissensbeflissene ist, zumindest potentiell, auf einen guten Informanten angewiesen.35 Die scheinbare epistemische Superinstanz, die in jedem Szenario ä la Gettier auftaucht und in diesem Rahmen regelmäßig in exklusiver Weise über genau die Informationen bzw. wahren Meinungen verfügt, an denen es dem eigentlichen epistemischen Subjekt jeweils in so neuralgischer Weise mangelt, diese Instanz ist der geborene Kandidat für die Rolle des guten Informanten. 35
Die Orientierung am pragmatischen Erfordernis eines guten Informanten gibt bei Craig das wichtigste heuristische Hilfsmittel für die Beantwortung der Frage nach Bedingungen des Wissens ab, vgl. a. a. O. S. 42 ff., besonders die „Hypothese ..., das Bedürfnis nach dem guten Informanten sei der pragmatische Kern des Wissensbegriffs", S. 58.; vgl. zu dieser Hypothese jedoch unten S. 14242.
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Die unüberschaubar vielfältig gewordenen Gettier-Szenarios spiegeln daher durch diese pragmatische Tiefengrammatik ihrer konstanten epistemischen Rollenverteilung nicht mehr und nicht weniger als eine conditio humana: jeder Mensch ist angesichts der Zufälle, die auch an den kontrollierbarsten und erfolgsträchtigsten methodisch-technischen Formen des Erwerbs von wahren Meinungen beteiligt sind, wenigstens potentiell auf einen guten Informanten angewiesen. Dieser kann im niemals ganz unwahrscheinlichen Bedarfsfall helfen, ein informatorisches oder kognitives Defizit auszugleichen. Indessen kann jeder Mensch mit dem ständigen Wechsel seiner Situationen wechselweise in die Rollen eines Informationsbedürftigen und eines guten Informanten geraten. Aus diesem Wechselspiel von kognitiven und informatorischen Defiziten bzw. Vorsprüngen unter den Menschen entspringen bekanntlich chronisch praktische Risiken und Chancen. Ihretwegen sind sie darauf angewiesen, epistemische Solidarität zu üben. Sie sind also darauf angewiesen, wechselseitig auf diese Defizite und Chancen aktiv Rücksicht zu nehmen, also insbesondere solche Defizite nicht nur nicht vorsätzlich oder fahrlässig sich selbst zu überlassen, sondern nach Bedarf und nach Kräften zu ihrem Ausgleich beizutragen - also die Rolle des guten Informanten wahrzunehmen. Die Solidarität, die der gute Informant übt, wenn er in seiner Rolle tätig wird, ist daher eine praktische Form, dafür zu sorgen, daß das Störpotential nicht allzu wildwüchsig wird, das der Zufall für die Bemühungen um wahre Meinungen und um Wissen in unvermeidlicher Weise ohnehin mit sich bringt. In seiner Sokrates-Gestalt hat Platon nicht zuletzt auch ein Muster tätiger didaktischer Solidarität mit literarischen Mitteln in Szene gesetzt. Nicht nur läßt Platon diesen Sokrates keinen Schritt tun, ohne daß dieser sich zuvor nach allen Regeln der Kunst darum bemüht hätte, seinen jeweiligen Gesprächspartner über die Fragen, Tatsachen, Hypothesen, Argumente, Begriffe, Methoden oder Kriterien zu verständigen, die man sich zunächst zu eigen gemacht haben muß, wenn man diesen Schritt gemeinsam tun will. In allen diesen Punkten ist methodische Gemeinsamkeit nötig, wenn ein freundschaftliches und kunstvolles Gespräch' (Menon) gelingen soll. Um dieser methodischen Gemeinsamkeit willen läßt sich der platonische Sokrates auf Umwege, Holzwege und andere Irrwege seiner Gesprächspartner mit derselben freundschaftlichen und kunstvollen Anstrengung ein wie auf Wege, die sich durch häufige Erprobung als erfolgsträchtig erwiesen haben und im Licht von entsprechenden Regeln kontrolliert werden können.36 Das einfach36
Sokrates verkörpert daher in seiner literarischen platonischen Gestalt nicht nur nach außen, für die aus der Öffentlichkeit kommenden Leser der Dialoge, ein Muster didaktischer Solidarität. Georg Picht hat in seiner Auslegung von Platons „Nomoi" plausibel gemacht, inwiefern sogar die ganze platonische „Akademie ... nicht zuletzt als eine Institution gedacht
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ste und daher auch am besten zu durchschauende Muster einer solchen am Ziel eines Wissenserwerbs orientierten solidarischen Interaktion hat Platon mit der geometrischen Übungslektion des „Menon" inszeniert. Der Sklave, der in dieser Szene als Sokrates' Gesprächspartner auftaucht, wird von Sokrates nicht einfach an einer bewährten Methode zur Konstruktion eines Quadrats beteiligt, das doppelt so groß wie ein gegebenes Quadrat ist. Er wird auch nicht bloß ausschließlich durch Sokrates' geschickte Fragen zu der wahren Meinung über das Resultat einer solchen Quadratverdoppelung geführt. Er wird von Sokrates noch nicht einmal bloß mit aller methodischen Umsicht und Rücksicht zur Einsicht in die ihm widerfahrenden Irrtümer ebenso geführt wie zur Einsicht in mögliche Auswege aus diesen Irrtümern. Vor allem kommentiert Sokrates die epistemisch wichtigen Knotenpunkte dieser methodisch schwierigen Form des Erwerbs einer wahren geometrischen Meinung durch Diagnosen, die diese Erwerbs form als ein Wechselspiel beschreiben, in dem jemand zunächst zu wissen meint, obwohl er nicht weiß, sodann seinen Irrtum durchschaut und nicht mehr zu wissen meint, aber umso lieber suchen, lernen und finden möchte, um zu wissen,37 jedoch am Ende — und das auch noch bloß wie im Traum — lediglich eine wahre Meinung anstelle des angestrebten Wissens hat. Alle Formen didaktischer Solidarität, die Sokrates in dieser einem Wissenserwerb gewidmeten dialogischen Interaktion praktiziert, kommen indessen mit demselben Grad an methodischer Kunstfertigkeit auch in dem unvergleichlich viel komplizierteren, erkenntnistheoretischen Fragenkreis des „Theaitet" zum Zuge. Das Solidaritätsmuster, das Platon seinen Sokrates damit auch in einem erkenntnistheoretischen Kontext praktizieren läßt, führt ein pragmatisches Grundmuster vor Augen, durch das sich Platons erkenntnistheoretische Inszenierung des „Theaitet" tiefgreifend von einem GettierSzenario unterscheidet. Denn das epistemische Subjekt eines Gettier-Szenarios wird vom erkenntnistheoretischen Drehbuchautor, Regisseur und Wächter des jeweiligen Szenarios — heiße er nun Gettier, Clark, Goldmann, Nozick, Chisholm oder anders — in der Regel gleichsam im Stich gelassen. Der Autor des jeweiligen Szenarios verharrt in der Rolle eines in praktischer Hinsicht nicht nur unbeteiligten, sondern auch teilnahmslosen Beobachters, der sich strikt darauf beschränkt, mit Mitteln eines erkenntnistheoretisch trainierten Situationsanalytikers die informatorischen und kognitiven Defizite des
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(war), die eine neue geistige Form der politischen Solidarität begründen sollte", Georg Picht, Platons Dialoge „Nomoi" und „Symposion". Mit einer Einführung von Wolfgang Wieland, Stuttgart 1990, S. 102. Ein Muster didaktischer Solidarität gibt Platons literarische SokratesGestalt daher auch nach innen, für die Mitglieder der Akademie selber ab. Vgl. Men. 84a-d.
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jeweiligen epistemischen Subjekts zu durchleuchten und zu diagnostizieren. Das epistemische Subjekt selbst bleibt indessen der Rolle des blinden Opfers dieser seiner Defizite ausgeliefert.38 Doch es sind nicht zuletzt die Gestalten dieser Blindheit, denen Sokrates vorzubeugen und abzuhelfen sucht, wenn er sich mit allen Mitteln seiner Kunstfertigkeit an den erkenntnistheoretischen Bemühungen eines Gesprächspartners wie Theaitet beteiligt. Diese Bemühungen Theaitets fallen zwar vergleichsweise sehr komplex aus. Denn er wird nun einmal sogleich am Anfang nicht nur als erkenntnisbeflissener und wissensdurstiger Mathematikstudent und als erkenntnistheoretischer Amateur eingeführt, sondern auch als jemand, der das Know-how der Handwerker für eine ernstzunehmende Form von Erkenntnis und Wissen hält und nicht zuletzt auch in der Wahrnehmung eine genuine Quelle des Wissenserwerbs sieht. Wie Platon zeigt, ist Theaitets methodische Kunstfertigkeit im Umgang mit erkenntnistheoretischen Fragen viel zu unterentwickelt, um aus eigener Kraft eine so komplexe Mitgift durchleuchten zu können. Das Maß dieser Unterentwicklung ist so groß, daß Theaitet auch die einfachste skeptische Frage, durch die Sokrates ihm zu helfen sucht, diese Mitgift zu durchleuchten, nicht ohne formale oder inhaltliche Fehlleistungen beantworten kann. Doch jede dieser Fehlleistungen signalisiert auch, daß Theaitet für irgendwelche Aspekte blind ist, die eine gelungene Antwort auf die jeweils gestellte Frage berücksichtigen würde. Die sokratische Solidarität bewährt sich daher in erster Linie durch Bemühungen, die darauf zielen, einem Gesprächspartner die Augen für die Aspekte zu öffnen, durch deren Berücksichtigung er die mißlungene vorläufige Antwort verbessern könnte. Ihr Fernziel sucht diese Solidarität indessen durch das Bestreben, einem Gesprächspartner die Augen über sich selbst zu öffnen, nämlich über die Wichtigkeit der Antwort auf die Frage, unter welchem Aspekt er sich selbst mit einem leibhaftigen Musterexemplar aus dem Definitions- und Anwendungsbereich eines gesuchten personalen Begriffs identifizieren könne, also beispielsweise mit einem leibhaftigen Musterexemplar aus dem Definitions- und Anwendungsbereich des Wissensbegriffs. Die Teilbedingungen 3. (i) — (iii) des für das Wissen charakteristischen Bedingungsgefüges (vgl. oben S. 128 f.) können daher nicht nur zeigen, daß es der Know-how-Aspekt des Wissens ist, wofür Theaitet trotz aller Sokratischen Anstrengungen so blind geblieben ist, daß er auch am Ende des Dia-
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Es bleibt daher das unbestreitbare Verdienst der Arbeit von Craig, die Analyse von GettierSzenarios in einem ersten Schritt für jene pragmatische Dimension geöffnet zu haben, in der auch die Rolle des guten Informanten zu Hause ist, für die sich die epistemische Superinstanz eines Gettier-Szenarios so überaus passend eignet.
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logs noch nicht sieht, unter welchem Aspekt er sich selbst mit einem leibhaftigen Musterbeispiel aus dem Definitions- und Anwendungsbereich des Wissensbegriffs identifizieren kann. Dieselben Teilbedingungen zeigen außerdem, daß Theaitet eben diese Bedingungen durch seine — wie auch immer vorläufige — mathematische Kompetenz in einer Weise verkörpert, die Sokrates' Bemühungen um eine treffliche Reflexion Theaitets auf diese Bedingungen sogar über das vordergründige, literarisch inszenierte, Scheitern des Dialogs hinaus rechtfertigt. Indem Sokrates seine letzten Worte im Dialog von sich aus nutzt, um sich mit Theaitet auf den nächsten Tag für eine Fortsetzung ihres Dialogs zu verabreden,39 signalisiert er, daß er Theaitets Angewiesenheit auf erkenntnistheoretische Hilfestellungen so ernst nimmt, aber auch für so fruchtbar hält, daß er ihm seine didaktische Solidarität auch über den Tag hinaus bewahren und zuwenden will.
XII
Von der Gestaltung eines Gettier-Szenarios unterscheidet sich die Platonische Gestaltung des sokratischen erkenntnistheoretischen Dialogs also weder ausschließlich durch das inszenierte Solidaritätsmuster (vgl. oben S. 134 ff.) noch ausschließlich durch das inszenierte Identifikationsmuster (vgl. oben S. 110 — 2,126 ff.), sondern vor allem durch das Zusammenspiel beider Muster: Sokrates' Solidarität mit der erkenntnistheoretischen Hilfsbedürftigkeit und Fruchtbarkeit seines Gesprächspartners kommt erst dann in ihr Ziel, wenn es ihm gelungen ist, diesen Gesprächspartner nicht nur von zutreffenden Aussagen über Struktur-Komponenten des Wissens gleichsam zu entbinden, sondern auch noch zu der Einsicht zu führen, inwiefern er sich selbst mit einem leibhaftig personifizierten Beispiel solcher Strukturkomponenten identifizieren kann. Die Wissensbedingungen 3. (i)-(iii), die von Theaitet, ganz unbeschadet der Vorläufigkeit seiner mathematischen Kompetenz, dennoch in leibhaftiger Weise personifiziert werden, bleiben allerdings nicht nur im Rahmen des Dialogs im dunkeln. Auch in der Wirkungsgeschichte von Gettiers Pilot-Arbeit führen sie zumindest ein Schattendasein. Umso mehr fällt auf, daß die wichtigste Bedingung (iii) aus dieser Trias sogleich in der allerersten dokumentierten Auseinandersetzung mit dieser Arbeit klar und bündig in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt worden ist: „Knowing implies having found out".40 Der Autor dieser These hat aber im selben Atem39
Vgl. Tht. 210 d 3 ff.
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Clark a. a. O. S. 48.
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zug und mit derselben Treffsicherheit auch sofort auf den Umstand aufmerksam gemacht, daß Gettier-Szenarios in einer außerordendich klärungsbedürftigen Weise die ominöse Rolle widerspiegeln, die Zufalle im Zuge des Erwerbs jenes Wissens-daß-p spielen, an dem dies Ausfindig-machen-daß-p charakteristischerweise beteiligt ist.41 Mit diesen beiden Reflexionen hat Clark daher die Perspektive auch für die beiden anderen Bedingungen (i) und (ii) dieser Trias geöffnet. Denn (mehr oder weniger) zufällig ist ein solcher Erwerb immer nur relativ zu irgendeinem methodisch-technischen Know-how (3. (i)) oder zu einem Modus seines Gebrauchs (3. (ii)). Beispielsweise in dem Gettier-Lavoisier-Szenario (vgl. oben S. 103 — 5, 109 ff.) ist es insofern nicht zufällig, daß Lavoisier nicht weiß, daß Chlor an der Konstitution von Salzsäure beteiligt ist, als er noch gar nicht über das methodisch-technische, elektrolytische Know-how verfügt, ohne dessen Zuhilfenahme man Salzsäure nicht in ihre konsumtiven Elemente zersetzen kann. Stellt man indessen - gewissermaßen in einer diachronen, für die Wissenschaftsgeschichte geöffneten epistemischen Solidarität — die relevanten realgeschichtlichen Umstände von Lavoisiers Leben mit der gehörigen Portion Zutrauen in Rechnung, dann kann man sich, unter demselben Knowhow-Aspekt, genauso die zufälligen Züge dieses nicht-Wissens plausibel machen. Denn wenn Lavoisier nicht im Jahre 1794 im Alter von 51 Jahren dem Terror der revolutionären Wirren in Paris zum Opfer gefallen wäre, sondern das Emeritierungsalter eines Professors erreicht hätte, dann wäre er gewiß mit den bis dahin entdeckt gewesenen elektrolytischen Untersuchungsmethoden vertraut gewesen (Bedingung 3.(i)), hätte sie mit Gewißheit selbst zu Hilfe genommen und selbst untersucht, z. B. ob Chlor an der Konstitution von Salzsäure beteiligt ist oder nicht (Bedingung 3.(ii)) und hätte gewiß auch selbst herausgefunden, daß es sich so verhält (Bedingung 3.(iii)). Vielleicht wäre er sogar selbst noch zum Entdecker der Elektrolyse geworden. Und sogar noch in einer dritten Hinsicht kann man am Leitfaden des Lavoisier-Szenarios plausibel machen, inwiefern Gettier-Szenarios die Frage nach dem methodisch-technischen Know-how des Wissenden gerade durch die Rolle provozieren, die in ihrem Rahmen der Zufall spielt. Denn es ist ebenfalls zufallig, daß Lavoisier wußte, daß es ein von Wasserstoff verschiedenes elementares Gas gibt, das an der Konstitution von Salzsäure beteiligt ist. Denn der dies Wissen formulierende wahre Satz ist mit Hilfe eines elementaren logischen Know-how — zusammengefaßt in der Regel der Existenzgeneralisierung — aus dem falschen, aber Lavoisiers Meinung formulierenden Satz gewonnen, daß Sauerstoff dasjenige von Wasserstoff verschiedene elementare 41
Vgl. a. a. O. S. 46 ff.
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Gas ist, das an der Konstitution von Salzsäure beteiligt ist. Der wahre Satz ist also gerade nicht durch eine experimentelle Untersuchung der elementaren Zusammensetzung von konkreten Portionen von Salzsäure gewonnen worden, sondern durch die logische Umformung einer falschen Aussage über die elementare Zusammensetzung von Salzsäure. Aber die Wahrheit des so gewonnen Satzes und das logische Know-how seines Gewinns können das Fehlen der methodischen Untersuchungstechnik nicht wettmachen, deren Fehlen Lavoisier gerade dazu verurteilt, die elementare Zusammensetzung von Salzsäure nicht erkennen oder entdecken zu können und daher auch keine konkreten wahren Aussagen über sie treffen zu können. Mit dem Gewinn an Wahrheit, den der abgeleitete Satz beschert, könnte man sich nur um den Preis zufrieden geben, daß man auf die konkrete Erkenntnis der elementaren Zusammensetzung von Salzsäure verzichtet. Der abgeleitete Satz vermeidet die Falschheit des Satzes, aus dem er abgeleitet ist, ja ausschließlich um den Preis, daß er durch seine Wahrheit auch im günstigsten Fall allenfalls eine Schwundform eines Wissens seines Benutzers signalisiert. Nun ist zwar die semantische Eigenschaft eines Satzes, wahr zu sein, ohnehin nur ein unspezifisches und daher unzuverlässiges Indiz für die personale Eigenschaft seines Benutzers, ein Wissender zu sein. Und hinzu kommt in diesem konkreten Fall noch, daß die Wahrheit des abgeleiteten Satzes in einem präzisen Sinne selber zufällig ist: die Ableitung eines Satzes aus einem anderen, falschen Satz kann auch dann korrekt sein, wenn der abgeleitete Satz falsch ist. Ausschlaggebend bleibt daher, daß die Wahrheit des abgeleiteten Satzes lediglich eine Schwundform eines Wissens seines Benutzers deswegen signalisiert, weil er bloß das Resultat einer logischen Ableitung formuliert, aber — im Widerspruch zu den Bedingungen 3. (i) — (iii) — nicht das Resultat einer kontrollierbaren und erfolgsträchtigen methodisch-technischen Untersuchung von Portionen von Salzsäure, durch die Lavoisier ausfindig gemacht, entdeckt oder erkannt hätte, welches von Wasserstoff verschiedene elementare Gas — außer Wasserstoff selbst — an der Konstitution von Salzsäure beteiligt ist. Der wahre abgeleitete Satz formuliert also deswegen kein authentisches Wissen Lavoisiers, weil er in der realen wissenschaftsgeschichtlichen Situation Lavoisiers weder eine Entdeckung noch eine banalere Erkenntnis formuliert, wie Lavoisier sie in Übereinstimmung mit den Bedingungen 3. (i) — (iii) in authentischer Weise zuwege gebracht hätte. In jedem Gettier-Szenario spielen daher nicht nur sowohl wahre wie auch falsche Meinungen unterschiedliche Rollen. Die Unterschiede zwischen diesen Rollen hängen hauptsächlich von den Unterschieden zwischen den Formen des Erwerbs dieser Meinungen durch die beteiligten Personen ab. Die Unterschiede zwischen diesen Erwerbsformen hängen ihrerseits vom Typ,
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vom Maß, vom inneren Differenzierungsgrad, von der Kontrollierbarkeit und von der Erfolgsträchtigkeit des methodisch-technischen Know-how ab, das die beteiligten Personen in den Erwerb der von ihnen gehegten Meinungen — ob wahr oder ob falsch — investiert oder aber nicht investiert haben. Wenn es in Gettier-Szenarios — wie im wirklichen Leben — unter anderem auch von Zufällen abhängt, welche wahren oder welche falschen Meinungen Personen hegen und welche nicht und über welches Wissen sie verfügen oder nicht verfügen, dann muß man den sog. ,logischen Ort' für diese Zufälle in den Formen des Erwerbs suchen, in denen sich diese Personen ihre Meinungen bzw. ihr Wissen zu eigen gemacht oder sich ihr nicht-Wissen eingehandelt haben. Zufälle, von denen das Erreichen oder das Verfehlen eines Zieles abhängt, passieren immer nur auf dem Weg zu diesem Ziel, aber nicht, sofern man es schon erreicht hat. Das gilt sogar noch für diejenigen Zufälle, die dazu führen, daß man sich über das Erreichen des Zieles oder über das Ziel selber täuscht. Damit fällt dem methodisch-technischen Wissen-wie einer Person eine Tragweite zu, die man allerdings noch gar nicht zureichend erfaßt hat, wenn man in ihm ausschließlich eine von den charakteristischen Bedingungen des Wissens-daß-p einer Person sieht, sei es auch in der differenzierten Form der Bedingungen 3. (i) —(iii). Denn außer diesem so differenzierten Wissen-wie ist in der Struktur des Wissens-daß-p, das durch die Bedingungen 1. —3. (iii) charakterisiert ist, gar keine andere Komponente sichtbar, aus der man plausibel machen könnte, inwiefern sich ein Wissen einer Person überhaupt noch von einer wahren Meinung-daß-p unterscheidet, ohne von einem Know-how in der differenzierten Form der Bedingungen 3. (i) —(iii) abhängig zu sein. Damit zeichnet sich eine Auffassung von der Struktur des Wissens-daß-p ab, die strikt zwischen einem propositionalen Kern dieses Wissens und diesem Wissen selbst unterscheidet, das diesen Kern gleichsam wie ein Kraftfeld umgibt. Die Quelle der Kraft, die diesen Kern umgibt, findet sich jeweils im Know-how der Person, die diesen propositionalen Kern eben kraft ihres Know-how mehr oder weniger stark an sich bindet. Die Stärke dieser Bindung hängt vom Entwicklungsniveau dieses Know-how und vom Grad der Tüchtigkeit ab, mit der eine Person von ihm Gebrauch macht. Wie Platon zu verstehen gibt, kann eine solche Bindung auf dem niedrigsten Entwicklungsniveau des Know-how einer Person so verschwindend schwach wie im Traum sein (vgl. oben S. 131 f., 135 f.). Ist dieser propositionale Kern indessen wahr und macht eine Person ihn sich kraft eines hinreichend kontrollierbaren und hinreichend erfolgsträchtigen Know-how in authentischer Weise zu eigen, dann bindet sie diesen propositionalen Kern in so starker und so gerechtfertigter Weise an sich, daß sie weiß-daß-p.
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Die Bindekräfte des Know-how haben ein Format, das es sogar erlaubt, eine sachliche und eine begriffliche Härte zum Verschwinden zu bringen, mit der das klassische, von Platon diskutierte und verworfene, Definitionsschema belastet ist. Auf diese Härte kann man durch die skeptische Frage aufmerksam werden, ob denn bei der Charakterisierung der Struktur des Wissensdaß-p alles mit rechten Dingen zugehe, wenn man eine charakteristische Komponente dieses Wissens ausgerechnet in der Meinung-daß-p sieht, ganz unbeschadet des Umstandes, daß diese Meinung im Fall des Wissens wahr ist. Im Licht des erweiterten Bedingungsgefüges l. — 3. (iii) kann man indessen plausibel machen, inwiefern in diesem Punkt alles mit rechten Dingen zugeht. Denn ein Know-how ist durch sein nicht-propostionales, methodisch-technisches wie-Format zunächst einmal kategorial sowohl von einem (propositionalen) Wissen-daß-p wie auch von einem (propositionalen) Meinen-daß-p verschieden. Gleichwohl ist auch es intrinsisch mit einer Erfolgsbedingung seines Gebrauchs verflochten, die propositionales Format hat: man kann mit seiner Hilfe ausfindig machen, ob-p oder ob-nicht-p. Gleichwohl ist ein Know-how durch diese intrinsische Erfolgsbedingung seines Gebrauchs nicht auch darauf festgelegt, daß sein Inhaber und Benutzer zu dem von ihm jeweils erzielten Erfolg im Modus des Meinens oder in einem anderen propositionalen Modus Stellung nimmt. Dieser Erfolg hat zwar jedesmal selbst ein propositionales Format und ist als Erfolg auch an die Ausweisbarkeit durch einen wahren Satz gebunden. Doch die intrinsische Verflechtung eines solchen Erfolgs mit einem methodisch-technischen Know-how prägt diesem Erfolg auch ausschließlich die Züge eines Fundes, einer Entdeckung, einer Erkenntnis, einer Einsicht oder eines anderen Elements aus der Kategorie der kognitiven Leistungen auf. Doch gerade deswegen ist es nicht überflüssig, sondern nötig zu klären, in welchem Modus das Subjekt eines solchen Erfolgs sowohl zur Tatsache wie zum Inhalt dieses Erfolges Stellung nimmt. Ohne eine solche Stellungnahme wäre es ja möglich, daß einem Subjekt eines solchen Erfolgs gar nicht bewußt ist, daß es ihn erzielt hat und worin er besteht. Gerade im Rahmen des weiteren Bedingungsgefüges für das Wissen zeigt sich also, daß der Meinungsmodus den Modus festlegt, durch den der Wissende dafür sorgt, daß der Erfolg, den er mit Hilfe seines Know-how erzielt hat, zum einen nicht wie im Schlaf an ihm vorüberzieht und zum anderen von ihm mit einem Wahrheitsanspruch verbunden werden kann. Gleichzeitig trägt der Meinungsmodus zwei anderen wichtigen Komponenten der Situation des Wissenden Rechnung: der propositionale Kern der Meinung unterliegt der wahr-falsch-Differenz; und kein noch so erfahrener Inhaber und kein noch so tüchtiger Benutzer eines auch noch so ausgereiften Know-how
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kann garantieren, daß nicht irgendwelche störenden Zufalle dafür sorgen, daß die Meinung, durch die er zu einem von ihm erzielten Resultat seiner Erkenntnisbeflissenheit Stellung nimmt, irrig ist. Damit zeichnet sich eine in doppelter Hinsicht paradoxe Auffassung vom Wissen ab: der Wissende hegt im Rahmen seines Wissens eine Meinung, ohne die er kein Wissender wäre; und der Wissende kann im Rahmen seines Wissens irren, ohne deswegen aufzuhören, ein Wissender zu sein. Doch diese Auffassung vom Wissen kann nur so lange paradox anmuten, wie man sich der Oberflächengrammatik des Wissen-daß anvertraut, ohne sich daran zu erinnern, wie dies scheinbar rein propositionale Wissen geradezu in symbiotischer Weise mit den leibhaftigen Aktivierungen des methodisch-technischen Know-how der Person verflochten ist, die ein solches propositionales Wissen jeweils zuwege bringt. Das methodisch-technische Wissen-wie einer Person ist im Funktionsgewebe von deren Wissen die einzige überhaupt wissensförmige Komponente, von der die Wissensförmigkeit ihres Wissens-daß-p abhängen kann. Sie weiß daher in uneingeschränkter Form auch dann, wie man zu ihrer Zeit in kontrollierbarer und erfolgsträchtiger Weise ausfindig machen kann, ob-p oder ob-nicht-p, wenn sie in einem gelegentlichen konkreten Einzelfall irrigerweise meint, daß-p, oder irrigerweise meint, daß-nicht-p, und also nicht weiß, daß-nicht-p, bzw. nicht weiß, daß-p*2 Es ist daher denkwürdig, daß ein richtungweisender moderner erkenntnistheoretischer Beitrag zur Rolle des Know-how im Funktionsgewebe des Wissens von einem so gründlichen Platon-Kenner wie dem englischen Philosophen Gilbert Ryle stammt. Die sachliche Tragweite, die die systematische Berücksichtigung dieser Wissens-Komponente mit sich bringt, ist am treffendsten von dem Chemiker und Philosophen Michael Polanyi zugespitzt worden. Er spricht in diesem Zusammenhang von personalem Wissen („personal knowledge"). Der leitende Gedanke bei dieser Umschreibung ist ganz einfach. Von einem Satz, sogar von einem wahren Satz, kann man sich durch 42
Deswegen ist die Hypothese von Craig irrig, wonach das Bedürfnis nach einem guten Informanten den pragmatischen Kern des Wissensbegriffs ausmache, vgl. Craig S. 58; vgl. oben S. 13335. Vielmehr hat der Wissensbegriff gar keinen pragmatischen, sondern ausschließlich einen methodisch-technischen Kern. Und selbstverständlich taugt der Wissende im Sinne der Bedingungen l. — 3. (i) — (iii) bestens für die Rolle des guten Informanten. Aber dadurch, daß sich Personen wegen informatorischer und kognitiver Gefalle zwischen ihnen in Situationen wiederfinden, in denen sie abwechselnd die Rolle guter Informanten füreinander wahrnehmen können, wird dieser situationsabhängige Rollencharakter noch längst nicht zu einem Kern des Wissensbegriffs. Doch ganz unbeschadet der Irrigkeit dieser Hypothese Craigs ist mit seiner Arbeit ein überaus wichtiges Muster gelungen, wie sich die Erkenntnistheorie an der Analyse der pragmatischen Formen beteiligen kann, in denen die Menschen die epistemiscbe Arbeitsteilung und Kooperation üben, auf die sie aus praktischen Gründen angewiesen sind.
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eine einfache logische Operation distanzieren — durch seine Negation. Von einem Know-how kann man sich überhaupt nicht distanzieren. Denn dasselbe Know-how, das dazu dient, einen bestimmten Sachverhalt-daß-p zu erschließen und zu untersuchen, dient genauso gut dazu, das Gegenteil dieses Sachverhalts zu erschließen und zu untersuchen. Ein Know-how ist, im Unterschied zu einer Meinung über einen bestimmten Sachverhalt, stets auf einen ganzen Gegenstands- und Untersuchungsbereich, auf ein ganzes Feld möglicher Erschließung und Orientierung bezogen. Der Inhaber eines Know-how würde daher im wahrsten Sinne des Wortes seine Orientierung verlieren, wenn er dieses Know-how aufgeben würde. Er müßte, wie ein Blinder, für unabsehbare Zeit in Kauf nehmen, sich von anderen orientieren zu lassen. Er wäre dazu verurteilt, sich in einem ganzen Gegenstandsbereich, in einem ganzen Feld möglicher Erschließung und Orientierung nicht mehr selbst, also nicht mehr in authentischer Weise zurechtfinden zu können. Der Verlust eines Know-how ist also ein Persönlichkeitsverlust, weil er ein Verlust an Authentizität ist. Es ist daher kein Wunder, daß der platonische Sokrates mit so großem Ernst, so großer Kunstfertigkeit und so großer Hartnäckigkeit an die Authentizitätsbedingung des Wissens erinnert. Umso mehr sollte es deswegen zu denken geben, daß in der Geschichte der Erkenntnistheorie seit Platons Zeiten niemand mehr mit demselben Ernst, derselben Kunstfertigkeit und ebenso großer Hartnäckigkeit an die Rolle erinnert hat, die die Authentizität für das Wissen spielt. Sofern dies ein erkenntnistheoretischer Fehler ist, kann man ihn am einfachsten dadurch verbessern, daß man wieder zu sehen lernt, inwiefern das Authentizität ebenso verbürgende wie verlangende Know-how für den Erwerb von propositionalem Wissen eine von den charakteristischen Bedingungen des Wissens ist.
GÜNTER FIGAL Handlungsorientierung und anderes als das Überlegungen zur Platonischen „Idee des Guten"
1.
Die Idee des Guten ist der Schlüssel zum Verständnis der Platonischen Philosophie. Das könnte allerdings gleichbedeutend damit sein, auf eine konsistente und überzeugende Interpretation dieser Philosophie verzichten zu müssen. Schon die wohl früheste Auseinandersetzung mit dem rätselhaften Gedanken im Zentrum der Politeia, die des Aristoteles, artikuliert Verständnisschwierigkeiten bis hin zum Sinnlosigkeitsverdacht. Vom Guten, so wendet Aristoteles in der Nikomachischen Ethik gegen Platon ein, sei auf unreduzierbar vielfältige Weise die Rede, so daß ihm der Gedanke einer gemeinsamen Idee nicht gerecht werde (EN, 1096a 19-28). Und, gravierender noch, wenn das Gute als Eines und abgetrennt nur als es selbst verstanden werde, könne es im menschlichen Handeln nicht realisierbar sein (EN, 1096b, 32 — 35). Darauf aber kommt es, wie Aristoteles denkt, gerade an; das Gute ist das, was man erstrebt und zu verwirklichen trachtet; ja, es ist das, was man als die Wirklichkeit des menschlichen Lebens erfährt. Mit den Einwänden des Aristoteles sind die beiden Grundmöglichkeiten der Interpretation vorgezeichnet: Entweder man entscheidet sich dafür, den Ideencharakter des Guten zu betonen und eventuell zu verteidigen, wobei die praktische Frage im Aristotelischen Sinne marginalisiert wird; am Ende bleibt es bei der bloßen Versicherung, Platons zentraler Gedanke habe auch eine „axiologische" Dimension. Oder man verbindet ein Plädoyer für die Aristotelische Sicht mit der Behauptung, bei Platon sei im Grunde schon dasselbe, wenigstens Ähnliches gemeint, so daß die Kritik des Aristoteles zwar in ihren Motiven verständlich sei, aber der Sache nach ins Leere laufe; das führt leicht zu einer Marginalisierung all dessen, was mit dem Ideencharakter des Guten angesprochen ist. Die Schwierigkeit besteht nun darin, daß beide Interpretationsvorschläge Wichtiges treffen. Beide haben ihr Recht, aber sind offenbar nicht imstande, einander zu integrieren. Das müßte jedoch nicht an den Interpretationen
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liegen. Und dann wäre es nur befreiend, die Idee des Guten, wie sie im Platonischen Text erörtert ist, als eine Chimäre zu erkennen, als einen „Hybrid distinkter Bereiche".1 Die Interpretationsprobleme wären gelöst, indem man nicht mehr versucht zusammenzubringen, was nicht zusammengehört. So behielte Aristoteles am Ende doch Recht. Wenn die Bereiche so strikt voneinander unterschieden sind, daß die philosophische Betrachtung sie nicht beide zusammen erfassen kann, wäre die Ausdifferenzierung der Philosophie in verschiedene Disziplinen die eigentlich angemessene Antwort auf das Platonische Problem: Was Platon noch als — theoretische — Ideenphilosopie und als — praktische — Erörterung des guten Lebens zusammenhalten und von einem einzigen Gedanken her verstehen wollte, teilt sich auf, um nun der jeweiligen Sache gerecht zu werden. Und wenn dann noch etwas zurückbleibt, was sich weder der einen noch der anderen Disziplin ohne Weiteres zuschlagen läßt, kann man es als das eigentlich Interessante, als den originellen Kern der überfrachteten Konzeption einer Idee des Guten zurückbehalten. Aber vielleicht verhält es sich anders. Vielleicht ist die vermeintliche Überfrachtung ja von der Sache gefordert, und was man „das Gute" nennt, ist angemessen nur als die Zusammengehörigkeit verschiedener Aspekte zu erörtern, so daß mit der Feststellung „distinkter Bereich" nicht das letzte Wort gesagt sein kann. Und vielleicht ist ein solches Verständnis des Guten nicht bloß eine philosophische Aufgabe unter anderen, sondern die eigentlich zentrale: diejenige, in der sich Möglichkeit und Berechtigung der Philosophie überhaupt erweist: das eigentlich Philosophische, das praktische und theoretische Philosophie zusammenhält. Die Ausdifferenzierung der Philosophie in Disziplinen kann und soll dadurch nicht bestritten werden; nachdem sie erfolgt ist, läßt sie sich nicht einfach vergessen oder rückgängig machen. Doch schließt sie auch nicht aus, daß die Philosophie ein Gefüge, eine Textur verschiedener Fragestellungen ist, die nur zusammen wirklichen Sinn ergeben. Das könnte durch den Schritt zurück zu einem Denken, das noch einfach Philosophie ist, zum Platonischen Denken also, deutlicher werden. Wo in Platons Texten vom Guten, von der Idee des Guten die Rede ist, finden sich Spuren des Gefüges der Philosophie.
2. Dabei steht die erste prägnante Bestimmung des Guten in der Politeia noch ganz im Zeichen des Handelns und, wie man retrospektiv sagen könnte, der praktischen Philosophie. Beim Guten, sagt Sokrates, gebe man sich nicht 1
So R. Ferber, Platos Idee des Guten, zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage, Sankt Augustin 1989, S. 149.
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mit dem, was nur so scheine, zufrieden, sondern suche, was wirklich gut sei, und verachte die bloße Meinung darüber (Resp. 505 d). Und erläuternd fügt er hinzu, das Gute sei das, „was jede Seele anstrebt und um dessentwillen sie alles tut, ahnend, daß es etwas sei, doch rados und unfähig, hinreichend zu erfassen, was es wohl ist, ebenso außerstande es mit beharrender Gewißheit zu erfahren" (Resp. 505 e). Hier, wie übrigens auch schon im Gorgias, ist deutlich die teleologische Fassung des Guten vorgeprägt, wie Aristoteles sie dann entwickelt hat. Das Gute ist das wahrhafte Ziel des Handelns; es ist das, was man will — die Bestimmung des Wollens und Handelns, ohne die es beides nicht geben kann; man kann ja nichts wollen, ohne daß man davon überzeugt ist, es sei gut — sonst würde man anderes wollen und zu dem, was man tut, nur getrieben oder genötigt sein. Auch das Mitspielen im Schein der Konventionen, bei dem man etwa tut, was als gerecht angesehen wird, ohne zu wissen oder sich darum zu kümmern, ob es gerecht ist, kann nur willentlich sein, wenn man dabei einen Zweck verfolgt. Niemand kann im Schein etwas wollen, sondern höchstens im Handeln das eigendiche Ziel verschleiern. Das aber ist hier der entscheidende Punkt: Mit der Frage nach dem Guten tritt jeder aus dem Bereich bloßen Meinens hinaus. Doch wie Sokrates deutlich sagt, ist damit noch keine Orientierung im Wollen und Handeln verbunden. Wo das bloß Scheinbare durchschaut, vielleicht nur als solches gespürt wird, also in der Frage, was man eigentlich will, bricht Unsicherheit auf: Irritation und die dumpfe Ahnung, hier müsse es etwas zu wissen geben; ein Tasten im Halbdunkel der gerade erwachten Gewißheit, daß man sich entscheiden, sein Leben führen muß und nicht weiß, wie. So schwankt man zwischen den beiden Grundmöglichkeiten, die Sokrates im Gorgias unterscheidet: man weiß nicht, ob man nur tut, was einem das Beste zu sein scheint oder wirklich tut, was man will (Gorg. 466 e). Es ist naheliegend zu denken, daß die Frage sich durch eine Aufklärung über das Wesen des Handelns beantworten lassen müßte. Sie wäre beantwortet, sobald man geklärt hätte, was sich wollen läßt und was nicht. Dann wüßte man, was als Handlungsziel festgehalten werden kann und was in seiner Wandelbarkeit und Flüchtigkeit immer wieder entgleitet, so daß es wie ein Schatten ist, ein Schemen, der sich in der Meinung kurz zeigt und bald wieder verschwindet. In der Tat gibt es bei Platon immer wieder Überlegungen, die in diese Richtung zielen. Dabei wird dann gezeigt, wie der Versuch einer Orientierung an der Lust oder der Macht, also an dem Wunsch, stärker, einflußreicher zu sein, notwendig scheitert: Mit dem, was man will, müßte man hier zugleich das Gegenteil wollen — mit der Lust ihre Unerfülltheit, ohne die sie nicht
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zu erfahren ist, und mit der Macht auch die Schw che, weil die Macht nur so auf weitere Steigerung angelegt sein kann. So erreicht man im Handeln nicht nur, was man will, sondern auch, was man nicht will: man will nicht wirklich, nicht einfachhin, sondern will und will nicht. Und jetzt kann auch gezeigt werden, da nur das Ordnung und Stimmigkeit Versprechende orientierend sein kann — das, worauf man „hinblicken" kann, um Ordnung und Stimmigkeit hervorzubringen (Gorg. 503 d, e).
3.
Damit aber hat eine Verschiebung, ein Perspektivenwechsel stattgefunden: Was zuvor als immanente Zielbestimmtheit des Handelns erfahren wurde, hat sich zum Korrelat eines verstehenden „Hinblicks", zu einer Idee gewandelt. Im Gorgias wird besonders klar, wie das gedacht ist: Im Hinblick auf das menschliche Leben mu man grunds tzlich wie jemand verfahren, der eine τέχνη beherrscht. Denn wie das handwerklich oder sonst durch Kunstfertigkeit hergestellte Werk ist auch die menschliche Lebendigkeit, die ψυχή, nur etwas wert, wenn sie geordnet und in sich stimmig ist. In der τέχνη aber verf hrt man nicht willk rlich, indem man „planlos und ziellos dieses und jenes aufsammelt", sondern man „blickt auf etwas hin", weil nur so das Hergestellte „eine bestimmte Gestalt" (είδος) haben kann (Gorg. 503d-504b). Bei einer τέχνη ist klar, worauf man bei der Herstellung „hinblickt": auf die Idee der herzustellenden Sache, auf ihren „Anblick", womit nicht das oberfl chliche Aussehen gemeint ist, sondern die Struktur — man k nnte auch sagen: der Bauplan; wo dieser verstanden wird, kann das einheitliche Bild der Sache als Ordnung seiner Teile gesehen und im Herstellen realisiert werden. Doch wo es um die ψυχή geht, verschweigt Sokrates, was der Orientierung gebende Anblick sein k nnte — vermutlich, weil sein Gespr chspartner Kallikles damit nichts anfangen k nnte. In der Politeia sagt er dann offen, woran er im Gespr ch mit Kallikles wohl nur denkt: es ist die Idee des Guten, das Gr te und Wichtigste von allem, was gelernt und gewu t werden kann (μέγιστον μάθημα/Resp. 505 a). Das Ergebnis ist befremdlich und kl rend zugleich: befremdlich, weil Sokrates sich das Leben offenbar wie eine τέχνη vorstellt; und kl rend im Hinblick auf den Platonischen Text, weil die notorischen Probleme beim Verst ndnis der Idee des Guten nun, wie es scheint, erkl rbar werden: Hier wird das Leben als Produkt vorgestellt, und entsprechend die F hrung des
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Lebens als Herstellung. Und der „Anblick" eines Bauplans soll, wie es scheint Orientierung für das Herstellen einer Lebensgestalt bieten. Man zögert vielleicht, dem platonischen Sokrates ein derart simples und problematisches Bild zuzuschreiben, und man hätte auch einen Anhaltspunkt dafür. Immerhin wehrt Sokrates anderswo eine Konsequenz der Analogie von und Leben mit aller Entschiedenheit ab: daß es Sachverständige des Lebens, besonders des öffentlichen Lebens geben könne und die beste Verfassung des Lebens, die Tugend, lehrbar sei — das hält er, wie der Protagoras zeigt, für unmöglich, gleichviel, ob es sich auf besonders qualifizierte Fachleute oder den Sachverstand aller Bürger bezieht. So erscheint die Orientierung an der in eigentümlicher Ambivalenz. Sie scheint aus Unklarheit über die Strukturen des Handelns entsprungen zu sein — als erster Orientierungsversuch, bei dem es darauf ankam zu betonen, daß wirkliches Handeln durch Wissen geführt sein muß. Ab und zu geht Sokrates, wie man weiter denken könnte, darüber hinaus und kommt zu ersten Bestimmungen dessen, was Handeln eigendich ist; so daß Aristoteles hier nur anschließen mußte und, je deutlicher er die Strukturen des Handelns herausarbeitete, auf die Überreste aus der Orientierung am -Modell verzichten konnte — so auch auf die Idee des Guten. Allerdings hat das seinen Preis: Man sieht nun viel weniger deutlich, aus welcher Erfahrung die Frage entspringt, wie das Leben im Ganzen zu führen sei. Wie nämlich, nach der vorhin schon einmal zitierten Stelle aus dem Gorgias, die Herstellung von etwas nur gelingt, wenn man sich vom unmittelbar Vorfindlichen löst und „nicht planlos und ziellos dieses und jenes aufsammelt", sondern einen Gesichtspunkt gewinnt, von dem aus sich das Vorfindliche als Material verstehen und strukturieren läßt, so muß man auch zur Führung des Lebens radikal Abstand gewinnen: loskommen aus dem Wirbel unmittelbaren Begehrens, aus dem Netz eines Denkens, das um der Selbsterhaltung und Selbststeigerung willen nur um Selbstbehauptung oder Anpassung besorgt ist und dabei oft nur das Begehren ausagiert. Man muß von sich loskommen und sich von anderswo her verstehen, damit man im Licht solchen Verstehens sein Leben gestalten kann. Verstehen ist nie unmittelbar, sondern geschieht immer aus Abstand: man versteht etwas nur von etwas her. Wie zentral dieser Gedanke für die Konzeption der Politeia ist, sieht man leicht; die Parabel davon, was es heißt, die Erfahrung des Verstehens als eine der Abstandnahme zu machen, ist so einleuchtend, daß sie kaum zu mißdeuten ist; mit jeder Station des Wegs aus der Höhle wird neuer Abstand und neues Verständnis gewonnen. Und dabei ist der Anfang des Wegs aus der Höhle so unmißverständlich beschrieben, daß kein Zweifel über das Ge-
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meinte aufkommen sollte: Das Verstehen fängt mit dem Ende von Gefangenschaft an, mit der Lösung jener Fesseln, die auf das unmittelbar Vorfindliche fixierten. Die Geschichte des Verstehens, oder wie es bei Platons heißt: der , ist eine Geschichte der Freiheit. Das Gute als Idee ist Gesichtspunkt für das Leben und Handeln im Abstand von ihm; weil es so Abstand gewährt, kann es der eigentliche Anfang der Freiheit sein.
4. Das führt zu der Frage, wie eigentlich sich von dieser Freiheit her das Leben verstehen läßt. Zunächst, auf den ersten Stationen des Wegs durch die Höhle, scheint das ganz unmöglich. Die Freiheitserfahrung, wie sie in der Geschichte von der Höhle beschrieben wird, ist hier so diffus, daß sie als solche noch gar nicht verstanden wird; wieder gilt deshalb der Satz, nach dem die Seele „rados und unfähig" sei, hinreichend zu erfassen, womit sie es zu tun hat, „außerstande, es mit beharrender Gewißheit zu erfahren" (Resp. 505 e). Das ändert sich erst mit dem Blick auf die Idee des Guten, und das heißt: am Ende des Wegs aus der Höhle und nach den Erfahrungen, die man außerhalb machte. Folgt man der Logik der Geschichte, sind diese notwendig, bevor die Idee des Guten „gesehen" werden kann. Und weil auf dem Weg aus der Höhle vor allem gelernt wird, Phänomene von Ideen zu unterscheiden und so zu begreifen, was Ideen sind, ist die Erfahrung der Idee des Guten eine philosophische Erfahrung — sie gehört als Abschluß und Vollendung zum Bildungsweg der Philosophie. Das steht im Kontrast zu der später, bei der Deutung der Höhlen-Parabel getroffenen Feststellung, wer privat oder öffendich einsichtsvoll handeln wolle, müsse die Idee des Guten „gesehen" haben (Resp. 517 c) — es sei denn, man müßte die Fähigkeit dazu auch den Philosophen vorbehalten. Und bei dem Versuch, zu verstehen, was damit gemeint sein könnte, stößt man natürlich bald auf den Gedanken der Philosophenherrschaft, wie er in der Politeia entwickelt wird. Das ist wahrscheinlich ein hinreichender Grund für viele, auch die These vom philosophischen Charakter des einsichtsvollen Handelns mit Skepsis zu behandeln. Trotzdem ist der Gedanke weder absurd noch elitär — wenigstens dann nicht, wenn man zugesteht, daß einsichtsvolles Handeln nicht ohne die Kenntnis des Lebens möglich ist, in dem es vollzogen wird; wobei „Kenntnis des Lebens" jetzt nicht im Sinne empirischen Wissens oder gesammelter Lebenserfahrungen gemeint ist, sondern als Durchschauen einer Struktur: als
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Einsicht, die wie das Verstehen einer Grammatik ist, so daß man sich nun bewußt in der Sprache bewegt. Philosophische Einsicht, wie sie in der Politeia konzipiert wird, ist nichts anderes als Einsicht in die Lebensstruktur; man lernt zu durchschauen, was zunächst selbstverständlich ist — einschließlich des Wissens. Das wird am Unterschied von Mathematik und Philosophie erläutert, genauer daran, wie verschieden hier die Erfahrung mit den Ideen ist. Auch Mathematiker sind sich darüber im Klaren, daß es Ideen gibt; es ist geradezu kennzeichnend für ihr Wissen, daß sie den Kreis, die verschiedenen Winkel und dergleichen von ihren jeweiligen Darstellungen unterscheiden können — sie wissen, was eine Idee und was deren Darstellung ist. Doch bilden die Ideen für sie unbefragte Voraussetzungen ( ) ihres Tuns; was ihnen fehlt, ist der Abstand zu den Ideen. Genau das aber zeichnet das philosophische Wissen aus: Hier werden die Ideen nicht als Voraussetzung für jeweils bestimmte Berechnungen oder vergleichbare Erkenntnisse genommen, sondern als Stufe für den Aufstieg zum Voraussetzungslosen, das der Anfang und Grund des Ganzen ist (Resp. 511 b). Man löst sich von der für das Wissen geltenden Bindung an die Ideen, indem man zur Idee des Guten gelangt und sie „berührt" (Resp. 511 b). Wie diese Erfahrung zu verstehen ist, war zuvor schon am Vergleich der Idee des Guten mit der Sonne gezeigt worden: Wie die Sonne das Sichtbare und das Sehen unter einem „Joch" zusammenfügt, so gibt es ein „würdigeres Joch" (Resp. 508 a) für das Erkennbare und die Erkenntnis (Resp. 508 e). Die Idee des Guten ist demnach Grund und Anfang dafür, daß es das Wissen ( ) und die Offenbarkeit des Wißbaren ( ) überhaupt gibt; wo man sie erfährt, hat beides jene Selbstverständlichkeit verloren, die es im Wissensvollzug der Mathematik hatte. So ist die Idee des Guten gleichbedeutend mit der Freiheit, sich zum Wissen selbst noch zu verhalten. Sie ist der Orientierungspunkt, von dem her sich das Wissen und alles im Wissen Entdeckte als solches verstehen läßt.
5. Allerdings könnte man jetzt fragen, wieso dieser Orientierungspunkt, das Prinzip des Wissens und der Offenbarkeit, eigentlich noch als das Gute verstanden werden soll. Im Zuge der Klärung hat sich die Bedeutung des Guten so verschoben, daß es als schwierig erscheinen könnte, jetzt noch zu verstehen, wie es auf das Handeln bezogen sein kann. Kann man den Anfang
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und Grund des Ganzen noch wollen? Das bringt die anfangs genannte Frage wieder ins Spiel, ob die Idee des Guten nicht überfrachtet ist, wenn sie letztes Prinzip und letzter Bezugspunkt der Praxis zugleich sein soll. Eine Charakterisierung wie diese ist freilich schon dazu angetan, die Platonische Konzeption zu verstellen; wo man sich einmal in der Suggestion zweier getrennter Bereiche verfangen hat, sucht man vielleicht noch nach Verbindungs- oder Übertragungsmöglichkeiten. Doch man fragt nicht mehr, ob es hier so etwas wie die innere Zusammengehörigkeit zweier Aspekte oder Momente gibt. Es wäre, konkreter formuliert, die Frage, wie radikale Freiheitserfahrung und Lebensführung zusammengehören. Platons Texte geben darauf Antwort. Der philosophische Bildungsweg, wie er in der Politeia beschrieben wird, führt nicht zu einer obersten Wissenschaft, die in Freiheit betrieben wird und so den Befangenheiten des Lebens gegenübersteht, sondern durch das Wissen hindurch zur Freiheit auch gegenüber dem Wissen. Auch die am Modell der orientierten Erörterungen im Gorgias hatten schon zeigen sollen, daß ein Leben zwar nur in sich stimmig und geordnet sein kann, wenn es durch Wissen und Einsicht geführt wird, aber daß es dabei nicht primär um das Wissen geht, sondern um das Leben. Nur das Leben kann „gut" sein und nicht das selbstverständliche, in sich abgeschlossene Betreiben einer Kunstfertigkeit oder Wissenschaft. Oder anders gesagt: Weil das Leben durch Wissen geführt sein soll, muß das Wissen ins Leben gehören. Und dazu muß man Abstand zum Wissen haben und sich in seinem Zusammenhang frei bewegen können; nur so kann man fragen, ob die Einsicht jeweils das dem Leben, das seiner Situation und Besonderheit Angemessene erschließt — ob sie die Einsicht „des Guten" ist (Resp. 505 b). Die Idee des Guten ist so gesehen das Prinzip, das „die Betätigung der Urteilskraft" reguliert.2 Die Idee des Guten ist, wie man vielleicht noch pointierter sagen könnte, das Prinzip, aus dem so etwas wie Urteilskraft erst entspringt. Sie ist die Freiheit der Urteilskraft. Eine solche Bestimmung schließt nun keineswegs aus, was mit der Bestimmung der Idee des Guten als dem „Anfang und Grund des Ganzen" gemeint war. Das sieht man, auf den ersten Blick paradoxerweise, an der Bedeutung der Idee des Guten für die Praxis und das Leben: Weil es darauf ankommt, etwas nicht bloß zu wissen oder einzusehen, sondern vor allem darauf, es dann auch zu tun, muß aus der Freiheitserfahrung des Guten auch die Möglichkeit des Wirkens entspringen. Die Freiheit des Guten muß die Freiheit des Tuns sein und also erschließen, was Tun überhaupt ist — wie es in der Struktur des Lebens vollziehbar ist. Vgl: Wolfgang Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982, S. 164.
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G nter Figal
Die Antwort auf die Frage, wie das genauer zu denken sei, gibt der Philebos. Hier geht es um die Verbindung von Einsicht oder Wissen und Lebensvollzug, so da , was man „Leben" nennt, eine „Mischung" aus Einsicht und anderen Regungen oder Artikulationen der Lebendigkeit ist. Das wird in einer Folge subtiler Analysen immer unter neuen Aspekten gezeigt und kulminiert schlie lich im Gedanken des Sch nen. Das Sch ne ist hier als erscheinende Einheit von dynamischen Leben und stimmiger Form verstanden; es ist das Hervorscheinen des Ma vollen und Stimmigen, so da dieses als solches erfahren werden kann. Einmal l t das wieder an die Herauspr gung von Ordnung und Stimmigkeit bei der Herstellung von etwas denken, wie sie im Gorgias er rtert worden war. Doch entscheidender ist es, das Sch ne aus dem Kontext des Philebos als „Mischung" von Grenze und Grenzenlosigkeit, von πέρας und άπειρον zu verstehen, so da sich der Gedanke aus dem Gorgias als im Modell der τέχνη befangene Vorwegnahme des Philebos erweisen kann. Dabei darf man, was hier πέρας und άπειρον genannt wird, durchaus als jene beiden Prinzipien der Platonischen Prinzipienlehre verstehen, die im Bericht des Aristoteles als „das Eine" (εν) und „unbegrenzte Zweiheit" (αόριστος δυάς) bezeichnet werden. Das ist f r das Verst ndnis des Guten zentral: Das Gute kann n mlich nicht, wie aus dem sp ten Fragment des Aristoxenos3 gefolgert wurde, das Eine im Sinne des ersten Prinzips sein. Und damit d rfte es auch schwierig werden, die Er rterungen des Einen in der ersten und zweiten Hypothese des Parmenides-O'ialogs als einen Traktat ber das Gute zu lesen. Was das Gute ist, ergibt sich im Philebos allein aus der Erfahrung des Sch nen. In die Natur des Sch nen, so hei t es im Philebos n mlich, habe sich die Kraft des Guten gefl chtet (Phileb. 64 e). Demnach w re das Gute die Einheit von πέρας und άπειρον - was nur hei en kann: das gl ckliche Zusammentreffen der beiden Prinzipien, bei dem die stimmige Form im Werden verharrt und das Ver nderliche sich in stimmiger Form versammelt. Es w re diese Einheit, wenn man sie nicht als das Sch ne ansprechen m te. Sagt man dennoch von jenem Gelingen, das sich als das Sch ne zeigt, es sei gut, so ist auf die Kraft verwiesen, die sich entziehend ihre Wirkung ins Licht stellt — jenseits des Seins und deshalb Orientierungspunkt daf r, da im Sein etwas als Sch nes gelingt; die Freiheit aus der sich das Leben so f gt, da es unmittelbar als Gelungenes einleuchtet.
3
Vgl.: Konrad Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre, zweite Auflage, Stuttgart 1968, Anhang: Tes monia Platonica, testimonium 7. S. 452.
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6.
Wenn Aristoteles in der Nikomachischen Ethik die begrenzte Kenntnis der Lebendigkeit, der , zu dem rechnet, was für einen Staatsmann erforderlich ist (1102 a 23 — 25), so ist das ein nurmehr ein Nachklang der Platonischen Philosophie, in der Praxis und Theorie auf engere und zugleich spannungsvollere Weise verbunden sind. Sobald man zwei Lebensformen unterscheiden kann, deren eine sich um das Handeln und deren andere sich um das Betrachten bildet, ist das Verhältnis von Praxis und Theorie bloß noch im Sinne wechselseitiger Spiegelung zu verstehen, bei der eines sich im anderen abbildet und doch jedes bleibt, was es ist. Noch der Gedanke solcher Spiegelung lebt freilich von der Platonischen Erörterung des Guten. In ihm ist festgehalten, daß Handeln und Verstehen nicht in sich abgeschlossen sein dürfen, wenn es möglich sein soll, Klarheit über das Handeln zu gewinnen und die Philosophie als Grundmöglichkeit des Lebens zu verstehen: Wenn Aristoteles die Nikomachische Ethik mit einer Darstellung der Philosophie abschließt, spielt darin noch der Gedanke, daß die vita activa über sich hinausweist und daß die vita comtemplativa Klarheit ins Handelns bringt. Und doch ist beides eine Lebensform für sich, mit jeweils eigener und verschiedener Erfahrung der Freiheit. Wenn es anders sein soll, muß das eigentliche Ziel des Handelns sich zum Orientierungspunkt des Verstehens verschieben und mit diesem Loskommen vom Handeln erst die Freiheit des Handelns eröffnen. Ein Leben, das ganz von seiner Freiheit durchstimmt ist, muß anderswo sein können und dennoch in sich.
KLAUS OEHLER Platons Semiotik als Inszenierung der Ideen Im Jahre 1923 erschien das für die moderne Semiotik und Linguistik außerordentlich einflußreich gewordene Werk The Meaning of Meaning der Engländer Charles Kay Ogden und Ivor Armstrong Richards. Vehement bekämpften sie das dyadische Sprachzeichenmodell Ferdinand de Saussures mit seiner Unterscheidung von ,signifient' und ,signifie' und verneinten die Existenz einer direkten Beziehung zwischen der materiellen Erscheinungsform des sprachlichen Zeichens und der von ihm bezeichneten konkreten Sache, behaupteten statt dessen eine nur indirekte, durch eine dritte Instanz, den Denkvorgang der Bezugnahme, vermittelte Beziehung. Sie veranschaulichten ihre Bedeutungstheorie in einer Skizze1: THOUGHT OR REFERENCE
SYMBOL
Standsfor (an imputed relation) TRUE
REFERENT
Dieses Dreiecksschema von Ogden und Richards übernahm sehr bald die Funktion des Prototyps für Diagramme zur Darstellung der zwischen sprachlichen Zeichen und den von ihnen bezeichneten Gegenständen beste1
C. K. Ogden and I. A. Richards, The Meaning of Meaning. A Study of the Influence of Language Upon Thought and of the Science of Symbolism (International Library of Psychology, Philosophy, and Scientific Method. 5), London 1923, S. 14, 101949, S. 11.
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henden Beziehungen; aber es geht nicht um sprachliche Zeichen allein. Schon von Ogden und Richards selbst werden alle Symbole als Zeichen aufgefaßt. Das Zeichenmodell soll einen Kommunikationsakt charakterisieren, und der Kommunikationsakt vollzieht sich mit Hilfe von Symbolen. Zahlreiche Interpretationen und Transformationen des Dreiecksschemas schlössen sich in den Jahrzehnten danach bis heute an. Seit den sechziger Jahren hat sich der Ausdruck ,semiotisches Dreieck' in die Wissenschaftssprache eingebürgert und begegnet in der semiotischen und linguistischen Literatur als Terminus, zunächst noch in erkennbarer Reminiszenz an das Dreieck von Ogden und Richards, bei denen der Ausdruck ,semiotisches Dreieck' nicht vorkommt, dann allmählich mehr und mehr ohne diese Bezugnahme, was seine Gründe hat. Denn inzwischen hat man erkannt, daß die triadische Zeichenkonzeption, wie sie dem Diagramm in Dreiecks form bei Ogden und Richards zugrunde liegt, eine Vorgeschichte hat, sogar eine sehr lange, bis in die Antike zurückreichende, die aber zunächst in den Debatten, wie sie im Anschluß an das Werk von Ogden und Richards geführt wurden, nicht in den Blick kam, weil dieser sich ganz auf die systematischen Fragen bezüglich der Struktur des Zeichenbegriffes konzentrierte und verengte. Zu dieser Vorgeschichte gehört in erster Linie das dreistellige Zeichenmodell von Charles Sanders Peirce, dem Begründer der modernen Semiotik, von dem Ogden und Richards maßgeblich beeinflußt worden sind. Ihr Werk enthält einen Abriß der Peirceschen Zeichentheorie. Auf der Grundlage seiner Kategorienlehre unterscheidet Peirce2 in seinem triadischen Zeichenbegriff die drei Strukturelemente ,sign/representamen', ,interpretant' und ,object': das Zeichen in seiner materiellen Gegebenheit sowie dessen Bedeutung als Gedanke und die Sache, das Zeichenobjekt. Diese drei Zeichenbezüge werden von Peirce in je drei Trichotomien weiter differenziert und führen zur Bildung von Zeichenklassen. Die hier nur rudimentär skizzierte triadische Zeichenkonzeption von Peirce ist die Grundstruktur des modernen Zeichenbegriffes. Sie hat inzwischen die früher einflußreichere dyadische Zeichenkonzeption von De Saussure überall abgelöst und gilt heute als die dominante semiotische Theorie. Peirces intensive Beschäftigung mit der mittelalterlichen Philosophie und Logik hat wesentlich zu der theoretischen Durchdringung und Konzeptualisierung seines Zeichenverständnisses beigetragen. Die beherrschende Stellung der Trias von , ', ,conceptus' und ,res' in der scholastischen Sprachphilosophie mit ihrem dreistelligen Zeichenmodell, in dem Begriffe (,conceptusc) die vermittelnde Rolle zwischen Worten (,voces') und Sachen (.res') einnehmen, war die gemeinsame 2
Vgl. dazu K. Oehler, „Idee und Grundriß der Peirceschen Semiodk". In: Ders., Sachen und Zeichen. Zur Philosophie des Pragmatismus. Frankfurt a. M. 1995, S. 77 — 93.
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Maxime („voces significant res mediantibus conceptibus") aller Schulen und Richtungen und die Basis, auf der der jahrhundertelange Universalienstreit ausgetragen wurde. Und diese Grundannahme von der Vermittlungsfunktion des Zeichens als einer dreigegliederten Gr e, die neben ihren beiden anderen Momenten, n mlich als Zeichenmittel (materielle Gegebenheit des Zeichens) und als Zeichenobjekt, immer auch Gedanken2eichen, also Zeicheninterpretant ist, ging weiter ber Boethius und Porphyrios auf Theorieelemente der Stoa und des Aristoteles zur ck, die Peirce ebenfalls kannte, und sogar anhand der griechischen Texte sehr genau kannte. Nach Sextus Empiricus unterschieden die Stoiker schon drei am Zeichenproze beteiligte Faktoren: das Bezeichnende (το σημαίνον, das Zeichenmittel, die materielle Erscheinung des Wortes), das Bezeichnete (το σημαινόμεvov, den vom Subjekt erfa ten Sinn des Zeichens, Wortsinn) und das u ere Zeichenobjekt (το τυγχάνον). Man hat den triadischen Zeichenbegriff der Stoiker in diesem Jahrhundert nicht zuf llig mit den Theorien Freges und Carnaps verglichen3. Denn in der Tat ist die Unterscheidung der alten dreistelligen Zeichenkonzeptionen zwischen, modern gesprochen, Referent und Signifikat durch Freges Unterscheidung von ,Sinn' und ,Bedeutung' der Sache nach weitergef hrt worden, ebenso durch die Unterscheidung von ,Intention' und ,Extension' eines Ausdruckes bei Carnap, Tarski und Quine, von ,meaning' und Denotation' bei Russell (von »connotation' und ,denotation' schon bei John Stuart Mill) und von ,Ausdruck', »Bedeutung' und ,Gegenstand' bei Husserl. Das triadische Zeichenmodell der Stoiker geht auf Aristoteles zur ck, wenn auch durch sie der Aristotelische Entwurf eine Umformung erfuhr. Die Hauptstelle der Aristotelischen Zeichentheorie findet sich im ersten Kapitel von De interpretatione und lautet: „Die stimmlichen u erungen sind Symbole der Widerfahrnisse in der Seele, und das Geschriebene ist Symbol f r die stimmlichen u erungen. Und wie nicht alle dieselbe Schrift haben, so haben auch nicht alle dieselben Laute. Wof r jedoch diese erstlich Zeichen sind, n mlich die Widerfahrnisse in der Seele, die sind bei allen dieselben, und ebenso sind die Dinge dieselben, von denen die Widerfahrnisse der Seele Abbildungen sind." Die wesentlichen Faktoren, auf die allein es uns hier ankommt, sind klar. Aristoteles unterscheidet drei Aspekte am Ph nomen des Sprachzeichens: die Lautform (τα εν τη φωνή), die Dinge (τα πράγματα) und als vermittelnde Instanz die mentalen Prozesse (τα εν τη ψυχή παθήματα), die ,Widerfahrnisse in der Seele'. Das Entscheidende ist auch hier, da das Zeichenmittel, das hei t das materielle (akustische oder optische) Zeichen als solches sich 3
B. Mates, Stoic Logic (University of California Publications in Philosophy. 26), Berkeley-Los Angeles 1953, S. 21-26.
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nicht direkt auf die Dinge bezieht, sondern vermittelt durch mentale Prozesse, die ihrerseits mit den Dingen in einer Beziehung stehen, dergestalt, da die mentalen Prozesse den Dingen hnliches herstellen, solliziert durch die Dinge selbst, deren ,Widerfahrnisse in der Seele' Abbildungen (ομοιώματα) der Dinge darstellen, mithin zu diesen in einem kausalen Verh ltnis stehen. Die Lautgebilde, die als Zeichen (σημεία) f r die mentalen Vorg nge stehen, fungieren als Symbole (σύμβολα), die konventioneller Natur sind. Die Bestimmung des Verh ltnisses von Dingen und mentalen Vorg ngen (seelischen Widerfahrnissen) verweist Aristoteles ausdr cklich und, wie man es wohl zu verstehen hat, nachdr cklich in den Bereich der Psychologie, um die sprachlogische und semiotische Untersuchung psychologiefrei zu halten, so wie er es ja auch mit seiner Syllogistik gehalten hat. Die M glichkeit intersubjektiver Verst ndigung begr ndet er mit der generischen, berindividuellen Identit t der seelischen Widerfahrnisse. Die graphische Veranschaulichung des triadischen Zeichenmodells des Aristoteles mu durch eine Kombination zweier Dreiecke erfolgen, weil Aristoteles noch zus tzlich zwischen der akustischen Zeichenform und ihrer graphischen Wiedergabe in der Schrift unterscheidet. Das Liebsche Diagramm4 ber cksichtigt diesen Tatbestand: τα εν τη ψυχή παθήματα [,die Affektionen in der Seele*]
σύμβολα (σημεία) εστίν / [,ist Zeichen f r'] /
τα εν τη φωνή / [,das Gesprochene'] /
\ \
ομοιώματα εστίν [,sind Abbilder von"]
\ πράγματα -\ [.Dinge*]
σύμβολα εστίν [,ist Zeichen f r1]
τα γραφόμενα [,das Geschriebene'] 4
Η. Lieb, „Das .semiotische Dreieck' bei Ogden und Richards: eine Neuformulierung des Zeichenmodells von Aristoteles". In: H. Geckeier, B. Schlieben-Lange, J. Trabant, H. Weydt
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Die Untersuchungen zu dem Zeichenmodell des Aristoteles haben ergeben, daß es durch die Rückbindung der Zeichenfunktion an den Zeichenbenutzer einen unverkennbar pragmatischen Zug aufweist, gleichwohl aber die ontologische Orientierung des Zeichenprozesses, der Semiose, die dominierende bleibt. Die pragmatische Komponente aber ist es, die deutlich macht, daß es bei dem Aristotelischen Zeichenmodell um die Darstellung des Kommunikationsprozesses und nicht um das Modell einer lexikalischen Semantik im Rahmen des Sprachsystems geht. Genau diese Differenz markiert den Übergang zur Zeichentheorie der Stoiker, die das Aristotelische Zeichenmodell (an seinem schwächsten, weil nur psychologisch erklärten Punkt) dadurch umformten, daß s/e den psychologischen Begriff der Widerfahrnisse der Seele gegen den zeichentheoretischen Begriff des Bezeichneten ( vov) auswechselten. Mit dieser scheinbar geringfügigen Veränderung des Mittelbegriffes in dem triadischen Zeichenmodell des Aristoteles durch die Stoiker war eine neue Stufe der Zeichentheorie in der Antike erreicht, die allerdings den Aristotelischen locus classicus der Sprachphilosophie und Semiotik am Anfang von De interpretatione zur historischen und logischen Voraussetzung hat. Der dreistellige Zeichenbegriff des Aristoteles war keine creatio ex nihilo. Es gab Vorstufen. Manfred Kraus hat dazu aufschlußreiche Durchblicke freigelegt5. Ausgehend von der Vorstellung einer direkten Beziehung zwischen Worten und den von ihnen bezeichneten Sachen im frühgriechischen Denken der archaischen Epoche als einer schon fortgeschrittenen Vorstellung gegenüber der noch älteren Vorstellung einer magischen Einheit von Name und Sache im mythischen Denken, bringt er in Erinnerung, wie diese ursprünglichen Auffassungen einer nicht von menschlicher Subjektivität abhängigen Naturgegebenheit der Name-Sache-Entsprechung durch das Bewußtwerden der Partizipation der Subjektivität des Menschen an Erkenntnis und Mittei-
5
(Hrsg.), Logos Semantikos. Studia Linguistica in honorem Eugenio Coseriu 1921 — 1981, 5 Bde., Berlin —New York—Madrid 1981, Bd. 1: Geschichte der Sprachphilosophie und der Sprachwissenschaft, hrsg. von J. Trabant, S. 148. Vgl. dazu und zu der zitierten Stelle in De interpretatione Kap. l den Kommentar von H. Weidemann: Aristoteles, Peri hermeneias. Übersetzt und erläutert. Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Bd. l, Teil II, Berlin 1994. Außerdem von H. Weidemann, „Aristoteles über attributive und prädikative Adjektive". In: Incontri Linguistici 18, 1995, S. 61-67; und ders.: „Aristoteles und Kripke". In: Beiträge zur Geschichte der Sprachwissenschaft 6, 1996, S. 280-285. M. Kraus, „Platon und das semiotische Dreieck". In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft. Bd. 22. 1990, S. 242-281. Ders.: Name und Sache. Ein Problem im frühgriechischen Denken (Studien zur antiken Philosophie. 14), Amsterdam 1987, bes. S. 42—56: „Archaische Logik und Semantik". Ders.: Platon. In: Klassiker der Sprachphilosophie. Von Platon bis Noam Chomsky. Hrsg. v. T. Borsche. München 1996, S. 15 — 32.
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lung von der Mitte des S.Jahrhunderts an bei den Naturphilosophen und den Sophisten einer neuen Betrachtungsweise wichen. Naturphilosophie, Sophistik, Rhetorik und Eristik konvergierten im Mißtrauen gegenüber dem Wahrheitsgehalt der Sprache und in der Aufklärung ihres instrumentellen Charakters, was zur Auflösung der traditionellen Vorstellung der Bindung der Sprache an die Wirklichkeit der Dinge führte. Das sprengte den Rahmen des alten, linearen Semantikmodells. In dieser Entwicklung und zumal in der Entwicklung zu einem dreistelligen Zeichenmodell räumt Kraus dem Sophisten Gorgias von Leontinoi die entscheidende Schlüsselrolle ein. Dieser habe als erster zwischen der lautlichen Ebene und der Bedeutungsebene der Sprache unterschieden und diese besondere Beziehung der Sprache mit dem Begriff des Zeichens ( ) umschrieben. Durch die Anbindung der Sprache nicht primär an die Dinge, sondern an die Inhalte des Denkens ( ) habe Gorgias bereits ansatzweise ein triadisches Zeichenmodell zugrunde gelegt, ein Modell, das freilich für den Sophisten Gorgias bekanntermaßen gerade nicht das Gelingen, statt dessen das Scheitern von Kommunikation demonstrieren sollte, da mit dem Wegfall der direkten Beziehung der Sprache zu den Dingen es auch kein Kriterium für die Überprüfung der Wahrheit von Aussagen gebe. Die Sprache ist für die Mitteilung von Erkenntnissen daher gänzlich untauglich, was im Lob der Helena von Gorgias lustvoll vorgeführt wird, nicht minder genußvoll in der Verteidigungsrede für Palamedes. In seiner Schrift Über das Nicht-Seiende ist diese Entmachtung der Sprache als Medium der Wahrheit des näheren begründet: er beweist, daß erstens nichts ist, und daß zweitens, selbst wenn etwas wäre, es nicht erkennbar sei, und daß drittens, selbst wenn es erkennbar wäre, es nicht mitteilbar sei. Die Entdeckung, daß die Sprache mit den sinnlich wahrnehmbaren Dingen nicht in einer direkten Verbindung steht, und zwar aus prinzipiellen Gründen nicht, war nun allerdings nicht das Licht, das im Kreis der Naturphilosophen und Sophisten allein dem Gorgias aufging und der Aufmerksamkeit der anderen Zeitgenossen und Nachfolger entging, die infolgedessen die offensichtliche Inkongruenz zwischen Sprache und Wirklichkeit nur durch vordergründige Korrekturen der Sprache zu moderieren bemüht waren, bei doch letztlicher Beibehaltung der älteren, linearen Semantik der direkten Name-Sache-Relation. So jedoch die Auffassung von Kraus, der in diesem Sinne die Synonymik des Prodikos, die Versuche des Protagoras zur Beseitigung von Sprachanomalien und die Bestreitung der Möglichkeit nichttautologischer Prädikationen durch Antisthenes versteht. Darin von Kraus abweichend, sehe ich gute Gründe für die Annahme, daß die Sprachkritik des
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Gorgias und insonderheit seine Auffassung, da die Sprache aus prinzipiellen Gr nden mit den Dingen der Sinnenwelt nicht direkt verbunden ist, nicht eine singul re Position war. Zumindest auch f r Demokrit ist eine solche Position nachweisbar6. Demokrits Behauptung der Inad quatheit und Diskrepanz von Sprache und Wirklichkeit hat nicht spekulativen Charakter. Er st tzt seine konventionalistische Sprachauffassung auf die Beobachtung sprachlicher Tatsachen: der Homonymie, der Polyonymie, der Transposition ( bertragung von Bedeutung) und des Fehlens von W rtern. Die Sprache verschleiert die wahre Natur der Dinge. Die Aufarbeitung der Differenz von Schein und Wahrheit ist die Aufgabe des Verstandes. Der Zustrom der Atome beziehungsweise der Wahrnehmungsbilder (είδωλα) formt jedem Menschen seine Meinung (B 7). Was der Mensch erfa t, das wechselt „gem der Verfassung unseres K rpers und der ihm zustr menden und entgegenwirkenden (Atome)" (B 9). Diese Abh ngigkeit von den subjektiven Erkenntnisbedingungen macht es unm glich, ein jegliches zu erfassen, „wie in Wirklichkeit ein jegliches beschaffen oder nicht beschaffen ist" (B 10; B 8). Der Zugang zur Wirklichkeit vollzieht sich im Herstellen eines Bildes der Wirklichkeit. Demokrit ist sich dieser ein Bild der Wirklichkeit stiftenden Beziehung bewu t, wie seine είδωλα-Theorie zeigt. Die Sprache als ein System von Zeichen hat den Charakter der Perspektivit t, der jeweiligen Hinsicht oder Betrachtungsweise und damit der Willk r, nicht der mechanischen Abh ngigkeit von der Natur. Zur Aufgabe der Sprache geh rt es, Begriffe zu kennzeichnen. Mit Begriffsbestimmungen (όρίζεσθαι) hat Demokrit nach dem Zeugnis des Aristoteles den Anfang gemacht (A 36: Part. An. A1. 642 a 24; Metaph. M 4. 1078 b 19). Nur auf der Grundlage von Begriffen bt das Zeichen seine Vermittlungsfunktion aus. Es vermittelt ein Sein, das f r den Menschen nur im Zeichensein existiert. Das durch Zeichen Bezeichnete bedarf des Verstehens. Daher auch Demokrits Forderung, da da, wo die Untersuchung „ins Feinere (επί λεπτότερον) gef hrt wird, die echte Erkenntnis weise an die Stelle der dunklen zu treten habe" (B 11), das hei t die T tigkeit des Verstandes (φρήν) an die Stelle der Sinneswahrnehmung. Demokrits Erkenntnis- und Sprachkritik ist berhaupt nur unter der Voraussetzung verst ndlich, da er die zentralen Aspekte des triadischen Zeichenbegriffes ber cksichtigt hat. Die Dreistelligkeit wird deutlich, wenn er das Zeichen selbst nicht direkt auf ein Objekt bezieht, sondern die Beziehung
6
Vgl. K. Oehler, „Demokrit ber Zeichen und Bezeichnung aus der Sicht der modernen Semiotik". In: Ders., Sachen und Zeichen. Frankfurt a. M. 1995, S. 155-163.
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zwischen Zeichen und Objekt ihrerseits auf eine diese Beziehung stiftende und interpretierende Instanz bezieht. Demokrits Lehre von den Namen und Zeichen bedeutete für den Zeichenbegriff seiner Zeit eine auffällige Präzisierung und gegenüber dem erkenntnistheoretischen Nihilismus des Gorgias einen beachtlichen Fortschritt. Wo Gorgias das triadische Zeichenmodell nur in polemischer Absicht benutzte, um die Beliebigkeit und Austauschbarkeit von Meinungen ( ) und die Unmöglichkeit von Kommunikation zu demonstrieren, gelingt es Demokrit gerade mit Hilfe eben dieses Modells, die Differenz zwischen der Scheinhaftigkeit der Sinnenwelt (wozu auch der Sprachgebrauch gehört) und der Wirklichkeit der Atome und des Leeren zur Darstellung zu bringen, was ihm, aufgrund des triadischen Modells, möglich wird über die interpretierende Instanz des Denkens, des Begreifens, des Begriffes. Es bedarf keiner Erläuterung, daß dieser positive Gebrauch des triadischen Zeichenmodells Platon nähergestanden haben muß als die nihilistische Version des Gorgias, trotz Platons sonstiger größtenteils ablehnender Haltung gegenüber den jüngeren Naturphilosophen. Auch Demokrit vertritt ja, auf seine Weise, eine Zwei-Welten-Lehre, und es gibt Anhaltspunkte in den Texten, die darauf hindeuten, daß Platon sich auf Lehren Demokrits bezieht, zum Beispiel Theaitet 153 E ff, 201 E ff. Warum Platon den Namen Demokrits nicht nennt, an diesen Stellen nicht und auch an keiner anderen Stelle seines gesamten Schriftwerkes, und sich offenbar sogar dazu hinreißen läßt, sich der Taktik des Ablenkungsmanövers7 in Sachen Demokrit zu bedienen, wie in Theaitet 153 E ff., ist ein Rätsel der Platonforschung, wenn man nicht der simplen Erklärung des Diogenes Laertius (IX 40) Glauben schenken will. Vielleicht sagt diese aber die Wahrheit: „Und soviel ist klar: während Platon fast aller älteren Philosophen gedenkt, tut er des Demokrit nirgends Erwähnung, selbst da nicht, wo er irgend welche Einwendung gegen ihn doch anbringen müßte, offenbar weil er sich bewußt war, daß er es mit dem besten aller Philosophen zu tun haben würde, dem auch Timon in folgender Weise sein Lob hat zuteil werden lassen: ,Auch Demokrit, den besonnenen Weisen, den Hirten der Rede, ihn den verständigen Sprecher, erkannte ich unter den Ersten"'. Aristoteles jedenfalls hatte im Unterschied zu Platon keine Probleme mit der Erwähnung des Namens Demokrit. Wieviel näher Platon trotz allem die Sprachauffassung Demokrits stand als die Bestreitung der Möglichkeit intersubjektiver Kommunikation durch 7
Vgl. U. Hölscher, „Der HerakJiteer in Platons Theaitet". In: R. Wiehl (Hrsg.), Die antike Philosophie in ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Heidelberg 1981, S. 37-53. Dazu Chr. Rapp, Vorsokratiker (Reihe Denker Bd. 539), München 1997, S. 211.
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Gorgias oder die Ablehnung aller nichttautologischen Urteile durch Antisthenes, wurde auch von antiken Kommentatoren zu Dialogen Platons so gesehen, die, wie beispielsweise Proklos in seinem Kommentar zum Kratylos oder Olympiodoros in seinem Kommentar zum Philebos, wenn auch auf unterschiedliche Weise, auf Demokrit Bezug nehmen. Was Platon und auch Aristoteles mit Demokrits Sprachtheorie verbindet, ist die Grundannahme, da die W rter Symbole, Zeichen, Bilder (σύμβολα, σημεία, ομοιώματα, εικόνες, αγάλματα) sind, und auch Epikur d rfte in dem, was er mit Platon und Aristoteles in seiner Sprachtheorie gemeinsam hat, von Demokrit beeinflu t sein. In der L sung jedenfalls seines Hauptproblems, das Platon von Sokrates bernahm, n mlich der kritischen Abwehr der Angriffe gegen die prinzipielle Zuverl ssigkeit der Sprache und der Beantwortung des Kongruenzproblems von Sprache und Wirklichkeit, war Demokrit der Sache nach mehr Bundesgenosse als Gegner Platons. Das gilt insonderheit f r das Kernst ck von Demokrits Sprachauffassung, den triadischen Ansatz, der sich, anders als in der negativen Zweckbestimmung bei Gorgias, in seiner Positivit t der M glichkeit der L sung zentraler Probleme der Ideensystematik Platon geradezu anbot. Aber auch der triadische Ansatz Demokrits wies noch, ebenso wie der des Gorgias, ein entscheidendes systematisches Defizit auf, das Platon klar erkannte. In beiden Entw rfen eines triadischen Zeichenmodells bleibt der Mittelbegriff unterbestimmt, jenes Zeichenelement, das die f r das Zeichenph nomen entscheidende Vermittlungsleistung zu erbringen hat, das Element, das bei Ogden und Richards .Thought', bei Peirce Thought-Sign' oder jlnterpretant* hei t, das Element der Drittheit (,Thirdnessc). Beide, Gorgias und Demokrit, hatten erkannt, da die Sprache sich nicht unmittelbar auf die sinnlich wahrnehmbaren Dinge beziehen kann, sondern da die Sprache und die Zeichen generell sich auf Gedanken, Vorstellungen, Gef hle oder Empfindungen beziehen. Der Schlu , den Gorgias daraus zog, Sprache bez ge sich nicht auf Seiendes, war ein Kurzschlu , und Demokrits atomistisches Wirklichkeitsverst ndnis war aus der Sicht Platons unhaltbar, da die Aufz hlung aller ersten Bestandteile unzureichend bleibe, wenn nicht ein Ganzes oder eine einheitliche Form, eine Idee dazukomme (Theaitet 201 E ff.). In die als solche identifizierte Leerstelle des triadischen Zeichenmodells r ckt Platon den Begriff seiner Idee, der sich nicht nur, aber auch, der Beobachtung der Zusammenfassung mehrerer Gegenst nde unter einen Namen zu verdanken scheint (vgl. dazu Menon 74 D 5 ff.; Politeia X 596 A 6 f.). Durch seine Anamnesislehre sichert er dar ber hinaus die Identit t der Ideen f r alle Menschen als notwendige Voraussetzung der M glich-
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keit sprachlicher Kommunikation. Dadurch, daß für Platon das wahrhaft Seiende nicht in den sinnlich wahrnehmbaren Dingen besteht, wahres Sein nur den Ideen zukommt, ist er auf die Gegenstände der Sinnenwelt als Gegenstände sprachlicher Referenz gar nicht angewiesen, die vielmehr die Ideen sind. In diesem Platonischen Modell beziehen sich die Wörter nicht auf Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung, sondern primär auf Ideen, und nur indirekt, das heißt vermittelt durch Ideen, auf Sinnendinge, und das deshalb, weil die Sinnendinge gemäß der Methexislehre an den Ideen partizipieren, was die Möglichkeit einschließt, daß mehrere Dinge an derselben Idee teilhaben, was wiederum die Benennung mehrerer Dinge mit dem gleichen Namen erklärt. Man braucht gar nicht in eine Erörterung der Subtilitäten der Auslegungsgeschichte der Ideenlehre einzutreten, um das Neue der Platonischen Zeichenkonzeption im Rahmen des antiken Parallelismus von Sein, Denken und Sprache zu erkennen. Die Feststellung von Kraus hat uneingeschränkte Gültigkeit: „Im Zusammenhang seines eigenen philosophischen Systems hat Platon das erste wirklich funktionstüchtige dreistellige Sprachzeichenmodell in der europäischen Geistesgeschichte entwickelt. Daher ist in der Tat er der eigentliche Erfinder des triadischen Zeichenmodells und damit jener Konzeption, die dem modernen ,semiotischen Dreieck' zugrunde liegt"8. Die vorsokratischen Vorstufen dieses Modells führen zur Architektur der Platonischen Semiotik. Wie sieht diese Architektur aus? Der Dialog Kratylos wirft darauf ein erhellendes Licht, da er der Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit gewidmet ist, wenn auch recht eigentlich in fast allen Werken Platons diese Grundfrage mitverhandelt wird. Es geht im Kratylos um die „Richtigkeit" der sprachlichen Bezeichnungen ( ), konkret darum, ob die Namen den Dingen durch eine natürliche Beziehung zukommen oder durch Konvention zugeordnet sind. Die Frage, welchen Standpunkt Platon dabei bezieht, ist bis heute umstritten. Im Kratylos schreibt Platon der Sprache Werkzeugcharakter zu, soviel ist sicher, und der aussichtsreichste Weg zum Verständnis der Platonischen Zeichentheorie scheint mir der Rückgriff auf das sogenannte Organonmodell der Sprache im Kratylos zu sein (384 D 10-391 B 3). Im Rahmen dieses Organonmodells9 wird das Wort ( ) definiert als ein „belehrendes und
8 9
M. Kraus, a. a. O., S. 273. Zum Organonmodell der Sprache bei Platon und einem Vergleich mit modernen Semantiktheorien vgl. E. Heitsch, Willkür und Problembewußtsein in Platons Kratylos. Stuttgart 1984, S. 63-73. Ders.: „Platons Sprachphilosophie im Kratylos". Hermes 113, 1985,
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ein das Wesen unterscheidendes Werkzeug" (όνομα άρα διδασκαλικόν τί εστίν όργανον καΐ διακριτικόν της ουσίας 388 Β13-C 1). Die f r Platons Sprachauffassung wichtigsten Bestimmungsst cke der Kommunikation einerseits und des Seinsbezuges andererseits sind damit benannt. Des weiteren werden als Benutzer der W rter der Lehrende (διδασκαλικός 388 C 6), als ihr Verfertiger der Gesetzgeber (νομοθέτης 388 E1) und als Beurteiler der Dialektiker (διαλεκτικός 390 C11) angegeben. Daran schlie t sich bei der Beschreibung der richtigen Verfertigung korrekter Namen ein kompliziertes semiotisches Schichtentheorem an. Von dem Gesetzgeber als dem Verfertiger der Namen wird gefordert, da er ein Wissen von dem hat, was ein Name ist (αυτό εκείνο δ εστίν όνομα 389 D 7), das hei t von der Idee des Namens berhaupt. Au erdem gibt es eine bestimmte, spezifische Form des Namens, d. i. „den einem jeden Gegenstand von Natur aus zukommenden Namen" (το έκάστω φύσει πεφυκός όνομα 389 D 4 f.), die auch ιδέα (389 E 3) oder „einem jeden Gegenstand zukommende Form des Namens" (το του ονόματος είδος (...) το προσήκον έκάστφ 390 Α5 f.) genannt wird. Erst danach vollzieht sich der Vorgang, durch den die spezifische Form oder Idee des Namens von etwas durch den Namengeber im Material der Laute und Silben abgebildet wird. Dabei kommt es nicht darauf an, welche Laute und Silben er dazu konkret benutzt. Es kommt allein auf die Wiedergabe der spezifischen Idee des Namens an; die Lautgestalt kann durchaus verschieden sein, wie bei Griechen und Barbaren (389 D 8 ff.; 393 D l ff. und 7. Brief 343 A 9 ff), im Sinne der Unterscheidung von Lautgestalt und Bedeutungsgehalt. Erg nzend zu dem bereits konstatierten Platonischen Dreiecksmodell ergibt sich so noch eine zweite triadische Relation, bestehend aus der Lautgestalt des Namens, der spezifischen nat rlichen Namensform und der zu benennenden Idee. Kraus hat dieses Schichtenmodell noch komplettiert durch die im Liniengleichnis der Politeia (509 D l — 511 E 5) vorgenommene Stufung der Seinsbereiche und der ihnen zugeordneten Erkenntnisverm gen und kommt f r das so erg nzte Sprachzeichenmodell Platons zu einem integrativen Diagramm10. An diesem Diagramm ist deutlich erkennbar, da der Namengeber bei der Erfassung der spezifischen Namensidee zuvor sowohl die Idee dessen,
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S. 44 — 62. Zur erg nzenden Komplettierung des triadischen Zeichenmodells bei Platon zu einem de facto tetradischen Modell vgl. schon P. Schmitter, „Das Wort als sprachliches Zeichen bei Platon und de Saussure". In: H. Becker u. H. Schwarz (Hrsg.), Gedenkschrift f r Jost Trier, K ln—Wien 1975, S. 45 —62. Ders., Das sprachliche Zeichen. Studien zur Zeichen- und Bedeutungstheorie in der griechischen Antike sowie im 19. und 20. Jahrhundert (Studium Sprachwissenschaft. Beiheft 7), M nster 1987, S. 19-42. M. Kraus, a. a. O., S. 277. Das Kraussche Diagramm hier nachstehend im Text, S. 165.
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Platons Semiotik als Inszenierung der Ideen
Erkenntnisverm gen
Seinsbereich
Ideen είδη
Idee der Sache αυτό ο εστίν πράγμα
Idee des Namens αυτό ο εστίν όνομα
Wissen/Erkennen έπιστήμη/νόησις
spezifische Idee des Namens το φύσει εκαστφ πεφυκός όνομα
Dinge πράγματα
Meinung/Glaube δόξα/πίστις
χ
ft'
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/ I
Abbilder μιμήματα
Verstand διάνοια
.-·-''' Abbild είδωλον
Vermutung
was ein Name berhaupt ist, als auch die Idee der zu benennenden Sache kennen mu . Das ist eine Kombination zweier Ideen, die nur in der Seele sich ereignen kann und, da es sich um einen kognitiven, diskursiven Proze handelt, nur in der Dianoia ihren Ort hat. Das Kraussche Diagramm illustriert anschaulich und instruktiv, da f r Platon die Seele der Ort der Entstehung der Sprache und also die Sprache eine genuin menschliche Hervorbringung ist. In der Seele erzeugte Ideen, also Ideen niederen Ranges, k nstlich hervorgebracht, firmieren bei Platon auch als Ideen von Artefakten. Konkrete Namen sind Artefakte, und in der Tat ist ihr ontologischer Status der n mliche wie der von Abbildern, Bildern und Nachahmungen der Sinnendinge (z. B. Kratylos 423 B 4 ff., 430 A10 ff, 439 A 5 ff, Theaitet 206 D l ff, Sophistes 234 B l ff. und VII. Brief). Mit dieser systematischen Zuordnung begr ndet Platon die erkenntnistheoretische Nachrangigkeit der konkreten, stimmlich und graphisch verk rperten Namen, und das entspricht genau ihrer Stellung in den Dihairesen der Sp tdialoge, in denen es um Ideen, nicht um W rter geht, die ja gelegentlich, von Fall zu Fall, berhaupt erst erfunden werden m ssen, wenn es gilt, systematische Differenzierungen, f r die es noch keine Namen gibt, nachtr glich mit einem Namen zu versehen.
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Platons Semiotik ist nicht irgendein nachgeordnetes Bestimmungsstück seiner Philosophie, sondern die determinierende Voraussetzung des Hauptstückes dieser Philosophie, der Ideenlehre. Platon vertritt eine atomistische, das heißt wortisolierte Zeichentheorie der Sprache (Kratylos 433 B 3), und der Sprache weist er Werkzeugcharakter zu. Das Wort als Zeichen und die benannte, bezeichnete Sache gehören getrennten Bereichen an (430 A). Und es gilt als durchaus möglich, „die Dinge kennenzulernen ohne Hilfe der Wörter" (438 E), deren „Richtigkeit", falls sie „richtig" sind, darin besteht, anzuzeigen, „wie die Sache beschaffen ist" (428 E). Diese semiotische Dichotomic von Sache und Sprachzeichen verlangte nach konstanten Ordnungsschemata, die erklären konnten, woran sich die Erkenntnis des Wesens der Dinge und allgemein verbindliche Prädikationen orientieren und wodurch verläßliche Kommunikation ermöglicht wird. Platons Antwort auf diese semiotisch unabweisbare Frage war seine Lehre von den Ideen, die jene semiotisch geforderten konstanten, absoluten, unveränderlichen Ordnungsschemata bereitstellte. Daß innerhalb des triadischen Zeichenmodells diese Klasse von Ordnungsformen (Begriffe, Ideen) dann, so wie es aussieht, vom Menon bis zum Phaidon möglicherweise eine Entwicklung vom Begriff zur Idee absolvierte, Platon also zunächst nur das als Begriff suchte, was „wir begreifen, wenn wir eine Definition kennen", wie Ernst Kapp11 vermutete, und Platon vielleicht erst später dazu überging, das Ansichsein solcher Prädikate als „Maßstab für zweifelhafte Fälle"12 zu bestimmen und solches auch für körperliche Dinge zu suchen und seine Auffassung der Ideen mit der Lehre von Teilhabe und Abbild verband, ändert an dem philosophisch ausschlaggebenden Faktum nichts: daß mit dem semiotischen Vorentwurf und Grundriß von Platons Ideenkonzeption für seine Ideenlehre die Weiche zu jener metaphysischen Zwei-Welten-Lehre gestellt war, die seitdem das Gedächtnis der Menschheit historisch vollkommen korrekt mit Platons Ideenlehre assoziiert. Während die sinnlich wahrnehmbare Sache und das ebenfalls sinnlich wahrnehmbare Zeichen der Sinnenwelt angehören, gehören Begriffe und Ideen der intelligiblen Welt an, deren Gegenstände nicht empirisch zugänglich sind (Parmenides 134B), vielmehr überempirische, invariable Maßstäbe sind, an denen das sinnlich Gegebene gemessen wird. So kommt Platon, auf dem Wege der Zeichenanalyse, neben Sache und Wort zu jener dritten Position, von Peirce Drittheit (Thirdness) genannt, die die Welt des Intelligiblen ausmacht, den Bereich des Gedankens, des Begriffes, der Bedeutung, des Wesens, der Idee, die vom Wort getroffen und benannt werden, aber auch 11 12
E. Kapp, Der Ursprung der Logik bei den Griechen. Göttingen 1965, S. 39. E. Kapp, a. a. O., S. 44.
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verfehlt werden kann, vor allem aber unabhängig vom Wort besteht. Gemessen an ihr ist das Wort das im Grunde Gleichgültige: die Idee eines Wortes besteht unabhängig von ihrer phonetischen oder sonstigen Realisierung (Kratylos 390 A), die ja in jeder Sprache eine andere ist. Ausgehend von dem Wort-Gegenstand-Modell, entwickelte sich Platons Semiotik zu einer bedeutungsrealistischen Theorie, als deren logische Konsequenz die Konstituierung und Entfaltung einer Metaphysik der Ideen ganz unvermeidlich war. Die Sprachzeichen benennen Gegenstände, aber nicht direkt, sondern vermittelt über die Bedeutung, die dem Bereich der unsprachlichen Wesenheiten angehört. Die treibende Kraft zur Auffaltung dieser Dreiheit ist aber nicht eine imaginäre, vorgängige ontologische Theorie, sondern die logische Analyse des Sprachzeichenbegriffes, dessen triadische Struktur zuerst Platons Theorie des Zeichens, seine Semiotik, und dann erst, als Folge dieses Ansatzes, seine Ideenlehre aus sich hervortreibt. Deren von Anfang an tendenzielle, sehr bald faktische Ontologisierung, die Bedeutungen als ideale Gegenstände reifiziert, folgt strukturell genau den Vorgaben des semiotischen Dreierschemas und dessen schließlich hochdifferenzierter Systematik. Das gilt selbstverständlich auch für die Inhalte der ungeschriebenen Lehren Platons, ja für sie systematisch an erster Stelle. Wie Aristoteles sich in seinen Werken zwecks Erwähnung seiner Kategorienlehre meistens damit begnügt, nur die ersten der zehn Kategorien zu zitieren, so beschränkt sich auch Platon in seinem Spätwerk bei Bezugnahmen auf sein Zeichenmodell zumeist auf die Dreiheit von Name ( ), Wesen ( ) und Definition ( ), wobei Wesen für die Sache steht, weil von einer Sache nur ihr invariantes Wesen Gegenstand der Erkenntnis sein kann. Für die Inszenierung der Ideen, ihre Organisation und Gliederung, ihre Über-, Unter- und Nebenordnung, die Partizipation der Pragmata an ihnen und die Beziehung der Ähnlichkeit mit ihnen, für diese Ökonomie der Begriffswelt und deren Stratifikation stellte Platons Semiotik das Modell bereit. Das heißt: ohne die relationenlogische Vorleistung durch die Systematisierung des Zeichenbegriffes wäre die hochintegrierte Infrastruktur des Ideenkosmos gar nicht möglich gewesen. Die Grundrelation der Ideenkonzeption von Name, Wesen (Sache) und Logos (Definition) wiederholt nur das semiotische Dreierschema, appliziert es auf eine „idealisierte" Weltsicht und bildet es in der Systematik der dihairetischen Muster, wie sie uns Platon etwa im Sophistes exemplarisch vorführt, in abgestufter Reihung ab. Die Zeugnisse der ungeschriebenen Lehren ( ) Platons sind das historisch gesicherte Siegel auf dieser auch in den Dialogen deutlich erkennbaren Systemstruktur. Der geschichtlich und systematisch gleichermaßen unabweisbaren Aufgabe, vor die sich Platon nach dem Vorgang des Sokrates und dessen Abwehr
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des sophistischen Relativismus gestellt sah, glaubte er nur dadurch angemessen zu entsprechen, daß er eine zeitenthobene Klasse absoluter, idealer Ordnungsformen konstatierte, die die subjektiven Erkenntnisakte des Menschen durch die Teilhabe an einer idealen Bedeutung in eine Sphäre des Unveränderlichen, Ewigen und in diesem Sinne Wahren und Objektiven transponieren. Diese systematische Aufgabe war in der historischen Situation Platons nicht mit der Bezugnahme auf ein kontingentes nichtpropositionales Gebrauchswissen und durch die Berufung auf eine moralisch-praktische Urteilskraft zu lösen, weil genau so gerade nicht der sophistische Bann der Beliebigkeit und Willkür gebrochen werden konnte. Die prinzipientheoretische Grundlegung, wie Platon sie vornahm, war ohne eine Zwei-Welten-Ontologie und ohne eine dieser entsprechenden Zwei-Welten-Epistemologie nicht möglich. Das Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis in der Politeia ist an literarisch exponierter Stelle nur der ikonische Hinweis auf diese dichotomische Eigenschaft des Platonischen Systems, wonach dem vergänglichen und veränderlichen Bereich der Sinnendinge ein ewiger und unveränderlicher Bereich der Ideen gegenübersteht. Aristoteles scheint in dieser Zwei-Welten-Lehre Platons eine Synthese des Heraklitischen und des Parmenideischen Ansatzes gesehen zu haben (Metaph. 1078 b 12 ff.). Wesentlich in unserem Zusammenhang ist der Umstand, daß in einem System wie dem Platonischen die Sprache nur einen instrumentellen Charakter besitzt und lediglich die Funktion hat, die unsprachlich und noetisch erkennbaren Bedeutungsidentitäten durch Abbildung oder Teilhabe zu bezeichnen, so jedoch, daß die ansichseienden Bedeutungen von der Sprache als einem jeweils zufälligen Mittel ihrer Kundgabe getrennt sind. Als Fazit bleibt also festzustellen: daß die auf der Grundlage von Platons Semiotik erfolgte ontologische Fundierung der Erkenntnis deren intentionale Gegenstände in einer eigens dafür statuierten Schicht von Erkenntnisgaranten, den Begriffen und Bedeutungen, festmacht und es auf diesem Wege zu einer Reifizierung der Bedeutungen kommt. Die Kritik an dieser Bedeutungstheorie ist, wie die innerschulischen Diskussionen und Parteiungen in der Alten Akademie zeigen, so alt wie diese Theorie selbst, und die Geschichte dieser Kritik bis heute ist bekanntlich fast identisch mit der Geschichte der Philosophie. Die Haupteinwände konzentrieren sich dabei vor allem auf zwei Punkte: die metaphysische Konstruktion der Hypostasierung der Bedeutung zu einer idealen Wesenheit und die damit verbundene Vorstellung von Sprache als der bloß instrumentell fungierenden lautlichen Kundgabe sprachfrei vollzogener Erkenntnis, wobei der Sprache im Erkenntnisprozeß nicht eine konstitutive Funktion zugeteilt und zuerkannt wird, dergestalt, daß die Sprache von sich selbst her, heterogen zu
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den Dingen, eigene Ordnungs schemata zur Anwendung brächte. Unter dem Einfluß der sprachanalytischen Philosophie und insonderheit unter dem Einfluß der Spätphilosophie Wittgensteins erschien Platon als das prominente Musterbeispiel eines Opfers seiner falschen Auffassung des Zusammenhanges von Welt und Sprache. Vor dieser sprachanalytisch inspirierten Metaphysikkritik glaubten im Zuge des Wittgenstein-Booms nicht wenige Interpreten Platon dadurch bewahren zu können, daß sie in Abrede stellten, Platon habe eine Zwei-WeltenOntologie und die dazugehörige metaphysische Epistemologie gelehrt. Aber das Selbstzeugnis der Platonischen Texte und der indirekten Überlieferung war stärker. Der seinerzeit so zeitgeistgemäße Zweifel, daß Platons Rede von zwei Welten wörtlich zu nehmen sei, ist in dem gleichen Maße verblaßt, wie sich die analytische Philosophie inzwischen selbst verändert und ihre Schicksale gehabt hat. Es ist das bleibende Verdienst der sprachanalytisch inspirierten Behandlungsart antiker Philosophie, besonders Platonischer und Aristotelischer Texte, von einem Standpunkt des 20. Jahrhunderts aus die Rolle der Sprache innerhalb antiker Theorienbildung zum erstenmal umfassend aufgezeigt zu haben. Wolfgang Wielands bedeutsames Buch13 über die ,Physik' des Aristoteles ist dafür paradigmatisch und ein Markstein auf dem Weg der Forschung, und Analoges gilt für sein Buch14 über Platon. Der Markstein ist immer auch ein Grenzstein; er macht eine sonst unsichtbare Grenze sichtbar. Das ist seine Funktion. In diesem Sinne muß es uns auch bei dem sprachanalytischen Approach, wie bei jeder anderen Interpretationsart, im nachhinein um die Abgrenzung des Falschen im Wahren gehen. Zeit der Nachlese. Das Proton Pseudos des sprachanalytischen Approach war aus meiner Sicht die Fehlinterpretation des Begriffs, den die griechische Philosophie selbst vom Wesen der Sprache gehabt hat. Die sprachlichen Bedingungen des griechischen Denkens sind das eine; das andere sind die historischen Zurechnungen und Bewertungen dieser sprachlichen Bedingungen im geschichtlichen Kontext der griechischen Antike. Es ist zwar richtig, daß für Platon und in noch höherem Grade für Aristoteles jede Rede etwas bedeutet gemäß Übereinkunft und daß Sprachliches auf ein Übereinkommen, auf eine intersubjektive, kommunikative Verständigung angewiesen ist. Das ändert aber nichts daran, daß von ihnen Bedeutung als eine sprachtranszendente Entität
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W. Wieland, Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlagen der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles. Göttingen 31992 (1962). W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 1982.
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aufgefaßt wird, auf die man sich bezieht und die man im Sprechen trifft oder verfehlt. Der Gegenstand der Übereinkunft ist nicht qua Übereinkunft die Sache, sondern er ist die Sache nur dann, wenn er mit der sprachtranszendenten Entität übereinstimmt respektive sich auf sie bezieht. Den Verbalkonsens, auf den sich unsere heutigen Diskurstheoretiker so viel zugute halten, desavouiert Platon souverän als sophistischen Schein. Sprache bedeutungsvoll gebrauchen heißt im Platonischen Kontext nicht, eine Übereinkunft herstellen über Sachen in einer Sprache, sondern die Übereinkunft herstellen in einer Sprache, die sich im Falle der Richtigkeit auf sprachtranszendente Entitäten bezieht, und zwar in der Weise, daß die Bedeutung im Akt des Bedeutens als solche gegenständlich bewußt wird. Faktoren sozialrelevanter und handlungsrelevanter Operationen werden dabei sowohl bei Platon als auch bei Aristoteles durchaus in Rechnung gestellt. Aber bei beiden bleiben Semantik und Pragmatik scharf getrennt, und die Behauptung gar, daß bei ihnen die Semantik in der Pragmatik gründe oder daß jene mit dieser gleichursprünglich sei, ist abwegig. Die programmatische Hochbewertung des nichtpropositionalen Gebrauchswissens in betonter Analogie zu der natürlichen Einstellung hat als Interpretationsdevise ihren modernen systematischen Ort im Kontext des vom späten Wittgenstein initiierten Approach. Platons Semiotik als die Voraussetzungsstruktur seiner Ideenlehre ist auf diesen Approach denkbar schlecht eingestellt. Historische Texte, die zu uns sprechen (wollen), machen Quellenaussagen, die es im Normalfall gar nicht nötig haben, nach dem Diktat immer neuer Theorien gegen Hypothesen eingetauscht zu werden; ebenso ist es kein Gebot der Überlieferung und der philosophiehistorischen Erkenntnis, Quellenbegriffe in die wechselnden Leitbegriffe einer jeweiligen Gegenwart zu übersetzen. „Das Altertum redet mit uns, wann es Lust hat, nicht wann wir" (Nietzsche).
GEROLD PRAUSS
Auf der Flucht vor individuellen Eigenschaften oder Der verkannte Platon Wer verfolgt, mit welcher Regelmäßigkeit man heutzutage in Verwirrung stürzt, sobald man Eigenschaften von etwas zum Thema macht, kommt aus dem Staunen nicht heraus: Kaum hat man sie thematisiert, weiß man mit ihnen auch schon nichts mehr anzufangen. Deshalb überredet man sich eilends, damit habe man das Allgemeine oder das Universale als dasjenige thematisiert, das mehr als einem Individuellen oder Einzelnen gemeinsam sei1. Die Geister, die man rief, die wird man damit aber nicht mehr los. Kann es doch keinen Zweifel daran geben, daß etwa die Röte eines individuellen Einzeldings, das rot ist, als die Eigenschaft von ihm eine genauso einzelne und individuelle ist wie dieses Ding, das diese Eigenschaft der Röte hat. Denn eine Eigenschaft wie diese Röte, die es hat, kann dieses Ding doch auch verlieren oder, wenn es sie nicht hat, bekommen. Schließlich kann es, wenn es rot ist, doch auch nichtrot werden, oder umgekehrt, indem es beispielsweise blau wird, oder umgekehrt. In diesem Fall bekommt oder verliert es diese Röte oder Bläue aber nur als seine individuelle Eigenschaft. Bloß deshalb nämlich, weil es sie bekommt oder verliert, bekommt oder verliert ein anderes rotes oder blaues Ding die Röte oder Bläue als die Eigenschaft von sich durchaus nicht. Jedes Ding bekommt oder verliert sie vielmehr, wenn es eine Eigenschaft bekommt oder verliert, als eine individuelle Eigenschaft von sich als einem individuellen Ding. Und jedes Ding besitzt sie darum, wenn es eine Eigenschaft besitzt, auch nur als eine individuelle Eigenschaft von sich als einem individuellen Ding. Und ohne jeden Sinn bleibt bei genauerer Betrachtung denn auch jene Meinung, es verliere oder es bekomme oder es besitze etwas Allgemeines, wenn es eine Eigenschaft verliert oder 1
Die Belege dafür sind so zahlreich, daß es interessanter wäre, zu belegen, wer mit einem Argument das Gegenteil verträte, was mir aber unbekannt ist. Deshalb aus der Vielzahl jener anderen Belege nur drei Beispiele: J. Searle, Sprechakte, Frankfurt a.M., S. 159 f., S. 174 ff., S. 182 ff; W. Stegmüller, Das Universalienproblem einst und jet^t, Darmstadt 1965, S. 52 ff., S. 57, S. 59, S. 63; E. Tugendhat/U· Wolf, Logisch-semantische Propädeutik, Stuttgart 1983, S. 86, S. 142 ff.
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bekommt oder besitzt. Denn das %u diesem Individuellen Allgemeine ist von diesem Individuellen dann auch grundsätzlich zu unterscheiden, weil es unerfindlich bleiben muß, wie etwas Individuelles jemals etwas anderes verlieren und bekommen und besitzen kann als immer wieder etwas Individuelles. Zu einer Lösung der Verwirrung wie auch der durch sie bewirkten Lähmung unseres Denkens, die hier immer noch bestehen, könnte eine Rückbesinnung darauf nützlich sein, wie diesbezüglich alles angefangen hat. Nach der Darstellung in Platons frühen Dialogen gilt bekanntlich Sokrates als der Entdecker dieses Allgemeinen. Und als erstes Zeugnis des Versuchs, dieses Entdeckte zu umschreiben, darf der Laches gelten, worin Sokrates die Tapferkeit thematisiert. Auf seine Frage, was denn Tapferkeit sei, hatten die Gesprächspartner des Sokrates mit einer Aufzählung von Beispielen für Tapferkeit geantwortet: von Einzelfällen also, deren jeder letztlich nur als Fall der Tapferkeit von einem Einzelnen verstanden werden kann. Und so versucht er mehrfach, ihnen klarzumachen, daß es ihm dabei nicht darum geht, was Tapferkeit im einzelnen, sondern im allgemeinen sei. Und da er einen Terminus dafür noch nicht besitzt, versucht er mehrmals, dieses Allgemeine zu umschreiben. Und allein schon ihrer Kürze wegen darf die eine der Umschreibungen, die er zuletzt erreicht, als klassisch gelten: Was er meine, sei nicht dieser oder jener Einzelfall von Tapferkeit, sondern die Tapferkeit als dasjenige, was in allen diesen Fällen dasselbe ist2. Und klassisch ist das eigentlich Gemeinte auch insofern damit ausgedrückt, als dieser Ausdruck noch im deutlich späteren Menon, dessen Anfang wie der eines frühen Dialogs verläuft, wortwörtlich wiederkehrt, — mit einer aufschlußreichen Ausnahme: Das „en" im Sinn von „in" ist hier durch ein „epi" ersetzt3, das hier auch etwas anderes als „en" bedeuten muß. Denn „en" heißt „in" im starken, strengen Sinn von „innerhalb", der durch „epi" auf keinen Fall zum Ausdruck kommen kann. Und daß im Laches in der Tat nur dieser starke, strenge Sinn von „en" gemeint sein kann, belegt zum Beispiel das „hindurch" („dia") als eine Art Variante für ihn4. Aber trotz ihrer Bedeutsamkeit scheint diese Sinnverschiedenheit bisher nicht die Beachtung, die ihr angemessen ist, zu finden. Muß sich hinter ihr doch eine unausdrückliche Kritik verbergen, ob nun eine Selbstkritik von Platon5 oder eine gegen seinen Lehrer Sokrates gerichtete, die ausdrücklich nur lauten kann: Gerade wenn es sich bei dem Entdeckten um das Allge-
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Laches 191 e 10f. Vgl. Euthydemos 5 d l . Menon 75 a 4 ff. Vgl. Loches V)2c\. Selbst im Menon kommt „dia" und „en" gelegentlich noch vor, vgl. z. B. 72 e l und 74 a 9.
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meine handeln soll, kann es sich dabei nicht um etwas handeln, das sich jeweils „in" dem Einzelnen befindet; soll es sich bei diesem Allgemeinen doch um eines und dasselbe handeln, während es bei diesem Einzelnen sich doch um vieles handelt6. Und der Menon, den der Phaidon schon zitiert7, vertritt denn auch schon die Ideenlehre als die letzte Konsequenz, die Platon eben hieraus zieht: Das Allgemeine kann sich keinenfalls im Einzelnen befinden8, sondern allenfalls in dem Verhältnis zu ihm stehen, das er nunmehr durch „epi" statt „en" zum Ausdruck bringt: Und im Vergleich zum „en", das es ersetzt, kann das „epi" bereits in diesem Kontext nur den Sinn von „in Beziehung auf besitzen, in dem Platon es auch später noch benutzt, wenn er das Allgemeine als das „Eine" in Beziehung auf das Individuelle als das „Viele" charakterisiert9. Und in der Tat: Nach der Ideenlehre, nach der dieses Allgemeine als Idee „getrennt" („choris")10 vom Individuellen sein soll, kann es gar nicht „in" ihm sein. Es kann danach vielmehr nur %u ihm noch in irgendeiner Art Beziehung stehen, die Platon als die „Methexis", die „Teilhabe" des Individuellen an dem Allgemeinen der Ideen charakterisiert. „Im" Individuellen muß dann vielmehr etwas gänzlich anderes als dieses Allgemeine, nämlich etwas Individuelles sein, und so „im" Individuellen etwas Individuelles. Und mit einer Klarheit, die nun wirklich nichts zu wünschen übrig läßt, drückt Platon dies auch aus: „Im" Individuellen ist gerade nicht das Allgemeine, wie z. B. die Idee der Gleichheit oder die Idee der Größe, sondern jeweils eine individuelle Gleichheit oder eine individuelle Größe, deren jede es genau so vielmals gibt wie gleiche oder große individuelle Dinge. Mit derselben Klarheit also, mit der jenes „in" von Platon für dies Allgemeine aufgegeben wird11, wird jenes „in" von Platon für dies Individuelle beibehalten12. Damit aber ist schon hier, wo all dies seinen Anfang hatte, ein Gedankengang durchlaufen, der gleichwohl jedoch anscheinend noch bis heute nicht
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Vgl. z. B. Mtnon 74 d 5 f. Vgl. 73 a-b. Eben dies schließt Platon denn auch beispielsweise im Symposion ausdrücklich mehrfach aus, vgl. 211 a 8, b 1. Wie etwa im Parmenides, vgl. 132c 3, c 7. Genau in diesem Sinn kann er darum schon in der Politeia gleichbedeutend mit „epi" auch noch „peri" verwenden (vgl. 596 a 7, b 3). Daß dieses Wort dafür erst später auftritt (vgl. z. B. Parmenides 129d 7, 130b 2ff), ändert nichts daran, daß Platon von Beginn an eben dies mit der Ideenlehre meint. Denn das „para", das dafür schon im Phaidon auftritt (74 a 11) und womöglich noch viel stärker die Getrenntheit der Ideen ausdrückt, läßt darüber keinen Zweifel zu. Vgl. nochmals im Symposion 211 a 8, b 1. Daran kann es schlechthin keinen Zweifel geben angesichts des wiederholten und betonten „en" im Phaidon 74 d 4, 102b 5, d 7, e 6.
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verstanden wird13. Wer diesbezüglich anderer Meinung ist, der frage sich darum zur Überprüfung, worin seiner Meinung nach das eigentlich Platonische dieses Gedankenganges liegt, oder gegebenenfalls: das eigentlich Verfehlte. Noch bis heute nämlich scheint die Antwort darauf alles andere als klar zu sein. Zunächst das Allgemeine anbetreffend: Liegt das eigentlich Platonische oder Verfehlte etwa darin, daß das Allgemeine hier von Platon als „getrennt" („choris", „para") vom Individuellen angesetzt wird? Keineswegs. Mag dies auch noch so oft behauptet werden. Wer hier anderer Meinung ist, braucht nämlich nur zu überlegen, was eine Alternative dazu bilden könnte. Etwa dies, das Allgemeine nur als Allgemeinen^ das heißt, nur als „Gedanken in der Seele" aufzufassen, wie es Platon später selbst bereits erwogen hat?14 Durchaus nicht. Denn auch als ein Allgemeinen^" kann dieses Allgemeine grundsätzlich nur etwas Anderes als das Individuelle sein, zu dem es jeweils dieses Allgemeine ist, und mindestens in diesem Sinn sonach auch nur „getrennt" von ihm. Vom Allgemeinen als dem Allgemeine^ kann jedenfalls erst recht nicht gelten, daß es in dem Individuellen sei, %u dem es dieses Allgemeine ist oder von dem es dieser Allgemeine^ist- Unerfindlich muß es nämlich bleiben, welchen Sinn es beispielsweise haben könnte, von einem Begriff zu sagen, er sei in dem Ding, dessen Begriff er ist15. Platon läßt entsprechend auch nicht den geringsten Zweifel daran, was für ihn dabei entscheidend war und bleibt: Was Platon als Idee zugrunde legt, ist nicht das Allgemeine als „Gedanke in der Seele", sondern das, wovon er jeweils der Gedanke sei, wenn anders er doch nicht von nichts, sondern von etwas der Gedanke ist: von etwas Seiendem16. Und dieses Seiende ist es nach Platon somit, das als Allgemeines oder als Idee „getrennt" vom Individuellen sein soll. Und so liegt das eigentlich Platonische oder Verfehlte auch gerade nicht schon darin, daß das Allgemeine als Idee „getrennt" vom Individuellen sein soll, sondern daß es als von ihm „Getrenntes" etwas Seiendes sein soll, das jeweils wie ein Ding in einem Jenseits zu den wahrnehmbaren Dingen liege17. Kurz: Das eigentlich Platonische oder Verfehlte der Ideenlehre ist — was dieses Allgemeine anbetrifft — nur die Verdinglichung desselben, die durch seine bloße Abtrennung durchaus noch nicht vollzogen wäre. 13
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Angesichts der Trefflichkeit und Klarheit dieser Überlegung wäre interessant zu wissen, wer es eigentlich gewesen ist, der danach wieder aufgebracht hat, was dann immer weiter überliefert wurde als „Universalia in re". Vgl. Parmenides 132 b 3 ff. Vgl. a.a.O. 132c 9ff. A.a.O. 132b3-c7. Vgl. Pbaidros241c-e.
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Sodann das Individuelle anbetreffend: Liegt das eigendich Platonische oder Verfehlte etwa darin, daß er so etwas wie jene Gleichheit oder jene Größe individueller Dinge, das allein für Platon jeweils in den individuellen Dingen ist, als etwas auffaßt, das nicht minder individuell ist als das jeweilige individuelle Ding, in dem es jeweils ist? Mitnichten. Die Entscheidung, daß es nicht das Allgemeine sein kann, was im Individuellen ist, bedeutet nämlich gleichzeitig die weitere Entscheidung, daß es nur das Individuelle jener Gleichheit oder Größe sein kann, was im Individuellen jener gleichen oder großen Dinge ist. Denn dabei handelt es sich um eine Gesamtentscheidung, deren Teilentscheidungen auch notwendig zusammenhängen, weil durch die Entdeckung jener Eigentümlichkeit des Allgemeinen eben beide ontologisch unausweichlich werden. Darin also, daß im Individuellen auch nur etwas Individuelles sein kann, sieht er ebenso genau wie darin, daß das Allgemeine nur getrennt vom Individuellen sein kann. Vielmehr ist das eigentlich Platonische oder Verfehlte auch in diesem Fall nur die Verdinglichung des einen Individuellen, das im ändern Individuellen sein soll, nämlich wie in jenem Fall nur die Verdinglichung des Allgemeinen, das getrennt vom Individuellen sein soll. Denn genauere Betrachtung seiner Texte zeigt für jeden zweifelsfrei, daß Platon jedes solche Individuelle, das in diesem ändern Individuellen sein muß, nur als einen individuellen Teil von ihm versteht und damit eben mißversteht, da Teile eines individuellen Dings auch selbst nur individuelle Dinge sind. Und so sind dadurch individuelle Eigenschaften eines individuellen Dings — wie etwa seine individuelle Gleichheit oder Größe, die gerade keine Teile von ihm sind — denn auch verdinglicht, da er ihre Eigentümlichkeit der individuellen Eigenschaft verfehlt, indem er sie als bloßen individuellen Teil von ihm verkennt. Entsprechend faßt er folgerichtig jedes individuelle Ding auch nur als bloße Sammlung oder Mischung18 davon auf: als ob so etwas wie die individuelle Gleichheit, Größe, Schönheit, Härte, Glattheit, Schwere eines individuellen Dinges etwas wäre, in das es auch teilbar ist, weil aus ihm auch Zusammengesetzte. Das Ding als jeweilige Einheit dieser jeweiligen Vielheit seiner Eigenschaften kann er deshalb hier noch nicht einmal als ein Problem entdecken20, sondern erst viel später zu Gesicht bekommen21. Und so sieht er auch ganz richtig, wenn er sagt, mit seiner Unterscheidung zwischen Din18 19 20
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Vgl. z. B. Politeia 524 c 4, c 7. So z. B. Phaidonl%b-c. Zu einer Zeit, als ich das noch nicht recht für möglich hielt, war es ermutigend für mich, zu sehen, wie Wolfgang Wieland (Die aristotelische Physik, Göttingen 1962, z. B. S. 114) zeigte, daß sogar noch Aristoteles damit zu kämpfen hat. Vgl. dazu G. Prauss, Platon und der logische E/eaiismus, Berlin 1966, § 8 ff. Vgl. etwa Sophistes 251 a—e.
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gen und Ideen unterscheide er nur zwischen %vei Arten von Seiendem22, nicht etwa zwischen dreien. Müßte Platon doch tatsächlich zwischen dreien unterscheiden, wenn ein Ding ihm nicht als bloße Sammlung oder Mischung jener Vielheit gälte, sondern auch noch als die Einheit eines Trägers23 dieser Vielheit seiner Eigenschaften. Deren Problematik liegt denn auch nicht etwa daran, daß er das Relationale solcher Eigenschaften wie der Gleichheit oder Größe individueller Dinge noch nicht sieht. Denn auch, wenn Platon das Relationale solcher Eigenschaften sähe, könnte dies für ihn nichts daran ändern, daß auch solche Eigenschaften individuelle Eigenschaften sind: nur eben nicht von jeweils einem, sondern bloß von jeweils mehr als einem individuellen Ding, zum Beispiel einem individuellen Paar von individuellen Dingen. Eben darin sähe Platon darum auch ganz richtig: Ändert das Relationale solcher Eigenschaften doch am Individuellen solcher Eigenschaften überhaupt nichts, ganz zu schweigen davon, daß es sie zu etwas Allgemeinem machte. Und so ist es auch allein das Individuelle aller Eigenschaften, ob relationaler oder nichtrelationaler, was ihm jene Schwierigkeit bereitet. Nur das Individuelle aller Eigenschaften ist es, wodurch Platon erst einmal dazu verleitet wird, die Eigenschaften eines Dings als bloße Teile dieses Dings, und jedes Ding sonach als bloße Sammlung oder Mischung davon zu verkennen. Schwierig nämlich wird das für ihn schon allein in eigener Sache, worauf er auch offensichtlich selber aufmerksam geworden ist: Was soll dann etwa jene Aussage der Teilhabe von Dingen als dem Individuellen an Ideen als dem Allgemeinen eigentlich genau bedeuten? Denn gesetzt, ein Ding sei im genannten Sinn die Sammlung oder Mischung eines individuellen a und b und c, wozu das Allgemeine der entsprechenden Idee als A und B und C bezeichnet werde. Dann hat dieses Ding sowohl am A wie auch am B wie auch am C teil. Nun ist dieses Ding jedoch nichts anderes als die Sammlung oder Mischung dieses a und b und c: Am A zum Beispiel hätte dann sowohl das a wie auch das b wie auch das c teil, und am B zum Beispiel hätte dann sowohl das a wie auch das b wie auch das c teil, und so weiter, was jedoch absurd ist, weil er Teilhabe als die des Abbilds an dem Urbild auffaßt. Da ein Ding als einheitlicher Träger solcher Eigenschaften nicht von ihm gedacht wird, ist für ihn auch nichts verfügbar, was in irgendeinem Sinn als Einheit teil an einer Vielheit haben könnte.
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Phaidon 79 a. Wo er derlei später unterscheidet, gibt er diese Zweier-Unterscheidung denn auch ausdrücklich zugunsten einer Dreier-Unterscheidung auf: Timaios 48 e — 49 a, 50 c.
Auf der Flucht vor individuellen Eigenschaften
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Platon muß deswegen unterscheiden zwischen grundverschiedenen Bedeutungen von Teilhabe: in jenem Satz zum Beispiel24, der so tautologisch, wie er in der Regel übersetzt wird, keineswegs gemeint ist. An Ideen als dem Allgemeinen haben Dinge als das Individuelle nur in dem Sinn teil25, daß jedes individuelle Ding unmittelbar nur an dem teilhat26, das in ihm als jener Sammlung oder Mischung davon ist: nur an der individuellen und daher als Teil verkannten Eigenschaft. An der entsprechenden Idee hat es darum bloß mittelbar, weil bloß durch eben diese individuelle Eigenschaft vermittelt teil. Denn auch nur sie hat in dem eigendichen Sinn von Teilhabe an der Idee unmittelbar teil, nämlich in dem Sinn der Teilhabe des Abbilds an dem Urbild27. Schon allein in eigener Sache schwierig wird es für ihn mit dem Individuellen aller Eigenschaften aber auch vor allem noch wie folgt: Als das entsprechend Allgemeine zu dem Individuellen solcher Eigenschaften setzt er die Ideen in der Regel so an, daß er ausgehend von Beispielen verallgemeinert, etwa in dem Sinn: ... und ebenso zu jeglichem von dieser Art. Das heißt: Zu allem, was wie diese Eigenschaften irgendeinem Ding mit Hilfe sachhaltiger Wörter zugeschrieben werden kann, muß es Ideen geben28. Wenn danach noch etwas fraglich sein kann, dann nicht etwa, wozu es Ideen gibt, dann vielmehr allenfalls, wozu es keine gibt. Entsprechend konsequent ist Platon, wenn er beispielsweise auch Ideen zu Artefakten ansetzt29 und sie somit nicht etwa auf die Ideen zu naturgegebenen Dingen einschränkt. Dementsprechend rätselhaft ist es dann aber auch, daß später plötzlich fraglich werden soll, zu was allem es eigentlich Ideen gebe, etwa im Parmenides30. Wie rätselhaft dies wirklich ist, scheint man jedoch bisher noch gar nicht festgestellt zu haben. Festzustellen ist das nämlich erst, wenn man sich deutlich macht, wie unstimmig es innerhalb der eigenen Ideenlehre ist, wenn Platon diese angebliche Fraglichkeit nunmehr an Hand von Fällen wie zum Beispiel Haar und Schlamm und Schmutz erörtern möchte. Denn daß es sich dabei um „Verächtliches" oder „Geringfügiges" handelt, kann kein Grund sein dafür, daß es eine „Lächerlichkeit" wäre, auch Ideen dazu anzunehmen31. Hatte Platon sich doch auch durchaus nicht etwa umgekehrt darauf 24
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Der eine Sinn von Teilhabe in 101 c 3. Der andere Sinn von Teilhabe in 101 c 4. Der eigentliche Sinn von Teilhabe in 101 c 3, der hier die angemessene Umschreibung findet durch ousia hekastou. Vgl. Phaidon 78 e, 102b, 103b. Politeia 596 a. /W//«* 596a-597b. 130b-e. Parmenides 130c 5-d 2.
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Gerald Prauss
beschränkt, nur für Gewichtiges oder Bedeutsames Ideen anzusetzen wie für das „Gerechte" oder „Schöne" oder „Gute"32, mögen sie als Beispiele auch überwogen haben. So wie früher geht er denn auch hier, und zwar schon vorher, ebenso von Beispielen für solches aus, das sich von beidem her gesehen als neutral erweist, was aber alles nur noch rätselhafter macht. War er im Phaidon etwa von der „Gleichheit" jener Hölzer oder Steine ausgegangen33, die ihm hier nun abermals als Beispiel dienen, so geht er jetzt von der „Ähnlichkeit" aus, an der „ich und du und alles andere" Anteil haben könne34. Vollends rätselhaft wird dies jedoch, weil Platon zwischen jenen beiden Arten nichtneutraler als neutrale Beispiele auch noch den Menschen und das Feuer und das Wasser nennt. Fragt Platon hier doch allen Ernstes, ob denn etwa auch eine Idee des Menschen und des Feuers und des Wassers anzusetzen sei, und zieht dies allen Ernstes auch in Zweifel35. Und ein tiefes Rätsel ist das eben, weil in diesen Fällen vollends unerfindlich wird, aus welchem Grund es jetzt auf einmal zweifelhaft sein sollte, daß auch noch zu solchem Individuellen jeweils Allgemeines als Ideen anzunehmen seien. Scheidet doch als Grund dafür auch jenes angeblich Verächtliche von Fällen wie dem Haar und Schlamm und Schmutz in diesen Fällen ohne Zweifel aus. Genausowenig aber kann es eine Frage sein, daß er zu allen solchen Fällen ebenfalls Ideen angenommen hatte, mögen auch die Beispiele für jene ändern Fälle wie die Gleichheit oder Größe oder Schönheit oder Güte überwogen haben. Und tatsächlich kommt in dem Zusammenhang zum Beispiel, wo er auch zu Artefakten dieses Allgemeine als Ideen ansetzt, klar zum Ausdruck, daß es, wenn auch zu den Artefakten, dann erst recht zu den naturgegebenen Dingen wie etwa den „Pflanzen" oder „Tieren" jeweils dieses Allgemeine als Ideen geben müsse36. Also muß es beispielsweise die Idee der Linde oder Eiche oder die Idee des Löwen oder Tigers und entsprechend die Idee des Menschen oder Feuers oder Wassers usw. geben. Anders ließe sich auch nicht erklären, daß im Menon, der schon die Ideenlehre kennt, das Beispiel für ein Allgemeines gegenüber vielem Individuellen unter anderem die Biene ist37. Doch rätselhafterweise soll all das auf einmal fraglich sein, weil nicht ersichtlich wird, aus welchem Grund. Und in der Tat wird erst, wenn diese 32 33
34 35 36 37
Parmenides 130b 7-9. 74 a-d. Parmenides \2 (xBy &j *r).
Den Unterschied zwischen dem Freund^m/i?« und dem Freunde«», den ich bei dieser Formalisierung vernachl ssigt habe, hat auch Platon vernachl ssigt. Denn er l t Sokrates die fragliche These wenig sp ter als eine These zitieren, die besagt, da , „wenn der eine von beiden liebt, beide Freunde sind" (εί ό έτερος φίλοι, φίλω είναι άμφω: 212 d 2). Der These (1) zufolge ist einseitiges Lieben eine hinreichende Bedingung f r beiderseitiges Freund- oder Liebsein. Die Frage, unter welchen Bedingungen jemand einem anderen lieb ist, wird durch diese These dahin gehend beantwortet, da jemand einem anderen sowohl dann lieb ist, wenn er von ihm geliebt wird, als auch dann, wenn er ihn liebt. Gegen diese These spricht die Tatsache, da es F lle gibt, in denen ein Liebender keine Gegenliebe findet, und sogar F lle, in denen Liebe mit Ha erwidert wird. Nachdem Sokrates ihm dies zu bedenken gegeben hat, ndert Menexenos seine Meinung und vertritt die Ansicht, da in den genannten F llen weder der Liebende ein Freund des Geliebten ist noch der Geliebte
Platon ber die Dialektik von Freundschaft und Liebe
271
ein Freund des Liebenden. Seine neue These „Keiner von beiden ist des anderen Freund, wenn nicht beide einander lieben" (ουδέτερος ... ουδετέρου φίλος εστίν, αν μη αμφότεροι αλλήλους φιλώσιν: 212 c 7 f.; vgl. 212 d 3: αν μη αμφότεροι φιλώσιν, ουδέτερος φίλος) hat folgende logische Form: (2)
~ (xLy ScjLx) -> ~ (xBy V yBx).
Der These (2) zufolge ist beiderseitiges Lieben eine notwendige Bedingung f r einseitiges Freund- oder Liebsein. Die Frage, unter welchen Bedingungen jemand einem anderen lieb ist, wird durch diese These dahin gehend beantwortet, da jemand einem anderen nur dann lieb ist, wenn es sowohl der Fall ist, da er von ihm geliebt wird, als auch der Fall, da er ihn liebt. Die These (2) impliziert, wie Sokrates feststellt, da „dem Liebenden nichts lieb ist, was seine Liebe nicht erwidert" (212 d 4 f.). Um Menexenos klarzumachen, da dies nicht zutrifft, weist Sokrates darauf hin, da doch beispielsweise denjenigen, die den Wein lieben, der Wein und denjenigen, die die Weisheit lieben, also den Philosophen, die Weisheit lieb ist, ohne da sie vom Objekt ihrer Liebe wiedergeliebt w rden. Auch Kinder, die so klein sind, da sie die Liebe ihrer Eltern noch nicht erwidern k nnen, oder die ihren Eltern sogar, wenn sie von ihnen gez chtigt werden, Ha entgegenbringen, sind ihren Eltern gleichwohl, wie Sokrates zu bedenken gibt, das Liebste auf der Welt. Aufgrund dieser berlegungen sehen sich die beiden Gespr chspartner gezwungen, auch die zweite These aufzugeben, und zwar zugunsten einer These, die Sokrates zun chst mit den Worten „Das Geliebte ist dem Liebenden lieb" (Το φιλούμενον ... τω φιλοϋντι φίλον εστίν: 212 e 6) formuliert und dann mit den Worten „Nicht der Liebende ist (des Geliebten) Freund, sondern der Geliebte (des Liebenden)" (Ουκ ... ό φιλών φίλος ..., αλλ' ό φιλούμενος: 213 a 4 f.). Man kann diese These folgenderma en formalisieren: (3)
xLy -+yBx.
Der These (3) zufolge ist das Lieben des Liebenden eine hinreichende Bedingung daf r, da ihm der (oder das) Geliebte lieb ist. Die Frage, unter welchen Bedingungen jemand einem anderen lieb ist, wird durch diese These dahin gehend beantwortet, da jemand einem anderen dann lieb ist, wenn er von ihm geliebt wird. Um zu zeigen, da auch diese These unhaltbar ist, stellt Sokrates folgende berlegung an: Wenn der Geliebte dem Liebenden lieb und in diesem Sinne sein Freund ist, so ist der Geha te dem Hassenden verha t und in diesem Sinne sein Feind. Dann sind aber einerseits diejenigen Menschen, die von denen, die ihnen verha t sind, geliebt werden, f r ihre Feinde Freunde, w h-
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Hermann Weidemann
rend andererseits diejenigen Menschen, die von denen, die ihnen lieb sind, gehaßt werden, für ihre Freunde Feinde sind. Für einen Freund ein Feind oder für einen Feind ein Freund zu sein ist jedoch unmöglich. Menexenos, der sich durch diese Argumentation davon überzeugen läßt, daß auch die These (3) falsch ist, merkt nicht, daß in dieser Argumentation ein Fehler steckt. Es handelt sich bei diesem Fehler, der den modernen Interpreten nicht verborgen geblieben ist9, um den ersten Fehler, der im Verlauf des von mir analysierten Gesprächs gemacht wird. Er besteht darin, daß die beiden Wörter „Freund" und „Feind" in den beiden Wendungen „für einen Freund ein Feind sein" und „für einen Feind ein Freund sein" nicht — oder jedenfalls nicht durchgängig — in der Bedeutung verwendet werden, die ihnen zuvor beigelegt wurde. Für einen Freund ein Feind oder für einen Feind ein Freund zu sein ist dann, wenn die Wörter „Freund" und „Feind" beide in der passivischen Bedeutung verstanden werden, in der sie eingeführt wurden, ja durchaus möglich. Denn ich kann jemandem, der mir Heb ist, verhaßt und jemandem, der mir verhaßt ist, lieb sein. Daß ich für einen Freund ein Feind oder für einen Feind ein Freund bin, ist nur dann nicht möglich, wenn von den beiden Wörtern „Freund" und „Feind" das eine aktivisch und das andere passivisch verstanden wird — also das Wort „Freund" in der Bedeutung „liebend" und das Wort „Feind" in der Bedeutung „verhaßt" oder das Wort „Feind" in der Bedeutung „hassend" und das Wort „Freund" in der Bedeutung „lieb" — oder wenn jedes dieser beiden Wörter oder auch nur eines von ihnen in einer Bedeutung verstanden wird, in der es ein gegenseitiges Lieb- bzw. Verhaßtsein zum Ausdruck bringt. Der falsche Schein, daß auch die These (3) unhaltbar ist, beruht also auf einer unzulässigen Bedeutungsverschiebung, die Sokrates unter der Hand vornimmt. Als Alternative zu der von ihnen zu Unrecht für falsch gehaltenen These (3) kommt nach Ansicht der beiden Gesprächspartner nur die These in Frage, die behauptet, „das Liebende" sei „des Geliebten Freund" ( : 213 b 5 f.): (4)
xLy -» xBy.
Dieser These zufolge ist das Lieben des Liebenden eine hinreichende Bedingung dafür, daß er (oder es) dem Geliebten Heb ist. Die Frage, unter welchen 9
Vgl. vor allem Peters 1968: 30. Siehe auch Begemann 1960: 217, Schoplick 1969: 31, Robinson 1986: 71. Santas, der in seinem Sokrates-Buch drei Argumente aus dem Lysis analysiert, nämlich die beiden Argumente des Abschnitts 214 e —215 b und das Argument des Abschnitts 216 d-217 a (Santas 1979: 155-165), geht auf den Abschnitt, mit dem sich der vorliegende Beitrag beschäftigt, nicht näher ein.
Platon über die Dialekük von Freundschaft und Liebe
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Bedingungen jemand einem anderen lieb ist, wird durch diese These dahin gehend beantwortet, daß jemand einem anderen dann lieb ist, wenn er ihn Hebt.10 Nach Sokrates ist auch diese These zu verwerfen, da sich seiner Meinung nach dieselben absurden Konsequenzen aus ihr ergeben wie aus der These (3). Ist nämlich der Liebende dem Geliebten lieb und in diesem Sinne sein Freund, überlegt er, so muß auch der Hassende dem Gehaßten verhaßt und in diesem Sinne sein Feind sein. Dann sind wir aber immer dann, wenn wir jemanden lieben, der uns nicht ebenfalls liebt oder uns gar haßt, Freunde von jemandem, der nicht auch unser Freund oder gar unser Feind ist, und immer dann, wenn wir jemanden hassen, der uns nicht ebenfalls haßt oder uns gar liebt, Feinde von jemandem, der nicht auch unser Feind oder gar unser Freund ist. Der von Sokrates unternommene Versuch, die These (4) durch diese Überlegung ad absurdum zu führen, kann natürlich ebensowenig als gelungen bezeichnet werden wie der entsprechende Versuch, den er im Falle der These (3) unternommen hat. Wie im Falle der These (3), so wird auch im Falle der These (4) die scheinbare Absurdität der Konsequenzen, die Sokrates aus ihr ableitet, dadurch vorgetäuscht, daß die für die beiden Wörter „Freund" und „Feind" zunächst festgesetzte Bedeutung entweder überhaupt nicht oder nicht durchgängig festgehalten wird. Im Gegensatz zur These (3), die wahr ist — man wird sie sogar als eine analytisch wahre These bezeichnen können — , ist die These (4) allerdings in der Tat falsch. Nur ist sie eben nicht aus dem Grunde falsch, in dem Sokrates und Menexenos den Grund ihrer Falschheit erblicken, sondern aus demselben Grund, aus dem auch die beiden Thesen (1) und (2) falsch sind, nämlich einfach deshalb, weil es unerwiderte Liebe gibt. Nachdem sie auch die vierte These verworfen haben, sehen Sokrates und Menexenos keine Möglichkeit mehr, eine Antwort auf die Frage zu finden, unter welchen Bedingungen jemand einem anderen lieb ist. „Was sollen wir denn nun machen", fragt Sokrates, „wenn weder die Liebenden Freunde sein sollen noch die Geliebten noch diejenigen, die sowohl lieben als auch geliebt werden, wenn wir vielmehr behaupten sollen, daß außerdem auch noch irgendwelche andere einander Freunde werden können?" (213 c 5 — 8). Von den drei Möglichkeiten, die Sokrates hier aufzählt — (a) die Liebenden, (b)
10
Adams geht zu Unrecht davon aus, daß in jeder der vier erörterten Thesen sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingungen dafür aufgestellt werden, daß A. in dem Sinne Bs Freund ist, daß A B liebt (vgl. Adams 1992: 7 sowie 17, Anm. 14). Im übrigen scheint er die dritte und die vierte These miteinander zu verwechseln (vgl. 1992: 8).
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Hermann Weidemann
die Geliebten, (c) diejenigen, die sowohl lieben als auch geliebt werden —, bezieht sich die erste offenbar auf die These (4), der zufolge der Liebende dem Geliebten lieb ist, und die zweite auf die These (3), der zufolge gerade umgekehrt der Geliebte dem Liebenden lieb ist. Die dritte Möglichkeit kann sich nur auf die These (2) beziehen, die ja die einzige unter den erörterten vier Thesen ist, in der es um gegenseitige Liebe geht. Daß Sokrates auf die These (1) nicht mehr zurückkommt, liegt einfach daran, daß in dieser These die beiden Thesen (3) und (4) zu einer These zusammengefaßt sind, die logisch stärker ist als jede dieser beiden Thesen für sich allein, die also zwar von keiner dieser beiden Thesen impliziert wird, aber jede dieser beiden Thesen impliziert und daher bereits dann, wenn eine von ihnen als widerlegt betrachtet werden kann, auch ihrerseits als widerlegt gelten darf. Sokrates, der nicht nur die falsche These (4), sondern auch die wahre These (3) widerlegt zu haben glaubt, betrachtet die These (1) ebendeshalb wohl erst recht als eine These, die er damit ebenfalls widerlegt hat. Den Worten zufolge, mit denen Sokrates das Ergebnis seines gescheiterten Versuchs resümiert, die Frage nach den Bedingungen dafür zu beantworten, daß man jemandes Freund oder jemandem lieb ist, gibt es drei mögliche Antworten auf diese Frage, die sich angeblich alle als falsch erwiesen haben. Was die ersten beiden Antworten betrifft, also die Antwort (a) und die Antwort (b), so sahen wir, daß Sokrates sie zwar beide mit einer nicht stichhaltigen Begründung als falsch verwirft, daß er aber nur mit der Zurückweisung der mit der These (3) identischen Antwort (b) im Unrecht ist, nicht aber mit der Zurückweisung der Antwort (a), die mit der These (4) identisch ist. Wie steht es nun mit der dritten Antwort, also mit der Antwort (c)? In der Literatur fehlt es nicht an Stimmen, die darauf aufmerksam machen, daß die Zurückweisung dieser Antwort völlig unbegründet ist11 oder daß jedenfalls die These, die sie darstellt, von Sokrates nicht widerlegt wurde12. Was man vermißt, ist jedoch eine genaue Diagnose des Fehlers, den Sokrates begeht, wenn er den Eindruck erweckt, als ob sich auch die dritte Antwort als falsch erwiesen hätte. Auf der Grundlage der von mir vorgelegten Analyse des Textes ist dieser Fehler leicht zu diagnostizieren. Wenn Sokrates die Antwort (c) als eine These formuliert, die besagt, daß diejenigen, die sowohl lieben als auch geliebt werden, Freunde sind, so will er sie ja offenbar in dem Sinne verstanden wissen, daß diejenigen, die sich gegenseitig lieben, einander lieb und somit Freunde voneinander sind. Die These, die dies besagt, ist aber eine ganz andere These über beiderseitiges Lieben als die These (2), die 11 12
Vgl. Hoerber 1959: 21, Bolotin 1979: 119 f. Vgl. Peters 1968: 31, Seech 1979: 51 f.
Platon über die Dialektik von Freundschaft und Liebe
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Sokrates mit der Antwort (c) aufzugreifen vorgibt. Sie hat nicht die logische Form der These (2), sondern ist logisch folgendermaßen strukturiert: (2')
(xLy StjLx) -» (xBy &cjßx).
Im Unterschied zur These (2), die behauptet, daß beiderseitiges Lieben eine notwendige Bedingung für einseitiges Liebsein ist, behauptet die These (2'), daß beiderseitiges Lieben eine hinreichende Bedingung für beiderseitiges Liebsein ist. Sokrates unterstellt also, daß es sich bei der These über beiderseitiges Lieben, die sich als unhaltbar erwiesen hat, nicht um die falsche These handelt, die besagt, daß nur dann, wenn zwei sich gegenseitig lieben, einer von beiden dem anderen lieb ist, sondern um die wahre These, die besagt, daß dann, wenn zwei sich gegenseitig lieben, beide einander lieb sind.13 Da diese These — ich nannte sie die These (2') — ebensowenig widerlegt wurde wie die ebenfalls wahre These (3), aus der sie ableitbar ist, befinden sich Sokrates und Menexenos am Ende ihres Gesprächs nur scheinbar in einer ausweglosen Situation. Nebenbei sei bemerkt, daß außer den beiden Thesen (3) und (2') auch die folgende These wahr ist, die in dem von mir analysierten Text überhaupt nicht erwähnt wird: (2")
~ (xLj &jLx) -> ~ (xBy ScjiBx).
Da die These (2"), der zufolge beiderseitiges Lieben eine notwendige Bedingung für beiderseitiges Liebsein ist, logisch schwächer ist als die These (2), ist damit, daß die These (2) widerlegt ist, nicht auch die These (2") widerlegt. Platon hat die Fehler, die er Sokrates machen läßt, ohne daß Menexenos etwas davon merkt, offenbar als Fehler durchschaut. Denn nicht genug damit, daß er Sokrates auf das Eingeständnis des Menexenos, keinen Ausweg mehr zu sehen, mit der Frage reagieren läßt, ob sie nicht vielleicht bei ihrer Unter13
Wahr ist diese These freilich nur dann, wenn mit der Rede davon, daß beide einander lieb sind, nicht gemeint ist, daß beide miteinander befreundet sind, sondern lediglich, daß jeder von beiden vom anderen geliebt wird. Wie Aristoteles in der Nikomachischen Ethik mit Recht betont, kann man von zwei Menschen, die sich gegenseitig lieben, nur dann sagen, sie seien miteinander befreundet, wenn ihnen ihre Einstellung zueinander nicht verborgen ist, wenn sie also wissen, daß sie einander lieben (vgl. E7VVIII 2, 1155 b 34-1156 a 5; VIII 3, 1156 a 8f.; IX 5, 1166b 31 f.; vgl. auch EE VII 2, 1236a 14f.). Um eine hinreichende Bedingung dafür zu sein, daß sie miteinander befreundet sind, darf sich das Wissen zweier Menschen um ihre gegenseitige Liebe freilich nicht darin erschöpfen, daß jeder von beiden sowohl um seine Liebe zum anderen als auch um die Liebe des anderen zu ihm weiß, sondern dieses Wissen muß darin bestehen, daß jeder von beiden sowohl davon, daß der andere ihn liebt, als auch davon, daß der andere weiß, daß er von ihm geliebt wird, ein Wissen hat. Um mit jemandem befreundet zu sein, muß ich also nicht nur wissen, daß ich den anderen liebe und von ihm geliebt werde, sondern ich muß auch wissen, daß der andere um meine Liebe zu ihm weiß. — Zur Abhängigkeit der Aristotelischen Theorie der Freundschaft von Platons Lysis vg. Annas 1977 sowie Price 1989: l, 9 f.
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suchung ganz falsch vorgegangen seien, läßt er auch noch den Lysis, den er das Gespräch zwischen Sokrates und Menexenos bislang als stillen Zuhörer hat verfolgen lassen, plötzlich mit der Bemerkung dazwischenfahren, seiner Meinung nach sei die Vorgehensweise der beiden Gesprächspartner tatsächlich falsch gewesen (vgl. 213 d l f.). „So fordert Platon", wie ein Autor treffend bemerkt14, „seinen Leser auf, sich selbst über die Fehlerquellen Rechenschaft zu geben [...]."
Literatur Adams, Don, „The Lysis Puzzles", in: History of Philosophy Quarterly 9 (1992) 3-17. Annas, Julia, „Plato and Aristotle on Friendship and Altruism", in: Mind 86 (1977) 532-554. Bartels, Klaus, Veni, Vidi, Via: Geflügelte Worte aus dem Griechischen und Lateinischen, ausgewählt und erläutert; 9. Aufl., Darmstadt 1992. Begemann, Albertus Willem, Plato's Lysis: Onder^oek naar de plaats van den dialoog in het cetivre, Amsterdam 1960. Bolotin, David, Plato's Dialogue on Friendship: An Interpretation of the Lysis, ivith a New Translation, Ithaca/London 1979. Dirlmeier, Franz, Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt und kommentiert (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 6), Berlin 1956, 9. Aufl. 1991. During, Ingemar, Aristotle in the Ancient Biographical Tradition, Göteborg 1957. Geach, P. T., Logic Matters, Oxford 1972. Hoerber, Robert G, „Plato's Lysis", in: Phronesis 4 (1959) 15-28. Kaiser, Otto, „Lysis oder von der Freundschaft", in: Zeitschriftßir Religions- und Geistesgeschichte 32 (1980) 193-218. Peters, Horst, Platons Lysis: Untersuchungen %ur Problematik des Gedankenganges und %ur Gestalt des Kunstwerks, Diss. Kiel 1968. Price, A. W, Love and Friendship in Plato and Aristotle, Oxford 1989. Robinson, David B., „Plato's Lysis: The Structural Problem", in: Illinois Classical Studies 11 (1986) 63-83. Santas, Gerasimos Xenophon, Socrates: Philosophy in Plato's Early Dialogues, London/ Boston/Henley 1979. Schoplick, Valentin, Der platonische Dialog Lysis, Diss. Freiburg i. Br. 1968, Augsburg o. J. (1969). Seech, Zachary Paul, Plato's Lysis as drama and philosophy, Diss. Univ. of California, San Diego 1979. Verrycken, Koenraad, „The development of Philoponus' thought and its chronology", in: Sorabji, Richard (Hrsg.), Aristotle Transformed: The ancient commentators and their influence, London 1990, 233-274.
14
Kaiser 1980: 204.
REINER WIEHL
Denkpsychologie und Denkontologie Richard Hönigswalds und Wolfgang Cramers Philosophien der Subjektivität
Einleitung Das Thema Subjektivität ist durch die Hauptströmungen der Philosophie unseres Jahrhunderts an den Rand des allgemeinen philosophischen Interesses gedrängt worden. Es ist heute in Gefahr, allein Sache von Fachleuten zu sein, die sich seiner teils in historischer Gelehrsamkeit, teils in äußerstem begrifflichem Scharfsinn annehmen. Diese Entwicklung ist um so erstaunlicher, als die Beschäftigung mit Fragen der Ethik heute Hochkonjunktur hat. Um die Moral dreht sich in der Philosophie unserer Tage zwar nicht alles, aber doch sehr viel. Dagegen ist gar nichts einzuwenden. Allenfalls ist in Verbindung mit dem genannten Thema an die einfache Wahrheit zu erinnern, daß es Moralität ohne Subjektivität nicht gibt; und daß ein moralisches Subjekt niemals nur moralisches Subjekt sein kann, wenn es ein solches moralisches Subjekt soll sein können. Ein moralisches Subjekt ist in einem bestimmten Sinne immer auch logisches und psychologisches, soziales und politisches Subjekt, wie immer in der Philosophie das Verhältnis von Logik und Psychologie, von Soziologie und Politologie bestimmt wird. Es sind vor allem die Strömungen der phänomenologischen Hermeneutik, der Sprachanalyse und der verschiedenen Richtungen des Strukturalismus, die am Ansehen des Prinzips „Subjektivität" kratzen und welche die „Depotenzierung" des menschlichen Subjektes zu einem ihrer philosophischen Hauptanliegen gemacht haben. Die hier zutagetretende Kritik an einer übersteigerten und aufgeblähten Subjektivität ist gewiß nicht unberechtigt. Es ist kein Zufall, daß die weithin geltend gemachte Verabschiedung der Metaphysik Hand in Hand geht mit der angedeuteten „Marginalisierung" der Subjektivität. Denn dies war ja das wesentliche Resultat des Denkens der neuzeitlichen Aufklärung: daß der Mensch in seiner autonomen vernünftigen Subjektivität das Erbe eines göttlichen Urwesens und mit diesem Erbe alle dessen supranaturalen Kompetenzen übernommen hatte, nicht zuletzt die Kompe-
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Reiner Wiehl
tenz, sich je eigene Götter zu erfinden und zu schaffen. Angesichts dieser Erbschaft mußte es irgendwann an der Zeit zu sein scheinen, der Aufgeblasenheit einer solchen irdischen Subjektivität ihre Grenzen aufzuzeigen. Die phänomenologische Hermeneutik hat dies getan durch die Beschwörung der Endlichkeit des Menschen, durch die Erinnerung an seine Zeitlichkeit und an die Vergänglichkeit seines je eigenen Wesens und durch die Verweisung auf die Undurchsichtigkeit der je eignen Existenz, die im schroffen Gegensatz steht zu den Idealen eines vollkommenen Wissens, dem alle Weltbezüge klar und transparent sind. Die philosophische Analyse der Sprache hat ihren eigenen methodischen Beitrag zur Reduktion der Subjektivität auf irdische Maße geleistet. Sie hat das Wort „Ich", wie alle anderen Worte unserer Sprache auch, „beim Wort genommen", das heißt: Sie hat betrachtet, wie dieses Wort in der üblichen Praxis der menschlichen Rede, im Umgang unter Menschen verwendet wird. Diese Betrachtung ergab, daß es mit dem Ich nichts Ungewöhnliches auf sich hat, solange es nur um eben diese Praxis geht, in der das Wort zu verstehen gibt, daß der Sprecher einer Aussage mit dem Ausgesagten in bestimmter Weise verbunden vorgestellt sein will. Das ist alles. Angesichts dieses „main-stream" der Philosophie unserer Zeit erscheinen Richard Hönigswald und Wolfgang Gramer als zwei Unzeitgemäße, auf denen die Last jeglicher Unzeitgemäßheit liegt: die Last, entweder endgültig vergessen zu werden oder aber zu Zeugen der Bedeutsamkeit des Unzeitgemäßen zu werden. Die beiden, Hönigswald und Gramer, sind gleichermaßen unzeitgemäß, und dies in einem zweifachen Sinne: einmal, sofern für sie beide „Subjektivität" nicht irgendein spezielles philosophisches Thema, sondern das Grundthema der Philosophie ist; und zum anderen durch die je eigene Art und Weise, das heißt durch die Methode im Umgang mit diesem Thema. Dieser philosophische Umgang ist ebenso von den traditionellen wie von den zeitgenössischen aktuellen methodischen Umgangsformen verschieden.
1. Von den psychischen Phänomenen und von der Unzulänglichkeit der Phänomenologie der Subjektivität Denkpsychologie und Denkontologie: Dieser Titel soll nicht den falschen Anschein erwecken, als handle es sich hier um zwei einander eindeutig entgegengesetzte philosophische Positionen; und als ginge es nur darum, die beiden genannten Unzeitgemäßen auf diese beiden Positionen zu verteilen. Gewiß geht es hier auch um einen Vergleich zwischen dem, was Denkpsychologie und Denkontologie genannt wird. Aber dieser Vergleich ist kein Selbstzweck. Einem solchen Vergleich zuvor handelt es sich bei den beiden Gege-
Denkpsychologie und Denkontologie
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benheiten des Titels um zwei zusammenhängende Problemkreise, aus denen die Betrachtungsweisen und die Methoden der Erörterung der Subjektivität entspringen. Um die Prüfung dieser Methoden soll es hier allein zu tun sein. Wolfgang Cramer hat in seinem wichtigsten Buch, Die Monade, das Werk seines Lehrers Hönigswald unmißverständlich gewürdigt. Das Buch ist dessen Gedenken gewidmet. Aus Cramers Sicht ist sowohl Husserls Phänomenologie als auch Heideggers hermeneutische Fundamentalontologie in der fraglichen Sache der menschlichen Subjektivität hinter den Einsichten der Hönigswaldschen Denkpsychologie zurückgeblieben. Diese Einsichten hat er gegen Phänomenologie und Hermeneutik geltend gemacht. Er hat diese Einsichten allerdings nicht vorbehaltlos übernommen. Schon in diesem vergleichsweise frühen Buch spricht er ausdrücklich von seiner „Abweichung" gegenüber dem Hönigswaldschen Denken, das er als „etwas sehr neukantianisch" bezeichnet.1 Neukantianisch ist Hönigswalds Denkpsychologie in der Tat. Sie fußt, wie übrigens die ganze psychologisierende Philosophie des 19. Jahrhunderts nach dem Zusammenbruch des spekulativen Idealismus, auf jener Abtrennung der empirischen Psychologie von der Metaphysik, die Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft vollzogen hatte. Und er erbt, wie alle jene Philosophien, das Problem, das Kant aufgeworfen hatte, ohne es lösen zu können, nämlich wie eine Wissenschaft des psychischen Seins, gegründet auf Prinzipien und Grundsätze apriori möglich sei. Offensichtlich stellt sich diese Frage anders als im Falle der mathematischen Naturwissenschaft. Für Hönigswald allerdings stand dies aufgrund der neukantianischen Tradition fest: Eine philosophische Prinzipienwissenschaft hinsichtlich der empirischen Psychologie mußte es geben. Es mußte sie geben als Bedingung der möglichen Wissenschaftlichkeit dieser bestimmten empirischen Wissenschaft. Die Denkpsychologie war diese geforderte Prinzipienwissenschaft, zumindest in ihrem philosophischen Ansatz, wenn auch nicht in ihrer vollständigen Durchführung. Diese Hönigswaldsche Denkpsychologie macht keinen Hehl aus ihrem provisorischen, ihrem eigenen experimentellen Charakter. Aber sie ist nicht nur Prinzipienwissenschaft unter Voraussetzung des Faktums der empirischen Psychologie als einer Experimentalwissenschaft. Sie ist ebenso auch Prinzipienwissenschaft im klassischen Sinne der Antike, nämlich Wissenschaft von den Prinzipien des psychischen Seins. Insofern kann man sie auch als Denkontologie bezeichnen. Sie hat einen spezifisch hybriden Charakter als Position zwischen Denkpsychologie und Denkontologie. Auch Cramers Denkontologie ist nicht einfach als Rückwendung zur vorkritischen Metaphysik eines 1
Wolfgang Gramer (1954), Die Monade. Das philosophische Problem vom Ursprung, Stuttgart, 61.
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Spinoza oder eines Leibniz zu bewerten. Cramer selbst hat sich gegen ein solches Mißverständnis gewehrt, indem er diese seine neue Ontologie als transzendentale Ontologie gekennzeichnet hat.2 Allerdings ist der hier verwendete Begriff des Transzendentalen in seinem Sinne nicht leicht zu begreifen. Sicher ist nur, daß Cramer bei diesem Begriffsgebrauch nicht in erster Linie an eine philosophische Erörterung der apriorischen Bedingungen der empirischen Psychologie als Wissenschaft denkt. Wenn die von ihm entworfene „Theorie des Geistes" auch an die neuzeitliche Tradition der rationalen Psychologie anknüpft, so dürfte der beanspruchte Sinn des Transzendentalen am ehesten in dem Primat des Denkens zu suchen sein, der in dieser Denkontologie der cogitatio eingeräumt ist. Es ist dies ein Primat, der nicht nur verträglich ist, sondern vielmehr Hand in Hand geht mit einem konträren Primat, nämlich dem des Erlebens vor dem Denken, sofern diese beiden Wesensbestimmungen der menschlichen Subjektivität untrennbar zusammengehören. Mit diesem Primat des Denkens hat Cramer eine kritisch-transzendentale Dimension seiner Philosophie angedeutet, deren Spuren sich bis in Hönigswalds Denkpsychologie zurückverfolgen lassen. Dort ist dieser Primat in der Beziehung von Gegenständlichkeit und Bedeutung greifbar. Man ist angesichts dieses Wechselspiels zwischen Denkpsychologie und Denkontologie geneigt, die gesuchte Differenz zunächst anderen Ortes zu suchen, nämlich in einer Grunddifferenz, die in der philosophischen Phänomenologie und Hermeneutik unserer Zeit aufgebrochen war und die seitdem die Philosophie bis heute in Atem hält. Es ist dies die Differenz zwischen einer Philosophie der Wissenschaft und einer Philosophie der Lebenswelt und der Alltäglichkeit. Zweifellos spielt diese philosophische Unterscheidung in der Differenz der beiden hier verglichenen „Denkontologien" eine nicht unerhebliche Rolle. Aber es wäre eine Verkürzung der Möglichkeiten dieser Vergleichung, wollte man diese Differenz zwischen diesen Ontologien auf jene Grunddifferenz zurückführen. Gegen eine solche Reduktion der Vergleichsmöglichkeiten spricht zum einen das Selbstverständnis der Hönigswaldschen Denkpsychologie. Als philosophische Prinzipienwissenschaft hat diese es mit den wahren und ursprünglichen Prinzipien der empirischen Psychologie zu tun, deren adäquate Bestimmung allererst adäquate psychologische Forschung gewährleistet. Wie jegliche Wissenschaft, so beruht auch die empirische Psychologie als moderne Experimentalwissenschaft auf allgemeinen Prinzipien und Grundsätzen, auch wenn diese in der Praxis der wissenschaftlichen Arbeit unthematisch oder überhaupt unentdeckt bleiben. 2
Wolfgang Cramer (1957), Grundlegung einer Theorie des Geistes, Vorwort zur 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1964.
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Eine empirische Wissenschaft wie die der Psychologie bietet von sich aus keine zureichende Gewähr für die Wahrheit und Angemessenheit der Prinzipien, auf denen ihre alltägliche Forschungsarbeit beruht. Hier gewinnt die Denkpsychologie als Prinzipienwissenschaft ihre Aufgabe als philosophische Erkenntnis, welche der empirischen Forschung des psychischen Alltagslebens die Angemessenheit sichert. So ist es auch kein Zufall, daß die Hönigswaldsche Denkpsychologie ihren methodischen Ausgangspunkt in alltäglichen Phänomenen psychischen Verhaltens findet, wie zum Beispiel im Phänomen des sogenannten „Verlierens des Fadens" oder in den Phänomenen der Schlagfertigkeit oder der Störung des Verstehens. Es sind solche exemplarischen alltäglichen Phänomene, welche durch kritische Analyse einen Weg zu den wahren Grundlagen psychologischer Erkenntnis bahnen helfen und welche auf diese Weise eine adäquate Erforschung des psychischen Seins in seiner ursprünglichen Gegebenheit ermöglichen vor jeder möglichen Verkürzung und Entstellung durch Vorurteile des wissenschaftlichen Apparates und dessen unzulänglicher Begriffsbildung. Es ist gewiß richtig: Hönigswalds Denkpsychologie stellt eine bestimmte Gestalt der neukantianischen Transzendentalphilosophie dar. Aber deren Grundtypus hat in dieser Gestalt eine neue Form, eine modernere Fassung angenommen. So ist die Hönigswaldsche Transzendentalphilosophie keine Konstruktion apriorischer Grundsätze. Sie kann nicht einmal als eine transzendentale Erörterung gegebener Prinzipien apriori angesehen werden. Anstelle eines methodischen Gebrauches der Logik wie in Kants „transzendentaler Logik" haben wir es mit einer Fülle von Erfahrungen und mit der Analyse und der Beschreibung ihrer phänomenalen Gegebenheit zu tun. Diese Transzendentalphilosophie ist im wesentlichen philosophische Forschung und versteht sich selbst in diesem Sinne. Sie stellt sich selbst bestimmte Forschungsaufgaben, indem sie zugleich dem Begriff der „Aufgabe" eine sehr weite und allgemeine Bedeutung einräumt. Diese Forschung ist auf der Suche nach den Grundlagen des psychischen Seins. Sie ist und bleibt höchst selbstkritisch, da, wo sie auf Grundlagen zu stoßen meint. In dieser Forschungseinstellung ähnelt sie der philosophischen Phänomenologie Husserls. Wie diese orientiert sie sich an den Phänomenen des Psychischen, und wie dort richtet sich ihre Kritik gegen die Verflechtung von zwei Einstellungen des Gegebenen durch verkehrte ontologische und psychologische Vorurteile: zum einen gegen eine abstrahierende Verkürzung der Phänomene der Erfahrung und zum anderen gegen eine entsprechend abstraktive Konzeption des Psychischen. Angesichts dieser unverkennbaren Verwandtschaft zwischen Hönigswalds Denkpsychologie und Husserls transzendentaler Phänomenologie gewinnt Cramers Berufung auf die erstere ihre ausgezeichnete philosophische Bedeu-
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tung. Denn diese Denkpsychologie wird nicht nur für einen wahren und unverkürzten Begriff der menschlichen Subjektivität beschworen, sie wird darüber hinaus als Gegeninstanz zur philosophischen Phänomenologie in Anspruch genommen. Wie schon gesagt: Cramer bemüht Hönigswalds Konzept der Subjektivität gegen Heideggers Begriff des Daseins in der Welt, wie es in Sein und Zeit hermeneutisch analysiert wird. „Die Monade" ist hier nicht nur ein Buchtitel, sondern diejenige philosophische Gegebenheit, in der sich Cramer seinem Lehrer Hönigswald verpflichtet weiß. Der Begriff der Monade steht hier — anders als in Leibniz' rationaler Metaphysik — nicht für ein universales kosmologisches Prinzip. Vielmehr bezeichnet dieses Begriffswort das menschliche Ich in seiner unverwechselbaren Einzigartigkeit und Einzigkeit — in seiner Jemeinigkeit. Hier finden wir Hönigswalds und Cramers Denkontologien nicht nur in den Traditionszusammenhang der rationalen Psychologie der Neuzeit und der idealistischen Philosophie der Subjektivität gestellt. Vielmehr zeigt sich hier eine Brücke zu den Denkversuchen in unserem Jahrhundert, die wir grob und vereinfachend unter den Titel „Existenzphilosophie" bringen. Der monadologische Charakter des Ich ist es, der für Hönigswald und Cramer gleichermaßen dem Seienden, sofern es ein psychologisch Seiendes ist, allererst den Charakter des Psychischen im eigentlichen Sinne verleiht. Der bereits erwähnte Primat des Denkens vor dem Erleben, der bei beiden Autoren ein zentrales Theorem bildet, gewinnt in der monadologischen Gegebenheit des Ich seine ursprünglichste Ausformung. Das Psychische ist als das Psychische eines Ich gegeben, und dieses ist es dank des Primats des Denkens, d. h. dank dessen, daß jedes Ich ursprünglich Denken und Gedanke ist. Aber es geht in Cramers Berufung auf Hönigswald nicht nur um die Gemeinsamkeit in der maßgeblichen philosophischen Thematik einer Monadologie, einer philosophischen Theorie des Ich und des psychischen Seins. Vielmehr zeigt sich in dieser thematischen Gemeinsamkeit eine methodische. Diese reicht zumindest bis zu einer Gemeinsamkeit in der philosophischen Methodenkritik. Nicht zu Unrecht erkennt Cramer in Hönigswalds Denkpsychologie eine kritische Distanz gegenüber der philosophischen Phänomenologie, die seiner eigenen scharfen Kritik an dieser weitgehend entgegenkommt.
2. Von der mannigfachen Bedeutung der Phänomene: Grundlegende und abgeleitete, typische und sonstige Phänomene Für die philosophische Phänomenologie, wie sie Husserl entwickelt hat, ist letzten Endes jede Gegenständlichkeit in dem Was und dem Wie ihrer Gegebenheit ein Phänomen des Bewußtseins. Zumindest kann auf dem Wege
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gewisser methodischer Zugriffe jede Art von Gegenständlichkeit in den Status eines Bewußtseinsphänomens versetzt werden. So gewinnt die philosophische Phänomenologie durch gewisse methodische Veranstaltungen ein Universum von Phänomenen, von denen sich ein jedes in seiner ursprünglichen Selbstgegebenheit muß anschauen und beschreiben lassen. Die Unendlichkeit dieses Universums macht die Phänomenologie zu einer unendlichen Forschung mit einer ins Unendliche weisenden Forschungsaufgabe. Cramers Denkontologie ist ausdrücklich im Gegenzug zu dieser Husserlschen phänomenologischen Forschung entworfen. Der lapidare, aphoristische Zug seines Buches Theorie des Geistes ist ein beredter Ausdruck dieser Gegenläufigkeit. Cramers Kritik richtet sich gleichermaßen gegen die verschiedenen Formen und Typen einer philosophischen Phänomenologie; nicht nur gegen die Phänomenologie Husserls und Heideggers, sondern auch gegen Hegels Phänomenologie des Geistes. Wie gesagt: Cramer hat Heideggers fundamentalontologische Fassung der menschlichen Subjektivität als Dasein unter Berufung auf Hönigswald einer scharfen Kritik unterzogen. Aus seiner Sicht krankte die ontologische Bestimmung dieses „Daseins" an einer ontologischen Unterbestimmtheit. In Sein und Zeit ist das Dasein bestimmt als dasjenige ausgezeichnete Seiende, das sich in seinem Sein zu diesem seinem Sein verhält und dies in der Weise eines vorontologischen Seinsverständnisses, das nur in der eigentlichen Existenz durchbrochen erscheint. Die fundamentalontologische Bestimmung dieses Daseins und die hermeneutische Analytik seines Seinsverständnisses bewegen sich auf dem Boden der phänomenologischen Methodik. Cramer findet den phänomenologischen Grundbegriff der Intentionalität in Heideggers ontologischer Bestimmung des Daseins wieder. So gesehen sind die Existenzialien als fundamentalontologische Bestimmungen des Daseins in seinem Seinsverständnis in Wahrheit kategoriale Bestimmungen einer phänomenologischen Intentionalität. Dies gilt nicht zuletzt für die Seinsbestimmungen der Geworfenheit, der Faktizität und des Verfallens des Daseins an das innerweltlich Seiende. Die Fundamentalontologie und Hermeneutik des Daseins als Spielart der Husserlschen Phänomenologie: Was ist es, was Cramer gegen diese Spielart und gegen die philosophische Phänomenologie überhaupt vorbringt? Seine Kritik richtet sich gegen das methodische Grundprinzip einer jeglichen philosophischen Phänomenologie. Dieses Prinzip besteht in einer Umformung, einer Transformation der Gegebenheitsweise von Gegenständen: Was an sich ist, soll für uns werden. Durch diese methodische Transformation glaubt die philosophische Phänomenologie, den Subjektivismus und Skeptizismus überlisten und durch diese List zugunsten der gesuchten Wahrheit überwinden zu können. Diese List erschöpft sich nicht darin, aus der Schwäche einer Skepsis eine Stärke zu machen. Die List besteht
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vielmehr darin, Subjektivität und Skepsis als Erkenntnismittel gegen sie selbst zu gebrauchen, indem diesen ihr eigenes Ansich-Sein aufgewiesen wird. So verwendet die Phänomenologie jenes Prinzip als Gegeninstanz zu einer Verselbständigung des Ansich-Seins einerseits und das Für-Uns-Seins andererseits. Durch die Erkenntnisbewegung, die sich als Übergang von dem einen zu dem anderen Sein darstellt, schafft sich die Phänomenologie ein Instrument der methodischen Beobachtung und Anschauung der Welt. Hegel hat in seiner Phänomenologie des Geistes jenes Transformationsprinzip verwendet, um eine methodisch kontrollierte Veränderung des Gegenstandes der Erkenntnis herbeizuführen. Aber nicht darum ging es hier, diese Veränderung als solche zu beobachten, sondern darum, sie in ihrer Abhängigkeit und Bedingtheit durch die methodische Veränderung der Bedingungen ihres Gegebenseins zu erkennen. Auf diese Weise wurden Rückschlüsse möglich auf die wahren Gründe gegenständlicher Erfahrung und der Erfahrung von Veränderungen. So glaubte Hegel, eine neuartige philosophische Erfahrungswissenschaft begründet zu haben, die sowohl gegenüber der Mathematik als auch gegenüber der empirischen Wissenschaft den Primat innehatte, und die sich auf die gedankliche Beobachtung gegenständlicher Veränderung und auf die Veränderung der Bedingungen der Vergegenständlichung durch das Gedankenexperiment gründete. In Husserls transzendentaler Phänomenologie scheint jenes methodische Prinzip der Transformation im Vergleich zur dialektischen Phänomenologie teils kritischer, teils unkritischer verwendet. Die sogenannte phänomenologische Reduktion erscheint in ihrem erkenntniskritischen Anspruch — zumindest auf den ersten Blick — sehr bescheiden, indem es ihr allein darum zu tun ist, den unbemerkten Einfluß aus dem Ansich-Sein des Gegenständlichen, also unbemerkte Vorurteile hinsichtlich des gegebenen Gegenstandes auszuschalten. Sie ist aber andererseits im Vergleich zur dialektischen Phänomenologie vergleichsweise unkritisch, indem sie glaubt, mit der Gewinnung eines jeweiligen gegenständlichen Für-Uns sich einen Raum für Evidenzen und ein unverlierbares Fundament zweifelsfreier Gewißheiten verschafft zu haben. Hier geht es nur um Cramers Kritik an dem methodischen Ansatz der philosophischen Phänomenologie. Diese Kritik richtet sich in erster Linie gegen die Illusion, in jener Bewegung vom Ansich-Sein zum Für-Uns-Sein ein kritisches Verfahren entwickelt zu haben, welches Evidenz und zweifelsfreie Gewißheit gewährleistet. Cramers Argumentation gegen jenes methodische Prinzip der Transformation des Ansich-Seins in ein Für-Uns-Sein ist ebenso einfach wie schlagend. Denken bzw. Erkennen bedeutet nicht die Verlagerung eines Gegenstandes aus einem Äußeren in ein Inneres der Subjektivität. Die monadologische Struktur des Ich verbietet eine solche Vorstel-
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lung einer räumlichen Bewegung des Gegenstandes in seiner Erfassung. Deswegen kann es sich bei jener Transformationsbewegung bzw. bei der phänomenologischen Reduktion nur um den Übergang von einem Phänomen in ein anderes handeln. Das Ansich-Sein des Gegenstandes ist nicht weniger Phänomen als das Für-Uns-Sein desselben. Nur unter dieser Voraussetzung kann überhaupt jenes berühmte Problem des Maßstabes der Wahrheit gestellt werden, das schon Hegel aufgeworfen hatte, ohne es befriedigend lösen zu können. Cramers Kritik an der philosophischen Phänomenologie Husserls und Heideggers findet ihren prägnantesten Ausdruck in der Kritik an der phänomenologischen Erörterung des Phänomens „Welt" bzw. des Phänomens des menschlichen Weltbewußtseins. Dieses Bewußtsein ist Cramers Auffassung zufolge Bewußtseinsphänomen der Welt an sich, ein Phänomen, das sich am besten als Transzendenzbewußtsein beschreiben läßt. Dieses Transzendenzbewußtsein ist das Bewußtsein, welches uns sagt, daß die Welt existiert, unabhängig davon, ob ich existiere oder nicht. Cramers radikale Kritik an der philosophischen Phänomenologie läßt sich hinsichtlich dieses Transzendenzbewußtseins und seiner phänomenologischen Beschreibung auf eine einfache Formel bringen: Die philosophische Phänomenologie Husserls und Heideggers verfälscht zwangsläufig das ursprüngliche Phänomen „Welt an sich", indem sie dieses in das vermeintlich methodisch gesicherte Phänomen „Welt für mich" verwandelt. Alle weiteren phänomenologischen Analysen und Auslegungen dieses zweiten Phänomens schleppen notgedrungen die anfängliche verkehrte Beschreibung mit sich fort, die damit alle anderen Beschreibungen verfälschen muß. Die Cramersche Kritik läßt sich im Grunde in jedem Falle eines Gegenstandsbewußtseins geltend machen, indem die Gegenständlichkeit zunächst im Sinne des beschriebenen Transzendenzbewußtseins gemeint ist. Das Transzendenzbewußtsein gründet in dem bereits erwähnten Prinzip „Denken". Cramers Kritik gewinnt ihr eigentliches Gewicht allererst durch die Konsequenzen, die sich aus derselben ergeben. Diese Konsequenzen möchte ich hier aus meiner Sicht darstellen. Das Phänomen „Welt" bzw. „Weltbewußtsein" stellt ein Grundphänomen dar, zumindest dann, wenn wir Husserl und Heidegger sowie Cramers Kritik folgen. Ein Grundphänomen ist kein beliebiges Phänomen im Ganzen eines phänomenologisch verstandenen Bewußtseinslebens. Es ist ein Phänomen, durch welches dieses Bewußtseinsleben phänomenologisch „strukturiert" wird. Ein Grundphänomen ist ein ursprüngliches Phänomen, an dem sich andere nicht ursprüngliche Phänomene ablesen lassen und die in jenem „fundiert" sind. Mit einem Grundphänomen ist somit ein Fundierungsverhältnis gegeben, welches seinerseits als ein Phänomen aufgefaßt werden muß, wenn die phänomenologische Methode in aller Strenge gehand-
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habt sein will. Die Struktur des menschlichen Bewußtseinslebens ist daher — phänomenologisch betrachtet — durch die Lage der verschiedenen Fundierungsverhältnisse zueinander bestimmt. Diese Lage muß ihrerseits phänomenologisch beschrieben werden, wenn man der phänomenologischen Methode gerecht werden will. Das Grundphänomen, mit dem wir es in Heideggers Fundamentalontologie zu tun haben, ist das „In-der-Welt-Sein des Daseins" als ursprüngliches und ganzheitliches Phänomen. Aus diesem Grundphänomen entspringen dank der „hermeneutischen Analytik des Daseins" eine Fülle von Phänomenen, die alle in jenem Grundphänomen fundiert sind, auch wenn sie in Beziehung untereinander gleichursprünglich sein mögen, wie dies Heidegger gesehen haben will. Dieses Grundphänomen des In-der-Welt-Seins muß sich — Cramers Kritik zufolge — mit dem Grundphänomen der Transzendenz der Welt, dem Transzendenzbewußtsein, vergleichen lassen. Soweit ein solcher Vergleich überhaupt möglich ist, der ein Minimum an Prägnanz der jeweiligen Beschreibungen voraussetzt, haben wir es mit unterschiedlichen Phänomenbeschreibungen zu tun, die nur zwei mögliche Schlußfolgerungen zulassen: Entweder liegen verschiedene Beschreibungen ein- und desselben Grundphänomens vor, oder aber die unterschiedlichen Phänomenbeschreibungen verweisen auf unterschiedliche Phänomene, die damit den Charakter von Grundphänomenen verlieren. Unsere vielfältigen Welterfahrungen sprechen eher für die zweite Alternative. Denn diese Erfahrungen belehren uns, daß das menschliche Weltbewußtsein keine Naturkonstante darstellt, sondern einem geschichtlichen Wandel unterworfen ist. So unterliegt dieses Bewußtsein dem allmählichen Wandel in der menschlichen Kultur. Aber wir erfahren einen solchen Wandel auch kurzfristig und direkt in unserer Alltagserfahrung: im Wandel zwischen Morgen und Abend, und gelegentlich von Stunde zu Stunde. So gesehen ist das Phänomen des Weltbewußtseins zunächst überhaupt kein einheitliches Phänomen, welches so oder so zu beschreiben ist. Es ist vielmehr als ein in sich vielfältiges Phänomen oder auch als eine Mannigfaltigkeit von Phänomenen anzusehen, in der die Philosophie die Einheit suchen kann, wenn sie will. Es ist auch nicht von vornherein gesagt, daß ein solches Phänomen notwendig ein Grundphänomen ist. Unter bestimmten Umständen entspringt ein bestimmtes Weltbewußtsein aus einer gewissen Grundbefindlichkeit und ist dann in deren phänomenaler Gegebenheit fundiert. Es ist kein gutes philosophisches Argument, welches gebietet, die Vielfalt der Phänomene an die Empirie zu delegieren und für die Philosophie etwas Höheres und Feineres von der Art eines Apriori zu reklamieren. Jedenfalls rüttelt die Vielfalt der Weltphänomene an den Fundierungsverhältnissen in der Phänomenologie, soweit es in diesen Verhältnissen notwendig gemäß
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der Unterscheidung zwischen Apriori und Aposteriori zugehen soll. Die philosophische Phänomenologie ist zur traditionellen Metaphysik auf Distanz gegangen, und dies in Formen, die sich von der transzendentalphilosophischen Kritik der Metaphysik entfernt haben. Die Unterscheidungen zwischen fundierenden und fundierten Phänomenen und die Annahme phänomenologischer Fundierungsverhältnisse stellen metaphysische Reste dar, deren Verhältnis zur Phänomenologie unterschiedlich gedeutet werden kann. Die von Heidegger in die Phänomenologie eingeführte ontologische Differenz von Sein und Seiendem bringt das Verhältnis von Phänomenologie und Ontologie in zweideutiger Weise zum Ausdruck. Durch diese ontologische Differenz wird einerseits die Idee der phänomenologischen Fundierung methodisch verschärft, andererseits gebrochen, indem man sich fragen muß, wie das Grundphänomen des In-der-Welt-Seins der ontologischen Differenz zuzuordnen ist. Die Bedeutung der Cramerschen Denkontologie zeigt sich im Blick auf die Zweideutigkeit im Verhältnis von Phänomenologie und Metaphysik. Sie ist der Versuch, diese Zweideutigkeit zu entwirren, und sei es auch in der Weise des Durchhauens des gordischen Knotens. Angesichts dieser ontologischen Wende Cramers gewinnt nun Hönigswalds Denkpsychologie ihre spezielle methodische Bedeutung, ihrer Gemeinsamkeit mit der Cramerschen Subjektivitätsphilosophie zum Trotz. In Hönigswalds philosophischer Prinzipienwissenschaft wird dem Ausgang von den Phänomenen eine ausgezeichnete methodische Beachtung zuteil. Allerdings handelt es sich hier nicht um fundierende und fundierte, sondern um typische Phänomene. Typische Phänomene sind gegenüber beliebigen und für die Denkpsychologie irrelevanten Phänomenen ausgezeichnet. Was macht hier das Typische eines psychischen Phänomens aus? Eine Antwort auf diese Frage ist von jenen Phänomenen aus zu suchen, denen Hönigswald seine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat: den Phänomenen des Verlustes des Fadens, der Schlagfertigkeit, der Störung eines Zusammenhanges des Verstehens. Das Typische in diesen und anderen ähnlichen Phänomenen liegt nicht in der Charakteristik eines psychischen Funktionsausfalles oder Defektes, auch nicht im Ausnahmecharakter des vorliegenden Falles psychischen Erlebens. Die Phänomene, von denen Hönigswalds Denkpsychologie handelt, sind vielmehr allbekannte Phänomene, die in unserer alltäglichen Erfahrung vorkommen und an deren Vorkommen kein Zweifel besteht. Anders als in der philosophischen Phänomenologie bedürfen diese typischen Phänomene keiner speziellen methodischen Aufbereitung, um als Ausgangspunkte denkpsychologischer Überlegungen gebraucht zu werden.
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3. Zwischen Denkpsychologie und Denkontologie Die Phänomene der Erfahrung, mit denen Hönigswalds Denkpsychologie zu tun hat, sind keine beliebigen singulären Phänomene des Erlebens. Sie sind typische und insofern übersinguläre Phänomene, und zwar in dem Sinne, daß sich an ihnen und durch ihre Beschreibung hindurch etwas zeigt: nämlich der Wesenszug eines Prinzips oder das Prinzip der Denkpsychologie selbst, also nicht nur ein Moment im psychischen Struktur- und Wesenszusammenhang seelischen Lebens, sondern der monadologische Charakter des Ich und die intersubjektive Gemeinschaft der Monaden. Die fraglichen typischen Phänomene müssen damit erkennen lassen, daß sie nicht nur Phänomene des Erlebens, sondern vom Primat des Denkens eines Ich und dessen Denken von Gedanken bestimmt sind. Typische Phänomene sind keine ursprünglichen Phänomene. Sie sind weder fundierende noch fundierte Phänomene im Sinne der philosophischen Phänomenologie. Sie sind typische Phänomene der Ich-Erfahrung. Als typische Phänomene haben sie einen gewissen generellen Aspekt. Aber auch wenn sie sich durch die Art und Weise ihrer Gegebenheit und durch ihren erkenntnistheoretischen Status von den Phänomenen der philosophischen Phänomenologie unterscheiden, werfen sie ähnlich wie diese ein verwandtes Problem auf: Wie diese sind sie keine schlechthin singulären und als solche für sich genommenen Phänomene. Aber wenn sie nicht solche singulären Einzelphänomene sind, so hängt dies nicht nur damit zusammen, daß es schwierig ist, im Bewußtseinsleben ein einzelnes psychisches Phänomen zu isolieren und in seiner Vereinzelung für sich zu betrachten. Zu Recht hat Hönigswald die Frage nach der „Zählbarkeit" des Psychischen als eine für die Denkpsychologie zentrale Frage angesehen und dementsprechend mit besonderer Gründlichkeit erörtert. Das Problem, mit dem es die Philosophie hier angesichts gegebener Phänomene zu tun hat, liegt auf einer anderen Reflexionsebene. Es betrifft die Phänomene der philosophischen Phänomenologie ebenso wie die Phänomene der Denkpsychologie. Es ergibt sich daraus, daß es der Philosophie hier ebenso wie dort überhaupt nicht um bestimmte Phänomene als solche geht. Die Erkenntnis gegebener Phänomene ist weder hier noch dort Selbstzweck. Der Philosophie geht es angesichts der Gegebenheit von Phänomenen immer darum, etwas an diesen Phänomenen zu sehen, etwas, was man den Phänomenen nicht ohne weiteres selbst ansieht, oder etwas, was gewissermaßen durch die Phänomene verdeckt und insofern hinter diesen verborgen ist. Es gibt viele Verfahrensmöglichkeiten zum Zwecke solcher Entdekkungen. Das einfachste Verfahren besteht in der Kontrastbildung, in der Nebeneinanderstellung unterschiedlicher Phänomene. Das Problem, welches
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durch die philosophische Aufgabe der Entdeckung oder Aurweisung von etwas an den Phänomenen oder hinter den Phänomenen für die philosophische Phänomenologie ebenso wie für die Denkpsychologie auftritt, liegt in der Beschreibung der entsprechenden Phänomene, die als „Vorwände" für eine Entdeckung von etwas an ihnen oder hinter ihnen fungieren. Das Problem ist nicht das einer adäquaten und vollständigen Beschreibung eines Phänomens in seiner Ursprünglichkeit oder in seiner Typik oder in einer sonstigen Kennzeichnung. Die normative Idee einer solchen Beschreibung ist eine Fiktion. Denn zum einen gibt es keine universalgültigen Kriterien für die Perfektion einer bestimmten Phänomenbeschreibung; und zum anderen verfügen wir über keine universalgültige Klassifikation psychischer Phänomene, allen philosophischen Bemühungen zum Trotz, allgemein anerkannte Begriffsworte des psychischen Seins zur Bildung eines gültigen Systems des Psychischen zu verwenden. Das philosophische Problem einer Phänomenbeschreibung entspringt vielmehr daraus, daß es der Philosophie niemals um ein einzelnes bestimmtes Phänomen als solches zu tun ist: weder um ein ursprüngliches oder abgeleitetes, noch um ein typisches oder atypisches Phänomen. Deswegen geht es in den philosophischen Beschreibungen von Phänomenen nicht allein darum, daß die Phänomene in ihren Beschreibungen und durch dieselben als diese bestimmten Phänomene müssen erkannt werden können. Auch handelt es sich hier nicht um das bekannte hermeneutische Problem, daß die Gegebenheit von Phänomenen unter Voraussetzungen steht und durch Vorurteile geprägt ist, deren Bestimmtheit unbemerkt in die Phänomenbeschreibung eingeht, so lange diese nicht für sich betrachtet und von ihren Voraussetzungen getrennt werden. Das besondere Problem liegt hier vielmehr darin, daß die jeweilige Phänomenbeschreibung in den Dienst einer bestimmten Funktion des betreffenden Phänomens für die Philosophie gestellt ist, der es, wie gesagt, nicht nur um dieses Phänomen, nicht um dieses Phänomen als solches geht. Diese Funktion des Phänomens kann seine Beschreibung nur erfüllen, wenn sie keine reine Beschreibung ist bzw. wenn sie nicht in ihrer Beschreibung diese Funktion unmöglich macht. So gesehen muß eine Phänomenbeschreibung der Philosophie immer ein deiktisches Element enthalten, ein Element, welches aufweist, was an dem fraglichen Phänomen seine philosophische Bedeutung ausmacht, zum Beispiel der Hinweis auf ein anderes Phänomen, mit dem es einen wichtigen Zusammenhang bildet, ein Phänomen, mit dem es etwa ein Fundierungsverhältnis eingegangen ist. Solche deiktischen Momente innerhalb einer Beschreibung spielen in der Kunst und in der philosophischen Ästhetik eine äußerst wichtige Rolle. Ein Kunstwerk ist nicht nur eine Beschreibung der Welt — einer Welt — , sondern es zeigt in
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seiner Weltbeschreibung etwas von seiner eigenen Kunstfertigkeit. Und der angemessene Umgang mit einem solchen Werk erfordert nicht nur eine wie immer beschaffene Wiederholung der Weltbeschreibung desselben, sondern eine Verweisung auf die versteckten deiktischen Elemente der vorliegenden künstlerischen Normen. Nun ist es eine Illusion zu meinen, man könne in philosophischen Phänomenbeschreibungen einen klaren Trennungsstrich ziehen zwischen einer reinen Beschreibung und einer reinen Aufweisung. Statt dessen finden wir in der Regel eine Ausdifferenzierung der anfänglichen Beschreibung derart, daß diese Schritt für Schritt in ihre deiktische Funktion hineinwächst. In dem Maße, in dem dies geschieht, lockert sich das anfängliche Band zwischen dem gegebenen Phänomen und seiner Beschreibung. Die Hönigswaldschen Beschreibungen typischer denkpsychologischer Phänomene belegen dieses Schicksal philosophischer Beschreibungen. Denn diese Phänomene geben keine Typik des Psychischen im Sinne einer allgemeinen Typologie. Aber sie verweisen auch nicht geradewegs und unmittelbar auf das, was die Phänomenbeschreibung zeigen soll; nämlich das Grundgefüge der denkpsychologischen Prinzipien und die monadologische Grundstruktur des Ich. Hönigswalds Analyse der untersuchten typischen Phänomene folgt nicht einer bestimmten Regel oder einer festen Methode. Seine Analyse und die entsprechende Ausdifferenzierung der Phänomenbeschreibung enthält ebenso Elemente begrifflicher Analyse wie dessen, was man „eidetische Variation" in Entsprechung zum phänomenologischen Methodenverständnis nennen könnte. Ebenso finden sich aber auch assoziative Elemente, die aus anderen Phänomenbereichen stammen. Worauf es bei der fortschreitenden Analyse der typischen Phänomene in erster Linie ankommt, ist dies, daß alle diese Phänomene in die gleiche Richtung weisen und sich insofern in ihren Beschreibungen einander annähern, und zwar in dem Maße, in dem sie der fraglichen Sache, d. i. der Denkpsychologie selbst näherkommen. Wie gesagt: Alle diese Phänomene sind Phänomene der Erfahrung des Psychischen, Phänomene, die mit dem Verstehen und dessen Erfahrung zu tun haben. Sie verweisen auf etwas, was man die Form bzw. die formale Struktur der menschlichen Subjektivität nennen kann. Alle jene typischen Phänomene sind typische Erscheinungen dieser allgemeinen Formstruktur. Hönigswald hat für diese Formstruktur die Formel geprägt: „Ich denke etwas". Cramers Denkontologie stellt eine ontologische Auslegung dieser Formel dar. In Hönigswalds Denkpsychologie wird davon ausgegangen, daß das psychische Sein erst dann wahrhaft bestimmt ist, wenn es im Lichte jener allgemeinen Formstruktur betrachtet und untersucht wird. Die Denkpsychologie erhebt insofern den Anspruch, der experimentellen
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psychologischen Forschung einen methodischen Leitfaden für ihre Experimente vorzugeben. Jedes psychologische Experiment ist, sofern es überhaupt mit psychischen Gegenständen zu tun hat, unter die Bedingung des Gedankens „Ich denke etwas" gestellt. Ein solches Experiment muß dieser gedanklichen Voraussetzung Rechnung tragen, wenn es mit psychischen Gegenständen überhaupt soll zu tun haben können. Erfahrung und Verstehen bleiben unbestimmte, vage Gegebenheiten, solange in ihnen nicht die Momente des Denkens und des Wissens herausgehoben, solange nicht in ihnen der Gedanke „Ich denke etwas" mit allen seinen gedanklichen Implikationen aufgedeckt worden ist. Das bekannte typische Phänomen des verlorenen Fadens, welches Hönigswald untersucht hat, läßt diese verschiedenen Seiten der Phänomenanalyse deudich hervortreten: die Relevanz für entsprechende psychologische Experimente, vor allem aber auch die Bedeutung als typisches Phänomen in dem angezeigten Sinne. Dies macht zum Beispiel den Unterschied des genannten Phänomens gegenüber gewissen Phänomenen des Vergessene aus. Etwas kann so vergessen sein, daß es dem Bewußtsein und Denken für immer verloren ist. Unendlich viele psychische Phänomene haben sich immer schon der Vergegenständlichung entzogen. Anders ist es im Falle des Verlustes des Fadens. Es muß jemanden geben, der den Faden verliert bzw. den Faden verloren hat. Insofern ist in jeglicher Art und Weise des Verlustes des Fadens ein Ich gegenwärtig, welches als Ich etwas denkt, also Denken eines Gedankens ist. Folgt man Hönigswalds Phänomenanalyse, so gewinnt man den Eindruck, daß alle diese Analysen zwar darauf zielen, die ganzheitliche formale Struktur des „Ich denke etwas" hervorscheinen zu lassen; daß aber nirgends der Versuch unternommen wird, definitiv in den Beschreibungen zu unterscheiden zwischen dem, was dem Gedanken als solchem, und dem, was dem Denken des Gedankens als dem Denken eines denkenden Ich angehört. Dies allerdings ist in der Unterscheidung zwischen Gedanken und denkendem Ich unmißverständlich festgehalten: daß es den Gedanken als solchen nur gibt unter der Bedingung eines denkenden Ich. Die ontologische Wende, die Cramer der Hönigswaldschen Denkpsychologie gegeben hat, betrifft nicht nur diese transzendentale Bedingung jedes möglichen Gedankens und damit jeder psychischen Gegenständlichkeit überhaupt. Sie enthält darüber hinaus den Versuch einer ontologischen Klärung des Verhältnisses von Denken und Gedanke hinsichtlich des denkenden Ich. Die Aktualität der Hönigswaldschen Denkpsychologie ist in erster Linie darin zu sehen, daß sie für die Wissenschaft der empirischen Psychologie den Forschungsstandpunkt einer personalen Psychologie einfordert. Psychische Phänomene sind solche Phänomene nur, wenn sie als personale Phänomene
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betrachtet und erforscht werden. Die Objekte experimenteller Untersuchungen sind Versuchspersonen, und ebenso dürfen die experimentierenden Forscher ihren eigenen Status als Personen nicht außer acht lassen. Wenn in Hönigswalds Psychologie die Grenze zwischen Gedanke und Denken nicht eindeutig gezogen ist, so mag dies mit der Beziehung auf die empirische Wissenschaft zusammenhängen und mit der Einsicht, daß eine solche Grenzbestimmung sich nicht ohne weiteres in der Erfahrung aufweisen läßt. Es gibt jedoch ansatzweise Bemühungen um eine Unterscheidung zwischen Gedanke und Denken, die aus der Analyse der typischen Phänomene gewonnen wird. Die Analyse des Phänomens des sogenannten Verlustes des Fadens zeigt eine Reihe von Eigenschaften des Gedankens, der hier der Gedanke einer psychischen Gegenständlichkeit ist. Eine solche charakteristische Eigenschaft ist die Extension des Gegenstandes. Der Gedanke bzw. der psychische Gegenstand, für den er hier steht, besitzt eine gewisse Ausdehnung, die in ihrer Größenbestimmung variieren kann. Diese Extensivität ist nicht die Ausgedehntheit physisch-materieller Gegenstände. Sie ist zunächst eine zeitliche Extension. Jeder Gedanke nimmt für sich eine gewisse Präsenzzeit in Anspruch. Das Phänomen des verlorenen Fadens macht aber deutlich, daß ein Gedanke immer die Bemühung um die Lösung einer Aufgabe des Denkens ist. Insofern geht in die Präsenzzeit und deren zeitliche Erstreckung sowohl das Gedächtnis wie auch die Antizipation eines Bevorstehenden ein. Die Präsenzzeit des Gedankens ist dementsprechend strukturierte und gegliederte Zeitlichkeit. Aber diese Ordnung der Extensivität ist keine Ordnung eines reinen Nacheinander. Sie ist zugleich auch eine Ordnung des Miteinander, des Nebeneinander und des Ineinander. Dementsprechend gilt von dem Gedanken: Er ist nicht eindimensional, sondern hat verschiedene Dimensionen. Deswegen läßt sich der Gedanke nicht mit einem Faden vergleichen, ob es sich nun um den Gedanken handelt, hinsichtlich dessen der Faden verloren geht, oder um den Gedanken, der den Faden verliert bzw. verloren hat. Wenn ein Vergleich hier überhaupt angebracht ist, so ist der Gedanke eher einem Netz mit bestimmten Fäden und Verknotungen zu vergleichen. Aber das typische Phänomen vom verlorenen Faden zeigt mehr als nur die bloße Extension des Gedankens. Dieser muß ein Ganzes sein, und zwar ein gegliedertes Ganzes, wenn er ein bestimmter Gedanke soll sein können, der sich von anderen Gedanken unterscheidet. Die Zählbarkeit des Psychischen, deren Problematik Hönigswald eine eigene Abhandlung gewidmet hat, beruht auf dieser Eigenschaft des Gedankens. Ein Gedanke und die ihm entsprechende psychische Gegenständlichkeit ist ein gegliedertes Ganzes, ein gegliedertes Ganzes von in sich gegliederten ganzheitlichen Teilen. Ein Ge-
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danke ist in einem gewissen Sinne als bestimmter Gedanke — ein System. Es ist die Ordnung des Gedankens, die Gliederung desselben und die Organisation der Teile, hinsichtlich deren es möglich ist, den Faden zu verlieren. Im Leeren oder im vollkommen Homogenen ist eine solche Möglichkeit ausgeschlossen. Hier gibt es keine Bedingungen möglicher Orientierung und damit auch keine Bedingungen eines möglichen Orientierungsverlustes. Prototyp eines gegliederten Ganzen, für dessen Durchschreitung man eines Fadens bedarf, ist das Labyrinth. Hier ist es lebensgefährlich, keinen Ariadnefaden zu besitzen, und wenn man ihn verliert, ist man hier verloren.
4. Die ontologische Wende: Weg oder Wegende? In Hönigswalds Denkpsychologie spielt der Begriff der Dichte eine überaus wichtige Rolle. Er bildet den maßgeblichen Gegenbegriff zum Leeren und zum vollkommen Homogenen. Dichte ist so wenig wie Extensivität in diesem Zusammenhang als Eigenschaft physisch-materieller Dinge verstanden. Dichte ist vielmehr eine Eigenschaft der Gedanken bzw. eine Charakteristik bestimmter Sinnzusammenhänge. Man kann sagen: Dichte ist ein Normbegriff für einen bestimmten Grad gedanklicher Kohärenz. Die Dichte im denkpsychologischen Sinne findet ihren Ausdruck in der Sprache. Sprache und Gedanke sind nicht identisch, so wenig wie Denken und Sprechen. Das Phänomen der Suche nach einem angemessenen Ausdruck des gehabten Gedankens zeigt, daß das eine nicht mit dem anderen zusammenfällt. Aber der Gedanke ist als bestimmter Gedanke und durch die Art seiner Gliederung auf den sprachlichen Ausdruck angewiesen. Seine Gliederung drückt sich in der Gliederung des entsprechenden sprachlichen Ausdrucks aus. Insofern sind Gedanken auf Ausdrucksformen wie Sätze und Satzverbindungen angewiesen. Die Musik entdeckt andere Ausdrucksformen für Gedanken, die in diesem Falle musikalische Gedanken sind. Hönigswalds Phänomenanalysen zielen auf eine Revision der Grundbegriffe — mehr noch, auf eine Revision des gesamten Begriffsnetzes der empirischen Psychologie seiner Zeit. Als personale Denkpsychologie ist Hönigswalds Philosophie gegen die Prinzipien der Vorstellungs- und Assoziationspsychologie gerichtet. Der Akzent dieser Kritik ist ein anderer als der der Husserlschen philosophischen Phänomenologie. Jene Kritik richtet sich nicht so sehr gegen die Empirie der empirischpsychologischen Wissenschaft als vielmehr gegen deren unzulängliches Begriffssystem. Indem die Denkpsychologie psychische Gegenstände unter die Bedingung des Prinzips „Ich denke etwas" stellt, muß sie nicht nur die formalen
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Eigenschaften des Gedankens, sondern ebenso die des „Ich denke" in dem formalen Gefüge des „Ich denke den Gedanken x" explizieren. Das typische Phänomen des verlorenen Fadens vermag auch hierfür den Leitfaden zu bilden: Es gibt unzählige Erlebnisse, unzählige psychische Phänomene, die unserer Aufmerksamkeit entzogen bleiben, weil sie unterhalb einer gewissen Bewußtseinsschwelle ablaufen. Zu diesen Phänomenen zählen auch ungezählte Ereignisse des Vergessene, aber auch des Erinnerns. Wir wissen nicht, daß wir sie vergessen haben, und auch die Erinnerungen vollziehen sich oft genug, ohne daß wir ihrer ausdrücklich bewußt werden. Aber für den Verlust des Fadens gilt, wie Hönigswalds Phänomenanalyse nachdrücklich geltend macht, daß ein solcher Verlust in der Regel gewußt ist. Es ist dieses Wissen des Ich, welches das „Ich denke etwas" in den gedachten Gedanken einbringt: Ich weiß, daß es sich so verhält, daß ich den Faden verloren habe. Dieses Wissen des Ich in seinem Denken eines bestimmten Gedankens ist ein Wissen zu wissen, daß man wisse — entsprechend der infiniten Reihe der idea ideae ideae des Spinoza. Aber das denkende Ich steuert im Denken des Gedankens — seines Gedankens — nicht nur dieses Wissen des Wissens zum gedachten Gedanken bei. Aus seinem Denken des Gedankens und aus seinem Wissen des Wissens des Gedachten wachsen ihm eine Reihe bestimmter Eigenschaften zu. Diese sind formale Eigenschaften ebenso wie die Eigenschaften des Gedankens, sofern es sich hier und dort um Eigenschaften eines formalen Strukturganzen handelt. Die Denkpsychologie ist angesichts dieses Beitrages des „Ich denke" zur formalen Gesamtstruktur des „Ich denke etwas" vor eine Reihe schwieriger Fragen gestellt: Was hat es mit jener unendlichen Reihe des Wissens des Wissens auf sich? Wie entspringen aus dieser Reihe und dem Denken des Gedankens bestimmte Eigenschaften dieses Denkens des Ich und worin unterscheiden sie sich von den entsprechenden formalen Eigenschaften des Gedankens? Vor allem aber: Welche Konsequenzen ergeben sich für diese unterschiedlichen Eigenschaften, sofern sie in der formalen Einheit des „Ich denke etwas" verbunden sind? Hönigswald hat diese Fragen unter dem allgemeinen Titel „Ist Psychisches zählbar?" eingehend erörtert. Dabei ergab sich ihm, daß Zählbarkeit und Unzählbarkeit unterschiedliche formale Eigenschaften sind, von denen die erstere dem Gedanken, letztere dem Denken des Ich zukommt. Ihre Verbindung aber scheint allenfalls ein paradoxes Theorem zuzulassen, demzufolge psychische Phänomene zählbar und unzählbar zugleich sind, und zwar aufgrund ein- und desselben formalen Sachverhaltes, nämlich „Ich denke etwas". Es ist zunächst nicht zu sehen, daß die Erörterung einer der aufgeführten Fragen einen Übergang aus der Denkpsychologie in die Denkontologie unvermeidlich mache.
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Hönigswald hat nun selbst, wenn auch gegen die eigene Absicht, einen Punkt bezeichnet, an dem ein solcher Übergang als notwendig geboten erscheinen könnte. Für ihn war dieser Punkt ein Grenzpunkt seiner Denkpsychologie. Die Analyse des Phänomens des verlorenen Fadens reichte bis zur Markierung dieser Grenze. Diese Grenze zeigte sich an einem vergleichbaren Phänomen und durch die Vergleichung. Es ist dies nun das Phänomen vom „gerissenen Faden": wohlgemerkt nicht eines ^mrissenen Fadens, sondern eines ^mssenen Fadens. Der Unterschied zwischen den beiden Phänomenen liegt auf der Hand: Im ersteren Falle handelt es sich wie im Falle des Phänomens des verlorenen Fadens um ein personales Phänomen, bei dem ein Ich mit seinem Wissen und Tun beteiligt ist, während im anderen Falle ein impersonales Geschehen vorliegt. Hönigswald hat dieser in dem neuen Phänomen entdeckten Grenze seiner Denkpsychologie eine zweifache Bedeutung abgewonnen: Zum einen sah er in dieser Grenze eine Grenzziehung gegenüber der Biologie, d. i. einer Wissenschaft, die es mit dem impersonalen bzw. vorpersonalen Geschehen des Lebendigen zu tun hat. Zum anderen erkannte er eine gewisse Verwandtschaft zwischen den Phänomenen des gerissenen Fadens einerseits und der Ideenflucht andererseits. Dabei sah er in beiden Fällen eine gewisse Impersonale Einstellung zu einem monadologischen Verhalten. Stellt aber das Phänomen des gerissenen Fadens schon einen zureichenden Anlaß dar, um die Grenzen der Denkpsychologie zu überschreiten, gegebenenfalls in Richtung auf eine Denkontologie? Soweit ich sehe, nicht. Denn das Phänomen wird ja auch als Bild für personale Beziehungen verwendet, und zwar so, daß die betroffenen Personen durchaus wissen können, und in der Regel irgendwann auch wissen, daß der Faden ihrer Beziehung gerissen ist und sich das Band ihrer Verbindung gelöst hat. Das Wissen um dieses Sein — das Gerissensein des Fadens — ist ein Wissen des Daß und als ein solches nicht zwangsläufig ein Wissen um den Urheber oder Verursacher dieses Seins, auch wenn das Bedürfnis nach einer Klärung der ursächlichen Zusammenhänge dabei entstehen kann. So gesehen ist nicht nur das Zerreißen, sondern auch das Reißen eines Fadens ein personales psychisches Problem. Die Dinge liegen hier nicht anders als im Falle des Phänomens des verlorenen Fadens. Denn auch wenn nicht zu bestreiten ist, daß ich es bin, der den Faden verloren hat, und dies auch weiß, so kommt es mir nicht so sehr darauf an, ob ich es bin oder nicht bin, der den Faden verloren hat, sondern darauf, daß sich der verlorene Faden wiederfindet bzw. darauf, mir darüber klar zu werden, ob der Faden endgültig verloren ist oder nicht. Aus diesen Betrachtungen über die unterschiedlichen Phänomene des Verlierens und des Reißens eines Fadens ergibt sich: Es hängt von den Beschreibungen dieser Phänomene und davon ab, wieweit diese Phänomene
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analysiert und worauf hin sie betrachtet werden, wieweit man sich der Grenze der Denkpsychologie nähert. Und die Annäherung an diese Grenze setzt darüber hinaus einen bestimmten Vorbegriff des Gesamtbereiches der philosophischen Prinzipienwissenschaft vom Psychischen voraus. Nicht von ungefähr spricht Hönigswald hinsichtlich „des Denkens" von einem „Grundphänomen", ohne daß dabei die Beziehung zwischen einem solchen Phänomen und den analysierten typischen Phänomenen wie auch das Verhältnis zwischen diesen verschiedenartigen Phänomenen und den Prinzipien der Denkpsychologie zureichend geklärt würde.3 Die Beschreibungen, Analysen und Argumentationen bewegen sich frei zwischen Phänomenen unterschiedlichen Charakters. Unter diesem Gesichtspunkt ist zunächst kein zureichender Grund für eine ontologische Wende zu entdecken, wie sie in Cramers Philosophie des Geistes vollzogen ist. Und doch wird der Grund für diese Wende gerade in Cramers Anknüpfung an Hönigswalds Theorie der menschlichen Subjektivität am deutlichsten faßbar. Wie schon in der Monade so hat Cramer auch in der späteren Grundlegung einer Theorie des Geistes das Transzendenzbewußtsein als Grundproblem der Philosophie bezeichnet und der philosophischen Phänomenologie in ihren verschiedenen modernen Spielarten vorgehalten, daß sie diesem Problem ausgewichen seien, und zwar jede auf ihre Weise; bei Leibniz und Kant ebenso wie bei Hegel, Husserl und Heidegger und nicht zuletzt auch bei Hönigswald. Cramers radikale Kritik an der philosophischen Phänomenologie hat die Verbannung des Phänomenbegriffs aus seiner Philosophie der Subjektivität zur Folge. Deren Denkbewegung vollzieht sich nicht wie in der modernen Metaphysik und Phänomenologie im Räume der Phänomene oder im Zwischenraum zwischen Phänomenen und Ding an sich oder zwischen der Erscheinung der Erfahrung und den Prinzipien derselben. Diese klassischen neuzeitlichen Unterscheidungen sind ersetzt durch die Grundbeziehung, die Cramer ontologische Differenz nennt, unter der nachdrücklichen Betonung, daß diese mit dem entsprechenden Heideggerschen Terminus nichts zu schaffen habe. In der Tat dient der Begriffsgebrauch dieser Differenz von Sein und Seiendem bei jenem gerade zur Explikation der Struktur der Subjektivität, nicht als Grund zur Überwindung einer Philosophie der Subjektivität überhaupt wie bei diesem. Die ontologische Differenz ist in der monadologischen Grundstruktur „Ich denke etwas" gegeben. Sie ist in allen monadologischen Artikulationen der menschlichen Subjektivität anzutreffen, in allen Modalitäten des Erlebens und Denkens des Ich, sowohl in seinem Fürsich-Sein als auch in seiner Gemeinschaft mit anderen Monaden. 3
Richard Hönigswald (1925), Die Grundlagen der Denkpsychologie, 2. Aufl., Leipzig/Berlin, 2 f.
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Cramer ist Hönigswald vor allem in einem gefolgt; in dem von Kant herrührenden Gedanken, daß das Denken des Gedankens ein Wissen des Ich bzw. ein Selbstbewußtsein einschließt, zumindest der Möglichkeit nach. Kants berühmter Satz lautet: Das „Ich denke" muß alle meine Vorstellungen begleiten können. Gramer hat die Unzulänglichkeit dieses Kantischen Gedankens immer wieder kritisiert. Es ist seinem neuen Lösungsvorschlag zufolge das Wissen des Ich, dank dessen der Gedanke Gegenstand ist, und zwar gewußter Gegenstand, der in der Weise des Transzendenzbewußtseins gewußt ist. Ich weiß im Denken des Gedankens, daß der Gegenstand ist, ob ich ihn denke oder nicht. Cramer hat der transzendentalen Begründung des Gegenstandes eine ontologische Wende gegeben. Ich möchte hinsichtlich dieser Wende von einer ontologischen Transformation sprechen. Im Unterschied zur transzendentalen Begründung des Gegenstandsbewußtseins ist in dieser Wende das Bewußtsein bzw. das Wissen des denkenden Ich nicht ein ohnmächtiger Begleiter des Gedankens desselben, nicht ein nichtiger Reflex des Gegebenen, sondern eine Quelle der Konstitution des Gegenstandes. Cramer hat hier bewußt den Hönigswaldschen Terminus der Produktion aufgenommen, später den Begriff des Zeugens und des Erzeugens bevorzugt. Man wird nicht behaupten können, daß Cramer mit der Idee dieser ontologischen Transformation ganz ins Reine gekommen sei. Er hat vielmehr zeitlebens an diesem für ihn zentralen philosophischen Problem gearbeitet. Zumindest soviel aber soll hier deutlich werden: Die ontologische Transformation stellt eine Umkehrung der methodischen Bewegung der philosophischen Phänomenologie dar: Nicht soll das Ansich in ein Für-Mich verwandelt werden, sondern das FürMich ist, sofern es gewußtes Für-Mich ist, immer je schon an sich. Durch diese methodische Umkehrung unterläuft die Cramersche Theorie die Unzulänglichkeiten des phänomenologischen Ansatzes, nicht zuletzt auch dessen unzulänglichen Kritizismus. Cramer hat seine Denkontologie als transzendentale Ontologie bezeichnet. Damit wollte er zum Ausdruck bringen, daß die von ihm konzipierte Ontologie das kritische Erbe der Vernunftkritik Kants durchaus festgehalten und zugleich philosophisch verbessert haben wollte. Die ontologische Transformation ist schon für sich ein Stück Kritik, wenn man sie als gegenläufige Bewegung zur Bewegung der philosophischen Phänomenologie betrachtet. Cramer selbst hat die transzendental-kritische Dimension seines Denkens eher in einer Reihe von ontologischen Theoremen gesehen, die man insgesamt unter den Begriff der „ontologischen Limitation" bringen kann. Eine solche Limitation wird notwendig, wenn in dem Denken nicht nur ein Grundphänomen und in dem Ausdruck „Ich denke etwas" nicht nur eine
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Formel für das Grundprinzip der Subjektivität gesehen wird, sondern das ursprüngliche Sein der Monade, des menschlichen Ich. Denn dieses Sein des denkenden Ich ist in seinem Sein begrenzt und bedingt. So ist das denkende Ich zwar befähigt, durch sein Denken Gedanken hervorzubringen. Aber daß es, das Ich, Denken ist, dies ist so wenig Produkt seines Denkens wie sein monadologisches Sein sein eigenes Denkprodukt ist. Diese ontologische Limitation zieht sich durch alle Gedanken hindurch. Sie bildet den Grund des Ungewußten hinsichtlich des gewußten Gegenstandes. Die Frage ist nicht, ob das Ungewußte in Anbetracht der gewußten Gegenständlichkeit nicht eben so gut, vielleicht sogar besser durch die philosophisch-phänomenologische Betrachtung erkannt und dargestellt werden könne. Cramers Antwort auf diese Frage ist, wie sich aus seiner Kritik der Phänomenologie ergibt, eine entschiedene Verneinung. Es geht nicht darum, ob man mit der Beschreibung des Ungewußten und der Art seines Ungewußtseins beginnt, um dann die Grenzen des Wissens und die Bedingtheiten des gegenständlichen Gewußten und Ungewußten in den Blick zu nehmen; oder ob man umgekehrt von diesen Grenzen und Bedingtheiten ausgeht. Es bleibt auch unzureichend, einen relativistischen Standpunkt einzunehmen, demzufolge phänomenologische Fundierungsverhältnisse Verweisungen auf ontologische Sachverhalte sind und ontologische Setzungen einer phänomenologischen Ausweisung bedürfen. Macht man sich den Standpunkt der Cramerschen Ontologie zu eigen, so gilt: daß eine reine philosophische Phänomenologie unvermeidlich Gefahr läuft, die verschiedenen Arten von Phänomenen und die Modi ihres phänomenalen Gegebenseins prinzipiell zu verkennen. Hier hat die Denkontologie für die Phänomenologie eine unverzichtbare heuristische Funktion. Hönigswalds Denkpsychologie und Cramers Denkontologie repräsentieren in ihrem Nebeneinander und in der Entwicklung der letzteren aus der ersteren zwei Typen philosophischer Theoriebildung, die in ihrer eigentümlichen Komplementarität ein größeres Interesse verdienen als ihnen bislang zuteil geworden ist. Eine Seite dieser Komplementarität betrifft die empirische Psychologie. Hönigswald hat versucht, diese in einer philosophischen Psychologie des Denkens zu begründen. Auch wenn Cramer es nicht ausdrücklich gesagt hat: Eine Konsequenz seiner Theorie des Geistes ist die, daß eine philosophische Psychologie nur als philosophische Psychosomatik möglich ist. Diese Konsequenz hängt zusammen mit der ontologischen Limitation des „Ich denke etwas". Denn im Brennpunkt des Gefüges von Limitationen und Bedingtheiten steht hier der menschliche Leib als ontologische Bedingtheit des „Ich denke" und der Grenzen seines Denkens. Aufgrund der Tatsache, daß jedes Denken eines Gedankens und jedes Wissen
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eines Gegenstandes die Bindung an das körperlich-leibliche Sein voraussetzt, sind allererst Perzeptivität und Affektivität des menschlichen Ich möglich. Das denkende Ich ist angesichts dieser seiner somatischen Bedingtheit in allem gegenständlichen Wissen voll von Ungewußtem und insofern voll des Ungegenständlichen. Im Kontrast zu Hönigswalds Denkpsychologie, die sich, wie gezeigt, im Bereich der Phänomene der Erfahrung und in Richtung auf Grundphänomene und Grundprinzipien bewegt, hat Cramer in seiner Grundlegung einer Theorie des Geistes eine typologisch grundverschiedene Theorie der Subjektivität entworfen. In ihrem Theorie-Typus hat sie eine gewisse Verwandtschaft mit Whiteheads Schema einer spekulativen Philosophie.4 Ein solches Schema besteht aus einem logischen Minimum an Grundbegriffen. Diese Grundbegriffe sind terminologisch so gefaßt, daß sie ihren logischen Ort diesseits einer fest etablierten Unterscheidung von Singularität und Universalität haben. Auf diese Weise unterlaufen sie den dogmatischen Dualismus der Phänomene und der Dinge an sich. Das logische Minimum garantiert in Verbindung mit der Kohärenz der Grundbegriffe die Rationalität des Schemas. Diese Rationalität entspricht der Ockhamschen Devise, die für einen bestimmten Typus philosophischer und wissenschaftlicher Theorien unverzichtbar ist und bleibt: Principia (entia) non sunt multiplicanda sine necessitate. Aber zugleich ist auch etwas anderes für die Cramersche Denkontologie nahezu selbstverständlich: Sie ist der Wirklichkeit der menschlichen Erfahrung angemessen. Sie will es zumindest sein. Insofern steckt in ihr nicht nur der theoretische Anspruch auf Rationalität, sondern auch auf Adäquation im Verhältnis zur Erfahrung des Menschen.
4
Vgl. die methodischen Reflexionen über die spekulative Philosophie und ihr kategoriales Schema von Alfred North Whitehead (1978), in: Process and Reality, hg. v. David Ray Griffin/ Donald W. Sherburne, New York, 3 f.
Schriftenverzeichnis Wolfgang Wieland Selbständige
Veröffentlichungen
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Sonstiges
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Schriftenverzeichnis Wolfgang Wieland
Die Problematik der Begriffs der „Allgemeinen wissenschaftlichen Anerkennung" in der Medizin. In: Pluralität in der Medizin. Schriftenreihe der medizinisch-pharmazeutischen Studiengesellschaft e.V. Bd. 7, 1980, S. 145-148. Verbindlichkeit als wissenschaftstheoretisches Problem? In: E. Deutsch et al. (Hrsg.), Verbindlichkeit der medizinisch-diagnostischen und therapeutischen Aussage. Stuttgart, New York 1983. S. 35-42. Antrittsrede als Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. In: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für das Jahr 1983. Heidelberg 1984. S. 58-61. Erkennen in der Medizin. In: Der Allgemeinarzt, 6. Jg., 1984. S. 129-132, 244-248. Wie sicher ist die „sichere" Diagnose? In: Der Allgemeinarzt. 10. Jg., 1988, Heft 10. S. 706-770. Laudatio auf Werner Beierwaltes (Kuno-Fischer-Preis 1991). In: Heidelberger Jahrbücher, XXXV, 1991. S. 155-162. Karl Löwith in Heidelberg. In: Heidelberger Jahrbücher, XLI, 1997. S: 267-274.
Personenregister Aaron, R. I. 231 Adams, D. 27310 Aischines 91 Albinos 93 Allen, R. E. 60 Alline, H. 9417 Angelelli, I. 191 Angelus Silesius 16 Annas, J. 27513 Antisthenes 821, 159 Apelt, O. 84, 2698 Aquino, Th. v. 50 Archimedes 258 Arion 98 Aristoteles 3, 37, 51, 84, 91, 98,144-145,156, 181 ff., 197 f., 210, 212, 268 f., 27513 Aristoxenos 152 Arndt, H.-W. 228 Ast, F. 87, 89 Augustinus, A. 255 Bacon, F. 51 f., 59, 265 Bardili, Ch. G. 55 Bartels, K. 2697 Baumann, P. 1068 Begemann, A. W. 2729 Beneke, F. E. 49 Bernhard von Chartres 25 Bernhart, J. 18 Bernier, F. 230, 237, 244 Bieri, P. 1022, 10610 Bluck, R. S. 85 Bodinus, J. 205 Boeneburg, J. C. v. 205 Boethius 156 Bolotin, D. 27411 Bonitz, H. 84 Burnet, J. 84, 86, 98 Burnyeat, M. 11925 Campbell, L. 84 Caputo, J. D. 2996 Carnap, R. 156 Celan, P. 33 Cherniss, H. 846, 98 Chisholm, R. M. 1057, 135
Cho, K. K. 199, 13 Cicero, M. T. 98, 132 Clark, M. 13032, 135, 13740, 138 Code, A. 62, 81 Comte, A. 265 Conze, W. 1941 Cornford, F. M. 821, 84, 85, 91 Cousin, V. 846, 86 Craig, E. 1068, 13032, 13234, 13335, 13638, 14242 Cramer, W. 277-285, 287, 290f., 296-299 Dancy, R. 61 Davy, H. 104 Demokrit 96, 160 ff. Dempf, A. 1961, 35no Descartes, R. 17 Diels, H. 89 Dies, A. 9l 14 Diogenes Laertius 93, 161 Dirlmeier, F. 2681·2 Döring, K. 85, 9417 Dümmler, F. 821 During, I. 2695-7 Dutens, L. 1977 Ebert, Th. 9821 Echekrates 98 Eigler, G. 2698 Elsässer, M. 1649 Empedokles 89, 90 Engelhardt, W. v. 20218 Epikur 228 Er 89 Erdmann,J.E. 19810f, 20421 Erler, M. 9417 Eudoxos 846 Euldeides 85 Ferber, R. 145 Fichte, J. G. 48 f., 58 f. Franke, . 1979 Fräser, A. C. 250 Frede, M. 61, 66, 81, 93 Frege, G 156, 191 Friedländer, P. 84
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Personenregister
Friedrich der Große 50 Fritz, K. v. 85 Fritzemeyer, W. 21656 Funke, G. 21035 Furth, M. 61
Hume, D. 183 Husserl, E. l, 279, 281-285, 293, 296
Gaiser, K. 152 Galiliei, G. 255, 258 Gander, H. H. 19913 Gassendi, P. 228, 229, 230, 237 Geach, P. T. 2683 Georgias 159 Georgii, L. 2698 Gerhardt, C.J. 1953 Gettier, E. L. 102 ff., 129, 133, 135, 137 Giannantoni, G. 85 Gogh, V. van 612 Gomperz, H. 846 Gomperz, Th. 84 Gorgias 89, 90 Graham, D. 61 Granum sinapis 22 f. Grote, G. 84 Grube, G. M. A. 84 Guhrauer, G. E. 20626, 21l40 Guthrie, W K. C. 84
Jackson, H. 84 Jagodinski, J. 20422 Johannes 195 John of Salisbury 25
loannes Philoponos 268 Isokrates 91
Kabitz, W 20015 Kaiser, . 27614 Kamiah, W. 84 Kanghi 199 Kant, I. 2, 44, 48-53, 58 f, 10716, 184 f, 218, 253 f., 256, 266 f., 279, 281, 296f Kapp, E. 166 Karl der Große 194 Karrer, O. 1960 Kebes 94 Klopp, . 1966 König, J. 45 f. Kraus, M. 158 ff. Kriton 89 Krüger, L. 2636
Lakebrink, B. 35no Haas, A. M. 29 Lanz, P. 186 Habermas, J. 2636 Lavoisier, A. L. de 103 ff., 138 f. Hammerstein, N. 21037 Leibniz, G.W 2, 194ff, 235, 238, 280, 282, Hartmann, E. 60 296 Hegel, G.W F. 2, 36-39, 47, 48ff., 53-59, Lewis, F. 62, 63, 80, 81 213, 218, 283 f. Leyden, W von 250 Heidegger, M. l ff, 19913, 21658, 218, 279, Lieb, H. 156 283, 285 f, 296 Liebmann, O. 49 Heinaman, R. 60 Lobkowicz, N. 2636, 2647 Heitsch, E. 163 Locke, J. 50, 183,228-251 Heraklit3, 8, 10, 12 f, 195 Loemker, L. E. 19810 62 Herrmann, F.-W von 19 Lorenz, K. 20832 Herz, M. 53 Loux, M. 60, 62, 68, 80, 81 Hildebrandt, K. 19914 Ludwig XIV. 209, 21l39 Hobbes, T. 183, 205, 213 Hoerber, R. G. 27411 Malcolm, J. 9l14 1 Hoffmeister, J. 252 Mallet, M. C. 84, 86 Hofmann, H. 2698 Mates, B. 156 Hölderlin, F. 42, 1443, 31 Meister Eckhart 14 ff. Hölscher, U. 161 Mendelssohn, M. 51 Holz, H. H. 21244 Menon 90 Homer 268 Merkel, R. F. 1977 Hönigswald, R. 277-282, 287 f., 290-299 Meyer, R. W 20524 Horkheimer, M. 263 Mill, J. St. 156 Horstmann, R. P. 49 Morgenstern, Ch. 1214 Huber, K. 214 Müller, J. 1965 95
Personenregister Nachmanson, E. 9417 Napoleon 209 Natorp, P. 821, 846 Neber, C. 13033 Newton, I. 256 Nietzsche, F. 2, 218, 170 Nikias 89
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Saame, O. 20l16 Safranski, R. 33 ff. Santas, G. X. 2729 Saussure, F. D. 154 Scaltsas, Th. 81 Schelling F. W. J. l, 2, 2789, 49 f., 54 f., 58 f. Schieblich, W 21036 Schlegel, F. 1649 Schleiermacher, F. D. 84, 85, 2698 Ockham, W. v. 228, 229, 299 Schmalzriedt, E. 9417 Oehler, K. 60, 81, 155, 160, 182 Schmied-Kowarzick, W. 20525, 21346 Ogden, Ch. K. 154f, 162 Schmitter, P. 164 Oltmans, K. 1960 Schneider, H.-P. 21347, 21553f Owen, G. E. L. 60, 61 Scholl, Geschwister 214 Schönborn, J. Ph. v. 206 Parmenides 3, 87, 93, 94, 95 Schoplick, V 2729 Peirce, Ch. S. 155 ff. Schulz, W. 58 Pepper, K. R. 39 f. Schürmann, R. 29%, 3l101 9 12 Peters, H. 272 , 274 SearleJ. 107 ff, 110, 114, 171 Pfeiffer, F. 1548, 2062 Seech, Z. P. 27412 5 Piccolomini, E. S. 196 Sextus Empiricus 156 Picht, G. 134 f. Skemp, J. 9618 5 Pius II. 196 Sokrates 36 f., 39 f., 41-45, 85, 89, 90, 92, Platen 36-45 145-152, 162, 171,269-276 Plath, Ch. H. Chr. 19912 Sokrates d. J. 94 Platon 3, 8, 49, 82 ff., 154 ff., 172 ff, 195, 198, Sophisten 36-38, 47 203, 2532· 268-270, 275 f. Sophokles 9417 Plotin 23 Spinoza, B. 280, 294 Polanyi, M. 142 Stegmüller, W. 171 Porphyries 156 Stillingfleet 246 Praechter, K. 84 Strauss, E. 2553 Prauss, G. 175, 193 Ströker, E. 2648 13 Price, A. W. 275 Suärez 235 Prodikos 159 SzaifJ. 12227 Proldos 84, 86, 87, 91, 162 Protogoras 38 f., 159 Tarski, A. 156, 268 Pufendorf, S. 211 Taylor, A. E. 84, 86, 87, 88, 98 Puster, R. 228 Theaitetos 82, 88, 90, 91, 92, 94, 95, 97 Thomasius, J. 197 Timaios 93, 96, 97 f. Quine, W v. O. 156 Tipton, I. 228 4 5 Tugendhat, E. 171 Rabe, H. 269 · Rapp, Chr. 81, 161 Überweg, F. 84 Reinhold, K. L. 58 Richards, I.A. 154f, 162 Verrycken, K. 2694 Ricke«, H. 1649 Vlastos, G. 92 Rijk, L. M. de 84 Ritter, C. 846 Walter, K.-F 228, 237, 250 Robinson, D. B. 2729 Wedin, M. 61, 81 Ross, D. 83 f., 85, 87 f., 89 Weidemann, H. 12730, 158 Rufener, R. 2698 Weigel, E. 201 Russell, B. 184 Weite, B. 18 Ryle, G. 142 White, N. P. 12l26, 12429
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Personenregister
Whitehead, A. N. 299 Wiedeburg, P. 1965, 20933 Wieland, W. 39 f., 833, 8613, 12931, 13536, 151, 169 f., 175, 2532 Wüamowitz, U. v. 84 Wittgenstein, L. 169 f.
Wolf, E. 20832 Wolf, U. 171 Wolz-Gottwald, E. 2996 Zeller, E. 821, 84, 85 Zenon von Elea 87, 93
Sachregister Abbild 176 f. Abgeschiedenheit 20 actus apprehensivus 228 actus iudicativus, Urteilsakt 229, 241, 241 Akkord 199,205 Akzidenz 76, 77, 78, 79, 80 aletheia (bzw. Unverborgenheit) 3, 13, 30, 32 Allgemeinbegriff 174, 189 Allgemeines 171 ff., 179 ff., 185, 187 ff. Allgemeines, allgemein 61, 67, 72, 74, 76, 77 Allgemeingedanken 191 Anamnese 115 ff. Anamnesislehre 162 Anschauung, intellektuelle 55 f. apeiron 152 Aporie 117 f. Archetyp 235, 236, 238-241 Arete 203 Armut 18 f., 20, 24, 26 f. Artefakte 177 f. Arten von Seiendem 176 Aufklärung 38, 277 authentisch/Authentizität 114 f., 118 f., 12730, 129, 131, 143 Axiom 200, 207 f.
Definition 72 Denken 10, 22 Dialogform 833 Dichtung 46 Dies von der Art 67, 68, 71, 72 Differenz, ontologische 287, 296 Ding 171, 175 f., 181, 183 f., 189, 192 Dreistelligkeit 154 ff. Dualismus 96, 9719, 188, 191
China 196 ff. Chorismos 173 ff., 182 Chroma 186 color / pigmentum 185 f., 189
Eigenschaft(en) 171, 176 f., 179, 181 ff., 189, 192 Eigenschaften, allgemeine 60 Eigenschaften, essentielle 73, 81 Eigenschaften, individuelle 60 Eine, das 22, 27, 29, 31 f. Einung 22, 27, 29, 31 f. Einzelnes 171, 173 Elea 82, 847, 92, 95, 96 empirische Erkenntnis 188, 191 f. Empirismus 184 Energie 187 Entdeckung, wissenschaftliche 261 Entstehen/Vergehen 187 Episteme 150 Ereignis 4, 33105 Erfahrung 56 f., 198, 200 ff, 210, 212, 254, 257 f. Eristik 159 Erkenntnis 254, 259 f. Erkenntnis der Natur 261, 263, 266 Eros 42-45 Erwerbswissen/Gebrauchswissen 12831 Essentialismus 81 Ethik 277 Ethos 197 f., 210 Europa 194 ff, 203, 205 ff., 215 ff. Evidenz 105, 110,202,204 Existenzwissen 230—232 Exodus 3, 14, , 19 Experiment 254 ff, 261 Experiment/Gedankenexperiment/GettierExperiment 101/8, 115 ff., 128, 130 ff., 13638, 137 ff.
das Schöne 152 Definiens 72
Farbe 185 ff. Farbstoff/Farbeigenschaft 185 ff.
Bedeutungsrelation 155 ff. Beobachtung 257 ff. Beredsamkeit 36 f. Bewegung 187 f. Bewußtsein 192 ff., 282 f., 285 f., 288, 294, 297 Bewußtsein, thematisierendes / nichtthemaosierendes 192 ff. Bewußtsein, Ursprung von 193 Büd 162 ff. Bildung, Bildungssprache 36 blind/Blinder/Blindheit 136 f., 143 f. Bündel 184
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Sachregister
Feldweg 6 ff. Form 183 ff, 186 f. Form/Material 183 Form, individuelle 183 Form-Materie-Analyse 62, 81 Fremd-/Selbstbewußtsein 192 ff. Fremdbewußtsein 192 Freundschaft 268-276 Fundamentalontologie 279, 286 Ganzheit 43 Gebrauchswissen 168 ff. Gedanke(n) 174, 191 Gegend 11 f. Gegenständlichkeit 254 f., 258 ff, 267 Gegenstandskonstitution 259 Geist 193 Gelassenheit 3 ff, 14 ff. Genus (Gattung) 60, 67, 68, 73 Geschichte 194, 197, 203 f., 211 Gesetzesreligion 194 f., 200 Gespräch 9, 39 f., 46 Gewißheit 248-249 Gewohnheit 210 Glück 198, 201, 207, 212 f., 217 Gott 194 f., 200 ff., 211 Gottesgeburt 21 habituelles Wissen 246, 247 Handeln 256 ff, 262 Handeln, experimentelles 257 f., 2647 Handeln, technisches 257 f., 2647 Harmonie 195, 199 ff., 215 Hebammenkunst/Mäeutik/mäeutisch 116, 120, 122, 126 Hegemonie 205 f., 208 f., 213, 217 Hermeneutik l, 277-280, 289 Höhlengleichnis 89, 148-150 Homo-mensura-Satz 38 Hören 6 Hörer und Sprecher 247-250 Ich 22, 278, 282, 284, 288, 290 f., 293, 295-299 Idee 198, 203 ff, 211 f., 215 f., 218 Idee des Guten 38 f., 40, 47 Idee(n) 173 f., 176 f., 179 Ideen, Beispiele für 177 ff, 185 f. Ideenfreunde 82, 84, 846, 85, 86, 8613, 90, 91, 96, 97, 98 Ideenkritik 83 Ideenlehre 82, 83, 85, 86, 8613, 87, 91, 95, 9719, 98, 9820, 163 ff, 173, 179, 180, 181
Identität 68, 69, 72 Identität, partielle 69, 70, 71, 72 Identitätsphilosophie 49, 55 Ideologiekritik 264 Individuelles 171 ff, 180 ff., 180 f., 189 f. Individuelles, individuell, Individualität 61, 66, 74, 76, 80 Individuum 72, 77 Instrumentalismus 2635, 265 Intentionalität 10 f., 21 f., 30, 32 Interesse 263 ff. Interpretationsart 163 isticheit 19, 22 Jenseits 174 Kategorien 181 ff. Know-how/Wissen-wie 118 f., 121 f., 123, 126 ff, 129 f., 131f, 136, 138 ff. Kombinatiorik 200, 212 Konstitution 255, 260 Kraussches Diagramm 165 Kritik 48 ff. Kunst (Bedingungen) guten Sprechens 36, 41 f., 47 Kunstwerk 289 f. Lernen, entdeckendes 116, 130 Liebe 195 f., 200, 203, 207, 212, 268-276 Liebsches Diagramm 157 Logik 219-227, 277, 281 Logos 3, 194 f., 203 Logos/logosförmig 125 f., 127 f. Lust 198, 201, 203 Maß, Maßstab 38 f. Material / Form 183 Materialisten 82, 85, 88, 90, 95, 97 Mathematik 254, 258, 267 Mathematik und Philosophie 150 Megariker 85 mentale und verbale 238-241 Metaphysik 25 f., 32, 33, 48 ff, 188,, 277, 279, 282, 287, 296 Metaphysik, schlechte 108 ff. Methexis 173, 176 f. Methexislehre 163 Methode 255 f., 262 Mischung 175, 176, 181, 183 Monade 279, 282, 288, 295 f., 298 Monismus 188 monistisch 191 Mystik 16, 29
Sachregister Nähe 13 £ Name 158 ff. Natur 188, 255, 259, 261 f., 265 Naturerfahrung 259 Naturerklärung 259 Naturkonstitution 261 Naturphilosophie, jon. 88, 96 Naturwissenschaft 253 f., 258, 261 Neukantianismus 49, 279, 281 Neuplatonismus 29% Objekt 192, 253, 256, 258, 267 Objektivierung, der Natur 254 Objektivität 252 f., 255 f., 259 ff, 265, 267 Objektivität des Erkennens 259 Objektivität des Objekts 259 Objektivitätsbegriff 253, 257 Objektivitätsproblematik 261 Objektkonstitution 258 f., 261 Oikumene 211 Ontologie 183, 185, 187 f., 191 f., 280, 287, 297 Ontologisierung 167 Organonmodell 163 f. ousia 183 paideia 149 perae 152 Person, Dritte/Erste 1046, 107 ff, 114, 116 Perzeption 229-230, 242-243, 250 Phänomenologie 279-289, 293, 296-298 Philia43 Philosophenherrschaft 149 Philosophie 40, 45 f. Philosophie, praktische 197 f., 203 ff. pigmentum/color 185 f., 189 Politik 198, 206, 209 Politiker, politische Rede 37, 46 Polyphonic 199, 205 Porentheorie 89 Prädikation 185, 188 ff. Prädikation, akzidentelle 61, 62 Prädikation, essentielle 61 Prädikation, metaphysische 61, 63, 65, 78 Prädikationstheorie, aristotelische 62, 63, 70 Prädizieren 65, 68 Prädizieren/Thematisieren 188 ff. Pragmatik 170 Prinzip 198, 201 ff., 207, 209 f. Prinzipien 152 Psychologie, empirische 279-281, 290-293, 298 Psychosomatik 298
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Pythagoreer 83, 84, 85, 86, 87, 91, 93U), 96, 9618, 98 reale 239-241 reales Wissen 234-237 Reflexion 49 f., 53 ff. Reformation 200, 210 Regularitäten (Gesetzesaussagen) 256, 260 Relation 229 - 231, 233 - 234, 236 - 237, 239 242 Relation, ontologische 61, 62, 64 Relationen 176, 179 Relativismus 168 Relativismus, ethischer 38 Relevanzkriterien 37 f. Rhetorik 159 rhetorisch 36, 45 Ruhe 187 f., 188 Sach-, Teilaspekte 37 f., 40 ff, 45, 47 Sache 158 ff. Sachverhalt 191, 250 Sammlung 175 f., 181 f. Schönheit, das Schöne 42, 44 f. Schwangerschaft, erkenntnistheoretische 116, 120/2 Seele 174 Seelenwanderung 98 Sein l ff., 27, 31 Selbst-/Fremdbewußtsein 192 ff. Selbständiges 182 Selbstbewußtsein 192 Selbsterkenntnis 192 Selbstkritik 172, 181, 184 Semantik 158 ff, 185, 190 ff. Semiotik 154 ff. Semiotisches Dreieck 154 ff. Solidarität 134/7 Sondersprache, philosophische 47 Sonnengleichnis 150 Sophistik 159 sortal 73 Souveränität 205, 214 f. Species (Art) 60, 67, 68, 73 Spekulation 50, 54 ff. Sprachanalyse 277 f. Sprache 9, 33105, 195, 293 Sprachtranszendenz 169 Sprachzeichen 154 ff. Staat 205, 207, 213 f. Stoff 68 Subjekt 192 f., 253 f., 266 f. Subjektivität 252 f., 277-280, 282 ff, 290, 296, 298 f.
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Sachregister
Substanz 182 Superinstanz, epistemische 108 ff., 133, 13638 Synonymität 65, 66, 68, 69 Tao-Te-King 203 Tatsache 191 techhnue 147-148, 151-152 Technik 10, 257, 262, 265 Teil 66, 6610, 67 Teü(e) 175 ff., 179, 182, 186 Teil, konsumtiver 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76,80 Teil, physischer 69, 70, 73, 74, 75 Teilbarkeit 175, 182 Teilhabe 173, 176 f. Thematisieren/Prädizieren 188 ff. Topik 37 Träger 176 Transzendentalphilosophie 48ff, 58 f. Traum 131 f., 135 f., 140 f. Trinität 27, 33 Übereinsümmung und Nichtübereinstimmung 229-236 Übertragung von Energie 187 Ungeschriebene Lehren 167 Universale 171, 187 Universalia in re 174 Universalien 76 Universalienstreit 156 Universum 199, 204 Urbild 176 f. Ursprung von Bewußtsein 193 Urteil (s. auch .Wahrheit") 237-242,246-250 Urteilskraft 40, 151 Usia, erste/zweite 60, 64, 76, 77, 78, 79, 80, 81 Verbalkonsens 170 Verdinglichung 17, 174 f., 182, 184 ff.
Vergehen/Entstehen 187 Vernunft 198, 210, 212 Verpflichtung, gut zu sprechen 37, 47 Verständlichkeit 46 Verstehen 148-150, 153, 248 Versuchsleiter, Versuchsperson 104, 108, 110, 115, 132 Vervollkommnung, sitdiche 42 Völkerrecht 211 Voraussetzungsstruktur 170 Vorsokratiker 821 Wahrheit 198, 210, 212, 216, 237-250, 262, 268 f. Wahrheit, Wahrheitsbehauptungen 39 f. Wahrnehmung 174, 192 Wahrnehmung, sinnliche 113, 119 ff., 124 Wärme 187 Was-es-ist 72 Weg 30 Wiedererinnerungslehre 94, 98 Wille, Wollen 10, 21 f., 26 f., 28 Wissen 229-237 Wissen, personales 142 Wissenschaft 196 ff., 202, 254, 257 f., 262 f., 265 ff. Wissenschaft, Einzelwissenschaften 45 f. Wissenschaft, neuzeitliche 253, 257 f. Wissensgegenstand im Urteilsbereich 246 — 250 Wissensgegenstand im Urteilsvorbereich 229, 245 Zeichen 154 ff., 229, 233, 237, 241 Zeichenmodell 154 ff. Zeichentheorie (Semiotik) Zufall/zufällig/Zufälligkeit 130/4, 138/40 Zugrundegelegtes 184 . Zugrundeliegendes 182, 184 Zustand 187 Zwei-Welten-Lehre 161 ff.