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German Pages 800 Year 2011
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft
Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde Herausgegeben von Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer Band 77
De Gruyter
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde
Herausgegeben von Heinrich Beck Dieter Geuenich und Heiko Steuer
De Gruyter
ISBN 978-3-11-027360-1 e-ISBN 978-3-11-027361-8 ISSN 1866-7678 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Altertumskunde–Altertumswissenschaft–Kulturwissenschaft : Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde / [Hrsg.] von Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer. p. cm. – (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde, ISSN 1866-7678 ; Bd. 77) Papers presented at a conference held on 11–13 September 2008 in Göttingen. Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-027360-1 (hardcover : alk. paper) 1. Reallexikon der germanischen Altertumskunde. 2. Encyclopedias and dictionaries, German–History and criticism–Congresses. 3. Archaeology–Germany–Congresses. 4. Culture–Philosophy–Congresses. I. Beck, Heinrich. II. Geuenich, Dieter. III. Steuer, Heiko. AE27.R33 2011 033–dc23 2011034968
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© 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Satz: Apex CoVantage, LLC Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier 䊊 Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Im Jahre 2007 wurde das „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“ (RGA) mit dem 35. Band abgeschlossen, 2008 gefolgt von zwei Registerbänden. Seit der 1. Lieferung des 1. Bandes 1968 waren 40 Jahre vergangen. Es bot sich für die Herausgeber, die Fachberater und Autoren an, Bilanz zu ziehen. Daher veranstaltete die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen vom 11. bis 13. September 2008 in der Paulinerkirche eine Internationale Tagung mit dem Thema „Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“, deren Ergebnisse in diesem Band vorgelegt werden. Die Göttinger Akademie der Wissenschaften und der Verlag de Gruyter haben das Unternehmen über Jahrzehnte unterstützt und gefördert, und das nicht nur in finanzieller Hinsicht. Die Herausgeber danken dem Präsidenten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Prof. Dr. Christian Starck, für seine Grußworte zu Beginn der Tagung, die freundlicherweise in diesem Band abgedruckt werden können, und ebenso dem damaligen Geschäftsführer des Walter de Gruyter-Verlags Berlin, Prof. Dr. h.c. mult. Klaus G. Saur, für die Würdigung des Vorhabens aus der Sicht des Verlags. Nur der unermüdliche Einsatz von Frau Prof. Dr. Rosemarie Müller – die leider bei der Tagung nicht anwesend sein konnte – , Leiterin der Arbeitsstelle und der Redaktion in Göttingen und somit unverzichtbares Mitglied des Herausgebergremiums, ermöglichte es, die Erscheinungsfolge seit 1994 so zu beschleunigen, dass in 14 Jahren die Bände 8 bis 35 und die Register – pro Jahr oft mehr als zwei Bände – vorgelegt werden konnten. In den Dank einzuschließen sind ihre langjährigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Arbeitsstelle, Frau Viera Graßhoff M.A., Frau Renate Höppner und Frau Barbara Kröger M.A. sowie Herr Dr. Henning Seemann. In schwierigen Zeiten, als die Fortsetzung des RGA gefährdet schien, haben vom Verlag Frau Dr. Gertrud Grünkorn und zwischenzeitlich auch Frau Dr. Sabine Vogt die konstruktive Rolle übernommen, die die Kontinuität der Arbeit sicherte; der Verlag finanzierte in der Endphase zusätzlich die Mitarbeit von Frau Dr. des. Kerstin Müller. Dem „Organisationsbüro“ für die Tagung selbst, Frau Astrid KaimBartels und Christoph Libutzki (Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Universität Göttingen), ist für die umsichtige Vorbereitung und Durchführung zu danken.
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Vorwort
Unser Dank gilt insbesondere der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen für ihre Unterstützung des Langzeitvorhabens „Reallexikon“ und zuletzt auch für die Realisierung der Abschluss-Tagung. Wir danken nachdrücklich Frau Dr. Angelika Schade, Generalsekretärin der Akademie, Frau Brigitte Mattes (Haushalt und Finanzen) und Frau Adrienne Lochte (Presseund Öffentlichkeitsarbeit). Im Programm der Tagung wurde angestrebt, alle wissenschaftlichen Disziplinen, die zur Germanischen Altertumskunde beitragen, zu beteiligen. Die Herausgeber danken den Referenten und Referentinnen, dass sie ihre Vorträge für den Druck überarbeitet und für die Publikation zur Verfügung gestellt haben. Die Beiträge von Christian Lübke (Leipzig), Die slawische Welt, und von W. Haio Zimmermann (Wilhelmshaven), Großflächige Siedlungsgrabungen – von der Quantität zur Qualität der Interpretation, erscheinen an anderem Ort. Anders als im Programm ausgedruckt sprach anstelle von Lennart Elmevik (Uppsala), Die altnordische Götterwelt im Spiegel der Ortsnamen, in Sonderheit der schwedischen Ortsnamen, Wilhelm Heizmann (München) über Die Bilderwelt der völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten als religionsgeschichtliche Quelle. Zusätzlich wurden Beiträge von Klaus Düwel (Göttingen), Heinrich Härke (Reading/Hameln) und Alexandra Pesch (Schleswig) für die Publikation gewonnen. Für die Bereitschaft, jeweils einen Teil der Vortragsfolge zu moderieren, danken wir Hermann Ament (Mainz), Helmut Castritius (Darmstadt), Klaus Düwel (Göttingen), Ion Ioniţă (Iaşi), Henrik Thrane (Kopenhagen), Jürgen Udolph (Leipzig) und Herwig Wolfram (Wien). Erfreut konnten wir die Teilnahme mehrerer Fachberater aus dem In- und Ausland und das allgemeine Interesse von rund 80 bis 100 Tagungsbesuchern feststellen. Die Publikation der Abschluss-Tagung zum RGA erscheint in der Reihe der Ergänzungsbände zum RGA. Für die redaktionelle Betreuung und die EDV-gerechte Druckvorbereitung danken wir Frau Ulrike Swientek vom Verlag de Gruyter (Berlin). Eine besondere Freude und Bestätigung ihrer Arbeit ist es für die Herausgeber, dass der Verlag das RGA und die Reihe der Ergänzungsbände als GAO (Germanische Altertumskunde Online) verfügbar gemacht hat und weiterführen wird. Im Sommer 2011
Heinrich Beck (München) Dieter Geuenich (Denzlingen) Heiko Steuer (Freiburg i. Br.)
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christian Starck Grußwort des Präsidenten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rudolf Schieffer Das „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“ in der Typologie geisteswissenschaftlicher Enzyklopädien . . . . . . . .
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Das Reallexikon (RGA) Heinrich Beck Die philologische Perspektive im RGA . . . . . . . . . . . . . . . .
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Heiko Steuer Das Fachgebiet Archäologie im RGA . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Dieter Geuenich Das Fachgebiet Geschichte im RGA . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Stefan Zimmer Das RGA aus indogermanistischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Perspektiven Thorsten Andersson Der nordgermanische Sprachzweig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
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Inhaltsverzeichnis
Elmar Seebold Die frühen Germanen und ihre Nachbarn . . . . . . . . . . . . . . . 245 Klaus Düwel Die Epigraphik im RGA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Dieter Strauch Skandinavisches Recht: Einführung und Überblick . . . . . . . . . 293 Gundolf Keil Heilkunde bei den Germanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Problemfelder Jörg Jarnut Zum „Germanen“-Begriff der Historiker . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Sebastian Brather ‚Völker’, ‚Stämme’ und gentes im RGA: Archäologische Interpretationen und ethnische Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . 401 Heinrich Härke Die Entstehung der Angelsachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Karl Reichl Das Altenglische – Genese und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Andreas Rau und Claus von Carnap-Bornheim Die kaiserzeitlichen Heeresausrüstungsopfer Südskandinaviens – Überlegungen zu Schlüsselfunden archäologischhistorischer Interpretationsmuster in der kaiserzeitlichen Archäologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Michael Erdrich Überlegungen zu Altstücken in kaiserzeitlichen Grab- und Schatzfunden im mitteleuropäischen Barbaricum . . . . . . . . . . 541 Frans Theuws Landschaftsarchäologie – Siedlungsarchäologie: Gedanken zu neuen Entwicklungen in den Niederlanden . . . . . . . . . . . . 555
Inhaltsverzeichnis
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Walter Pohl Transformation oder Bruch? Beobachtungen zur Rolle der Barbaren beim ‚Fall Roms‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 Karen Høilund Nielsen Germanic animal art and symbolism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 Alexandra Pesch Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik . . . . 633 Wilhelm Heizmann Die Bilderwelt der völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten als religionsgeschichtliche Quelle . . . . . . . . . . 689 Anhang 1 Herausgeberfolge des RGA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Leitung der Redaktion und der Arbeitsstelle . . . . . . . 2 Fachberater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Rezensionen zu Zwischenbilanzen und zum Abschluss des RGA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Rezensionen während der Erscheinungszeit des RGA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Rezensionen zum Abschluss . . . . . . . . . . . . . 3.2 Berichte zum Abschluss des RGA . . . . . . . . . . . . . 4 Ergänzungsbände zum RGA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Ergänzungsbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Sonderausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Neuere Publikationen zu den Germanen. . . . . . . . . . . . . 5.1 Allgemein zu Germanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Varus-Schlacht: Literatur zum Erinnerungsjahr 2009 . 5.3 Völkerwanderungzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Römer und Germanen, Römer in Germanien . . . . . . 5.5 gentes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Register RGA-Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 779
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 1–3 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
Grußwort des Präsidenten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen1 Christian Starck Die Akademie der Wissenschaften betreut 24 große Forschungsvorhaben, die durch das Akademienprogramm von Bund und Ländern finanziell gefördert werden. Die verfassungsrechtliche Grundlage des Akademienprogramms liest sich in der sachlichen und trockenen Sprache des Verfassungsrechts (Artikel 91 b des Grundgesetzes) wie folgt: Bund und Länder können aufgrund von Vereinbarungen in Fällen überregionaler Bedeutung zusammenwirken bei der Förderung von Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaftlichen Forschung außerhalb von Hochschulen …
Vorhaben des Akademienprogramms dauern lange, sehr lange. Das Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 1968 begonnen, ist von Anfang des Programms an dabei, seit 1979, d. h. seit 28 Jahren. Es waren Verlängerungen notwendig, die gewährt wurden. Eine zeitlich unbegrenzte Arbeit am Lexikon mit Neuauflagen der ersten Bände, was sich von der Sache her angeboten hätte, war leider im Rahmen des Akademienprogramms nicht möglich. Schauen wir auf die Anfänge des 2007 abgeschlossenen Vorhabens „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde von Hoops“ zurück, das heute dargestellt, ich möchte sagen, dessen Abschluss heute gefeiert wird, so wird man – zur Vorgeschichte zählend – zunächst Johannes Hoops (1865–1949) erwähnen müssen. Er war seit 1896 Professor für Englische Philologie und Germanische Altertumskunde in Heidelberg. Er schuf die 1. Auflage des 1911 bis 1919 erschienenen neuen Reallexikons der Germanischen Altertumskunde (RGA) in vier Bänden. Ich zitiere aus dem Vorwort: Ein Hauptzweck des Buchs ist die Herstellung einer engen Fühlung zwischen den verschiedenen Zweigen der germanischen Kulturgeschichte, die in den 1
Gehalten am 11. September 2008 zur Eröffnung des Kolloquiums.
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Grußwort des Präsidenten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen
letzten Jahrzehnten in Folge der zunehmenden Spezialisierung der Forschung einander mehr und mehr entfremdet worden sind. Das Reallexikon soll jedem Forscher nicht nur ein Nachschlagewerk für sein eigenes Sondergebiet sein, sondern ihn auch schnell und zuverlässig über die ihn interessierenden Ergebnisse und Probleme der verwandten Wissensgebiete unterrichten.
In den 1960er Jahren ging man bereits an eine 2. Auflage. Herbert Jankuhn, der Archäologe, Percy Ernst Schramm, der Historiker, und Hans Kuhn, der Philologe, haben eine erweiterte achtbändige Auflage geplant und in Angriff genommen. Die lange Dauer des Vorhabens von über vierzig Jahren verlangte Wechsel in der Herausgeberschaft. Die Gründungsherausgeber, die schon in hohem Alter standen, sind schon lange verstorben, das gilt auch für später eingetretene Herausgeber. Die Herausgeber, die seit dem 13. Band bis zum Abschluss gemeinsam verantwortlich zeichnen, sind Heinrich Beck (von Anfang an dabei, schon ab Bd. 1, 1972), Heiko Steuer (ab Bd. 8, 1994) und Dieter Geuenich (ab Bd. 13, 1999), sie sind hier versammelt zur aktiven Teilnahme an der Tagung, ich möchte Sie im Namen der Akademie besonders begrüßen. Frau Rosemarie Müller ist seit 1992 Leiterin der Arbeitsstelle in Göttingen (und seit Bd. 8, 1994 als redaktionelle Leiterin auf dem Titelblatt aufgeführt), auch ihr gilt mein Gruß und Dank, ebenso wie Otto Gerhard Oexle, dem Vorsitzenden der Leitungskommission über viele Jahre lang. Das Werk, das in der heute beginnenden, zweieinhalb Tage dauernden internationalen Tagung vorgestellt wird, hat 35 Bände und 2 Registerbände. Daneben sind mehr als 60 monographische Bände zu umfangreichen Einzelproblemen ergänzend erschienen. Hinzukommen Abhandlungen in der Reihe der Göttinger Akademie, Arbeiten der Akademiekommission für Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas, die im unmittelbaren Zusammenhang mit den Arbeiten am Reallexikon entstanden sind. Was lexikalisch erfasst worden ist, gab Anlass zu vertiefenden Untersuchungen. In Zahlen ausgedrückt zeigt das Lexikon außergewöhnliche Ausmaße: über 5.000 Artikel mit Abbildungen und Tabellen auf insgesamt mehr als 22.000 Seiten, zahlreiche Fachberater, fast 1.500 Autoren. Das Wissen vieler Disziplinen und Wissenschaftler ist in den Bänden zusammengeflossen und übersichtlich geordnet; es ist nun durch bloßes Aufschlagen und Lesen verfügbar. Zusammengeflossen ist das Wissen der mit dem germanischen Altertum beschäftigten Philologen, Historiker und Archäologen. Das ist gewissermaßen horizontale Interdisziplinarität, noch erweitert ist sie durch die Kenner der Slawen, Balten, Kelten, Skythen, Hunnen und der Römer, die alle mit den Germanen in Kontakt standen, was gegenseitige Einflussnahme bedeutet. Dazu kommt eine vertikale Interdiszi-
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plinarität, denn die Zeitspanne des Lexikons umfasst das letzte Jahrtausend v. Chr. und das erste Jahrtausend n. Chr. Das alles musste von Herausgebern und Fachberatern methodisch einwandfrei geplant, gebändigt und durchgeführt werden. Zu alldem kommt noch die Belastung hinzu, die darin bestand, dass nach 1945 alle Beschäftigung mit den Germanen durch die nationalsozialistische Zeit – zu der eben auch leider eine nationalsozialistisch kontaminierte Wissenschaft gehörte – im Generalverdacht stand. Die Belastung bestand, aber besteht nach Erscheinen des Lexikons nun nicht mehr, da die Germanische Altertumskunde geradezu neu begründet worden ist. Man weiß nun, dass heute nicht mehr von germanisch im Sinne einer sprachlichen, politischen oder kulturellen Einheit gesprochen werden kann. Deshalb waren eine interdisziplinäre Bearbeitung des Germanenbegriffs und die Einordnung der Germanen in die Altertumskunde überfällig. Die Akademie ist stolz darauf, dass das unter ihrer Leitung geschehen ist, und dankt dafür all denen, die die Arbeit geleistet haben, den Herausgebern, den Fachberatern, der Arbeitsstellenleiterin und den vielen Autoren. Die Akademie ist durch die Zusammensetzung ihrer Mitglieder eine der Interdisziplinarität verschriebene gelehrte Körperschaft. Dies wird in jeder ihrer Sitzungen und in der Arbeit ihrer zahlreichen Kommissionen deutlich. Wenn nun ein so großes Werk erscheint, das sich der Interdisziplinarität verdankt, sieht man darin gern eine Bestätigung der sonstigen gelehrten Arbeit der Akademie, die zwar Spezialisten braucht, aber immer wieder die Begegnung der Spezialisten organisiert, die sich um des Fortschrittes der Wissenschaft Willen für die Nachbargebiete offen halten und zur Zusammenarbeit bereit sein müssen. Ich schließe mit einer Bemerkung, die ich in einer Rezension des Reallexikons aus der Feder von Hermann Parzinger (Präsident der Stiftung preußischer Kulturbesitz) am 8. August 2008 in den Ferien in der FAZ gelesen habe: Das nun abgeschlossene Projekt ‚Reallexikon der Germanischen Altertumskunde‘ ist eine Erfolgsgeschichte für die beteiligten Wissenschaften. Qualität, Breite und Interdisziplinarität der Beiträge setzen Standards. Es ist ein aus der aktuellen Forschung heraus entstandenes unentbehrliches Hilfsmittel für Archäologen, Historiker, Philologen und viele andere. Es richtet sich an den Fachwissenschaftler, ist aber auch vom interessierten Laien gewinnbringend zu nutzen. Als umfassende Enzyklopädie der mittel- und nordeuropäischen Frühgeschichte schließt es eine Lücke zwischen dem sogenannten Neuen Pauly, der Enzyklopädie der Antike, und dem Lexikon des Mittelalters, die beide in den letzten Jahren entstanden sind.
Ich wünsche Ihnen Freude am Erfolg Ihrer Arbeit.
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 5–19 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
Das „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“ in der Typologie geisteswissenschaftlicher Enzyklopädien* Rudolf Schieffer Niemand kann alles wissen, und so wird die Geschichte des Wissens seit jeher begleitet vom Bestreben, den auf viele Köpfe verteilten Vorrat an Wissen zu sammeln, zu ordnen und allgemein verfügbar zu machen. Wenn wir den Gang der Entwicklung zurückverfolgen, so zeigt sich seit dem Altertum ein enger Zusammenhang solcher Bemühungen mit Unterricht und Bildung, der erst in neuerer Zeit verlorengegangen ist. Enkyklios paideia, ein Terminus der nachklassischen antiken Gräzität und Wurzel des modernen Sprachgebrauchs, bezeichnete in mancherlei Spielarten die systematische Einführung in eine Mehrzahl von Wissensgebieten und die daraus resultierende umfassende Bildung.1 Gedacht war vornehmlich an die später dem Mittelalter als artes liberales geläufigen Fächer, aber auch an andere wie Architektur oder Medizin. Konkretisiert wurde das Postulat in umfangreichen Werken lehrhaften Zuschnitts, die durch ausgewählte und systematisch angeordnete Exzerpte den Inhalt ganzer Bibliotheken verdichten sollten und demgemäß unter Titeln wie Pandektai oder Bibliotheke in Gebrauch waren. Die Tradition ging nahtlos ins byzantinische Mittelalter über und wird für uns im Werk des Patriarchen Photios aus dem 9. Jahrhundert und der anonymen Sammlung Suda aus dem 10. Jahrhundert noch im Nachhinein fassbar. Prominente lateinische Autoren mit enzyklopädischem Anspruch, aber durchaus unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten waren Cato, Varro, Celsus, der ältere Plinius oder Gellius (um nur diese zu * Öffentlicher Abendvortrag am 11. September 2008 in der Paulinerkirche in Göttingen. Die Redeform ist beibehalten. Die Nachweise beschränken sich auf das Nötigste. 1 Vgl. Harald Fuchs, Artikel „Enkyklios Paideia“. In: Reallexikon für Antike und Christentum 5 (Stuttgart 1962), Sp. 365–398; Johannes Christes, Artikel „Enkyklios Paideia“. In: Der Neue Pauly 3 (Stuttgart, Weimar 1997), Sp. 1037–1039.
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Rudolf Schieffer
nennen).2 Bemerkenswert erscheint, dass ihre Werke in den meisten Fällen nur fragmentarisch bekannt sind, weil der gewaltige Umfang einer vollständigen Überlieferung im Wege stand. Bekannt ist die prägende Wirkung, die gelehrte Sammelwerke für die Vermittlung, ja Kanonisierung antiken Wissens an der Schwelle des Mittelalters gehabt haben: Martianus Capella schuf mit dem Konzept der Sieben Freien Künste die Basis für das Schul- und Bildungswesen eines ganzen Jahrtausends;3 darauf aufbauend formulierte Cassiodor in seinen Institutiones divinarum et saecularium litterarum ein christliches, zumal monastisches Bildungsideal, das die profanen Kenntnisse des Altertums einschloss,4 und Isidor von Sevilla schließlich hinterließ in seinen Etymologiae ein in 20 Bücher eingeteiltes Kompendium aller Bereiche des überkommenen Wissens, das weiteste Verbreitung fand.5 Vor diesem Hintergrund brachte das lateinische Mittelalter, das den Begriff Enzyklopädie nicht kannte, vor allem in seiner zweiten Hälfte eine beachtliche Anzahl von einschlägigen Werken hervor, die anders als ihre antiken Vorläufer vollständig überliefert sind. Autoren wie Bartholomaeus Anglicus oder Vinzenz von Beauvais präsentierten im 13. Jahrhundert ein breites Spektrum an vor allem naturkundlichem, aber auch historischem Wissen in theologisch-philosophischem Verständnis und fanden damit vielfach volkssprachige Übersetzer und Nachahmer. Die Tradition der propädeutischen Einführung in die seit dem Altertum gepflegten Wissenschaften setzten mit Eifer auch die italienischen Humanisten fort, unter denen um 1490 erstmals der lateinische Neologismus encyclopaedia auftaucht.6
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Vgl. Harald Fuchs, Artikel „Enzyklopädie“. In: Reallexikon für Antike und Christentum 5 (Stuttgart 1962), Sp. 504–515; Sotera Fornaro, Klaus Sallmann, Artikel „Enzyklopädie“. In: Der Neue Pauly 3 (Stuttgart, Weimar 1997), Sp. 1054–1059. Vgl. Sabine Grebe, Martianus Min(n)e(i)us Felix Capella (wahrscheinlich Ende 5. Jahrhundert n. Chr.). Ein Gelehrter an der Schwelle zwischen Spätantike und Mittelalter. In: Lateinische Lehrer Europas. Fünfzehn Portraits von Varro bis Erasmus von Rotterdam, hrsg. von Wolfram Ax (Köln u.a. 2005), S. 133–163. Vgl. Georg Jenal, (Flavius) Magnus Cassiodorus Senator (ca. 485 – ca. 580 n. Chr.). In: Lateinische Lehrer (wie Anm. 3), S. 217–246. Vgl. Udo Kindermann, Isidor von Sevilla (560–636 n. Chr.). Sachen, Wörter und eine Denkform fürs Mittelalter. In: Lateinische Lehrer (wie Anm. 3), S. 273–290. Vgl. Günter Bernt, Jacques Verger, Artikel „Enzyklopädie, Enzyklopädik II: Lateinisches Mittelalter und Humanismus“. In: Lexikon des Mittelalters 3 (München, Zürich 1986), Sp. 2032–2034; Christel Meier, Wissenskodifikation und Informationsbedarf in der vormodernen Gesellschaft. Neue Forschungsansätze zu einer pragmatischen Gattungsgeschichte der mittelalterlichen Enzyklopädie. In: Pragmatische Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur, hrsg. von Christel Meier, Volker
Das „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“
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Das alphabetische Anlageprinzip, das die systematischen Zusammenhänge auflöst und stattdessen eine geschmeidigere Auswahl an Namen und Suchbegriffen erlaubt, also eher zum gezielten Benutzen als zum ausgedehnten Lesen einlädt, hat sich erst in der Neuzeit auf breiter Front durchgesetzt, ist aber nicht ohne wesentlich ältere Vorbilder. Bezeichnenderweise finden sie sich in Nachschlagewerken, die sich der Bedeutung von Wörtern widmen. So wird aus augusteischer Zeit als Archeget ein Grammatiker namens Verrius Flaccus mit seiner Schrift De significatu verborum angeführt, und von Isidors 20 Büchern ist als einziges das zehnte mit dem Titel De vocabulis alphabetisch strukturiert.7 Diesem Muster folgten viele, aber keineswegs alle Glossare des Mittelalters, die den Wortbedeutungen oder anderssprachigen Äquivalenten nicht selten noch Sacherklärungen oder Quellenbelege beifügten und damit einen unverkennbar enzyklopädischen Duktus annahmen. Neben glossarium waren auch lateinische Bezeichnungen wie vocabularius oder tabula gebräuchlich, während die Termini dictionarium oder lexicon wiederum erst dem Humanistenlatein entstammen.8 Der Durchbruch des aus Wörterbüchern geläufigen alphabetischen Prinzips vollzog sich in den vom Buchdruck ermöglichten gewaltigen Stoffsammlungen der Renaissance- und Barockzeit nicht auf Anhieb, sondern auf dem Umweg über immer ausführlichere Indices, die den Werken nachträglich beigefügt wurden, um den raschen Zugriff auf die nach wie vor fächerweise, also systematisch ausgebreiteten Inhalte zu erleichtern. Bahnbrechend wurde die von vornherein als alphabetisches Sachwörterbuch konzipierte „Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“ von Jean le Rond d’Alembert und Denis Diderot, die von 1751 bis 1780 in 35 Folianten erschien.9 Sie trug der älteren enzyklopädischen Konvention immerhin noch dadurch Rechnung, dass zu Beginn jedes Artikels ausdrücklich die Disziplin bezeichnet wurde, der das Stichwort zuzurechnen sei. Doch war damit endgültig der Weg geebnet zum Typus des Universallexikons, das den Charakter eines Lehrbuches abstreifte. Seine Merkmale sind die faktisch unbegrenzte Offenheit für alle Bereiche der Neugier sowie die ziemlich problemlose Fähigkeit zur Aktualisierung und Ergänzung mit jeder weiteren Auflage. Das weltweit berühmteste Beispiel
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Honemann, Hagen Keller, Rudolf Suntrup. Münstersche Mittelalter-Schriften 79 (München 2002), S. 191–210. Vgl. Alfred Breitenbach, Artikel „Lexikon II (lateinisch)“. In: Reallexikon für Antike und Christentum 23 (Stuttgart 2010), Sp. 1–29. Vgl. Michael Lapidge, Artikel „Glossen, Glossare I: Mittellateinische Literatur“. In: Lexikon des Mittelalters 4 (München, Zürich 1989), Sp. 1508–1510. Vgl. Philipp Blom, Das vernünftige Ungeheuer. Diderot, d’Alembert, de Jaucourt und die Große Enzyklopädie (Frankfurt 2005).
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Rudolf Schieffer
dürfte die seit 1768/71 immer wieder neu auf den Markt gebrachte „Encyclopaedia Britannica“ sein; im deutschen Sprachraum ragen im 18. Jahrhundert das „Große vollständige Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste“ von Johann Heinrich Zedler in 68 Bänden,10 im 19. Jahrhundert die nach 167 Bänden abgebrochene „Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge“ von Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber hervor.11 Weniger hypertrophe und somit erschwinglichere Formen haben schon seit dem 18. Jahrhundert unter der deutschen Gattungsbezeichnung „Konversationslexikon“ allgemeine Resonanz gefunden und erscheinen bis in die Gegenwart,12 haben aber im Zeichen der Globalisierung und Digitalisierung neuerdings spürbare Konkurrenz bekommen. Während also das Erscheinungsbild der Universallexika seit geraumer Zeit von fortschreitender thematischer Ausweitung und als deren Kehrseite, bedingt durch den endlichen Umfang, von zunehmender Komprimierung der einzelnen Informationen gekennzeichnet ist, verläuft die Entwicklung der verschiedenen Zweige der Wissenschaft in die umgekehrte Richtung einer unaufhaltsamen Präzisierung, Differenzierung und Pluralisierung der Inhalte und Auffassungen. Enzyklopädien allgemeinen Zuschnitts haben deshalb längst nicht nur aufgehört, der wissenschaftlichen Propädeutik zu dienen, sondern halten auch für die konkrete Forschung bloß noch ganz elementare Auskünfte bereit, die durchweg ohne Quellenangabe verwertet zu werden pflegen. Für ihre speziellen Bedürfnisse nach grundlegender Information und fachinterner Verständigung haben die einzelnen Disziplinen ohnehin je nach ihren Gegenständen und Methoden eigene Hilfsmittel und Nachschlagewerke hervorgebracht, die bei näherer Betrachtung zumeist ihrerseits tiefreichende historische Wurzeln aufweisen. So kann man in den für alle Sprachwissenschaften konstitutiven Wörterbüchern den bereits erwähnten, seit der Antike bekannten Buchtyp Glossar wiedererkennen. Die in der Literaturwissenschaft gebräuchlichen Autorenlexika wie auch die biographischen Nachschlagewerke zu historischen Persönlichkeiten oder bildenden Künstlern haben ein Vorbild in der Litera10
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Vgl. Ulrich J. Schneider, Die Konstruktion des allgemeinen Wissens in Zedlers „Universal-Lexicon“. In: Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien, hrsg. von Theo Stammen, Wolfgang E. J. Weber (Berlin 2004), S. 81–104. Vgl. Bettina Rüdiger, Der „Ersch/Gruber“. Konzeption, Drucklegung und Wirkungsgeschichte der „Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste“. Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 14, 2005, S. 11–78. Vgl. Harro Kieser, Artikel „Konversationslexikon“. In: Lexikon des gesamten Buchwesens 4 (Stuttgart 1995), S. 305.
Das „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“
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turgattung De viris illustribus, die ebenfalls bis in die Antike zurückreicht. Auch tabellarische Übersichten zur zeitlichen Abfolge von Herrschern und geschichtlichen Begebenheiten, erst recht die Handbücher zum Umgang mit kalendarischen Daten folgen in ihrer Anlage Mustern, die älter als der Buchdruck sind. Gleiches gilt für die kartographische Darstellung räumlicher Gegebenheiten und Zusammenhänge, für Wappenbücher oder genealogische Tafelwerke, die alle ihre je eigene Herkunftsgeschichte haben. Gemeinsames Merkmal aller dieser Standardwerke ist die Konzentration auf bloß eine Gattung von Lemmata, also entweder Wörter oder Personen- oder Ortsnamen oder Quellen oder Daten oder Fachbegriffe. Zwischen solchen fachspezifischen Auskunftsmitteln, darunter auch bibliographischen Standardwerken, die bereits den Proseminaristen nahegebracht werden, und den auf ein allgemeines Publikum zugeschnittenen Enzyklopädien klafft eine breite Lücke des Informationsangebots, die nicht erst heutzutage empfunden wird, sondern schon im 19. Jahrhundert im Zuge der rapiden Professionalisierung aller Wissenschaften und der eigentlichen Ausprägung akademischer Disziplinen nach Abhilfe verlangte. Für Nachschlagewerke, die über den engeren Rahmen eines bestimmten Faches hinauswiesen, ohne doch die Gesamtheit des Wissens in den Blick zu fassen, die also nicht die gebildete Konversation beleben, sondern in einem abgegrenzten thematischen Spektrum für wissenschaftliche Orientierung sorgen sollten, bürgerte sich (mit Schwankungen) der deutsche Terminus „Realenzyklopädie“ beziehungsweise „Reallexikon“ ein. Kaum zufällig erwuchsen derlei Konzepte am frühesten dort, wo ein organisatorischer Verbund verwandter Fächer mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen im Schoße einer Fakultät samt gemeinsamem Studienbetrieb bestand wie bei den Juristen und den Theologen, aber auch in der Altertumswissenschaft, während sich bei der fächerübergreifenden Mediävistik, die keine entsprechende universitäre Verankerung aufweist, lexikalische Bestrebungen großen Stils erst im ausgehenden 20. Jahrhundert Bahn gebrochen haben.13 Die frühen Initiativen des mittleren 19. Jahrhunderts haben sich nicht alle langfristige Anerkennung und Fortführung zu sichern vermocht. So ist das 15-bändige „Rechtslexikon für Juristen aller teutschen Staaten, enthaltend die gesammte Rechtswissenschaft“, das der Leipziger Professor Julius Weiske von 1839 bis 1862 herausbrachte, letztlich Episode geblieben,14 und auch die Bemü13
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Vgl. Rudolf Schieffer, Das ganze Mittelalter von A bis Z. Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 60, 2004, S. 571–580. Vgl. Johann August von Eisenhart, Artikel „Weiske, Julius“. In: Allgemeine Deutsche Biographie 41 (Leipzig 1896), S. 552, ferner Rainer Maria Kiesow, Die Ordnung des juristischen Wissens. In: Wissenssicherung (wie Anm. 10), S. 59–80.
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hungen des Stuttgarter Gymnasiallehrers August Friedrich Pauly um eine „Real-Encyclopädie der Alterthumswissenschaft“, die dann über seinen frühen Tod hinaus in sechs Bänden mit dem Untertitel „Hand-Lexikon der verschiedenen Theile der Alterthumskunde“ von 1839 bis 1852 erschien, fanden nur begrenzte Beachtung und stießen sogar auf mancherlei Kritik.15 Das Werk wäre gewiß längst in Vergessenheit geraten, wenn nicht Jahrzehnte später seine weit bedeutendere Neubearbeitung den Namen des ersten Herausgebers übernommen und für alle Zeiten konserviert hätte. Zu seiner klassischen Gestalt gelangte das Reallexikon mit, wie wir heute sagen, interdisziplinärer Ausrichtung erstmals im Bereich der wissenschaftlichen Theologie, die exegetische, historische, systematische und praktische Fachrichtungen in sich schließt und im 19. Jahrhundert bereits auf eine ältere lexikographische Tradition rekurrieren konnte16. Von zwei Projekten, die im konfessionell gespaltenen Deutschland gleichzeitig betrieben wurden, kam das katholische unter der Leitung von Heinrich Joseph Wetzer und Benedikt Welte, einem Orientalisten in Freiburg und einem Exegeten in Tübingen, schneller auf den Markt: Es erschien von 1847 bis 1860 in 13 Bänden als „Kirchenlexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften“,17 während das protestantische, Lutheraner und Reformierte vereinende Pendant, die „Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche“ des Baslers Johann Jakob Herzog, der in Halle und dann in Erlangen lehrte, erst nach längerer Vorbereitung ab 1854 das Licht der gelehrten Welt erblickte, dann aber bis 1868 zu 22 Bänden anwuchs und nach Umfang und wissenschaftlichem Gewicht die katholische Konkurrenz überflügelte.18 Beide Lexika haben noch im Laufe des 19. Jahrhunderts Neubearbeitungen erfahren, unter denen besonders die 3. Auflage der protestantischen Realenzyklopädie unter der Ägide des Leipziger Kirchenhistorikers Albert Hauck (24 Bände von 1896 bis 1913) hervorzuheben ist.19 Hatte Herzog in der 1. Auflage noch 529 Artikel selbst verfasst, so 15
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Vgl. Monika Balzert, Artikel „Pauly, Gottlieb Wilhelm August (auch August Friedrich)“. In: Neue Deutsche Biographie 20 (Berlin 2001), S. 136f. Vgl. Gert Hummel, Artikel „Enzyklopädie, theologische“. In: Theologische Realenzyklopädie 9 (Berlin 1982), S. 716–742. Vgl. Matthias Hänger, Artikel „Wetzer, Heinrich Joseph“. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 18 (Herzberg 2001), Sp. 1518–1521; Matthias Hänger, Artikel „Welte, Benedikt“. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 18 (Herzberg 2001), Sp. 1504–1506. Vgl. Matthias Freudenberg, Artikel „Herzog, Johann Jakob“. In: BiographischBibliographisches Kirchenlexikon 19 (Herzberg 2001), Sp. 674–691. Vgl. Kurt Nowak, Albert Hauck (1845–1918). In: Sächsische Lebensbilder 4, hrsg. von Reiner Groß, Gerald Wiemers (Stuttgart 1999), S. 119–139.
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kam nun im bald sogenannten „Herzog-Hauck“ der interdisziplinäre Leitgedanke auch personell durch die Beteiligung zahlreicher Experten voll zur Geltung. Im Unterschied zum kleinteilig gegliederten „Wetzer-Welte“ nahm man sich Raum für eine gewisse Anzahl sehr ausführlicher Artikel, unter denen manche wie die über „Eigenkirche“, „Konstantinische Schenkung“ oder „Pseudoisidor“ als richtungweisende Abhandlungen noch nach über hundert Jahren zitierpflichtig geblieben sind. Der sichtbare Fortschritt der theologischen Enzyklopädistik beflügelte im ausgehenden 19. Jahrhundert auch in der Altertumswissenschaft, die damals auf dem Gipfel ihrer Erfolge und ihres Selbstbewußtseins stand, zu einer neuen gemeinsamen Kraftanstrengung, die Paulys 50–60 Jahre altes Fachlexikon von sechs Bänden bloß noch dem Namen nach aufgriff. Das Nachschlagewerk, das 1894 als „Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung“ zu erscheinen begann, sollte gemäß dem Vorwort des ersten Herausgebers, des Marburger, später Hallenser klassischen Philologen Georg Wissowa,20 nichts weniger als „eine Codificierung unseres gegenwärtigen Besitzstandes an Kenntnis des classischen Altertums“ bezwecken. Ausdrücklich wurden die Teilgebiete „Geschichte, Geographie, Antiquitäten (im weitesten Sinne), Mythologie, Litteratur- und Kunstgeschichte des Altertums“ als beteiligt aufgezählt und der Anspruch auf Vollständigkeit erhoben „für die geographischen, mythologischen und litterarhistorischen Eigennamen“, ferner für „die Namen aller historisch irgendwie bedeutsamen Persönlichkeiten“,21 ein Postulat, das den Weg freigab zu einer Überfülle kleiner und kleinster Artikel und sich mit der Zeit angesichts des Materialzuwachses der Archäologen, Epigraphiker und Papyrologen geradezu als Sprengsatz für das Lexikon erweisen sollte. Tatsächlich ist aus dem „Pauly-Wissowa“ ein schwer überschaubares Arsenal der Gelehrsamkeit geworden, das nicht, wie im Vorwort erhofft, innerhalb eines Dezenniums in zehn Bänden zum Abschluss kam, sondern bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs gerade einmal den Buchstaben H überwunden hatte, dann in zwei alphabetischen Reihen bis Z weitergeführt und schon seit 1903 um Supplemente mit nachgetragenen oder erneuerten Artikeln angereichert wurde, bis es schließlich im Jahre 1980 beim Stande von 83 Bänden als ein Jahrhundertwerk von 1096 Autoren sein Ende fand, obgleich gewiss noch nicht alle Ergänzungen geliefert waren. 20
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Vgl. Wolfhart Unte, Georg Wissowa (1859–1931) als Promotor der Klassischen Altertumswissenschaft. Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 40/41, 1999/2000, S. 327–356. Georg Wissowa, Vorwort. In: Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung, hrsg. von Georg Wissowa 1/2 (Stuttgart 1894), S. III–XIII, Zitate S. IV, V.
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Die quälend lange Entwicklung des „Pauly-Wissowa“ war noch nicht abzusehen, als der Heidelberger Anglist Johannes Hoops22 1908 sein Konzept für das „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“ fixierte. Zwar äußert er sich im Vorwort zum Abschluss des 1. Bandes von 1913 nicht über Vorbilder und Maßstäbe seines Unternehmens, doch ist kaum zu bezweifeln, dass ihm wie dem Straßburger Verlag Karl Trübner das damals zügig voranschreitende Großprojekt der klassischen Altertumswissenschaft lebhaft vor Augen stand, dem nun ein gesondertes Reallexikon für das germanische Altertum, wenn auch in bescheideneren Dimensionen und mit weit weniger Mitarbeitern, gegenübergestellt werden sollte. Als dessen Ziel proklamierte Hoops bekanntlich „eine Gesamtdarstellung der Kultur der germanischen Völker von den ältesten Zeiten bis zum Ende der althochdeutschen, altniederdeutschen und altenglischen Periode“, doch redete er nicht wie Wissowa einer „Codificierung“ des erreichten Kenntnisstandes das Wort und erhob auch keinerlei Vollständigkeitsanspruch bei der Erfassung etwa des Namenmaterials, sondern rückte als Zweck eher „die Herstellung einer engeren Fühlung zwischen den verschiedenen Zweigen der germanischen Kulturgeschichte“ in den Mittelpunkt. Offenbar wollte er die umfassende Fachöffentlichkeit erst schaffen, die man im „Pauly-Wissowa“ als bestehend voraussetzte. Besonders zu tun war es Hoops um die „Verbindung zwischen Vorgeschichte und Geschichte einerseits“ sowie „Archäologie und Sprachwissenschaft andererseits“, was wohl besagen soll, dass er die auf Jacob Grimm zurückgehende Dominanz der germanischen Philologie zugunsten einer integralen Betrachtungsweise mit Einschluss der gegenständlichen Überlieferung relativieren wollte. Was die Anlage seines Lexikons anging, wünschte sich Hoops ähnlich wie Wissowa „möglichst zahlreiche Stichwörter“, also eine gehörige Detaillierung, kündigte aber auch „Sammelstichwörter“ größeren Umfangs an,23 die sich gleich im 1. Band zu Themen wie „Ackerbau“, „Bekehrungsgeschichte“, „Deutsche Siedelungsgeschichte“ oder „Dichtung“ finden. Einen deutlichen Unterschied zu „Pauly-Wissowa“ macht die starke Bevorzugung von Sachbegriffen gegenüber Personennamen aus. Das liegt zum guten Teil an einer bewussten Distanz zur politischen Geschichte und zur Kirchengeschichte, mit der Konsequenz, dass man in diesem „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“ vergeblich nach Herrschergestalten wie Aethelbert von Kent, Authari, Childerich von Tournai, Dagobert I. oder Karl dem Großen Ausschau hält und ebenso Kirchenmänner wie Bonifatius, Columban, Rupert von Salzburg, Severin oder Theodor von Tarsus nicht auf22 23
Vgl. Heinrich Beck, Artikel „Hoops, Johannes“. In: RGA 15 (2000), S. 109–111. Johannes Hoops, Vorwort. In: Hoops 1 (Straßburg 1911–1913), S. V–IX, Zitate S. V, VI, VIII.
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findet. Berücksichtigt sind dagegen Alboin, Attila, Chlodwig und Offa, jedoch lediglich als Gestalten der Sage. Es spricht für Hoops’ Energie und Durchsetzungskraft, dass es ihm trotz der Widrigkeiten des Ersten Weltkrieges gelungen ist, sein Reallexikon vierbändig in bemerkenswerter Geschlossenheit von 1911 bis 1919 zu publizieren, auch wenn der angekündigte 5. Band mit Nachträgen und einem Generalregister dann ausgeblieben ist. Im Vorwort des 4. Bandes (datiert vom 10. Dezember 1918) konnte er vorrechnen, 2023 Artikel zusammengebracht zu haben, die von bloß 84 Autoren verfasst worden waren. Eine ausdrückliche Bilanz seiner Bemühungen um Interdisziplinarität zog er nicht, doch hatte er schon bei Abschluss des 1. Bandes um Nachsicht dafür gebeten, dass „das angestrebte Ideal einer organischen Verknüpfung von Vorgeschichte und Geschichte, von Archäologie, Ethnographie und Sprachwissenschaft in dem vorliegenden Werke nur zum Teil erreicht worden“ sei, wofür er vielsagend „Neigungen und Abneigungen der Mitarbeiter auf der einen, sachliche Schwierigkeiten auf der andern Seite“ verantwortlich machte.24 Tatsächlich herrscht in vielen Lemmata zur Sachkultur die sprachgeschichtliche Betrachtung vor, wohingegen die Archäologie mit dem schon damals zentralen Problem der ethnischen Deutung vornehmlich in Sammelartikeln wie „Alemannische Funde“, „Angelsächsische Funde“, „Fränkische Funde“ oder „Langobardische Funde“ zu Wort kommt. Bei der nicht seltenen Aufteilung eines Stichworts unter zwei oder gar drei Autoren fällt die Separierung der skandinavischen, mitunter auch der angelsächsischen Situation, immer wieder zudem die gesonderte Behandlung kunsthistorischer Aspekte auf, aber eine bewusste Gegenüberstellung von philologischer und archäologischer Sichtweise war nicht üblich. Dennoch hat „der Hoops“, der anders als „Pauly-Wissowa“ oder „Herzog-Hauck“ ohne älteres Vorbild war, zu seiner Zeit Epoche gemacht und einen der eifrigsten Mitarbeiter, den Königsberger Archäologen Max Ebert, zu einem auf die Zeit vor Christi Geburt bezogenen „Reallexikon der Vorgeschichte“ angeregt, das in immerhin 15 Bänden von 1924 bis 1932 erschienen ist.25 Wie sehr eine solche lexikalische Selbstdarstellung als konstitutiv für eine akademische Disziplin empfunden wurde, zeigt auch das (ganz unabhängig von Hoops entstandene) „Reallexikon der indogermanischen Altertumskunde“ von Otto Schrader und Alfons Nehring, das in zweiter Auflage zweibändig von 1917 bis 1929 herauskam.26
24 25 26
Hoops (wie Anm. 23), S. VII, VI. Vgl. Herbert Jankuhn, Artikel „Ebert, Max“. In: RGA 6 (1986), S. 339–341. Vgl. Rüdiger Schmitt, Artikel „Schrader, Otto“. In: RGA 27 (2004), S. 276–279.
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Die Neubearbeitung des „Reallexikons der Germanischen Altertumskunde“ in den letzten 40 Jahren, deren glücklicher Abschluss den Anlass für diese Göttinger Tagung abgibt,27 ist im Kontext mit den gleichzeitigen Bestrebungen zu sehen, auch die anderen großen Fachenzyklopädien aus der Zeit um 1900, also „Herzog-Hauck“ und „Pauly-Wissowa“, aufzufrischen, während das von 1977 bis 1999 auf den Markt gekommene „Lexikon des Mittelalters“ (in neun Bänden) ebenso wie das seit 1950 erscheinende, derzeit 23 Bände umfassende „Reallexikon für Antike und Christentum“ einen völligen Neuansatz darstellt. Die „Theologische Realenzyklopädie“, erschienen von 1977 bis 2004 in 36 Bänden, sowie „Der Neue Pauly“, erschienen 1996 bis 2003 in 19 Bänden (zuzüglich bisher vier Supplementen), bieten sich wegen der analogen Ausgangslage zum typologischen Vergleich mit dem neuen „Hoops“ an. Als Gemeinsamkeit ist zunächst hervorzuheben, dass die Aufgabe der Aktualisierung regelmäßig zur Reflexion über den Gegenstandsbereich und als deren Konsequenz zur Ausweitung des Arbeitsfeldes geführt hat. Während die Theologische Realenzyklopädie um verstärkte Berücksichtigung von Philosophie, Religionsgeschichte und Judaistik bemüht war,28 machte der „Neue Pauly“ – neben der gesonderten Behandlung der Rezeptionsgeschichte – die Einbeziehung der orientalischen Voraussetzungen der griechisch-römischen Kultur, ferner der sogenannten antiken Randkulturen und später der Byzantinistik, des weiteren die Verstärkung der Wirtschafts-, Sozial- und Alltagsgeschichte und die Gleichstellung der verbalen, visuellen und materiellen Quellen zum Programm, ganz im Einklang mit der Entwicklung der klassischen Altertumswissenschaft im 20. Jahrhundert.29 Dementsprechend haben sich auch die Herausgeber des RGA von vornherein entschlossen, den nichtgermanischen Kulturen der Kelten, der Provinzialrömer, der Slawen und Balten bis hin zu den reiternomadischen Völkern gebührenden Raum zu geben,30 und sie sind darin während der langen Bearbeitungszeit durch die wissenschaftliche Diskussion nur bestätigt worden, der die Vorstellung eines Johannes Hoops von einer gemeinsamen kulturellen Identität der Germanen weithin abhanden gekommen ist.
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Vgl. auch Rudolf Schieffer, Das Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 64, 2008, S. 603–608. Vgl. Carl Heinz Ratschow, Vorwort. In: Theologische Realenzyklopädie 1 (Berlin, New York 1977), S. V–IX, hier VII. Vgl. Hubert Cancik, Helmuth Schneider, Vorwort. In: Der Neue Pauly 1 (Stuttgart, Weimar 1996), S. V–VII. Vgl. Heinrich Beck, Herbert Jankuhn, Kurt Ranke, Reinhard Wenskus, Vorwort. In: RGA 1 (1973), S. VIII–XII.
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Ein weiteres verbindendes Element der Neubearbeitungen ist eine forcierte Interdisziplinarität, die sich beim RGA in der Beteiligung naturwissenschaftlichen Sachverstands aus Botanik, Zoologie, Anthropologie, Geologie und Klimaforschung niederschlägt und zu neuartigen Artikeln über „Fruchtbäume“,31 „Knochen und Knochengeräte“,32 „Naturwissenschaftliche Methoden in der Archäologie“,33 „Verhüttung und Metalltechnik“34 oder „Wasserversorgung“35 verholfen hat. Die fortschreitende Spezialisierung, die seinerzeit schon Hoops beklagte, hat an der Wende zum 21. Jahrhundert eine Intensität erreicht, die es in allen drei Lexika nur selten möglich machte, größere Artikel einem einzelnen, rundum kompetenten Autor anzuvertrauen. So wie in der Theologischen Realenzyklopädie zu zahlreichen Phänomenen der biblische Befund, die historische Entwicklung, die heutige Situation und womöglich zusätzlich noch der ökumenische Aspekt vom jeweiligen Fachmann dargeboten werden, ist auch im RGA eine Aufteilung bedeutender Lemmata nach methodischen wie auch räumlichen Gesichtspunkten fast zur Regel geworden. Über „Origo gentis“ handelt allgemein und bezüglich der Goten Herwig Wolfram, bezüglich der Langobarden Walter Pohl, bezüglich der Franken Hans Hubert Anton, bezüglich der Burgunder und der Angelsachsen Ian Wood, bezüglich der Sachsen Matthias Becher, also lauter Historiker mit ganz ähnlicher Sichtweise, die sich die Aufgabe bloß quantitativ aufgegliedert haben.36 Aber „Würzburg“ wird namenkundlich von Albrecht Greule, archäologisch von Michael Hoppe und historisch von Thomas Heiler präsentiert (ohne Synthese),37 und für „Wien“ hat man gar ein volles Dutzend an Autoren und Autorinnen beschäftigt.38 Das ganze Ausmaß der spezialistischen Auffächerung, die ich nicht nur als Vorteil einschätzen möchte, wird ersichtlich, wenn man sich vor Augen führt, dass im RGA die Anzahl der Artikel gegenüber Hoops auf das Zweieinhalbfache (von 2023 auf 5124) angewachsen ist, die Zahl der Mitarbeiter aber um das Sechzehnfache (von 84 auf 1443)! Damit sind wir bei der quantitativen Betrachtung angelangt. Während man beim „Neuen Pauly“ niemals daran denken konnte, dem erst 1980 beendeten alten „Pauly-Wissowa“ an Bänden auch nur nahezukommen, vielmehr energisch auf Straffung und Präzisierung, auch neue Akzentuierung 31 32 33 34 35 36 37 38
RGA 10 (1998), S. 115–128. RGA 17 (2001), S. 38–45. RGA 20 (2002), S. 568–610. RGA 32 (2006), S. 199–211. RGA 33 (2006), S. 306–309. RGA 22 (2003), S. 174–210. RGA 34 (2007), S. 260–270. RGA 34 (2007), S. 20–36.
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des Nomenklators bei Streichung tausender kleiner Lemmata bedacht war, hat die Theologische Realenzyklopädie ihre anfängliche Ankündigung, dem früheren „Herzog-Hauck“ an Umfang etwa zu entsprechen, am Ende nicht wirklich, aber doch tendenziell eingehalten. Das RGA dagegen war im Verhältnis zum bloß vierbändigen „Hoops“ von vornherein auf Zuwachs angelegt und sollte zunächst 7–8 Bände umfassen, aus denen schließlich 35 geworden sind. Anders als der „Neue Pauly“ und wohl auch die Theologische Realenzyklopädie, die vom 1. Bande an in gleichbleibendem Duktus bearbeitet worden sind, hat das RGA im Laufe der Zeit eine beträchtliche Ausweitung im durchschnittlichen Umfang der Artikel wie wohl auch im Nomenklator erfahren, übrigens im exakten Gegensatz zum „Lexikon des Mittelalters“, das währenddessen nach breitem Beginn deutlich knapper geworden ist. Über die Gründe für diese Entwicklung des RGA bin ich als Außenstehender nicht umfassend unterrichtet. Aus der Benutzerperspektive jedenfalls ist unverkennbar, dass schon die Materialfülle des 1. Bandes, der von Aachen bis zu den Bajuwaren reicht, einen Abschluss deutlich jenseits von sieben Bänden erwarten ließ und dass in der Folgezeit die Bereitschaft der Redaktion groß war, sich auf neue Funde, Diskussionen und Probleme in und zwischen den beteiligten Fächern einzulassen. Artikel wie „Kalkriese“,39 „Kulturgruppe und Kulturkreis“,40 „Sozial- und Kulturanthropologie“41 oder „Völkische Weltanschauung“42 sind vermutlich nicht von Anfang an vorgesehen gewesen, bestimmen aber heute das Profil des RGA nicht unwesentlich mit. Ein markanter Wandel, der während des Entstehungsprozesses des RGA zu beobachten war, betraf die zunehmende Berücksichtigung der Wissenschaftsgeschichte, die bei Hoops ebenso wie bei „Pauly-Wissowa“ noch völlig beiseite geblieben war. In den theologischen Lexika dagegen hatte es seit jeher keine Scheidung zwischen dem Gegenstand und seinen Interpreten, also den Theologen älterer wie jüngerer Zeit, gegeben. Die wachsende Einsicht in die historische und politische Bedingtheit wissenschaftlicher Erkenntnisse und Positionen hat beim „Neuen Pauly“ den Anstoß zu einer gesonderten Serie von sechs Bänden über die Rezeptionsgeschichte der Antike gegeben, worin auch die Repräsentanten der neuzeitlichen Altertumswissenschaft ihre Würdigung fanden, während sich das „Lexikon des Mittelalters“ in dieser Hinsicht ganz abstinent verhalten hat. Das RGA, das bereits im 1. Band Artikel über Nils Åberg, Oscar Almgren und Holger Arbman 39 40 41 42
RGA 16 (2000), S. 180–199. RGA 17 (2001), S. 442–452. RGA 29 (2005), S. 264–272. RGA 32 (2006), S. 522–538.
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brachte,43 hat sich dieser über Hoops hinausweisenden Perspektive nicht verschlossen, aber erst mit der Zeit, wie es scheint, eine gewisse Hemmung abstreifen können, was dazu führte, dass im Ende 2003 ausgelieferten 25. Band bereits ein Artikel über den erst im selben Jahr verstorbenen Bonner Prähistoriker Helmut Roth enthalten war.44 Im Rückblick fällt auf, dass noch in den ersten Bänden auf Artikel über Karl von Amira, Walter Baetke oder Charles Darwin verzichtet wurde und auch Themen wie „Ahnenerbe“, „Akkulturation“ oder „Ethnogenese“ nicht eigens zur Sprache kamen. Die Wissenschaftsgeschichte gehört augenscheinlich zu den Faktoren, die den Zuschnitt des RGA im Laufe seiner Genese verändert haben, und gewiss nicht zu dessen Nachteil. Ein weiterer Faktor, der sich zunehmende Geltung verschafft hat, ist die Ausstattung des RGA mit Literaturangaben. Dass sie von vornherein reichlicher bemessen waren als im alten „Hoops“, trug der generellen Entwicklung der Publikationsdichte im 20. Jahrhundert Rechnung und hat dazu geführt, dass man dieses Lexikon (wie andere aus jüngerer Zeit auch) ohne tieferen Blick in die einzelnen Artikel gleich zur gezielten bibliographischen Information über das jeweilige Thema nutzen kann. Wie sehr sich diese Dienstleistung über ihren ursprünglichen Zweck, die Grundlagen für die Formulierung des Artikels offenzulegen, hinaus in den letzten Jahren verselbständigt hat, mag man an dem zugegebenermaßen extremen Beispiel ablesen, dass der Artikel „König und Königtum“ im 17. Band von 2001 noch mit 24 nachgewiesenen Titeln auskam,45 während zum vermeintlich spezielleren Stichwort „Sakralkönigtum“ im 26. Band von 2004 nicht weniger als 759 Angaben von Quellen und Literatur auf 15 eng bedruckten Seiten aufgeführt sind.46 Auch zu Lemmata wie „Römischer Import“, „Romanen“ oder „Romanisch-Germanische Sprachbeziehungen“, alle im 25. Band von 2003, findet man ganze Spezialbibliographien mit Hunderten von Titeln,47 die einerseits schätzenswert, andererseits in ihrer zeitlich abrupt abbrechenden Fülle doch vom raschen Veralten bedroht sind. Vorbildlich nach meinem Empfinden ist im RGA die präzise, seitengenaue Verknüpfung zwischen den Texten der Artikel und den angeschlossenen Literaturangaben mittels Kennziffern, was gleicherweise nur im „Neuen Pauly“, aber deutlich summarischer in der Theologischen Realenzyklopädie und erst recht im „Lexikon des Mittelalters“ gehandhabt ist. 43 44 45 46 47
RGA 1 (1973), S. 8, 189, 386–388. RGA 25 (2003), S. 363–366. RGA 17 (2001), S. 102–109. RGA 26 (2004), S. 179–320. RGA 25 (2003), S. 138–158, 210–242, 242–304.
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Die enge Verzahnung der über mehrere Jahrzehnte verteilten Darlegungen im RGA mit dem jeweils nachgewiesenen gedruckten Forschungsstand macht ein letztes Wesensmerkmal dieses Lexikons spürbar, das ich in solcher Ausprägung in den anderen Nachschlagewerken nicht wiederfinde. Ich meine das spannende Wechselspiel von challenge und response im Bezug auf die aktuellen Themen und Probleme der beteiligten Fächer. Nehmen wir als Beispiel die vielberedete Friedelehe. Während das Phänomen im systematisch gegliederten Artikel „Eherecht“ des 6. Bandes von 1986 seine rechtshistorische Behandlung mit allenfalls leichten Vorbehalten im Unterabschnitt „Weitere Eheformen“ erfuhr,48 präsentiert das Lemma „Friedelehe“ im 9. Band von 1995 die Sache rein wissenschaftsgeschichtlich als eine verfehlte Thesenbildung der 1920er Jahre,49 und im Artikel „Nebenfrau“ des 21. Bandes von 2002 gehört die Friedelehe inzwischen zu den überholten Positionen, die gleich im einleitenden Abschnitt „Allgemeines, Begriffsbestimmung“ abgetan werden.50 Oder ein anderer Fall: Der wiederum rechtshistorische Artikel „Einquartierungssystem“ im 7. Band von 1989 ist noch völlig unberührt von den Thesen von Walter Goffart und Jacques Durliat,51 die dann jedoch unter den historisch behandelten Stichwörtern „foederati“ von 199552 und „Goten“ von 199853 zu differenzierten Stellungnahmen herausfordern. Anders dagegen im 13. Band von 1999, wo der Artikel „Grundeigentum“ ungerührt den Bahnen von Ernst Theodor Gaupp folgt und sub voce „Grundherrschaft“ wie auch „Grundsteuer“ die Sache als recht kontrovers hingestellt wird54, bevor im 14. Band die beiden amerikanischen Autoren zum Thema „Heerwesen“ überhaupt nur noch Goffart und Durliat wiedergeben.55 Dem, wie man sieht, keineswegs immer homogenen Echo auf den fachlichen Meinungsstreit stehen andererseits die Impulse gegenüber, die vom RGA in umgekehrter Richtung ausgegangen sind. Der Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“ von 1998, mit 257 Seiten von 15 Autoren der umfangreichste des ganzen RGA,56 ist in der Fülle seiner Auskünfte und Wertungen zur Basis der seitherigen Auseinandersetzung mit diesem traditionsbeladenen Problemkreis geworden, und von dem noch ei48 49 50 51 52 53 54 55 56
RGA 6 (1986), S. 480–500, hier 491 f. RGA 9 (1995), S. 598–600. RGA 21 (2001), S. 18–31, hier 18. RGA 7 (1989), S. 24–33. RGA 9 (1995), S. 290–301, hier 296–298. RGA 12 (1998), S. 402–443, hier 441. RGA 13 (1999), S. 103–112, 112–119, 119–122. RGA 14 (1999), S. 120–136. RGA 11 (1998), S. 181–438.
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nige Jahre frischeren Artikel „Sakralkönigtum“, gleichfalls im Format eines veritablen Buches,57 lässt sich gewiss Ähnliches erwarten. Das Lexikon als Forum der laufenden Forschungsdiskussion hat sich weit entfernt vom alten enzyklopädischen Ideal der systematischen Einführung in stabil gedachte Wissensbestände und auch von den Vorstellungen von Johannes Hoops, der eigens seine Bemühungen hervorhob, „augenfällige Widersprüche zu beseitigen und Unebenheiten auszugleichen“.58 Eigentlich schade, dass mit dem Erreichen des alphabetischen Zieles die Debatte nicht mehr in gleicher Weise fortgeführt werden kann.59
57 58 59
Wie Anm. 46. Hoops, Vorwort (wie Anm. 23), S. VIII. Inzwischen ist indes ein neues Forum in Gestalt von „Germanische Altertumskunde Online“ (GAO) entstanden, worüber Dieter Geuenich in diesem Band, S. 194f., berichtet.
Das Reallexikon (RGA)
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 23–104 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
Die philologische Perspektive im RGA Heinrich Beck Die Enzyklopädie als Versuch der Darstellung des Gesamtwissens einer Zeit (oder einer Disziplin) hat eine lange und bis in die Antike reichende Geschichte.1 Als eine eigene Textgattung hat sie gerade in jüngerer Zeit Aufmerksamkeit erfahren. In Anwendung auf einen bestimmten Zeit-, Sachoder Wissenschaftsbereich versucht die Enzyklopädie in ihrem materialen Teil das fachliche Wissen in einer Gesamtsicht zu präsentieren, während die Methodologie als formaler Teil der Enzyklopädie den Grundsätzen der fachlichen Aneignung gewidmet ist. Dabei ist es eine untergeordnete Frage, ob dieses Wissen in systematischer Darstellung oder in alphabetischer Ordnung präsentiert wird. Die alphabetische Ordnung hat den Vorteil, unter fachspezifischen Lemmata rasche Orientierung zu bieten. Sie führt aber auch in die Gefahr, die Vernetzung und Verlinkung des Einzelnen im Gesamten, das enchaînement, zu vernachlässigen.2 Zwar suchen in „Hoops“ (1. Auflage = Hoops) und „RGA“ (2. Auflage = Reallexikon der Germanischen Altertumskunde) so genannte „Sammelstichwörter“ bzw. „Dachartikel“ die Gesamtsicht zu wahren. Solche Übersichtsbeiträge können materialer Art sein (RGA → Bekehrung und Bekehrungsgeschichte, → Dichtung, → Han1
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Vgl. Ulrich Dierse, Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs (Bonn 1977). Archiv für Begriffsgeschichte, Supplementheft 2. Christel Meier (Hrsg.), Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit (München 2002). Theo Stammen, Wolfgang E. J. Weber (Hrsg.), Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien. Colloquia Augustana 18 (Berlin 2004). Vgl. auch Brigitte Englisch, Die Artes Liberales im frühen Mittelalter (5.‒9. Jh.) (Stuttgart 1994). Rudolf Schenda, Hand-Wissen. Zur Vorgeschichte der großen Enzyklopädien. In: Ingrid Tomkowiak (Hrsg.), Populäre Enzyklopädien. Von der Auswahl, Ordnung und Vermittlung des Wissens (Zürich 2002), S. 21. Vgl. auch Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie (Darmstadt 1971–2007), s.v. Enzyklopädie.
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del, → Recht, → Sitte und Brauch, → Völkerwanderung, → Karolinger und Karolingerzeit, → Wikingerzeit) oder auch den formalen Teil der Enzyklopädie betreffen (RGA → Interpretatio, → Altertumskunde, → Anthropologie, → Typologie etc.). Um dieses Ziel weiter zu befördern, wird im Folgenden versucht, eine gewisse (materiale und formale) Übersicht zu vermitteln und übergeordnete Zusammenhänge im Gesamtzusammenhang einer Kulturgeschichte deutlich zu machen. Eine Geschichte der philologischen Altertumskunde wird in der folgenden Darstellung jedoch nicht erstrebt. Wohl aber sollen einige Leitlinien des RGA (in philologischgeschichtlicher Perspektive) thematisiert und kommentiert werden – und dies im Blick auf ihre historische Entwicklung seit der Begründung einer germanischen Altertumskunde zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Nichts trägt mehr zum Verständnis dieser wissenschaftlichen Disziplin bei als der Blick auf ihr geschichtliches Werden. Darüber hinaus soll auch die Vorstellung der Herausgeber des Reallexikons über den enzyklopädischen und methodologischen Charakter der germanischen Altertumskunde in ihrer interdisziplinären Verbindung von vor- und frühgeschichtlicher Archäologie, Historie und Philologie im Rahmen einer Altertumswissenschaft verdeutlicht werden – in der Hoffnung, dass mit der Fülle des Materials und seiner methodischen Bewältigung auch die altertumskundliche Disziplin eine Förderung erfährt. Der folgende Bericht über eine 40-jährige Arbeit am Reallexikon der Germanischen Altertumskunde gilt also der philologischen Disziplin und orientiert sich an folgenden Gesichtspunkten: I. II. III. IV.
Die Philologie in historischer Sicht: Vom „Hoops“ zum „RGA“ Die Philologie im Gefüge des RGA Die Philologie und das fächerübergreifende Konzept des RGA Von der Altertumskunde zur Altertumswissenschaft.
I. Die Philologie in historischer Sicht: Vom Hoops zum RGA 1908, also 60 Jahre vor dem Erscheinen der ersten Lieferung der 2. Auflage, übernahm Johannes Hoops, damals ordentlicher Professor der Anglistik an der Heidelberger Universität, den Auftrag des Trübner-Verlages in Straßburg, als Herausgeber eines Reallexikons der Germanischen Altertumskunde tätig zu werden. 16 Jahre an Vorverhandlungen gingen diesem Beschluss voraus. Bereits 1892 führte der Verleger Karl Trübner Verhandlungen mit Wilhelm Streitberg, damals Professor für Indogermanische Sprachwissenschaft und Sanskrit an der neu gegründeten Universität Fri-
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bourg (Schweiz). Streitberg hatte sich mit Promotions- und HabilitationsArbeit als besonderer Kenner des Germanischen (im Rahmen des Indogermanischen) ausgewiesen. Ein neuer Anlauf erfolgte in den Jahren 1905/06 in Verlags-Gesprächen mit den Germanisten Richard M. Meyer, Moritz Heyne, Edward Schröder, Andreas Heusler und Friedrich Kluge. Sie gelangten 1908 zu einem Abschluss. Rudolf Much (damals ordentlicher Professor für germanische Sprachgeschichte und Altertumskunde sowie für skandinavische Sprachen und Literaturen an der Universität Wien) sollte die Herausgeberschaft übernehmen. Aus Gesundheitsgründen trat er noch vor Beginn der Edition das Amt an Johannes Hoops ab. Es liegt nahe, die verlegerische Absicht darin zu sehen, Otto Schraders Reallexikon der Indogermanischen Altertumskunde3 durch ein entsprechendes Werk für das Germanische weiterzuführen. Der publizistische Elan lässt sich an der Produktion dieser Jahre erkennen: 1891 begründeten Karl Brugmann und Wilhelm Streitberg bei Trübner die Zeitschrift „Indogermanische Forschungen“ – mit dem Untertitel „Zeitschrift für indogermanische Sprachund Altertumskunde“.4 1897/98 erschien die zweibändige „Nordische Altertumskunde“ des Direktors des Nationalmuseums von Kopenhagen Sophus Müller.5 Der „Grundriß der Germanischen Philologie“, ebenfalls ein Großunternehmen enzyklopädischer Art, erschien unter der Herausgeberschaft von Hermann Paul ebenso bei Trübner.6 1905 erschien bei Trübner Johannes Hoops „Waldbäume und Kulturpflanzen im germanischen Altertum“7 – eine Arbeit, die ihren Verfasser als geeigneten Herausgeber des geplanten Reallexikons erscheinen lassen musste. Diese (hier nur angedeuteten) publizistischen Aktivitäten, in deren Gefolge schließlich auch das Reallexikon der Germanischen Altertumskunde seinen Platz fand, verliefen auf dem Hintergrund einer wissenschaftlichen Diskussion, die den Begriff der „Kulturwissenschaft“ nicht nur in der geschichtswissenschaftlichen Debatte in den Mittelpunkt rückte. Von einer 3
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Otto Schrader: Reallexikon der indogermanischen Altertumskunde. Grundzüge einer Kultur- und Völkergeschichte Alteuropas. 1. Auflage (Straßburg 1901, 2. Auflage, hrsg. von Alfons Nehring, Berlin, Leipzig 1917–1929). Indogermanische Forschungen. Zeitschrift für Indogermanistik und allgemeine Sprachwissenschaft, begründet von Karl Brugmann, Wilhelm Streitberg. Sophus Müller, Nordische Altertumskunde. Nach Funden und Denkmälern aus Dänemark und Schleswig. Deutsche Ausgabe unter Mitwirkung des Verfassers besorgt von Otto Luitpold Jiriczek (Straßburg 1897/98). Hermann Paul, Grundriß der germanischen Philologie, 2 Bände, 1. Auflage (Straßburg 1891–1893, 2. Auflage 1901–1909). – Voran ging der „Grundriß der romanischen Philologie“, hrsg. von Gustav Gröber, 2. Auflage 1905 ff. Johannes Hoops, Waldbäume und Kulturpflanzen im germanischen Altertum (Straßburg 1905).
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„Konjunktur des Kulturthemas“ um 1900 ist im Rückblick ebenso die Rede8 wie von der junggrammatischen Dominanz in der Sprach- und Kulturgeschichtsforschung.9 Wenn (unter anderen) diese Faktoren zur Signatur der Zeit beitrugen, war davon auch die Hoopssche Herausgebertätigkeit betroffen – ungeachtet dieser Zeitströmung war mit der Vielzahl der Beiträger natürlich eine Vielfalt von Meinungen verbunden. Doch hat der Herausgeber durch seine Themenvergaben zweifellos auch eine gewisse Gesamtperspektive seines Lexikons verfolgt. Als Zeitzeugen lassen sich der Historiker Karl Lamprecht und der Philologe und Sprachhistoriker Hermann Paul nennen – Lamprecht, der seine Konzeption einer neuen Kulturgeschichte in Theorie und Praxis vorstellte, Paul, der die Sprachgeschichte als Konzept einer kulturwissenschaftlichen Prinzipienlehre vertrat. Beide waren am Lexikon nicht beteiligt, doch ihre Einflüsse reichten auch in den Hoops. Für Lamprecht beruhte die kulturhistorische Methode (in der er eine grundsätzliche Neuerung in der Geschichtsforschung seiner Zeit sah) auf Prämissen, die auch für die altertumskundliche Arbeit bedeutsam waren. Solche Voraussetzungen waren: – Die Annahme einer absoluten Kausalität im Geschichtsverlauf, das heißt, alles was sich im Laufe der Geschichte ereignet, stehe in einem ununterbrochenen Zusammenhang von Ursache und Wirkung (damit wandte sich Lamprecht gegen die Annahme idealistischer Bedingtheiten im geschichtlichen Prozess, wie auch gegen eine bloße Tatsachenforschung in den Geisteswissenschaften).10 – Das Konzept „Kultur“ war für Lamprecht ein Gegenbegriff zur Vorstellung eines „Volksgeistes“. Die Volksgeist-Auffassung des 19. Jahrhunderts sah in Sprache, Religion, Brauch und Sitte Objektivierungen eines sich organisch entwickelnden Nationalcharakters. Mit dieser Quellenbezogenheit war eng verbunden eine betonte Wendung zur Vergangenheit. Demgegenüber sah Lamprecht die neue Aufgabe der Geschichtswissenschaft darin, auf einer neuen Basis die seelischen Veränderungen menschlicher Gemeinschaften zu beschreiben – wobei die Psychologie in 8
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Rüdiger von Bruch, Friedrich Wilhelm Graf, Gangolf Hübinger (Hrsg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, Bd. 1 (Stuttgart 1889), Bd. 2 (Stuttgart 1897), Zitat in Bd. 1, S. 11. Vgl. auch Karl Lamprecht, Die kulturhistorische Methode (Berlin 1900). John Lyons, Einführung in die moderne Linguistik (München 1971), S. 30 f. Die englische Originalausgabe erschien 1968. Luise Schorn-Schütte, Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik (Göttingen 1984), S. 150.
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dieser kulturhistorischen Methode ein tragender Grund sein sollte (er sprach von der „Psychisierung“ – etwa der Wirtschaftsgeschichte im Sinne „psychischer Perioden der Wirtschaftsentwicklung“11). Die Psychologie sollte es sein, die zwischen der geistigen Kultur einerseits, der materiellen Dingwelt andererseits die Bezugsbasis liefern sollte – und nur aus dieser Doppelperspektive ließe sich Kulturgeschichte schreiben.12 – Das Konzept von „Kulturzeitaltern“, d.h. von Zeitaltern, die sich voneinander abheben durch einen jeweils beherrschenden seelischen Gesamtzustand, ist für Lamprecht ein wesentlicher Teil seines Kulturbegriffes. Hier fänden sich die Begriffe, die umfassend genug seien, „um alles Geschehen eines bestimmten Zeitalters in sich zu begreifen, ihm den charakteristischen Ton zu geben“.13 Die Abfolge dieser Kulturzeitalter ist in Lamprechts Sinne nicht willkürlich, folgt vielmehr einem Prinzip, das von anfänglich stärkster Gleichheit aller Individuen vermöge sich steigernder seelischer Tätigkeit zu immer größerer Differenzierung dieser Einheit führe.14 Jedes Kulturzeitalter durchwalte also nach Lamprecht ein psychischer „Akkord“, ein „seelisches Diapason“, ein Gesamtwille, der alles Empfinden und Handeln bestimme. Auf der Basis dieser sich ablösenden Kulturzeitalter erwachse die Einsicht in die Ganzheit des Lebensprozesses – und letztlich auch eine universale Kulturschau.
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Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte, Bd. 1, 3. Auflage (Berlin 1902), S. XV Wilhelm Vosskamp, Literatursoziologie: Eine Alternative zur Geistesgeschichte? ‚Sozialliterarische Methoden‘ in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. In: Christoph König, Eberhard Lämmert (Hrsg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925 (Frankfurt/Main 1993), S. 291–303. Erst in neuerer Zeit, d. h. nach 1965, fand ein bedeutender Sprachforscher des 19. Jahrhunderts erneute Beachtung Chajim H. Steinthal (1823–1899) – und dies gerade auch im Blick auf die Konzeption einer psychologischen Fundierung von Sprachwissenschaft und Ethnologie. H. Paul verhielt sich ihm (und seinem Mitstreiter Moritz Lazarus, beide Herausgeber der „Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft“, 1860–1890) gegenüber ablehnend. Vgl. Hermann Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte (Tübingen 1880), S. 9. Zu Steinthal vgl. Hartwig Wiedebach, Annette Winkelmann (Hrsg.), Chajim H. Steinthal. Sprachwissenschaftler und Philosoph im 19. Jahrhundert. Studies in European Judaism, Bd. 4 (Leiden u.a. 2002). Ivan Kalmar spricht in diesem Band vom „Volksgeist“ als einem „Early Precursor of the Modern Concept of Culture“ (S. 136 ff.) – die weitere Geschichte bestätigt nicht, dass dem Volksgeist/Deutschen Geist eine berechtigte Rolle in einem kulturwissenschaftlichen Konzept zuzubilligen wäre. Vgl. auch Ivan Kalmar, The Völkerpsychologie of Lazarus and Steinthal and the Modern Concept of Culture. In: Journal of the History of Ideas, 14, 1987, S. 671–690. Lamprecht (wie Anm. 8), S. 26. Lamprecht (wie Anm. 8), S. 28.
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Ungeachtet aller Kritik, die Lamprechts Thesen gefunden haben (RGA → Positivismus), bleibt festzuhalten, dass er in dem Streben nach dem höchsten Begriff, der alles Geschehen eines Zeitalters umgreift, den Begriff „Kultur“ setzte – und damit der ein Jahrhundert bestimmenden „Volksgeist“- Konzeption eine Absage erteilte. Dem organologisch-volkhaften „Geist“ als einem wesenhaften Charaktermerkmal setzte er „Kultur“ als Ausdruck eines seelischen Gesamtzustandes eines bestimmten historischen Zeitabschnittes entgegen. Dabei durfte die im weitesten Sinne des Wortes die Summe seelischer Veränderungen menschlicher Gemeinschaften behandelnde Geschichtswissenschaft sich als die führende Wissenschaft unter den Geisteswissenschaften begreifen.15 Auch Hermann Paul (RGA → Paul, Hermann) sprach vom psychischen Element als dem wesentlichsten Faktor in allen Kulturbewegungen – „die Psychologie ist daher die vornehmste Basis aller in einem höheren Sinne gefassten Kulturwissenschaft“. Es gibt nur eine reine Geisteswissenschaft, erklärt er, „das ist die Psychologie als Gesetzeswissenschaft“ – wobei Gesetzeswissenschaft verstanden wird als die Basis-Wissenschaft, die unter Absehung alles Geschichtlich-Zufälligen das „ewig sich gleich bleibende zu finden“ sucht.16 Wenn es nach Paul nur eine „individuelle Psychologie“ geben kann, liegt darin auch eine Ablehnung der „Völkerpsychologie oder wie man es sonst nennen mag“17 – also auch eines „Volksgeistes“, einer „Volksseele“! „Weder Volksgeist noch Elemente des Volksgeistes wie Kunst, Religion etc. haben eine konkrete Existenz … Daher weg mit diesen Abstraktionen“.18 Für ein vollkommenes Verstehen der Kulturproduktion und ihres geschichtlichen Werdens sind aber für Paul auch die physischen Bedingungen zu berücksichtigen. Es bedarf daher neben der Psychologie auch einer Kenntnis der Gesetze, nach denen sich die physischen Faktoren der Kultur bewegen. Als eine Hauptaufgabe für die Prinzipienlehre einer Kulturwissenschaft formulierte H. Paul daher „die allgemeinen Bedingungen darzulegen, unter denen die psychischen und physischen Faktoren, ihren eigenen Gesetzen folgend, dazu gelangen, zu einem gemeinsamen Zwecke zusammenzuwirken“.19 15 16
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Lamprecht (wie Anm. 8), S. 16. Paul, Prinzipien (wie Anm. 12), zitiert nach der 5. Auflage 1920, S. 2. Dazu trug auch der generelle Trend bei, die Geisteswissenschaften so zu begründen, dass sie den aufstrebenden Naturwissenschaften an die Seite treten könnten. Paul, Prinzipien (wie Anm. 12), S. 13. Paul, Prinzipien (wie Anm. 12), S. 11. Paul, Prinzipien (wie Anm. 12), S. 6 f.
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Keine Kulturwissenschaft habe dabei ihre Methoden zu solcher Vollkommenheit entwickelt wie die Sprachwissenschaft, erklärt Hermann Paul. Keine andere habe so weit über die Grenzen der Überlieferung hinausgreifen können, keine andere sei in dem Maße spekulativ und konstruktiv verfahren wie die Sprachwissenschaft, die ihrem Wesen nach immer dem Prinzip einer geschichtlichen Betrachtung folge – und auch dort, wo sie vergleichend verfahre, sei sie eine historische Wissenschaft.20 Ungeachtet aller Kritik, die beide Autoren, Lamprecht und Paul, durch die Nachwelt21 erfuhren, trugen sie – bei allen Unterschieden – durch ihren methodischen Rekurs auf die Psychologie zu einer zeitgenössischen Kulturgeschichte bei – in ihrer Sicht ein Versuch, eine Gesetzmäßigkeit in der historischen Entwicklung zu erkunden. Ausdrücklich erklärte Paul, dass die „kulturwissenschaftliche Prinzipienlehre“ sich einerseits selbständig gegenüber den grundlegenden Gesetzeswissenschaften (d. h. den Naturwissenschaften) behaupten könne, anderseits aber der „Entwicklungsgeschichte der organischen Natur“ sehr nahe komme.22 Lamprecht blickte auf die Fortschritte der naturwissenschaftlichen Forschung, die längst dazu geführt hätten, in der Zelle die zunächst einfachste Einheit der organischen Welt überhaupt zu erkennen und aus den wechselnden Verhältnissen ihrer Lagerung heraus das unendlich mannigfache Dasein der Erscheinungen begreifend nachzuschaffen… Auch auf geschichtswissenschaftlichem Gebiet muß das Zeitalter einer äußerlich beschreibenden Forschung abgelöst werden durch das Zeitalter einer neuen Methode, die vom genetischen Standpunkt aus eindringt und von den kleinsten Zellen geschichtlichen Lebens her entwickelt.23
In beiden Fällen wird also – ungeachtet aller weiteren Unterschiede – eine Kulturwissenschaft postuliert, die in ihrer psychologisch-naturwissenschaftlichen Orientierung die Gesamtheit aller Studien umfasst, die als geschichtlich argumentierend gelten dürfen. Diesen Standpunkt teilte Hoops wohl, wenn er im Vorwort vom „Fortschritt der Kulturwissenschaft“ sprach, zu 20 21
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Paul, Prinzipien (wie Anm. 12), S. 5 ff und 20 f. Vgl. Luise Schorn-Schütte (wie Anm. 10); Matti Viikari, Die Krise der „historistischen“ Geschichtsschreibung und die Geschichtsmethodologie Karl Lamprechts (Helsinki 1977). Paul, Prinzipien (wie Anm. 12), S. 7 f. Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte, Bd. 1, 3. Auflage (Berlin 1902), S. VIII; Karl Lamprecht, Die kulturhistorische Methode (Berlin 1900), S. 29. Anmerkenswert ist es, dass auch Paul von der Einzelzelle, dem elementarsten organischen Gebilde spricht, das schon dem Prinzip der Arbeitsteilung folge, Paul, Prinzipien (wie Anm. 12), S. 7 f.
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dem das Lexikon beitragen wolle. In dieser grundsätzlichen Annahme kann man eine Übereinstimmung mit den Lamprecht/Paulschen Positionen sehen. Eine fundamentale Kritik an dieser naturwissenschaftlichen Begründung einer neuen Kulturwissenschaft wurde bereits zu Beginn des Jahrhunderts laut. Unter dem programmatischen Titel „Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft“ erschien 1904 eine „sprach-philosophische Untersuchung“ des damaligen Heidelberger Privatdozenten und Romanisten Karl Voßler. Die (übliche) Gliederung einer Sprachlehre in Laut-FlexionsSatzlehre betrachtet er als positivistische „Anatomierung“, die in idealistischer Sicht genau umgekehrt von der Stilistik zur Syntax und weiter zur Flexions- und zur Lautlehre vordringen müsse. Die letzte und einzig wahre Erklärung findet die Sprachwissenschaft in der obersten Disziplin, der Stilistik, das heißt den geistigen Ausdrucksformen – also in einer „Kunstgeschichte im weitesten Verstand des Wortes. Grammatik ist ein Teil der Stilund Literaturgeschichte, die ihrerseits wieder in die allgemeine menschliche Geistes- und Freiheitsgeschichte (Kulturgeschichte) eingeht.“ Nach idealistischer Definition ist Sprache also geistiger Ausdruck, Sprachgeschichte ist (so darf im Sinne Voßler gefolgert werden) Geistesgeschichte.24 Auf den Humboldtschen kritischen Idealismus hatte bereits Steinthal (ein Schüler von August Boeckh und Wilhelm Grimm) verwiesen.25 Die in jüngerer Zeit von L. Weisgerber (und seiner Schule) vertretene „energetische Sprachwissenschaft“ berief sich ebenfalls auf Humboldt, wenn sie eine „innere Form“ der Sprache mit einer je eigentümlichen Weltansicht vertrat.26 Gegen das „fast ausschließliche Interesse“ der Sprachforschung an den „Lautgesetzen“ richtete sich auch die 1909 begründete „Kulturhistorische Zeitschrift für Sprach- und Sachforschung“ mit dem Titel „Wörter und Sachen“. Die Herausgeber27 bekräftigten im Vorwort ihren Glauben, dass „in der Vereinigung von Sprachwissenschaft und Sachwissenschaft die Zukunft 24
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Karl Voßler, Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft. Eine sprachphilosophische Untersuchung, Heidelberg 1904, S. 6–11. Vgl. Wiedebach, Winkelmann (wie Anm. 12). Leo Weisgerber, Vom Weltbild der deutschen Sprache (Düsseldorf 1953). Leo Weisgerber, Zur Grundlegung der ganzheitlichen Sprachauffassung. Aufsätze 1925–1933, hrsg. von Helmut Gipper (Düsseldorf 1964). Zur „inneren Sprachform“ vgl. auch Manfred Ringmacher, Sprachwissenschaft, Philologie und Völkerpsychologie: Die Grenzen ihrer Verträglichkeit bei H. Steinthal. In: Wiedebach, Winkelmann (wie Anm. 12), S. 64–88. Wörter und Sachen. Kulturhistorische Zeitschrift für Sprach- und Sachforschung, in Verbindung mit Jooseppi Julius Mikkola, Rudolf Much, Matija Murko und der Indogermanischen Gesellschaft hrsg. von Rudolf Meringer, Wilhelm Meyer-Lübke (Heidelberg 1909 ff.).
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der Kulturgeschichte liegt“. Johannes Hoops räumte diesen neuen Richtungen keinen Platz im Lexikon ein – anders als das RGA→ Wörter und Sachen, → Wortschatz. In der Rückschau dürfte man den Hoops wohl eher als ein Zeugnis des Positivismus’ der ersten Jahrhunderthälfte einstufen. Der Lamprechtschen Kulturgeschichtsschreibung weist Schorn-Schütte eine Position zwischen Romantik und Positivismus zu – womit Lamprecht für eine kurze Zeitspanne auch internationale Schätzung errang. Wenn er seit den 60er Jahren erneutes Interesse fand, dann als „eigenwillig anregender Kulturhistoriker, der in seinen Arbeiten durch den Nachweis wechselseitiger Beziehungen von realer und ideeller Kultur ein ‚Gesamtbild‘ der jeweiligen historischen Zeit zu zeichnen suchte“.28 Mit dem Paradigmenwechsel um die Jahrhundertwende, wie ihn Lamprecht und Paul vertraten, war der Hoops in gewisser Weise verbunden – auch wenn keine direkten methodischen Reflexionen über diese Voraussetzungen im Lexikon selbst zu finden sind. Es bleiben das Vorwort von Johannes Hoops und die indirekten Aussagen der Sachartikel des Lexikons selbst, die über theoretische und methodologische Voraussetzungen Auskunft geben können. Demnach kann die Zuordnung des Hoops zum Paradigmenwechsel der Jahrhundertwende etwa so lauten: – Die Öffnung der Germanischen Altertumskunde zu einer wissenschaftlich fundierten Kulturgeschichte vertritt der Hoops – in Übereinstimmung mit der kultur- und naturwissenschaftlich Bewegung der Zeit. Das zeigt sich auch in der Einbeziehung der Naturwissenschaften. Unter den „verschiedenen Zweigen der germanischen Kulturgeschichte“ nehmen insbesondere Vorgeschichte und Archäologie und die mit ihnen verbundenen naturwissenschaftlichen Disziplinen einen festen Platz ein. Einer (ausschließlich) philologisch orientierten Altertumskunde erteilt Hoops eine Absage. Wenn Paul von den psychischen und physischen Faktoren einer Kultur spricht, neigt die Konzeption des Hoops in seiner Realisierung doch stark der physischen Seite zu. Die psychischen Faktoren werden nur andeutungsweise angesprochen. „Geschichtsschreibung“ übertrug Hoops seinem Heidelberger Kollegen Karl Hampe, der ansonsten in seinen Werken durchaus eine breite kulturgeschichtliche Sicht bewies.29 Beiträge zu „Geschichtsauffassung“, „Geschichtsbewusstsein“ etc. fehlen aber im Hoops (vgl. RGA → Kontinuitätsprobleme, → Primitive Gemeinschaftskultur etc.). Wenn Gustav Neckel im Artikel „Saga“ im Schlussparagraphen seines etwa zehnspaltigen Beitrages auch auf den 28 29
Schorn-Schütte (wie Anm. 10), S. 13. Etwa in seinem Hauptwerk: Karl Hampe, Das Hochmittelalter. Geschichte des Abendlandes von 900–1250, Erstauflage Berlin 1932.
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Quellenwert dieser Gattung für die germanische Altertumskunde zu sprechen kommt, wird auf das vorchristliche Seelenleben, die Ethik und die gesellschaftlichen Verhältnisse verwiesen – die weitgehende Parteilosigkeit dieser Menschen, die Freiheit von Vorurteilen, die feine Menschenkenntnis und die große Empfänglichkeit für tragische Reize werden als geistige Faktoren postuliert, die das „Isländertum“ ausmachten. Im Lexikon ist dies ein einsamer Exkurs – und ein Indiz für eine Auffassung, die offensichtlich den Begriff „Reallexikon“ vorzugsweise an einer physischen Kulturauffassung orientierte. Die Selbstbesinnung, die Methodenreflexion, kurz gesagt, die hermeneutische Dimension, sollte erst der Zukunft gehören. – Die propagierte „Fühlung“ und „Verbindung“ der verschiedenen Zweige der germanischen Kulturgeschichte darf sich nicht in einer kritiklosen „Zusammenwerfung von Tatsachen“ erschöpfen, vermerkt Johannes Hoops. Wenn von einer „organischen Verknüpfung“ die Rede ist, ist mit einer „germanischen Kulturgeschichte“ eine neue Disziplin mit einer eigenen Methodik anvisiert – auch wenn dieses grundsätzliche Programm theoretisch nicht entfaltet wird. In der praktischen Durchführung wird die „Fächerverbindung“ durch je eigene (getrennte) Beiträge von Historikern und Archäologen geleistet. In dieser Art von distanzierter „Verknüpfung“ sind Beiträge etwa des Wiener Archäologen Moritz Hoernes zu „Steinzeit“, „Skythische Funde“, und „Völkerwanderungszeiten-Funde“, des Berliner Archäologen Carl Schuchhardt zu „Volksburgen“ und „Steinkreise“ usw. zu verstehen. Einen Schritt weiter geht das RGA, das unter einem gemeinsamen Titel die unterschiedlichen Disziplinen vereint – unter dem Stichwort „Externsteine“ z. B. den Archäologen, Namenkundler und Astronomen zu Wort kommen lässt. Doch bleibt auch hier die selbstkritische Frage, ob die Verknüpfung und Fühlungnahme zu einer wirklichen Integration führte oder doch auch in der Distanz zu dieser verharrte. Vorstellbar wären ja Gesamtartikel, die das Ergebnis einer Integration der beteiligten Beiträge präsentieren. Auch das RGA überlässt diese Aufgabe dem Leser – sucht ihn damit zumindest im Vorfeld zu einer möglichen kulturgeschichtlichen Gesamtsicht zu führen. – Das „ethnographische Problem“ wird nicht nur als ein bloß historischvölkerkundliches eingeschätzt, auch die „vergleichende Heranziehung der Zustände bei primitiven Volksstämmen der Gegenwart“ kommt in den Blick. Hoops bewegt sich damit ganz in den Bahnen Lamprechts, der in seiner universalhistorischen Sicht erklärt: urgeschichtliche Forschung ist heute auch völkerkundliche Forschung: denn ohne eine eingehende Kenntnis der Entwicklungsmomente jener Völker, welche
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mit den Germanen der Urzeit auf gleicher oder verwandter Kulturstufe standen oder stehen, ist heutzutage das höchste eben noch erreichbare Verständnis der Quellen zur ältesten deutschen Geschichte nicht mehr zu denken.30
A. Doch fehlen im Hoops Artikel wie Völkerkunde oder Ethnographie gänzlich. Wohl aber ist ein zehnseitiger Artikel „Stamm“ zu verzeichnen (verfasst von dem Bonner Historiker Hans Schreuer). Sicherlich verbindet Johannes Hoops mit den zahlreichen archäologischen Beiträgen und ihren Verfassern die Vorstellung, auch den völkerkundlichen Aspekt eingebracht zu haben.31 Im RGA wird unter „ethnographische Methode“ auf Gustaf Kossinna verwiesen, weitere Artikel wie „Volk“, „Volksglaube“, „Völkische Weltanschauung“, „Stammesbildung / Ethnogenese“ betreffen das Thema. Die weiteren Bereiche Sozialgeschichte und Anthropologie, die zur Ethnographie beitragen, werden im RGA zwar angesprochen, doch mit recht unterschiedlicher Gewichtung. Der Artikel „Anthropologie“ erschöpft sich in einer biologischen Reduktion (RGA → Anthropologie). Die weitere Perspektive eröffnen die späteren Beiträge „Paläoanthropologie“, „Sozial- und Kulturanthropologie“ (mit einem besonderen Blick auf die Religionsgeschichte). Auch die um 1960 an Einfluss gewinnende „Sozialgeschichte“ als umfassende historiographische Disziplin fand im RGA Beachtung (vgl. etwa RGA → Stamm und Staat, → Gesellschaft). Die junggrammatische Positionierung (auch vom „junggrammatischen Positivismus“ wird gesprochen) mit ihrer Auffassung von Lautgesetzen und diachroner Analyse galt für den Hoops generell – und für den Herausgeber Johannes Hoops und seine Mitarbeiter Rudolf Much, Gustav Neckel, Edward Schröder etc. auch. Dabei ist (bei aller heutigen Kritik) nicht zu übersehen, dass die Junggrammatiker bedeutsame Beiträge zur germanischen (und indogermanischen) Sprachgeschichte erbracht haben. Selbst die Bezeichnung „Junggrammatiker“ ist nur zu gebrauchen unter der Voraussetzung, dass hier sehr unterschiedliche Forscherpersönlichkeiten zusammengefasst werden. Bemerkenswert ist bei aller Anerkennung junggrammatischer Erfolge durch Johannes Hoops, dass im Lexikon Sprachen in ihrer Funktion als „psychische Organismen“, die die eigentlichen Träger der historischen Entwicklung darstellen, relativ wenig Beachtung fanden – es sind allein die Artikel „Germanische Sprachen“ (von Friedrich Kluge) und „Indogermanische 30 31
Lamprecht, Deutsche Geschichte (wie Anm. 23), S. XV. Jeder Band des Hoops enthält ein „Systematisches Register“, das unter anderem die Beiträge der Archäologie auflistet. Ein angekündigtes Gesamtregister ist nicht erschienen.
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Sprachen“ (von Christian Bartholomae), die dem junggrammatischen Forschungsstand entsprechend dargestellt wurden. Nur selten sind Verweise auf eine „innere“ Sprachform zu finden – so wenn Kluge auf den Wortschatz des Germanischen mit seinem selbständigen Vorrat religiöser und moralischer Begriffe und einer reich entwickelten Synonymik im Bereich des Kriegslebens verweist.32 Den von Lamprecht vertretenen Führungsanspruch der Geschichtswissenschaft kommentierte Johannes Hoops nicht. Es ist anzunehmen, dass er die Lamprechtsche Gesamtsicht einer Kulturwissenschaft mit Sympathie betrachtete. Fachspezifisch hielt er (wie auch die Auswahl seiner Mitarbeiter belegt) am Vorsprung der methodisch-junggrammatischen Forschung fest. Dazu kam, dass er in einer Tradition stand, die unter dem Begriff „Philologie“ eine enzyklopädische Einheit verstand, die selbst als „Kulturwissenschaft“ gelten konnte. Der Boeckhsche Begriff „Philologie“ kam der Lamprechtschen Sicht einer umfassenden Geschichtswissenschaft sehr nahe. Die im Hoops fehlende hermeneutische Besinnung erklärt das Fehlen einer Reflexion über die Bedingungen des historischen Erkennens. Umso bemerkenswerter ist dann die Aufnahme eines Artikels „Philosophie“ im Hoops. Dem Verfasser (Josef Anton Endres, Professor am Lyzeum in Regensburg) ging es um die erste Berührung der germanischen Völker mit dem antiken Geistesleben. Dabei sei es von maßgebender Bedeutung gewesen, dass Christentum und antike Bildung gleichzeitig und in einer Einheit vermittelt wurden – erst von den Romanen Boethius, Cassiodor, Isidor von Sevilla, dann von dem heimischen Beda Venerabilis. Die sogenannte Karolingische Renaissance entfaltete dann – nach Endres – ein Geistesleben auf breiter Grundlage – literarisch gesehen auch mit dem einzigartigen Werk der Vita Karoli (RGA → Einhard). In dieser weiteren theologischen Tradition entwickelte sich dann auch ein methodisches Bewusstsein über Prinzipien rechter Textauslegung. Dem RGA fehlt ein entsprechender (historisch-hermeneutisch orientierter Artikel). Auch „Karolingische Renaissance“ wurde nicht in einem eigenen Beitrag aufgegriffen – vgl. aber RGA → Einhard, → Karolinger und Karolingerzeit, → Karolingische Kunst, → Karl der Große. Die Wertschätzung der Arbeiten von Paul und Lamprecht, die in den Hoops eingingen, darf nicht übersehen lassen, dass beide bereits zu Lebzeiten Kritik erfuhren – Kritik, der die Zukunft gehören sollte. Als Boten eines erneuten Paradigmenwechsels im Bereich der Philologie (auf die Stimmen einer antipositivistischen und idealistischen Sprachwissenschaft wurde bereits verwiesen) können gelten:
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Friedrich Kluge, Germanische Sprachen. In: Hoops, Reallexikon, Bd. 2, S. 187.
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– Die strukturalistischen Richtungen, die eine Wende von der diachronischen zur synchronischen Sicht herbeiführten. Ferdinand de Saussures „Cours de linguistique générale“ erschienen 1916 – mit der Unterscheidung von Sprache als System und Sprache im konkreten Gebrauch (langue und parole).33 Der Blick richtete sich nun vorwiegend auf die Ganzheit, das System – und auch in Literaturwissenschaft, Ethnologie, Geschichte etc. fand der Strukturalismus Eingang. Vgl. RGA → Wörter und Sachen.34 – Den junggrammatischen/kulturhistorischen Methodenbegriff erweiterte Johannes Hoops allerdings in einer Weise, die zukunftsträchtig war. Er ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er mit Kulturgeschichte ein Verfahren verband, bei dem sich alle beteiligten Disziplinen perspektivisch auf ein vorgegebenes Ziel hin orientierten. In „Waldbäume und Kulturpflanzen im germanischen Altertum“ formulierte er: „Denn nur wenn man jeden Augenblick imstande ist, das Licht aller in Betracht kommenden Wissenschaften auf jeden Punkt der Untersuchung zu konzentrieren, wird man zu allseitig befriedigenden Ergebnissen gelangen.“35 Hoops deutete hier eine methodologische Prämisse einer Kulturgeschichte an, die unter dem Begriff „Perspektivismus“ auch im RGA bestimmend sein sollte. Hoops – und in seiner Nachfolge das RGA – reihten sich mit dieser perspektivischen Sicht in eine Tradition ein, die weit in das 19. Jahrhundert zurückreicht. Die vergleichende Sprachwissenschaft sollte nach Hoops eine Anknüpfung an die indogermanische Urzeit ermöglichen. Die so mittels sprachgeschichtlicher, historischer und volkskundlicher Untersuchung erzielten Ergebnisse sollten durch die Verwertung archäologischer und geographischer Tatsachen ergänzt werden. Es ist ein großes Ziel, das Hoops hier formuliert – die Sprache als einzigartiges Referenzsystem für die Diskussion zugrundeliegender Kulturphänomene jeder Art und vieltausendjähriger Geschichte! Die indogermanistische Altertumsforschung ist hier weiter gediehen als die germanistische. Wenn zum Beispiel Emile Benveniste36 einen Zeitraum von fast 4000 Jahren und ein Gebiet von Zentralasien bis zum Atlantik in einer altertumswissenschaftlichen Perspektive auf sprachgeschichtlicher Basis in den 33
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35 36
Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale, 1916, deutsch: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft 1931, 2. Auflage (Berlin 1967). Vgl. auch die Hinweise auf „Strukturalismus“ im RGA, Register-Bd. 2 (Berlin, New York 2008), S. 846. Hoops, Reallexikon, Bd. 1, S. V. Emile Benveniste, Indoeuropäische Institutionen. Wortschatz, Geschichte, Funktionen. Aus dem Französischen von Wolfgang Bayer, Dieter Hornig, Katerina Menke, hrsg. und mit einem Nachwort zur deutschen Ausgabe versehen von Stefan Zimmer (Frankfurt, New York 1993).
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Blick nimmt, ist germanistisch solcher (räumlich begrenzterer) Altertumsforschung nur wenig an die Seite zu stellen (ungeachtet einer Quellenlage, die der indogermanistischen als vergleichbar an die Seite zu stellen wäre). Was den methodischen Zugriff betrifft, gibt Benveniste die Losung aus, „wo anfangs bloß eine Bezeichnung zu finden war, soll mittels der diachronischen Analyse und des Vergleichs eine Bedeutung zum Vorschein kommen. Damit wird die zeitliche Dimension zu einer Dimension der Erklärung“.37 Es ist deutlich, dass Hoops eine Vorstellung von Kulturgeschichte hatte, die dem Konzept eines von psychischen und physischen Faktoren bestimmten geschichtlichen Wandels – im Sinne von Lamprecht und Paul – entgegenkam. „Kultur“ liegt für ihn im Fluchtpunkt eines multidisziplinären Verstehens und Forschens. Die Verbindung von Vorgeschichte, Geschichte, Archäologie und philologischen Wissenschaften, Volkskunde und Geographie sollte zu einer germanischen Kulturgeschichte führen. Wenn man diesen kulturalistischen Ansatz bedenkt (und seine philologischen Wurzeln dazu), wird verständlich, was Hoops unter „organischer Verknüpfung“ der altertumskundlichen Einzeldisziplinen verstehen wollte. Es lag in der Tradition der philologischen Forschung des 19. Jahrhunderts, dem Vorwurf des „Aggregates“, das heißt des beziehungslosen Aneinanderreihens von Disziplinen, zu begegnen.38 Wenn Hoops hier von „organisch“ redet, meint er wohl genau das, was August Boeckh unter „Enzyklopädie“ verstand: „Die Encyklopädie giebt den Zusammenhang der Wissenschaft an“,39 die „Verbindung der Disciplinen“, die zu einem Ganzen gestaltet sein müssen. Aus heutiger Sicht ist dem Hoopsschen Verständnis einer germanischen Altertumskunde in einem Punkt kritisch zu begegnen: ihrer hierarchischen Organisation der altertumskundlichen Disziplinen nämlich. Hoops folgte der junggrammatischen Lehre. „Gestützt durch Rückschlüsse“ außersprachlicher Art, betonte er, würde der Blick der vergleichenden Sprachwissenschaft bis in die indogermanische Urzeit zurückreichen, das heißt diese begleitenden Wissenschaften können stützen – die Konstruktion trägt aber die vergleichende Sprachwissenschaft! Es wird deutlich, dass um die Jahr37
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Benveniste (wie Anm. 36), S. 14. Zum Germanischen vgl. etwa Gustav Neckel, Kulturkunde der Germanen auf sprachwissenschaftlicher Grundlage (Berlin 1934); Dennis Howard Green, Language and History in the Early Germanic World (Cambridge 1998). Wenn Hegel die Philologie für ein Aggregat erklärt, so scheint sich dieses Urteil auf Friedrich August Wolf (Museum der Alterthums-Wissenschaft, hrsg. von Friedrich August Wolf, Philipp Buttmann, Bd. 1 (Berlin 1807)) zu beziehen. Vgl. auch August Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hrsg. von Ernst Bratuschek (Leipzig 1877), S. 40. Boeckh (wie Anm. 38), S. 46 f.
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hundertwende der Fächerkanon der Kulturwissenschaft von der Sprachgeschichtsschreibung dominiert war. Was Paul formulierte, die Sprachwissenschaft vermöchte unter allen historischen Wissenschaften die sichersten und exaktesten Ergebnisse zu liefern,40 ist auch die Meinung von Hoops – und nicht nur die seine! Auch die anderen Wissenschaften standen unter dem Eindruck der Ergebnisse der sprachgeschichtlichen Forschung – so postulierte der Rechtshistoriker Karl von Amira in Pauls Grundriß eine Deckungsgleichheit von Sprach-, Kultur- und Rechtsgemeinschaft. Dabei steht die Sprache an erster Stelle – die Stammbaumkonstruktion der germanistischen Sprachwissenschaft41 ist nicht nur ein sprachhistorisches Modell, es hatte auch kulturhistorische Relevanz. Im RGA (24, S. 212) ist dem gegenüber von einer Demontage des Konstruktes „Germanisches Recht“ die Rede. Es beruhte ganz allein auf den Grundlagen einer in hohem Ansehen stehenden Sprachgeschichtsforschung. In dieser Gewichtung der Einzeldisziplinen dominierte letzten Endes altertumskundlich lange Zeit die schon von Jacob Grimm begründete Tradition. Für ihn stand die vaterländische Sprache (beziehungsweise der sich in ihr offenbarende Volksgeist) an erster Stelle der altertumskundlichen Disziplinen – und die (spätere) Annahme, es könne nur eine philologische Altertumskunde geben, war eine Konsequenz aus dieser Positionierung. Sprache war für J. Grimm die Verkörperung des Volksgeistes – und von ihr her wollte er die Geschichte unseres Volkes „stärker aufgeschüttelt“ sehen42. Es ist also der altertumskundliche Enzyklopädie-Begriff, der zu Hoops’ Zeiten herrschte, eine kritische Größe. So wie Boeckh das „begriffslose Aggregat“ seines Lehrers Friedrich August Wolf durch eine Neukonstruktion zu überwinden suchte,43 stellte sich auch für das RGA die Frage nach einer formalen und materialen Korrektur der an der Altertumslehre beteiligten Disziplinen. Die Problematik lässt sich festmachen an den Begriffen Ethnologie und Sprachgeschichte. Zur Ethnologie: Die Anknüpfung an die indogermanische Urzeit sieht Hoops ermöglicht durch eine „vergleichende Heranziehung der Zustände bei primitiven Volksstämmen der Gegenwart“.44 Dieses ethnographische Argument ist auch für Lamprecht ein Faktor, den er im Vorwort seiner Deutschen Geschichte so formuliert: 40 41
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Paul, Prinzipien (wie Anm. 12), S. 16. Vgl. Karl von Amira, Recht. In: Hermann Paul, Grundriß der Germanischen Philologie, 2., verbesserte und vermehrte Auflage, Bd. 3 (Strassburg 1900), S. 56. Vgl. auch die 4. Auflage, Bd. 5/1 und 2, 1960 und 1967. Jacob Grimm, Geschichte der deutschen Sprache, Bd. 1 (Leipzig 1848), S. XIII. Boeckh (wie Anm. 38), S. 52–72. Hoops, Reallexikon, Bd. 1, Vorwort, S. VI.
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Urgeschichtliche Forschung ist heute auch völkerkundliche Forschung: denn ohne eine eingehende Kenntnis der Entwicklungsmomente jener Völker, welche mit den Germanen der Urzeit auf gleicher oder verwandter Kulturstufe standen oder stehen, ist heutzutage das höchste eben noch erreichbare Verständnis der Quellen zur ältesten deutschen Geschichte nicht mehr zu denken.45
Das Problem liegt in heutiger Sicht in dem Begriff der „Entwicklungsmomente“. Die kulturgeschichtliche Wende zu Lamprechts/Pauls Zeiten war weitgehend vom Gedanken eines kulturellen Evolutionismus bestimmt. Johann Jakob Bachofen hatte diese Richtung maßgeblich mit seiner Arbeit „Das Mutterrecht“ (1861) bestimmt.46 Die Beiträge „Avunkulat“ und „Mutterrecht“ im Hoops (verfasst von dem Tübinger Rechtshistoriker Siegfried Rietschel) verhalten sich zwar distanziert gegenüber einer mutterrechtlichen Analyse germanischer und germanisch-bezogener Quellen (eine besonders diskutierte Quelle war Tacitus, Germania, c. 2047), eine deutliche Überwindung erfuhr das Konzept jedoch erst im RGA (→ Avunkulat, → Gesellschaft, → Sippe, → Verwandtschaft). Enzyklopädisch/methodologisch gesehen, wird eine heutige Kulturgeschichte sich vom kulturgeschichtlichen Aufbruch um 1900 darin unterscheiden, dass sie „Kulturstufen“ zwar konstatiert, diese aber nicht nach bestimmten Entwicklungskriterien von „primitiv“ bis „gegenwärtig/fortschrittlich“ skaliert werden. Der ethnologische Vergleich kann einer differenzierten Beschreibung dienen, nicht aber eine entwicklungsgeschichtliche Konzeption vorgeben. Das enzyklopädisch/methodologische Verständnis betrifft auch den Stammesbegriff. Der Hoops verstand darunter „nationale Einheiten mittlerer Größe“, das heißt, staatliche Gebilde, die sich mit Schluss der Völkerwanderung aus den zahllosen kleinen Völkerschaften der germanischen Zeit gebildet hatten. Bis zum Ende des 12. Jahrhunderts sei der Stamm dann eine fundamentale staatsrechtliche Größe geblieben. Hier wird im Hoops die Stammesbildung bereits als ein Integrationsprozess verstanden, in dessen Verlauf zunächst stammfremde Elemente „eingeordnet und nationalisiert“ wurden – gelegentlich unter einem gewissen Druck oder Gegendruck Roms! Das kommt dem Wenskus-Konzept der „Stammesbildung und Verfassung“ und neueren Arbeiten schon nahe. Zur heutigen Sicht vgl. RGA → Stammesbildung, Ethnogenese. 45 46
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Lamprecht, Deutsche Geschichte (wie Anm. 23), S. XV. Johann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur (Stuttgart 1861). Die Germania des Tacitus, erläutert von Rudolf Much, 3., beträchtlich erweiterte Auflage, unter Mitarbeit von Herbert Jankuhn, hrsg. von Wolfgang Lange (Heidelberg 1967), S. 297 f. Vgl. dazu auch Schrader, Reallexikon, 2. Auflage (wie Anm. 3), s.v. Oheim.
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Zu den enzyklopädisch/methodologischen Disziplinen der Philologie zählt auch die schon genannte Sprachgeschichte. Die Forschungslage, in die der Hoops gebettet war, zeigte sich einerseits in der Grimmschen Verbindung von Sprache, Dichtung und Recht in ihrer jeweiligen stammlichen Gebundenheit, andererseits in dem Führungsanspruch der Sprachwissenschaft in dieser Trias. Much, der die germanistische Sprachgeschichte im Hoops souverän vertrat, ging selbstverständlich von der Gleichung aus: Stamm = ethnisch-biologische Einheit. Man sprach von „Ethnonymen“ (Hoops → Völkernamen – beziehungsweise einzelne Volksnamen: → Alemannen, → Ambronen, → etc.). Im RGA stellte Reinhard Wenskus die Sprachgeschichte kräftig in den Dienst der Historie – und das im Blick auf die Eigennamen (Propria) und die Gattungsnamen (Appellativa). Im appellativischen Bereich waren ihm unter anderem die herrschaftlichen Bezeichnungen wichtig. Dabei wird ein germ. *kuningaz vorausgesetzt, das vermutlich „eines der Wörter war, die ursprünglich den princeps bezeichneten und dessen Aufstieg zum Heerkönig begleitete, wobei im Westen Germaniens der alte Ausdruck *þeudanaz verdrängt wurde“.48 Hier konnte Stefanie Dick 2008 auf einen breiteren Forschungsstand verweisen, der eine gotische Entsprechung dieser Königsbezeichnung in Frage stellt – und man könnte anfügen, dass auch das Nordgermanische erst in historischer Zeit diesen Terminus übernommen zu haben scheint.49 Auch im proprialen Umfeld glaubte Wenskus Indikatoren stammspezifischer Zugehörigkeit entdecken zu können (dies besonders in weiteren Arbeiten50). Hermann Reichert kam in einer Untersuchung zu „Nomen et gens im Urgermanischen?“ zum Schluss, dass dieses Prinzip zu einfach sei, um der Wirklichkeit gerecht zu werden.51 Über den Propria-Transfer von Heldennamen im germanischsprachigen Raum handelte (mit unverminderter Gültigkeit) Andreas Heusler vor rund 100 Jahren.52 Wenn J. Hoops für die „Verbindung“, die „Fühlungnahme“, die „organische Verknüpfung“ der Fächer warb und dabei besonders an die Archäologie und ihre Verbindung mit den übrigen Kulturwissenschaften, 48 49
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Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung (Köln 1961), S. 320. Stefanie Dick, Der Mythos vom „germanischen“ Königtum. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 60 (Berlin, New York 2008). Reinhard Wenskus, Wie die Nibelungen-Überlieferung nach Bayern kam. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 36, 1973, S. 393–449. Hermann Reichert, „Nomen et gens“ im Urgermanischen? In: Name und Gesellschaft im Frühmittelalter, hrsg. von Dieter Geuenich, Ingo Runde. Deutsche Namenforschung auf sprachgeschichtlicher Grundlage, Bd. 2 (Hildesheim u.a. 2006), S. 117. Andreas Heusler, Heldennamen in mehrfacher Lautgestalt. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 52, 1910, S. 97–107.
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besonders der vergleichenden Sprachwissenschaft, dachte, sprach das den archäologischen Herausgeber des RGA 60 Jahre später an. Es erklärt auch, warum in der Neuauflage (1. Band, 1973) drei volle Seiten des Hoops-Vorwortes von 1911–1913 in uneingeschränkter Zustimmung zum Wiederabdruck gelangten. Vgl. zum heutigen Stand Rolf Hachmann (Hrsg.), Studien zum Kulturbegriff in der Vor- und Frühgeschichtsforschung, Bonn 1987 Saarbrücker Beiträge zur Altertumskunde 48. So sehr manche der zeitbedingten und disziplinär geprägten Positionen des Hoops heute als fragwürdig, ja als überholt bezeichnet werden müssen, so sehr ist der konzeptionelle Begriff einer Kulturwissenschaft auf den Fundamenten einer durch „Fühlungnahme“ geprägten Fächerverbindung und einer perspektivisch orientierten Methodenvielfalt auch für das RGA bestimmend geblieben – mit anderen Worten: Das RGA steht – in diesem Sinne – in einer Tradition von Kulturgeschichte, die bedeutende und immer noch aktuelle Ergebnisse aufzuweisen hat. Andererseits ist auch der Abstand zwischen Hoops und RGA in den methodischen Voraussetzungen und den einzelnen sachgeschichtlichen Beurteilungen so groß, dass es kaum erlaubt ist, von einer geradlinigen Weiterführung zu sprechen. Dies wird in den folgenden Ausführungen noch deutlicher zu belegen sein. Dabei wird die Bestimmung des Fluchtpunktes, in dem sich die unterschiedlichen Perspektiven treffen sollten (im „Volksgeist“ nämlich), eine wichtige Rolle spielen. Beispielhaft sei hier ein Fall diskutiert, der Bestand und Wandel in einer halbhundertjährigen Kulturgeschichte zu illustrieren vermag. Das 19. Jahrhundert beschäftigte lebhaft die Frage nach dem Alter des Getreideanbaus – und damit auch des Ackerbaus und dem damit verbundenen Übergang zur Sesshaftigkeit. Die Ergebnisse der vergleichenden Sprachwissenschaft machten es für Hoops zweifelsfrei klar, dass es bereits einen urindogermanischen Getreideanbau gegeben habe – „urindogermanisch“ bedeutet hier die Zeit vor der Scheidung in einen europäischen und einen asiatischen Zweig des Indogermanischen (in absoluter Chronologie also Neolithikum). Dieser Anbau sei auch bereits unter dem Zeichen des (Haken-)Pfluges gestanden. Es sind sprachliche Argumente, die diese Schlüsse tragen. Eine Schwierigkeit zeigt Hoops aber selbst auf: Die europäisch-indogermanischen Idiome besitzen eine Reihe von übereinstimmenden Ackerbauausdrücken, die den asiatisch-indogermanischen Sprachen fremd sind. Diese asiatischen Sprachen haben unter sich eine Anzahl eigentümlicher Wörter entwickelt, die den europäischen fremd sind; und weiter ist festzustellen, dass eine recht bedeutende Menge urindogermanischer Ausdrücke sich auf die Viehzucht bezieht. Schrader folgerte, ein eigentlicher Ackerbau habe sich erst nach Abzug der arischen Völker bei den Europäern entwickelt, so dass die europäischen Ackerbaugleichungen als Neubildungen aufzufassen sind, die den
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Ariern fremd waren. Hoops argumentiert: die Arier machten nach ihrer Trennung vom Hauptstock der Indogermanen eine Nomadenperiode durch, und dabei verloren sie urindogermanische Ackerbau-Ausdrücke wieder. Der sprachliche Befund ist – mit anderen Worten – interpretierbar und absolut nicht eindeutig.53 Das von Victor Hehn54 (1813–1890) entworfene Kulturbild ruht auf anderen Prämissen – und damit rückt neben der philologisch-sprachwissenschaftlich orientierten Altertumskunde eine zweite Konzeption in den Gesichtskreis, die von der historischen Basis der klassischen Literatur ausgehend die sprachwissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Disziplinen mit ihren Ergebnissen zu interpretieren versuchte. Nach dieser Konzeption kannten die Indogermanen vor der genannten Trennung den Ackerbau noch nicht – und auch die europäischen Indogermanen übten anfänglich nur eine primitive Bodenkultur. Die Kultur der wichtigsten Nutzpflanzen und die Domestikation zahlreicher Haustiere habe im Orient begonnen und den Weg nach Griechenland und Italien und das übrige Europa genommen. Auch jene Pflanzen und Tiere selbst sind an der Hand des Menschen und zwar erst in historischer Zeit die gleichen Wege gewandert.55 Methodisch machte sich Hehn besonders die sprachliche Lehngutforschung zueigen und verband sie mit Argumenten literarischer Tradition. Die Spuren dieser Zustände suchte er dann in der Überlieferung des klassischen Altertums, der Kelten, Germanen usw. wiederzufinden.56 Betrachtet man auf diesem Hintergrund die Hoops-Artikel „Ackerbau“, „Agrarverfassung“, „Getreide“ und „Gerste“, so wird mit diesen Beiträgen Ackerbau und Sesshaftigkeit in neolithischer Ära postuliert und als Ergebnis sprachwissenschaftlicher und archäologischer Forschung als bewiesen betrachtet. Ein Vorrang der sprachgeschichtlichen Argumentation ist (unter den genannten Prämissen) deutlich. Hoops trug selbst wesentlich bei (als Allein- oder Mit-Verfasser).57
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Vgl. zu dem Problem auch Gottfried Schramm, Sprachliche Spuren des Einzugs von Ackerbau und Viehzucht in Binneneuropa. In: Saeculum 59, 2008, S. 177–199 (eine Argumentation unter Einbeziehung der alteuropäischen Hydronymie). Victor Hehn, Kulturpflanzen und Haustiere in ihrem Übergang aus Asien nach Griechenland und Italien sowie in das übrige Europa. Historisch-linguistische Skizzen (Berlin 1870). Hehn, Kulturpflanzen (wie Anm. 54), 8. Auflage neu hrsg. von Otto Schrader (Berlin 1911), S. V. Hehn, Kulturpflanzen (wie Anm. 54), S. XX. Johannes Hoops, Waldbäume und Kulturpflanzen im germanischen Altertum (Straßburg 1905), S. 352.
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In seiner großen Arbeit von 190558 äußert sich Hoops zu seiner Methode: Wenn wir nun aus einer Vergleichung der Kulturwörter der verschiedenen germanischen Sprachen Rückschlüsse auf die Kulturzustände des germanischen Urvolkes vor der Trennung machen wollen, so dürfen wir offenbar aus dem übereinstimmenden Vorhandensein eines Wortes in sämtlichen Dialekten einschließlich des Gotischen unbedenklich den Schluß ziehen, dass das betreffende Wort und die damit bezeichnete Sache den Germanen schon vor ihrer Trennung in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten bekannt war. … Weit häufiger ist der Fall, dass ein Name dem Deutschen, Englischen und Nordischen gemeinsam ist. So ist es beim Roggen, bei der Bohne, der Möhre, dem Lauch, dem Lein und dem Hanf. Auch hier werden wir in der Mehrzahl der Fälle annehmen dürfen, dass das betreffende Wort der germanischen Grundsprache angehörte und nur zufällig im Gotischen nicht bezeugt ist. Doch ist dieser Schluß nur dann gesichert, wenn die sprachliche Übereinstimmung sich auf prähistorische Funde, literarische Zeugnisse oder sprachliche Erwägungen allgemeiner Natur stützen kann, da Pflanze und Name an sich recht wohl erst in späterer Zeit nach dem Norden gelangt sein könnten.
Diese Formulierung zeigt nicht nur des Autors Verständnis der Hierarchie der beteiligten Fächer (Ergebnisse der prähistorischen Forschung können durch die Sprachwissenschaft „nicht unwesentlich berichtigt und vervollständigt werden“59), bedeutsamer ist der „unbedenkliche Schluß“ vom Wort auf die Sache! Daran ändert sich auch wenig, wenn bei den „sprachlichen Erwägungen“ Einschränkungen erkennbar werden (wie beim Urteil über den indogermanischen Ackerbau) und die Bestätigung in Gestalt prähistorischer Funde herangezogen werden muss. Methodisch und sachlich steht daher Hoops der Tradition der „linguistischen Paläontologie“, die Schrader mehrfach in ihrem historischen Werdegang kritisch nachgezeichnet hatte,60 sehr nahe. Der aufmerksame Leser wird das Wörter-Sachen-Konzept und die auf sprachlichen Gleichungen beruhenden Schlussfolgerungen in vielen Beiträgen des Herausgebers Hoops finden und wohl auch deren Problematik erkennen. Wenn im 20-spaltigen Beitrag die „Gerste“ als das Hauptgetreide der Indogermanen deklariert wird und gleichzeitig erklärt wird, dass es eine einheitliche Bezeichnung dieser Sache im Indogermanischen nicht gegeben habe (und auch im Germanischen eine einheitliche gemeingermanische Be58 59 60
Hoops, Waldbäume (wie Anm. 57), S. 457. Hoops, Waldbäume (wie Anm. 57), S. 462 ff. Otto Schrader, Sprachvergleichung und Urgeschichte. Linguistisch-Historische Beiträge zur Erforschung des indogermanischen Altertums, 1. Auflage (Jena 1883; 2. Auflage 1890; 3. Auflage 1907). Vgl. auch RGA 15, Artikel „Indogermanische Altertumskunde, § 2“ (Rüdiger Schmitt).
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zeichnung für die Gerste fehle), spricht das nicht für Schlüssigkeit und Eindeutigkeit der Methode. Für den Hafer haben die deutschen und nordischen Sprachen eine übereinstimmende Bezeichnung (ahd. habaro, anord. hafri etc.), das Englische weicht ab (altengl. āte, neuengl. oat). Hoops bemerkt: Man müsste aus dem Fehlen dieses Namens im Angelsächsischen, wenn sonst keine Zeugnisse vorlägen, unbedingt den Schluss ziehen, dass der Hafer den Angelsachsen erst in Britannien bekannt geworden sei, und dass er sich erst nach der Auswanderung der Angelsachsen von Deutschland nach Nordeuropa verbreitet haben könne. Dem widerspricht die sichere archäologische Tatsache, dass er schon zur Bronzezeit in Dänemark kultiviert wurde.61
Wäre nicht die „archäologische Tatsache“, käme eine sprachhistorisch völlig abwegige Beurteilung zustande. Offensichtlich ist der Wortschatz eine so bewegliche Größe, dass Schlussfolgerungen auf seiner Basis grundsätzlich der Bestätigung weiterer Disziplinen bedürfen. Schrader mahnte daher einen „besonnenen“ Umgang mit der sprachvergleichenden Methode an und wies auf Schwächen hin. Vorbildlich war ihm die genannte Arbeit seines Lehrers Hehn.62 Schrader sprach von einem „ausgezeichneten, in jeder Beziehung die linguistisch-historische Forschung in neue Bahnen leitenden Werke“.63 Er sah bei Hehn eine Relativierung der Vorstellung einer auf rein sprachlicher Komparatistik aufgebauten Kulturgeschichte und die Hinwendung zu den historischen Nachrichten der antiken Schriftsteller.64 In dem konkreten Falle des Ackerbaues zieht Hehn aus den feststellbaren Wortgleichungen nicht den Schluss einer gemeinsamen Kulturentwicklung, argumentiert vielmehr für eine Schicht ältester Lehnwörter, die unter den Stammverwandten weiter vermittelt wurden (und die so nicht für gemeinsamen Ursprung sprechen könnten). Für Schrader ist damit die alte linguistische Paläontologie tot. In ihrer Weiterentwicklung postulierte er eine „Indogermanische Altertumskunde“, die im Sinne Hehns die Sprachvergleichung mit der antiken Historiographie ebenso zu verbinden habe wie die linguistische Paläontologie mit einer archäologischen Paläontologie.65 Schrader publizierte auf dieser Grundlage sein „Reallexikon der indogermanischen Altertumskunde“ (1901), das nach weiteren Vorarbeiten Schraders (er verstarb 1919) in 2., vermehrter und umgearbeiteter Auflage von 61 62
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Hoops, Waldbäume (wie Anm. 57), S. 460, vgl. auch S. 406, 434, 451. Hehn, Kulturpflanzen (wie Anm. 54) in erster Auflage 1870, von der 6. Auflage (1894) an hrsg. von Otto Schrader. Victor Hehn starb 1890. Schrader, Sprachvergleichung (wie Anm. 60), 3. Auflage (Jena 1907), S. 34. Schrader, Sprachvergleichung (wie Anm. 60), S. 47. Schrader, Sprachvergleichung (wie Anm. 60), S. 210.
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Alfons Nehring herausgegeben wurde.66 Es ist bezeichnend, dass weder Schrader noch Nehring am Hoopsschen Reallexikon in irgendeiner Weise beteiligt waren. Schrader rezensierte die „Waldbäume und Kulturpflanzen“ von Hoops in der Deutschen Literaturzeitung von 1906 durchaus positiv, sprach von einem inhaltsreichen und gediegenem Werk, merkte aber ebenso kritisch und entschieden an: „Wie oft muß der Verf. den sprachlichen Tatsachen gegenüber selbst das völlige Versagen der Funde konstatieren!“67 Das heißt nichts anderes als eine grundsätzliche methodische Kritik Schraders an der Hoopsschen Priorität der vergleichenden Sprachwissenschaft. Wenn Hoops die schwierige Frage nach der Urheimat der Indogermanen mit drei Argumenten zu beantworten sucht: – dem sog. Buchen-Argument (westlich der Grenze Königsberg-Odessa verlaufe diese Heimat), – dem Argument, der urindogermanischen Ackerbau beschränke sich auf den Anbau von Gerste, Weizen und Hirse und kehre während der jüngeren Steinzeit nur in Mittel- und Nordeuropa wieder, – dem Argument, das Hauptgetreide der Indogermanen, die Gerste, weise auf kurze Sommer und damit auf Norddeutschland und Nordeuropa, dann lässt sich Schrader davon „in keiner Weise“ überzeugen – und dies nicht zuletzt aus Gründen einer für ihn überholten linguistischen Paläontologie.68 Den Prämissen des Schraderschen Altertumskundebegriffes entspräche J. Hoops’ Konzept nur bedingt. Der Multidisziplinarität in Schraders altertumskundlicher Sicht würde Hoops nicht gerecht werden – die Einschätzung der Ergebnisse sprachgeschichtlicher Komparatistik bedeuteten für Hoops mehr als nur Gleichwertigkeit im disziplinären Kontext! O. Schrader hatte dem gegenüber eine differenziertere Sicht der linguistisch-historischen Forschung und der Sprach- und Sachforschung im Besonderen. Rückblickend lässt sich feststellen, dass er damit die zukunftsträchtigere Konzeption vertrat und einen Altertumskunde-Begriff aktuellerer Sicht praktizierte. Es macht den Wert des Reallexikons der indogermanischen Altertumskunde von Otto Schrader und Alfons Nehring aus (in 2. Auflage, Berlin, 66 67 68
Schrader, Reallexikon, 2. Auflage (wie Anm. 3). Otto Schrader in Deutsche Literaturzeitung 27, 1906, S. 363. Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass 1905 der 1. Band des damaligen außerordentlichen Professors für indogermanische Sprachen in Leipzig Hermann Hirt erschien: Die Indogermanen. Ihre Verbreitung, ihre Urheimat und ihre Kultur (Strassburg 1905); der 2. Band erschien Strassburg 1907. Schraders Urteil darüber war scharf und ablehnend: „Es ist ein misslungenes Buch!“ Vgl. Schrader (wie Anm. 67), S. 432–438.
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Leipzig, 1917–1929), dass es dieser fortschrittlicheren Konzeption einer „besonnenen“ sprachvergleichenden Methode einerseits, einer ebenso kritisch historiographisch argumentierenden andererseits gerecht zu werden versuchte. Es hat bis auf den heutigen Tag keine Neubearbeitung erfahren. Das RGA traf auf eine indogermanistische Forschungssituation, in der die Verknüpfung von Sprach- und Sachforschung auch methodologisch eine neue Bewertung erfuhr. Das Wörter und Sachen-Konzept erlaube demnach keinen einfachen Schluss von Wörtern auf Sachen. Das Sprachmaterial kann „nur die Kenntnis der Begriffe, nicht eine Aussage über die Beschaffenheit der Sachen selbst vermitteln“ formuliert Rüdiger Schmitt (RGA 15 → Indogermanische Altertumskunde, § 2, S. 387. Vgl. auch RGA 34 → Wörter und Sachen, RGA 14 → Hehn, Victor, RGA 27 → Schrader, Otto). Die Rede von der „sogenannten“ Linguistischen Paläontologie zeigt an, dass die Gesamtdisziplin „Indogermanische Altertumskunde“ heute sachlich und methodisch auf neuer Grundlage argumentiert.
II. Die Philologie im Gefüge des RGA Drei Disziplinen sollten in der Vorstellung der Herausgeber die germanische Altertumskunde repräsentieren: die Philologie, die Historie und die (prähistorische) Archäologie. Der Philologie-Begriff hatte seit Ende des 18. Jahrhunderts Wandlungen durchlaufen, die auch die Konzeption der Altertumskunde berührten. Dieses Wechselverhältnis soll unter drei Gesichtspunkten beachtet werden: A. Philologie und Enzyklopädie B. Philologie und Altgermanisch C. Philologie und Germanentum
A. Philologie und Enzyklopädie Die Philologie hat eine lange Geschichte, und weder der Hoops noch das RGA gingen voraussetzungslos mit dieser Disziplin um. Das fachliche Gepräge hat die Philologie zunächst im Zusammenhang der sich etablierenden klassischen Altertumswissenschaft erhalten – der geschichtliche Werdegang der „Altertumskunde“ steht zur „Altertumswissenschaft“ in einer deutlichen Beziehung. Es ist ein Verdienst des Hallenser Professors Friedrich August Wolf, der klassischen Altertumswissenschaft ein neues Fundament gegeben zu haben, das zwar heftige Diskussionen auslöste, in seinem Gefüge aber doch zu-
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kunftsträchtig war.69 Zwei altertumskundliche Aspekte wurden in der von Wolf vertretenen Position heftig diskutiert: – die enzyklopädische Konzeption der Altertumswissenschaft – das methodologische Verständnis von „Philologie“ 1787 schuf Wolf erstmals ein „Philologisches Seminar“ und trug damit wesentlich dazu bei, den Beruf des Philologen als eines wissenschaftlichen Lehrers, der sich vom Theologen unterschied, zu begründen.70 Die Orientierung am Menschenideal des klassischen Altertums, das Streben nach Humanität am Beispiel der Griechen und Römer, forderten eine Disziplin, die den ganzen Umfang jener Geschichtsära umfassen sollte: Geschichte und Literatur, Geographie und Mythologie, Archäologie und Kunst usw. – mit anderen Worten eine umfassende „Encyclopaedia philologica“ war im Visier. Der Überblick über die sämtlichen Teile der Altertumswissenschaft umfasste in der Wolfschen Konzeption 24 Teilbereiche. Der auch damals gängige enge Begriff von „Philologie“ (im Sinne von Literatur oder Sprachenkunde) erhielt in der Wolfschen Prägung eine Weite, die das gesamte Erbe des klassischen Altertums in den Blick nahm.71 Der weitere Weg der Philologie-Diskussion führt direkt zu einem Schüler Friedrich August Wolfs – von der berühmten, bereits 1694 gegründeten Alma mater Halensis zu der 1810 die Arbeit aufnehmenden Berliner Neugründung, an der der Wolfschüler August Boeckh zur Verwirklichung des neuhumanistischen Bildungsideals Wilhelm von Humboldts beitrug – als Vertreter einer Altertumswissenschaft, die das Konzept Wolfs aufgriff und kritisch weiter beförderte (auch Wolf war an der Gründung der Berliner Universität beteiligt). Achtzehnmal hielt Wolf die Vorlesung zu einer Encyclopaedia philologica, in welcher der gesamte Kreis der altertumskundlichen Disziplinen systematisch dargestellt, dann die einzelnen Fächer in ihrem Anliegen, ihrer Spezifik, ihrer gegenseitigen Verbindung und ihren Hilfsmitteln erfasst und schließlich die zweckmäßigsten Formen, sich mit ihnen zu beschäftigen, erörtert wurden.72
Diese Tradition nahm A. Boeckh (1810 in Berlin zum Ordinarius für klassische Philologie berufen) auf. In 26 Semestern hielt er bis 1865 Vorlesungen, 69
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Vgl. Manfred Fuhrmann, Friedrich August Wolf. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 33, 1959, S. 187–236. Johannes Irmscher, im „Nachwort“ zu Friedrich August Wolf, Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert, Dokumente der Wissenschaftsgeschichte, hrsg. von Christa Kirsten, Kurt Zeisler (Berlin 1985), S. 7. Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, 13 Bde (Darmstadt 1971–2007), Bd. 3, s.v. Humanismus, Humanität (Rudolf Romberg). Johannes Irmscher (wie Anm. 70), S. 7.
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die er „in letzter Ausprägung als Encyclopaedia et methodologia disciplinarum philologicarum“ verstand.73 Aus Boeckhs Nachlass und eigenen Nachschriften publizierte sein Schüler Ernst Bratuscheck 1877 die Vorlesungen unter dem Titel „Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften“. Boeckhs Kritik richtete sich zunächst gegen die 24 Teile, die nach Wolf die „Alterthums-Wissenschaft“ ausmachen sollten. Es muß bei der Kritik erwogen werden, ob das, was aufgestellt ist, wirklich Disziplinen sind, und ob sie einzeln eine bestimmte Einheit des Begriffes haben, endlich ob sie auch wirklich unter den gemeinsamen Begriff der Philologie fallen. Es fehlt im Wolfschen Konzept aber sowohl den einzelnen aufgestellten Disziplinen als auch dem Ganzen, das sie bilden sollen, der wissenschaftliche Zusammenhang,
urteilte Boeckh.74 Boeckhs berechtigte Kritik galt also vorrangig der gepriesenen Wolfschen Konzeption, der er eine enzyklopädische Einheitsidee absprach. Wolf ̕s Schrift über die Encyklopädie zeigt den praktischen Kenner der Wissenschaft, den Virtuosen in der philologischen Kunst und den geistreichen Mann; nur für den Aufbau der Wissenschaft kann ihr keine Stimme gegönnt werden.75
Welche Vorstellungen verband nun der Kritiker Boeckh mit dem „Begriff der Encyklopädie“? Die Encyklopädie gibt den Zusammenhang der Wissenschaft an, bemerkt er. Sie entwirft das Ganze mit großen Strichen und Zügen. Aufgabe der Philologie ist es, zu zeigen, dass alles von einer Idee durchdrungen ist. Das Bewusstsein vom Zusammenhang des Ganzen, das volle Verständnis der enzyklopädischen Übersicht führt zur Blüte des philologischen Studiums. In dem Erkennen des vom menschlichen Geist Produzierten, d. h. des Erkannten, in der historischen Konstruktion des ganzen Erkennens und seiner Teile und in dem Erkennen der Ideen, die in demselben ausgeprägt sind, liegt der höhere Zweck der Philologie – die also mit der Geschichte im allgemeinsten Sinne zusammenfällt! Alle Linien der besonderen Wissenschaften fasst sie in einem Bündel, wie die Radien eines Kreises, zusammen und legt sie von einem Mittelpunkt aus: dem Volksgeist.76 73
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Boeckh (wie Anm. 38), S. III; Johannes Irmscher, Die griechisch-römische Altertumswissenschaft am Übergang vom Klassizismus zum Historismus. Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Gesellschaftswissenschaften, 1986, Nr. 4/G, S. 9. Boeckh (wie Anm. 38), S. 40. Boeckh (wie Anm. 38), S. 44. Boeckh (wie Anm. 38), S. 21 und öfter.
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Dabei galt für Boeckh (ebenso wie für Wolf), dass der höchste Ausdruck der Erkenntnis in der Sprache, dem gesprochenen oder geschriebenen Wort, liege – ihr gelte der ursprünglichste philologische Trieb.77 Altertumswissenschaft ist mit anderen Worten in ihrem enzyklopädischen Charakter keineswegs eine Aggregatswissenschaft. Dieser von Hegel erhobene Vorwurf (das Aggregat-Konzept betreffend) war wohl gegen den Wolfschen „Überblick sämtlicher Teile der Altertumswissenschaft“ gerichtet. Boeckh suchte dieser Kritik mit seinem Konzept der Philologie zu begegnen. Die Aggregatskritik hat die methodische Besinnung aller altertumskundlichen Arbeiten des 19. Jahrhunderts weiter bewegt – dagegen wurde gesetzt der Enzyklopädiegedanke und die damit korrespondierende Idee einer umfassenden Philologie, die sich in allgemeinster Form (und in Boeckhs Worten) als das „Erkennen des Erkannten“ definierte. Das war das Erbe, das die neuhumanistische Bewegung im Werk von Friedrich August Wolf und August Boeckh der Nachwelt (auch in ihrer altertumskundlichen Konzeption) vermachte. Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm erreichte 1840 ein Ruf Friedrich Wilhelms IV von Preußen – ein Ruf, dem sie 1841 auch folgten. Im selben Jahr wurden sie zu ordentlichen Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften ernannt. 1843 begannen die Brüder als Mitglieder der Akademie ihre Vorlesungen an der Friedrich Wilhelm-Universität (Jacob beendete seine Vorlesungstätigkeit bereits 1848, Wilhelm 1852). Akademie, Universität und die Berliner Gesellschaft führten für die Brüder zu persönlichen Kontakten nicht nur zu August Boeckh,78 auch Karl Lachmann und Karl Müllenhoff gehörten zu den Gesprächspartnern, die den künftigen Kurs der Altertumskunde mitbestimmten. Dabei scheint das Grimmsche AltertumskundeKonzept in seiner Eigenständigkeit zunächst kaum Beziehungen zum neuhumanistischen Programm eines August Boeckh aufzuweisen. Es zeigt sich aber bei näherer Betrachtung, dass die theoretische Fundierung einer solch neuen Wissenschaft auch im germanistischen Bereich im Gesamtzusammenhang der klassischen Diskussion zu sehen ist – und Stadien der Entwicklung durchläuft, die im klassisch-altertumswissenschaftlichen Bereich 77
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Boeckh (wie Anm. 38), S. 11; Friedrich August Wolf, Darstellung der Alterthumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert. Museum der Alterthumswissenschaften 1, 1807, S. 34 f. Jacob Grimm, Reden in der Akademie, ausgewählt und hrsg. von Werner Neumann, Hartmut Schmidt (Berlin 1984), S. 33, 328, 331, 333; Wilhelm Hansen, Die Brüder Grimm in Berlin. In: Brüder Grimm Gedenken 1963. Gedenkschrift zur Hundertsten Wiederkehr des Todestages von Jacob Grimm, hrsg. von Ludwig Denecke, InaMaria Greverus (Marburg 1963), S. 227–307. Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm und Boeckh. In: Neue Heidelberger Jahrbücher 11, 1902, S. 211–266.
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bereits Geschichte waren (auch die Geschichtswissenschaft nahm in der Person von Johann Gustav Droysen die Tradition von August Boeckh auf. Vgl. Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, 2. Auflage hrsg. von Rudolf Hübner (München, Berlin 1943). Siehe weiter Christiane Hackel, Die Bedeutung August Boeckhs für den Geschichtstheoretiker Johann Gustav Droysen. Die Enzyklopädie-Vorlesungen im Vergleich. Diss. (Würzburg 2006)). Während Boeckh von Altertumswissenschaft, Altertumskunde und auch von Altertumslehre (im Blick auf die materialen Disziplinen dieser Wissenschaft) sprach und sich dabei auf das klassischer Altertum bezog,79 sprach J. Grimm gelegentlich auch von einer „deutschen alterthumswissenschaft“,80 auch von einem „germanischen alterthum“.81 So sehr sich Boeckh bewusst war, im Entwurf einer „formalen Theorie der philologischen Wissenschaft“ allgemeine Gesetze des Verstehens entwickeln zu müssen, so sehr betonte er auch in der Darstellung der materialen Disziplinen der Altertumslehre die Konzentration auf die „Philologie des Altertums“ als einer zeitlich und räumlich begrenzten Menschheitsära. Anders stellte sich die Situation für J. Grimm dar. Er war beherrscht von dem Gedanken eines „inneren Wachstums“, das ein germanisches Altertum über gewisse Entwicklungsschritte bis zur Gegenwart durchwaltete. Die Vorrede zu seiner „Deutschen Mythologie“ beschließt Grimm mit dem Satz: „Weil ich lernte, dass seine sprache, sein recht und sein alterthum viel zu niedrig gestellt waren, wollte ich das vaterland erheben“.82 Wo Boeckh das klassische Altertum und seine Bildungsgüter mit den Werkzeugen des Historikers lebendig machen wollte, trat bei Grimm das weltanschaulichvaterländische Moment in den Vordergrund. Dies beeinflusste auch die Auffassung der enzyklopädischen und methodologischen Grundlagen seiner „deutschen Altertumswissenschaft“. Es waren die Vorträge auf den Germanistenversammlungen zu Frankfurt (1846) und Lübeck (1847), denen J. Grimm vorstand, die das Verständnis des Begriffes „Germanistik“, seine Inhalte und Methoden, deutlich demonstrierten. Enzyklopädisch bilden das deutsche Recht, die vaterländische Geschichte und die Philologie (im engeren Sinne) eine Einheit. Grimm sah 79
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Eine zufällige Beschränkung, die Raum lässt auch für eine weiteren Gebrauch, vgl. Boeckh (wie Anm. 38), S. 12, 20 f. Gelegentlich einer 1817 gemachten Anzeige eines gotischen Sprachfundes, vgl. Jacob Grimm, Kleinere Schriften, Bd. 7: Recensionen und vermischte Aufsätze, hrsg. von Eduard Ippel (Berlin 1884, Nachdruck Hildesheim 1991), S. 595. Vgl. Jacob Grimm, Deutsche Mythologie, Bd. 1, 4. Ausgabe, besorgt von Elard Hugo Meyer (Berlin 1875, Nachdruck 1953), S. XXV. Grimm, Deutsche Mythologie (wie Anm. 81), S. XII.
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die verbindende Idee dieser Disziplinen zunächst im Gegensatz zu den „genauen Wissenschaften“ (Mathematik, Chemie, Physik) darin, dass sie „fester auf dem boden des vaterlandes“ stehen, dass sie uns „inniger an alle heimischen gefühle“ binden – oder mit anderen Worten: „das menschliche in sprache, dichtung, recht und geschichte steht uns näher zu herzen als thiere, pflanzen und elemente; mit denselben waffen siegt das nationale über das fremde“.83 Eine weitere Charakteristik betrifft den Zusammenhang aller dieser geistigen Tätigkeiten. Alle sind sie aus einem Ursprung erwachsen: Recht, Glaube und Sprache – sie bilden die bestimmenden Faktoren des geistigen Lebens eines Volkes: denn wie die Sprache, eine lautere Kraft des menschlichen Denkvermögens gewaltig entsprungen, in Poesie und Rede endlose Wurzel geschlagen hat, wie der Glaube aus inniger Naturanschauung erzeugt, in die Geschichte der Völker verwebt und fortgetragen wurde, müssen auch Übung und Brauch die vielgestaltete Sitte des Lebens zu förmlichem Recht erhöht und geweiht haben.84
Auf dem gleichen Frankfurter Treffen vertrat Grimm die Auffassung, den Forschern des Rechts, der Geschichte und der Sprache den gemeinsamen Namen „Germanisten“ zuzulegen – so vieles sei ihnen gemeinsam, „zumal der begriff ihrer deutschheit, worauf der name hinweist“.85 Mit dieser (sich durchsetzenden) Namengebung war verbunden, dass „Philologie“ nun vorzugsweise der „klassischen Philologie“ vorbehalten blieb. Als Folgeerscheinung kann auch gelten, dass die Bindung der germanistischen Altertumsstudien an Vaterland und Heimat, an Herz und Gefühl, an die „deutschheit“ ein „Kunde“-Fach forderten: Altertumskunde statt Altertumswissenschaft – so wie nun dem klassischen „Philologen“ der „Germanist“ gegenüber stand.86 Dass der Sprache und Sprachenforschung generell und der germanistischen Sprachforschung im Besonderen in diesem enzyklopädischen Verbund der Grimmschen Altertumskunde ein besonderes Gewicht zukam, wird unter anderem in der „Geschichte der Deutschen Sprache“ von 1848 deutlich: „Es gibt ein lebendigeres zeugnis über die völker als knochen, waffen und gräber, und 83 84
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Grimm, Kleinere Schriften 7 (wie Anm. 80), S. 564, 566. Rudolf Hübner, Jacob Grimm und das Deutsche Recht (Göttingen 1895), S. 99. Bereits 1843 hatte Wilhelm Grimm in einer Vorlesung über das Gudrun-Gedicht erklärt, dass es die Aufgabe der ‚Alterthumswissenschaft‘ sei, den „längst in den Strom der Zeit versenkten Geist eines Volkes wieder zu erkennen und anschaulich zu machen.“ Kleine Schriften von Wilhelm Grimm, hrsg. von Gustav Hinrichs, Bd. 4 (Gütersloh 1887), S. 526. Grimm, Kleinere Schriften 7 (wie Anm. 80), S. 568 f. Vgl. Grimm, Kleinere Schriften 7 (wie Anm. 80), S. 568 f. Vgl. des weiteren Jacob Grimms Deutsche Altertumskunde, hrsg. von Else Ebel (Göttingen 1974).
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das sind ihre sprachen“.87 Grimm leitet daraus nicht nur eine sprachenorientierte Altertumskunde ab, auch das ‚Wörter und Sachen-Konzept‘ (S. XIII) und die Gleichsetzung von Sprache und ethnischer Einheit (Stamm) sind von ihm grundgelegt – gipfelnd geradezu in einem sprachlichen Imperialismus, der eine europäische Völkerordnung voraussah, die sich politisch-staatlich an den Sprachen von Romanen, Germanen und Slawen orientieren sollte (S. VI). Damit unterschied sich die germanistische Altertumskunde inhaltlich von der klassischen Altertumswissenschaft, blieb in ihrer methodischen Grundlegung aber doch nicht unbeeinflusst. Auch die enzyklopädische Darstellung der Germanistik war nicht willkürlich, sondern in ihren Disziplinen von der Idee eines Nationalcharakters, dem „Volksgeist“, bestimmt – in Abgrenzung zu den exakten Wissenschaften und in deutlicher Wendung gegen den Aggregatsvorwurf (vgl. Anm. 84). Begriffe wie „Volk“ und „Volksgeist“ erhalten allerdings eine „germanistische“ Prägung eigener Art. Ist mit „Volk“ eine ausgesprochen organologisch-biologische Konstante verbunden, so mit „Volksgeist“ die Vorstellung von einem eingeborenen, unauslöschlichen Nationalcharakter, der sich in Sprache, Sitten und Bräuchen, Liedern und Sagen äußere und das geschichtliche Leben bestimme. Der verbindende Gedanke, der der klassischen Altertumswissenschaft und der germanistischen Altertumskunde der Zeit zugrunde lag, war daher in der Idee begründet, eine alle Lebensäußerungen umfassende Kulturtotalität zum Forschungsgegenstand zu erheben. Ein solcher Begriff von „Kulturwissenschaft“ reicht bis in die heutige Diskussion. Je intensiver diese Kulturwissenschaft gepflegt wurde, desto mächtiger drängten die Einzeldisziplinen zu Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Die „Philologie“ zerfiel geradezu im Verlauf ihrer Geschichte in sprachliche und literarische, juristische und volkskundliche Disziplinen. Dabei begleitete die Differenzierung und Spezialisierung – fast notwendigerweise – in gewissen Abständen wiederum einen Drang zur Gesamtschau. Sprach- und Literaturwissenschaft haben sich in dieser Entwicklung als Kernfächer der Philologie erwiesen. Die Rechtsgeschichte, die Grimm noch in einem „innigen“ Zusammenhang verbunden sah mit der „vaterländischen geschichte und philologie“88 hat sich verselbständigt, so wie die sogenannte Volkskunde auch. Die verbindende Idee eines alles durchwaltenden organologischen „Geistes“ wurde bis in die jüngere Vergangenheit gepflegt – und schließlich als belastende Hypothek verabschiedet. Die Frage, wie germanisch sind die germanischen Volksrechte, stellte sich angesichts der Gemeinsamkeiten mit dem Vulgar87 88
Jacob Grimm, Geschichte der deutschen Sprache (Leipzig 1848), S. 5. Grimm (wie Anm. 80), S. 556–563.
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recht der römischen Provinzen in grundsätzlicher Hinsicht (RGA → Römisches Vulgarrecht, → Volksrechte). Anders stand es mit der sogenannten Volkskunde (RGA →Volksglaube, → Einfache Formen). Sie war lange ein integraler Teil der germanistischen Philologie in ihren „heimatkundlichen“ Bezügen – das heißt in sprachlicher Sicht vorwiegend den regionalen Sprachzweigen, in literarischer Sicht den einfachen Formen zugewandt. Vom Dogma der Überlieferungstreue gerade in den unteren Volksschichten geleitet, galt das Interesse den Sitten und Bräuchen, der Sage, den Märchen und dem Lied, dem Aberglauben (das heißt „Glauben aus früheren Stufen menschlicher Entwicklung, der von den führenden Kreisen unserer Kulturgemeinschaft nicht mehr geteilt wird“).89 Mit den Brüdern Grimm beginnt eine an die Berliner Universitäts- und Akademietradition gebundene Geschichte der Altertumskunde, die lückenlos bis in den Beginn des 20. Jahrhunderts reicht: Ein Schüler der Grimms war Karl Müllenhoff (1818–1884). Dessen Schüler Julius Hoffory (1855 geboren in Århus/Dänemark, Studium in Kopenhagen, Privatdozent und Professor für nordische Philologie in Berlin seit 1883, gest. 1897) war Lehrer von Andreas Heusler, der 1886 nach Berlin kam und ab 1894 als Privatdozent, schließlich ab 1914 als Professor, Nachfolger von Hoffory, nordische und germanische Philologie lehrte. Heusler entfaltete nach seiner Rückkehr (1919) in die Schweizer Heimat in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts (gest. 1940) eine reiche publizistisch-wissenschaftliche Tätigkeit. Man kann also von einer Berliner Schule sprechen, deren altertumskundliche Tradition personell ungebrochen von den Grimms bis zu Heusler reichte. Als meinungsbildend auf diesem Wege zum Hoops sind Karl Müllenhoffs Arbeiten, in Sonderheit seine „Deutsche Altertumskunde“ in 5 Bänden (Berlin 1870–1883), von fundamentaler Bedeutung. In seiner Berliner Studienzeit zählte Müllenhoff unter anderen August Boeckh, Jacob und Wilhelm Grimm und Karl Lachmann zu seinen Lehrern. 1858 trat er die Nachfolge Friedrich Heinrich von der Hagens als ordentlicher Professor für Deutsche Sprache und Literatur in Berlin an. Sein Beitrag zur germanischen Altertumskunde wird im Folgenden zu würdigen sein. B. Philologie und Altgermanisch Nachdem die aufstrebende Germanistik in ihren Anfängen von „Altgermanisch“ im Sinne eines ältesten Germanisch sprach, brachte Müllenhoff eine 89
Vgl. Deutsche Volkskunde, hrsg. von John Meier (Berlin, Leipzig 1926), S. 1, 124. Zur Sicht einer heutigen „europäischen Ethnologie“ vgl. RGA 32 → Völkische Weltanschauung, § 3.
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erste terminologische Präzisierung in die Diskussion. Heusler schloss die Debatte schließlich mit einer klaren Definition ab. Mit der Terminologiefrage waren auch konzeptionelle Entscheidungen verbunden, die für Hoops und RGA von großer Bedeutung waren. Müllenhoffs Beitrag zur Altertumskunde-Diskussion bestand unter anderem darin, dass er die Grenzen des germanischen Altertums zu fixieren suchte. Während er die untere Grenze im ersten Band seiner Altertumskunde mit Erörterungen der phönizischen Traditionen und den Berichten des Pytheas von Massalia zu präzisieren suchte, setzte er die obere Grenze mit dem Erlöschen des „altgermanischen wesens“ im hohen Mittelalter gleich. Müllenhoff berief sich auf seinen Lehrer Lachmann, wenn er die „alte denk- und anschauungsweise“ auch nach der „wanderungs- und heldenzeit“ noch lebendig sah und in dem „volksepos“ von den Nibelungen die noch „in ungetrennter einheit schaffende naturkraft des geistes“ altgermanischen Wesens90 erblickte. Lachmann lieferte in seiner „Kritik der Sage von den Nibelungen“ damit für Müllenhoff den Schlüssel für den „Begriff der Altertumskunde“. Das Nibelungenlied zeige überall die Verbindung von Geschichte und Mythos – die Geschichte weise auf die Zeit der Wanderung, der Mythos auf eine noch ältere Zeit. Andererseits zeige sich aber in der mittelhochdeutschen Literatur die „entwicklung des modernen geistes, wie sie durch das christentum, die geistliche bildung und die dichtung vorbereitet unter dem einfluß der fremde, zumal der französischen nachbarn, in der poesie der ritter endlich zum durchbruch kommt“.91 Müllenhoff zieht also die Grenze zwischen „altnationaler Dichtung“, die noch im Nibelungenlied eine letzte Blüte erreichte, einerseits und dem Anbruch der neuen Zeit mit der höfischen Dichtung andererseits. Es ist als zöge sich „die große einfachheit“ der altgermanischen Ära endgültig zurück (von der großen, sich zurückziehenden Einfachheit sprach J. Grimm in der Vorrede zum deutschen Meistergesang, 181092). Diese Sicht eines epochalen Umbruchs, die Lachmann/Müllenhoff in die mittelhochdeutsche Zeit verlagerten, war für den Hoops ebenso wie für das RGA richtungweisend. Sie bedeutete auch eine erstmalige Präzisierung des Altgermanischen als einer eigenen Geschichtsära. Die klassische Definition lieferte Andreas Heusler. „Altgermanisch“ bestimmte er als einen „Kulturbegriff ohne Jahresgrenzen: das von Kirche und antiker Bildung nicht greifbar bestimmte Germanentum, dessen dichterische Spuren bis tief ins Mittelalter herabreichen“.93 Zur weiteren Bestimmung und Abgrenzung des 90 91
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Karl Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde, Bd. 1 (Berlin 1870.), S. V–VI. Müllenhoff (wie Anm. 90), S. VII. J. und W. Grimm, Werke, Abt. I, Band 29, hrsg. O. Ehrismann (Hildesheim 1993), S. 5. Müllenhoff (wie Anm. 90), S. VI. Andreas Heusler, Die altgermanische Dichtung (Darmstadt 1957, Nachdruck der 2.
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„Altgermanischen“ trug auch der Terminus „gemeingermanisch“ bei – im Sinne einer Verbreitung sprachlicher Erscheinungen über alle Germanenstämme in älterer oder jüngerer Zeit. „Urgermanisch“ (das heißt eine Zeit, die das Germanentum noch in verhältnismäßiger Einheit sah; in absoluter Datierung bis ca. 200 n.Chr. reichend) steht als zeitlicher Begriff für das älteste Germanisch. Diese (bis heute gültige) Terminologie erlaubte es, für die Zeit vom Beginn des Germanischen bis zum Nibelungenlied von einem „Altgermanisch“ in einem abgestuften Sinne zu sprechen: a. Im vollen Wortsinn darf – in Heuslers Sicht – von Altgermanisch gesprochen werden, wenn germanische Denkmäler den Anforderungen entsprechen, nicht greifbar von Kirche oder antiker Bildung beeinflusst zu sein. b. In eingeschränkter Weise darf Altgermanisch auch dort gelten, wo germanische Denkmäler zwar nicht gemeingermanische Verbreitung erreichen, aber doch nicht greifbar von Kirche und antiker Bildung bestimmt waren. Zwei Denkmäler (die nur die zweite Bedingung erfüllen) rücken damit in das Zentrum der Diskussion: – die altisländische Prosaepik in Gestalt der Sagas, – das mittelhochdeutsche Versepos in Gestalt des Nibelungenliedes (in zweiter Linie auch der Kudrun). Die Prosaepik Altislands gehört nicht zum gemeingermanischen Formenschatz und altgermanisch darf sie nur im Sinne von außer-römisch und vorritterlich heißen. Heusler nahm sie in seine „Altgermanische Dichtung“ auf – allerdings erst in der 2. Auflage von 1941! Er starb am 28. Februar 1940, konnte aber diese 2. Auflage doch noch als druckfertig erklären. Heuslers Zögern im Blick auf die „eingeschränkte“ Verwendung von Altgermanisch in Hinsicht der isländischen Sagas ist verständlich. Er konnte sich zu dieser Haltung offensichtlich erst durchringen, nachdem er den isländischen Freistaat und seine Dichtung (die stoffgeschichtlichen Grundlagen der Isländersagas beziehen sich auf die Anfänge des isländischen Gemeinwesens) nach den verschiedensten literarischen und gesellschaftlichen Aspekten erforscht und (nicht zuletzt durch ein Nietzsche-Studium) auch kulturhistorisch zu verstehen glaubte: In der Saga findet er die Herrenethik Nietzschescher Prägung wieder (nachdem der Däne Georg Brandes Nietzsche selbst auf das „Herrenhafte“ des Sagamenschen aufmerksam gemacht Auflage von 1941), S. 8. Dass die Grundlagen unserer Kultur auf Antike, Christentum und Germanentum beruhen, war eine gängige Vorstellung. Vgl. Johannes Bühler, Die Kultur des Mittelalters (Stuttgart 1931), S. 3–27.
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hatte) – demnach bestimmt die Saga „keine Ethik der Nächstenliebe, des Mitleids und der Demut, sondern der männlichen Triebe des Geltenwollens und Stolzes. Das wurzelt in den gefahrvollen, täglich bedrohten Zuständen der Selbsthilfe, ohne Polizeistaat“.94 Doch macht die Saga auch nachfühlbar die zunehmende Zähmung des Herrenmenschen durch den Staat, durch das Gesetz, die Wirtschaft und die Kirche – kurz gesagt: durch die profanen und kirchlichen Ordnungen des frühen isländischen Freistaates.95 Es liegt nahe, diesen Altgermanisch-Begriff in seinem eingeschränkten Sinne (d. h. ohne die Bedingung des gemeingermanischen Charakters zu erfüllen) als eine Sonderform der skandinavisch-kolonialen Zeit zu sehen.96 Das Nibelungenlied war Gegenstand eindringlicher stoffgeschichtlicher Studien Lachmanns und Heuslers (RGA → Nibelungensagen, → Nibelungenlied). Beide sahen das Epos am Ende der altgermanischen Tradition stehen. Müllenhoff sprach von den Nibelungen als einer Schöpfung, die sich selbst gedichtet hätte,97 – und reihte sich damit in die Tradition derer ein, die darin ein „Volksepos“ sahen. Heusler lehrte eine neue Sicht – und dies mit zwei gewichtigen Thesen, der Anschwellungsthese einerseits, dem Konzept einer klassischen Epentradition andererseits. Die Anschwellungsthese richtete sich gegen die Sammellehre. Sie besagte: nicht durch Addition von Einzelliedern führe der Weg zum Epos, es sei vielmehr der Stilwandel, der sich in einer „Anschwellung“ äußere. Nicht 20 Liedern verdanke das Nibelungenlied seinen Umfang, vielmehr sind es zwei, die Sigfrid-Brünhild-Fabel und die Burgundenuntergangsgeschichte, die der Anschwellung zugrunde lagen. Die Anschwellungs-These leugnet nicht, dass der Einfluss Vergils am Anfang dieser abendländischen Großform des Erzählens stehe. Sein Einfluss führte über die altfranzösische Ritterepik zu den deutschen Geistlichen und den rheinischen und österreichischen Spielleuten, über Roland und Rother zum älteren Burgundenepos und unserem Nibelungenlied.98 Wenn also das 94
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Andreas Heusler, Germanentum. Vom Lebens- und Formgefühl der alten Germanen (Heidelberg 1934), S. 68, und vor allem Andreas Heusler, Die Isländersagas als Zeugnisse germanischer Volksart. In: Deutsche Rundschau 1916/17, II, S. 378–397 (auch in: Andreas Heusler, Kleine Schriften, Bd. 2 (Berlin 1969), S. 461–480). Bedeutsam für diese Einschätzung der Isländersagas ist Heusler, Isländersagas (wie Anm. 94). Heusler, Isländersagas (wie Anm. 94). Andreas Heusler, Die altgermanische Dichtung (Darmstadt 1957), S. 60 (vgl. Anm. 108). Andreas Heusler, Das Nibelungenlied und die Epenfrage. In: Kleine Schriften, Bd. 1 (Berlin 1969), S. 132–161.
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Nibelungenlied ohne zeitgenössische Voraussetzungen nicht zustande kam, so weist doch die Stoffgeschichte auf altgermanische Tradition. Weil sein Stammbaum sieben Jahrhunderte zurückgeht, sagen wir: in den Nibelungen haben wir nicht nur das selbständigste und menschlich echteste Erzählwerk der altdeutschen Blütezeit: sie sind uns zugleich das teuerste Erbstück aus germanischem Heldenalter.99
Formal ist das „Lied von den Nibelungen“ für Heusler also ein hochmittelalterliches Epos, das seine Gestalt klassischer Anregung verdankt (das gilt auch für die weiteren Epen des germanischen Sprachraumes) – stoffgeschichtlich aber im Germanischen ruht. Das gilt auch für – das altenglische Beowulfepos, ein geistlich-höfisches Heldenepos,100 dem stoffgeschichtlich dänische und gautisch-schwedische Überlieferung (aus vorwikingisch- skandinavischer Zeit) mit Trollen- und Drachenkämpfen zugrunde liegt – und dies in 3182 alliterierenden Langzeilen, verfasst von einem geistlichen Autor, der als erster den Schritt vom Lied zum Epos tat, vom liedhaften heroischen Abenteuer zur beschaulichen epischen Breite (anders das Nibelungenlied mit seinen dramatisch-menschlichen Verwicklungen). Vgl. RGA → Beowulf. – die altsächsische Epik. Sie ist geistlicher Art (Heliand, Genesis), so wie die weitere altenglische Epik auch (Crist, Genesis A, Daniel, Andreas, Exodus, Elene). Vgl. RGA → Heliand und Altsächsische Genesis. – Walther und Hildegund, Bruchstück eines mittelhochdeutschen Waltherepos. Man darf hier in überlieferungsmäßiger Unabhängigkeit vom lateinischen Waltharius mit der Verschriftlichung einer eigenständigen mündlichen Tradition rechnen, die das Thema „Brautwerbung mit gefährlicher Heimkehr“ thematisierte101 – ein später Ausläufer altgermanischer Tradition im Kontext mittelalterlicher Mündlichkeit. Vgl. RGA → Walther und Hildegund, RGA → Waltharius, → Kudrun. Um Heuslers Position zu verstehen (und die teilweise Abkehr von ihm im RGA zu ermessen), ist daran zu erinnern, dass er im stabreimenden Lied von ca. 80 bis einigen 200 Langzeilen (vorbedacht und auswendig gelernt, für Einzelvortrag bestimmt, episch-dramatisch gebaut) die Urform des ger99
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Andreas Heusler, Wie ist das Nibelungenlied entstanden? In: Kleine Schriften, Bd. 1 (wie Anm. 98), S. 162–169. Den Terminus „Heldenepos“ gebrauchen Heusler und Hermann Schneider für die mittelalterlichen Epen, deren Stoffgeschichte der Heldensage entstammt. Walther Haug, Von der Schwierigkeit heimzukehren. In: Verstehen durch Vernunft, Festschrift Werner Hoffmann, hrsg. von Burkhardt Krause. Philologica Germanica 19 (Wien 1997), S. 129–144. RGA 35, Artikel „Walther und Hildegund“.
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manischen Heldenliedes sah. Durch „Anschwellung“, d. h. durch einen Schritt von liedhafter Knappheit zu epischer Breite, verlief die Entwicklung zum Epos – wobei Liedinhalt und epische Fabel sich decken. Der Lachmannsche Eposbegriff rechnete noch mit einer Summierung von Einzelliedern. Wollte ein Dichter ein Lied schaffen, wählte er – nach Lachmann – einen Ausschnitt aus dem Kreise der Sage zu einem einzelnen, gesonderten Vortrag. Der Ependichter verband solche episodischen Liedinhalte zu einer zusammenhängenden Erzählung. Das RGA geht dem gegenüber von einem Forschungsstand aus, der dem formalen Heuslerschen Lied-/Epos-Verständnis folgt, weicht von Heusler aber ab, wo dieser erklärt, in der „Heldensagenforschung“ sei der Begriff „Sage“ zu eliminieren und durch „Dichtwerk“ zu ersetzen, d. h. mit der romantischen Gedankenblässe, als läge die „Sage vor und außerhalb der Dichtung“, sei zu brechen.102 Dieser Lehrsatz Heuslers, der also für jeden Stoffkreis, jede Gedichtsippe einen genauen, aus festumrissenen dichterischen Realitäten bestehenden Stammbaum postulierte, wird der Überlieferungsrealität nicht gerecht. Der Einspruch Hans Kuhns103 hat Schule gemacht und bestimmt auch die heutige Sicht der Lied/EposProblematik. Nicht nur der Einfluss des höfischen Romans wird in der heutigen Nibelungenlied-Forschung betont, auch die Stoff-Überlieferung wird fließender gesehen, mit mündlich Erzähltem wird gerechnet, mit sich kreuzenden und beeinflussenden Strömungen und Gegenströmungen.104 So kann heute das Nibelungenlied nur insofern noch als Endpunkt des Altgermanischen gelten, als damit eine vielfältige Stofftradition auch vor und außerhalb der Dichtung anerkannt wird. Ungeachtet aller Abkehr von Heuslers Liedthese kann doch immer noch gelten, dass die volkssprachliche Tradition bis ins 12. Jahrhundert (in Teilen auch in das 13. Jahrhundert) hineinreichte. Von einem Höhepunkt, einer letzten „Blüte“ altgermanischer Dichtung ist allerdings nicht zu reden. Das Nibelungen-Epos ist nicht glanzvoller End- und Höhepunkt des schaffenden Volksgeistes, wohl aber eine höfische Auseinandersetzung eines Dichters mit einer noch lebendigen und vielgestaltigen heimischen Fabel-Tradition, der man altgermanische Wurzeln zutrauen darf. Eine Großgattung volkssprachlicher Dichtung ist auch die schon genannte isländische Saga. Gustav Neckel, der Verfasser des Artikels Saga im 102 103
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Heusler, Kleine Schriften, Bd. 1 (wie Anm. 98), S. 176. Hans Kuhn, Heldensage vor und außerhalb der Dichtung. In: Edda, Skalden, Saga. Festschrift zum 70. Geburtstag von Felix Genzmer, hrsg. von Hermann Schneider (Heidelberg 1952), S. 262–278. Vgl. z. B. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, hrsg. von Joachim Heinzle, Bd. 2, Teil 1: L. Peter Johnson, Die höfische Literatur der Blütezeit (1160/70–1220/30) (Königstein/Taunus), 1984, S. 290 ff.
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Hoops, sah in der Dichtgattung der „realistischen Saga“ (im Gegensatz zur „kunstmäßigen Fornaldarsaga“) einen einzigartigen Wert für die germanische Altertumskunde – und dies auf dem Gebiet des „vorchristlichen Seelenlebens, der Ethik und der gesellschaftlichen Verhältnisse“.105 Heusler argumentierte: Die nur-isländische Saga sei die einzige „altgermanische“ Prosa, die den Anspruch erheben kann, Dichtung zu sein – „altgermanisch“ im Sinne des Vorrömischen und Vorritterlichen! Das Kenntlich-Germanische an diesem inselhaften Gebilde sieht er in vier Untergattungen realisiert: den Isländersagas (Familiengeschichten des 9. bis 11. Jahrhunderts), den Isländerfabeln (romanhafte Isländergeschichten im Rahmen derselben Jahrhunderte), den Königsgeschichten (meist norwegischer Herrscher, zwischen 850 und 1280 spielend) und den Vorzeitgeschichten (Fornaldarsögur, Abenteuer- und Heldengeschichten vor Islands Besiedlung) – dabei dürfen Isländersagas und Königsagas gattungsmäßig an der Spitze stehen, Isländerfabeln und Vorzeitsagas als zweithändige Formen gelten. Wichtig für Heusler: Das Urphänomen der Saga ist die mündliche Prosaepik, der schriftlichen Saga ging die mündliche voraus. Die sagnaskemtun, der Zeitvertreib durch den Geschichtenvortrag, die „Geschichtenunterhaltung“ ist das altgermanische Element in dieser spezifisch isländischen Tradition. Heuslers These von einer durch Mündlichkeit geprägten Vorstufe der Isländersagas wurde zwischenzeitlich durch die sog. Buchprosa-These der sog. Isländischen Schule in den Hintergrund gedrängt. Die heutige Sicht rechnet wieder mit einer oral tradition, die zu einem Verschriftlichungsprozess führte, der sich durch zwei Eigenheiten auszeichnete: – er setzt eine lebendige und mehrstimmige Oralität voraus – die Verschriftlichung ist ein gestaltender Prozess, der nach eigenen Gesetzen verläuft.106 In diesem Verständnis darf mit der Saga als einem Zeugnis altisländischer Tradition im Sinne Heuslers gerechnet werden – als einem äußersten Fall von „Selbwachsenheit“ aus altgermanischem Geist.107 Heuslers Beitrag zur germanischen Altertumskunde war im Hoops (1911–1919) jedoch weitreichenderer Art als bisher genannt (und auch in der wissenschaftsgeschichtlichen Literatur erkannt). Er war der Erste, der im Bereich der Philologie eine Formenlehre altgermanischer Dichtung vor105 106
107
Hoops, Reallexikon, Bd. 4, s.v. Saga. Gísli Sigurðsson, The Medieval Icelandic Saga and Oral Tradition (Harvard 1959); Theodore M. Andersson, The Growth of the Medieval Icelandic Sagas (1180– 1280) (Ithaca, London 2006). Heusler (wie Anm. 97), S. 242.
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legte – mit anderen Worten eine Typologie der Überlieferungsformen schuf (Hoops → Dichtung – erschienen 1912 und 1913 in der 3. und 4. Lieferung des Lexikons). Der Lexikonbeitrag führte zu einer eigenen Publikation in der Reihe „Handbuch der Literaturwissenschaft“.108 Heuslers Formenlehre bildete auch für das RGA eine Orientierung, die erlaubte, den einzelnen Text in einer höheren Ordnung zu platzieren und ein Gesamtbild des dichterischen Lebens altgermanischer Zeit zu entwerfen. Heuslers Entwurf einer Typologie altgermanischer Dichtung (von Umrissen der altgermanischen Dichtgattungen spricht Heusler) umfasst im Einzelnen: A. Zaubersprüche und -lieder (Merseburger Zaubersprüche, englische Zaubersegen, Urfehde etc.) B. Ritualdichtung (Opferverse, Weihinschriften, Schlachtgesang etc.) C. Gnomische Dichtung (Sprichwörter, Rätsel) D. Merkverse (Memorial- und Katalogdichtung) E. Gesellschaftliche Lyrik (Arbeitslieder, Chorgesang, Tanzliedchen etc.) F. Kunstmäßige Einzellyrik (Preislied und Elegie) G. Episches Lied (Heldenlieder, Götterlieder – und das monologische Visionslied Völuspá) In leichter Abwandlung ist diese Typologie auch in der „Altgermanischen Dichtung“ (in erster und zweiter Auflage) gültig, ergänzt allerdings durch einen Ausblick auf das Epos (von der 1. Auflage an) – und dies in Hinsicht der stabreimenden englisch-niederdeutschen Epik. Der stabreimende Vers ist für Heusler der Ausweis für „altgermanischen“ Charakter!. Deutlich ist hier Heuslers Entwicklung in der Beurteilung der narrativen Großgattung „Saga“ zu sehen. In der ersten Fixierung einer dichterischen Formenlehre des Altgermanischen (Hoops, → Dichtung) fand die isländische Saga noch keinen Platz. Und doch konnte Neckel sechs Jahre später einen eigenen Artikel „Saga“ im Hoops beisteuern – sicher nicht ohne Heuslers Zutun. Dieser selbst hatte eine bemerkenswerte Entwicklung durchgemacht. In einer Akademieabhandlung von 1913 hatte er die Anfänge der isländischen Saga als einer kunstbewussten Prosaepik (mit Königs- und Isländergeschichten) tief in die mündliche Zeit versetzt.109 Damit war auch die Voraussetzung ge108
109
Andreas Heusler, Die altgermanische Dichtung. Handbuch der Literaturwissenschaft (Potsdam 1926). Eine vermehrte 2. Auflage erschien 1941, ein unveränderter Nachdruck der 2. Auflage in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt 1957. Andreas Heusler, Die Anfänge der isländischen Saga. In: Abhandlungen der preußischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, 1913, Abhandlung Nr. 9 (auch in: Kleine Schriften, Bd. 2 (Berlin 1969), S. 388–459).
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schaffen, von einer altgermanischen Gattung zu sprechen (wenn auch mit der Einschränkung auf einen isländischen Sonderweg). Nicht unerwähnt darf dabei ein weiterer Beitrag in der Deutschen Rundschau von 1916/17 bleiben – mit dem Titel „Die Isländersagas als Zeugnisse germanischer Volksart“. Als einen Glücksfall betrachtete es Heusler hier, dass die junge isländische Kultur ein Abbild ihrer selbst hinterlassen habe, das „außerhalb des Mittelalters“ stehe und geeignet sei, unseren eigenen Blick dafür zu schärfen, „was an deutscher Volksart germanischen Keim hat“.110 Man halte einen Aufsatz von 1926 (zum Begriff germanischer und deutscher Art) dagegen, um zu ermessen, welche weitere Entwicklung Heuslers Denken genommen hat.111 Eigene Erwähnung verdient die skaldische Dichtung (RGA → Skaldische Dichtung, → Skaldische Verskunst, → Skaldengeschichten). In Heuslers Typologie erscheint sie unter der „Kunstmäßigen Einzellyrik“, dem Preislied, dem Zeitgedicht und der größeren oder kleineren Gelegenheitsdichtung (RGA → Preislied, RGA → Gelegenheitsdichtung). Heusler zählte sie zu den subjektiven Gattungen, die ihre Stoffe dem Leben oder der Umwelt des Dichters entnehmen, die den Namen des Dichters überliefern und einen kunstreichen, prosafernen Stil pflegen – im Gegensatz zu den objektiven Gattungen, die auf Recht und Ruhm der Urheber verzichten und einen einfacheren und prosanäheren Stil üben. Das Grundmaß des skaldischen Stils, das Dróttkvaett (= Hofton) übte bereits der norwegische Skalde Ragnar Boddason (9. Jahrhundert): einen dreihebigen, sechssilbigen und strophischen Vers mit Binnenreim (RGA → Bragi, → Dróttkvætt, → Ragnarsdrápa). Unter altertumskundlichen Gesichtspunkten ist es eine Frage, ob diese hochentwickelte Formkunst als eine Sprossform des Altgermanischen zu gelten hat oder als ein Lehngut einzuordnen ist. Heusler rechnete bei diesem Hofton mit einem frühen westlichen, das heißt irischem, Lehngut der Wikingerzeit.112 Doch muss auch Heusler feststellen, dass die Stilfigur der Kenning und die syntaktischen Sonderregeln der Skaldik in der irischen Dichtung nur „bescheidene“ Parallelen finden – und auch Wolfgang Krauses These von der Kenning als einer gemeingermanischen Kunstform, die bis in die La Tène-Zeit zurückzuver110
111
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Heusler, Isländersagas (wie Anm. 97) – Wiederabdruck in Andreas Heusler, Kleine Schriften, Bd. 2 (wie Anm. 109), S. 461–480, Zitat S. 480. Andreas Heusler, Von germanischer und deutscher Art. In: Zeitschrift für Deutschkunde 39, 1925, S. 746–757 (auch in Andreas Heusler, Germanentum. Vom Lebens- und Formgefühl der alten Germanen, 4. Auflage (Heidelberg 1934), S. 79–88). Heusler (wie Anm. 97), S. 29 f.
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folgen sei, nannte Heusler nur in einer Fußnote.113 Hans Kuhn resümierte 1983: Die Frühgeschichte des Altnordischen, die in Runeninschriften zu verfolgen sei, mache es sehr unwahrscheinlich, dass das Dróttkvætt schon vor etwa 800 entstehen konnte.114 Selbst wenn die Herkunftsfrage nicht eindeutig zu beantworten ist, gilt doch, dass die Hoftonlieder und ihr sprachlicher Stil eine Einheit bilden, die – organisch gewachsen oder kunstbewusste Erfindung im norrönen Sprachbereich – Formen des Altgermanischen darstellen, die das Merkmal „gemeingermanisch“ zwar nicht aufweisen können, die aber in ihrer nordgermanischen Spezifität, ihrer Formvollendung und Ausdrucksstärke, einzigartig sind. Neben Heuslers Lehngutthese steht die gegenteilige Ansicht des norwegischen Philologen Hallvard Lie. In einem Aufsatz von 1952 und einer Monographie von 1957 vertrat Lie115 die Ansicht, dass der ursprüngliche Dróttkvætt-Stil seine tiefsten Wurzeln im nordischen Heidenglauben und seinem primitiv-magischen Lebensgefühl hatte. Nicht weniger bedeutsam in Lies Argumentation ist die stilhistorische Komponente. Gegenüber den oft willkürlichen Konjekturen und Emendationen in den skaldischen Forschungen (etwa Finnur Jónssons und Ernst Albin Kocks und anderer) fordert er eine Anerkennung eines eigenen Formprinzips, das sich vom klassisch-antiken Erbe des naturalistischen Stils unterschied – vier Stilarten glaubte er in seinen Analysen unterscheiden zu können: den Dróttkvætt-Stil, den Kviðuháttr-Stil, den Barock-Stil und den EddaStil. Den jeweiligen speziellen Formwillen gelte es in der Text-Restitution und -Interpretation zu erkennen. Leitend müsse dabei auch eine Kunstpsychologie sein, die nicht nur das naturalistische Formprinzip verabsolutiere. Lie nennt in diesem Zusammenhang Wilhelm Worringers Dissertation von 1908: „Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie“.116 Wenn Lie von „Natur og Unatur i Skaldekunsten“ spricht, kann das in Beziehung zu Worringer gesetzt werden: „Natur“ und Einfühlung, „Unatur“ und Abstraktion sind die Entsprechungen. Worringer glaubte, dass die spezifischen Kunstgesetze mit der Ästhetik des Naturschönen prinzipiell nichts zu tun hätten, dass der Abstraktionsdrang vielmehr als eine künstlerische Form der Außenweltbewältigung zu gelten habe, der zum Beispiel bei den alten 113
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Heusler (wie Anm. 97), S. 30; Wolfgang Krause, Die Kenning als typische Stilfigur der germanischen und keltischen Dichtersprache. Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Geisteswissenschaftliche Klasse, 7. Jahr, Heft 1 (Halle 1930). Vgl. dazu auch Wolfgang Meid, Formen dichterischer Sprache im Keltischen und Germanischen. Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft. Vorträge und Kleinere Schriften 45 (Innsbruck 1990). Hans Kuhn, Das Dróttkvætt (Heidelberg 1983), S. 274. Hallvard Lie, Skaldestil-Studier, in Maal og Minne, 1952, S. 1–92. Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung (Neudruck München 1948).
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Kulturvölkern durchaus Vorrang hatte. Gesichtspunkte dieser Art sprächen, so folgert Lie, dafür, auch in den abstrakten Kunstgattungen des nordischen Altertums den Ausdruck eines elementaren Formwillens zu sehen, mit denen den Herausforderungen der Zeit begegnet wurde. In Lies Perspektive dürfte auch die Skaldik als eine Sprossform nordgermanischer Sonderart gelten. Über die Skaldik hinausblickend, lässt sich feststellen: In den kulturellen Herausforderungen antwortete der genannte Kulturraum mit dem Aufkommen der Runenschrift (in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten), der Schöpfung des Tierstils und der Goldbrakteatenkunst (spätes 5. und 6. Jahrhundert) und eben mit der Neuschöpfung der skaldischen Dichtung (in der 2. Jahrtausendhälfte). Das südliche Skandinavien präsentiert sich (in ur- und altnordischer Zeit) als eine bedeutende Kulturprovinz altgermanischer Provenienz mit einem hohen schöpferischen Potential und einer bemerkenswerten Ausstrahlungskraft. C. Philologie und „Germanentum“ Die Rede vom „Germanentum“ (einem zentralen Begriff der germanischen Altertumskunde) entsprang der Vorstellung gemeinsamer Inhalts- und Ausdrucksformen der germanischsprachigen Völkerschaften – mit einer Tradition, die angeblich bis in die Gegenwart reichen sollte. Friedrich Ludwig Jahn erklärte dazu: Es ist das Gemeinsame des Volks, sein inwohnendes Wesen, sein Regen und Leben, seine Wiedererzeugungskraft, seine Fortpflanzungsfähigkeit. Dadurch waltet in allen Volksgliedern ein volkstümliches Denken und Fühlen, Lieben und Hassen, Frohsein und Trauern, Leiden und Handeln, Entbehren und Genießen, Hoffen und Sehnen, Ahnen und Glauben. Das bringt alle die einzelnen Menschen des Volks … in der Viel- und Allverbindung mit den übrigen zu einer schönverbundenen Gemeinde.117
Zu diesen Volkstumseigenschaften zählt er: Biederkeit, Gradheit, Abscheu vor Winkelzügen, Rechtlichkeit und das ernste Gutmeinen.118 In diesem Sinne wurden Termini wie „Germanentum“, „Deutschtum“, „Volkstum“ gehandelt – und die Altertumskunde gipfelte in dem Begriff vom „Germanentum/ Deutschtum“ bzw. dem „germanischen/deutschen Geist“. Wilhelm Grimm brachte es 1843 in einer Vorlesung über Hartmanns Erek auf den 117
118
Friedrich Ludwig Jahn, Deutsches Volkstum. Ausgabe des Aufbau-Verlages (Berlin 1810, Nachdruck Berlin, Weimar 1991). Vgl. auch: Geschichtliche Grundbegriffe 7, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Kosseleck (Stuttgart 2004), S. 332. Friedrich Ludwig Jahn, Deutsches Volkstum (Berlin, Weimar 1991), S. 24.
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Punkt: es gelte den „Geist des deutschen Altertums“ lebendig zu erhalten, um die „Gegenwart auch aus der Vergangenheit, mit der sie durch unzählige Fäden zusammenhängt, zu erkennen“.119 Nicht weniger entschieden sprach Karl Müllenhoff, auch einer der großen Väter der germanischen Altertumskunde, im Vorwort seiner fünfbändigen „Deutschen Altertumskunde“ von einem „altgermanischen Wesen“ als einer festen „Charakterform“ in allen Äußerungen und nach allen Seiten des Lebens hin – auf einem Punkt ruhe diese Charakterform und auf ihn bezögen sich alle Ausprägungen. Die Aufgabe der Altertumskunde sei es, in den „kern und mittelpunkt“ unseres nationalen Lebens zu führen: an die seele und die lebensfrage des volkes, und ohne sie und ihre erfüllung gibt es für uns keine zusammenhängende geschichtliche selbsterkenntnis, keine volle erkenntnis selbst der geschichtlichen stelle, auf der wir stehen, und der aufgabe, die uns in der gegenwart durch die vergangenheit obliegt.120
Es ist also festzuhalten: Der Begriff „Germanentum“ (der im „Deutschtum“ aufging) entsprang der Vorstellung eines „Volkstums“, das in seiner anthropologisch-biologischen Bestimmung und seiner kulturell-individuellen Äußerungen in Sitte und Brauch, Sprache, Literatur und Religion zur „geschichtlichen Selbsterkenntnis“ führe. Diese Selbsterkenntnis umfasst aber auch Verpflichtung gegenüber Gegenwart und Zukunft. Heusler griff den Terminus „Germanentum“ auf und stellte 1934 eine Aufsatzsammlung unter diesen Titel (erschienen sind vier Auflagen).121 Darin behandelte er (in sieben Einzelbeiträgen) unterschiedliche Themen: Sittenlehre und Lebensweisheit, den Heidenglauben und die Bekehrung, die isländische Saga und unseren deutschen Prosastil. Der Untertitel lautet „Vom Lebens- und Formgefühl der alten Germanen“. Anmerkenswert ist dabei die Tatsache, dass alle Beiträge in Heuslers Basler Zeit fallen, d.h. in die 20er und 30er Jahre zu datieren sind. Im Hoops äußerte sich Heusler nicht zu diesem Thema – offensichtlich war „Germanentum“ für ihn eine Thematik, die er erst in späteren Jahren aufgriff. Dabei stellt er in dieser Sammlung völlig klar: – „Germanisch“ und „deutsch“ sind keine austauschbaren Begriffe, d.h. das „Deutschtum“ ist von einem „Germanentum“ so weit abgerückt, dass man sich in letztere Kultur erst hineintasten müsste wie in irgendeine 119
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Jakob und Wilhelm Grimm. Schriften und Reden, hrsg. von Ludwig Denecke (Stuttgart 1983), S. 220 ff. Karl Müllenhoff (wie Anm. 90), S. VIII f. Andreas Heusler, Germanentum. Vom Lebens- und Formgefühl der alten Germanen, 1. Auflage (Heidelberg 1934, 4. Auflage Heidelberg ohne Jahr).
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fremde. Heusler vertrat kein „Germanentum“ als einem germanischdeutschen Volkscharakter. – Einen tiefen Blick in Gesittung und Lebensweise einer vorstaatlichen und vorchristlichen germanischen Gesellschaft gestattet (nach Heusler) die Heldendichtung und die altisländische Prosaepik. Die Ethik der Nächstenliebe, des Mitleids und der Demut herrschte hier nicht. Die männlichen Triebe des Geltenwollens und des Stolzes dominierten – eine Sittlichkeit, die sich mit Nietzsches Bild vom Herrenmenschen vergleichen lässt. Heusler trug 1926 zu einem Sammelwerk bei, das den Terminus „Gesittung“ brauchte, „um das zusammenfassende Ergebnis aller geistigen Werke des Deutschen Volkes von ältester Zeit bis zur Gegenwart“ zur Darstellung zu bringen, wie Hermann Nollau formulierte – ein Bild, „das weiterhin die Umbildung und Unterdrückung altgermanischer Gesittungswerte in den Zeiten des Eindringens fremder Bildung in Deutschland, und schließlich die neuerliche Wiedererstehung solcher altgermanischer Werte darzulegen versuchte“.122 Beiträger waren Otto Lauffer, Andreas Heusler (mit „Altgermanische Sittenlehre und Lebensweisheit“), Claudius Freiherr von Schwerin, Karl Helm, Josef Maria Müller-Blattau, Klaudius Bojunga, Friedrich von der Leyen, Albrecht Haupt – bekannte Namen der Zeit und teilweise auch Hoops-Beiträger. Das RGA weist keinen Artikel „Germanentum“ auf – zu verstehen als Abkehr von einer Tradition, die besagte, dass erst in einer Totalanschauung des volkstümlichen germanisch-deutschen Wesens die Altertumskunde Aufgabe und Zielsetzung finden könne (vgl. RGA → Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde, § 57). Es sind die grundlegenden Prämissen, die diesen tragenden Pfeiler einer 200-jährigen germanischen Altertumskunde-Forschung zum Problem werden ließen – und im RGA schließlich dazu führten, diese Grundlagen entschieden in Frage zu stellen. Dabei sind zwei Aspekte kritisch zu bedenken: 1. das Konzept „Wesenskonstante“ (Volksgeist, Germanentum, Deutscher Geist) 2. das Konzept „Kulturzeitalter“ (mit den Koordinaten Zeit und Raum) Zu 1): „Volksgeist“, „Germanentum“ und „Deutschtum“ sind Termini, die ebenso viel gebraucht wie missbraucht wurden – und ohne eine kritische Besinnung können sie die heutige Diskussion auch nicht bereichern. Ein kurzer Blick auf die Geschichte dieser Termini könnte dabei hilfreich sein. 122
Hermann Nollau (Hrsg.), Germanische Wiedererstehung. Ein Werk über die germanischen Grundlagen unserer Gesittung (Heidelberg 1926), S. 1.
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Zweifellos steht Johann Gottfried Herder am Anfang einer neuzeitlichen Entwicklung. Von einem „genetischen Geist“ und Charakter eines Volkes spricht er in den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784). Unerklärlich und unauslöschlich präge dieser in Sitten, Mythologie, Sprache, Liedern und Sagen den Geist eines Volkes.123 Die Nachwelt verband diese Charakteristik mit dem organologisch-nationalen Gedanken, der in Entfaltung und Verwirklichung innewohnender Gesetze die völkische Bestimmung sah. Für die Grimms stand der Volksgeist (im vaterländischen Sinne) im Fluchtpunkt der philologischen Wissenschaften. Rudolf von Raumer (seit 1836 an der Universität Erlangen lehrender Germanist) titelte „Vom Deutschen Geiste“, Erlangen 1848 – eine Arbeit, die mit den „alten Germanen“ begann und bis „auf den heutigen Tag“ führte. „Deutscher Geist“ habe sich in Religion und religiöser Dichtung, in Sitte und Recht ausgeprägt.124 Selbst ein Wilhelm Scherer konnte mit seiner gegenteiligen Typisierung nicht zur Klärung beitragen, wenn er die Merkmale des Germanen anders sah: ungestümer Drang, der sehnsuchtsvoll ins Grenzenlose strebte und sich gegen jedes Ebenmaß wehrte; an die Stelle sauberer Ordnung, wie sie in der Antike herrschte, trat chaotisches Wühlen, wilde Rauschsucht, die nie auf Befriedigung hoffte, nur sich zu betäuben wünschen konnte. Faustisch taumelte der Germane von Begierde zu Genuss und verschmachtete in Genuss und Begierde.125 Die Gegenposition erschöpfte sich ebenso in Klischees. Noch 1986 vertrat Siegfried Gutenbrunner die Ansicht, dass der Begriff „Germanisch“ über 40 Jahrhunderte hinweg eine eindeutige Prägung bewahrt habe – und diese Prägung auch beschreibbar sei,126 eine Prägung also, die von 2000 v. Chr. bis 2000 n. Chr. Gültigkeit beanspruchte. Auch die Sprachforschung wurde im Sinne einer Geistesdeutung in den Dienst genommen. Unter dem Zeichen der Kritik des „reinen Sprachbegriffs“ wurden Materialismus, Individualismus, Historismus, Psychologismus als „entartete Sprachauffassung“ gegeißelt. Sprache sei zu einem sinnentleerten teilbaren Ding entartet, das allein dem Naturgesetz und seinen Notwendig123
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Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Sämmtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Bd. 14 (Berlin 1877), S. 38. Dazu Andreas Großmann. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 71), Bd. 11, s. v. Volksgeist, Volksseele. Rudolf von Raumer, Vom Deutschen Geiste, 2. Auflage (Erlangen 1850), S. 38. In einem Resümee von Oskar Walzel, Das Deutschtum unserer Klassiker. In: Zeitschrift für Deutschkunde 1921, S. 85. Siegfried Gutenbrunner, Der Begriff Germanisch. In: Germanic Dialects. Linguistic and Philological Investigations, hrsg. von Bela Brogyanyi, Thomas Krömmelbein (Amsterdam/Philadelphia 1986), S. 183–197.
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keiten unterworfen sei.127 An die Stelle eines solchen Positivismus sollte treten ein „volkhafter Sprachbegriff“, der sichtbar mache, daß zwischen Sprache und Gesamtleben stärkere und tiefere Zusammenhänge bestehen, als heute im allgemeinen bekannt und anerkannt ist, daß zumal die Erhebung der Sprache zugleich Steigerung des Volkstums in seine höchsten Lebenskräfte ist.128
Gegenüber solch volkhafter Propaganda stellte unter anderen Ernst Robert Curtius fest, dass „Germanentum“ ein „schwer fassbarer und kein einheitlicher Begriff“ sei, – im Reich Karls des Großen waren (so argumentiert Curtius) Kelten, Romanen, Franken, Sachsen vermischt, und in Frankreich vollendete sich die Volkwerdung mit der Absorption der Wikinger, die sich im 9. und 10. Jahrhundert in der Normandie sesshaft gemacht hatten und zivilisiert wurden.129 Schon allein der Faktor einer hohen bevölkerungsmäßigen Dynamik in der Staaten- und Nationenbildung im gesamteuropäischen Raum ist geeignet (so ist Curtius zu verstehen), die Begriffe „Volkstum“, „Volksgeist“ kaum als geschichtliche Konstanten werten zu können. Aber auch der Geschichtsprozess als solcher ist weniger Entfaltung innewohnender Anlagen, als vielmehr Antwort auf Herausforderungen. Fortschritt und Neuerung sind mit anderen Worten Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels, der sich nicht an einem vererbten „Volksgeist“ orientiert. Papst Gregors Entsendung des Augustinus, Priors des Andreas-Klosters in Rom, zur Christianisierung der gens Anglorum und die freundliche Aufnahme die dieser bei König Aethelberht von Kent in Canterbury 597 fand,130 schufen Herausforderungen, die für die Mentalitätsgeschichte der gens Anglorum Bedeutung hatten. Ein lang anhaltender Christianisierungsprozess war ein Faktor, der die angelsächsische Welt veränderte – keineswegs zu verstehen als geschlossene (und überall gleiche) Antwort einer irgendwie identischen Geistesgemeinschaft altgermanischer Provenienz (RGA → Bekehrung und Bekehrungsgeschichte, § 18). Im gleichen Jahr, da Nollau eine „germanische Wiedererstehung“ propagierte, schrieb Heusler einen Beitrag „Von germanischer und deutscher 127 128
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Fritz Stroh, Der volkhafte Sprachbegriff (Halle/Saale 1933), S. 2. Fritz Stroh (wie Anm. 127), S. 79. Stroh gebraucht auch den Terminus „Deutschwissenschaft“. Der Sprachgedanke löse sich im Volksgedanken schlechthin auf (S. 82). Vgl. auch Hans Naumann, Versuch einer Geschichte der deutschen Sprache als Geschichte des deutschen Geistes. In: Deutsche Vierteljahresschrift 1, 1923, S. 139–160. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter (Bern 1948), S. 33. Beda, Historia Ecclesiastica gentis Anglorum, hrsg. von Bertram Colgrave, R. A. B. Mynors. Oxford Medieval Texts (Oxford 1969), I, 25.
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Art“, in dem er bekannte „Gegen die Meinung, seelische Volksart bleibe in den Hauptzügen unverändert über die Jahrtausende, bekennen wir unsern Unglauben“. Von der „Zusammengesetztheit“ unseres deutschen Wesens ist da weiter die Rede – endend mit einem Ausspruch Jakob Burkhardts: „Ein wahrhaft reiches Volk wird dadurch reich, dass es von anderen vieles übernimmt und weiterbildet“.131 Wenn Heusler von „Germanentum“ sprach, folgte er der Müllenhoffschen Zeitengliederung, die „Germanentum“ und „Deutschtum“ strikt unterschied und im Einfluss christlicher und gelehrter Bildung die epochale Wende erblickte. Die Titelgebung „Germanentum“ wäre missverstanden, wollte man darin die Signatur einer zweitausendjährigen Geschichte sehen. Der Begriff ist vielmehr strikt an das AltgermanischKonzept gebunden. Aber selbst unter den Heuslerschen Einschränkungen, die er mit seinen begrifflichen Klärungen brachte, haftet dem Begriff „Germanentum“ noch etwas von der Problematik eines überdehnten Begriffes an. Was heißt und wieweit reicht Germanentum (selbst in den Grenzen, die Müllenhoff gezogen hatte)?132 Aufschlussreich ist es zu sehen, wohin die Volksgeist-Lehre als Fundamentalbegriff eines alles prägenden und verbindenden Volkscharakters in jüngerer Vergangenheit führte. Eine kleine Schrift von Ernst Robert Curtius von 1932 trug den Titel „Deutscher Geist in Gefahr“.133 Die umgehende Antwort seines Bonner Kollegen, des Germanisten Hans Naumann, lautete „Deutsche Nation in Gefahr“.134 Man kann in dieser Frühzeit der NSBewegung geradezu von einem Zweikampf zwischen den konservativen und den nationalen Vertretern der Lehre vom „Deutschen Geist“ sprechen – 131 132
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Heusler, Germanentum, 4. Auflage (wie Anm. 121), S. 80, 88. In einem Beitrag „Hitler and Germanentum“ (Journal of Contemporary History 39, 2004, S. 255–270) beschäftigt sich Bernard Mees auch mit Andreas Heusler, den er als „creator of the new concept of Germanicness“ apostrophiert, den die Philologen heute rühmen „as if he were the third brother Grimm“ (S. 257). In der Tat wäre es keine schlechte Charakteristik Heuslers, wenn er in altertumskundlicher Sicht als ein dritter Grimm gewertet würde: Wie die Grimms das 19. Jahrhundert bestimmten, so Heusler das 20. Jahrhundert! Niemand hat die Abgrenzung von „germanisch“ und „deutsch“ entschiedener betrieben als Heusler. Der Untertitel lautet „Vom Lebens- und Formgefühl der alten Germanen“! Die Aufsatzsammlung ist zu verstehen als eine Zurückweisung eines Germanentums, das in einem Deutschtum aufgegangen wäre. Diese Abgrenzung ist in der wissenschaftlichen Germanistik Gemeingut seit Karl Müllenhoff sie präzisierte – und Heusler sie konkretisierte; eine Grenze, die die „Germanomanen“ natürlich nicht zur Kenntnis nahmen. Vgl. auch Bernard Mees, The Science of the Swastika. Central European University Press (Budapest, New York 2008). Ernst Robert Curtius, Deutscher Geist in Gefahr (Stuttgart, Berlin 1932). Hans Naumann, Deutsche Nation in Gefahr (Stuttgart 1932).
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beispielhaft ausgetragen zwischen den beiden Bonner Professoren: Curtius, der sich „gegen die Selbstpreisgabe der deutschen Bildung, gegen den Kulturhaß und seine politisch-soziologischen Hintergründe“ wandte,135 Naumann, der sich erhoffte, „von der germanischen Ebene aus die Konstruktion eines deutschen Volkstums“ in Angriff nehmen zu können.136 Naumann, beseelt vom Gedanken einer „germanischen Wiedergeburt“ und berauscht von der eigenen Rhetorik, scheiterte schließlich an dem Geist, den er selbst rief.137 Während Naumann sich in der Nachkriegszeit nicht mehr zum Thema äußerte, ließ Richard Benz seiner Arbeit „Geist und Reich. Um die Bestimmung des Deutschen“ (1933) in der Nachkriegszeit eine Publikation folgen „Heidelberg: Schicksal und Geist“, wo das Schicksal zum Gegenpol des Geistes stilisiert wurde. Auch dieser Versuch einer Rettung der „Bestimmung des Deutschen“ machte deutlich, dass das Konzept untauglich war.138 In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Terminus der AltertumskundeDiskussion zu nennen, der geeignet erschien, die völkisch-germanische Eigenart als Wesensmerkmal zu charakterisieren: die „germanische Gesittung“. Nollau verstand darunter „das zusammenfassende Ergebnis aller geistigen Werke des Deutschen Volkes von ältester Zeit bis zur Gegenwart“139 – eine sprachliche Bildung, die den Zustand des Gesittetseins zum Ausdruck bringen sollte. Ungeachtet der „Überfremdung“ möchte Nollau 135
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Vorwort zu Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter (Bern 1948). Naumann (wie Anm. 134), S. 35. Es schien zum zeitgenössischen Diskurs zu gehören, von der „Gefahr“ zu sprechen, die der neuen Bewegung drohen könnte. Martin Heidegger erklärte in einem Vortrag vor der Heidelberger Studentenschaft am 30.1.1933, zur Erziehung einer neuen Führerschicht im Staate gehöre auch unter anderem die „Kenntnis der heutigen Gefahren für das Zukünftige“. Gegen Widerstände dieser Art „ist ein scharfer Kampf zu führen im nationalsozialistischen Geist, der nicht ersticken darf durch humanisierende, christliche Vorstellungen, die seine Unbedingtheit niederhalten“. Gesamtausgabe, Bd. 16: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (1910–1976), hrsg. von Hermann Heidegger (Frankfurt 2000), S. 761 ff. Vgl. Hans Naumann, Germanisches Vermächtnis, 4 Aufsätze – in einer Feldpostausgabe des Verlages Böhlau, Weimar 1943; Hans Naumann, Primitive Gemeinschaftskultur. Beiträge zur Volkskunde und Mythologie (Jena 1921); Hans Naumann, Germanisch und Deutsch in älterer Zeit. In: Von deutscher Art in Sprache und Dichtung, Bd. 2 (geleitet von Otto Höfler) (Stuttgart/Berlin 1941), S. 129–145. Richard Benz, Geist und Reich. Um die Bestimmung des Deutschen (Jena 1933); Richard Benz, Heidelberg: Schicksal und Geist (Konstanz 1961). – Zum „deutschen Geist“ vgl. auch Friedrich Kauffmann, Deutsche Altertumskunde II (München 1923), S. 212 f. Hermann Nollau (Hrsg.), Germanische Wiedererstehung. Ein Werk über die germanischen Grundlagen unserer Gesittung (Heidelberg 1926), S. 3.
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auf der Grundlage des Wissens von der aufsteigenden Entwicklung des germanischen Gedankens in den letzten Jahrhunderten die Vermutung hegen, dass auch in künftigen Jahrzehnten und Jahrhunderten die germanischen Grundlagen der deutschen Gesittung noch wesentlich stärker hervortreten werden.140
Es ist nicht zu übersehen, dass alle diese altertumskundlichen Termini, wie „Germanentum“, „Deutschtum“, „Volksgeist“, „deutscher Geist“, „deutsche Gesittung“ etc., und die damit verbundenen Vorstellungen in einer philosophischen Tradition stehen, die dem „Volksgeist“ schließlich die Funktion eines allseitigen Fundamentalbegriffs einräumten.141 Die Geist-Auffassung war ein Zentralgedanke der germanischen Altertumskunde seit Grimms Zeiten. Diesen Gedanken zu verabschieden, bedeutet einen Bruch in der Geschichte dieser Disziplin, der nicht größer sein könnte. Die Einbindung des RGA in seine Tradition sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass die Zielsetzung „deutscher Geist“ (als Jahrtausende übergreifendes Charakterkonzept) kein gegenwärtiges Thema mehr ist – und im RGA auch nicht vertreten wird. Es mögen zwei Zeitzeugen der Wende von 1945 im Blick auf die Geist-Konzeption zu Wort kommen: einerseits der zu dieser Zeit im US-Exil lebende Thomas Mann, andererseits der in christlich-katholischer Opposition verbliebene Reinhold Schneider. In seiner Washingtoner Rede 1945 über „Deutschland und die Deutschen“ konstatierte Thomas Mann in der jüngeren Geschichte der Deutschen eine „Innerlichkeit“, die dem Rationalismus der Aufklärung entgegenstand und den europäischen Demokratismus verschmähte – ein Rätsel im Schicksal des deutschen Volkes, das in eine ungeheure Katastrophe geführt habe.142 Reinhold Schneider fordert angesichts der Katastrophe eine „unnachgiebige Prüfung“ des deutschen Geistes in all seiner Rätselhaftigkeit – in der Erkenntnis, dass die Verfehlung der christlichen Botschaft auch die Menschheit verfehlt habe: „der Missbrauch des Menschen, der keinen göttlichen Bruder mehr hat, und die Lüge, die diesen Missbrauch verschleiert, sind die Zeichen dieser Jahre“.143 140 141 142
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Nollau (wie Anm. 139), S. 15. Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 71), Bd. 3, s.v. Geist (F. Fulda). Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, hrsg. von Hans Bürgin, Peter de Mendelssohn, 2. Auflage, Bd. 11 (Frankfurt 1974), S. 1126–1148. Von der „Feindschaft der Deutschen gegen die Aufklärung“ sprach schon F. Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, Bd. 1 (Darmstadt 1954), S. 1144. Reinhold Schneider, Die Heimkehr des deutschen Geistes (Heidelberg 1946), S. 13. Bewegend ist die Abrechnung mit dem „deutschen Geist“, die Reinhold Schneider vornahm. Unter dem Eindruck des Kriegsendes argumentierte er, dass nun alles Denken, Reden und Tun vergeblich sei, das uns nicht bewegt „zum Gerichtstag über uns selbst“: Indem das deutsche Denken Christus verfehlte, hat es
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Die Hinweise mögen verdeutlichen, in welchen disziplinären und weltanschaulichen Umbrüchen sich eine germanische Altertumskunde der jüngeren Vergangenheit bewegte und noch bewegt – bis hin zur Einsicht, dass eine (veraltete) Konzeption einer Kulturwissenschaft als Äußerung eines (germanischen bzw. deutschen) Geistes nicht über das Jahr 1945 hinausführen konnte.144 Vielleicht ist dieses spezifische Geist-Konzept als Brennpunkt einer altgermanisch/deutschen Altertumskunde die eigentliche Ursache seiner Problematik. Wilhelm von Humboldt sprach in einem Beitrag von 1797 ebenfalls vom „Geist“ als einem Fluchtpunkt, einem absoluten Maßstab in der Beurteilung eines „Strebens nach etwas Letztem und Unbedingtem“ – und machte dabei klar, dass dieses Letzte und Unbedingte in der „Würde des Menschen“ sein Ziel fände.145 Auch dieser Begriff eines „Geistes der Menschheit“ auf humanitärer Basis gehört zur deutschen Tradition. In der Rückschau offenbart sich der fundamentale Unterschied eines humanistisch-universalen Begriffes einerseits, gegenüber einem biologischnationalen Konzept andererseits in voller Schärfe. Zu 2): Ein Entwurf von „Kulturzeitaltern“ – als Distanzierung zu den zeitübergreifenden Begriffen wie „Germanentum“, „Volksgeist“ etc. gedacht – ruft neue Fragen auf. Wenn an die Stelle der Konstante der Wandel tritt, die Kontinuität mit der Diskontinuität zu verrechnen ist, sind dann Epochenbegriffe überhaupt tauglich? „Epoche“ markiert ursprünglich einen Anfangspunkt, eine Zäsur, keine Zeitenfolge. Insofern ist er – als Konstruktion des Historikers – tauglich, wenn erkennbare Zäsuren auszumachen sind. Als Beispiele solch kultureller und politischer Neuerungen könnten dienen: Akkulturationserscheinungen in römisch-germanischer Begegnung (RGA → Registerband 2, s.v. Akkulturation),146 Konversion in der Begegnung mit dem Christentum (RGA → Bekehrung und Bekehrungsgeschichte), Nationenbildung und nationale Herrschaftsstrukturen (RGA → König und Königtum) etc.
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auch die Menschheit verfehlt; der Missbrauch des Menschen, der keinen göttlichen Bruder mehr hat, und die Lüge, die diesen Missbrauch verschleiert, sind die Zeichen dieser Jahre… Die Darstellung der Beziehung zu Christus wäre die Herzensgeschichte des deutschen Geistes, ein Thema, das wir, da ihm nicht mehr ausgewichen werden kann, doch nur anzuschlagen wagen. (S. 13 f.) Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 71), Bd. 3, s.v. Geist (K. Rothe), Sp. 203. Wilhelm von Humboldt, Über den Geist der Menschheit. In: Werke in fünf Bänden, hrsg. von Andreas Flitner, Klaus Giel, Bd. 1 (Darmstadt 1960), S. 506–518. Akkulturation. Probleme einer germanischromanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter, hrsg. von Dieter Hägermann, Wolfgang Haubrichs, Jörg Jarnut. Ergänzungsbände zum RGA, Bd. 41 (Berlin, New York 2004).
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Mit dem Konzept „Kulturzeitalter“ (einem von K. Lamprecht geborgten Begriff) sind auch Raumvorstellungen verbunden. Von „Zeiträumen“ zu sprechen wäre treffend, wenn das Kompositum im Sinne eines KopulativKompositums verstanden würde: eine durch die Koordinaten Zeit und Raum bestimmte Ära. Es war die Vorstellung K. Lamprechts, dass die Geschichte sich durch die Abfolge von Kulturstufen oder Kulturzeitaltern verwirkliche. Die Aufgabe der Kulturgeschichte bestehe eben darin „in der Entwicklung einer Lehre der typischen Kulturstufen, und in der Anwendung der Ergebnisse dieser Lehre auf das Einzelschicksal jeder Nation“ zu einem wissenschaftlichen System der Weltgeschichte fortzuschreiten. Wenn heute von „Kulturgeographie“ gesprochen wird, steht dahinter der Gedanke, Räume nicht nur als topographisch-bestimmte Größen zu verstehen, sondern als kulturell konstituierte Schöpfungen gelten zu lassen. Anlass zu dieser Bemerkung im Rahmen einer germanischen Altertumskunde gibt die Wertung des skandinavischen Nordens als eines konservativen Bewahrungsund Rückzugsraumes des Germanischen. Die skandinavische Halbinsel und in Sonderheit der Außenposten Island gelten dabei als konservative Peripherie, die dem innovativen Mittelpunkt auf dem Kontinent gegenüberstünde. Schon Herder meinte in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784/85) der Norden sei in einem anhaltendem „Zustand der Eigengehörigkeit und Freiheit“ verharrt,147 in dem sich die „Einfalt Deutscher Ur-Sitten lange erhalten habe“. Die Vorstellung wurde eifrig weiter gepflegt. J. Grimm betonte den skandinavischen und isländischen Anteil an der Grundlegung einer germanischen Religionsgeschichte in seiner „Deutschen Mythologie“: Besonders Island galt als Beharrungsraum eines ursprünglichen Germanentums. Noch 1964 sprach Helmut de Boor von Island als dem für Jahrhunderte letzten Zufluchtsort „germanischer Daseinsform“148 (vgl. dagegen RGA → Ultima Thule/Thule). Was hat die Annahme eines skandinavisch-konservativen Germanentums zu bedeuten? Als um 600 in England ein virulentes Zentrum christlicher Mission entstand, ging im südlichen Skandinavien eine an die römische Medaillonkunst (des 4. Jahrhunderts) anknüpfende Brakteatenproduktion (mit ihrer pagan-religiösen Signifikanz) ihrem Ende entgegen. Ebenfalls auf spätrömischen Vorbildern beruhte die sogenannte Tierornamentik, die weite Bereiche der germanischen Welt erfasste und die sich – wie die Brakteaten147 148
Johann Gottfried Herder (wie Anm. 123), S. 383. Helmut de Boor, Herbert A. Frenzel, Die Kultur Skandinaviens. Die Kulturen der Niederlande und SkandinavienS. 2. Auflage (Frankfurt/Main 1964), S. 2: de Boor bemerkt, dass Germanentum wie christliche und antike Welt um 400 anders aussahen als um das Jahr 1000.
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kunst – auch in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts im südlichen Skandinavien entwickelte. Das Aufkommen der Runenschrift in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten im südskandinavischen Raum wurde schon vermerkt. Einen eigenständigen skandinavischen Kulturraum (einschließlich seiner Außenposten) kann man wohl verteidigen – nicht aber sein Verharren auf einer konservativen germanischen Kulturstufe. Die bemerkenswerte Reaktion des südlichen Skandinavien auf kulturelle Herausforderungen deutet nicht auf ein konservatives Rückzugsgebiet, das dem aktiveren Kontinent gegenübergestanden hätte! (RGA 3 → Brakteaten, → Brakteatenikonologie, RGA 25 → Runeninschriften, → Runen und Runendenkmäler, RGA 30 → Tierornamentik). Weder ist eddische Dichtung noch nordgermanische Religion in dieses Schema zu pressen.149 Wenn im Folgenden also statt mit Jahrtausende überdauernden „genetischen“ Wesensmerkmalen zu arbeiten, die germanische Zeit und ihr Raum in einer differenzierteren Gliederung behandelt werden, ist die Frage nach möglichen epochalen Zäsuren und zeitprägenden „Akkorden“ (um den Lamprechtschen Terminus zu verwenden) zu beantworten. Mit „Vorgeschichte“ ist ein Zeitalter gemeint, das vor aller erzählten Geschichte liegt, – das heißt, mit „Vorgeschichte“ wird hier der Beginn des germanischen Altertums vor seiner literarischen Bezeugung verstanden. Zur Außensicht dieser Ära tragen Beobachtungen der mediterranen Kulturvölker bei. Sprachlich ist die Ära als „Urgermanisch“ (Proto-Germanic) zu bezeichnen – dadurch definiert, dass sich in einem größeren sprachlichen Kontinuum (des Alteuropäischen) eine Sprache herausbildete, die als parent language der späteren germanischen Einzelsprachen gelten darf.150 Das Konzept eines sprachlichen Kontinuums ist hilfreich – das früheste Germanisch musste im Westen in einem Kontinuum zu Keltisch und Italisch, im Osten zu Baltisch und Slavisch situiert gewesen sein.151 Diese Ursprache, lässt sich nach Zeit („Urgermanisch“), Raum („Urheimat“) und Gestalt (mit Sternchen-Markierung der erschlossenen Wortformen) nur unvollständig rekonstruieren – die Rekonstruktion kann ja nur von den spä149
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Hans Gebhardt, Paul Reuber, Günter Wolkersdorfer (Hrsg.), Kulturgeographie. Aktuelle Ansätze und Entwicklungen (Heidelberg, Berlin 2003). Jan Öhman, Kirsten Simonsen (Hrsg.), Voices from the North. New Trends in Nordic Human Geography (Ashgate u.a. 2003). Ulf Näsman, The Justinianic Era of South Scandinavia: An Archaeological View. In: Richard Hodges, William Bowden (Hrsg.), The Sixth Century (Leiden u.a. 1998), S. 255–278. Vgl. Edgar C. Polomé. In: Frans van Coetsem, Herbert Kufner (Hrsg.), Toward a Grammar of Proto-Germanic (Tübingen 1972), S. 44 ff. Vgl. dazu den Beitrag von Elmar Seebold in diesem Band (weiter RGA 11 → Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde, § 10–16.).
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teren Einzelsprachen ausgehen. Gibt also der Rekonstruktionsprozess als solcher schon Fragen auf, so erschwert die Annahme eines bereits dialektal gegliederten Urgermanisch die Aufgabe noch viel mehr. Hans Krahe wollte daher den Terminus „Urgermanisch“ ganz meiden und durch „Frühgermanisch“ ersetzen.152 Eine „feste und zuverlässige Chronologie“153 ist damit allenfalls in relativer Sicht zu gewinnen. Zwischenstationen genetischer Art (wie Westgermanisch, Ostgermanisch, Nordgermanisch, Gotonordisch etc.) sind Konstrukte, die zumindest für Westgermanisch und Gotonordisch als überholt gelten dürfen. Eine gewisse Übereinstimmung herrscht heute wohl darin, das Urgermanische in absoluter Datierung um die Mitte des letzten vorchristlichen Jahrtausends (ca. 500 v. Chr.) anzusetzen.154 Einer Erwähnung bedarf in diesem Zusammenhang auch das AlteuropaKonzept (vgl. RGA 9 → Flussnamen). Es hat in den 40er und 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Präzisierung erfahren, die mit den Studien Hans Krahes zu einer Klasse alter Gewässernamen zusammenhängen, d. h. mit einem Namenschatz, der als indogermanisch zu klassifizieren ist und geographisch über ganz Europa, von Skandinavien bis zum Balkan, von Spanien bis an den Don reicht – mit einem baltischen Kontinuitätszentrum (nach Wolfgang P. Schmid155). Diese Schicht voreinzelsprachlicher Namen in ihrer räumlichen und zeitlichen Dimension wird dem „Alteuropäischen“ zugesprochen. Sie belegt für diese „Hydronymie“ eine „Ausbildung westlich der Baltikum-Balkan-Linie im Kontakt mit dem Baltischen, Germanischen und Keltischen“ – d. h. auch eine Produktivität bestimmter Namentypen, die erst nach Ausgliederung des Lateinischen einsetzte (nach Schmid – zur weiteren kritischen Diskussion Thorsten Andersson, Einleitung, in: Suffixbildungen in alten Ortsnamen. Akten eines internationalen Symposiums in Uppsala 14.–16. Mai 2004, hrsg. von Thorsten Andersson und Eva Nyman. Uppsala 2004, S. 9–11 – und die weiteren Beiträge dieses Bandes). In archäologischer Sicht gilt, was Malcolm Todd für den archäologischen Befund in der Frage der indogermanischen Urheimat bemerkt: 152
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Hans Krahe, Germanische Sprachwissenschaft, Bd. 1: Einleitung und Lautlehre (Berlin 1956), § 21. Die von ihm auch erwogenen Termini „altgermanisch“ und „gemeingermanisch“ sind bereits terminologisch anders definiert. Friedrich Kauffmann, Deutsche Altertumskunde, Bd. 1 (München 1913), S. 24. Herbert Penzl, Zur Rekonstruktion des Urgermanischen. In: Studia Linguistica Diachronica et Synchronica, hrsg. von Ursula Pieper, Gerhard Stickel (Berlin, New York 1985), S. 619–633. Wolfgang P. Schmid, Das Lateinische und die Alteuropa-Theorie. In: Indogermanische Forschungen 90, 1985, S. 129–146; Hans Krahe, Sprache und Vorzeit. Europäische Vorgeschichte nach dem Zeugnis der Sprache (Heidelberg 1954).
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Although we cannot locate the Urheimat of Indo-European speakers with any precision, the broad sweep of Europe from the western steppes to the north German plain – a reasonably continuous ecological region – may be plausibly identified as a principal homeland of that population. Archaeology is of no help here, despite many efforts to define cultures which could be termed IndoEuropean.156
Ähnliche Voraussetzungen bestehen für die Frage nach der germanischen Urheimat, die (nach einer Theorie) in den angrenzenden Gebieten des südlichen Ostseeraumes gesucht wird.157 In onomastischer Sicht ist um die Mitte des letzten vorchristlichen Jahrtausends die Nordgrenze des Germanischen bis zu einer Grenze vorgerückt, die zwischen Mittel- und Nordschweden verläuft. Historiographisch trugen die griechischen und lateinischen Historiker zur Sicht der germanischen Frühzeit bei – allerdings ist der vor-caesarische (und vor-taciteische) Gebrauch des Germanennamens in seiner Reichweite und Bedeutung stark umstritten. Kennzeichnend für diese früheste Zeit ist die Nähe, die zwischen Kelten und Germanen bezeugt ist. Weiter herrschte die Meinung vor, dass mit wachsender nördlicher Entfernung der Grad der Fremdheit (Wildheit, Körpergröße, Blondheit) wachse. Direkterfahrungen brachten Forschungsreisen in den Norden – der Massaliote Pytheas (RGA 23 → Pytheas) erkundete in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. die beiden wichtigsten nördlichen Handelsplätze und Handelsrouten der Zeit: die Zinnlagerstätten in Cornwall und die Fundstätten des Bernsteins an der deutschen Nordseeküste (RGA 2 → Bernstein und Bernsteinhandel, RGA 34 → Zinn). Zu weiteren Direktkontakten führten um 120 v. Chr. die Züge der Kimbern, Teutonen und Ambronen (RGA → Ambronen, → Kimbern, → Teutonen), die bis nach Gallien und Oberitalien reichten. Weil die Republik in den Kimbern (so urteilt Dieter Timpe) „den Schrecken einer großen, unerwarteten Bedrohung Italiens erfahren hatte, haben sie sich … in das geschichtliche Gedächtnis eingezeichnet als prototypische Vertreter unberechenbarer Gewalt, barbarischen Furors, räuberischer Habgier und äu156
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Malcolm Todd, The Early Germans (Oxford 1992), S. 11. In der Frage nach der Indogermanen-Heimat in archäologischer Sicht vertritt James Patrick Mallory die These einer Herkunft aus der südrussischen Steppe. Vgl. Bernfried Schlerath, Die Indogermanen. Das Problem der Expansion eines Volkes im Lichte seiner sozialen Struktur (Innsbruck 1973). James Patrick Mallory, Douglas Q. Adams, The Oxford Introduction to Proto-Indo-European and the Proto-Indo-European World (Oxford 2006), c. 26 (mit dem Nachweis weiterer Arbeiten von Mallory zum Thema, S. 579). Vgl. etwa Friedrich Maurer, Nordgermanen und Alemannen, 3. Auflage (Bern/ München 1952), S. 93 ff.
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ßerster Primitivität“.158 Die eingehende Erfahrung mit diesen nordischen Barbaren (Teutonen und Ambronen geschlagen in der Schlacht bei Aquae Sextiae 102 v. Chr., die Kimbern bei Vercellae 101 v. Chr.) führte zu einer Barbarentypik, die durchaus Realitätsbezüge beanspruchen darf. Wenn der vor-caesarische Germanenname also nicht die Eindeutigkeit der späteren Zeit hatte (Poseidonios zählte die Kimbern noch zu den Kelten!), so ist die Vorstellung, dass die nördlichen Randvölker (je nördlicher desto mehr) als Barbaren einzustufen sind, wohl doch als eine Differenzerfahrung einer Hochkultur im Blick auf Randkulturen zu bewerten sein. Zu dieser Erfahrung zählt die Vorstellung, dass Kelten und Germanen sowohl durch Verwandtschaft, Wesensart und soziale Ordnung eng verbunden waren (Strabon, Geographika 4 und 7). Die viel diskutierte Bemerkung des Tacitus (Germania, c. 4) über die nur sich selbst ähnlichen Germanen ist sicher nicht in einem rassentheoretischen Sinne zu verstehen159 – die großen Körper, die nur zu einem kurzen Ansturm taugen (magna corpora et tantum ad impetum valida) liefern eine physische Begründung für den impetus, der ihnen eigen gewesen sein soll.160 Seneca der Jüngere begründete den ihnen zukommenden incursus als psychische Eigenheit – und sprach den Germanen ob dieser Eigenschaften jede Fähigkeit des Herrschenkönnens ab: ut servire non possunt, ita nec imperare (De ira).161 Wie dem Ungestüm und der Wildheit dieser Barbaren zu begegnen ist, demonstrierte Titus Livius mit einer Rede des Cn. Manlius Vulso an seine Soldaten: Wenn man dem ersten Angriff dieser Gallier standhielte, „in dem sie mit hitziger Wut und blindem Zorn hervorbrechen, dann erschlaffen vor Schweiß und Erschöpfung ihre Glieder, entgleiten ihnen die Waffen. Ihre Körper sind schlaff, ihr Mut gebrochen, sobald der erste Zorn sich gelegt hat.“ Ähnliches berichtete bereits Polybios, wenn er von der „Tollkühnheit“ und dem „sinnlosen Draufgängertum“ der Gaesaten (RGA 10 → Gaesaten) im Kampf mit den Römern sprach.162 Schon zuvor hatte Aristoteles in Politica nach Grundbedingungen staatlichen Zusammenlebens gefragt – und die Griechen in die
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Dieter Timpe, Kimberntradition und Kimbernmythos. In: Barbara Scardigli, Piergiuseppe Scardigli, (Hrsg.), Germani in Italia (Roma 1994), S. 23–60, besonders S. 59. Vgl. dazu Eduard Norden, Die germanische Urgeschichte in Tacitus Germania, 5. Auflage (Darmstadt 1974), S. 431 f. Tacitus, Germania cap. 4. In: Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas bis zu Mitte des 1. Jahrtausends u. Z., hrsg. von Joachim Hermann, Bd. 2 (Berlin 1990), S. 84 f. Griechische und lateinische Quellen (wie Anm. 160), Bd. 1 (Berlin 1988), S. 306. Griechische lateinische Quellen (wie Anm. 160), S. 62–65, 204–205.
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Mitte zweier Gegensätze platziert: Die Völkerschaften in den kalten Gegenden Europas sind zwar voll Mut, sind aber mit Verstand und Kunstvermögen in geringerem Grade versehen, zur Bildung eines staatlichen Gebildes untüchtig und unfähig, ihre Nachbarn zu beherrschen. Dagegen sind die Völker Asiens intelligent und im Besitz künstlerischer Anlagen. Es fehlt ihnen aber der Mut. Daher leben sie in Unterwürfigkeit und Sklaverei (Politica VII). Generalisierend ließe sich sagen, dass in griechischer Sicht die nördlichen Barbaren ein vorwiegend entferntes ethnographisches Objekt waren, während die römische Sicht von der Naherfahrung mit den gallischen und germanischen Barbaren (seit der gallischen Eroberung Roms 387 v. Chr.) geprägt war.163 Beide Hochkulturen (mit ihrer – im Griechischen – ausgeprägten Philosophie des Maßes und der Mitte) registrierten dabei ein Defizit an Rationalität, die nicht Anfang und Ende einer Handlung zugleich zu bedenken wusste, d. h. das Prinzip des Maßes nicht kannte (dessen Gegensatz die Hybris darstellt). Wenn auch im alten Griechenland heroische Tugenden wie Tapferkeit und Großgesinntheit in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Ideal der Besonnenheit, des Maßes standen, dann könnte man auch hier eine archaische Zeit vermuten, die das Mittel-Maß noch nicht in gleicher Weise idealisierte. Auch in den Heldensagen der Kelten und Germanen sind solche Spannungsverhältnisse zu registrieren. In keltischer Heroengeschichte ist an die battle fury des Cúchulainn zu erinnern. In der altnordischen Atlakviða weist der König alle Warnungen vor einer verräterischen Einladung mit einer großen Geste zurück und begibt sich bewusst in die tödliche Gefahr (RGA → Atlilieder). Die Gefahr zu kalkulieren, ist bei diesen Völkerschaften keine heldische Option! Eine in der Sprache konservierte Innensicht vermag diese Frühstufe zu bestätigen. In einer Untersuchung war Hans Eggers auf der Spur von germanischen „Seelenwörtern“.164 In einer Weiterführung seiner Gedanken wird ein altgermanisches Mentalitätskonzept deutlich, das sich in der dichtersprachlichen Formel muat ioh hugu bis in die Schreibzeit rettete – und das den Agon als ein bestimmendes Mentalitätsprinzip vermuten lässt.165 163
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Gunnar Rudberg, Zum antiken Bild der Germanen. Studien zur ältesten Germanenliteratur. Avhandlinger utgitt av Det Norske Videnskaps-Akademi i Oslo. II. Hist.Filos. Klasse 1933, No. 5 (Oslo 1933). Hans Eggers, Altgermanische Seelenvorstellungen im Lichte des Heliand. In: Niederdeutsches Jahrbuch 80, 1957, S. 1–24. Vgl. weiter Gertraud Becker, Geist und Seele im Altsächsischen und im Althochdeutschen (Heidelberg 1964). Heinrich Beck, Seelenwörter des Germanischen. In: Althochdeutsch, hrsg. von
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Wenn die hochkulturellen Differenzbezeugungen als geschichtliche Erfahrungen mit den nördlichen Germanen (und Kelten) gelten dürfen, läge es nahe, den vorgeschichtlichen Zeitabschnitt mit dem Indikator des Agonalen, einer Tapferkeit, die mit Unbeherrschtheit verbunden war, zu kennzeichnen – wie Aristoteles in einer allgemeinen Barbarenkritik sagt: „Überhaupt ist Tapferkeit bei den Barbaren stets mit Unbeherrschtheit verbunden“.166 Dass damit nicht nur ein kampftaktisches Verhalten gemeint ist, vielmehr ein mentalitätsbestimmender „Kulturfaktor“ angesprochen wird, darf vermutet werden. Es ist kaum nötig, zu betonen, dass damit kein germanisches „Urvolk“, keine politische Einheit „Germanen“ postuliert sein soll.167 Vorausgesetzt wird allein eine gewisse Mentalitäts- und Sprachgemeinschaft, die den nördlichen Völkerschaften aus hochkultureller Sicht zugeschrieben wurde. Mit dem Terminus barbaries stellen lateinische Autoren den Kulturvölkern Griechenlands und Italiens Völker- und Landschaften gegenüber, denen sie ein kulturelles Defizit zuschreiben. Cicero sprach erstmals von der Dreiheit Graecia, Italia und Barbaria (De finibus bonorum et malorum 2, 49) – und in der weiteren Diskussion wird dann die barbaries in kultureller, sprachlicher und moralischer Sicht als Gegensatz zu römisch-griechischer Wesensart erklärt. Die Bezeichnung dieses Gefälles zwischen den imperialen Staaten und den barbarischen Anrainern wird als Topos deklariert – als Topos, der durchaus einer realen Erfahrung entsprechen kann. Transformatio ist andererseits ein Terminus, der in der heutigen Diskussion die Zeit vom 4. bis zum 9. Jahrhundert als einen bevorzugten Forschungszeitraum ins Zentrum rückt (RGA → Transformation of the Roman World) auch in der Absicht, von den negativen Wertungen dieses Zeitraumes Abstand zu nehmen und offen zu sein für neue Wertungen (vgl. RGA → Kontinuitätsprobleme). Die Betrachtung und Bewertung dieses Zeitraums führt in direkter Linie zu der eingehenden Untersuchung, die Reinhard Wenskus 1961 vorlegte „Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes“.168 Sie bestimmte die Perspektive des Lexikons von den Stichwörtern „Adel“, „Alanen“ bis zu „Galinder“ (der letzte Artikel, zu dem Wenskus als Mitherausgeber beitrug. Seine Nachfolge trat in Band 10 des RGA der Althistoriker Dieter Timpe an – vgl.
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Rolf Bergmann, Heinrich Tiefenbach, Lothar Voetz, Bd. 2 (Heidelberg 1987), S. 985–999. In diesen Vorstellungsbereich dürften auch die Odins-Beinamen Hnikarr und Hnikuðr = der zum Kampfe aufreizt (Grímnismál 47 und 48), gehören. Griechische und lateinische Quellen (wie Anm. 160), S. 55. Vgl. dazu Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes (Köln, Graz 1961), S. 152 ff. Wenskus (wie Anm. 167).
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RGA 33 → Wenskus). Dass diese Arbeit heute lebhaft und kritisch in der Frühmittelalterforschung diskutiert wird, belegt den Rang dieser Nachkriegsforschung, die zu seiner Zeit als Neuorientierung und Beginn einer entideologisierten Germanenforschung verstanden wurde. In der Zwischenzeit ist Wenskus selbst bereits zum Gegenstand historiographischer Forschung geworden. Die kritische Auseinandersetzung lässt sich an Begriffen wie „Stamm“, „gens“ (Gentilismus), „Ethnos“ und „Traditionskern“ festmachen. „Stamm“ und „Stammeskunde“ reichen als Begriffe weit zurück in das 19. Jahrhundert. Grimm sprach in seiner Geschichte der Deutschen Sprache von den „indogermanischen Stämmen“, vom „deutschen Stamm“ und weiter von den einzelnen „Zweigen“ des großen Stammes – und beweist damit, dass er sich der Indienstnahme einer biologischen Metapher durchaus bewusst war.169 Von den „Sprachstämmen“ sprach auch kurz zuvor Kaspar Zeuß170 – und „Ast“, „Zweig“ und „Stamm“ gehörten zum Vokabular auch der frühen germanistischen Sprachforschung. Ohne Zwischenstufen zu beschreiben, sei in die Nachkriegzeit geblickt und Ernst Schwarz genannt, der 1956 eine „Germanische Stammeskunde“ publizierte, der er 1972 unter dem Titel „Zur germanischen Stammeskunde“ eine Aufsatzsammlung zum „neuen Forschungsstand“ (Darmstadt 1972) folgen ließ.171 Zwischen beiden Publikationen lag die Arbeit von Wenskus. Wahrgenommen hat sie Schwarz nur kurz im Vorwort und einem eigenen Beitrag, der sich mit der Herkunftsfrage der Goten befasste. Die Sammlung älterer Beiträge unter dem Titelanspruch eines „neuen Forschungsstandes“ kommt einer Ablehnung der Wenskus-Thesen gleich – auch wenn im Vorwort das TraditionskernKonzept anerkannt wird. Die ethnosoziologische Orientierung von Wenskus findet ansonsten eine distanzierte Erwähnung. Der von Schwarz postulierte neue Forschungsstand verharrt mit seinem Stammesverständnis auf dem Niveau der „Deutschen Stammeskunde“ von 1956.172 Wenskus verstand unter Gentilismus dezidiert die Zeit des Werdens der Großstämme, d. h. der gentes – in Weiterentwicklung der (weitgehend biologisch verstandenen) „Stämme“, die auf dem Niveau der Großstämme im 169 170 171
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Jacob Grimm (wie Anm. 87), S. XV. Kaspar Zeuß, Die Deutschen und die Nachbarstämme (München 1837). Ernst Schwarz, Germanische Stammeskunde (Heidelberg 1956); Zur germanischen Stammeskunde. Aufsätze zum neuen Forschungsstand, hrsg. von Ernst Schwarz. Wege der Forschung CCIL (Darmstadt 1972). Schwarz (wie Anm. 171); Ernst Schwarz, Germanische Stammeskunde zwischen den Wissenschaften (Konstanz, Stuttgart 1967); Zur Germanischen Stammeskunde (wie Anm. 171). Schwarz versuchte, insbesondere die sprachliche Forschung in die Diskussion einzubringen.
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Sinne von „Völkerschaften“ verstanden wurden. Titel wie gotisch þiudans (König), altnordisch fylkir (Herrscher), altenglisch léod (chief) bezeichneten den Herrscher noch als Repräsentanten ihrer jeweiligen „Stämme“. Die weitere Stammesbildung war jedoch insbesondere verbunden mit der Ausbildung des Königtums – nach Wenskus zwei Aspekte des gleichen Vorgangs (S. 323). „Stammesbildung“ verlief im Sinne einer Akkumulation, einer „Angliederung“ und „Ansaugung“ von „Fremdgruppen“ – ein Vorgang, der im eigentlichen Sinne zur Entstehung der Großstämme der Völkerwanderungszeit führte.173 Wenskus sah darin einen vielschichtigen Prozess,174 den er in Kapitel V („Stammesbildung in der Römer- und Völkerwanderungszeit“) für die gentes der Völkerwanderungszeit und des frühen Mittelalters zu beschreiben suchte. Einen besonderen Stellenwert nahm für Wenskus der Begriff des „Traditionskerns“ ein. Diesen Kern (dessen Bestandteile Genealogien, Herkunftsberichte, Wandersagen etc. sein konnten) wertete Wenskus als traditionstragendes Element im Prozess der Großstammbildung – und verweist dabei auch auf Ethnographen, denen dieses Phänomen wohlbekannt sei.175 Nicht nur die enge Bindung zwischen Königtum und solcher Stammestradition in Gestalt des Traditionskernes ist für Wenskus bedeutsam, er sieht in diesen Traditionen auch einen „historischen Kern“, den es in der Geschichtsforschung zu beachten gälte (vgl. RGA 22 → Origo gentis). Eine weiterer Grundzug der Wenskusschen Argumentation verdient noch eine Erwähnung: die ethnosoziologische Orientierung. Wenskus betont, dass um Christi Geburt das Germanentum auf dem Wege einer ethnischen Konzentration gewesen sei (also keine bloße Sprachgemeinschaft mehr war). Dabei zeigen sich Vergleichsmöglichkeiten, die darauf beruhen, dass „viele soziale Prozesse und Strukturen sich überall auf der Welt wiederholen … Ihre Universalität lässt vermuten, dass sie innerhalb des Variationsbereichs auch für unseren Raum gelten“. Weitgehende Übereinstimmung herrsche darüber, betont Wenskus, dass die ethnologische Typik auf die germanischen Stämme ohne große Bedenken angewandt werden kann – warnt andererseits aber auch davor, die ethnologisch-soziologischen Modelle und Begriffe schematisch in die Frühgeschichte hineinzutragen. Die ethnologische Regel, deren Gültigkeit an sich im Einzelfall nicht ohne Gegengründe von vornherein geleugnet werden kann, soll dennoch nur als 173 174 175
Wenskus (wie Anm. 167), S. 430 und 439. Wenskus (wie Anm. 167), S. 458. Wenskus (wie Anm. 167), S. 75.
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Folie dienen, auf der sich unter Umständen Abweichungen als besondere Eigentümlichkeiten abheben, die historisch zu begründen sind.176
Gegenüber der Lamprechtschen ethnosoziologischen Methodenlehre vertritt Wenskus eine Komparatistik, die auf keinem schematischen Entwicklungsdenken beruht. Auch Hoops hatte da noch zuversichtlich formuliert, dass (unter Einbeziehung der historischen Sprachwissenschaft) eine „vergleichende Heranziehung der Zustände bei primitiven Volksstämmen der Gegenwart, die Möglichkeit einer Anknüpfung an die indogermanische Urzeit“ bei religions-, rechts-, sozial- und allgemein kulturgeschichtlichen Fragen ermöglicht werde.177 Darüber ist Wenskus weit erhaben. Die Reaktion auf die Wenskussche Sicht verlief unterschiedlich. Selbst im RGA wurde im weiteren Verlauf sein Faden nicht immer aufgenommen – selbst in Beiträgen wie „König und Königtum“, „Thüringer“ etc. fand Wenskus keine besondere Beachtung, wohl aber in „Origo gentis“, „Stammesbildung, Ethnogenese“, „Heerkönigtum“ etc. Die intensive Diskussion entfachte erst die sog. Wiener Schule (besonders zu nennen Herwig Wolfram und Walter Pohl mit ihren Beiträgen) und die englischsprachige Forschung, die sich 1980 mit Walter Goffart, Barbarians and Romans A.D. 418–584,178 und dann 2002 mit einem Sammelband „On Barbarian Identity. Critical Approaches to Ethnicity in the Early Middle Ages“,179 artikulierte. Mit diesen Arbeiten setzte sich Helmut Castritius (RGA 29→ Stammesbildung, Ethnogenese) auseinander.180 Beachtenswerte Einzelstudien folgten in jüngster Zeit: Alheydis Plassmann behandelt die Herkunftserzählungen der gentes unter dem Gesichtspunkt der Identitätsstiftung und Legitimierung im weiteren Kontext der mittelalterlich-christlichen Kultur – das heißt nicht die Frühzeit der gentes ist ihre Thematik, vielmehr wird Antwort gesucht auf die Frage, wie diese Herkunftserzählungen Identität stifteten und wie sie die bestehende Ordnungen 176
177 178
179
180
Wenskus (wie Anm. 167), S. 5 ff. – das erstere Zitat ist Wilhelm Emil Mühlmann, Geschichte der Anthropologie (Bonn 1948), S. 223 entnommen. Hoops, Reallexikon, Bd. 1, S. VI. Walter Goffart, Barbarians and Romans A.D. 418–584. The Techniques of Accommodation (Princeton 1980). On Barbarian Identity. Critical Approaches to Ethnicity in the Early Middle Ages, hrsg. von Andrew Gillett. Studies in the Early Middle Ages, 4 (Turnhout 2001). Vgl. dazu auch W. Pohl in RGA → Stammesbildung, Ethnogenese und die bedeutsamen Arbeiten von R. Hachmann zur Germanendiskussion: Rolf Hachmann, Georg Kossack, Hans Kuhn, Völker zwischen Germanen und Kelten (Neumünster 1962). Rolf Hachmann, Die Goten und Skandinavien (Berlin 1970). Rolf Hachmann, Die Germanen (München 1971). Rolf Hachmann, Der Begriff des Germanischen. Jahrbuch für internationale Germanistik 7, 1975, S. 113–144.
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der eigenen Zeit legitimierten;181 Stefanie Dick, „Der Mythos vom ‚germanischen‘ Königtum“, ist der Meinung, dass die weitgehende Demontage des älteren Germanenbegriffs auch für das auf derselben Grundlage fußende Phänomen eines gentilen Königtums eine Neubesinnung erzwinge.182 Sie argumentiert, dass insbesondere die militärische Anführerschaft nicht aus den sozio-politischen Verhältnissen der barbarischen Gesellschaften entwachsen sei, vielmehr führten die Bedürfnisse der römischen Außenpolitik nach legitimierten vertragsfähigen Verhandlungspartnern dazu, die barbarischen Anführer pauschal als reges zu erklären. Keineswegs ergäbe sich daraus ein Abbild einer „germanischen“ Verfassungsrealität. Erst im Niedergang des Weströmischen Reiches entstanden Rahmenbedingungen für die Entwicklung stabilerer gesellschaftlicher Organisationsstrukturen – und damit auch für eine dauerhafte Herrschaftsorganisation, die als Königtum rezipiert und deklariert wurde. Ein philologischer Beitrag zu diesem Konzept eines Traditionskernes als eines konstitutiven Elements der Großstammbildung steht noch aus. Er kann hier auch nur angedeutet werden. Zwei Gesichtspunkte könnten dazu beitragen: Die Geschichte der altgermanischen Dichtung kennt keine höhere „Gattung“, die dem Traditionskern entspräche, wohl aber „Themen“, die eine Abkunft- und Herkunftsidee thematisieren. Formgeschichtlich hatte Heusler bereits im Hoops (Hoops → Dichtung) eine altgermanische Dichtgattung ausgemacht, die er unter dem Titel „Merkverse. Memorial- oder Katalogdichtung“ zusammenfasste – sozusagen als eine anspruchslosere Form unterhalb der höheren Gattungen des höfischen Preisgedichtes und des epischen Liedes. Inhaltlich umfassten diese Formen mythische und heroische, geschichtliche und völkerkundliche Inhalte. Am Anfang steht das Zeugnis des Tacitus, Germania, c. 2: celebrant carminibus antiquis … Tuistonem, deum, seinen Sohn Mannus und dessen drei „Stammhaltersöhne“. Dieses unum … memoriae et annalium genus deute, so bemerkt Heusler, auf heimische Merkverse. Jüngere Zeugnisse von solchen Namenkompositionen finden sich in den altisländischen Þulur (RGA → Þulr) und dem altenglischen Widsið (RGA 33 → Widsith) und weiteren Denkmälern (vgl. Heusler in Hoops, → Dichtung). Nicht zu bestätigen ist freilich die Annahme einer gattungsmäßigen Überlieferung sogenannter „Traditionskerne“. 181
182
Alheydis Plassmann, Origo gentis. Identitäts- und Legitimitätsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen (Berlin 2006). Stefanie Dick, Der Mythos vom „germanischen“ Königtum. Studien zur Herrschaftsorganisation bei den germanischsprachigen Barbaren bis zum Beginn der Völkerwanderungszeit. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 60 (Berlin, New York 2008).
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Bewusst widmet Wenskus sich auch der Frage, wer die Träger der ethnischen Tradition gewesen sein könnten – und zieht in Erwägung die Dichter und die weiteren höheren Repräsentanten eines Stammes.183 Zur Bestätigung ließe sich unter anderen der Langobardenkönig Rothari anführen, der in seinem Gesetz künftigen Zeiten zum Gedächtnis die Namen seiner Vorgänger nach alter Leute Kundschaft anführt – in quantum per antiquos homines didicimus (RGA → Leges Langobardorum). Im Hildbrandslied belehren alte und weise Männer (alte anti frote, dea erhina warun) Hadubrand über seinen Vater (Hildebrandslied 16). Beda Venerabilis berichtet (I, 15) von drei Stämmen als den ersten Einwanderern auf seiner Insel – „alte Merkverse“ vermutet dahinter Hans Kuhn (RGA → Angelsachsen). Zeitund Raumgrenzen überschreitend, ließe sich auch der Historiker Snorri Sturluson nennen, der in schriftloser Zeit ebenfalls in der Kombination von Alter und Weisheit die Gewähr für historisch getreue Überlieferung sah. Die fróðir menn (gelehrte Leute) gehörten untrennbar zur vorchristlichen Gesellschaft des alten Island – und vermutlich waren sie generell auch die Bewahrer des kulturellen Gedächtnisses in Gestalt der „Traditionskerne“. Dass die römischen Autoren diese Traditionsträger nicht registrierten (wohl aber die weiblichen Funktionsträger erwähnten), mag damit zusammenhängen, dass sie in ihrer Kultur, die ja eine Schriftkultur war, keine Entsprechung verzeichnen konnten. Im Zusammenhang der Großstammbildung erwähnt Wenskus auch die Akkulturation als einen Faktor in der Entwicklung der völkerwanderungszeitlichen barbaries (inklusive ihrer neuen Kulturräume184). Unter diesem Terminus werden heute Phänomene eines Kulturwandels verstanden, die zwischen Kulturen unterschiedlicher ranglicher Prägung verlaufen. Julius Caesar verfolgte in seinem gallischen Krieg (58–51 v. Chr.) offenbar das Ziel einer solchen Akkulturation. Sie gelang in Gallien weitgehend und führte zu einer geeinten römischen Provinz – im Gegensatz zu den Erfahrungen mit den rechtsrheinischen Germanen, denen Caesar mangelnde Akkulturationsfähigkeit bescheinigte (De Bello Gallico VI, 11–28). Der Rhein wurde in Caesars Sicht zur Grenzscheide zwischen den Gallorömern und Germanen erklärt – und die römische Barbarensicht vertieft durch die klare Unterscheidung von Galliern (Kelten) und Germanen. Die völkerwanderungszeitliche Neuordnung wird aber schließlich im Osten eingeleitet – die am Unterlauf der Weichsel siedelnden Goten (nach eigener Tradition aus Skandza kommend) breiten sich bis an den Pontus aus (RGA 26 → Sântana-de-Mureş-Černjachov-Kultur, RGA 34 → Wielbark183 184
Wenskus (wie Anm. 167), S. 65 f. Wenskus (wie Anm. 167), S. 128 ff.
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Kultur). Die Tatsache, dass die folgenden Gotenstürme den Zusammenbruch der römischen Donaufront und große Veränderungen im sarmatischpontischen Raum bewirkten, ist ebenso geschichtlich bedeutsam wie der Einbruch der Hunnen 375.185 Akkulturationserscheinungen sind vielfältig und liefern Impulse nach beiden Seiten. Bereits die Kimbern- und Teutonen verbreiteten in Rom einen Schrecken, dem der Consul Marius mit der sogenannten Marianischen Heeresreform begegnen konnte – für Tacitus der Anfang der römisch-germanischen Auseinandersetzungen. Herwig Wolfram charakterisiert die spätantike Staatlichkeit mit seinem gotischen Königtum als „Institutionalisierung, wenn man will: die Imperialisierung der Gens“.186 Auf germanischer Seite ging mit dem Akkulturationsprozess der germanischen gentes eine eigene Prägung einher. Die Stammesbildungen mit ihren Landnahmen, Wander- und Kriegszügen mussten eine hierarchische Organisation befördern – sei es in Gestalt herrschaftlicher Ordnung oder gesellschaftlicher Organisation187 (RGA → König und Königtum, → Gefolgschaft, → Verfassung, → Verwaltung, → Verwaltungsbezirke). So unterschiedlich die „Akkulturation“ auch verlaufen sein mag, so lässt sich die hier postulierte Ära mit ihrem imperialen spätrömischen Gedanken doch abheben von dem folgenden universalen Konzept kirchlicher und staatlicher Einheit fränkischer (karolingischer) und angelsächsischer Prägung einerseits, skandinavischer Ordnung andererseits. Wenn als ein Kennzeichen dieser Wende gelten darf, dass es in der herrscherlichen Verantwortung liege, die salus populi, d. h. die gottgewollte Ordnung der Gesellschaft zu befördern, dann ist damit ein Prozess angesprochen, der sich in der Germania über Jahrhunderte erstreckte und sich nur ganz pauschal als eine Süd-Nordbewegung beschreiben lässt. Dabei sind zwei Gesichtspunkte zu nennen, die hier zählen: ein universaler Herrschaftsanspruch einerseits (der sich nicht mehr allein an der gens orientiert, vielmehr polyethnischer Art war), andererseits ein christlich-ökumenischer Auftrag (der die überkommene pagane Tradition in Frage stellte und letztlich verneinte). Es war der Franke Chlodwig (466/67–511), der am Weihnachtstag 498 in Reims die Taufe erhielt – begleitet von den Worten des Bischofs Remigius, … adora quod incendisti, incende quod adorasti – verehre, was du verfolgtest, verfolge, was du verehrtest!188 Der neue christlich-katholische 185
186 187 188
Vgl. Herwig Wolfram, Die Goten, 3. Auflage (München 1990), S. 25; Herwig Wolfram, Das Reich und die Germanen. Zwischen Antike und Christentum (Berlin 1990), S. 171 f. Wolfram, Die Goten (wie Anm. 185), S. 25. Vgl. dazu besonders Wenskus (wie Anm. 167), S. 429 ff. Gregor von Tours, Historiarum Libri Decem, II, 31. Freiherr vom Stein Gedächtnisausgabe (Darmstadt 1967), Bd. 1, S. 118.
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Auftrag beinhaltete eine totale Abkehr von der heidnisch-gentilen Tradition. „Weltgeschichtliche Bedeutung“ schreibt Herwig Wolfram dem Ereignis zu189 (RGA → Chlodwig). Die universale Wende, die mit Chlodwigs Taufe zu verbinden ist, lässt sich auch in der Kaiserkrönung am Weihnachtstag 800 (RGA → Karl der Große, → Karolinger und Karolingerzeit) erkennen. Bis 911 reichte im Ostreich die Herrschaft der karolingischen Dynastie, im Westreich (mit Unterbrechungen) bis 987 – das sind die Grenzen, die sich das Lexikon in historischer und auf den Kontinent bezogener Sicht setzte. Die Vorstellung von der herrscherlichen Verpflichtung und Fürsorge für Religion und Seelenheil des eigenen Volkes reichte bis in die literarischen Werke hinein: die Otfrid- und Tatian-Vorrede zeugen davon und die Heliand-Praefatio erinnert ebenso an seelsorgerliche Pflichten (RGA → Heliand und Altsächsische Genesis, → Otfrid von Weißenburg, → Pastorale Literatur).190 Im Norden ist das Programm erst hochmittelalterlich greifbar: König und Bischöfe sind Gottes Bevollmächtigte, die Sorge für das Volk des ganzen Landes und Verantwortung vor Gott tragen (guðs vmboðs menn – bera sua mikla ahyggiu firir allu landz folkino oc abyrgð firir guði).191 Die Andeutungen mögen genügen, um diese Wende zu einer neuen Zeit mit einem pastoral orientierten Herrschertum im kontinentalen Kulturraum anzudeuten. Nachdem die Römer (unter Honorius 410) Britannien räumten und Sachsen, Angeln, Jüten (und Friesen) die Insel besiedelten, beginnt auch die Geschichte der Angelsachsen als Bewohner und Gestalter dieses Kulturraumes (Hoops → Angelsachsen, → Angelsächsische Funde, → Angelsächsische Rechtsdenkmäler, → Angelsächsische Schrift – RGA → Angelsachsen, → Angelsächsische Stämme, → Anglofriesisch, RGA → Tierornamentik, Germanische, § 7). Das Jahr 597 markiert eine weitere bedeutsame Epochenzäsur: In einem Missionsauftrag Gregors des Großen begründete Augustin in Canterbury einen ersten Erzbischofssitz. Die religiöse Wende verlief im 189
190
191
Wolfram, Das Reich und die Germanen (Berlin 1990), S. 300. Vgl. dazu auch die Beiträge in: Die Franken und die Alemannen bis zur „Schlacht bei Zülpich (496/ 97), hrsg. von Dieter Geuenich. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 19 (Berlin, New York 1998). Vgl. dazu Joseph Seemüller, Studien zu den Ursprüngen der altdeutschen Historiographie, in Abhandlungen zur germanischen Philologie, Festgabe für Richard Heinzel (Halle 1898), S. 280 ff.; Wolfgang Haubrichs, Die Praefatio des Heliand. In: Der Heliand, hrsg. von Jürgen Eichhoff, Irmengard Rauch (Darmstadt 1973), S. 400–435. Zitiert nach Meißner, Landrecht des Königs Magnus Hakonarson (Weimar 1941), S. 34 f.
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Lande rasch und erfolgreich, wobei der römische und irische (romfreie) Einfluss ebenso von Bedeutung waren, wie die Zahl der damit konfrontierten angelsächsischen Kleinkönigtümer (RGA → Bekehrung und Bekehrungsgeschichte III). Die Zeit des sog. Danelag (RGA → Danelag) vertiefte schließlich die nordisch-englischen Wechselbeziehungen. Mit der Schlacht von Hastings 1066 (RGA→ Wilhelm der Eroberer) ist eine weitere epochale Zäsur gegeben: die Krönung König Wilhelms war politisch folgenreich, die sprachlich-kulturelle Orientierung nicht weniger (vgl. auch RGA → Bayeux Tapestry). Das RGA setzt sich mit diesem Datum auch eine obere Grenze. Zum Jahr 793 bemerkt die Anglo-Saxon Chronicle: the ravages of heathen men miserably destroyed God’s church on Lindisfarne, with plunder and slaughter.192 Die heathen men waren Nordleute, die ihre eigene Ideologie der christlichen Kultur Englands und des Kontinents entgegensetzten. Das „Wikingertum“ könnte man in seiner Zielsetzung mit den Worten der Saga charakterisieren als afla fjár / frægðar / frama – als das Mehren von Reichtum / Ehre / Ruhm. Dass damit auch Handel (über See) verbunden sein konnte, muss keinen Widerspruch darstellen. Was zählte, war die Bewährung in der Fremde, Wagemut und Kühnheit.193 Einem dieser Männer galt der wikingerzeitliche Runenstein von Sønder Vissing (Jütland) – apostrophiert als uhimskan hal, als „den unheimischen Helden“ (den häuslichen Kreis zurücklassenden klugen und weit gefahrenen Mann). Im Verlauf der Wikingerzeit etablierten sich die Einkönigtümer Dänemarks, Schwedens und Norwegens. Island verweigerte sich der norwegischen Krone bis ins 13. Jh. Religiös gesehen, ist die Wikingerzeit eine Übergangszeit – weitgehend noch geprägt von heidnischer Religion und christlichen Missionierungsunternehmen. Die Wikingerzüge (nach Westen, Osten und Süden) verschonten auch kirchliche Zentren nicht vor Plünderungen (Lindisfarne 793, Hamburg 845). Die Gründung der Erzbistümer Lund 1103, Nidaros 1154 und Uppsala 1164 belegen den Abschluss der Christianisierung des Nordens und die Etablierung einer kirchlichen Organisation (RGA → Bekehrung und Bekehrungsgeschichte, § 19–24). Können die Tendenzen der Zeit, die sich in unterschiedlicher Prägung und kulturräumlicher Verteilung registrieren lassen, zu einer Epochencharakteristik beitragen? Zweifellos kommen der Kirche und in ihrem Gefolge dem Latein in diesem Universum eine besondere Rolle zu, auch darin, dass beide eine Heraus192
193
The Anglo-Saxon Chronicle. A revised translation edited by Dorothy Whitelock (London 1961), S. 36. Vgl. Johann Fritzner, Ordbog over Det gamle norske Sprog, 3 Bde (Kristiania 1882–1896), Bd. 1, s.v. fé.
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forderung schufen, auf die die volkssprachigen Kulturen durchaus differenziert antworteten (wobei in Sonderheit Lebensweise, Dichtung und Religion angesprochen waren). Ebenso wirkungsreich war das Verständnis herrschaftlicher Macht als eines göttlichen Auftrages – beides reichte tief in die Organisation und Verwaltung hinein. Andererseits gilt es auch festzuhalten, dass das kontinentale Großreich (RGA → Karl der Große, → Karolinger und Karolingerzeit) angelsächsischen und skandinavischen Kulturräumen gegenüberstand, die eigenen Gesetzen folgten. In England zeichnen sich zentralistische Bestrebungen ab: Nach dem nordhumbrischen Einsatz (im 7. Jahrhundert) folgte eine mercische Herrschaft (Offa nannte sich rex totius Anglorum patriae), Wessex stieg Ende des 9. und im frühen 10. Jahrhundert zum führenden kingdom in England auf, bis die skandinavischen Einfälle 1016 in einem auch England einschließenden Herrschaftsbereich Knuts des Großen endeten. Für kurze Zeit existierte damit ein wikingerzeitliches Imperium, das Dänemark, England und Norwegen umfasste (RGA → Angelsachsen, → Knut der Große, → Knut (Hörða-Knutr)). Skandinavien blieb immer ein geographischer Begriff, der seine heutige nationale Gliederung in Dänemark, Schweden, Norwegen – mit einigen Einschränkungen – bis auf alte stammesgeschichtliche Grundlagen zurückführen konnte (RGA → Skandinavische Stämme). Neben den Reichsgründungen und der Christianisierung bestimmten die Wikingerzüge als ein bedeutender Faktor die Geschichte dieser Region (von ca. 800 bis 1066 – RGA → Wikinger, → Wikingerzeit). Dänemark gelangte bereits zu Beginn des 9. Jahrhunderts zu einem Einkönigtum. Nach einer Zwischenepoche dominierte es in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts (bis ca. 1030) den Nordseeraum. Es folgten die Reichseinigungen in Schweden und Norwegen – im Gefolge auch die Christianisierung (mit der kirchlichen Organisation). Bei einem Englandzug fand der Norwegerkönig Haraldr harðráði 1066 in der Schlacht von Stamford Bridge den Tod. Das Datum markiert das Ende der wikingerzeitlichen Ära. Eine gewisse Sonderrolle nahm das (seit 870) neu besiedelte Island ein: Das Gemeinwesen organisierte sich mit der Errichtung einer Volksvertretung, dem alþingi (apud illos non est rex, nisi tantum lex, Adam von Bremen, Gesta, Scholion 156), das im Jahre 1000 die Annahme des Christentums beschloss (RGA → Island, → Ding).194 Wenn also die „universale Wende“ auf dem Kontinent mit den Begriffen „Reichssammlung“ und „Christentum“ verstanden werden kann, so waren in England und Skandinavien auch Einigungen der Teilreiche und Auseinandersetzung mit dem Christentum Signaturen der Zeit. Im Norden kamen 194
Zum Verhältnis des altisländischen Gemeinwesens zum norwegischen König vgl. Patricia Pires Boulhosa, Icelanders and the Kings of Norway (Leiden, Boston 2005).
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hinzu die Inbesitznahme neuer Siedlungsräume und Fremderfahrungen von Byzanz bis Grönland und Vinland.195 Die Zeit bestimmte auch ein ideelles Momentum: das Trachten nach Reichtum und Ehre. Diese politischkulturelle Erfahrung, die mit dem Wikingertum verbunden war, trug mit zur Charakteristik des nordischen Kulturraumes bei (RGA → Christentum der Bekehrungszeit, → Wikinger, → Wikingerzeit, → Synkretismus). Eine übergreifende Konstante „Germanentum“ prägte die Kulturräume England und Skandinavien nicht, aber ein kulturraumbezogenes Lebens- und Formgefühl kann doch registriert werden. Auch in der neuzeitlichen altertumskundlichen Rezeption unterscheiden sich Kontinent, England und Skandinavien – unter anderem bedingt durch eine unterschiedlich entwickelte „völkische“ Weltanschauung. Sie beruhte in Deutschland auf einem Germanismus, der Germanisch und Deutsch gleichsetzte und sich mit einer Anthropologie verband, die in einem Rassismus endete (RGA →Völkische Weltanschauung). Die in solchen Zusammenhängen kräftig instrumentalisierte Schrift des Cornelius Tacitus „De origine et situ Germanorum“ ließ sich in England und Skandinavien nicht in gleicher Weise altertumskundlich fruchtbar machen, so dass die „Germanomanie“ als eine typisch deutsche Angelegenheit verblieb. Die kurze Übersicht legt die folgende (zeiträumliche) Gliederung nahe: A. Die vorgeschichtliche Ära: Aus hochkultureller Perspektive wird in einer Außensicht (der Griechen und Römer) ein Defizit an Rationalität bei Kelten/Germanen registriert. Sprachlich lässt sich ein frühes Germanisch in einem Kontinuum positionieren, das eine Nachbarschaft zu Keltisch, Lateinisch und Baltisch kennt. B. Die Gentilzeit: Barbaries und transformatio: Die Stammesbildungen der Römer- und Völkerwanderungszeit verliefen (nach Wenskus) unter den Bedingungen der Filiation (Abspaltung) und Akkumulation (Angliederung), das heißt in einem ständig in Fluss befindlichen Prozess von Ausweitung und Abspaltung. Ob dabei sog. Traditionskerne als Kristallisationspunkte für die Großstämme fungierten, die ein Einheitsgefühl begründen und befördern sollten, bleibt eine Frage. Parallel dazu entwickelte sich ein germanisches Königtum – nach Wenskus ein intern-gentiler Prozess, nach Kritikermeinung ein Ergebnis römisch-germanischer Akkulturation. Die bewegte Zeit der Konfrontation des spätantiken Imperium Romanum mit den „germanischen Barbaren“ beschreibt der Historiker Patrick Geary so: „The Germanic world was perhaps the greatest and most enduring creation of the Roman political and military genius“ – 195
Vgl. Martin Gerhardt, Walther Hubatsch, Deutschland und Skandinavien im Wandel der Jahrhunderte (Bonn 1950), S. 11 ff.
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eine treffende Formulierung einer Sicht, die weniger die Konfrontation als vielmehr die Kontinuitäten eines evolutionären Prozesses betont.196 C. Die Zeit der kontinental-universalen Wende: Ein universales, d. h. ein multiethnisches Staatsverständnis und ein christlich-ökumenisches Missionsapostolat beherrschen das Zeitalter. Beide Faktoren bewirken auch in der Folge eine starke kulturräumliche Differenzierung in Kontinent, Britische Inseln und Skandinavien. D. Die vormittelalterlichen Britischen Inseln – von der Gentilzeit bis zur Schlacht von Hastings (ca. 400 bis 1066): Am Anfang stehen die landnehmenden gentes des 5. Jahrhunderts (Angeln, Sachsen, Jüten). Ende und Neubeginn markiert die Königskrönung Wilhelms des Eroberers zu Weihnachten 1066. E. Der wikingerzeitliche Norden (ca. 500 bis 1066). Die expansiven Raubund Handelszüge der Nordvölker belegt erstmals Gregor von Tours, Historia Francorum III, 3: der Dänenkönig Chlochilaich wird bei einem Raubzug nach Gallien Anfang des 6. Jahrhunderts getötet ( RGA → Hygelac). Das Wikingtum endete, da der Norwegerkönig Haraldr harðráði 1066 in der Schlacht von Stamford Bridge Leben und Schlacht verlor. Die dänischen und norwegischen Militäraktionen gegen die britischen Inseln unterblieben seitdem. Der zirkumpolare Kulturkreis (RGA → Samen, → Schamanismus)197 stand mit den skandinavischen Stämmen in Kontakt.
III. Die Philologie und das fächerübergreifende Konzept des RGA Das Grimmsche Konzept einer germanischen Altertumskunde erfuhr in seiner weiteren Entwicklung auch heftige Kritik.198 In der Auseinandersetzung mit diesen kritischen Stimmen (sowohl in enzyklopädischer wie auch methodologischer Sicht) entwickelte sich das RGA zu der Gestalt, in der das 196
197
198
Patrick Geary, Before France and Germany: The Creation and Transformation of the Merovingian World (Oxford 1988), S. VI. Vgl. auch Mischa Meier, Steffen Patzold, August 410 – Ein Kampf um Rom (Stuttgart 2010). Neil S. Price, The Viking Way. Religion and War in Late Iron Age Scandinavia (Uppsala 2002); Anthony Faulkes, Richard Perkins (Hrsg.), Viking Revaluations. Viking Society Centenary Symposium, 14–15 May 1992 (London 1993). Vgl. den Schriftsteller Saul Ascher (1767–1822), der von Germanomanie (als Reaktion auf eine Gallomanie) sprach: Saul Ascher, 4 Flugschriften – Eisenmenger der Zweite – Napoleon – Germanomanie – Die Wartburgfeier (Berlin/Weimar 1991).
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RGA nun vorliegt. Einige dieser Kritiken, die zu einem Wandel beigetragen haben, seien im Folgenden angesprochen. Altertumskunde hatte sich von Anfang an mit dem Vorwurf der Germanentümelei und Methodenwillkür auseinander zusetzen. Die Vorwürfe der Germanentümelei kamen aus unterschiedlichen Richtungen. Das Ringen um die eigene nationale Identität war ein bewegendes Thema des 19. Jahrhunderts – auch die keltischen, slawischen und romanischen Bewegungen instrumentalisierten ihre Vergangenheit im Dienste einer nationalen Identifikation.199 Ein prominenter Zeitgenosse, Johann Wolfgang von Goethe, sprach in einem Brief von 1823 von dem „seichten Dilletantismus der Zeit, der in Alterthümley und Vaterländeley einen falschen Grund… sucht“. Von einer „hohlen Phrasensprache“ ist die Rede mit der man sich selbst belüge.200 Konkreter wird der Schriftsteller Saul Ascher (1767–1822), der als Fürsprecher einer Judenemanzipation und als Parteigänger Napoleons den Zorn der Nationalen erregte. Seine kleine Schrift von 1815 „Die Germanomanie“ wurde auf dem Wartburgfest von den Burschenschaften verbrannt. Darin spricht er von den „Germanomanen“ und ihrer Rede von einem deutschen Urvolk, einer deutschen Ursprache, von der Integrität, die Deutschland ihnen zufolge zu wahren hätte.201 Der Historiker Franz Schnabel zählte den konservativen Denkstil zu den herausragendsten Kennzeichen des 19. Jahrhunderts (ihm zufolge aus einer Auseinandersetzung zwischen der Aufklärung und dem neuen Sinn für das Irrationale erwachsen). Diesen Stil darf man auch dem Denken und Handeln J. Grimms zurechnen, der in der Frankfurter Nationalversammlung zur liberalen Mitte zählte (neben den weiteren Professoren Dahlmann, Droysen, Raumer, Waitz, Arndt und Welcker).202 Seine Volksgeistlehre (als Idee einer vorgegebenen, unbewusst wirksamen Kraft, die sich organisch in allen Zweigen des Volkslebens entfalte) musste die Linke (neben der Rechten und der liberalen Mitte die dritte Fraktion in der Nationalversammlung) ablehnen – die Volksgeistlehre blieb mit dem Programm eines demokratischen und sozial-revolutionären Aufbruchs (auch weiter) unvereinbar.203 199
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201 202
203
Vgl. Ingo Wiwjorra, Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts (Darmstadt 2006), S. 53 ff. Brief an Carl Friedrich Zelter vom 24. August 1823. Goethes Werke, Großherzogin Sophie-Ausgabe, IV. Abtheilung, Bd. 37 (Weimar 1906), S. 190. Ascher (wie Anm. 198), S. 162, 213 etc. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2 (Stuttgart 1960). Vgl. die Analysen von Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 3 (Freiburg 1964), S. 34 ff. (Bd. 5 der Herderschen Taschenbuchausgabe, Freiburg 1965, S. 89 ff.) und Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsge-
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Die im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommende Rassenanthropologie schien das Problem der Urheimat, der Verbreitung und Wanderung von Stämmen mit einem naturwissenschaftlichen Anspruch lösen zu können – und trug damit auch auf eine besondere Weise zu „Alterthümeley und Vaterländeley“ bei. Der Hoops gewährte denn auch in einem Beitrag von 19 ½ Seiten den „Rassenfragen“ einen prominenten Platz (Verfasser Hofrat Dr. Alfred Schliz, Heilbronn). Im RGA sollte angesichts des ideologischen und missbräuchlichen Umganges mit dem Begriff „Rasse und Rassenkunde“ in der jüngeren Vergangenheit ein Orientierungsbeitrag (RGA → Rassenlehre, Rassenideologie) für eine Neubewertung sorgen. Ansonsten wurde der missverständliche Begriff weitgehend gemieden (ein UNESCO-Beschluss empfahl dafür die deskriptive Bezeichnung ethnic groups) – und auch ein Beitrag „Anthropologie“ sollte das zeitgemäße Verständnis der Human Biology aufzeigen204 (ein Versuch, der allerdings nicht zur Klärung beitrug: RGA → Anthropologie, vgl. jedoch die späteren Bezüge zur Anthropologie: RGA-Registerband 2, S. 39). Eine eigene Form der Germanentümelei ist zu beobachten, wenn in einer zweifelhaften Gewichtung der drei „Urelemente“, die (nach Johannes Bühler) am Anfang des Mittelalters als Grundlagen deutscher Kultur sich zusammenfanden,205 ein schiefes Bild entstand. Bühler sah in einer abwägenden Analyse dieser Dreiheit von Antike, Christentum und Germanentum die Elemente, die an diesem Prozess einer frümittelalterlichen Grundlegung beteiligt waren. Am germanischen Element rühmte er die besondere Fähigkeit, Anregungen aufzunehmen – weitgehend in Übereinstimmung mit Heuslers Position, die dieser bereits 1926 bezogen hatte. In der „Germanischen Altertumskunde“, die der Tübinger Germanist Hermann Schneider 1938 als Herausgeber zum Druck brachte, ließen Beiträger wie Siegfried Gutenbrunner, Wolfgang Mohr, Hans Kuhn, Felix Genzmer, Helmut de Boor und Konstantin Reichardt eine den Forschungsstand repräsentierende Darstellung des Altertums in philologischer Sicht erwarten.206 Auch der Herausgeber selbst trug mit einem Artikel „Glauben“ bei – nicht ohne die Schwierigkeiten aufzuzeigen, die einer zeitlich und räumlich höchst unterschiedlichen Quellen-
204 205 206
schichte, Bd. 2 (München 1987), S. 410 ff. Zur Position des späteren Jacob Grimm vgl. Wilhelm Scherer, Jacob Grimm, Neudruck der 2. Auflage (Berlin 1921), S. 206. Vgl. auch Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 71), Bd. 8, s.v. Rasse. Johannes Bühler, Die Kultur des Mittelalters (Stuttgart 1931), S. 1 ff. Germanische Altertumskunde, hrsg. von Hermann Schneider, verbesserter Nachdruck der 1938 erschienenen 1. Auflage (München 1951). Ein weiterer Beitrag des österreichischen Museumsmannes Wilhelm von Jenny behandelte den Bereich „Kunst“.
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lage und Quellenproblematik eigen ist. Anlass zu einer Bemerkung im Zusammenhang einer Germanentümelei gibt allerdings die Vorrede zu dieser einzigen gemeinschaftlich verfassten Altertumskunde während der NS-Zeit. Wir schreiben hier, erklärte Schneider, nicht das erste Kapitel der Geschichte des Germanentums (das sollte ein „Schwesterbuch“ mit der Darstellung der Vorgeschichte leisten – es wurde nie verwirklicht!), wohl aber „des germanischen Geistes“. Wie könnte das Germanentum so lebensvoll und so wegweisend für uns werden, wie man es heute fordert und erhofft, wenn es nicht vornehmlich eigene und hohe Offenbarungen zu bringen hat auf den Gebieten des Staatslebens, der Kriegskunst, der Gesittung, der Poesie, des Glaubens?207
Die auf diesen Grundlagen erwachsene germanische Geisteskultur war so groß, rühmte Schneider, dass sie der schönsten Blüte des griechischen Altertums zur Seite zu stellen sei und den Vergleich mit der griechischen Geisteskultur aushalte. Schon Bernhard Suphan urteilte mit dem Verweis auf Herder in Ansehung der Sprache, der Kunst und des Geschmacks der Griechen und Römer „mit dem Allen können wir uns nicht gleichen“!208 Auch Schneiders Artikel „Glaube“ gab keinen Anlass, anders zu urteilen.209 Selbst der rund 120 Seiten umfassende Beitrag „Dichtung“ von Helmut de Boor (mit weitgehender Einbeziehung der altisländischen Dichtung als von altgermanischer Prägung und einer Nibelungenliedbewertung als aus dem Gefühl innerer Wesensverwandtschaft mit germanisch-heroischer Gefolgschaftsdichtung erwachsen) kann eine Begründung nicht liefern. Diese Altertumskunde von 1938 ist nicht die einzige Publikation, in der ein Vorwort mit den folgenden Ausführungen nicht konform ging.210 Zur Position des RGA in diesen Fragen vgl. RGA → Völkische Weltanschauung, → Skandinavismus und nordischer Gedanke. Vgl. auch Gustav Neckels Urteil zum „germanisch-deutschen Geist“ im Vorwort zu: Gustav Neckel, Kultur der alten Germanen. Handbuch der Kulturgeschichte, hrsg. von Heinz Kindermann, 1. Abteilung: Geschichte des deutschen Lebens (Potsdam 1939), S. 1–7.
207 208
209 210
Hermann Schneider, Die Götter der Germanen (Tübingen 1938), S. VII. Herders sämmtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Bd. 17 (Berlin 1881), S. 261 f. Vgl. auch die besonnenere Vorrede Schneiders (vgl. Anm. 207), S. III–V. Gerechtigkeitshalber ist auch ein Beitrag Hermann Schneiders „Die germanische Altertumskunde zwischen 1933 und 1938“. In: Forschungen und Fortschritte, 15, 1939, S. 1–3, zu nennen, der eine „vorurteilsfreie Erforschung des germanischen Altertums“ fordert. Man könnte fast glauben, dass angesichts solch unterschiedlicher Urteile im Vorwort der Altertumskunde ein Unterton von Ironie steckte.
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Die Tatsache, dass die Schneidersche Altertumskunde von 1938 in einem „verbesserten Nachdruck“ 1951 wieder erscheinen konnte, sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass 1945 eine schroffe Zäsur bedeutete211 von der auch eine germanische Altertumskunde sich nicht unbeeindruckt zeigen konnte. Sich in den Sinnbezügen eines „germanischen Geistes“, einer historischen „Deutschkunde“, einer „Volkstumswissenschaft“ oder eines „Volksgeistes“ aus germanisch-deutscher Tradition einzurichten, gehörte nach der Wende 1945 endgültig der Vergangenheit an. Weitgehendere Projekte einer germanischen/deutschen Altertumskunde in der NS-Zeit kamen nicht zum Abschluss. Ein an der Universität Kiel geplantes „Sachwörterbuch der Deutschen Altertumskunde“ (verbunden mit dem Namen Ernst Bargheer)212 kam ebenso wenig zur Durchführung wie ein Großprojekt an der Universität München. Hier war es der Germanist Erich Gierach (1881–1943), der 1936 an die Universität München berufen (als Nachfolger von Carl von Kraus) umgehend das Seminar für deutsche Philologie in ein germanisches Institut umzuwandeln trachtete – mit einer „urgermanischen Abteilung“ und der Errichtung einer neuen Professur für „germanische Altertumskunde“. Nur wenig später betrieb Gierach als weiteres Projekt „Ein Handbuch der Germanenkunde“. Es sollte „die Zeit von Anfang an bis etwa 1000 n. Chr. (im Norden bis 1200) umfassen“ und 15–20 Lexikonbände umfassen. Nach weiterer Gutachtertätigkeit war auch von einem 50-bändigen Quellenwerk die Rede.213 Die jüngeren Aufarbeitungen der NS-Zeit in personal- und ideologiekritischer Art sollten aber nicht unberücksichtigt lassen, dass dieses Gedankengut weitgehend bereits in der Weimarer (und Kai211
212
213
Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4 (München 2003), S. 941. Vgl. dazu Wolfgang Brückner, Sachwörterbuch der Deutschen Altertumskunde?. In: W. Brückner, Materialien und Realien (Würzburg 2000), S. 11–15. Ausführlich unterrichtet darüber Gerd Simon, Die hochfliegenden Pläne eines „nichtamtlichen Kulturministers“. Erich Gierachs Plan eines „Sachwörterbuchs der Germanenkunde“. Gesellschaft für Interdisziplinäre Forschungen (Tübingen 1998). Die Berufung Otto Höflers (von Kiel) nach München wird in den Zusammenhang des Germanenkunde-Projektes gerückt (S. 11 f.). Das Projekt „Sachwörterbuch der Germanenkunde“ ist über eine Stichwortliste nicht hinausgekommen. Offenbar hat diese Liste die Bombenangriffe der letzten Kriegsjahre nicht überdauert. Zu Recht stellt Simon die Frage nach der „Spätwirkung“ des „Sachwörterbuchs“ auf den neuen Hoops – immerhin waren Höfler und Jankuhn auch am neuen Hoops beteiligt (Jankuhn als Herausgeber und Beiträger, Höfler als Beiträger von → Abstammungstraditionen, → Berserker). Es mag die Situation der Nachkriegszeit beleuchten, wenn O. Höfler nicht mehr auf einen Mittelalter-Lehrstuhl zurückkehrte, vielmehr ein Fach zu vertreten hatte, das benannt war „Nordische Philologie und germanische Altertumskunde“!
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ser-) Zeit gepflegt wurde.214 Das Jahr 1945 darf als die Zäsur gelten, die auch der Germanentümelei ein Ende bereitete. Den Vorwurf der „Stoffhuberei“ trug Heusler brieflich dem Freund W. Ranisch in drastischen Worten vor. In einem Brief vom 5. Mai 1913 nannte er den Hoops ein „unförmliches Opus“, „einen breitmäuligen Triumph der Materie über den Geist“.215 Gemeint ist damit nicht die reine Stoff-Fülle – immerhin hat Heusler selbst mit einem Artikel „Dichtung“ im Umfang von 44 Spalten beigetragen! Die Kritik galt vielmehr der ungebändigten Fülle, die als solche nur Material bleibt.216 In der Scherer-Schule lautete bereits der Vorwurf, die Altertumskunde erschöpfe sich in Biographismus, Tatsachengläubigkeit und Quellenüberschwang. Das RGA war bestrebt, dieser Kritik mit einer methodischen Besinnung zu begegnen, war aber auch von der Überzeugung getragen, die stoffliche Basis in ihrer Fülle oder auch Begrenztheit wenigstens soweit andeuten zu sollen, als die Interpretation daraus Gewinn zu ziehen vermöchte. Der Vorwurf der Stoffhuberei hängt ganz fundamental mit dem weiteren Vorwurf des Methodendefizits zusammen – denn die alleinige Tatsache, dass eine Disziplin über eine breite materielle Grundlage verfügt, kann ihr ja nicht generell zur Kritik gereichen. Der Vorwurf des Methodendefizits, das der germanischen Altertumskunde zugeschrieben wird, reicht aber auch über die Feststellung einer Stoffdominanz hinaus. Die weitergehende Frage führt in Bereiche, die auch in der heutigen Diskussion über den Begriff einer Kulturwissenschaft kontrovers diskutiert werden.217 Wenn als Objekt der historischen Wissenschaf214
215
216
217
Vgl. etwa Cornelia Wegeler, „wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik“. Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921–1962 (Wien u.a. 1996); Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht (Hrsg.), Handbuch zur ‚Völkischen Bewegung‘ 1871–1918 (München 1999); Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion (Darmstadt 2001); Ingo Wiwjorra, Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts (Darmstadt 2006). Klaus Düwel, Heinrich Beck (hg. in Zusammenarbeit mit Oskar Bandle), Andreas Heusler an Wilhelm Ranisch. Briefe aus den Jahren 1890–1940 (Basel, Frankfurt 1989). Diese Kritik galt schon den Grimms, deren Sammelleidenschaft und Andacht vor dem Kleinen. „Der Historiker ist auf Erwägen, Begründen und Darstellen angewiesen, während sich der Altertumsforscher auf Sammeln und Erzählen beschränken darf“, bemerkt R. Schmidt-Wiegand im Blick auf J. Grimms Positionierung – vgl. Jacob Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer I (1899), hrsg. von Ruth Schmidt-Wiegand (Hildesheim 1992). Jacob und Wilhelm Grimm, Werke, Forschungsausgabe, hrsg. von Ludwig Erich Schmitt, Abt. I, Bd. 17, S. 16. Vgl. etwa Elisabeth List, Erwin Fiala (Hrsg.), Grundlagen der Kulturwissenschaften. Interdisziplinäre Kulturstudien (Tübingen, Basel 2004) .
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ten die Entwicklung der menschlichen Kultur anzusehen ist,218 darf auch die Altertumskunde/Altertumswissenschaft als eine Kulturgeschichte begriffen werden – und die Philologie als eine ihrer tragenden Disziplinen. Dabei ist der Philologie des 19. Jahrhunderts nicht der Vorwurf eines fehlenden Methodenbewusstseins zu machen – ganz im Gegenteil! Die Diskussion des frühen 19. Jahrhunderts hatte sich ausführlich mit dem Gedanken befasst, welche Kriterien eine Wissenschaft ausmachen, um mehr zu sein als eine beliebige Addition von Disziplinen. Wie schon betont, war es August Boeckh, der von der „Philologie“ nicht nur den Nachweis des wissenschaftlichen Zusammenhanges seiner Disziplinen verlangte,219 begleiten müsse auch eine Theorie des Verstehens, die in absoluter Funktion als Hermeneutik, in relativer Funktion als Kritik fungiere. Die Altertumswissenschaft des 19. Jahrhunderts hat sich weitgehend an diesen Kriterien orientiert. Der enzyklopädische Gedanke wurde zwar vor allem durch die aufkommende frühgeschichtliche Archäologie (Hoops → Vorgeschichtliches deutsches Siedlungswesen, RGA → Lindenschmit, Ludwig (der Ältere)) erweitert (und später auch durch naturwissenschaftliche Methoden, vgl. RGA → Naturwissenschaftliche Methoden in der Archäologie), doch erst gegen Ende des Jahrhunderts bahnten sich weitere Neuerungen an. Der Hoops reagierte eher zurückhaltend. Die systematischen Register am Ende der jeweiligen Hoops-Bände erwecken den Eindruck eines Aggregates und nicht einer Systematik – nicht zuletzt dadurch, dass nicht nur das Lexikon selbst, sondern auch die Systematik einer alphabetischen Ordnung unterworfen war. Weiter wurde die Forderung nach einer engeren Fühlung zwischen den verschiedenen Zweigen der germanischen Kulturgeschichte nicht auf die Stufe gehoben, die Boeckh der Enzyklopädie abverlangte, den Zusammenhang dieser Disziplinen herzustellen und ein Ganzes zu entwerfen. Auch die Methodenlehre fand im Hoops keine Erwähnung. Insgesamt kann man feststellen, dass der Hoops die altertumskundliche Tradition des 19. Jahrhunderts in ihrer theoretischen Basis eher vernachlässigte als weiterentwickelte – und damit auch in Kauf nahm, sich dem Vorwurf des Methodendefizits auszusetzen. Doch ist Johannes Hoops zugute zu halten, dass gerade das Theorem des (nationalen) Volksgeistes, der Volksseele als Fluchtpunkt aller kulturellen Manifestationen, nicht bemüht wurde. Hermann Pauls Einfluss könnte soweit gereicht haben – seine Orientierung der Kulturwissenschaft an der Psychologie als einer Gesetzeswissenschaft erlaubte keine Abstraktionen von der Art eines Volksgeistes.220 218 219 220
Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 71), Bd. 4, s.v. Kulturgeschichte. Boeckh (wie Anm. 38), S. 56 ff. Paul, Prinzipien (wie Anm. 12), S. 11.
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Als Feindschaft gegen die Aufklärung wollte Friedrich Nietzsche die Bemühungen deutscher Historiker und Romantiker verstehen, das Christentum, die Volksseele, Volkssage, Volkssprache, die Mittelalterlichkeit allgemein zu Ehren zu bringen.221 Ungeachtet aller Kritik, ist die Wertschätzung Herderscher Idee vom „Geist des Volkes“, von seinem „Nationalcharakter“, der Eigenheit seines Geistes und seiner Sprache222 aber nicht verstummt. Dass Johannes Hoops hier keine Stellung bezog, solche Bezüge ignorierte, vermutlich auch ablehnte, kennzeichnet seine redaktionelle Tätigkeit. Mit dieser Abstinenz hat er auch die Altertumskunde/Altertumswissenschaft – im Boeckhschen Sinne – eines konstitutiven Elementes beraubt und sich weitgehend auf die Ebene der Wolfschen (aggregatsmäßigen) Darstellung der Enzyklopädie begeben – ungeachtet aller Beteuerungen, eine Gesamtdarstellung der Kultur, eine organische Verknüpfung der beteiligten Disziplinen erstreben zu wollen. Die Frage ist also im Hoops offen: Worin besteht nun die Einheit des Allgemeinen mit dem Besonderen und das Leben des Besonderen in dem Allgemeinen? Denn nur nach solchen Prinzipien kann – nach Boeckh – eine Wissenschaft mit ihren Einzeldisziplinen organisiert werden. Fast zeitgleich mit dem Hoops erschien die zweibändige „Deutsche Altertumskunde“ des an der Universität Kiel wirkenden Germanisten Friedrich Kauffmann.223 Kauffmann war in mancher Hinsicht ein eigenwilliger Gelehrter – auch in seinen wissenschaftlichen Ansichten fand er nicht immer Zustimmung. Hier aber interessieren seine methodologischaltertumskundlichen Ausführungen. Im Vorwort forderte er ein System unserer Wissenschaft als einer Altertumswissenschaft, bei der die Einzeldisziplinen einem höheren Ganzen als dienende Glieder „untergeordnet und zueinander in lebendige Beziehung gesetzt werden“. Wenn er dieses innere Band mit dem „volkstümlichen deutschen Wesen“, „dem deutschen Geist“ verbinden möchte, ist die ererbte Volkstumsideologie gegenwärtig. Bedeutsamer ist aber, dass er diese Perspektive konkretisiert und den „Geist“ in der „Form“, im „Stil“ zu fassen glaubt. Die Ausdrucksformen sind in den Stilgesetzen von Sprache und Poesie, in den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen 221
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Friedrich Nietzsche, Morgenröte 3, 197. In: Karl Schlechta (Hrsg.), Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, Bd. 1 (Darmstadt 1954), S. 1144. Andererseits nennt Nietzsche in seiner Basler Antrittsrede die Entdeckung und Würdigung der „Volksseele“ die „folgenreichste Entdeckung der historisch-philologischen Wissenschaft“ ebenda Bd. 3, S. 166. Herders sämtliche Werke (wie Anm. 208), Bd. 1, S. 366; Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 71), Bd. 11, s.v. Volksgeist, Volksseele. Friedrich Kauffmann, Deutsche Altertumskunde, 2 Bde. Handbuch des Deutschen Unterrichts an höheren Schulen, Bd. 5,1–2 (München 1913–1923).
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und gewerblichen Erzeugnissen zu greifen, wobei den Stilanalysen der archäologischen Denkmäler eine wichtige Mittlerrolle zukomme. Die Freiheit stilisierender Form sprengt das beengende Gesetz der Gebrauchsgegenstände und äußert sich deswegen besonders im freieren Spiel der Festtracht und des Schmuckes, meint Kauffmann. Besonders an diesen Archivalien entwickelt er denn seine „Stilperioden des deutschen Altertums“ – am ausführlichsten dargestellt mit dem sogenannten hellenistischen Zeitstil (gothic style), der seit dem Wandalensturm von 406 das Abendland beschäftigte, abgelöst vom Formenschatz des weströmischen Kunstgewerbes, das die karolingische Renaissance vorbereitete, „in der das germanische Altertum erstarb“.224 Kauffmanns Stilgesetze blieben (selbst im eigenen Werk) weithin ein Programm, das über einige kunstgeschichtliche Analysen kaum hinauskam und die Gleichung Form = Stil = Geist nicht mit Leben erfüllen konnte. Trotzdem ist der Grundgedanke beachtenswert. Nachdem Johann Joachim Winkelmann die historische Periodisierung auf der Basis von Stilanalysen meisterhaft initiierte, hat das Thema über den kunsthistorischen Bereich hinaus Bedeutung und Geltung erlangt – und auch eine Altertumskunde ist denkbar, in der das Stilkonzept die Verbindung der an ihr beteiligten Disziplinen leisten könnte (RGA → Stil) und auch zu einer Epochengliederung beizutragen vermöchte. Nach Boeckh hat die Altertumslehre einen Hauptteil: Die materialen Disziplinen. In der klassischen Altertumswissenschaft stand am Anfang Friedrich August Wolfs schon genannter Überblick sämtlicher Teile der Altertumswissenschaft in 24 Hauptteilen, die sein Schüler Boeckh einer ersten Revision unterzog.225 Boeckhs kritische Voraussetzung kann auch heute noch gelten: „Es muß bei der Kritik erwogen werden, ob das, was aufgestellt ist, wirklich Disziplinen sind, und ob sie einzeln eine bestimmte Einheit des Begriffes haben, endlich ob sie auch wirklich unter den Begriff der Philologie fallen“.226 Hoops’ „Systematisches Register“ erfüllt keineswegs die Anforderungen einer solchen Systematik. Gemessen an den Anforderungen Boeckhs wäre das keine Lösung. Etwas weiter geht das Konzept des RGA.227 Die Zweiteilung in ein systematisches und ein chronologisches Register (vom Paläolithikum und Mesolithikum bis zur Karolinger- und Wikingerzeit reichend) stellt zwei ungleiche Kriterien nebeneinander, und auch der systematische Teil reflektiert keine strenge disziplinäre Systematik, eher 224 225 226 227
Kauffmann (wie Anm. 223), Bd. 2, S. 646. Boeckh (wie Anm. 38), S. 39 ff. Boeckh (wie Anm. 38), S. 40. Es ist im Registerband 1, S. 167–436 (mit den jeweils zugeordneten Lemmata) zu finden.
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eine praktische Gliederung, die eine gewisse Orientierung erlauben sollte. Es fehlt in der germanischen Altertumskunde bisher eine weiterführende Reflexion über die formale Theorie und die materialen Disziplinen dieser Altertumslehre, die sich mit dem Vorbild der klassischen Altertumswissenschaft vergleichen könnte. 1863 vertrat Johann Gustav Droysen in der Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlich orientierten Methoden das Konzept eines „forschenden Verstehens“ als einem geschichtsspezifischen Wissensprinzip228 (vgl. RGA → Positivismus) – nachdem bereits Schleiermacher dazu beigetragen hatte, die Hermeneutik zur Grundlage aller historischen Wissenschaften zu erklären. Die bis heute anhaltende Diskussion229 führte zu einer reflektierten Geschichtsauffassung, die einerseits die Vorstellung eines objektivistischen Realismus überwindet und die sprachliche Vermittlung aller Geschichtserkenntnis bedenkt, andererseits auch den Verstehensvorgang, das hermeneutische Verfahren selbst, zur Diskussion stellt.230 Im RGA werden Fragen eines objektivistischen Realismus besonders im „Wörter und Sachen“-Projekt angesprochen – dem „unilateralen Sprachzeichenmodell“ (das heißt einem direkten Bezug von Wort und Sache) wird eine klare Absage erteilt (RGA → Wörter und Sachen) und ein linguistischer Relativismus vertreten (für die allgemeine Geschichtsforschung vgl. RGA → Geschichtsschreibung, bes. S. 479 ff.). Die hermeneutische Reflexion betrifft auch die grundsätzliche Anlage der fachübergreifenden Artikel des RGA. In dieser Sicht besteht zwischen den beiden Auflagen nur insofern ein Unterschied, als im Hoops je eigene archäologische und philologisch-historische Beiträge zu finden sind, während im RGA die verschiedenen Disziplinen zwar getrennt, aber unter einem Lemma vereint sind. Das mit der „Fühlungnahme“ aufgeworfene Problem wird mit anderen Worten im RGA noch offensichtlicher – das Problem nämlich, wie das Nebeneinander von Archäologie, Geschichte und Philologie unter einem Lemma zu beurteilen ist. Es wurde bereits unter dem Gesichtspunkt der Einheit des Begriffs „Philologie“ diskutiert, muss aber auch hier unter hermeneutischen Aspekten genannt werden. Die Überlegung, dass die Relativität historischer Urteilsbildung auch durch den begrenzten Blick des wahrnehmenden Subjekts bedingt ist, führte zu einer Perspektivismus-These, die bis heute diskutiert wird. Bereits Friedrich 228
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230
Johann Gustav Droysen, Die Erhebung der Geschichte in den Rang einer Wissenschaft. In: Historische Zeitschrift 9, 1863. Vgl. Hermeneutik. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 71), Bd. 3, s.v Hermeneutik (Hans-Georg Gadamer). Vgl. Werner Paravicini, Die Wahrheit der Historiker (München 2010).
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Nietzsche hatte sie in radikaler Form vertreten, nachdem sie schon in der altertumskundlichen Debatte vor ihm präsent war. Nietzsche warnte in der „Genealogie der Moral“ (II, 12) vor den „Fangarmen“ kontradiktorischer Begriffe wie etwa „Erkenntnis an sich“ und erklärt im Blick auf die Möglichkeit des objektiven Sehens und Erkennens: Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ‚Erkennen‘; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Wort kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ‚Begriff‘ dieser Sache, unsre ‚Objektivität‘ sein.231
Auf diese Ausführungen Nietzsches verweisen die Vertreter der jüngsten „Perspektivismus“-Debatte wiederholt. Stellvertretend seien genannt die Historiker, Philologen und Philosophen Reinhart Koselleck, Wolfgang J. Mommsen und Jörn Rüsen,232 Peter Szondi,233 Erich Auerbach,234 Volker Neuhaus,235 Matthias Buschmann,236 Ansgar und Vera Nünning,237 Friedrich Kambartel.238 Wenn Nietzsche also für eine Approximierung des historischen Erkennens durch eine Multiplizierung der allein möglichen perspektivischen Sehweisen plädiert, ist damit auch die Vorstellung verbunden, dass die Perspektiven sich in einem gemeinsamen Fluchtpunkt vereinen. Boeckh und die Grimms (und weitere Nachfolger) haben diesen Fluchtpunkt im Konzept 231
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Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. In: Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, Bd. 2 (Darmstadt 1997), S. 861. Reinhart Koselleck, Wolfgang J. Mommsen, Jörn Rüsen (Hrsg.), Objektivität und Parteilichkeit. Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik 1 (München 1977). Peter Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, hrsg. von Jean Bollack, Helen Stierlin. taschenbuch wissenschaft 124 (Frankfurt 1975), S. 79 ff. Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, 4. Auflage (Bern 1967). Volker Neuhaus, Typen multiperspektivischen Erzählens (Köln 1971). Matthias Buschmann, Multiperspektivität – Alle Macht dem Leser?. In: Wirkendes Wort 46, 1996, S. 259–275. Ansgar Nünning, Vera Nünning (Hrsg.), Multiperspektivisches Erzählen: Studien zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur narrativer Texte im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts (Trier 2000). – Ansgar und Vera Nünning sprechen von einer „Diskrepanz zwischen der Komplexität des Phänomens der Multiperspektivität und dem unbefriedigenden terminologischen und theoretischen Reflexionsstand der Narratologie“ in einem Forums–Beitrag in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 32, 1999, S. 367–386, und 33, 2000, S. 59–84. Friedrich Kambartel, Perspektive, Perspektivismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 71), mit weiteren Literaturangaben.
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des „Volksgeistes“ gesehen, während Hoops den Begriff „Kultur“ (im Lamprechtschen Sinne) an die Stelle setzte, und auch das RGA übernahm mit dem alten Vorwort dieses Konzept. Auf die Frage, was Archäologie, Geschichte und Philologie miteinander verbinde, ließe sich also antworten: Es sind die perspektivischen Sehweisen dieser drei Disziplinen, die sich im Fluchtpunkt ‚Kultur‘ treffen – ‚Kultur‘ verstanden als Summe der von einem gesellschaftlichen Subjekt (einer Gesellschaft, einem Staat etc.) erschaffenen Objektivierungen (materieller und ideeller Art). In der praktischen Umsetzung dieses Gedankens blieben die Herausgeber allzu oft die Antwort auf die Frage nach der Verortung im kulturellen Kontext, nach Art und Weise der ‚Objektivierung‘, schuldig. Ein Beispiel bietet der Beitrag „Wetzstein“ (RGA 35, S. 659–673), in dem eine Synthese philologisch-historischer und archäologischer Deutung, wie in vielen weiteren Fällen, offen blieb. Wenn in Philologie, Geschichte und Archäologie von diesem (handwerklichen und symbolischen) Gegenstand „Wetzstein“ die Rede ist, wo ist dann der Fluchtpunkt, in dem die Radien sich treffen? Offensichtlich besteht ein metaphorischer Bezug zwischen dem handwerklichen Schärfen eines Gebrauchsgegenstandes und einem psychischen Vermögen, das mental zu schärfen ist, um in bestimmter Situation seinen Träger in eine gewisse Hochstimmung zu versetzen (vgl. awnord. hvo˛ t ‘Aufstachelungsrede vor einem Kampf’, zu hvetja ‘wetzen’ gehörend). Beispiele dieser Art, bei denen Beiträge von Philologie, Geschichte und Archäologie unter einem Lemma vereint sind, bieten die sogenannten Komplexstichwörter vielfach. Dem fachkundigen Leser sollen sie die Möglichkeit auch eigener Schlussfolgerung über einen gemeinsamen Fluchtpunkt der Einzeldisziplinen bieten – auch wenn dies im Artikel selbst nicht auf den Punkt gebracht wird.
IV. Von der Altertumskunde zur Altertumswissenschaft „Altertumskunde“ ist ein Begriff, der im Bereich der germanistischen Studien üblich geworden ist. Nicht zuletzt mögen dabei unter anderen Müllenhoffs fünfbändige „Deutsche Altertumskunde“ im 19. Jahrhundert, die beiden Lexika Hoops und RGA im 20. Jahrhundert beigetragen haben. Die Terminologie ermöglichte, zwischen klassischer Altertumswissenschaft und germanischer Altertumskunde zu differenzieren. Auch die Grimmsche Grundlegung des Faches als einer zu Herzen gehenden und das Nationale über das Fremde stellenden Wissenschaft schuf eine Distanz zu Naturforschung und klassischer Philologie. Ihnen gegenüber reklamierte J. Grimm
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für seine Wissenschaft eine „anhaltendere theilname und befriedigung“ von Seiten eines vaterländischen Publikums.239 Offensichtlich war mit dem menschlichen und patriotischen Charakter des neuen Fachverständnisses, das in der Folgezeit auch die Diskussion bestimmte, ein Kunde-Fach (Altertumskunde) eher zu vereinbaren als mit einem „Wissenschafts“-Fach (Altertumswissenschaft). In den Anfängen standen beide Termini noch nebeneinander. J. Grimm sprach auch von „deutscher alterthumswissenschaft“,240 Boeckh ebenso auch von „Alterthumskunde“.241 Die Festigung der Terminologie ging vermutlich auch einher mit der Debatte um den aktuellen Wert des Bildungsgutes „Altertum“ in seiner „klassischen“ oder „vaterländischen“ Variante. Es ist ein Grimmsches Erbe, dass dieses Nebeneinander zu einer Parteienbildung führte. Sie hatte Auswirkungen einerseits in der bildungspolitischen Diskussion bis auf den heutigen Tag. Dem Menschenbild W. von Humboldts suchte das neuhumanistische Konzept einer auf den Bildungswert der antiken Sprachen gründenden Schule gerecht zu werden.242 Auch bis in die Repräsentation der universitären Fächer und Disziplinen reichte die Diskussion. Eduard Spranger (1882–1963), Dilthey-Schüler, Pädagoge und engagierter Beiträger zur Debatte um eine Universitätsreform, griff 1930 das Thema der Kunde-Fächer und ihrer Stellung im Kanon der Universitätsdisziplinen auf. Da er nicht nur ein vorzüglicher Kenner des Universitätswesens war, sondern seine Kritik an den Kunde-Fächern zudem auch differenziert war, ist sein Urteil beachtenswert: „Es gibt heute eine große Zahl von Studiengebieten, die überhaupt nicht mehr in streng methodischer Weise aufgebaut sind, sondern nur die empirische Kenntnisnahme von komplexen Sachverhalten fordern“, erklärt Spranger. Ohne Zweifel läge hierin ein Absinken gegenüber alten Idealen. Solche Fächer trügen den Charakter der „Kunde“, nicht der methodisch durchdachten Problematik und Systematik. Dahin gehöre zum Beispiel „das Gebiet der Wohlfahrtspflege, der Sozialpädagogik, der Sprachenkunde, Auslandskunde, Volkskunde, Kulturkunde – lauter Namen, über die der Gelehrte alten Stils die Nase rümpft“.243 239
240 241 242
243
Jacob und Wilhelm Grimm – Werke, Forschungsausgabe, Abt. I, Bd. 7 (Hildesheim 1991), S. 566. J. Grimm (wie Anm. 239), S. 595. Boeckh (wie Anm. 38), S. 32. Detlev Kopp, (Deutsche) Philologie und Erziehungssystem. In: Jürgen Fohrmann, Wilhelm Vosskamp (Hrsg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert (Stuttgart, Weimar 1994), S. 669–741. Eduard Spranger, Über Gefährdung und Erneuerung der deutschen Universität. In: Die Erziehung. Monatsschrift für den Zusammenhang von Kultur, Erziehung in Wissenschaft und Leben 5, 1930, S. 513–526, hier 514.
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Das Manko der nur „empirischen Kenntnisnahme von komplexen Sachverhalten“ trifft sich mit den schon genannten Kritikpunkten der Stoffhuberei und des Methodendefizits. Für Spranger führt dies jedoch nicht zu einem absoluten Ausschluss der Kunde-Fächer aus dem Verbund der Universitätsdisziplinen. Er empfiehlt vielmehr eine Anpassung, die diese „Studiengebiete“ in einer „Unterstufe“ positioniert – in der Hoffnung, dass der humanistische Geist auch in diese begrenzten Fachgebiete und Berufsstudien ausstrahlen möge, die größeren Zusammenhänge, das Methodische und Weltanschauliche auch dieser Fächer zum Tragen käme. Dieses Ziel müsse „vom Zentrum eines jeden Faches“ selbst angestrebt werden. Sprangers wiederholter Rekurs auf den „humanistischen Geist“, die „humanistische Fakultät“, lassen keinen Zweifel, dass er der klassischen Altertumswissenschaft die methodische Strenge zubilligte, die er den Kunde-Fächern absprach. Das Ringen um die Wissenschaftlichkeit dieser klassischen Disziplin hat die germanistische Altertumskunde auch in ihren Anfängen bewegt und im Laufe ihrer Geschichte nicht unbeeindruckt gelassen. In dem Maße, in dem sie auf die enzyklopädischen und methodologischen Herausforderungen reagierte, kann sie auch den Anspruch von Wissenschaftlichkeit vertreten. Dass sie diesem Anspruch nicht immer gerecht wurde, belegt auch die bis heute anhaltende Kritik. Auch die „Volkskunde“ fällt unter das Sprangersche Verdikt der nur empirischen Kenntnisnahme von komplexen Sachverhalten. Dabei ist anzunehmen, dass Spranger in Kenntnis einer Schrift urteilte, die oft als die Gründungsschrift der „wissenschaftlichen“ Volkskunde benannt wurde: „Die Volkskunde als Wissenschaft“, ein Vortrag von Wilhelm Heinrich Riehl 1858.244 Ausdrücklich erklärt Riehl, dass diese „neue“ Wissenschaft „den Standpunkt des bloßen Beobachtens und Stoffsammelns“ überwunden habe und zu „ihrem höchsten wissenschaftlichen Problem der Ergründung der Naturgesetze des Volkslebens“ vorgedrungen sei. Immerhin war damit ein Fluchtpunkt genannt, der eine Disziplinierung der multidisziplinären Ansätze dieser Wissenschaft erlaubte. Dass Riehl gerade in nationalsozialistischer Zeit eine „überraschende Wiedergeburt“ erlebte, da es um die „Nationalisierung der Forschung und Lehre“, den „Dienst an der Volkwerdung“, um „gesamtvölkische Selbsterkenntnis“ usw. ging245 sprach nicht für die Wissenschaftlichkeit des Faches – und seine nachkriegszeitliche Etablierung. Auch die völkische Instrumentalisierung, die „Besinnung auf das Volk 244
245
Die Volkskunde als Wissenschaft. Der Vortrag von Wilhelm Heinrich Riehl mit einer Einleitung von Max Hildebert Boehm (Tübingen 1935). Vgl. Boehm. In: Die Volkskunde (wie Anm. 244), S. 26 f.
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und den Volksmenschen“, wie es Adolf Spamer nannte,246 erlaubte kaum, eine dauerhafte wissenschaftlich-disziplinäre Tradition zu begründen. Der ideologisierte Begriff und die Öffnung für sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven führten vielmehr zu einem Paradigmenwechsel, der nun von Ethnologie, Anthropologie und Kulturwissenschaft bestimmt wurde.247 Weder der Hoops noch das RGA führen Volkskunde als eigene Beiträge. Die Beiträge RGA → Volk, → Volksglaube, → Völkische Weltanschauung bezeugen, dass „Volk“ nicht im Sinne einer Naturgegebenheit verstanden wird und „Völkische Wissenschaft“ ebenso wenig ein wissenschaftliches Konzept darstellt wie die Rede von „Naturgesetzen des Volkslebens“. Einzelstichwörter des RGA, die einfache und vorliterarische Erzählformen und andere „volkskundliche“ Themen aufgreifen, sind in diesem Sinne zu verstehen: RGA → Einfache Formen, → Rätsel und Rätseldichtung, → Sage und Sagen, → Sitte und Brauch.248 Ob freilich die Sprangersche Pauschal-Kritik an den Kunde-Fächern auch die Altertumskunde im vollen Umfang trifft, ist einer Überlegung wert. Die inhaltliche Gestaltung der germanischen Altertumskunde vollzog sich im 19. Jahrhundert vorwiegend an der Berliner Universität – und dies immer in der Nachbarschaft einer klassischen Altertumswissenschaft von internationalem Rang. Die Einflüsse sind auch greifbar – und an Personen wie zum Beispiel Lachmann und Müllenhoff deutlich zu machen. Auch in konzeptioneller Sicht orientiert sich die Altertumskunde am Vorbild der philologischen Wissenschaft klassischer Prägung. Die „Altertumskunde“ ist – fachhistorisch gesehen – auch ein Kind der „Altertumswissenschaft“! Bilanzierend seien einige Schlussfolgerungen zur Diskussion gestellt, die für eine zukünftige germanische Altertumslehre von Bedeutung sein könnten: 1. Das germanische Altertum stellt eine Geschichtsära dar, die seit rund 200 Jahren mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit behandelt wird. Um 246 247
248
Adolf Spamer, Die Volkskunde als Wissenschaft (Stuttgart 1933), S. 37. Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 71), Bd. 11, s.v. Volkskunde. „Empirische Kulturwissenschaft“ lautete an der Tübinger Universität das Ergebnis der Neuorientierung. Vgl. auch Nr. 10 des Fachregisters im RGA-Registerband 1, S. 298 f. – Zur Volkskunde-Diskussion seien stellvertretend genannt Günter Wiegelmann, Matthias Zender, Gerhard Heilfurth, Volkskunde. Eine Einführung (Berlin 1977); Helge Gerndt (Hrsg.), Fach und Begriff ‚Volkskunde‘ in der Diskussion. Wege der Forschung 641 (Darmstadt 1988); Rolf W. Brednich (Hrsg.), Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie (Berlin 1988); Karl Braun, Vom ‚Volkskörper‘. Deutschnationaler Denkstil und die Positionierung der Volkskunde. In: Zeitschrift für Volkskunde 105, 2009, S. 1–27.
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den heutigen Stand dieser Wissenschaft, ihre Ergebnisse, ihre enzyklopädischen und methodologischen Positionen zu bestimmen, muss die gesamte Zeitspanne ins Blickfeld genommen werden. Nur so sind die Herausforderung einer bewegten „altertumskundlichen“ Geschichte und ihre Antworten, die sich in der Konzeption dieses Faches niedergeschlagen haben, erkennbar und auch weiter zu fördern. Die Rückschau zeigt eine Altertumskunde, die politisch in einer Weise instrumentalisierbar war, wie wenige andere Wissenschaften – ungeachtet des Spielraums, den das Altertum ohnehin gewährt (von der licentia vetustatis spricht Tacitus, Germania, c. 2). 2. Den Kunde-Fächern haftet der Verdacht von Unwissenschaftlichkeit an – das ist sozusagen der Preis, den sie für Herzensnähe und Volkstümlichkeit bezahlten. „Altertumskunde“ ist (und war) insofern mehr als Anthropologie und Ethnologie (in Sicht eines germanisch-deutschen Geistes) – und auch weniger (in einem kritisch-wissenschaftlichen Sinne von heute). Wenn hier für eine zukünftige „germanistische Altertumswissenschaft“ plädiert wird, dann im Blick auf einen Paradigmenwechsel, der dem wissenschaftlichen Fortschritt Rechnung trüge – und die Nähe zur klassischen Altertumswissenschaft (im Sinne einer allgemeinen Altertums-Wissenschaft), die in den Anfängen der Germanistik bestanden hatte, wiedergewönne. Im Brennpunkt der methodischen Perspektiven stand (bis in das 20. Jahrhundert hinein) der „deutsche Geist“. Dieses romantische Erbe war nicht nur in jeder nationalen Tief- und Hochstimmung zu instrumentalisieren, es war auch eine ständig präsente Gefährdung wissenschaftlicher Objektivität. Das RGA wollte an die Stelle des „Volksgeistes“, „deutschen Geistes“, die „Kultur“ zum perspektivischen Fluchtpunkt erklären. 3. Die germanische Altertumskunde ist eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts. Die beiden Grimms und Karl Müllenhoff waren ihre Gründungsväter (jeweils verbunden mit der Berliner Akademie und der dortigen jungen Universität). Die Zeitumstände waren (nach der Wiener Friedenskonferenz) geprägt von einem Staatenpluralismus und einer daraus erwachsenen Sehnsucht nach einer nationaldeutschen Identität, die leidenschaftlich in den akademischen Kreisen erörtert wurde. Dieses zeitbedingte Profil haftete an der germanischen Altertumskunde als ein Erbe, das bis zur Wende von 1945 reichte. Weiterhin ist nicht zu übersehen, dass sich auch das Reallexikon in seiner 2. Auflage bereits heute in Teilen als zeitbedingt erweist. Das von der Nachkriegszeit geprägte Konzept „Stammesbildung und Verfassung“ bedarf der anhaltenden Diskussion. Die hermeneutische Dimension einer heutigen Al-
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tertumswissenschaft steht zur Debatte und der usurpatorische Umgang mit den Begriffen „deutsch“ und „germanisch“ (deutsch auch im Sinne von germanisch und germanisch auch im Sinne von deutsch249) verfälscht die geschichtliche Wirklichkeit. Der Blick auf das Ganze eines „germanischen Altertums“ bestätigt keine Naturgesetze volkhafter Kultur, und das Konzept eines germanischen Geistes, der die Jahrhunderte, ja sogar die Jahrtausende überdauert hätte, ist eine Chimäre. Die Altertumskunde alten Stils erfuhr im Verlaufe einer 40jährigen Arbeit so viele Einschränkungen, Umwertungen und Neuorientierungen, dass dies in der Summe einer „Wende“ gleich kommt. Die Wende könnte sich zukünftig dahin bewegen, dass das Kunde-Fach zu einem Wissenschafts-Fach würde, so dass eine „germanistische Altertumswissenschaft“ sich dann als eine Kulturwissenschaft verstünde, die sich enzyklopädisch und methodologisch zu definieren weiß – und dies auch in einer kritischen Rückbesinnung auf 200 Jahre „Altertumskunde“ mit all ihren Wegen und Irrwegen.
249
Vgl. Zur Geschichte der Gleichung „germanisch – deutsch“, hrsg. von Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer, Dietrich Hakelberg. Ergänzungsbände zum RGA, Bd. 34 (Berlin, New York 2004).
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 105–176 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
Das Fachgebiet Archäologie im RGA Heiko Steuer 1. Grundzüge, S. 105 / 2. Zum Anteil der Archäologie im alten Hoops und neuen RGA, S. 111 / 2.1. Die Wertung der Archäologie durch die Herausgeber des Hoops und des RGA, S. 111 / 2.2. Gibt es eine „Germanische Altertumskunde“?, S. 114 / 3. Die Zunahme der archäologischen Quellen, S. 116 / 4. Die Erweiterung des Spektrums der Fächer im Bereich Archäologie, S. 122 / 5. Die Zielsetzung des archäologischen Sektors, S. 124 / 6. Zentrale Redaktion und Fachberater, S. 126 / 7. Zum Versuch der stetigen Aktualisierung des Lexikons, S. 128 / 7.1. Ergänzungen der Stichwortliste und inhaltliche Aktualisierung, S. 128 / 7.2. Methodenwandel, S. 131 / 8. Erträge und Leistungsbilanz, S. 134 / 9. Alte und neue Einflüsse des Zeitgeistes, S. 138 / 9.1. Anthropologie, S. 138 / 9.2. Ethnische Deutung, S. 140 / 9.3. Archäo-Astronomie, S. 142 / 9.4. Neue Forschungsbegriffe, S. 143 / 9.5. Archäologische Methoden, S. 144 / 10. Zur Geschichte der archäologischen Wissenschaft(en), S. 144 / 11. Die Beiträge der Archäologie zur Abschluss-Tagung 2008, S. 153 / 12. Die archäologische Perspektive im RGA, S. 154 / 13. Zukünftige Ziele eines RGA aus der Sicht des Archäologen, S. 163 / 13.1. Wie geht es weiter? Diskussionsbeiträge am Ende der Tagung 2008, S. 163 / Methodenvielfalt, S. 163 / Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte, S. 164 / Hierarchie der Stichwörter, S. 164 / Interdisziplinäre Zusammenarbeit, S. 165 / Die Indogermanen und das RGA, S. 165 / Praktische Durchführung der Weiterarbeit, S. 166 / Germanische Altertumswissenschaft, S. 166 / 13.2. Ein Vorschlag für die Weiterarbeit aus dem Jahr 2008, S. 166 / 13.3. Archäologische Altertumskunde oder Altertumswissenschaft, S. 167 / 14. Das Echo des RGA und der Ergänzungsbände in den jüngeren Abhandlungen zu den Germanen, S. 173
1 Grundzüge Das Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (RGA) ist nach einer Erscheinungszeit von rund 40 Jahren 2008 zum Abschluss gekommen (1. Lieferung 1968 – 2. Registerband 2008). Das war Anlass für eine bilanzierende Tagung 2008, bei der jedes der beteiligten Fächer einen Rückblick bot.1 1
Für die Akademie der Wissenschaften in Göttingen, die das Vorhaben durch die Einrichtung einer Redaktionsstelle unterstützt hat, war das eines der wenigen Langzeitvorhaben, das abgeschlossen werden konnte. Das war für die Akademie recht neu, was an der Diskussion über den Verbleib des Archivs dieses Unternehmens abzulesen ist. Das RGA steht aber mit seiner Erscheinungsdauer nicht allein.
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Über das Fachgebiet Archäologie im „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“ zu berichten, braucht einen doppelten Zugang, einerseits wird es um die Zielsetzung und den Inhalt archäologischer Beiträge gehen, andererseits um den Blickwinkel von der Archäologie aus auf die „germanische“ Altertumskunde und all die anderen Disziplinen, die zur Erhellung der Vergangenheit beitragen. Die Aufteilung der Arbeitsfelder am RGA in drei Bereiche, vertreten durch drei Herausgeber, hat einen Bereich „Archäologie“ benannt, der außer Ur- und Frühgeschichtlicher Archäologie, mit Einbeziehung der MittelalterArchäologe für die Jahrhunderte um und nach 800, auch weitere Fachbereiche umfasst, vor allem naturwissenschaftliche Disziplinen, aber zum Beispiel auch Geographie, Historische Geographie oder auch Numismatik. Das Lexikon „Die Deutsche Literatur des Mittelalters“, das ebenfalls wie das RGA beim Verlag de Gruyter erscheint, brauchte an der Universität Tübingen 37 Jahre (FAZ vom 6.2.2009). Wegen des weit größeren Umfangs ist das auch bei de Gruyter erscheinende „Allgemeine Künstlerlexikon (AKL). Die bildenden Künstler aller Zeiten und Völker“, Nachfolger gewissermaßen des Thieme-Becker (37 Bände von 1907 bis 1950), mit bisher 71 Bänden A–H, Register- und Nachtragsbänden (1992–2011) und bis 2020 geplant, nicht zum Vergleich heranzuziehen; auch dieses Werk ist vor allem „Online“ zu nutzen (Brita Sachs, FAZ vom 12.2.2010, Nr. 36 S. 37). Das „Lexikon des frühgriechischen Epos“ wurde nach 65 Jahren, nachdem es die Göttinger Akademie im Jahr 1980 übernommen hatte, in Hamburg 2010 vollendet, begleitet von einem Abschluss-Kolloquium; die Arbeit verband interdisziplinäre Forschungen der Vor- und Frühgeschichte, Archäologie, Geschichts-, Sprachund Literaturwissenschaft (Heike Schmoll, FAZ 14.10.2010). Jährlich sollen 4 Bände erscheinen, das RGA schaffte zeitweise auch 3 Bände im Jahr. Das Großprojekt „Enzyklopädie der Neuzeit“ hat seit Mai 2005 immerhin schon 8 Bände vorgelegt und sollte noch 2010 abgeschlossen werden. Es wird herausgegeben vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. Zur Halbzeit fand ein Kolloquium statt, das sich mit der Zukunft von derartigen Enzyklopädien beschäftigt hat, bei dem es auch um den Übergang zur Darstellung im Internet ging (Andreas Rossmann, FAZ 25.4.2009). Das „Lexikon des Mittelalters“ (zu Anfang: Artemis-Verlag München und Zürich, nachfolgend: LexMA Verlag, München, und Verlag J. B. Metzler, Stuttgart, Weimar) erschien mit der 1. Lieferung 1977 und wurde mit 9 Bänden 1998 und einem Registerband 1999, also nach 22 Jahren abgeschlossen. Der „Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike“ (ebenfalls Verlag J. B. Metzler, Stuttgart, Weimar) erscheint seit 1996 und wurde mit 16 Bänden, Unterbänden und Registerband (19 Bücher) 2003 abgeschlossen, also nach 7 Jahren; weitere 7 Supplement-Bände sind in lockerer Folge bis 2010 erschienen, also das Gesamtwerk innerhalb von 15 Jahren. Es zeigt sich, dass derartige Enzyklopädien ungefähr bei vergleichbarer Bandzahl auch eine vergleichbare Dauer der Veröffentlichung brauchen.
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Die Benennung des Lexikons „Germanische Altertumskunde“ greift den Titel der ersten Auflage des von Johannes Hoops 1911–1919 herausgegebenen vierbändigen Lexikons auf. Das neue Lexikon mit seinen 35 Bänden (und 2 Registerbänden) wird als zweite, völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage bezeichnet, was vielfach beim Zitieren dazu geführt hat, von der 2. Auflage des Hoops zu sprechen, obgleich es sinnvoller ist und hier auch übernommen wird, nun das Lexikon als RGA zu zitieren. Es ist nicht geklärt, warum im Titel das Wort „germanisch“ beibehalten wurde, obgleich allen Herausgebern und auch Herbert Jankuhn die offene Frage bewusst war – im Vorwort des RGA wird darauf eingegangen –, was eigentlich unter „germanisch“ zu verstehen war, als das Lexikon zu erscheinen begann, und was wir heute darunter verstehen. Es mag am Titelschutz, am Wunsch des Verlages, an der Unterschätzung des ständig wachsenden Volumens des Lexikons oder an unbekannten Gründen gelegen haben, die erst noch ausstehende umfassende Archivstudien offenlegen können. Die Archäologie oder Ur- und Frühgeschichte ist nicht frei von der Verwendung von Mythen2 als Basis für wissenschaftliche Aussagen, meist ohne sich dessen bewusst zu sein. Derartige Mythen beeinflussen in doppelter Weise die archäologischen Forschungsergebnisse: Sie bestimmen nicht nur die Vorstellung vom Geschehen in frühen Epochen, das über archäologische Quellen erschlossen werden soll, sondern auch die Anwendung von Methoden einst und jetzt ist vielfach von mythischen Gründen beeinflusst. Auch Archäologie ist eine historische Wissenschaft. Geschichte wird erzählt, gleich von welchen Quellengruppen man dabei ausgeht. Geschichtsforschung, auch archäologische Forschung ist nicht frei von Vorurteilen. Diese Vorurteile speisen sich nicht zuletzt aus Mythen, aus Erzählungen, die für wahr gehalten werden und das weitere Vorgehen beeinflussen und deren 2
Ein Mythos, eine sagenhafte Erzählung, eine Darstellung oder ein Inhalt einer Erscheinung oder eines Denkmusters, will, soll und braucht nicht Wahrheit zu transportieren. Bei der Arbeit mit einem Mythos fragen wir nämlich nicht nach der Wahrheit, akzeptieren ihn einfach; ein Mythos lässt sich immer weiter ausbauen, führt gewissermaßen auch ein Eigenleben; oft wissen wir, dass es sich um einen Mythos handelt, aber wir brauchen ihn, wenn der Logos die Erscheinungen der Welt nicht ausreichend erklärt, der aber die Nutzung des Mythos kontrolliert. Fakten und Fiktionen mischen sich beim Mythos so, dass der Wahrheitsgehalt keine Rolle mehr spielt (Günter Figal; Freiburg 3.2.2011 – Ringvorlesung zum Mythos). Zwischen Mythos und wissenschaftlicher Aussage des Verstandes bzw. Logos vermittelt Dichtung. Ein Mythos hat eine Botschaft, ist kein wissenschaftliches Ergebnis. „Da Mythos eine Aussage ist, kann alles, wovon ein Diskurs Rechenschaft ablegen kann, Mythos werden“, so zum Beispiel Roland Barthes, Mythen des Alltags (edition suhrkamp 92) (Frankfurt/Main 1964), S. 85.
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sogenannter Wahrheitsgehalt nicht weiter überprüft werden muss. Ein solcher Mythos ist inzwischen die Ansicht, dass Germanen in Mittel- und dem südlichen Nordeuropa gelebt haben und dass deren Geschichte auch über archäologische Forschung erschlossen werden kann, die aufeinander folgenden Phasen des sich wandelnden Mythos setzen die Frühzeit der Germanen in einer fernen Urzeit an, abwechselnd in der Bronzezeit, im Neolithikum, erst in der Eisenzeit oder zur Zeit Caesars und gegenwärtig wieder von einigen Forschern in der Bronzezeit – wegen der Kontinuität der Besiedlungsmuster in Mitteleuropa –, und jeweils findet man die Begründung (auch) im archäologischen Quellenbestand.3 Und für viele Archäologen besteht auch weiterhin der Mythos, dass ethnische Einheiten, germanische Stämme, mit ihren Siedlungsgebieten sich unmittelbar anhand der Verteilung bzw. Verbreitung von Grabsitten und Sachgütern nachweisen und außerdem auf dieselbe Weise weit zurück in die Vergangenheit verfolgen lassen. Auch dieser Mythos ist im 19. Jahrhundert im Zuge der Ausbildung der Nationalstaaten, die ebenfalls ihre Mythen brauchen, um Identität zu schaffen, nicht zuletzt des Deutschen Reiches entstanden, wurde dann als Paradigma apodiktisch formuliert 1911 von Gustaf Kossinna (1858–1931)4 und wurde für ein Jahrhundert zum zentralen, dem wichtigsten Paradigma der Frühgeschichtsforschung.5 Es beherrscht auch weite Teile des archäologischen Parts im RGA, obwohl andere Archäologen dieses Axiom aufgelöst haben,6 denn Religion 3
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Doch schon Karl Hermann Jacob-Friesen (1886–1960) resümierte in: Grundfragen der Urgeschichtsforschung. Stand und Kritik der Forschung über Rassen, Völker und Kulturen in urgeschichtlicher Zeit (Hannover 1929), S. 209, dass alles Rückprojizieren, wie das die Kossinna-Schule meinte zu dürfen, bis ins späte Neolithikum oder in die frühe Bronzezeit nicht berechtigt sei. „Selbst Oscar Montelius, der als erster den nordischen Kulturkreis für die Vorfahren der Germanen in Anspruch nahm, war so vorsichtig, für so frühe Zeiten, wie es die Stein- und Bronzezeit sind, nicht von ‚Germanen‘, sondern eben von ‚Vorfahren der Germanen‘ zu sprechen“. Sebastian Brather, Artikel „Kossinna, Gustaf“. In: RGA Bd. 17, 2001, S. 263–267; Heinz Grünert, Gustaf Kossinna (1858–1931). Vom Germanisten zum Prähistoriker. Ein Wissenschaftler im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (Rahden/ Westf. 2002). Heinrich Beck, Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“. In: RGA Bd. 11, 1998, S. 431; Gustaf Kossinna, Die Herkunft der Germanen. Zur Methode der Siedlungsarchäologie (Würzburg 1911): „Scharf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern oder Völkerschaften“. Vgl. auch Anm. 163. Sebastian Brather, Ethnische Einheiten in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 42 (Berlin, New York 2004), 807 Seiten; noch die andere Meinung: Volker Bierbrauer, Ethnos und Mobilität im 5. Jahrhundert aus archäologischer Sicht: Vom Kaukasus bis nach Niederösterreich. Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philologisch-
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und Kult, Wirtschaft und Sozialstrukturen7 und andere Aspekte vergangener Lebenswelten können zu diesen archäologischen Mustern führen. Stichworte wie „Mythos“ oder „Erinnerungsorte“ beherrschen denn auch gegenwärtig wieder die Literatur. Die Deutschen brauchen wie alle anderen Völkerschaften auch anscheinend eine Fülle von Mythen,8 haben Erinnerungsorte9 und Erinnerungstage,10 Kollektiverinnerungen als Bedürfnis einer Sinnstiftung, Basis der Identitätsfindung. Im Vorwort der „Erinnerungsorte“ zitieren Etienne François und Hagen Schulze Marcel Proust: „Erst im Gedächtnis formt sich die Wirklichkeit“, und „Geschichte und Gedächtnis“ (Aleida Assmann) bilden keine Opposition, sondern sind auf komplexe Weise miteinander verschränkt, es gibt „Geschichte als Wissenschaft“ und „Geschichte als Gedächtnis“: „Geschichte und Gedächtnis stellen zwei vergleichbare … Versuche dar, eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu schlagen.“11 So sagte schon Aurelius Augustinus (354–430 n. Chr.): „Eines dürfte indes klar und deutlich geworden sein: dass weder Zukunft noch Vergangenheit sind, und dass man eigentlich nicht sagen kann, es gibt drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern dass man, um genau zu sein, vielleicht sagen muss: es gibt drei Zeiten, die Gegenwart vom Vergangenen, die Gegenwart vom Gegenwärtigen und die Gegenwart vom Zukünftigen. Denn diese drei sind in der Seele, und
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Historische Klasse, Abhandlungen Neue Folge Heft 131 (München 2008), 131 Seiten. Heiko Steuer, Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa. Eine Analyse der Auswertungsmethoden des archäologischen Quellenmaterials. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, Dritte Folge Nr. 128 (Göttingen 1982). Ingo Wiwjorra, Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts (Darmstadt 2006); Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen (Berlin 2009), darin auch der Mythos Varus-Schlacht „Arminius und die Schlacht im Teutoburger Wald“, S. 165 ff. Etienne François, Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte I–III (München 2001), darin auch, aber erst in Band III unter der Abschnitts-Überschrift „Identitäten“: Michael Werner, Die „Germania“, S. 569–586 und Werner M. Doyé, Arminius, S. 587–602; doch auch in Band I kann Arnold Esch, Ein Kampf um Rom, S. 27–40, in unserem Zusammenhang gesehen werden. Etienne François, Uwe Puschner, Erinnerungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart (München 2010), darin gleich am Anfang: Kirstin Buchinger, Teutoburger Wald 9 n. Chr.: Die Hermannschlacht – ein Erinnerungstag?, S. 25–40; gesprochen wird – was selten bei der wissenschaftlichen Literatur der Fall ist – von der Hermannschlacht, nicht der Varus-Schlacht. Anders ist das natürlich bei der Dichtung im 19. Jahrhundert; erinnert sei nur an Heinrich von Kleists „Hermannsschlacht“. Etienne François, Hagen Schulze, Erinnerungsorte (wie Anm. 9), Bd. I, S. 14.
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anderswo sehe ich sie nicht. Die Gegenwart des Vergangenen ist Erinnerung, und die Gegenwart des Zukünftigen die Erwartung“. Geschichte ist eine erzählende Wissenschaft. Sie bringt Erzählungen aus verschiedenen Blickwinkeln, die alle in gewisser Weise wahr sind; doch auch wahre Geschichten verzerren, was bis zur Lüge gehen kann. „Eines ist jedenfalls sicher, die Altertumswissenschaften allein sind nicht in der Lage, die Zeiten der Vergangenheit wieder entstehen zu lassen“,12 und Botho Strauß sagte zum Beispiel einmal: „Die Ausgräber antiker Städte haben nur eine Verlassenheit zutage gefördert, niemals die Vergangenheit. Wer weiß, ob nicht die Reiche und die alten Streite wiederkehren? Auf dem alten Markt, im Zwielicht der Zeit, steht alles bereit“.13 Auch ein Reallexikon hat diese Aufgabe, Geschichte und Gedächtnis festzuhalten, zu bündeln und der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Es wird aber selbst durch seine lange Erscheinungsspanne Teil der (Zeit-)Geschichte; in 40 Jahren ändern sich nicht nur Fragestellungen und Methoden, sondern – was hier zur Debatte steht – im Falle der Archäologie auch massiv die Quellengrundlage. So konnte im Prinzip im 1. Band aus den Jahren 1969–1973 nicht dieselbe Vorstellung von Archäologie und Geschichte konzentriert werden wie jüngst in Band 35 von 2007. Nach der Abschlusstagung zum RGA 2008 kam erst der Erinnerungstag 2009 an die Arminius-Varus-Schlacht mit der Fülle von Publikationen, Zeitungsartikeln und Ausstellungen.14 Für die Archäologie war, zugleich als Geschäftsführender Herausgeber, der Ur- und Frühgeschichtler Herbert Jankuhn bis zu seinem Tod 1990 bzw. vom 1. Band bis zum 9. Band (herausgegeben 1995) zuständig, dem dann als Archäologe Heiko Steuer ab dem 9. Band bis zum Schluss (2008) nachfolgte. Parallel dazu übernahm Rosemarie Müller die redaktionelle Leitung, eine Archäologin. Was den Bereich Archäologie betrifft, aber auch die anderen Disziplinen, so war die Stichwortliste am Anfang aufgestellt, wurde aber nach und nach ergänzt, so dass gewissermaßen die Vorstellungen Jankuhns sich auch in den späteren Bänden spiegeln, obgleich – was noch zu erläutern sein wird – die Stichwortliste weiterhin laufend erweitert wurde. Zu zeigen ist im Folgenden, wie die Archäologie und die ihr zugeordneten Wissenschaften sich ins Lexikon einbringen und welchen Stellenwert diese Fächer dabei haben. Die inter- oder multidisziplinäre Zusammenschau 12
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Günter Dux, Liebe und Tod im Gilgamesch-Epos. Geschichte als Weg zum Selbstbewusstsein des Menschen (Wien 1992), S. 36. Barbara Patzek, Einleitung. In: Justus Cobet, Barbara Patzek (Hrsg.), Archäologie und historische Erinnerung. Nach 100 Jahren Heinrich Schliemann (Essen 1992), S. 9: Botho Strauß, Fragmente der Undeutlichkeit, 1989. Vgl. Anhang 5.2
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als Wunschvorstellung bei der Planung des Lexikons stößt auf vorerst unüberwindliche Schwierigkeiten – wie ebenfalls noch zu zeigen sein wird. Denn es gibt methodische Grundprobleme: Archäologische Quellen sind in der Regel in Zeit und Raum verortet, was man bei der schriftlichen Überlieferung nur zum Teil sagen kann und was bei Sprachzuständen vor der schriftlichen Fixierung wegen fehlender Datierungsmöglichkeiten kaum gegeben ist.
2 Zum Anteil der Archäologie im alten Hoops und neuen RGA 2.1 Die Wertung der Archäologie durch die Herausgeber des Hoops und des RGA Johannes Hoops schrieb 1913 im Vorwort zur 1. Auflage des Reallexikons der Germanischen Altertumskunde (hinfort abgekürzt: Hoops): Als wichtigstes und erstrebenswertes Ziel des Reallexikons schwebte mir insbesondere die Herstellung einer Verbindung zwischen Vorgeschichte und Geschichte einerseits, zwischen Archäologie und Sprachwissenschaft andererseits vor. Es war freilich vorauszusehn, daß diese Aufgabe nur teilweise gelöst werden würde: Neigungen und Abneigungen der Mitarbeiter auf der einen, sachliche Schwierigkeiten auf der andern Seite erschweren ihre Durchführung sehr.15
Doch sprach er weiter noch zum Anteil der Archäologie mit einer klaren Einschränkung: Die so mittels sprachgeschichtlicher, historischer und volkskundlicher Untersuchungen erzielten Ergebnisse durch die Verwertung archäologischer und geographischer Tatsachen zu ergänzen, ist wohl wünschenswert, aber hier nicht unbedingt erforderlich.16
Und weiter: Schwieriger liegt die Sache beim Wirtschaftsleben, wo oftmals archäologische, kulturhistorische, ethnographische und sprachgeschichtliche Probleme nebeneinander herlaufen, die nicht immer leicht in Einklang zu bringen sind.17 15
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Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter herausgegeben von Johannes Hoops, Erster Band A–E (Straßburg 1911–1913), S. VI, wieder abgedruckt in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, von Johannes Hoops. Zweite, völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter, Erster Band, Aachen– Bajuwaren (Berlin, New York 1973) bzw. 1. Lieferung. (Berlin, New York 1968), S. V. Hoops Bd. 1, 1913, S. VI bzw. RGA Bd. 1, 1973, S. VI. Hoops Bd. 1, 1913, S. VI bzw. RGA Bd. 1, 1973, S. VI.
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Als Fazit aber sagte er: Eine eingehendere Berücksichtigung der vorgeschichtlichen Archäologie Mitteleuropas schien mir auch schon darum empfehlenswert, weil es an einer zuverlässigen und zugleich übersichtlichen Zusammenfassung hier leider immer noch gebricht.18
Das hat sich erst wesentlich später grundlegend geändert: Das vor Jahren in der DDR erschienene zweibändige Handbuch „Die Germanen“ (1976 und 1983) gab tatsächlich erstmals eine solche umfassende Zusammenschau;19 und parallel dazu waren die ersten vier Bände der 2. Auflage des Reallexikons der Germanischen Altertumskunde erschienen (1968/1973 bis 1981) (hinfort abgekürzt: RGA). Nachfolgend bietet das Reallexikon jetzt zusammen mit den Ergänzungsbänden (2011: über 70 Bände) diese seinerzeit gewünschte Zusammenfassung in noch deutlich erweitertem Zugriff. Im RGA heißt es im Vorwort 1972: Auch die Berücksichtigung der provinzialrömischen Kultur an Rhein und Donau, der keltischen Kultur in Süd- und Südwestdeutschland schien in größerem Umfang notwendig als früher, hatte sich doch… gezeigt, in wie starkem Maße die Germanen gerade auch von der weiter entwickelten keltischen Kultur abhängig gewesen sind. Dazu traten… die… Verbindungen zu anderen indogermanischen Gruppen wie den Slawen und den Balten, aber auch zu reiternomadischen Völkern wie den Sarmaten, den Hunnen und den Awaren… Es ist wieder ein Problem geworden, was wir als ‚germanisch‘ bezeichnen dürfen.20
Um es neutral auszudrücken: Eine gewisse Verlagerung in der neuen, umfangreicheren Auflage des Lexikons von der Philologie zur Archäologie geht sicherlich auch auf die geänderte Position der Herausgeber zurück. Herbert Jankuhn, seit 1956 an der Universität Göttingen, seit 1961 Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, aktualisierte schon 1958 den alten Plan eines „Reallexikons der Germanischen Altertumskunde“, was bald dazu führte, dass er und Percy Ernst Schramm die Anregung des 18 19
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Hoops Bd. 1, 1913, S. VII bzw. RGA Bd. 1, 1973, S. VI. Die Germanen. Geschichte und Kultur der germanischen Stämme in Mitteleuropa. Ein Handbuch in zwei Bänden. Ausgearbeitet von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Bruno Krüger. Bd. I: Von den Anfängen bis zum 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung (Berlin 1976), 568 Seiten, Bd. II: Die Stämme und Stammesverbände in der Zeit vom 3. Jahrhundert bis zur Herausbildung der politischen Vorherrschaft der Franken (Berlin 1983), 713 Seiten. – Neue Bücher zur Kultur, Archäologie und Geschichte der Germanen parallel zur Erscheinungsfolge des RGA nenne ich in einem Anhang 5, nicht zuletzt die zahlreichen Publikationen aus dem Erinnerungsjahr zur Varus-Schlacht 2009. RGA Bd. 1, 1973, S. IX.
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Verlages Walter de Gruyter aufgriffen und in den 1960er Jahren mit Überlegungen zu einer 2. Auflage des Reallexikons begannen.21 Jetzt war es vordringlich der Archäologe, zusammen mit dem Historiker, der nun statt eines Philologen, des Anglisten Johannes Hoops, die ersten Planungen übernahm; aber beide waren außerdem, was vermerkt werden soll, sehr an der naturwissenschaftlichen Perspektive der Altertumskunde interessiert. Es lag sowohl an der Rolle Herbert Jankuhns bei der Realisierung des Lexikons als auch am rasanten Fortschritt der archäologischen Wissenschaften, was Methoden und Quellenbestand betrifft, dass im Vergleich zum alten Hoops die Archäologie, als Vor- und Frühgeschichte, im Lexikon leicht einen überproportionalen Anteil – im Vergleich mit anderen beteiligten Disziplinen – eingenommen hat. Es mag an dieser Stelle erlaubt sein, einige Worte zur Nomenklatur zu sagen. Das archäologische Fach heißt heute „Urund Frühgeschichtliche Archäologie“, wobei Urgeschichte sich mit den Epochen befasst, die keine eigenen Schriftquellen hinterlassen haben oder über die auch von außen nicht berichtet wird, während Frühgeschichte die Epoche meint, die auch und nicht unwesentlich von Schriftquellen beleuchtet wird. Im Allgemeinen lässt man die Frühgeschichte mit den Jahrzehnten um Christi Geburt beginnen. Wegen der fehlenden Schriftquellen sprach man früher von Vorgeschichte oder Prähistorie und nicht von Urgeschichte. Doch betrachten Archäologen inzwischen alle Phasen als Geschichtsepochen und sprechen daher von Urgeschichte statt von Vorgeschichte.22 Die Zielvorstellung eines Reallexikons als eines Nachschlagewerkes zur Kulturgeschichte der „Germanen“ erforderte anfänglich von den anderen Disziplinen Einschränkungen, das heißt, die Geschichtswissenschaft sollte auf Ereignis- und Personengeschichte, politische Geschichte, Kirchen- und Dogmengeschichte, sowie Literaturgeschichte verzichten,23 weil darüber andere Handbücher ausreichend Auskünfte anbieten würden. Für die Archäologie gab es solche Einschränkungen nicht, weil es – wie gesagt –
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23
Diese Angaben stammen von Frau Dr. Gertrud Grünkorn, Verlag de Gruyter, wofür ich herzlich danke: Für die archäologische Seite wurde bei der Vorbereitung der 2. Auflage an die Archäologen Joachim Werner, Hans Jürgen Eggers und Herbert Jankuhn gedacht. So aber noch 1998 Heinrich Beck, RGA Bd. 11, 1998, S. 420 ff.; vgl. Max Ebert, Reallexikon der Vorgeschichte, Bd. 1–15 (Berlin 1924–1932). Hoops Bd. 1, 1913, S. VI; Rolf Hachmann, in: Rolf Hachmann, Michael Richter, Piergiuseppe Scardigli, Vom ‚Alten Hoops‘ zum ‚Neuen‘. Jahrbuch für Internationale Germanistik XVIII, Heft 2, 1996, S. 26–77, hier S. 34; Piergiuseppe Scardigli, Johannes Hoops als Philologe und Begründer des Reallexikons der germanischen Altertumskunde. General Linguistics 34, No. 3–4, 1994, S. 203–208, hier S. 206.
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Übersichtswerke und Handbücher noch nicht ausreichend gab und ihre Quellen gerade diese Aspekte auch nicht direkt erschließen konnten.
2.2 Gibt es eine „Germanische Altertumskunde“? Die Formulierungen im Vorwort des RGA lassen erkennen, dass zu Anfang der Arbeit an der 2. Auflage des Lexikons und parallel zum Erscheinen der ersten Bände der Begriff „Germanen“ und damit auch die Frage nach der Art einer Altertumskunde schon umstritten waren bzw. dass sich die einheitliche Auffassung aufgelöst hat.24 Rolf Hachmann thematisierte das in der Richtung: „Über den Bezug zwischen germanistischen Germanen, den altphilologischen Germanen und den vor- und frühgeschichtlichen Germanen ist noch längst nicht genug gesprochen worden“, womit er mit den Herausgebern des RGA einig war, dass ein einheitliche Vorstellung von Germanen fehlte.25 Während der Tagung „Germanenprobleme in heutiger Sicht“ 1983 sprach Reinhard Wenskus, einer der Herausgeber des RGA, über „die Möglichkeiten eines allgemeinen interdisziplinären Germanenbegriffs“.26 Herbert Jankuhn war nur für die ersten neun Bände des Lexikons A–F verantwortlich, – er starb 1990; Band 9 wurde 1995 ausgeliefert – und erlebte deshalb nicht mehr die Bemühungen der Herausgeber und zahlreicher Autoren, das Germanenproblem aus der Sicht zahlreicher Forscher neu zu formulieren, in dem umfangreichen Stichwort „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“, mit den Großkapiteln I. Geschichte, II. Sprache und Dichtung, III. Archäologie, IV. Gesittung, V. Germanische Altertumskunde.27 24 25 26
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Dazu der Archäologe Rolf Hachmann, Die Germanen (Genf 1971). Hachmann, in: Hachmann, Richter, Scardigli (wie Anm. 23), S. 68. Reinhard Wenskus, Über die Möglichkeit eines allgemeinen interdisziplinären Germanenbegriffs. In: Heinrich Beck (Hrsg.), Germanenprobleme in heutiger Sicht. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 1 (Berlin, New York 1986, 2. Aufl. 1999), S. 1–21; darin auch die Beiträge der Archäologen: Herbert Jankuhn, Das Germanenproblem in der älteren archäologischen Forschung (Von der Mitte des 19. Jh.s bis zum Tode Kossinnas), S. 298–309 und Gerhard Mildenberger, Die Germanen in der archäologischen Forschung nach Kossinna, S. 310–320. (Autorengruppe), Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“. In: RGA Bd. 11, 1998, S. 181–438, darin: III. Archäologie A. Sachkultur (Rosemarie Müller), S. 309–317, B. Ursprung und Ausbreitung der Germanen (Heiko Steuer), S. 318–327, C. Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Heiko Steuer), S. 327– 356, D. Kunst (Helmuth Roth und Torsten Capelle), S. 356–374 und das Kapitel V. Germanische Altertumskunde (Heinrich Beck), S. 420–438.
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Es blieb bei der Addition von Fachergebnissen,28 archäologische und sprachwissenschaftlich-historische Stichwörter wurden nebeneinander gestellt, und der Leser musste den Bezug selber herstellen,29 wobei zuvor Johannes Hoops noch gedacht hatte, dass die Methoden und Ergebnisse verschiedener Fächer miteinander zu verbinden seien, obgleich er die Schwierigkeiten erkannte: Es ist…wohl entschuldbar, wenn das angestrebte Ideal einer organischen Verknüpfung von Vorgeschichte und Geschichte, von Archäologie, Ethnographie und Sprachwissenschaft nur zum Teil erreicht worden ist.30
Der Weg zu einer Altertumswissenschaft oder Kulturwissenschaft war damals schwierig zu gehen, und das hat sich bis heute nicht wesentlich geändert; vielmehr haben sich die methodischen Bedenken verstärkt. Die Urund Frühgeschichte hat es inzwischen zum Beispiel auch aufgegeben, die Kultur der vorrömischen Eisenzeit, die Jastorf-Kultur, als direkten archäologischen Niederschlag der Germanen zu betrachten.31 Andererseits stellte auch Hachmann 1996 fest, „dass eine Auswertung der materiellen Kultur den Hauptteil der Informationen über die germanische Frühzeit liefert“,32 wobei mit materieller Kultur alle Ergebnisse archäologischer Forschung gemeint sind und mit „germanische Frühzeit“ inzwischen, im Sinne Herbert Jankuhns, die Frühzeit in Mittel- und Nordeuropa allgemein. Rolf Hachmann hat in seiner Besprechung des RGA 1996 nicht verstanden, dass und warum es Herbert Jankuhn von Anfang an nicht um eine „Germanische“ Altertumskunde oder Altertumswissenschaft ging, sondern – wie später noch erläutert wird – um die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas, auch West- und Ostmitteleuropas, aber er wollte durchaus eine Zusammenschau der Wissenschaften, wie Rolf Hachmann meint, die über die Addition hinaus zur Integration als eine Metawissenschaft kommen sollte.33 Aber Hachmann erläutert dann passender: „Es gibt die germanische Alter28 29 30 31
32 33
Dazu Anm 60. Hachmann, Scardigli, in: Hachmann, Richter, Scardigli (wie Anm. 23), S. 35. Hoops Bd. 1, 1973, S. VII. Steuer, Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde 1998 (wie Anm. 27), S. 318 ff.; Rosemarie Müller, Jastorf-Kultur. In: RGA Bd. 16, 2000, S. 43–55; Wiebke Künnemann, Jastorf – Geschichte und Inhalt eines archäologischen Kulturbegriffs. Die Kunde N.F. 46, 1995, S. 61–122; Brather, Ethnische Interpretationen 2001 (wie Anm. 6), S. 210 ff.; anders noch Scardigli, in: Hachmann, Richter, Scardigli (wie Anm. 23), S.39; Beck, in: Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde (wie Anm. 27), S. 432. Richter, in: Hachmann, Richter, Scardigli (wie Anm. 23), S. 42. Hachmann, in: Hachmann, Richter, Scardigli (wie Anm. 23), S. 45–47.
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tumswissenschaft nicht als eine Metawissenschaft, sondern nur als einen ganz pragmatisch konzipierten Überbegriff, der Wissenschaften addiert, die sich mit dem gleichen Großraum und der Kultur von dessen Bevölkerung befassen“.34 Schließlich kommt aber auch Hachmann unbewusst doch zur realistischen Einschätzung des von Jankuhn tatsächlich Gewollten: „Was Jankuhn herausgegeben hat, ist kein ‚Reallexikon der germanischen Altertumswissenschaft‘, sondern ein ‚Reallexikon der mittel- und nordeuropäischen Altertümerkunde“,35 wenn man außerdem daran denkt, dass mit Altertümern keine Altsachen oder Antiquitäten, sondern alle modernen archäologischen Forschungsergebnisse gedacht sind. Die – auch kritisierte – Überbetonung der Archäologie36 ergab sich einerseits aus Jankuhns dominanter Rolle als Geschäftsführender Herausgeber bei der Organisation des Unternehmens im Rahmen der Akademie, durch die Schaffung einer Arbeitsstelle am Seminar für Ur- und Frühgeschichte, später in Räumen der Akademie, wobei das Hilfspersonal und die Redaktionsassistenten Fachkollegen waren, darunter war auch ich. Nach seinem Tod – wie oben kurz erwähnt – folgte ich als Herausgeber seit Band 8, 1994 für den archäologischen und naturwissenschaftlichen Bereich; und die Arbeitsstelle wurde zugleich seit Band 8, 1994 durch die Einstellung einer habilitierten Wissenschaftlerin, Rosemarie Müller verstärkt, die ebenfalls Archäologin ist. Ein Netz von Fachberatern der Archäologie aus allen beteiligten europäischen Staaten37, vor allem aus Skandinavien und auch aus Osteuropa, sorgte zudem dafür, dass neue archäologische Befunde den Weg in das RGA fanden.38
3 Die Zunahme der archäologischen Quellen Das Vorwort der 2. Auflage 1972 weist auf ein kardinales Problem für die interdisziplinäre Zusammenschau in diesem Lexikon hin: Besondere Schwierigkeiten machte die Berücksichtigung der archäologischen Forschungsergebnisse, die seit der Zeit der ersten Auflage in ihrem Umfang stark angeschwollen sind. Die archäologische Forschung in Deutschland ist gerade dabei [man schrieb die 1970er Jahre, Verf.], einen entscheidenden Schritt 34 35 36
37 38
Hachmann, in: Hachmann, Richter, Scardigli (wie Anm. 23), S. 47. Hachmann, in: Hachmann, Richter, Scardigli (wie Anm. 23), S. 48. Hachmann, in: Hachmann, Richter, Scardigli (wie Anm. 23), S. 65: „Die Verantwortung für das Überbetonen der Vorgeschichte trug der zuständige Herausgeber“. Vgl. dazu Anhang 2. Damit hatte sich die Kritik von Rolf Hachmann, in: Hachmann, Richter, Scardigli (wie Anm. 23), S. 68 an der Vernachlässigung der Forschung in der DDR erübrigt.
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von einer systematischen Ordnung ihres Fundmaterials in chronologischer und topographischer Hinsicht auf eine historische Auswertung des Quellenmaterials zu tun… Dabei erschließen sich dem Archäologen mitunter auch andere Gebiete als sie sich dem Philologen oder Historiker öffnen… Um das Werk nicht zu einem Reallexikon der frühgeschichtlichen Archäologie werden zu lassen, ist bewußt darauf verzichtet worden, größere Beiträge zur Formenkunde und Typologie des Fundstoffes… zu liefern.39
Sachgüter wie „Fibel“ oder „Nadel“, archäologische Befundgruppen wie „Pferdegräber“ oder handwerkliche Aspekte wie „Vergoldung“ sind als einzelne antiquarische Beispiele dann doch als Modell und Muster erläutert worden und das auch gleich recht umfangreich, aber mit dem Ziel, die allgemeine kulturgeschichtliche Relevanz solcher Sachgüter, Bräuche oder Techniken zu verdeutlichen. Diese doch veröffentlichten größeren Beiträge zeigen aber einerseits den Nachbarwissenschaften, wie die archäologischen Quellen aussehen und was sie zur kulturgeschichtlichen Altertumskunde beitragen können, und andererseits entspricht diese Auswahl auch der andernorts vorgetragenen These, dass für die schriftlosen Epochen und Gebiete nur die archäologischen Quellen der Auswertung zur Verfügung stehen. Das sehr umfangreiche Stichwort „Fibel und Fibeltracht“ war im Übrigen so gefragt, dass eine Studienausgabe als Separatum gedruckt wurde, von dem jetzt eine neue Auflage erschienen ist.40 Eine Kritik im Jahr 1996 fragte,41 an wen das Lexikon sich richten würde, ob die Nachbarswissenschaften zur Archäologie diese umfangreichen Darstellungen zu archäologischen Realien und Sachverhalten lesen wollten. Zahlreiche Beispiele werden angeführt, die eigentlich im Widerspruch zu Jankuhns anfänglicher Konzeption stehen würden. Abgesehen davon, dass auch umgekehrt gefragt werden kann, ob ein Archäologe etwa die zahlreichen langen etymologischen Namenerklärungen lesen wollte, die auch nicht gleich den Bezug zu Fragen der Altertumskunde erkennen lassen, hat sich mit Berechtigung dieser konzeptionelle Ansatz auch verändert. Das Anwachsen des Bereichs Archäologie im Lexikon hängt auch unmittelbar mit dem Wesen dieser Wissenschaft zusammen. Die Quellen, Funde und Befunde, sind in der Regel in Zeit und Raum zu verorten und sind als Überreste zu bewerten. Siedlungsreste sind ohne Absicht in der Erde verblieben, Gräber und Opferplätze demgegenüber sind intentional 39 40
41
RGA Bd. 1, 1973, S. X f. (Autorengruppe), Artikel „Fibel und Fibeltracht“. In: RGA Bd. 8, 1994, S. 411– 606; Studienausgabe (Berlin New York 2000), S. 1–196; 2. Aufl. 2011. Hachmann, in: Hachmann, Richter, Scardigli (wie Anm. 23), S. 56, 59, 62 ff.
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entstanden. Während der Laufzeit des Lexikons von den 1970er Jahren bis heute hat die archäologische Quellengrundlage vielleicht die größte Wandlung erfahren, was die methodischen Zugriffe betrifft und den zahlenmäßigen Umfang der kaum noch zu überschauenden Zunahme der archäologisch ergrabenen und erforschten Befunde und Funde, was Quantität und Qualität betrifft. Gleichermaßen sind die Fragestellungen auf neuartige Bereiche erweitert worden, und auch die methodischen Ansätze zur Auswertung der Quellen haben sich vervielfacht – nicht nur die technischen Hilfsmittel und Verfahren. Das hat sich im Verlauf der Herausgabe der Bände des RGA über einige Jahrzehnte auch im Lexikon niedergeschlagen, was ein sorgfältiges Arbeiten mit diesen Bänden erforderlich macht, vor allem auch durch Hinzuziehung der beiden Registerbände. Denn der Wunsch, aktuell zu sein, führte dazu, dass unter neuen Stichwörtern auch Sachverhalte beschrieben wurden, die eigentlich schon zuvor in der alphabetischen Folge hätten dargestellt werden müssen. Doch da die Entdeckung eines Fundkomplexes oder die Erforschung eines Sachverhaltes erst später erfolgte, wurde die Lösung gewählt, die neuen Ergebnisse unter verwandten Stichwörtern zu subsumieren, was über das Register jedoch systematisch aufgeschlossen wird.42 Während in allen am RGA beteiligten Fachgebieten sich das Methodenspektrum, durch neue Fragestellungen initiiert, gewandelt hat, erfuhr und erfährt die Archäologie außerdem den immensen Zuwachs an Quellen, der bewältigt werden muss, und das in doppelter Hinsicht. Zum einen wächst die Anzahl und Dichte der für die Altertumswissenschaft bedeutenden Fundstellen, und zum anderen ist bemerkenswert, was den Flächenumfang der ausgegrabenen Befunde angeht. Erwähnt sei nur die vollständige Freilegung zahlreicher Dörfer der römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungszeit auf Flächen von 10 bis 20 ha43 sowie die komplette Erfassung der Siedlungsnetze in überschaubaren Landschaften, wie die Wurten in den Nordseemarschen oder die Ufersiedlungen an den Alpenseen. Was früher Archäologische Landesaufnahme44 hieß, wird jetzt als Landschaftsarchäologie45 bezeichnet. Zum anderen haben neue naturwissenschaftliche Verfahren eine beachtliche Ausweitung unserer Kenntnisse gebracht, und das ebenfalls 42 43
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Dazu ausführlicher S. 128ff. (Autorengruppe), Artikel „Siedlungs-, Gehöft- und Hausformen“. In: RGA Bd. 28, 2005, S. 282–319; Heiko Steuer, Artikel „Siedlungsarchäologie“. In: RGA Bd. 28, 2005, S. 319–323. Herbert Jankuhn, Artikel „Archäologische Landesaufnahme.“ In: RGA Bd. 1, 1973, S. 391–394. Heiko Steuer, Artikel „Landschaftsarchäologie“. In: RGA Bd. 17, 2001, S. 630–634.
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in doppelter Hinsicht. Das betrifft einerseits die Prospektion, also das Auffinden und Entdecken von Fundplätzen,46 andererseits die Auswertungsmöglichkeiten von Sachgut einschließlich der biologischen Reste (Tierknochen, Pflanzenreste, menschliche Reste).47 Ein weiterer kulturgeschichtlich relevanter Aspekt folgt aus den neuen naturwissenschaftlichen Datierungsmöglichkeiten, die sich während der Erscheinungsfolge des RGA wesentlich verändert und verbessert haben, der Radiocarbon-Datierung und der Dendrochonologie. Die Dendrochronologie erlaubt oftmals eine jahrgenaue Datierung eines archäologischen Befundes, eines Gebäuderestes oder auch eines Werkzeugs, an dessen Konstruktion Holz beteiligt ist, was diese naturwissenschaftlichen Daten den historischen Zeitangaben der Ereignisgeschichte gleichsetzt, und das für alle Epochen, nicht nur für die jüngeren Phasen, sondern auch für das Neolithikum und die Bronzezeit. Durch die Radiocarbon-Datierung und den Ausbau dieser Methode verschoben sich die Zeitansätze für frühe Kulturen erheblich, zum Beispiel datierte man die erste Bauernkultur in Mitteleuropa, die Kultur der Bandkeramik, vor Entdeckung der Radiocarbon-Methode in die Jahrhunderte um 3500 v. Chr., dann mit der frühen Radiocarbon-Methode in das 5. Jahrtausend und heute in die Zeit um 5500 v. Chr. Diese Ausdehnung der Entwicklungszeit von 2000 Jahren ist bei der Bewertung von Kulturerscheinungen zu berücksichtigen, zumal wenn man die Einführung des Ackerbaus mit den Indogermanen als Sprachgemeinschaft korrelieren will. Wie verhält sich chronologisch der Sprachwandel? Zugleich gestattet die Radiocarbon-Datierung auch die Synchronisation von Kulturerscheinungen über weite Räume hinweg und die Beantwortung von Fragen, was nun wo gleichzeitig geschehen ist. Zwischen den ersten Lieferungen des RGA und den späteren Bänden wird es daher Widersprüche geben, die jedoch hier nicht einzeln aufgeführt werden können. Für die frühgeschichtlichen Jahrhunderte haben auch alte Quellenarten an Zahl zugenommen, wie zum Beispiel frühe Runeninschriften48 und die 46
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(Autorengruppe), Artikel „Prospektionsmethoden“. In: RGA Bd. 23, 2003, S. 483– 508. (Autorengruppe), Artikel „Naturwissenschaftliche Methoden in der Archäologie“. In: RGA Bd. 20, 2002, S. 568–610. Ergänzungsbände berichten über Runen-Tagungen: Klaus Düwel u.a. (Hrsg.), Runische Schriftkultur in kontinental-skandinavischer und ‑angelsächsischer Wechselbeziehung. Internationales Symposium 1992. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 10 (Berlin, New York 1994); Klaus Düwel (Hrsg.), Runeninschriften als Quellen interdisziplinärer Forschung. Anhandlungen des Vierten Internationalen Symposiums über Runen und Runeninschriften in Göttingen 1995. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 15 (Berlin, New York 1998); Klaus Düwel, Edith Marold, Christiane Zimmer-
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Sachobjekte mit „germanischen“ Tierstilen,49 und neuartige Quellen sind in größerer Menge gefunden und dokumentiert worden, wie die Goldblechfigürchen oder Gubber und auch die Goldbrakteaten50 aus dem 5. bis 7. Jahrhundert, so dass ganz neuartige Einblicke in die religiös-kultischen Verhältnisse möglich werden. Zusätzlich zu den Stichwörtern im RGA ist eine Reihe von Ergänzungsbänden zu den Themen vorgelegt worden. Eine Fülle von Ausstellungen mit voluminösen Katalogen hat zugleich den neuen archäologischen Quellenstoff aufbereitet und allgemein zugänglich gemacht. Wenn auch der theoretisch-methodische Hintergrund oftmals noch wenig reflektiert worden ist, stehen Funde und Befunde der weiteren Deutung zur Verfügung. Die methodische Reflexion über die Auswertung der Quellenmengen hat – zumindest in erstem Bemühen – das RGA übernommen. Für das mitteleuropäische „germanische“ Altertum meine ich da Ausstellungen mit den Titeln (alphabetisch geordnet und nur als kleine Auswahl): „Die Alamannen“,51 „Die Bajuwaren“,52 „Die Franken“,53 „Die Goten“,54 „Die Hunnen“,55 „Die Langobarden“,56 die „Vandalen“57 etc., als ob man tatsächlich wüsste, was jeweils archäologisch darunter zu verstehen
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mann (Hrsg.), Von Thorsberg nach Schleswig. Sprache und Schriftlichkeit eines Grenzgebietes im Wandel eines Jahrtausends. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 25 (Berlin, New York 2001); Wilhelm Heizmann, Astrid van Nahl (Hrsg,), Runica – Germanica – Mediaevalia (Klaus Düwel gewidmet). Ergänzungsbände zum RGA Bd. 37 (Berlin, New York 2003). Vgl. dazu die beiden Beiträge in diesem Band von Karen Høilund Nielsen, S. 589– 632 und von Alexandra Pesch, S. 633–687. Morten Axboe, Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Herstellungsprobleme und Chronologie. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 38 (Berlin, New York 2004); Alexandra Pesch, Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Thema und Variation. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 36 (Berlin, New York 2007). Rainer Christlein, Die Alamannen. Archäologie eines lebendigen Volkes (Stuttgart, Aalen 1978); Die Alamannen, hrsg. vom Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg (Stuttgart 1997); Dorothea Ade, Bernhard Rüth, Andreas Zekorn (Hrsg.), Alamannen zwischen Schwarzwald, Neckar und Donau. Begleitbuch zur Ausstellung (Stuttgart 2008); Andreas Gut (Zusammenstellung), Die Alamannen auf der Ostalb. Frühe Siedler im Raum zwischen Lauchheim und Niederstotzingen. Archäologische Informationen aus Baden-Württemberg Heft 60 (Esslingen 2010). Die Bajuwaren. Von Severin bis Tassilo 488–788. Gemeinsame Landesausstellung des Freistaates Bayern und des Landes Salzburg 1988, hrsg. von Hermann Dannheimer, Heinz Dopsch (Korneuburg 1988). Die Franken. Wegbereiter Europas. Vor 1500 Jahren: König Chlodwig und seine Erben. Kataloghandbuch in zwei Teilen. Reiss Museum Mannheim (Mainz 1996). I Goti. Ausstellungskatalog (Milano 1994); Rom und die Barbaren. Europa zur Zeit
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ist.58 Diese Stämme von Alemannen bis Vandalen haben im Lexikon als Komplexartikel immer einen beachtlichen archäologischen Anteil, mit Blick auf die Diskussion der Historiker zum Problem, was ein Stamm sei, oder die der Archäologen zur sogenannten „ethnischen Deutung“ archäologischer Fundmaterialien, gibt es aber nur selten eine Zusammenschau. Während der Tagung 2008 wurde in einem Vortrag dieses Thema speziell erörtert.59
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der Völkerwanderung. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn (Bonn 2008). Germanen, Hunnen und Awaren. Schätze der Völkerwanderungszeit. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg (Darmstadt 1987); Reitervölker aus dem Osten. Hunnen + Awaren. Burgenländische Landesausstellung 1996. Begleitbuch und Katalog (Eisenstadt 1996); Attila und die Hunnen, hrsg. vom Historischen Museum der Pfalz Speyer (Stuttgart 2007). Weil sie am weitesten „gewandert“ sind, von der Niederelbe bis Norditalien, ist auch die Zahl der Kataloge beachtlich: Wilfried Menghin, Die Langobarden. Archäologie und Geschichte (Stuttgart 1985); Die Langobarden. Von der Unterelbe nach Italien, hrsg. von Ralf Busch (Neumünster 1988); I Longobardi, a cura di Gian Carlo Menis (Milano 1990); und wieder: Die Langobarden. Das Ende der Völkerwanderung. Katalog zur Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum Bonn, Kurator Michael Schmauder (Darmstadt 2008); Karin Priester, Geschichte der Langobarden. Gesellschaft, Kultur, Alltagsleben (Stuttgart 2004); Jan Bemmann, Michael Schmauder (Hrsg.), Kulturwandel in Mitteleuropa. Langobarden – Awaren – Slawen. Akten der Internationalen Tagung in Bonn 2008 (Bonn 2008). Die Vandalen: die Könige, die Eliten, die Krieger, die Handwerker. Publikation zur Ausstellung „Die Vandalen“. Eine Ausstellung der Marie-Curie-Sklodowska-Universität Lublin und des Landesmuseums Zamoc, Ausstellung im Weserrenaissance-Schloss Bevern vom 29. März bis 26. Oktober 2003 (Nordstemmen 2003); Das Königreich der Vandalen. Erben des Imperiums in Nordafrika, hrsg. vom Badischen Landesmuseums Karlsruhe (Darmstadt 2009). Ebenso zahlreich sind neben den Ausstellungskatalogen die Monographien, in Auswahl, die aber archäologische Ergebnisse teilweise nur randlich berücksichtigen: Dieter Geuenich, Geschichte der Alemannen (Stuttgart 1997, 2. Aufl. 2005); Wilhelm Störmer, Die Baiuwaren. Von der Völkerwanderung bis Tassilo III. (München 2002); Reinhold Kaiser, Die Burgunder (Stuttgart 2004); Herwig Wolfram, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie (München 1979, 3., neubearbeitete Aufl. 1990); Herwig Wolfram, Die Goten und ihre Geschichte (München 2001); Wolfgang Giese, Die Goten (Stuttgart 2004); Wilfried Menghin, Die Langobarden. Archäologie und Geschichte (Stuttgart 1985); Matthias Springer, Die Sachsen (Stuttgart 2004); Günter Behm-Blancke, Gesellschaft und Kunst der Germanen. Die Thüringer und ihre Welt (Dresden 1973); Helmut Castritius, Die Vandalen (Stuttgart 2007); Konrad Vössing. Die Vandalen (Darmstadt 2011); außerdem Walter Pohl, Die Awaren. Ein Steppenvolk in Mitteleuropa 567–822 n. Chr. (München 1988, 2., aktualisierte Aufl.2002); Timo Stickler, Die Hunnen (München 2007). Vgl. in diesem Band den Beitrag von Sebastian Brather, S. 399–426.
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4 Die Erweiterung des Spektrums der Fächer im Bereich Archäologie Die Herausgeber des Lexikons werden kritisiert und kritisieren selbst, dass die geplante und verkündete Interdisziplinarität der Artikel oft nur unvollkommen und auch widersprüchlich erreicht wurde, dass es oftmals beim einfachen Aneinanderreihen blieb.60 Man weiß auch, dass solche gewünschte Multioder Interdisziplinarität eigentlich nur durch den einzelnen Wissenschaftler selbst, in einem Kopf erreicht werden kann und eben nicht durch die Zusammenfassung mehrerer Diskussionsbeiträge oder durch die Parallelisierung derartiger Texte.61 Das aber wurde bei Berücksichtigung der Ergebnisse der Naturwissenschaften noch erheblich schwieriger als bei den sonstigen Nachbardisziplinen aus dem Bereich der Geisteswissenschaften. Die Fachgebiete, die der Archäologie bei der Erarbeitung der Manuskripte für die Lexikonartikel zugewiesen wurden, gehören vordringlich, aber nicht nur zu den Naturwissenschaften. Ich verweise als weitere Beispiele von Fächern auf die Historische Geographie oder heute Kulturgeographie sowie auf die Numismatik. Naturwissenschaften werden auch nicht etwa nur zu Datierungszwecken62 gebraucht, sondern Bereiche wie beispielsweise Archäobotanik und
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Auch ein solcher Begriff wird ohne Definition leicht falsch verstanden bzw. es fehlt die Formulierung, was man eigentlich erreichen will. Man spricht von Multi-, Pluri-, Trans-, Cross- und Interdisziplinarität. Einige Hinweise zur Diskussion: Jürgen Mittelstraß, Die Stunde der Interdisziplinarität? In: Jürgen Kocka (Hrsg.), Interdisziplinarität. Praxis, Herausforderung, Ideologie (Frankfurt a. M. 1987), S. 152– 158; Wilhelm G. Busse, Hans-Werner Goetz (Hrsg.), Interdisziplinarität. Das Mittelalter 4/1, 1999; Jürgen Mittelstraß, Transdisziplinarität. Wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit. Konstanzer Universitätsreden 214 (Konstanz 2003); Frank Brand, Franz Schaller u.a. (Hrsg.), Transdisziplinarität. Bestandsaufnahme und Perspektiven (Göttingen 2004); Michael Jungert, Elsa Romfeld u.a. (Hrsg.), Interdisziplinarität. Theorie, Praxis, Probleme (Darmstadt 2010). – Dazu Wibke Schmid, Zum Vergleich von Geschichte und Archäologie. Interdisziplinarität und das Beispiel der Forschungen zum Bergbau im mittelalterlichen Südschwarzwald. Magisterarbeit Freiburg 2010, S. 12: Multidisziplinarität beschreibt ein Nebeneinander, bei Pluridisziplinarität findet ein Austausch statt, der Spuren hinterlässt, durch Crossdisziplinarität werden Methoden aus einer anderen Disziplin in die eigene eingebracht, Transdisziplinarität umschreibt eine dauerhafte Zusammenarbeit, die so ausgeprägt ist, dass daraus auch eine neue Disziplin entstehen kann – Germanische Altertumskunde / Altertumswissenschaft? Vgl. dazu S. 171. Bernd Kromer, Günther Wagner, André Billamboz, Artikel „Naturwissenschaftliche Methoden in der Archäologie § 2–4“. In: RGA Bd. 20, 2002, S. 573–584.
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Archäozoologie oder Anthropologie haben ihre eigenen, über Ausgrabungen gewonnenen Quellenbestände, die zur Beschreibung von kulturgeschichtlichen Zuständen herangezogen werden, um ein Gesamtbild vergangener Lebenswirklichkeiten zu rekonstruieren.63 Die Präzisierungen der Datierungen sind jedoch von zentraler Bedeutung, weil entscheidend für die eigentliche Geschichtsschreibung. Die Dendrochronologie erlaubt jahrgenaue Datierungen, wie oben angesprochen. Hier nur einige Beispiele: Ein Burgwall, dessen Erbauung auf Karls des Großen Zügen gegen die Slawen an der Elbe zurückgeführt wurde (Hollenstedt südlich Hamburg), gehört jedoch aufgrund der Dendrodatierung in einen mehrere Generationen späteren historischen Rahmen.64 Der historische Kontext ist neu erörtert worden. Auch große Gruppen der „slawischen“ Ringwälle zwischen Elbe und Oder, so in der Niederlausitz, wurden nach ihrer ersten archäologischen Erschließung noch zu Zeiten der DDR später neu untersucht und durch die dann ergrabenen Hölzer mit Hilfe der Dendrochronologie deutlich später als zuvor datiert.65 Die mehr als 11 km lange megalithische Mauer auf dem Odilienberg im Elsaß hat in der Forschungsgeschichte unterschiedliche Datierungen und damit auch verschiedene historische Deutungen erfahren, von der Bronzezeit über die frühe Keltenzeit bis zur Spätantike. Hölzerne Keile von der Verbindung dieser großen Mauerquader wurden nach ihrer zufälligen Entdeckung im Bestand eines Forschers aus dem 19. Jahrhundert jüngst dendrochronologisch in die Jahre um 700, in die Zeit der Familie des Herzogs Eticho gesetzt. Es ist nun eine Herausforderung, die gewaltige Befestigung in einen ereignisgeschichtlichen Zusammenhang der frühen Karolingerzeit zu stellen.66 Der Einsatz von Luftbildarchäologie, inzwischen auch des Airborne Laserscanning67 oder der geophysikalischen Methoden sowie die Nutzung des 63
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Helmut Kroll, Felix Bittmann, Hans Reichstein, Kurt W. Alt, Artikel „Naturwissenschaftliche Methoden der Archäologie § 5–8“. In: RGA Bd. 20, 2002, S. 585–600. Friedrich Laux, Heiko Steuer, Artikel „Hollenstedt“. In: RGA Bd. 15, 2000, S. 75– 77 (F. Laux) bzw. S. 77 (H. Steuer). Sebastian Brather, Archäologie der westlichen Slawen. 2., überarbeitete und erweitete Aufl. (Berlin, New York 2008), S. 122 f.; Joachim Henning, Der slawische Siedlungsraum und die ottonische Expansion östlich der Elbe: Ereignisgeschichte – Archäologie – Dendrochronologie. In: Joachim Henning (Hrsg.), Europa im 10. Jahrhundert. Archäologie einer Aufbruchszeit (Mainz 2002), S. 131–146. Heiko Steuer, Dieter Geuenich, Artikel „Odilienberg“. In: RGA Bd. 21, 2002, S. 551–559. Nur als Beispiel: Jörg Bofinger, Flugzeug, Laser, Sonde, Spaten – Fernerkundung und archäologische Feldforschung am Beispiel der frühkeltischen Fürstensitze (Esslingen 2007) (LIDAR-Daten).
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Metalldetektors68 haben die archäologischen Fundplätze so sehr – nicht nur quantitativ – vermehrt, dass sie einen neuen Stellenwert bekommen. Die Zahl der sogenannten Zentralorte69 der Merowinger- und Wikingerzeit in Mittel- und Nordeuropa hat sich innerhalb der Spanne einer Generation fast verzehnfacht, was für die Interpretation des einzelnen Platzes relevant ist: Hatte man früher nur die in der Schriftüberlieferung genannten Plätze wie Haithabu oder Birka umfänglich archäologisch erforscht, so sind inzwischen viele gleichrangige Orte wie Uppåkra70 in Schonen oder Tissø71 auf Seeland hinzugekommen. Notwendig wird jetzt die Diskussion zur Hierarchie dieser Plätze.
5 Die Zielsetzung des archäologischen Sektors Der derzeitige Stand des Wissens soll im Lexikon zusammengefasst werden, aber bestehende Forschungslücken waren oftmals erst durch eigene Untersuchungen der Autoren eines Stichworts geschlossen worden. Das führte zu dem Ergebnis, dass solche Stichworte einen größeren Umfang als zuvor geplant einnehmen, so heißt es schon im Vorwort zur 2. Auflage. Ziel war – so habe ich es von meinem Lehrer Jankuhn schon als Redakteur in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren erfahren –, nicht nur kursorisch, sondern möglichst umfassend alle Informationen zur Verfügung zu stellen, sofern sie nicht anderweitig leicht greifbar sind. Damit wird ein Thema angeschnitten, das immer wieder für Kontroversen gesorgt hat. Es betrifft die räumliche und zeitliche Dimension, die das RGA abdecken soll. Dabei stört wiederum der Begriff „germanisch“ im Titel. Im geographischen Sinne wird das erweiterte Mittel- und Nordeuropa erfasst, einmal mit der Begründung, alle Landschaften zu berücksichtigen, die je von Germanen betreten worden sind, somit auch Nordafrika wegen der Vandalen; zum anderen, weil der Archäologe Jankuhn durchaus im Sinne hatte, die gesamte Vor- und Frühgeschichte im Lexikon neu zu erfassen, gewissermaßen in Erneuerung der europäischen Facette von Eberts Reallexikon der Vorgeschichte aus den 1920er Jahren.72 Die zeitliche Ober68
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Heiko Steuer, Artikel „Prospektionsmethoden § 5. Prospektion mit Metallsuchgeräten“. In: RGA Bd. 23, 2003, S. 499–508. Heiko Steuer, Artikel „Zentralorte § 4“. In: RGA Bd. 35, 2008, S. 889–908. Birgitta Hårdh, Artikel „Uppakrå“. In: RGA Bd. 31, 2006, S. 516–520. Lars Jørgensen, Artikel „Tissø“. In: RGA 30, 2005, S. 619–624. Ebert, Reallexikon (wie Anm. 22); Hachmann, in: Hachmann, Richter, Scardigli (wie Anm. 23), S. 63: Jankuhn warb um Autoren mit dem Hinweis, dass der ‚Ebert‘ veraltet sei.
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grenze für Mitteleuropa wurde mit der karolingisch(-ottonischen) Epoche, im Norden mit der Wikingerzeit, gesetzt und im Nordosten, in Richtung Baltikum, wurde sie gar bis ins 12./13. Jahrhundert verlegt.73 Disparat war die Begründung dafür, mit welcher Epoche das Lexikon einsetzen sollte: Einerseits sprach Jankuhn als Archäologe wiederum von den Vor- und Frühphasen, die zu den Germanen hinführten, was zur Erscheinungszeit des Lexikons die Eisenzeit war – nicht erst Caesars Definition des Siedlungsraums der Germanen östlich des Rheins –, in den Jahrzehnten davor die Bronzezeit oder gar das Neolithikum. Damit hat Jankuhn die Berücksichtigung der gesamten Vor- und Frühgeschichte für das Lexikon reklamiert und auch durchgesetzt. Wiederum störte dabei das „Germanische“ durchaus. Die Folge dieser bewussten Erweiterung des Rahmens für das RGA war außerdem erstens die Einrichtung der „Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas“ bei der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen,74 um interdisziplinäre Tagungen zu veranstalten, bei denen es tatsächlich galt, Forschungsprobleme aufzugreifen und Forschungslücken zu schließen, und zweitens die Gründung der Reihe der Ergänzungsbände.75 Das ist der entscheidende Unterschied zur 1. Auflage, nämlich die bewusste Einbeziehung jüngster Forschungsergebnisse. In der 1. Auflage gab 73
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So schon Hoops Bd. 1, 1913, S. V: Das Reallexikon soll eine Gesamtdarstellung der Kultur der germanischen Völker von den ältesten Zeiten [wann war das?, Verf.] bis zum Ende der althochdeutschen, altniederdeutschen und altenglischen Periode, also bis ins 11. Jahrhundert, geben; im Norden wurde die Darstellung bis ins 12. Jahrhundert ausgedehnt, um die älteste literarische Überlieferung voll ausschöpfen zu können“; Scardigli (wie Anm. 23), S. 205: Begründung des Philologen, die vom Archäologen gern aufgegriffen und mit seinen Quellen gestützt werden konnte. Zur Kommission und ihren Tagungen sowie Publikationen zusammenfassend Heinrich Beck, Vorwort. In: Heinrich Beck, Heiko Steuer (Hrsg.), Haus und Hof in urund frühgeschichtlicher Zeit. Bericht über zwei Kolloquien der Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas vom 24. bis 26. Mai 1990 und 20. bis 22. November 1991 (34. und 35. Arbeitstagung) (Gedenkschrift für Herbert Jankuhn). Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, Dritte Folge Nr. 218 (Göttingen 1997), S. 5–6. In der Publikationsreihe der Akademie sind von 1971 bis 1991 insgesamt 8 Themenkomplexe in 16 Bänden veröffentlicht worden. Heinrich Beck, Vorwort. In: Germanenprobleme in heutiger Sicht. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 1 (Berlin, New York 1986, 2., um ein Vorwort erweiterte Auflage 1999), S. VII: „Der Band erscheint als Nr. 1 einer Reihe ‚Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde‘. Es ist daran gedacht, in dieser Reihe Themen aufzugreifen, die über die knappe lexikongemäße Darstellung hinaus der Vertiefung und Diskussion bedürfen“. Inzwischen sind über 70 Bände erschienen; die Reihe wird auch nach Abschluss des Lexikons fortgesetzt.
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es zum Beispiel im Bereich des Schmiedewesens nur das Stichwort „Schmiedehammer“ mit einer Dreiviertel Spalte, wobei sogar knapp Archäologisches genannt wird, während in der neuen Auflage das Stichwort „Schmiede, Schmiedehandwerk, Schmiedewerkzeuge“ aus philologischer und archäologischer Sicht 35 Spalten umfasst.76 „Wieland“ der Schmied hat selbstverständlich ein eigenes Stichwort von 36 Spalten und berücksichtigt die Wielandsagen in Schrift und Bilddarstellungen.77 Andere Stichwörter sind „Schmiedegräber“,78 „Schlagmarken“79 oder „Schwertinschriften“,80 die durch weitere über das Register erfassbare Stichwörter ergänzt werden, wie zum Beispiel „Schmiedemarken“.
6 Zentrale Redaktion und Fachberater Die seltsame Erscheinung, dass dieses Lexikon in den zwei Bänden 34 und 35 mit dem Buchstaben Z endet, hat eine eigenartige Geschichte, erzwungen durch die Auflage der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, zu einem bestimmten Termin einen Abschluss zu finden, wozu 450 nach Meinung der Herausgeber unverzichtbare Stichwörter gestrichen werden sollten: Seit Band 29, 2005 (Speckstein) wurde auf Band 35 hingewiesen, der diese 450 Stichwörter aufgefangen hat. So enthalten Band 34, 2007 (WielbarkKultur bis Zwölften) und Band 35, 2007 (Speckstein bis Zwiebel) diese Nachträge und Ergänzungen. Und drittens wurde die Zusammenarbeit mit den sogenannten Fachberatern im Laufe der Arbeit intensiviert.81 Der spätere Herausgeber für die Archäologie – also ich – hatte zudem das Glück, mit Rosemarie Müller, der Leiterin der Arbeitsstelle in Göttingen, eine Archäologin zur gemeinsamen Arbeit im Zentrum zu haben. Die europaweite Ausrichtung des Lexikons wäre ohne die Mitarbeit dieser Fachberater nicht möglich gewesen, die einerseits spezielle zeitliche bzw. kulturelle Themenkreise übernommen hat-
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Jón Hnefill Aðalsteinsson, Radomir Pleiner, Barbara Armbruster, Artikel „Schmied, Schmiedehandwerk, Schmiedewerkzeuge“. In: RGA Bd. 27, 2004, S. 194–210. Alexandra Pesch, Robert Nedoma, John Insley, Artikel „Wieland“. In: RGA Bd. 33, 2006, S. 604–622. Joachim Henning, Artikel „Schmiedegräber“. In: RGA 27, 2004, S.210–213. Marcin Biborski, Artikel „Schlagmarken“. In: RGA Bd. 27, 2004, S. 139–144. Heiko Steuer, Artikel „Schwertinschriften“. In: RGA Bd. 27, 2004, S. 601–605. Zu den Fachberatern vgl. Anhang 2.
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ten und andererseits gewissermaßen geographische Gebiete bzw. Länder vertraten. Von Beginn an bis heute hat der Archäologe Sir David M. Wilson die Belange für die Britischen Inseln vertreten, eine lange Zusammenarbeit. Leider konnte er aus familiären Gründen nach einer früheren Zusage nun doch nicht zur Tagung kommen. Entscheidend war die Mitarbeit der Kollegen aus den skandinavischen Ländern: Schweden wurde anfangs bis 1981 von Holger Arbman, Bertil Almgren und Morten Stenberger vertreten, später seit 1978 bis 1989 von Ulf Erik Hagberg, anschließend 1994 bis 1999 von Evert Baudou und seit 1999 bis zuletzt von Jan Peder Lamm, der bei der Tagung anwesend war. Für Norwegen hatten wir 1999 Bente Magnus gewonnen. Dänemark vertrat anfangs Carl Johan Becker und schon seit 1994 bis zum Schluss Henrik Thrane, der während der Tagung anwesend war. Polen vertrat bis zu seinem Tod Kazimierz Godłowski, dessen Aufgabe dann Wojciech Nowakowski übernommen hat, der zur Tagung nach Göttingen gekommen war. Speziell Rumänien und die umliegenden Länder bearbeitete Ion Ioniţă seit 1999, der ebenfalls zur Tagung gekommen war. Ehe ich zu den Fachberatern der Archäologie mit speziellen Aufgabenfeldern komme, gilt es, die Betreuer der Nachbarbereiche zu würdigen: Die Historische Geographie vertrat bis 1994 Helmut Jäger aus Würzburg und bis zum Abschluss nachfolgend Winfried Schenk aus Bonn; die Archäozoologie übernahm Hans Reichstein aus Kiel, der zur Tagung gekommen war, und die Archäobotanik Karl Ernst Behre, Wilhelmshaven, der absagen musste. Für diesen Bereich möchte ich aber als Ausnahme einen Kollegen und Mitarbeiter nennen, nämlich Ulrich Willerding aus Göttingen, der von Beginn an trotz zeitweiliger Beeinträchtigung durch Krankheiten eine große Anzahl wesentlicher Beiträge für das Lexikon verfasst hat. Ihm sind wir besonders dankbar. Unverzichtbar war die Hilfe der Numismatiker – ein Fachbereich, der sich mit dem Bereich Geschichte überlappt: Peter Berghaus aus Münster war von Anfang an bis 2000 dabei; ihm folgten Reinhard Wolters, Tübingen, Hans-Markus von Kaenel, Frankfurt am Main, und seit 2003 Ralf Wiechmann, Hamburg. Zurück zur Archäologie: Hier unterstützten zu Anfang allgemein Hermann Hinz, Kiel, und Rafael von Uslar, Bonn, die Arbeit, dann Torsten Capelle, Münster, schon seit 1978 für die Karolinger- und Wikingerzeit, sowie Helmut Roth, Marburg, für die Merowingerzeit, und nach dessen Tod Hermann Ament, Mainz, der zur Abschluss-Tagung gekommen war, und für die
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zirkumalpinen Gebiete Volker Bierbrauer, München, der verhindert war, nach Göttingen zu kommen. Das Spezialgebiet Textilkunde vertrat Kurt Schlabow, Neumünster, bis 1986. Seit 1984 (Band 5) war auch ich Fachberater, neben der Herausgeberschaft seit 1994 (Band 8). Die Provinzialrömische Archäologie hat ihren besonderen Stellenwert wegen der zu berücksichtigenden Verhältnisse von Germanen und Römern sowie Germanien und die römischen Provinzen zueinander. Sie wurde anfangs von Harald von Petrikovits, Bonn, bis 1989 vertreten und später bis zum Abschluss von Siegmar von Schnurbein, Frankfurt am Main. Ich möchte allen besonders herzlich für all die Jahre enger Kooperation bedanken, die oftmals durch den unermüdlichen Einsatz von Frau Prof. Dr. Rosemarie Müller zur echten Partnerschaft wurde.
7 Zum Versuch der stetigen Aktualisierung des Lexikons 7.1 Ergänzungen der Stichwortliste und inhaltliche Aktualisierung Die Laufzeit des Lexikons über fast vier Jahrzehnte brachte es mit sich, dass früh erschienene Stichwörter nicht mehr den aktuellen Forschungstand zeigen konnten und können. Das Problem wurde im Bereich der Archäologie auf zweierlei Weise gelöst: Zum einen wurden in später erschienenen Stichwörtern neue Ergebnisse zu alten Stichwörtern eingefügt: Zum Stichwort Alemannen aus der Zeit um 1970 sind z.B. als Nachträge allein zwei komplette Spalten an Verweisen im 2. Registerband zu finden.82 Zum anderen wurden laufend noch neue Stichwörter, bei denen es sich mehrheitlich um erst in jüngerer Zeit entdeckte und erforschte Fundstellen handelt, nachgetragen. Als Beispiele nenne ich nur den vermutlichen Ort der Varus-Schlacht bei „Kalkriese“83 oder das jüngst entdeckte Römerlager bei Hedemünden nahe Göttingen an der Werra, unter dem Stichwort „Werra“84 abgehandelt, ein Problem der Auffindung, das aber näher über das Register gelöst wird. Da die Geländeforschungen noch ständig weitergehen, müssen 82 83
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RGA Register Bd. 2, 2008, S. 21–22. Wolfgang Schlüter, Rainer Wiegels, Artikel „Kalkriese“. In: RGA Bd. 16, 2000, S. 180–199. Zum Jahr 2009 erschienen jetzt Katalogbände, z.B. Varusschlacht im Osnabrücker Land. Museum und Park Kalkriese (Mainz 2009). Klaus Grote, Artikel „Werra (augusteisches Römerlager Hedemünden)“. In: RGA Bd. 33, 2006, S. 485–489.
Das Fachgebiet Archäologie im RGA
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solche Stichwörter bald überholt sein. Das trifft denn auch für so berühmte Fundorte wie „Gudme“85 oder erst jüngst „Uppåkra“86 zu. Und auch alte Fundplätze erhalten durch eine neue wissenschaftliche Auswertung einen anderen Stellenwert, wie zum Beispiel der Mooropferfund „Nydam“87 oder auch der Fundkomplex „Illerup“, der schon vom Bearbeiter Jørgen Ilkjær im Lexikon behandelt wurde, zu dem aber fortlaufend weitere umfangreiche Monographienbände zu einzelnen Fundgruppen vorlegt werden.88 Aber diese Aktualisierungsversuche sollten unter einem breiteren Blickwinkel betrachtet werden. Die Herausgeber, vor allem – wegen des ständigen Zuwachses an Quellen während der Erscheinungszeit des Lexikons – die Archäologen, also Jankuhn, Rosemarie Müller und ich, waren und sind der Meinung, dass auch ein Reallexikon die Chance nutzen sollte, neue Forschungsergebnisse zu berücksichtigen und in eigenen Stichwörtern auch darzustellen. Entgegen der Meinung, dass ein Reallexikon nur Wissen bieten soll, das schon einige Jahrzehnte Bestand gehabt hat,89 wurde auch aus laufenden Forschungsprojekten berichtet, mit der Einsicht, dass der Inhalt solcher Stichwörter tatsächlich bald überholt sein konnte und zumindest ergänzt werden müsste. Manchmal gelang die Aktualisierung fortlaufend, indem unter nacheinander folgenden Stichwörtern die neuen Fakten untergebracht werden konnten, was das Register ausgezeichnet erschließt und was nun als GAO im „internet“ weitergeführt werden wird. Ohne Zweifel wird es notwendig sein, bedeutende Fundorte rasch einzufügen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den Schatzfund von Staffordshire, einen Hort des 7. Jahrhunderts, vergraben zwischen 650 und 700, der an Goldmenge, Waffenteilen und Almandinschmuck, insgesamt mehr als 1500 Objekte mit 5 kg Gewicht, davon 712 Objekte aus Gold mit einem 85
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Henrik Thrane, Marie Stoklund, Artikel „Gudme“. In: RGA Bd. 13, 1999, S. 142– 149. Im Register Bd. 2, 2008, S. 346 weist eine ganze Spalte Nennungen zu Gudme bis Band 35, 2007 auf. Hårdh, Uppåkra (wie Anm. 70). Die Forschung geht aber weiter: Band 11 der Uppåkrastudier erschien 2010. Flemming Rieck, Artikel „Nydam“. In: RGA Bd. 21, 2002, S. 450–456; Andreas Rau, Nydam Mose 1. Die personengebundenen Gegenstände. Grabungen 1989– 1999, 2 Bände. Jysk Arkæologisk Selskab Moesgård (Højbjerg 2010). Thorsten Andersson, Jørgen Ilkjær, Marie Stoklund, Artikel „Illerup Ådal“. In: RGA Bd. 15, 2000, S. 346–354; Marcin Biborski, Jørgen Ilkjær, Illerup Ådal. Vol. 11 und 12: Die Schwerter. Jysk Arkæologisk Selskab Moesgård Museum (Århus 2006). Hachmann, in: Hachmann, Richter, Scardigli (wie Anm. 23), S. 51 f., 61 („So… bestand die Gefahr, dass viele Stichwörter inhaltlich nach nur wenigen Jahren ganz oder teilweise überholt sein würden“.)
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Gewicht von 1,3 kg. Dieser Schatz übertrifft die reichsten angelsächsischen Fundkomplexe, auch das Königsgrab von Sutton Hoo,90 bei weitem. Er wurde durch den Einsatz des Metallsuchgeräts von einem Privatmann gefunden.91 Herbert Jankuhn als Archäologe und Reinhard Wenskus als Historiker haben schon früher mehrfach dafür plädiert, dass laufende Forschungen den Weg ins RGA finden müssen, nicht zuletzt deshalb, weil manche Fragestellungen überhaupt noch nicht erforscht waren, aber für das Lexikon Ergebnisse gewünscht wurden. Das erste Thema der „Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas“ zum Begriff „Bauer“ ist kennzeichnend für dieses Denken.92 Diese Konzeption barg als Folge in sich, dass das RGA tatsächlich kontinuierlich an Umfang zunehmen würde, was zu Anfang aber nicht übersehen werden konnte. Vom alten Hoops mit 4 Bänden (in 8 Jahren, 1911–1919) wuchs der Umfang des neuen RGA auf 35 Bände (und 2 Registerbände) (in 40 Jahren, 1968–2008). Das war anfänglich nicht geplant, bei den Verlagsgesprächen 1958 ging Herbert Jankuhn erst von 8 Bänden aus; die Steigerung der Bandzahl zeichnete sich aber nach den ersten Bänden und ihrem Umfang schon deutlich ab. Denn die ersten 9 Bände A bis F ließen rechnerisch leicht auf etwa das Vierfache des gesamten Lexikons schließen.93 Noch 1973, also nach Vorlage der fünf Lieferungen des ersten Bandes, rechnete Jankuhn mit einem Abschluss 1993.94 90
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Etwas anderes ist es, wie mit der neuen Deutung eines alten Fundes zu verfahren ist: Das Grab von Sutton Hoo wird allgemein dem anglischen König Rædwald – RGA Bd. 24, 2003, S. 65–68 – zugewiesen (gestorben zwischen 616 und 627), aber auch der ostsächsische König Sæberht (getauft 604, gestorben 617 oder 618) wird diskutiert: Helen Geake, Three men and a (Leaky) boat, British Archaeology, May/June 2010, S. 42–43: M. Parker Pearson, R. van de Noort, A. Woolf, Three men & a boat: Sutton Hoo & the East Saxon kingdom. In: M. Lapidge, M. Godden, S. Keynes (Eds.), Anglo-Saxon England (Cambridge 1993), S. 27–50. Kevin Leahy, Roger Bland, The Staffordfshire Hoard. The British Museum Press (London 2009); Jean Soulat, Trésor de Staffordshire. L’or et l’argent des aristocrates saxons. Archéologia 472, déc. 2009, S. 15–19; David Wigg-Wolf, Schatzfund von Staffordshire. Schreibt er die Geschichte der Angelsachsen neu? Archäologie in Deutschland 2010, Heft 1, 6; http://staffordshirehoard.org.uk. Reinhard Wenskus, Herbert Jankuhn, Klaus Grinda, Wort und Begriff „Bauer“. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, Dritte Folge Nr. 89 (Göttingen 1975). Hachmann, Scardigli, in: Hachmann, Richter, Scardigli (wie Anm. 23), S. 36: etwa das Achtfache des alten Hoops, und Hachmann, S. 54; Scardigli (wie Anm. 23), S. 208. Hachmann, in: Hachmann, Richter, Scardigli (wie Anm. 23), S. 27 Anm. 3: ein Brief von Jankuhn an Hachmann am 24.4.73.
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Heinrich Beck erläutert in seinem Beitrag95 die verschiedenen Bestrebungen während der späten 1930er Jahre an der Universität München, ein „Handbuch der Germanenkunde“ aus 15 bis 20 Bänden für die Zeit von den Anfängen bis 1000 n. Chr. zu erarbeiten; weiterhin sei von einem 50bändigen Werk die Rede gewesen, jeweils Versuche, die für Jankuhn96 die Anregung gewesen sein können, der jedoch zumeist das 15-bändige Reallexikon der Vorgeschichte von Max Ebert97 als Vorbild gesehen hat.98
7.2 Methodenwandel Ein weiteres Problemfeld muss in diesem Zusammenhang angeschnitten werden. Zwischen dem Beginn des alten Hoops und dem Ende des neuen RGA liegt ein Jahrhundert, das RGA brauchte rund 40 Jahre zum Erscheinen. Es muss eigentlich nicht noch einmal darauf hingewiesen werden, dass der Quellenzuwachs im Bereich der Archäologie ungeheuerlich war und ist. Vielmehr geht es um die Methodenvielfalt, die in ein solches Unternehmen einfließt und kaum fortlaufend zu integrieren ist. 95 96
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Vgl. den Beitrag von Heinrich Beck in diesem Band, S. 23–104. Zur Lage am Berliner Institut mit Gustaf Kossinna, später mit Max Ebert (1879– 1929) und Carl Schuchhardt (1859–1943) – als Herbert Jankuhn dort studierte – vgl. Ruth Struwe, Felix Biermann, Ur- und Frühgeschichte an der HumboldtUniversität zu Berlin. Zur Geschichte und zum Ende einer erfolgreichen Institution. Archäologisches Nachrichtenblatt 15/4, 2010, S. 361 ff. Gerd Simon, Die hochfliegenden Pläne eines „nichtamtlichen Kulturministers“. Erich Gierachs ‚Sachwörterbuch der Germanenkunde‘. Verlag der ‚Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung Tübingen‘, 30.9. 1998. Dass Jankuhn schon seit jungen Jahren die Interdisziplinarität als Ziel vor Augen hatte, geht aus der Rede hervor, die er 1938 bei der Eröffnung der Wissenschaftlichen Akademie des NSD-Dozentenbundes in Kiel gehalten hat (Kieler Blätter 1938, Heft 2/3, S. 197): „Die wissenschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat zu einer starken Spezialisierung der einzelnen Disziplinen geführt… Aus der ursprünglichen Einheit der Universität war eine Vielheit einzelner, beziehungslos nebeneinander stehender Disziplinen geworden. Die Überwindung dieses Zustandes und die Wiedergewinnung der alten Einheit ist eine der Hauptaufgaben der Wissenschaftlichen Akademie“, zitiert nach Heiko Steuer, Begründung und Zielsetzung des Arbeitsgesprächs. In: Heiko Steuer, unter Mitarbeit von Dietrich Hakelberg (Hrsg.), Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 29 (Berlin, New York 2001), S. 1–54, hier S. 34 mit Anm. 179; Malte Gasche, Zum Konzept der „Germanenkunde“ im Ahnenerbe der SS. Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 47, 2006, S. 127–135; auch Ulrich Müller, Die Ur- und Frühgeschichte in Kiel zwischen 1929 und 1946, in: Christoph Cornelißen, Carsten Mish (Hrsg.), Wissenschaft an der Grenze. Die Universität Kiel im Nationalsozialismus (Essen 2009), S. 295–319.
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Als das RGA konzipiert wurde, in den 1950er Jahren, sah die „geistige Situation der Zeit“ völlig anders aus als jetzt in den Jahren der Vollendung des RGA 2008/2011. Noch waren zu Anfang seit dem Ende des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs erst rund zehn Jahre vergangen; die Forschungen in den verschiedenen Disziplinen zu den „alten Germanen“ waren oftmals belastet, neue Zielrichtungen und Fragestellungen mussten erst gefunden werden. Gewisse Bereiche und mögliche Deutungsmuster der Archäologie wurden in Deutschland ausgespart. Man konnte einen deutlichen Wechsel der Argumentationsebene feststellen, was noch keinen Paradigmenwechsel bedeutete, sondern erst einen vorsichtigen Rückzug auf eine unverfängliche Deutungsebene (Abb. 1).99 Die Phase um 1950/1960 und das wissenschaftliche Denken damals sind zu einem Teil der Forschungsgeschichte auch des Faches Archäologie geworden, worauf Rolf Hachmann schon 1996, vor 15 Jahren, hingewiesen hat: Alte Vorstellungen waren längst im Unterbewusstsein zu Selbstverständlichkeiten geworden, und es galt, sich von eigenen Irrtümern zu befreien.100 Das ist auch am Werk von Herbert Jankuhn abzulesen, wie an seinen Studien zu Haithabu, dem Handelsplatz der Wikingerzeit bei Schleswig, gezeigt worden ist.101 Alte und junge Autoren arbeiteten für das Lexikon, die jeweils eine unterschiedliche Ausbildung erfahren hatten und deshalb auch mit unterschiedlichen Methoden Quellen auswerteten. Gleichzeitig werden verschiedene methodische Ansätze – die sich teils deutlich widersprechen – nebeneinander wirksam, nicht allein in einzelnen Wissenschaftlerpersönlichkeiten, sondern auch in sogenannten „Schulen“. Besteht ein solcher Gegensatz schon in einem Land wie Deutschland, so wird dieses Spektrum noch dadurch erweitert, dass für die Archäologie in allen anderen europäischen Ländern – was allein schon die Liste der archäologische Fachberater zeigt – dasselbe gilt 99 100 101
Steuer, Deutsche Prähistoriker (wie Anm. 98), S. 24 Abb. 1. Hachmann, in: Hachmann, Richter, Scardigli (wie Anm. 23), S. 51 und 66. Heiko Steuer, Herbert Jankuhn und seine Darstellungen zur Germanen- und Wikingerzeit, in: Eine hervorragend nationale Wissenschaft (wie Anm. 98), S. 417–473. Seither haben sich einige Arbeiten mit dem wissenschaftlichen Werk Jankuhns befasst, z.B.: Heiko Steuer, Artikel „Jankuhn, Herbert“. In: RGA Bd. 16, 2000, S. 23–29; Katharina Krall, Prähistorie im Nationalsozialismus: Ein Vergleich der Schriften von Herbert Jankuhn und Hans Reinerth zwischen 1933 und 1939. Magisterarbeit Universität Konstanz (Konstanz 2005); Martin Eickhoff, Uta Halle, Anstelle einer Rezension – Anmerkungen zum veröffentlichten Bild über Herbert Jankuhn. Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 48, 2007, S. 135–150; Dirk Mahsarski, Herbert Jankuhn (1905–1990). Ein deutscher Prähistoriker zwischen nationalsozialistischer Ideologie und wissenschaftlicher Objektivität (Rahden/Westf. 2011).
Das Fachgebiet Archäologie im RGA
1. Ebene
133
Klassifizierung, Datierung, Kartierung der Verbreitung archäologischer Quellen
2. Ebene
Erklärung z. B. als Ergebnis von Handel (wirtschaftsgeschichtliche Aussage) oder eines Grabbrauchs (religionsgeschichtliche Aussage)
3. Ebene
Beschreibung der Handelsorganisation, Zuordnung zu einem Kultverband, einer ethnischen Einheit etc. (oft auf Basis von Vor - Urteilen)
4. Ebene
Beurteilung - Zuweisung an eine bestimmte Stammesgruppe oder einer bestimmten religiösen Gruppe (Aussagen sind kulturgeschichtlich nicht mehr neutral)
5. Ebene
Bewertung -- und Abwertung einer ethnischen Einheit, einer religiösen oder einer "rassischen" Gruppe. Identitätsfindung durch Betonung von Alteritäten
Abb. 1: Paradigmenwechsel oder Wechsel der Argumentationsebene (nach Steuer, Deutsche Prähistoriker [wie Anm. 98], S. 24 Abb. 1).
und auch landestypische Forschungstraditionen bestehen. Dieser gleichzeitige Methodenpluralismus wird weiter ergänzt durch die aufeinander folgende Entwicklung neuer methodischer Ansätze, was nicht allein die Zusammenarbeit der Archäologie mit Soziologie oder Naturwissenschaften meint, sondern die Formulierung neuartiger Denkweisen. Im Bereich der Ur- und Frühgeschichtsforschung wurde die „New Archaeology“ bzw. „Processual Archaeology“ erfunden, eine Anregung aus den angelsächsischen Ländern, die vor allem auch in den skandinavischen Ländern aufgegriffen wurde, aber weniger in Deutschland. Es folgte die „Postprocessual Archaeology“ und als eine Art Rückkehr zur Historischen Archäologie (nicht im Sinne der Mittelalter-Archäologie, sondern als hermeneutischer Weg zu Ergebnissen). Man
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spricht von „turns“, weil im Angelsächsischen entwickelt, oder von Wenden in den Fragestellungen und damit verbundenen methodischen Ansätzen. Vom Wandel der Methoden abgesehen ist außerdem zu berücksichtigen, dass sich auch das Wesen, die Strukturen und Lebenswelten in den zu erforschenden früheren Epochen, die das RGA beleuchten will, über die Jahrhunderte stark geändert haben, gleich ob man von „Germanen“ spricht oder allgemein von den Bevölkerungen Mittel- und Nordeuropas. Die Gruppen der vorrömischen Eisenzeit waren etwas anderes, als die Stämme zur Zeit des Tacitus, dann der sogenannten Völkerwanderungszeit, die Großstämme zur Zeit der germanischen Reichsbildungen auf ehemals römischem Boden oder gar der Wikingerzeit. Die markomannischen Sueben des Ariovist, die Markomannen des Marbod und die der Markomannenkriege waren jeweils etwas anderes,102 ebenso die Sueben, Alemannen oder Schwaben. Die Analyse dieser Veränderungen rechtfertigt denn auch die Berücksichtigung der davor liegenden Epochen; denn es ist Allgemeinwissen, dass auch vergangene Wirklichkeiten sich ständig wandeln und es keinen Grund gibt, dann einen Einschnitt vorzunehmen, wenn von einer bestimmten Zeit an willkürlich von „Germanen“ gesprochen wird. Wie sich die Auffassung gewandelt hat, was man wann und für welche Epoche unter Germanen verstanden wird, wurde schon andernorts formuliert.103
8 Erträge und Leistungsbilanz Der geschilderte Weg der Aktualisierung durch Aufnahme neuer Stichwörter, durch Erweiterung schon geplanter Stichwörter zu Komplexstichwörtern – die von mehreren Autoren zu behandeln sind – und durch die Bildung von Netzwerken aus Stichwortfeldern entwickelte im Rahmen des Lexikons eine eigene Dynamik, die zugleich auch den Wandel der Methoden und Fragestellungen illustriert. Wiederum seien nur einige Beispiele genannt. Das Stichwort „Höhensiedlungen“ für den Typ der erst in den 1980er Jahren entdeckten spätantiken Anlagen auf Höhen gibt es nicht, doch werden zahlreiche Höhenstationen unter ihrem eigenen heutigen Namen beschrieben. Verweise binden sie zusammen, nur unzureichend aufgegriffen schon im Stichwort „Fürstensitze“ in Band 10, 1998, und ausführlich im Stichwort „Zähringer Burgberg“ in Band 34, 2007, das zeitübergreifend derartige zentrale Plätze umfasst. Eine Tagung in Freiburg im Jahr 2004 hatte 102 103
Hachmann, in: Hachmann, Richter, Scardigli (wie Anm. 23), S. 75. Vgl. S. 114 ff.
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zuvor das Thema „Spätantike Höhensiedlungen“ in den Mittelpunkt gestellt, deren Ergebnisse als Ergänzungsband veröffentlicht worden sind.104 Von den „Fürstensitzen“ über das Stichwort „Häuptling, Häuptlingtum“ zu „Ports of Trade“, weiter zu „Reichtumszentrum“, „Seehandelsplätze“ und „Stadt“ wurde mit dem Stichwort „Zentralorte“ ein zusammenklammernder Begriff aus der laufenden Forschung übernommen; denn das Vokabular für derartige Siedlungen mit „zentraler“ Funktion entwickelte sich erst während der Erscheinungszeit des RGA, und ebenso erweiterte sich das Methodenverständnis der Archäologen, parallel zur Entdeckung immer neuer derartiger Plätze mit umfangreichem und oft höchst qualitätvollem Fundmaterial sowie herrschaftlicher Bebauung. Erst seit Band 26, 2004 erscheint „Zentralort“ als Terminus im Text, „Seehandelsplätze“ schon ab Band 21, 2002. Dazu bietet die Karte in Band 13, 1999, im Stichwort „Handel“105 eine Übersicht, die aber im eigentlichen Stichwort in Band 28, 2005, schon wieder erweitert werden musste.106 Der berühmte Fundort „Gudme“ auf Fünen mit Herrschaftssitz, Götternamen und Goldschätzen erscheint zwar schon in Band 3, 1978 mit dem Goldhort von Broholm, dann als Stichwort in Band 13, 1999, wird dann nach 1999 in zahlreichen weiteren Stichwörtern ständig anhand der neuen Ausgrabungsergebnisse und Deutungsversuche ergänzt und verdient nun längst wieder eine neue Bearbeitung.107 Der frühkeltische Fürstensitz, die Heuneburg, als Stichwort in Band 14, 1999, dargestellt, verändert aufgrund der laufenden großflächigen Ausgrabungen seinen Charakter ständig; es gelang unter dem Stichwort „Zentralorte“ einen farbigen neuen Plan zu bieten,108 der zeigt, dass die kleine Akropolis – bisher allein unter der Ortsbezeichnung Heuneburg gesehen – in einem mehr als zehnmal so großen Siedlungskomplex liegt, der somit schon die Fläche der späteren keltischen Oppida erreicht. Die großen keltischen Heiligtümer und Waffenopferplätze der Latènezeit sind überhaupt erst während der Laufzeit des Lexikons entdeckt und ausgegraben worden, wie Gournay-sur-Aube (Band 12, 1998), Ribemont (Band 24, 2003) oder Villeneuve-au-Châtelot (Band 32, 2006), so dass ein zusammen104
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Heiko Steuer, Volker Bierbrauer (Hrsg.), unter Mitarbeit von Michael Hoeper, Höhensiedlungen zwischen Antike und Mittelalter von den Ardennen bis zur Adria. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 58 (Berlin, New York 2008). Artikel „Handel“. In: RGA Bd. 13, 1999, S. 584 Abb. 78. Artikel „Seehandelsplätze“. In: RGA Bd. 28, 2005, S. 21 Abb. 3. Vgl. Artikel „Zentralorte“. In: RGA Bd. 35, 2007, S.902 Abb. 118: Die Hallen von Gudme. Artikel „Zentralorte“. In: RGA Bd. 35, 2007, S. 888 Abb. 116.
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fassendes Stichwort auch noch fehlt. Ähnlich steht es mit den Kriegsbeuteopferplätzen der Völkerwanderungszeit auf der jütischen Halbinsel und im westlichen Ostseegebiet, die zwar teilweise schon Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt geworden sind, aber nun erst durch neue Ausgrabungen ihren außerordentlich großen Umfang zeigen.109 Die Kult- und Opferplätze werden im Lexikon einzeln unter ihrem heutigen Ortsnamen behandelt, erlauben aber, durch addierende Lektüre ein Gesamtbild sowohl der latènezeitlichen keltischen als auch der völkerwanderungszeitlichen germanischen Opferbräuche zu beschreiben.110 Zu den erst in den letzten Jahren archäologisch erschlossenen Themen gehört die große Versammlungs- und Festhalle in zahlreichen germanischen Siedlungen.111 Man braucht nur an den Beowulf zu denken und an die dort mehrfach geschilderten Festlichkeiten in der großen Halle als Versammlungs- und Kultort der Gefolgschaft. Von der Römischen Kaiserzeit bis zur Wikingerzeit ist rund um Nord- und Ostsee inzwischen eine große Zahl derartiger Hallen in Siedlungen mit und ohne überlieferten Namen ausgegraben worden, die Abmessungen von anfänglich 20 m Länge bis schließlich 90 m Länge hatten. Ich nenne nur den Häuptlingssitz auf der Feddersen Wierde112 aus der Römischen Eisenzeit, den völkerwanderungs- und wikin109
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Siehe den Beitrag von Andreas Rau und Claus von Carnap-Bornheim in diesem Band, S. 515–540. Heiko Steuer, Artikel „Waffenopfer“. In: RGA Bd. 33, 2006, S. 21–46. Frans Herschend, Artikel „Halle“. In: RGA Bd. 13, 1999, S. 414–425; Lars Jørgensen, Pre-Christian cult at aristocratic residences and settlement complexes in southern Scandinavia in the 3rd −10th centuries AD. In: Uta von Freeden, Herwig Friesinger, Egon Wamers (Hrsg.), Glaube, Kult und Herrschaft. Phänomene des Religiösen im 1. Jahrtausend n. Chr. in Mittel- und Nordeuropa. Akten des 59. Internationalen Sachsensymposiums (Bonn 2009), S. 329–354; Gro Anita Bårdseth, The Roman Age Hall and the Warrior-Aristocracy: Reflections upon the Hall at Missingen, South-East Norway. Norwegian Archaeological Review 42, No. 2, 2009, S. 146–158, S. 155 Fig. 8: Rekonstruktionszeichnung der 60 m langen Halle. Peter Schmid, Artikel „Feddersen Wierde“. In: RGA Bd. 8, 1994, S. 249–266. Die letzten Auswertungsbeiträge zur Feddersen Wierde erschienen in den Jahren nach 2000: Peter Schmid, Die Keramikfunde der Feddersen Wierde (1. Jh. v. bis 5. Jh. n. Chr.). Probleme der Küstenforschung im südlichen Nordseegebiet Bd. 29 (Oldenburg 2006); Jörn Schuster, Die Buntmetallfunde der Grabung Feddersen Wierde. Chronologie – Chorologie – Technologie. Probleme der Küstenforschung im südlichen Nordseegebiet 30 (Feddersen Wierde Bd. 6) (Oldenburg 2006); Peter Schmid, Der „Herrenhof“ der Feddersen Wierde, in: Siedlungs- und Küstenforschung im südlichen Nordseegebiet Bd. 33 (Gedächtnis-Kolloquium Werner Haarnagel [1907–1984]) (Rahden/Westf. 2010), S. 21–34. Zu den großen Siedlungsgrabungen im Nordseeküstenbereich gehört auch die Erforschung der germanischen Siedlung der römischen Kaiserzeit von Archsum
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gerzeitlichen Herrschaftssitz Lejre113 auf Seeland, oder die Riesenhalle der Wikingerzeit hoch im Norden bei Borg auf den Lofoten.114 In derartigen Hallen fanden im Norden wie auch auf dem Kontinent während der Merowingerzeit Feste mit dem Vortrag von Heldenliedern statt, gesungen zur Leier, wie sie in Grab 58 von Trossingen in Baden-Württemberg gefunden wurde, auf dem Resonanzkörper geschmückt mit einer Kriegerprozession.115 Völlig neu ist die Entdeckung und Ausgrabung eines germanischen Kultbaues in Uppåkra bei Lund in Schonen, der von der Römischen Eisenzeit bis in die Wikingerzeit am selben Platz bestanden hat, ständig erneuert wurde und umgeben war von Opferniederlegungen, seien es Waffen oder die bekannten Goldblechfigürchen sowie Goldbrakteaten, deren Bedeutung bzw. Opferbräuche also über die Jahrhunderte auch gewechselt haben.116 Zu den großflächigen Ausgrabungen kompletter Dörfer oder schließlich der Erforschung ganzer Landschaften, ebenfalls Leistungen der Archäologie in den letzten Jahrzehnten, gab es eigene Referate während der AbschlussTagung 2008 (F. Theuws und W. H. Zimmermann).117
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auf Sylt durch Georg Kossack, damals Kiel, das von 1963 bis 1973 von der DFG gefördert wurde. Im RGA konnte Archsum nicht mehr in Bd. 1 behandelt werden, sondern es gab einen knappen Artikel unter dem Stichwort „Sylt. Namenkundliches“ (Nils Århammar) im RGA Bd. 30, 2005, S. 214–215, dann allgemein zur Insel (Martin Segschneider) im RGA Bd. 35, 2007, S. 50–54 mit der Literatur zur Grabung Archsum, auch von Georg Kossack; die archäologischen Befunde wurden in Vorberichten bekannt gegeben, jüngst erschien ein weiterer ausführlicher Bericht: Ingo Lütjens, Archsum LA 65 (Melenknop), Schichtpaket A. Eine Siedlung der jüngeren Vorrömischen Eisen- bis frühen Römischen Kaiserzeit. Teil 1 (Bonn 2008). Thorsten Andersson, Tom Christensen, Artikel „Lejre“. In: RGA Bd. 18, 2001, S. 248–254. Eva Nyman, Bente Magnus, Artikel „Lofoten“. In: RGA 18, 2001, S. 567–569. Inzwischen liegt die Publikation zur großen Halle vor: G. S. Munch, O. S. Johansen, E. Roesdahl (Eds.), Borg in Lofoten. A Chieftain’s Farm in North Norway. Arkeologisk Skriftserie 1 (Trondheim 2003). Barbara Theune-Großkopf, Die vollständig erhaltene Leier des 6. Jahrhunderts aus Grab 58 von Trossingen, Ldkr. Tuttlingen, Baden-Württemberg. Germania 84, 2006, S. 93–142; Barbara Theune-Großkopf, Artikel „Trossingen“. In: RGA Bd. 31, 2006, S. 277–281; Barbara Theune-Großkopf, mit Beiträgen von Britt Nowak-Böck, Christina Peek, Manfred Rösch und Joachim Wahl, Mit Leier und Schwert. Das frühmittelalterliche „Sängergrab“ von Trossingen (Friedberg 2010). Hårdh, Uppåkra (wie Anm. 70) § 2, S. 516–520 mit Abb. 90–91; L. Larsson (Ed.), Continuity for Centuries. A ceremonial building and its context at Uppåkra, southern Sweden. Uppåkrastudier 10 (Lund 2004). Vgl. den Beitrag von Frans Theuws in diesem Band, S. 555–571, und Wolf Haio Zimmermann, dessen Beitrag hier nicht zum Druck vorgelegt werden konnte.
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9 Alte und neue Einflüsse des Zeitgeistes Mit Recht hat Rolf Hachmann 1996 darauf hingewiesen, wie sehr der Zeitgeist – das Geschichtsbild der bürgerlichen Gesellschaft – die neuen Ergebnisse der Wissenschaft erst verspätet oder gar überhaupt nicht übernimmt.118 Gegenwärtig vermeidet man es schon wieder, die eisenzeitliche Jastorf-Kultur in Norddeutschland mit den Germanen zu verbinden,119 während einst in weiten Bereichen der sich aus der Wissenschaft informierenden Bevölkerung schon der Nordische Kreis der Bronzezeit seit der Zeit Gustaf Kossinnas bald nach 1900 als germanisch angesehen wurde – und das über 50 Jahre lang –, wenn nicht gar Gruppen des Neolithikums, wie man es in Jahrzehnten bis zum Dritten Reich versucht hat, als germanisch etikettiert wurden. Dass inzwischen heute wieder auch im Fach Archäologie Tendenzen zu beobachten sind, mit Hilfe von aDNA-Analysen Menschengruppen in Kontinuitäten bis in die Bronzezeit oder noch weiter zurück zu projizieren, die ersten Bauernkulturen in Mitteleuropa um 5500 v. Chr. mit denen der Sprachgemeinschaft der Indogermanen zu verbinden, bringt die biologische Anthropologie ins Spiel.
9.1 Anthropologie Für die Altertumskunde wird ein spezieller Aspekt der Anthropologie besonders wichtig, die Auswertung alter DNA (aDNA). Da man inzwischen Verwandtschaftsanalysen erstellen kann, gibt es kulturgeschichtlich bedeutende neue Ergebnisse. Ich nenne den Nachweis möglicher Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Fürsten der Hallstattzeit, die in den großen Grabhügeln nahe der Fürstensitze wie dem Kleinasperge und der Heuneburg bestattet worden sind.120 Weiterhin ist es möglich geworden, in 118 119 120
Hachmann, in: Hachmann, Richter, Scardigli (wie Anm. 23), S. 64 f. Vgl. Anm. 31. Dirk Krausse, Vetternwirtschaft? Fragestellung und Design eines archäologischpaläogenetischen Pilotprojekts zur sozialhistorischen Deutung späthallstattzeitlicher Elitegräber, in: Jörg Biel, Dirk Krausse (Hrsg.), Frühkeltische Fürstensitze. Älteste Städte und Herrschaftszentren nördlich der Alpen? Archäologische Informationen aus Baden-Württemberg 51 (Esslingen 2005), S. 63–66; allgemein zu den keltischen Zentralorten jetzt: Dirk Krausse, Christoph Steffen (Hrsg.), Frühe Zentralisierungs- und Urbanisierungsprozesse. Zur Genese und Entwicklung frühkeltischer Fürstensitze und ihres territorialen Umlandes. Kolloquium des DFGSchwerpunktprogramms 1171 in Blaubeuren, 9.–11. Oktober 2006. Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg Bd. 101 (Stuttgart 2008); Dirk Krausse (Hrsg.), „Fürstensitze“ und Zentralorte der frühen Kelten.
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merowingerzeitlichen Mehrfachbestattungen von Kriegern, wie in Niederstotzingen und anderen derartigen Gräbern mit mehreren Bewaffneten die Verwandtschaften festzustellen. Zugleich konnte dabei auch gezeigt werden, dass mehrmals einer der Krieger weiblich war, das heißt, das Fehdewesen des 7. Jahrhunderts bezog auch Frauen in die Kämpfe mit ein.121 Doch entscheidender für die Geschichtsauffassung der Allgemeinheit werden wohl die Verwandtschaftsanalysen sein, die über viele Generationen hinweg weit in die Vergangenheit zurückreichen. Die Anthropologie hatte seit langem den Versuch aufgegeben, zum Beispiel anhand von Schädelvermessungen Rassen und Gruppen zu erkennen, um diese dann zu deuten, nämlich als germanisch zu bezeichnen. In der Folge wurden damals dann derartige Germanen anhand der Skelettfunde über die Eisenzeit und Bronzezeit bis ins Neolithikum zurückverfolgt. Die aDNA-Analysen haben es aber nun erlaubt – sensationellen Pressemeldungen zufolge – an mehreren Beispielen Verwandtschaften aus der Gegenwart wiederum bis weit in die Vergangenheit zurückverfolgen. So leben anscheinend Nachfahren der in der Lichtensteinhöhle im Südharz bestatteten Familien der Bronzezeit noch heute in diesem Gebiet,122 das heißt biologisch können nun scheinbar auf neue Weise Deutsche über Germanen bis in die Vorgeschichte zurückprojiziert werden, mit allen daran hängenden emotional bestimmten Deutungsmustern. Die wissenschaftlichen Weiterentwicklungen zum Thema „Physische oder Biologische Anthropologie“ sind im Lexikon schrittweise bei späteren Stichworten beschrieben worden.123 Unter dem Stichwort „Anthropologie“124 wurde seinerzeit 1971 auf einem damals schon rückwärts gewandten Forschungsstand nur die biologische Konstitution des Menschen behandelt, zentral mit Blick auf Vermessungen am Skelett und am Schädel. Heute wird
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Abschlusskolloquium des DFG-Schwerpunktprogramms 1171 in Stuttgart, 12.–15. Oktober 2009. Materialhefte zur Archäologie in Baden-Württemberg Bd. 120 (Stuttgart 2010). Monika Zeller, Molekularbiologische Geschlechts- und VerwandtschaftsBestimmung in historischen Skeletten. Diss. Tübingen 2000 (online); Heiko Steuer, Artikel „Totenfolge“ § 6. In: RGA Bd. 35, 2007, S. 205; auch Julia Gerstenberger, Analyse alter DNA zur Ermittlung von Heiratsmustern in einer frühmittelalterlichen Bevölkerung. Dissertation Göttingen (2002), anhand des Gräberfeldes von Weingarten in Baden-Württemberg. Jürgen Udolph, Lichtensteinhöhle, Siedlungskontinuität und das Zeugnis der Familien-, Orts- und Gewässernamen, in: Historia archaeologica. Festschrift für Heiko Steuer, hrsg. von Sebastian Brather, Dieter Geuenich, Christoph Huth. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 70 (Berlin, New York 2009), S. 85–105. Vgl. dazu hier Abschnitt 9.1. Ilse Schwidetzky, Artikel „Anthropologie“. In: RGA Bd. 1, 1973/ Lfg. 3, 1971, S. 349–359.
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unter demselben Begriff „Anthropologie“ ein komplexer Ausschnitt der Lebensrealität erfasst, einerseits weiterhin die „physische“ oder „biologische Anthropologie“, andererseits die historische, kulturgeschichtliche oder sozio-kulturelle Anthropologie, mit Blick auf die Frühzeit des Menschen auch als „evolutionäre Anthropologie“ bezeichnet. Diese Facetten sind bisher im Lexikon jeweils nur ausschnitthaft thematisiert worden. Die physische Anthropologie hat sich von manchen der 1971 beschriebenen Teilgebieten wie Rassenkunde verabschiedet und mit neuen Fragestellungen und Methoden weitgespannte Ergebnisse erarbeitet. Zahlreiche Aspekte bieten schon eigene Stichwörter im RGA und sind in verschiedenen Kapiteln der Ergänzungsbände thematisiert worden. Es geht um die Grundbedingungen des menschlichen Seins, wozu neben der Leiblichkeit zum Beispiel auch Ernährung, Kleidung und Krankheiten gehören. Welche Bedeutung die Auswertung aDNA für wissenschaftliche Fragestellungen hat, wird in einem eigenen Stichwort in Zukunft erläutert werden müssen, da gewissermaßen täglich neue Ergebnisse veröffentlicht werden. Beispiele wurden oben schon genannt. Die alte Einheit der Disziplinen verkörperte die Zeitschrift gleichen Namens der „Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“, einst gegründet von Rudolf Virchow (1821–1902). Heute gibt es zahlreiche Fachjournale zur biologisch-physischen Anthropologie. Ein weiteres Feld der Anthropologie berühren Themen wie Abstammung und damit verbunden die archäologisch-historisch gegenwärtig vielfältig diskutierte Frage der „Ethnischen Deutung“ archäologischer Kulturen, Kulturgruppen oder Kulturkreise. Die biologische Seite der Sprachfähigkeit und Sprachausprägung ist ebenfalls eine Frage der Anthropologie. Den Zugang zur Historischen, Kultur- oder sozio-kulturellen Anthropologie bietet demgegenüber fast das gesamte Lexikon.125 9.2 Ethnische Deutung126 Nach Bemerkungen zu den prähistorischen Fundtypen, zur Verknüpfung der archäologischen Tatsachen mit den Zeugnissen der germanischen und indogermanischen Sprachwissenschaft stellte schon Johannes Hoops in der ersten Auflage des Lexikons fest: „ … das ethnographische Problem der Prähistorie ist von einer allseitigen Lösung noch weit entfernt“ und dachte dabei an die Thesen von Gustaf Kossinna (1858–1931). Dieses Grundproblem der 125
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Jens Peter Schjødt, Artikel „Sozial- und Kulturanthropologie“. In: RGA 29, 2005, S. 264–272. Dazu ausführlicher Anm. 163 und S. 150 sowie Anm. 6 und S. 108.
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Archäologischen Wissenschaft, nämlich die ethnische Deutung ihrer Funde und Befunde im Sinne von Stämmen oder Völkern, die Interpretation von archäologischen Kulturen und Formenkreisen – diese sind inzwischen erkannt als eigene Konstrukte der Archäologie, deren realer gesellschaftlicher Hintergrund in der Vergangenheit erst noch zu diskutieren ist – beschäftigte uns in einem eigenen Vortrag während der Tagung 2008.127 Inzwischen widmet sich die Forschung weniger den ethnischen Problemen als mehr der Suche nach den sonst ebenso möglichen und auch wahrscheinlicheren Deutungsmustern, den Fragen nach andersartigen Identitäten.128 Doch zu all den Schwierigkeiten mit diesem Problem der in Schriftquellen genannten Stämme und der Verknüpfung mit archäologischen Fundgruppen sei ein Zitat, das die Problematik ethnischer Zuordnungen veranschaulicht, gebracht. In einem Handbuch über Afghanistan heißt es 2007:129 Vielen Afghanen [oder: Germanen? – der Verf.] ist nicht einmal der Name ihrer Ethnie bekannt, und noch weniger verfügen sie über eine gemeinsame Identität. Je nach Situation wechseln einzelne Menschen sogar ihre ethnische Identität. Sie ist gebunden an den jeweiligen sozialen Kontext und kann von Nützlichkeitserwägungen oder dem Wunsch der Abgrenzung abhängen. Es ist daher unmöglich zu sagen, wie viele ethnische Gruppen es in Afghanistan [oder: Ger127
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Vgl. den Beitrag von Sebastian Brather in diesem Band, S. 399–416; Sebastian Brather, Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 42 (Berlin, New York 2004), IV. Identitäten S. 97 ff. und die strukturellen Alternativen zur ethnischen Deutung VI. Kultur-, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Interpretationen, S. 323 ff.; spezifiziert: Hubert Fehr, Germanen und Romanen im Merowingerreich. Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschichte. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 68 (Berlin, New York 2010); Claudia Theune, Germanen und Romanen in der Alamannia. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 45 (Berlin, New York 2004); Sebastian Brather, Römer und Germanen. Ethnogenesen und Identitäten in der Spätantike. In: Jaroslav Tejral (Hrsg.), Barbaren im Wandel. Beiträge zur Kultur- und Identitätsumbildung in der Völkerwanderungszeit. Spisy archeologického ústavu AV ČR Brno 26 (Brno 2007), S. 11–27; Frank Siegmund, Alemannen und Franken. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 23 (Berlin, New York 2000). Walter Pohl, Mathias Mehofer (Hrsg.), Archaeology of Identity – Archäologie der Identität. Österreich. Akad. Wiss., Phil.-Hist. Kl. Denkschriften 406. Bd. (Wien 2010), darin z.B.: Sebastian Brather, Bestattungen und Identitäten – Gruppierungen innerhalb frühmittelalterlicher Gesellschaften, S. 25 ff. oder Hubert Fehr, Am Anfang war das Volk? Die Entstehung der bajuwarischen Identität als archäologisches und interdisziplinäres Problem, S. 211 ff. Conrad Schletter, Stammesstrukturen und ethnische Gruppen. In: Bernhard Chiari (Hrsg.) (Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes), Wegweiser zur Geschichte – Afghanistan, 2. Aufl. (Paderborn u.a. 2007), S. 125–133, hier S. 125.
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manien? – der Verf.] gibt. Die Angaben schwanken zwischen 50 und 200, weshalb auch Schätzungen über ihre Größe sehr umstritten sind. Ein weiteres Problem ist, dass sich viele Ethnien räumlich kaum verorten lassen, da oftmals mehrere Volksgruppen gemischt innerhalb eines Siedlungsgebietes leben.
Wie zuvor ethnisch zum Beispiel den Ostgermanen im Donauraum zugewiesene Trachtbestandteile eher als Zeitmode und über handwerkliche Kennzeichen gegliedert und gedeutet werden können, zeigte Florian Gauß an Hand von Fibeln.130 9.3 Archäo-Astronomie Astronomische Themen sind bisher kaum im Lexikon behandelt worden, aber im Bereich der archäologischen Ur- und Frühgeschichtsforschung zu einem „Modethema“ geworden, obgleich nicht erst seit dem Fund der bronzezeitlichen Himmelsscheibe von Nebra;131 denn das neolithische und bronzezeitliche Stonehenge oder die steinzeitlichen Rondelle aus Palisaden und Gräben sind schon lange als Sonnenobservatorien gedeutet worden.132 Eine Sonnenfinsternis wird für die Entstehung eines völkerwanderungszeitlichen Schatzhorizontes aus Goldschmuck verantwortlich gemacht.133 Bronzezeitliche Objekte wie die sogenannten Goldkegel134 (Typ Ezelsdorf und Schifferstadt),135 der Sonnenwagen von Trundholm,136 aber auch Amphoren bzw. 130
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Florian Gauß, Völkerwanderungszeitliche „Blechfibeln“. Typologie, Chronologie, Interpretation. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 67 (Berlin, New York 2009); anders Bierbrauer (wie Anm. 6). Harald Meller (Hrsg.), Der geschmiedete Himmel. Die weite Welt im Herzen Europas vor 3600 Jahren (Stuttgart 2004); zur Scheibe von Nebra gibt es inzwischen eine Fülle von Kommentaren, z.B. den Vergleich mit Schamanentrommeln: Emilia Pásztor, An archaeologist’s comments on prehistoric European astronomy. Complutum 20, 2009, S. 79–94. Juraj Pavúk, Vladimir Karlovský, Astronomische Orientierung der spätneolithischen Kreisanlagen in Mitteleuropa. Germania 86, 2008 (2010), S. 465–502. Morten Axboe, Fahne, Sonne und Opfergold. Archäologie in Deutschland 2003, Heft 2, S. 56–59: himmliches Phänomen im Jahr 536, nicht nur eine kurze Sonnenfinsternis, sondern die Eintrübung der Sonne dauerte weltweit Monate (Vulkanausbruch, Meteoreinschlag). Winfried Menghin, Der Berliner Goldhut. Macht, Magie und Mathematik in der Bronzezeit. Die Sammlungen des Museums für Vor- und Frühgeschichte Bd. 2 (Berlin 2010): Der 74,5 cm hohe und 450 g Gold schwere Goldhut ist ornamentiert und trägt in den Mustern einen Kalender, die Zeichen „kodieren die Zeit“. Gernot Jacob-Friesen, Artikel „Ezelsdorf“. In: RGA 8, 1994, S. 58–60; Der Goldene Hut von Schifferstadt. Historisches Museum der Pfalz Speyer (o.J.). Christoph Sommerfeld, … nach Jahr und Tag – Bemerkungen über die TrundholmScheiben. Prähistorische Zeitschrift 85, 2010, S. 207–242.
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Situlen aus Bronzeblech werden aufgrund ihrer Verzierung aus vielen Reihen von Ringen, Dellen und Buckeln als Sonnen- oder Mondkalender gedeutet, die mit diffizilen Berechnungen gelesen werden.137 Es wird notwendig sein, in der Fortsetzung des Reallexikons diesem Bereich besondere Aufmerksamkeit zu widmen; denn außer Frage steht, dass der Himmel mit Sonne und Mond und nicht zuletzt den Sternen frühgeschichtliche Menschen immer wieder beschäftigt haben, weil sie – anders als in unserer modernen auch in der Nacht lichtüberfluteten Welt – diese Himmelserscheinungen ständig ausführlich betrachten und ihre Veränderungen registrieren konnten, um die Himmelserscheinungen im Kult zu integrieren. 9.4 Neue Forschungsbegriffe Nicht nur neue Fundorte bereichern den archäologischen Teil des Lexikons, sondern auch neue Themen wie beispielsweise die Mentalitätsforschung, die kognitive Archäologie oder die Landschaftsarchäologie. Es geht auch um eine neue Sicht auf Zeichen-, Symbol- und Bedeutungssysteme, die in späten Stichwörtern des Lexikons aufscheinen, wie zum Beispiel „Schrift und Bild“ als Ergänzung zum früher erschienenen Artikel „Bilddenkmäler“.138 Bilder als intentionelle Mitteilungen ihrer Schöpfer, Äußerungen früher Gesellschaften über sich selbst, Kommunikationsmittel, erlauben Einblicke in kognitive Prozesse über Bildsprache und Bildrezeption (so die Felsbilder im Norden und in den Alpen). Die Umdeutung der Szenen auf spätantiken Kaisermedaillons in Brakteatenbilder, die Umsetzung der Darstellungen auf römischen Reitergrabsteinen in das Bildmuster des Reiterkriegers mit Sieghelfer oder die Wiedergabe auf den Helmblechen von Valsgärde und Vendel fordern neue Interpretationen. „Bilder sind gedankliche Artefakte und daher von kognitiven Kontingenzen abhängig“,139 sie sind kulturabhängig und sagen daher etwas über deren Gesellschaften aus. In dieses Themenfeld gehört auch die Deutung der germanischen Tierstile, wozu es einen Vortrag während der Tagung gab und ein zweiter für die Publikation zur Verfügung gestellt worden ist.140 137
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Jens May, Reiner Zumpe, Artikel „Mond § 5. Mond-Kalender“. In: RGA Bd. 20, 2002, S. 171–177; vgl. auch jetzt: Allard Mees, Der Sternenhimmel vom Magdalensberg. Das Fürstengrab bei Villingen-Schwenningen. Ein Kalenderwerk der Hallstattzeit. Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 54, 2007 (2010), S. 217–264. Christoph Huth, Artikel „Schrift und Bild § 3“. In: RGA Bd. 27, 2004, S. 314–319. Huth, Schrift und Bild (wie Anm. 138), S. 317. Karen Høilund Nielsen in diesem Band, S. 589–632; ein zweiter Beitrag von Alex-
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9.5 Archäologische Methoden Während der Erscheinungszeit des Lexikons von 1968 bis 2008, also in einem Zeitraum von 40 Jahren, hat sich das Spektrum der archäologischen Methoden, was Gewinnung von Quellen durch Ausgrabungen und ihre vielfältigen Auswertungen angeht, auch grundlegend erweitert. Diese Entwicklung wird in einer Reihe von Stichwörtern dargestellt, die unter Bezeichnungen gefasst sind, die das nicht immer unmittelbar erkennen lassen. Daher gibt es einige übergreifende Stichwörter wie „Naturwissenschaftliche Methoden“141 oder „Prospektionsmethoden“,142 deren verschiedene Abschnitte nicht mehr als Einzelstichwörter und oft aufgrund der alphabetischen Folge aufgenommen wurden, sondern dafür als zusammenhängende komplexe Stichwörter. Während einige Stichwörter des Lexikons ausführlich Erläuterungen zu den Methoden der Archäologie zur Erforschung der Befunde in der Landschaft bieten, werden stattdessen in den Ergänzungsbänden in erster Linie neue Fragestellungen und Methoden der Interpretation archäologischer Quellen erörtert.143 Das Feld der neuen archäologischen Methoden wird ebenfalls in Zukunft eine besondere Aufgabe sein.144
10 Zur Geschichte der archäologischen Wissenschaft(en) Im Vorwort zum Neuen Pauly (1996/1999) heißt es: „Wissenschaftsgeschichte sieht die Gegenwart einer Wissenschaft als historisches Problem“.145 Das ist auch eine Aufgabe für die Zukunft des RGA, über Rezeptions- und Wirkungsgeschichte nachzudenken. Was stellte und stellt man sich im 18., 19. und 20. Jahrhundert und heute unter Germanen vor. Anfangs wurden Germanen anhand der Archäologie in die Vergangenheit bis ins Neolithikum verfolgt, dann über die sprachliche Zuordnung nur bis in die vorrömische Eisenzeit oder gar nur bis zu Caesar. Was unter „Germanen“ zu verstehen ist, wird im Lexikon 1998 im umfangreichen Stichwort „Germa-
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andra Pesch in diesem Band, S. 633–687. Vgl. dazu auch die Beiträge von Lotte Hedeager (vgl. Anm. 219). (Autorengruppe), Artikel „ Naturwissenschaftliche Methoden in der Archäologie“. In: RGA Bd. 20, 2002, S. 568–610. (Autorengruppe), „ Prospektionsmethoden“. In: RGA Bd. 23, 2003, S. 483–508. Zur Liste der Ergänzungsbände vgl. Anhang 4.1. Vgl. dazu in Zukunft zusammenfassende neue Stichwörter in der GAO. Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 1 (Stuttgart, Weimar 1996), S. VII.
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nen, Germania, Germanische Altertumskunde“ fast monographisch thematisiert, in dem die Archäologie einen beachtlichen Anteil hat.146 Die Reihe der Ergänzungsbände wurde schon 1986 mit der Publikation einer Tagung zum Germanenproblem eröffnet, mit den genannten Beiträgen der Archäologen Herbert Jankuhn und Gerhard Mildenberger zum Germanenproblem in der archäologischen Forschung.147 Der Titel „Germanische Altertumskunde“ der 1. Auflage 1911/1913 wurde in der 2. erweiterten Auflage ab 1968/1973 beibehalten, obgleich den Herausgebern, auch den Mitarbeitern auf Seiten der Archäologie, die Problematik des Germanenbegriffs bewusst war. Nicht nur, weil die antiken Quellen mehrheitlich nur für die ersten Jahrhunderte n. Chr. von Germanen sprechen – später werden stattdessen seit dem 3. Jahrhundert die Großstämme mit ihren Namen Alemannen, Thüringer, Sachsen, Bajuwaren oder Langobarden genannt –, sondern wegen der grundsätzlichen Problematik haben einige Historiker gefordert, den Begriff „Germanen“ in der wissenschaftlichen Diskussion überhaupt zu meiden.148 Wie komplex der Begriff wirklich ist, zumal bei Berücksichtigung der Verknüpfung von „Germanen“ und „Deutschen“ während der Zeit der wissenschaftlichen Forschung durch die Wissenschaftler selbst, haben zwei Tagungen gezeigt, deren Ergebnisse als Ergänzungsbände vorgelegt worden sind, zum einen zur Gleichung „germanisch-deutsch“149 und zum anderen zu den 146
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(Autorengruppe), Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“. In: RGA Bd. 11, 1998, S. 181–438. Der Beitrag erschien auch als Studienausgabe unter dem Titel „Die Germanen“ (Berlin 1998). Heinrich Beck (Hrsg.), Germanenprobleme (wie Anm. 75). Jörg Jarnut, Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffs der Frühmittelalterforschung. In: Walter Pohl (Hrsg.), Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters. Österreich. Akademie der Wissenschaften, Philologisch-Historische Klasse, Denkschriften 322. Band (Wien 2004), S. 107–113, S. 108 f. Anm. 5 mit weiterer Lit. von Walter Pohl zu dieser Problematik; Herwig Wolfram, Wie schreibt man ein Germanenbuch und warum immer noch eins? In: Matthias Becher, Stefanie Dick (Hrsg.), Völker, Reiche und Namen im frühen Mittelalter. MittelalterStudien Bd. 22 (München 2010), S. 15–43, hier S. 19 mit Anm. 25; schon Hachmann, in: Hachmann, Richter, Scardigli (wie Anm. 23), S. 48: Nach Jankuhns Erläuterungen im Vorwort zum RGA Bd. 1, 1972, S. IX fragte Hachmann: „Diese Sätze sind gefährlich, denn sie stellen alle vorliegenden Definitionen des Germanischen radikal in Frage und lösen sie auf, setzen aber nichts Neues an ihre Stelle. Die Germanen werden zur Fiktion und man kommt unwillkürlich zur Frage: Ja, gab es sie denn eigentlich überhaupt?“. Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer, Dietrich Hakelberg (Hrsg.), Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 34 (Berlin, New York 2004) mit Vorworten der einzelnen Disziplinen, auch der Urund Frühgeschichtlichen Archäologie, S. XV–XVIII.
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deutschen Prähistorikern im 20. Jahrhundert mit deren zeitbedingten und zeitgebundenen Forschungsansätzen.150 Patrick Geary hat demgegenüber eine andere Definition oder Beschreibung der germanischen Welt geboten, die heftig diskutiert worden ist. Sein Buch über die merowingische Geschichte eröffnet er mit den These: „Die germanische Welt war vielleicht die großartigste und dauerhafteste Schöpfung des politischen und militärischen Genies der Römer…“, und er endet mit dem Satz „Die barbarische Welt, jene Schöpfung Roms, war zu dessen Schöpfer geworden“.151 Politische, soziale und wirtschaftliche Strukturen der germanischen Stammesgesellschaften sind durch Kontakte mit dem Römischen Reich und die gegenseitige Durchdringung wesentlich beeinflusst worden und haben sie gewissermaßen auch geschaffen; im Fortgang der Geschichte führte das schließlich dazu, dass die Bildung von germanischen Königreichen auf dem Boden des ehemaligen Römischen Reichs eben auch die Folge ehemaliger römischer Dominanz war. Das Königtum, durchaus schon seit Ariovist, ist bei den Germanen durch Rom installiert worden, um entsprechende politische Bündnispartner zu haben.152 Nicht etwa nur Importe römischer Sachgüter auf dem Weg des Handels, der Geschenke oder als Beute haben Germanien verändert, sondern ebenso das zeitweilige Leben und der Aufenthalt von Germanen im Römischen Reich. Die germanischen Gruppen wurden gewissermaßen auch gezwungen, größere Stämme zu bilden (vgl. Abb. 2), und darüber hinaus bildeten sich Kriegerverbände unter fähigen Anführern, die sich gegen Rom wehren wollten. Doch führte das auch zugleich zu innergermanischen Kämpfen.153 Diese germanischen 150
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Heiko Steuer, unter Mitarbeit von Dietrich Hakelberg (Hrsg.), Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 29 (Berlin, New York 2001): Der Titel ist ein Zitat aus dem Buchtitel des Prähistorikers Gustaf Kossinna aus dem Jahr 1912: „Die deutsche Vorgeschichte, eine hervorragend nationale Wissenschaft“ (Würzburg 1912, 7. Aufl. 1937). Patrick J. Geary, Die Merowinger. Europa vor Karl dem Großen (München 1998), S. 7 und S. 230; der Originaltitel beschreibt aber besser den Inhalt des Buches: Before France and Germany. The Creation and Transformation of the Merovingian World (New York, Oxford 1988); eine frühe Rezension: Karl-Ulrich Jäschke, Francia 17/1, 1990 S. 236–247 (Sammelrezension, außerdem zu Büchern von Waltraud Bleiber und Eugen Ewig zum Frankenreich). Stefanie Dick, Der Mythos vom „germanischen“ Königtum. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 60 (Berlin, New York 2008). Klaus Tausend, Im Inneren Germaniens. Beziehungen zwischen den germanischen Stämmen vom 1. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr., mit Beiträgen von Günter Stangl und Sabine Tausend. Geographica Historica 25 (Stuttgart 2009).
Abb. 2: Krieg als Auslöser der Entwicklung zum Stamm und Staat (Modell) (nach Steuer, Kriegerbanden [wie Anm. 154], S. 848 Abb.).
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Kampfverbände organisierten sich nach dem Vorbild römischer Legionsstrukturen, bildeten Centurien mit gestaffelter Befehlsstruktur. Das ist nicht nur für Marbods Heere in Böhmen schriftlich überliefert, sondern lässt sich auch im archäologischen Fundbestand nachweisen, zum Beispiel in der Gliederung der Massenwaffenfunde in Mooren bzw. ehemaligen Seen des südwestlichen Ostseegebietes.154 Ein Jahr nach der Tagung 2008 erschienen zur 2000. Wiederkehr der Erinnerung an die Varus- oder Arminiusschlacht im Jahre 9 n. Chr. mehr als 200 wissenschaftliche oder populäre Bücher, in denen erstaunlich häufig – vor dem Hintergrund der oben erläuterten Problematik des Germanenbegriffs – über die Germanen des Arminius wieder als erste Deutsche, mit, aber auch ohne Fragezeichen, gesprochen wird.155 In der neuen Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin begegnet unmittelbar nach dem Treppenaufgang im Eingangsbereich zur Geschichte der Deutschen die Gesichtsmaske vom Varus-Schlachtfeld in Kalkriese. Und auch bei heutigen Archäologen bzw. Archäologinnen wird wieder von Germanen bis zurück in die Tiefen der Vergangenheit, bis in die Bronzezeit, gesprochen, und man gewinnt Argumente über die moderne Anthropologische Wissenschaft.156 Das ist zu vergleichen mit den Versuchen anderer Archäologen, die Indogermanen – eine eindeutig sprachwissenschaftliche Bezeichnung – und eine indogermanische Altertumskunde mit den
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Heiko Steuer, Bevölkerungsdichte, Bevölkerungsgrößen und Heeresstärken während der älteren Römischen Kaiserzeit in der Germania magna. In: Gustav Adolf Lehmann, Rainer Wiegels (Hrsg.), Römische Präsenz und Herrschaft in Germanien in der augusteischen Zeit. Der Fundplatz Kalkriese im Kontext neuerer Forschungen und Ausgrabungsbefunde. Abh. Akad. Wiss. zu Göttingen, Phil.-Hist. Kl. Dritte Folge Bd. 279 (Göttingen 2007), S. 337–362; Heiko Steuer, Kriegerbanden und Heerkönige – Krieg als Auslöser der Entwicklung zu Stamm und Staat im ersten Jahrtausend n. Chr. in Mitteleuropa. Überlegungen zu einem theoretischen Modell. In: Wilhelm Heizmann, Astrid van Nahl (Hrsg.), Runica – Germanica – Mediaevalia. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 37 (Berlin, New York 2003), S. 824– 853; Heiko Steuer, Warrior Bands, War Lords, and the Birth of Tribes and States in the First Millenium AD in Middle Europe. In: Ton Otto, Henrik Thrane, Helle Vandkilde (Eds.), Warfare and Society. Archaeological and Social Anthropological Perspectives (Aarhus 2006), S. 227–236. Tillmann Bendikowski, Der Tag, an dem Deutschland entstand. Geschichte der Varusschlacht (München 2008); Hans-Peter Killguss (Hrsg.), Die Erfindung der Deutschen. Rezeption der Varusschlacht und die Mystifizierung der Germanen. Dokumentation zur Fachtagung vom 3. Juli 2009. Beiträge und Materialien 4 der Infound Bildungsstelle gegen Rechtsextremismus (Köln 2009). Vgl. S. 138.
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Anfängen des mitteleuropäischen Neolithikums um 5500 v. Chr., den ersten sesshaften bäuerlichen Kulturen, beginnen zu lassen.157 Erinnert sei daran, dass parallel zum neuen Erscheinen des Reallexikons von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen die interdisziplinär ausgerichtete „Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas“ eingerichtet wurde, die betont im Titel den Germanenbegriff ausgespart hat.158 Denn es ging im Lexikon allgemein um die Völkerschaften und die Bevölkerung in Mittel- und Nordeuropa, zu denen beispielsweise Kelten und Slawen159 gehörten. Während der Erscheinungszeit des Reallexikons machte die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie als Wissenschaft erhebliche Wandlungen durch, was Fragestellungen und darauf ausgerichtete Methoden betrifft, wie weiter oben erläutert worden ist. Herbert Jankuhn schrieb 1972, also vor knapp 40 Jahren, im Vorwort zum RGA:160 Die archäologische Forschung in Deutschland ist gerade dabei, einen entscheidenden Schritt von einer systematischen Ordnung ihres Fundmaterials in chronologischer und topographischer Hinsicht auf eine historische Auswertung des Quellenmaterials zu tun … . Gerade die Archäologie hat in den letzten Jahrzehnten in verstärktem Umfange für Siedlungs- und Wirtschaftsgeschichte, aber auch für technologische Untersuchungen naturwissenschaftliche und technische Fächer herangezogen, und über die Archäologie sind auch in der Hauptsache die naturwissenschaftlichen Disziplinen für die Altertumskunde wichtig geworden.
Nach Herausbildung der speziellen Wissenschaft Ur- und Frühgeschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert galten die ersten Fragestellungen dem Antiquarischen und der Formenkunde, wurden Formen- und Kulturkreise erarbeitet, oder wie wir heute sagen, konstruiert,161 wechselten dann über zur Erarbeitung der Datierungsmethoden, also einer sicheren relativen und absoluten Chronologie der Epochen und Kulturen und schließlich zum 157
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Vgl. S. 119; Beck, in: Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde (wie Anm. 26), S. 425 (hier werden Colin Renfrew und Maria Gimbutas genannt). Vgl. Anm. 74. Sebastian Brather, Archäologie der westlichen Slawen. Siedlung, Wirtschaft und Gesellschaft im früh- und hochmittelalterlichen Ostmitteleuropa. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 30 (Berlin, New York 2001); 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 61 (Berlin, New York 2008). Herbert Jankuhn, in: RGA Bd. 1, 1973, S. X f. (Vorwort mit 1972 unterzeichnet). Sebastian Brather, Artikel „Kulturgruppe und Kulturkreis“. In: RGA Bd. 17, 2001, S. 442–452; Torsten Capelle, Artikel „Formenkreis“. In: RGA Bd. 9, 1995, S. 329– 32.
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Problem der – oben schon angesprochenen – ethnischen Deutung, eine typische Fragestellung des 19. und der ersten Hälfte und noch der Mitte des 20. Jahrhunderts, erwachsen im Zuge der Entstehung und politischen Dominanz der Nationen, der Nationalstaaten und der Auseinandersetzung zwischen diesen Nationen, die mindestens teilweise zu den beiden Weltkriegen führten.162 Noch in den letzten Jahrzehnten konnte man die These lesen, dass sich die Ur- und Frühgeschichte als Wissenschaft selbst aufgeben würde, wenn sie nicht die Frage nach den ethnischen Einheiten, nach Völkern und Stämmen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen würde.163 Nicht zu vergessen ist, dass die Ur- und Frühgeschichtsforschung auch früh im 19. Jahrhundert begann – die Forschungsgeschichte muss hier nicht thematisiert werden, nur so viel: Schon 1837 erschien in Kopenhagen der „Leitfaden zur Nordischen Alterthumskunde“ (Christian Thomsen), die Übersicht über Denkmäler und Altertümer aus der Vorzeit des Nordens, mit der Begründung des Dreiperioden-Systems.164 Die wichtigen Bücher des Dänen Sophus Müller (1846–1934) erschienen in deutscher Übersetzung: „Nordische Alterthumskunde 1–2“ (1897–1898) und „Urgeschichte Europas. Grundzüge einer Prähistorischen Archäologie“ (1905). Heinrich Beck hat im Stichwort „Germanen, Germania, germanische Altertumskunde“ die frühen Phasen der Urgeschichtsforschung geschildert und die wichtigsten Vertreter des Faches genannt.165 Die jüngere Forschungsgeschichte für die Urgeschichte ist von 162 163
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Vgl. im Einleitungsabschnitt, S. 108. Hans Jürgen Eggers, Einführung in die Vorgeschichte (München 1959), S. 200: „Die Vorgeschichte würde sich als historische Wissenschaft selber aufgeben, würde sie nicht immer und immer wieder den Versuch machen, auch das Problem der ethnischen Deutung zu lösen“; Neuausgabe 1986, 3., erweiterte Aufl. mit einem Nachwort von Georg Kossack, S. 200; 4. Ergänzte Neuauflage, mit einem Nachwort von Claudia Theune, Berlin 2004, S. 200; Bierbrauer, Ethnos und Mobilität, 2008 (wie Anm. 6), S. 5 gehört zu denen, die die „… ethnische Interpretation weiterhin nicht nur für vertretbar, sondern wie der Autor dieser Studie auch für unverzichtbar halten …“; Heiko Steuer, Begründung und Zielsetzung, 2001 (wie Anm. 98), S. 19: schon Jacob-Friesen lehnte 1928 die prinzipielle Gleichsetzung „archäologische Kultur / archäologischer Formenkreis = Volk“ weil nur eine mögliche, nicht einmal wahrscheinliche Deutung von Kulturkreisen ab: Jacob-Friesen (wie Anm. 3), S. 111. Ledetraat for nordisk Oldkyndighed, udgiven af det Kongelige Nordiske OldskriftSelskab år 1836 (Kopenhagen 1936); Leitfaden zur Nordischen Alterthumskunde, hrsg. von der königlichen Gesellschaft für Nordische Alterthumskunde (Kopenhagen 1837), zitiert nach Hachmann 1996, S. 32 f. mit Anm. 24; auch Beck, Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde (wie Anm. 27), S. 431. Beck, Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde (wie Anm. 27), S. 429 ff.
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Manfred K. H. Eggert beschrieben worden.166 Johannes Brøndsted167 hat, auch ein Vorbild für Herbert Jankuhn, für Skandinavien ein kulturhistorisches Lexikon herausgegeben, das die Wikingerzeit mit einbezogen hat.168 Es folgte der Wechsel vom Antiquarischen und Positivistischen der Gliederung archäologischer Quellen nach Raum und Zeit zu Fragestellungen nach Gesellschafts- und Sozialgeschichte, Siedlungs- sowie zur Wirtschaftsund auch Mentalitätsgeschichte; zwischenzeitlich dominierten Fragen nach Religion, Kult und Opferbräuchen der frühgeschichtlichen Bevölkerungen. Zur Geschichte der Ur- und Frühgeschichtsforschung in Deutschland gibt es einige Übersichten, die über die „Einführung in die Vorgeschichte“ von Hans Jürgen Eggers hinausgehen, die auch zum Methodischen neue Aspekte diskutieren, aber eigentlich nur die Urgeschichte meinen, jedoch kaum die frühgeschichtlichen Epochen.169 Die Zunahme an Prospektions- und Ausgrabungsmöglichkeiten, vor allem was die Größenordnungen angeht, hat in den letzten Jahrzehnten zu einer anderen Qualität archäologischer Befunde geführt. Einerseits gelingt es, dörfliche Siedlungen komplett auszugraben, Großsiedlungen und Zentralorte als solche zu erkennen, wenn besiedelte Areale von 100 und mehr Hektar erfasst werden, und Heiligtümer der Latènezeit und Mooropferplätze der Römischen Kaiserzeit weitgehend vollständig zu erschließen. Andererseits hat der geregelte Einsatz von Metallsuchgeräten durch Wissenschaftler die Zahl der Fundplätze jeder Kategorie um Zehnerpotenzen erhöht und damit auch die Dichte der Orte, das Netz der Siedlungen erschlossen. 166
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Manfred K. H. Eggert, Prähistorische Archäologie. Konzepte und Methoden (Tübingen und Basel 2001, 2. Aufl. 2005), noch mit dem von mir abgelehnten Begriff „Prähistorie“; die Frühgeschichte bekommt keine eigene Darstellung, auch nicht in der nachfolgenden Publikation des Autors; Manfred K. H. Eggert, Archäologie. Grundzüge einer Historischen Kulturwissenschaft (Tübingen und Basel 2006). Johannes Brøndsted, Kulturhistorisk Leksikon for Nordisk Middelalder. Fra vikingetid til reformationstid, 21 Bände (Kopenhagen 1958–1979, 2. Aufl. 1980–1982). Vgl. auch die Stichworte „Nordgermanen“. In: RGA Bd. 21, 2002, S. 277–289 (Heiko Steuer); „Skandinavismus und Nordischer Gedanke“. In: RGA Bd. 28, 2005, S.614–629 (Klaus Bohnen, Heiko Steuer). Georg Kossack, Prähistorische Archäologie in Deutschland im Wandel der geistigen und politischen Situation. Bayerische Akademie der Wissenschaften, PhilologischHistorische Klasse Sitzungsberichte Jahrgang 1999, Heft 4 (München 1999); Manfred K. H. Eggert, Ur- und Frühgeschichtswissenschaft an deutschen Universitäten: Struktur und Entwicklung seit 1945. Archäologisches Nachrichtenblatt 15/2, 2010, S. 181–201; Ulrich Veit, Wie schreibt man heute eine Geschichte der Archäologie? Archäologisches Nachrichtenblatt 15/3, 2010, S. 345–352; Susanne Grunwald, Die geschriebene und die ungeschriebene Geschichte der deutschen prähistorischen Archäologie. Archäologisches Nachrichtenblatt 15/3, 2010, S. 334–344.
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Seitdem richten sich die Fragestellungen der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie auf Gesamtheiten, zu Anfang als Siedlungsarchäologie bezeichnet,170 sprach man anschließend von Landschaftsarchäologie,171 weil Landschaften als Ganzes in den Blick genommen wurden, die gesamte Besiedlung, die vom Menschen veränderte Umwelt und der Naturraum und umgekehrt die Reaktion des Menschen auf die unterschiedlichen Umweltbedingungen.172 Dieser Wandel wurde parallel zum Verlauf der Herausgabe der Bände des Lexikons nur teilweise berücksichtigt, was einerseits an der Geschwindigkeit dieses Wandels und andererseits an den beteiligten Wissenschaftlern gelegen hat, die oftmals den „modernen“ Tendenzen oder „turns“ bzw. Wenden nicht gleich folgen konnten und wollten. Heute wird die historischarchäologische Landschaft als Konstruktion durch den Menschen gesehen. Es gibt in allen Epochen Sakrallandschaften oder Rituallandschaften, Industrielandschaften (womit Handwerk und Produktion gemeint sind), Kulturlandschaften, hierarchisierte Siedlungslandschaften, vernetzte Landschaf170
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Herbert Jankuhn, Einführung in die Siedlungsarchäologie (Berlin, New York 1977); auch in polnischer Übersetzung: Wprowadzenie do archeologii osadnictwa (Pozńan 2004). Jens Lüning, Landschaftsarchäologie in Deutschland – Ein Programm. Archäologisches Nachrichtenblatt 1997, Heft 2–3, S. 277–285; Heiko Steuer, Artikel „Landschaftsarchäologie“. In: RGA Bd. 17, 2001, S. 630–634; Andreas Zimmermann, K. P. Wendt, T. Frank, J. Hilpert, Landscape Archaeology in Central Europe. Proceedings of the Prehistoric Society 75, 2009, S. 1–53. Georg Kossack, Karl-Ernst Behre, Peter Schmid (Hrsg.), DFG Archäologische und naturwissenschaftliche Untersuchungen an ländlichen und frühstädtischen Siedlungen im deutschen Küstengebiet vom 5. Jahrhundert v. Chr. bis zum 11. Jahrhundert n. Chr. Bd. 1 Ländliche Siedlungen (Weinheim 1984); Herbert Jankuhn, Kurt Schietzel, Hans Reichstein (Hrsg,), Archäologische und naturwissenschaftliche Untersuchungen an ländlichen und frühstädtischen Siedlungen im deutschen Küstengebiet vom 5. Jahrhundert v. Chr. bis zum 11. Jahrhundert n. Chr. Teil 2: Handelsplätze des frühen und hohen Mittelalters (Weinheim 1984); zum Beispiel auch seit 1983: Siedlungsarchäologische Untersuchungen im Alpenvorland. 5. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft vom 29.–30. März 1990 in GaienhofenHemmenhofen. Bericht der Römisch-Germanischen Kommission 71, 1990, S. 23– 405 und mehrere Nachfolgeberichte. Vergleichbar auch: die 1957 bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München, gegründete „Kommission zur archäologischen Erforschung des spätrömischen Raetien“, umbenannt und erweitert 1994 „Kommission zur vergleichenden Archäologie römischer Alpen- und Donauländer“. – Eine ähnliche Zielsetzung verfolgt der Freiburger Forschungsverbund „Archäologie und Geschichte des ersten Jahrtausends in Südwestdeutschland“, gegründet 1984, dazu die Schrift: 25 Jahre Forschungsverbund 1984–2009 „Archäologie und Geschichte des ersten Jahrtausends in Südwestdeutschland an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg im Breisgau“ (Rahden/Westf. 2010), 227 Seiten.
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ten. Die Forschung hat registriert, dass die Menschen jeder ur- und frühgeschichtlichen Epoche die Relikte und Spuren der früheren Besiedlung, nicht nur Grabhügel und Megalithgräber, zur Kenntnis genommen und das eigene Siedlungsgefüge damit verbunden und darauf bezogen haben, als eine jeweils gegenwartsbezogene Landschaftsgenese.173 Germanische Altertumskunde wird zur Altertumswissenschaft Europas für die beiden vergangenen zwei Jahrtausende um Christi Geburt.
11 Die Beiträge der Archäologie zur Abschluss-Tagung 2008 Auch während der bilanzierenden Tagung zum Abschluss des Reallexikons konnten die einzelnen Wissenschaften nicht alle Felder durch Beiträge abdecken, sondern Schwerpunkte mussten gesetzt werden. Anteilig am Gesamtprogramm der Tagung war die Archäologie mit dem hier vorgelegten, aber erweiterten einleitenden Beitrag „Das Fachgebiet Archäologie im RGA“ (Heiko Steuer, Freiburg) und mit weiteren sechs Vorträgen vertreten. Die Archäologie wählte folgende Themen aus: Landschaftsarchäologie – Definition und Zielsetzung als erst relativ neuer Ansatz einer ganzheitlichen Betrachtung des Menschen in seiner Landschaft, über die einzelne Siedlung hinaus (Frans Theuws, Amsterdam); diesen einzelnen, aber vollständig ausgegrabenen Siedlungen verschiedener Epochen galt das Referat über „Großflächige Siedlungsgrabungen – von der Quantität zur Qualität der Interpretation“ (Wolf Haio Zimmermann, Wilhelmshaven). Den kultisch-religiösen Ausschnitt ehemaliger Gesellschaften erschloss der Beitrag „Die großen keltischen und germanischen Waffenopferfunde – Wandel der Deutungsmuster“ (Claus von Carnap-Bornheim, Schleswig).174 Die ethnischen Gruppierungen aus der Sicht des Archäologen erörterte der Vortrag „‚Völker‘, Stämme und gentes im RGA. Archäologische Interpretationen und ethnische Identitäten“ (Sebastian Brather, Freiburg). Einen ausschnitthaften Einblick in die geistige Welt der Germanen gab das Referat „Der Symbolgehalt germanischer Tierstile“ (Karen Høilund Nielsen, Aarhus), das im Tagungsband ergänzt wird durch den Beitrag „Fallstricke und Glatteins: Die germanische Tierornamentik“ (Alexandra Pesch, Schleswig). Das römisch-germanische bzw. germanisch-römische Verhältnis beleuchtete der Beitrag „Römische Sachgüter in der Germania magna. Arte und Wege des Imports“ (Michael Erdrich, Lublin), als Kurzfassung für 173
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Rüdiger Mäckel, Heiko Steuer, Thomas Uhlendahl, Gegenwartsbezogene Landschaftsgenese am Oberrhein – Ergebnisse eines interdisziplinären Graduiertenkollegs. Freiburger Geographische Hefte 67 (Freiburg 2011). Mitverfasser des hier publizierten Aufsatzes (S. 515–540): Andreas Rau, Schleswig.
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die Publikation mit dem Titel „Überlegungen zu Altstücken in kaiserzeitlichen Grab- und Schatzfunden im mitteleuropäischen Barbaricum“. Zur angelsächsischen Welt wurde ein Aufsatz für die Publikation gewonnen: „Die Entstehung der Angelsachsen“ (Heinrich Härke, Reading, GB und Hameln).
12 Die archäologische Perspektive im RGA Welche Unterschiede im Stand der ur- und frühgeschichtlichen Wissenschaften sind zwischen einst und heute zu registrieren? Als Johannes Hoops begann, das Reallexikon ab 1911, Vorwort im ersten Band von 1913, herauszugeben, gab es noch keine an den Universitäten etablierte ur- und frühgeschichtliche Wissenschaft, auch wenn Hoops in seiner Einleitung auf Ergebnisse der Archäologie hinwies, die zu berücksichtigen seien. Bis zum Erscheinen der neuen Auflage des RGA seit 1968/1973 hat die ur- und frühgeschichtliche Archäologie einen solchen Aufschwung auch an den deutschen Universitäten genommen – an fast jeder Universität gibt es inzwischen Lehrstühle oder Institute für Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie – hat derart zahlreiche und vielseitige neue Quellen zur alten europäischen Urgeschichte bereitgestellt, dass Archäologie andere Wissenschaftszweige mit mehr oder weniger gleichbleibendem Quellenbestand, der nur durch neue Methoden auch neue Erkenntnisse bietet, fast zu überwuchern scheint. Es kann die Meinung vertreten werden, dass nach der Dominanz der Geschichtswissenschaft zu Zeiten von Karl Lamprecht oder der Sprachwissenschaft zu Zeiten von Herrmann Paul im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert, wie Heinrich Beck in seinem Betrag ausführlich erörtert hat, für das germanische oder mittel- und nordeuropäische Altertum inzwischen die Archäologie an die erste Stelle zu rücken scheint. In Skandinavien mit anderer Tradition gab es etablierte archäologische Wissenschaft schon lange an den Nationalmuseen: Christian Jürgensen Thomsen (1788–1865),175 Jens Jacob Asmussen Worsaae (1821–1885),176 Oscar Montelius (1843–1921),177 Sophus Müller (1846–1934).178 Am Hoops arbeiteten damals Archäologen mit, die weniger an einer Universität als vielmehr an Museen beschäftigt waren. Aus der Autorenliste seien herausgegriffen: 175
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Henrik Thrane, Artikel „Thomsen, Christian Jürgensen“. In: RGA Bd. 30, 2005, S. 481–484.“ Henrik Thrane, Artikel „Worsaae, Jens Jacob Asmussen“ In: RGA 34, 2007, S. 234–237. Erik Baudou, Artikel „Montelius, Oscar“. In: RGA Bd. 20, 2002, S. 204–207. Henrik Thrane, Artikel „Müller, Sophus“. In: RGA 20, 2002, S. 302–306.
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Max Ebert (1879–1929),179 Berlin Königliches Museum für Völkerkunde; Peter Goeßler (1872–1956); Theodor Hampe (1866–1933), Germanisches Nationalmuseum Nürnberg; Friedrich Hertlein (1865–1029); Moritz Hoernes (1852–1917), Universität Wien; Albert Kiekebusch (1870– 1935);180 Alfred Schlitz (1849–1915), Anthropologe; Carl Schuchhardt (1859–1943),181 Direktor am Museum für Völkerkunde, Berlin; Hans Seger (1864–1943), Universität Breslau. Aus dem Norden wirkten am Hoops mit: Anton Wilhelm Brøgger (1884–1951),182 Universität Kristiania; Alexander Bugge (1870–1929), Universität Kristiania; Bror Schnittger (1882–1924), Nationalmuseum Stockholm; aus England beteiligte sich Gerhard Baldwin Brown (1849–1932),183 Universität Edinburgh. Von der Klassischen Archäologie bzw. Provinzialrömischen Archäologie sind zu nennen: Hans Dragendorff, Generalsekretär des kaiserlichen Deutschen Archäologischen Instituts, Ernst Fabricius (1857–1942), Universität Freiburg, und Karl Schumacher (1860–1934),184 Direktor des RömischGermanischen Zentralmuseums. Mehrere von ihnen haben im RGA einen eigenen Beitrag bekommen, andere sind über das Register aufzufinden. Sophus Müller, Direktor des Nationalmuseums in Kopenhagen, übernahm die alte archäologische Zeitschrift Aarbøger for Nordisk Oldkyndighed og Historie (København), die 3. Serie (1. Serie seit 1,1866–20, 1885, weiter 2. Serie 1, 1886–25, 1910 und schließlich 3. Serie 1, 1911ff.). Wegweisend für den Fortgang der Ur- und Frühgeschichte wurden Otto Tischler (1843–1891),185 Rudolf Virchow (1821–1902)186 und Gustaf Kossinna (1858–1931),187 der die erste ur- und frühgeschichtliche außerplanmäßige Professur im Kaiserreich erhalten hat (1902 Anstellung an der Berliner Universität, nur mit einer Bibliothekarspension, als Professor ohne Promo179
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Herbert Jankuhn, Artikel „Ebert, Max“. In: RGA Bd. 6, 1986, S. 339–341; Ebert, Reallexikon (wie Anm. 22). Rosemarie Müller, Artikel „Kiekebusch, Albert“. In: RGA Bd. 16, 2000, S. 480– 481. Rosemarie Müller, Artikel „Schuchhardt, Carl“. In: RGA Bd. 27, 2004, S. 343– 347. Charlotte Blindheim, Artikel „Brøgger, Anton Wilhelm“. In: RGA Bd. 3, 1978, S. 468–469. David M. Wilson, Artikel „Brown, Gerhard Baldwin“. In: RGA Bd. 3, 1978, S. 552. Hermann Ament, Artikel „Schumacher, Karl“. In: RGA Bd. 27, 2004, S. 373–375. Rosemarie Müller, Artikel „Tischler, Otto“. In: RGA Bd. 30, 2005, S. 615–616. Sebastian Brather, Artikel „Virchow, Rudolf Ludwig Carl“. In: RGA Bd. 32, 2006, S. 435–439. Sebastian Brather, Artikel „Kossinna, Gustaf“. In: RGA Bd. 17, 2001, S. 263–267.
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tionsrecht). Dann wurde Max Ebert (1879–1929), der 1919 Vorsitzender der „Altertumsgesellschaft Prussia“ in Königsberg geworden war, im Jahr 1921 in Königsberg zum außerordentlichen Professsor ernannt und später als persönlicher Ordinarius 1927 nach Berlin berufen.188 Virchow gründete 1869 die Berliner „Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“ als interdisziplinär ausgerichtetes Organ die „Zeitschrift für Ethnologie“. 1909 erfolgte die Gründung der „Praehistorischen Zeitschrift“ durch Schuchhardt, Schumacher und Seger, während Kossinna die „Deutsche Gesellschaft für Vorgeschichte“, ins Leben rief, programmatisch 1913 umbenannt in „Gesellschaft für Deutsche Vorgeschichte“ mit der Zeitschrift „Mannus“. Kritisch äußerten sich schon Karl Hermann Jacob-Friesen (1886–1969) in seinem Buch von 1928189 und Ernst Wahle (1889–1981) in einem Beitrag 1941 zum Problem der ethnischen Deutung,190 die dann später Hans Jürgen Eggers (1906–1975),191 dessen „Einführung in die Vorgeschichte“ (1951) methodische Maßstäbe setzte, im Sinne Kossinnas – trotz einiger Bedenken – in den Mittelpunkt der Deutungsmuster setzte. In den 1920er Jahren wurde der archäologische Kulturbegriff eingeführt.192 Die Weiterentwicklung in der Bewertung archäologischer Quellen wird deutlich, wenn man den Gehalt eines Begriffes wie „Siedlungsarchäologie“ näher betrachtet. Gustaf Kossinna verstand zu Anfang des 20. Jahrhunderts unter Siedlungsarchäologie eine Methode, die sich auf die Kartierung von Grabsitten und Sachgütern stützte und die zu Formen- und Kulturkreisen führte, die wiederum als Abbildung ethnischer Einheiten gewertet wurden. Schon Albert Kiekebusch193 hat 1928 in Eberts Reallexikon demgegenüber gefordert, nun tatsächlich Siedlungen zu erforschen und die Ergebnisse miteinander zu vergleichen. Die weitergehende Definition formulierte dann Herbert Jankuhn ein halbes Jahrhundert später in einigen Aufsätzen und in einem von ihm 1977 verfassten Handbuch.194 Er verstand darunter die Er188 189 190
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Herbert Jankuhn, Artikel „Ebert, Max“. In: RGA 6, 1986, S. 339–341. Jacob-Friesen (wie Anm. 3 und Anm. 163) Ernst Wahle, Zur ethnischen Deutung frühgeschichtlicher Kulturprovinzen. Grenzen der frühgeschichtlichen Erkenntnis 1. Abhandlung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philologisch-Historische Klasse 1940/41, 2 (Heidelberg 1941). Herbert Jankuhn, Artikel „Eggers, Hans Jürgen“. In: RGA Bd. 6, 1986, S. 458–460. Sebastian Brather, Artikel „Kulturgruppe und Kulturkreis“. In: RGA Bd. 17, 2001, S. 442–452. Albert Kiekebusch, Artikel „Siedlungsarchäologie“. Reallexikon der Vorgeschichte Bd. 12 (Berlin 1928), S. 102–117. Jankuhn, Siedlungsarchäologie (wie Anm. 170); vgl. ebenfalls dazu Georg Kossack, Dörfer im Nördlichen Germanien vornehmlich aus der römischen Kaiserzeit.
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forschung von Siedlungen in ihrem gesamten Zusammenhang, nicht nur die Ansammlung der Gehöfte195 selbst, sondern mit Ackerfluren, Wald und Naturraum sowie den Rohstoffquellen und auch möglichst den Heiligtümern und Kultplätzen. Der nächste Schritt war dann die Erforschung der BeSiedlung, des Siedlungsnetzes. Die Hierarchie führt von der Siedlung über die Siedlungskammern zum Siedlungsnetz und zum großen Siedlungsraum. Im Stichwort „Siedlungsarchäologie“ wird 2005,196 ein Jahrhundert nach Kossinna, das Programm einer solchen Auswertung archäologischer Quellen beschrieben, das Schwerpunkprogramme der DFG nennt: „Vor- und frühgeschichtliche Besiedlung des Nordseeraumes“ (1966–1977), „Siedlungsarchäologische Untersuchungen im Alpenvorland“ (1982–1990) als Nachfolgeprogramm des „Projektes Bodensee-Oberschwaben“ (bis 1983). Das Institut für Historische Küstenforschung in Wilhelmshaven betreibt beispielweise seit seiner Gründung 1938 bis zur Gegenwart großräumige Siedlungsarchäologie.197 „Siedlungsarchäologie“ ist nicht zu trennen von „Siedlungsgeographie“.198 Allgemein bekannt sind die Erforschung der Wurten an der Wesermündung, darunter die Ausgrabung der Feddersen Wierde mit den Siedlungsphasen seit der Zeit um Christi Geburt bis ins 6. Jahrhundert oder die Siedlungskammer Flögeln auf der Geest mit den sich verlagernden Siedlungen von der vorrömischen Eisenzeit bis ins 6. nachchristliche Jahrhundert.199 Im gesamten Küstenbereich der Nordsee von den Niederlanden bis nach Jütland sind die serienmäßige Ausgrabungen kompletter Siedlungen in enger Nachbarschaft vollständig strukturierter Siedlungslandschaften erschlossen worden, die unter mehreren Stichwörtern mit den Ortsangaben
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Lage, Ortsplan, Betriebsgefüge und Gemeinschaftsform. Bayerische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Kl. Abh. NF Heft 112 (München 1997); Georg Kossack, Siedlungsarchäologie als Weg zur Kenntnis von Leistungszusammenhängen bei agrarisch wirtschaftenden Verbänden in prähistorischer Vergangenheit. In: 5. Heidenheimer Archäologie-Colloquium „Frühe Eisenverhüttung auf der Ostalb“. 2. Verleihung des Kurt-Bittel-Preises der Stadt Heidenheim für Süddeutsche Altertumskunde 11. Oktober 1991 (Heidenheim 1992), S. 90–111. (Autorengruppe), Artikel „ Siedlungs-, Gehöft- und Hausformen“. In: RGA Bd. 28, 2005, S. 282–319; Jan Schuster, Artikel „Wohn- und Wohnstallhaus“. In: RGA Bd. 34, 2007, S. 190–198. Heiko Steuer, Artikel „Siedlungsarchäologie“. In: RGA Bd. 28, 2005, S. 319–323. Karl-Ernst Behre, Peter Schmid, Das Niedersächsische Institut für Historische Küstenforschung. 60 Jahre Forschungstätigkeit im Küstengebiet (Wilhelmshaven 1998). Winfrid Schenk, Artikel „Siedlungsgeographie“. In: RGA Bd. 28, 2005, S. 323– 335. Wolf Haio Zimmernann, Artikel „Flögeln“. In: RGA Bd. 9, 1995, S. 206–216.
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im Reallexikon beschrieben worden sind. Der Weg zur Erforschung der Landschaft und damit zur Landschaftsarchäologie (2001) ist beschritten,200 wobei von der Beschreibung der Befunde zur Deutung des inneren Strukturgefüges in Bereichen wie Siedlungsformen, Kommunikation, Wirtschaft und Kult fortgeschritten wird, zur Konstruktion der Landschaft durch den Menschen, es geht unter anderem um landschaftsgebundene Wirtschaftsformen;201 denn Landschaft ist nicht nur die antiquarisch zu beschreibende Ansammlung der durch Wege verbundenen Siedlungen, sondern das Ergebnis einer von jeweiligen Zeitgenossen gewollten Struktur, sei das ihnen bewusst gewesen oder nur gelebt worden. Diese zu erschließen, zur geistigen Welt vor- und frühgeschichtlicher Menschengruppen vorzudringen, ist Ziel der kognitiven Archäologie, indem Artefakte als Symbole und Zeichen der ehemaligen Gesellschaften ausgewertet werden. Dabei bleibt der Forschung bewusst, dass die Interpretation aus unserer heutigen Vorstellungswelt heraus erfolgt und nur zu einer mehr oder weniger dichten Annäherung an die ehemalige Lebenswelt führen kann.202 Der Wandel von der Auffassung und den Aufgaben archäologischer Forschung spiegelt sich in den wenigen Hand- und Einführungsbüchern zum Fach, wobei es einen markanten Unterschied zwischen dem deutschsprachigen und dem angelsächsisch-skandinavischen Raum gibt. Die erste „Einführung in die Vorgeschichte“ von Hans Jürgen Eggers203 aus dem Jahr 1959 behandelte in drei Hauptkapiteln nach der Forschungsgeschichte die relative und absolute Chronologie und schließlich das Problem der sogenannten „ethnischen Deutung vor- und frühgeschichtlicher Kulturprovinzen“ als ent200
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Winfrid Schenk, Artikel „Landschaft“. In: RGA Bd. 17, 2001, S. 617–630; Heiko Steuer, Artikel „Landschaftsarchäologie“. In: RGA Bd. 17, 2001, S. 630–634; Landschaftsarchäologie und geographische Informationssysteme. Prognosekarten, Besiedlungsdynamik und prähistorische Raumordnung. Forschungen zur Archäologie im Land Brandenburg (Wünstorf 2003); Heiko Steuer, Artikel „Verbreitungskarte“ § 5. Regionalanalysen (site catchment analysis), § 6. Geographische Informationssysteme (GIS). In: RGA Bd. 32, 2006, S. 160–166; Thomas Saile, Landschaftsarchäologie in der nördlichen Wetterau (Hessen): Umfeldanalyse mit einem geographischen Informationssystem (GIS). Archäologisches Korrespondenzblatt 27, 1997, S. 221–232; Thomas Saile, Die Reliefenergie als innere Gültigkeitsgrenze der Fundkarte. Germania 79, 2001, S. 93–120. Karl-Ernst Behre, Landschaftsgeschichte Norddeutschlands. Umwelt und Siedlung von der Steinzeit bis zur Gegenwart (Neumünster 2008). Eggert, Archäologie: Grundzüge (wie Anm. 166), S. 253: „So sehr alle historische Forschung ihrer eigenen Zeit verpflichtet ist, so wenig sollte sie die Tatsache aus den Augen verlieren, daß die Vergangenheit ohne die Gegenwart stattgefunden hat.“ Eggers, Einführung (wie Anm. 163).
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scheidendes kulturgeschichtliches Auswertungskapitel. Erst 2001 erschien dann die Einführung von Manfred K. H. Eggert „Prähistorische Archäologie: Konzepte und Methoden“,204 auf die Urgeschichte begrenzt ohne breiteren Blick auf frühgeschichtliche Epochen oder Methoden für diese Phasen. Man findet darin ein umfangreiches Kapitel „Archäologie als Kulturanthropologie“ mit dem Abschnitt „Ethnoarchäologie“. In einer weiteren Publikation legte Eggert 2006 die „Grundzüge einer Historischen Kulturanthropologie“ vor,205 mit Kapiteln zu den verschiedenen archäologischen Wissenschaften und einem abschließenden Abschnitt „Archäologie und Kulturwissenschaft“ [jeweils Markierung ‚kursiv‘ durch Verf.]. Nur wenige Überblicks- und Einführungspublikationen oder Handbücher sind zu nennen; zum Beispiel fällt auf, dass Agrargeschichte als Hauptaspekt einer Wirtschaftsarchäologie der Ur- und Frühgeschichte häufiger zu Handbüchern geführt hat.206 Gesellschafts- oder Sozialgeschichte der Germanen wurde ebenfalls zum Thema.207 Ansonsten bieten andere Publikationen und Handbücher eigentlich nur für die Vor- oder Urgeschichte208 Zusammenfassungen an, nicht aber zur jüngeren Urgeschichte und zur „germanischen“ Frühgeschichte. Auch bei Eggert findet man wenig zu diesen jüngeren Epochen, kaum etwas zur Frühgeschichte. Im neueren Buch „Archäologie: Grundzüge“ mit Kapiteln für die verschiedenen Archäologien ist die eigentliche Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Prähistorischer und Mittelalterarchäologie verschwunden.209 Übersichtdarstellungen bieten heute für Deutschland neue Darstellungen der Fakten, Funde und Befunde, manchmal 204 205
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Eggert, Prähistorische Archäologie: Konzepte (wie Anm. 166). Eggert, Archäologie: Grundzüge (wie Anm. 166). Noch ein weiteres Handbuch: Manfred K. H. Eggert, Stefanie Samida, Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie (Tübingen, Basel 2009). Jankuhn, Einführung in die Siedlungsarchäologie (wie Anm. 170); Herbert Jankuhn, Vor- und Frühgeschichte vom Neolithikum bis zur Völkerwanderungszeit. Deutsche Agrargeschichte I (Stuttgart 1969); in Nachfolge: Else Ebel, Walter Janssen, Deutsche Agrargeschichte. Vom Neolithikum bis zur Schwelle des Industriezeitalters (Wiesbaden 1979); Jens Lüning, Albrecht Jockenhövel, Helmut Bender, Torsten Capelle, Deutsche Agrargeschichte – Vor- und Frühgeschichte (Stuttgart 1997). Steuer, Frühgeschichtliche Sozialstrukturen (wie Anm. 7). Karl Hermann Jacob-Friesen, Grundfragen der Urgeschichtsforschung (Hannover 1928); Edward Sangmeister, Methoden der Urgeschichtswissenschaft. Saeculum 18, 1967, S. 199–244; Fritz Felgenhauer, Einführung in die Urgeschichtswissenschaft (Freiburg 1973); Hermann Müller-Karpe, Einführung in die Vorgeschichte (München 1975). Eggert, Archäologie: Grundzüge (wie Anm. 166), S. 304 f. Tabelle; nicht anders strukturiert das neuere Handbuch Jeorjios Martin Beyer, Archäologie. Von der Schatzsuche zur Wissenschaft (Mainz 2010) mit Kapiteln zur „Ur- und Frühge-
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auch mit einer kultur- und altertumskundlichen Fragestellung, wobei dann auch die Epoche des „germanischen Altertums“ (und die Provinzialrömische Archäologie) geschildert werden.210 Neue Ansätze kamen vor allem wieder aus dem angelsächsischen Raum, als eine sogenannte Kontext-Archäologie211 oder auch eine symbolische Archäologie.212 Nach angelsächsischer Mode folgt dort ein „turn“ nach dem anderen, ohne das damit eine neue Altertumswissenschaft als Ganzheit gewonnen wird, sondern nur die betonte Annäherung unter spezieller Fragestellung.213 Die Diskussion über die Ansätze der „New Archaeology“ bzw. „Prozessualen Archäologie“ und nachfolgend der „Post-Prozessualen“ Archäologie soll hier nicht verfolgt werden, weil kaum ein Zugang zur germanischen bzw. der Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas der beiden Jahrtausende um Christi Geburt dabei schwerpunktmäßig aufgegriffen wird. Ian Hodder vertrat in den 1980er Jahren eine strukturalistisch-kontextuelle ethnoarchäologische Position, die von Eggert als historistisch-subjektivistisch bezeichnet wird, eine neue Gegenposition zur interpretativen Archäologie, die im Gewande einer „Hermeneutik“ einem solchen extremen Subjektivismus zugeordnet wird.214 Diese anthropologische, hermeneutische, ikonische, interpretative, kulturale, kulturalistische, kulturwissenschaftliche, linguistische, performative, piktorale, reflexive, semiotische und visuelle Wende,215 auch kognitive216 oder symbolische217 und strukturale Archäologie218 hat Eggert präzise be-
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schichte“ (Joseph Maran), S. 122–129, „Provinzialrömischen Archäologie“ (Thomas Fischer), S. 163–173, „Mittelalterarchäologie“ (Heiko Steuer), S. 204–216. Zuletzt: Uta von Freeden, Siegmar von Schnurbein (Hrsg.), Spuren der Jahrtausende. Archäologie und Geschichte in Deutschland (Stuttgart 2002); Menschen, Zeiten, Räume, Archäologie in Deutschland (Stuttgart 2002). Ian Hodder, Contextual Archaeology. In: Reading the Past: Current Approaches to Interpretation in Archaeology (Cambridge u.a. 1986), S. 118–146. Ian Hodder (Hrsg.), The Meaning of Things: Material Culture and Symbolic Expression. One World Archaeology 6 (London 1991). Eggert, Konzepte (wie Anm. 166), S. 348 ff. Eggert, Konzepte (wie Anm. 166), S. 350 f. Eggert, Archäologie: Grundzüge (wie Anm. 166), S. 232–236. Lotte Hedeager, Kognitiv topografi: Ædelmetaldepoter in landskapet. In: Perry Rolfsen, Frans-Arne Stylegar (red.), Universitetets kulturhistoriske museer Skrifter nr. 2 (Oslo 2003), S. 147–165; Eggert, Konzepte (wie Anm. 166), S. 145. Ian Hodder, Symbols in Action. Ethnoarchaeological Studies of Material Culture (Cambridge 1982); Ian Holder, The Meaning of Things. Material Culture and Symbolic Expression. One World Archaeology Vol. 6 (London 1989). Eggert, Konzepte (wie Anm. 166), S. 349; Ian Hodder, Symbolic and Structural Archaeology. New Directions in Archaeology (Cambridge 1982); Hodder, Symbols
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schrieben und indirekt gezeigt, wie wenig damit für die „germanische Altertumskunde“ zu gewinnen ist. In mehreren Aufsätzen vor und nach dem Jahr 2000 hat Lotte Hedeager immer wieder versucht, den in schriftlichen Quellen überlieferten OdinsKult mit archäologischen Quellen zu verbinden, auch mit Brakteatenbildern219 und schließlich auch mit den Geländebefunden in Gudme auf Fünen zu verknüpfen, wobei sie auf die wesentlich jüngere eddische Dichtung, auf den Schmied in altnordischen Quellen zurückgreift. Zentrale Plätze wie Gudme werden als Zentren des Universums und als Götterheim Asgard gedeutet. Damit bezieht sie sich methodisch wieder auf eine seit Jahrzehnten eigentlich überwundene Phase, und ob zeitlich weit auseinander liegende Quellen, die zudem unterschiedlichen Charakters sind, tatsächlich und wie unmittelbar miteinander verknüpft werden dürfen, bleibt zu diskutieren. Es ist leicht gesagt, dass in den späten Quellen sicherlich Erinnerungen an frühe Phasen der Geschichte und Religion erhalten und überliefert worden sind, doch bleibt der Umgang eine nicht beweisbare These. Zu diesem methodischen Problem äußerte sich auch Heinrich Beck in der 2. Auflage des Tagungsbandes „Germanenprobleme in heutiger Sicht“: Die Neigung, dem nordgermanischen Quellenbestand eine hohe Altertümlichkeit zuzubilligen, die ganz im Gegensatz zu seinem absoluten Alter steht, ist nur ein Beispiel, das nach forschungsgeschichtlicher Klärung und hermeneutischer Bestimmung verlangt.220
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(wie Anm. 217); allgemein Manfred K. H. Eggert, Ulrich Veit (Hrsg.), Theorie in der Archäologie: zur englischsprachigen Diskussion. Tübinger Archäologische Taschenbücher 1 (Münster u.a. 1998). Mehrere Arbeiten von Lotte Hedeager, Myter og materiel kultur: Den nordiske oprindelses, yte i det tidlige kristne Europa. Tor 28, 1996, 217–234; Lotte Hedeager, Odins offer. Skygger af en shamanistisk tradition i nordisk folkevandringstid. Tor 29, 1997, S. 265–278; Lotte Hedeager, Cosmological endurance: pagan identities in early Christian Europe. European Journal of Archaeology 1/3, 1998, S. 382–396.; Lotte Hedeager, Myth and art: a passport to political authority in Scandinavia during Migration period. In: Tania Dickinson, David Griffiths (Eds.), The making of Kingdoms. Anglo-Saxon Studies in Archaeology and History (Oxford 1999), S. 151–156; Lotte Hedeager, Asgard reconstructed? Gudme – a ‚central place‘ in the North. In: Mayke de Jong, Frans Theuws, Carine van Rhijn (Eds.), Topographies of Power in the Early Middle Ages. The Transformation of the Roman World Vol. 6 (Leiden, Boston, Köln 2001), S. 467–507 mit Lit. S. 571 (Lotte Hedeager); Lotte Hedeager, Migration period Europe: the formation of a political mentality. In: Frans Theuws, Janet L. Nelson (Eds.), Rituals of Power. From Late Antiquity to the Early Middle Ages. The Transformation of the Roman World Vol. 8 (Leiden, Boston, Köln 2000), S. 15–57. Beck, Germanenprobleme (wie Anm. 26) 2. Aufl., S. V.
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Die These von Lotte Hedeager,221 die Entstehung des nordischen Tierstils auch mit dem Einfluss der hunnischen Expansion nach Mitteleuropa zu erklären, indem eine andere geistige Welt ins Kalkül gezogen wurde, hat nur wenig Zustimmung gefunden. Diese Aspekte und methodischen Zugänge kommen durchaus versteckt in den jüngeren Bänden des Reallexikons vor, jedoch ohne dass spezielle Stichwörter aufgenommen wurden, die nun GAO vorbehalten sind. In der mitteleuropäisch-deutschen Archäologie ist diese gesamte Diskussion kaum aufgegriffen worden. Die Tübinger Archäologie versucht, diese Zugänge theoretisch aufzubereiten, anzuwenden und für die mitteleuropäische Archäologie nutzbar zu machen.222 Die innere Widersprüchlichkeit des vielbändigen Reallexikons erklärt sich nicht nur allgemein aus der großen Zahl der Verfasser von Artikeln – und das gilt nicht nur für die Archäologie, sondern für alle beteiligten Disziplinen –, sondern auch durch die lange Laufzeit von rund 40 Jahren. Denn es liegt nahe und kann kaum – ohne starke Reglementierung – verhindert werden, dass einerseits unterschiedliche methodische Ansätze bei jeweils höchst informierten Mitarbeitern zur selben Zeit ins Lexikon einfließen und dass andererseits nach Jahrzehnten auch das übliche eingesetzte Methodenspektrum sich gewandelt hat. Fachkompetenz und Quellenkenntnis hatten Vorrang vor den verschiedenen methodischen Zugängen. Damit ist also sich verschränkend eine beachtliche Methodenvielfalt im Lexikon gebündelt, ohne dass dies auf den ersten Blick sichtbar wird, und erst eine systematische Auswertung könnte das offenlegen, die jedoch bisher kaum eingesetzt hat und nur in einigen Ergänzungsbänden thematisiert werden konnte. Während der Erscheinungszeit des RGA sind – vor allem in den letzten Jahren, auch mit Blick auf den Erinnerungsort Varus-Schlacht 2009223 – 221
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Lotte Hedeager, Scandinavia and the Huns: An Interdisciplinary Approach to the Migration Era. Norwegian Archaeological Review 40, 2007, S. 42–58; dazu die Comments: James Howard-Johnston, Huns in the North. Norwegian Archaeological Review 40/2, 2007, S. 199–202; Frands Herschend, The smell of Huns toppling the old fools of the Roman Iron Age, S. 202–206, Reply Lotte Hedeager, S. 206– 207; auch ein Comment: Ulf Näsman, Scandinavia and the Huns. A source-critical approach to an old question. Fornvännen 103, 2008, S. 111–118. Marlies Heinz, Manfred K. H. Eggert, Ulrich Veit (Hrsg.), Zwischen Erklären und Verstehen. Beiträge zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen archäologischer Interpretation. Tübinger Taschenbücher 2 (Münster u.a. 2003); Ulrich Veit, Tobias L. Kienlin, Christoph Kümmel, Sascha Schmidt (Hrsg.), Spuren und Botschaften: Interpretation materieller Kultur. Tübinger Archäologische Taschenbücher 4 (Münster u.a. 2003); Vgl. Anm. 83; Peter Kehne, Neues, Bekanntes und Überflüssiges zur Varusschlacht
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laufend Bücher über die Germanen veröffentlicht worden, auch zu einzelnen Groß-Stämmen der Zeit nach der sogenannten Völkerwanderung, zum Beispiel in einer Folge von Ausstellungskatalogen, so dass jüngst Herwig Wolfram fragte, warum „immer noch“ ein Germanenbuch geschrieben wird.224 Die Frage nach dem „Wie schreibt man heute [2010 !] ein Germanenbuch?“ wird von ihm in vielfältiger Weise beantwortet, aber dabei fällt auf, dass interdisziplinäres Arbeiten noch immer nicht beherrscht wird. Es fehlt eigentlich die archäologische Perspektive; denn heute reicht es nicht mehr, nur das seinerzeit vor rund 30 Jahren erschienene zweibändige Handbuch „Die Germanen“, herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR, zu zitieren.225 Immerhin enthält das RGA eine Fülle jüngerer Beiträge zu wesentlichen Aspekten „germanischer“ Kulturgeschichte, die bei der Erzählung „germanischer Geschichte“ anscheinend nicht berücksichtigt zu werden brauchen, während vom Autor die, nicht nur die eigenen, Beiträge im RGA zu Problemen der Geschichtswissenschaft durchaus zitiert werden. Es ist hier nicht der Raum, alle Germanen-Bücher durchzumustern, inwieweit sie archäologische Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte berücksichtigen. Nur einige (positive) Beispiele seien erwähnt.226
13 Zukünftige Ziele eines RGA aus der Sicht des Archäologen 13.1 Wie geht es weiter? Diskussionsbeiträge am Ende der Tagung 2008 In der Schlussdiskussion der Tagung im September 2008 „35 Bände Reallexikon: War’s das?“ wurde danach gefragt, wie eigentlich in Sachen eines Reallexikons nun noch weitergearbeitet werden kann und soll. Die Tagungsteilnehmer der unterschiedlichen Disziplinen boten verschiedene Vorschläge an. Methodenvielfalt Es gilt, die in mehreren Jahrzehnten und auch gleichzeitig nebeneinander angewendeten Methoden in den verschiedenen am RGA beteiligten Diszi-
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und zum Kampfplatz Kalkriese. – Literaturbericht mit Anmerkungen zur Machart nicht wissenschaftlicher Sachbücher. Die Kunde Neue Folge 59, 2008 (2009), S. 229–280. Dazu Anhang 5.2. Wolfram (wie Anm. 148), S. 15–43. Wolfram (wie Anm. 148), S. 28 Anm. 72. Anhang 5. Vgl. auch in diesem Beitrag Abschnitt 14.
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plinen herauszuarbeiten und zu benennen. Konstruktivistische, strukturalistische und essentialistische Ansätze stehen nebeneinander: Das hat Auswirkungen im Bereich der Archäologie auf die Interpretation der Befunde, zum Beispiel von „Opferkomplexen“ oder von Formenkreisen (mit dem Thema alternativer Erklärungsmuster gegenüber der bisher üblichen ethnischen Deutung). Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte Die Abhängigkeit der Texte im RGA von den Zeitströmungen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts mit ihren Auswirkungen auf die Interpretation sollten analysiert werden. Die jeweilige politische Gegenwart und das allgemeine Geschichtsbild spiegeln sich schon in der Gewinnung der archäologischen Befunde und nicht erst in ihrer Deutung. Geprüft werden sollte der umgekehrte Weg, die deutlich langsamere Integration neuer Interpretationen der archäologischen Befunde in das allgemeine Geschichtsbild. Hierarchie der Stichwörter Die unterschiedliche Höhenposition, das Niveau, der verschiedenen Stichwörter im hierarchischen System der Fragestellungen sollte thematisiert werden. Zwischen einem archäologischen Fundort, einem komplexen archäologischen Befund und schließlich der übergreifenden Frage zum Beispiel nach Kultbräuchen oder Siedlungsformen wird in den Lemmata bisher kaum unterschieden. Mit Blick auf die chronologische Abfolge der ur- und frühgeschichtlichen Phasen oder Epochen wurden die archäologischen Stichwörter gewissermaßen in einem pyramidenförmigen System nach Anzahl und Gewichtung gewählt. Es gibt nur wenige Bemerkungen zum Mesolithikum, einige Stichwörter mehr zum Neolithikum, dann eine wachsende Zahl von der Bronzezeit zur vorrömischen und römischen Eisenzeit bis zur kanonisch als „germanisch“ bezeichneten Epoche. Das Netzwerk der unterschiedlich „ranghohen“ Stichwörter könnte eine Ergänzung zum Fachregister sein, das in Registerband 1 (2008), S. 167 ff. publiziert ist.
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Interdisziplinäre Zusammenarbeit Trotz der gewünschten Zielsetzung, zu bestimmten Stichwörtern oder Stichwortkomplexen eine inter- oder multidisziplinäre Zusammenschau zu erarbeiten, scheiterte dies einerseits oftmals am engen zeitlichen Rahmen für die Manuskriptvorbereitung. Andererseits ist Multidisziplinarität nur selten tatsächlich von einer Gruppe von Bearbeitern komplexer Stichwörter zu erreichen. Der noch zu erwähnende Befund, dass Historiker bis heute nur randlich archäologische Forschungsergebnisse zu Kenntnis nehmen und verarbeiten (Archäologen aber doch häufiger Ergebnisse der Geschichtsforschung heranziehen), spiegelt die Schwierigkeit der Situation, die bei Berücksichtung philologischer bzw. sprachwissenschaftlicher Ergebnisse noch größer wird. Vielfach haben Rezensionen von interdisziplinär angelegten Tagungsbänden registriert, dass die Ergebnisse der verschiedenen Disziplinen meist unverbunden aneinander gereiht werden. Ebenso häufig wurde konstatiert, dass die vielfach gewünschte interdisziplinäre Arbeitsweise eben nicht durch Addition von Aussagen verschiedener Wissenschaftler zu erreichen ist, sondern doch entscheidend nur im Kopf der einzelnen Forscherin oder des einzelnen Forschers. Wenn man sich eine solche Position zu Eigen macht, darf man sich vor dem Vorwurf des Dilettantismus nicht fürchten, sondern muss durch Nachfragen bei Wissenschaftlern der Nachbardisziplinen seine Kenntnisse vertiefen. Die neuen Ergebnisse bleiben Kompromisse. Wiederum ist dann immer wieder zu registrieren, dass bei der Kenntnis des zeitnahen Standes in der „eigenen“ Wissenschaft dieser Stand im Bereich der Nachbarwissenschaften oft bis zu einer Generation bzw. bis zu rund 30 Jahren zurückhängt. Die Zusammenschau von derartigen interdisziplinär gewonnenen Ergebnissen aus der Perspektive verschiedener Wissenschaften wie sie am RGA beteiligt sind, minimiert aber dieses Problem. Die Indogermanen und das RGA Da im Lexikon neben den „germanisch“ sprechenden Völkerschaften auch Kelten, Slawen und andere Gruppen berücksichtigt wurden, sollte das Indogermanenproblem stärker berücksichtigt werden. Germanische und indogermanische Altertumskunde bzw. Altertumswissenschaften gehören zusammen, da das „Germanische“ gewissermaßen aus dem „Indogermanischen“ hervorgeht. Die Vorbereitung dazu kann in einem Ergänzungsband erfolgen.227 227
Indogermanen im RGA, als Sprachengruppen oder Bevölkerungsgruppen? Rüdiger
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Praktische Durchführung der Weiterarbeit Der Verlag de Gruyter, Berlin – New York, hat sich entschlossen, das RGA und die Ergänzungsbände im „Internet“ mit einem komplexen System der „Verlinkung“ zu veröffentlichen und ständig zu aktualisieren, das heißt publizierte Stichwörter in den Bänden des RGA werden ergänzt, was neue Literatur und methodische Ansätze angeht, und neue Stichwörter werden hinzugefügt; ebenso werden neue Ergänzungsbände ebenfalls in die Datei im Netz aufgenommen. Eine Zusammenfassung der bisher im RGA publizierten Karten, sowie Aktualisierungen dieser Karten werden angedacht,228 außerdem könnten Sonderbände hergestellt werden, die bestimmte Sachgebiete bündeln, zum Beispiel Runologisches oder Numismatisches.
Germanische Altertumswissenschaft Die erneute Diskussion, ob es eine systematische „Germanische“ Altertumskunde bzw. Altertumswissenschaft geben kann, als interdisziplinäres Gespräch, nicht schwerpunktmäßig von der Archäologie betrieben, sondern tatsächlich multidisziplinär, wurde in der Diskussion angeregt und die Gewinnung von Ergebnissen nicht als aussichtslos betrachtet.229
13.2 Ein Vorschlag für die Weiterarbeit aus dem Jahr 2008 In der Endphase der Erscheinungszeit des RGA wurde bei Diskussionen mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, die das Lexikon durch Finanzierung einer Arbeitsstelle für die zentrale Redaktion gefördert hatte, überlegt, ob und wie ein solches Reallexikon weitergeführt werden könnte.230
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Schmitt, Alexander Häusler, Artikel „Indogermanische Altertumskunde“. In: RGA Bd. 15, 2000, S. 384–408; Elmar Seebold, Artikel „Indogermanische Sprache und Sprachfamilien“. In: RGA Bd. 15, 2000, S. 408–413; vgl. Registerband 2, 2008, S. 430 Verweise auf weitere Stichworte und auch zu Indogermanistik. Vergleichbar: Siegmar von Schnurbein (Hrsg.), Atlas der Vorgeschichte. Europa von den ersten Menschen bis Christi Geburt (Stuttgart 2009), 240 Seiten. Dazu hier S. 114 und S. 167 ff. Ein Text von Heiko Steuer (19.8.2008), der in Zusammenarbeit mit den anderen Herausgebern Heinrich Beck und Dieter Geuenich formuliert wurde; spätere nach Diskussion mit dem „Begleitenden Ausschuss“ der Akademie für das RGA erfolgte Ergänzungen sind durch kursive Schreibweise kenntlich gemacht (Archiv des RGA).
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13.3 Archäologische Altertumskunde oder Altertumswissenschaft Nach dem programmatischen Text aus dem Jahr 2008, der von der Göttinger Akademie nicht weiter berücksichtigt wurde, hat der Verlag de Gruyter – wie oben erläutert – die Fortführung des Projektes RGA als GAO im Netz übernommen. Die Vorträge der Abschluss-Tagung 2008 als (Teil-)Bilanz zum RGA werden in diesem Band vorgelegt, einführend die Beiträge der drei Herausgeber, die den Stellenwert der Disziplinen Philologie/Sprachwissenschaft, Geschichte und Archäologie beschreiben als jeweils spezielle Perspektive im Blick auf die „Germanische“ Altertumskunde. Der Begriff im Titel des Reallexikons „Germanisch“ wurde immer wieder thematisiert und relativiert, zuerst schon in den Vorworten des Hoops und des RGA und auch in mehreren Abschnitten in diesem Beitrag. Parallel zum Lexikon wurde einerseits die „Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas“ gegründet.231 Ebenso fanden regelmäßig Diskussionen statt, was eigentlich Altertumskunde bzw. Altertumswissenschaft sei und wie Ergebnisse erreicht werden können, die interdisziplinär erarbeitet werden. Herbert Jankuhn formulierte im Stichwort „Altertumskunde“ im RGA:232 Mit der Abkehr von allein philologisch umschreibbaren Sprachräumen und der stärkeren Hinwendung zur Erforschung allgemein menschlicher Verhaltensweisen ist nicht nur die strenge Begrenzung der Altertumskunde auf ethnische Einheiten problematisch und die stärkere Zugrundlegung größerer, einzelne Ethnika übergreifender Kulturräume notwendig geworden, sondern haben auch Volkskunde und Völkerkunde, insbesondere die Religionsethnologie und die Ethnosoziologie an Bedeutung für die Entwicklung von Modellvorstellungen gewonnen. Beide Disziplinen haben, wie neuerdings auch die Geschichte, stärkere Impulse von der Soziologie erfahren.
Aber Reinhard Wenskus schrieb 1975 im ersten Band über das erste Kolloquium der Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas:233 231 232
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Vgl. bei Anm. 74. Herbert Jankuhn, Artikel „Altertumskunde“. In: RGA Bd. 1, 2. Lfg. 1970, S. 214, insgesamt S. 213–214. Der Artikel „Indogermanische Altertumskunde. I. Sprachliches“, RGA 15, 2000, S. 384–402 (Rüdiger Schmitt), II. Archäologisches, S. 402– 408 (Alexander Häusler) ist also wesentlich umfangreicher, bietet aber weniger theoretische Überlegungen, dafür mehr Fakten; vgl. dazu den Beitrag von Heinrich Beck in diesem Band, S. 23–104 in diesem Band. Reinhard Wenskus, Herbert Jankuhn, Klaus Grinda (Hrsg.), Wort und Begriff „Bauer“. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist.
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Die Herausgeber der 2. Auflage des Reallexikons der Germanischen Altertumskunde von J. Hoops sahen vor, bei jedem Stichwort, das dafür in Frage kam, alle betroffenen Disziplinen zu Wort kommen zu lassen, ohne dabei den Versuch zu machen, die vom Standpunkt der Einzelwissenschaften her gewonnenen und einander vielfach widersprechenden Aussagen zu harmonisieren. Aus diesem Ansatz heraus ergaben sich eine Fülle bisher nicht bemerkter Fragestellungen und Lücken im Wissensstand der Einzeldisziplinen, deren Diskussion bei den Redaktionsbesprechungen immer wieder überraschende Perspektiven eröffnete.
Heinrich Beck erläuterte bei der Drucklegung des letzten KolloquiumBandes der Kommission 1997 über die Gründung der „Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas“ in der Akademie-Sitzung vom 25. November 1971, zu deren erstem Vorsitzenden Herbert Jankuhn und zweitem Vorsitzenden Reinhard Wenskus gewählt wurden: Im Zeitraum von 20 Jahren und 35 Arbeitstagungen (1971 bis 1991) behandelte die Kommission acht Themenkomplexe, die in 17 Bänden veröffentlicht wurden (bis 1997). Heinrich Beck sagte im Vorwort: „Die Chancen und Grenzen des Gesprächs über die Fachgrenzen hinweg haben die Teilnehmer auszuloten versucht.“234 Die Kommission regte auch 1983 eine Tagung „Germanenprobleme in heutiger Sicht“ bei der Werner Reimers-Stiftung in Bad Homburg vor der Höhe an, deren Ergebnisse als Band 1 der neuen Reihe der Ergänzungsbände zum Reallexikon herausgegeben wurden, der in zwei Auflagen erschienen ist, 1986 und 1998.235 Heinrich Beck konstatierte 1986 in der 1. Auflage: Es war die Absicht, die verschiedenen an der Erforschung des Germanischen beteiligten Disziplinen zu einem Gespräch zusammenzuführen, um die Ergebnisse und Denkweisen der jeweiligen Nachbarwissenschaften mit ihren je eigenen Germanenbegriffen besser kennen und verstehen zu lernen. Die Veranstalter waren sich darin einig, daß die Germanenforschung nicht nur ein Quellenpro-
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Kl. Dritte Folge Nr. 89 (Göttingen 1975), S. 7; ein erster Band „Vorgeschichtliche Heiligtümer und Opferplätze in Mittel- und Nordeuropa“. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Kl. Dritte Folge Nr. 74 (Göttingen 1970) über ein Kolloquium im Jahr 1968 erschien gewissermaßen parallel zur Gründung der Akademie-Kommission. Beck, Haus und Hof, Vorwort (wie Anm. 74), S. 5 f. Beck (Hrsg.), Germanenprobleme (wie Anm. 26), darin der programmatische Aufsatz von Reinhard Wenskus, Über die Möglichkeit eines allgemeinen interdisziplinären Germanenbegriffs, S. 1–21, mit Hinweis auf einen Aufsatz von Rolf Hachmann, Der Begriff des Germanischen. Jahrbuch für internationale Germanistik 7/1, 1977.
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blem darstellt. Wie jede wissenschaftliche Tätigkeit bedarf auch sie der hermeneutischen Reflexion.236
1998 in der 2. Auflage meint Heinrich Beck: Geblieben sind aber doch [trotz aller neuen Forschungsergebnisse] … wesentliche Fragen der damaligen Publikation. Nach wie vor stellt sich das Problem einer germanischen Altertumskunde als einer Wissenschaft, die es vermöchte, die Einzeldisziplinen auf ein Niveau zu heben, das den Fächer-Absolutismus mit seinem Nebeneinander und Gegeneinander nicht nur verstehbar, sondern auch integrierbar erscheinen ließe.
Und: Aus der Erkenntnis heraus, daß wir nicht unmittelbar zu den Quellen sind, erwächst vielmehr die Aufgabe, den Voraussetzungen und Bedingtheiten der heutigen Germanensicht nachzuspüren.237
Unter anderem war das Anlass zur interdisziplinären Tagung 2004 in Freiburg „Zur Geschichte der Gleichung ‚germanisch-deutsch‘“.238 Im Grußwort zum 1968 in Göttingen veranstalteten interdisziplinären Symposium über „Heiligtümer und Opferplätze“, einem ersten Tagungsband, der 1970 parallel zur 2. Lieferung des RGA und noch nicht in der Reihe der Ergänzungsbände erschienen ist, sagte Hans Naumann über die kleine intensive Fachtagung: Hierdurch wird gewissermaßen das disziplinarnachbarliche Zusammenwirken, das zum Wesen der Akademie gehört, auf einen größeren Radius gebracht und in bestimmten Zentren des zwischenfachlichen Gedankenaustausches zusammengefaßt: mit Beschränkung auf Teilprobleme, aber in deren intensiver Diskussion durch Gelehrte verschiedener Fachrichtungen: hier sind es Vor- und Frühgeschichte, Nordistik, Germanistik, Religionsgeschichte, Vergleichende Sprachwissenschaft, Volkskunde, Völkerkunde, Kirchengeschichte und Allgemeine Religionswissenschaft – wobei die Reihenfolge keine Rangfolge bedeuten soll.239 236 237 238
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Beck, Germanenprobleme(wie Anm. 26) 1. Aufl., Vorwort, S. V. Beck, Germanenprobleme (wie Anm. 26) 2. Aufl., (neues) Vorwort, S. V. Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer und Dietrich Hakelberg (Hrsg.), Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 34 (Berlin, New York 2004). Hans Naumann, in: Herbert Jankuhn (Hrsg.), Vorgeschichtliche Heiligtümer und Opferplätze in Mittel- und Nordeuropa. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Dritte Folge Nr. 74 (Göttingen 1970), S. 5.
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Das Thema bezog sich schon, wie später die Kommission, auf Mittel- und Nordeuropa. Rüdiger Schmitt fasste 2000 im RGA-Stichwort „Indogermanische Altertumskunde. I. Sprachliches“ zusammen: Die Indogermanische Altertumskunde widmet sich… der Erforschung der Altertümer der Indogermanen, d[as] h[eißt] der materiellen und immateriellen (geistigen) Kultur der Sprechergemeinschaft der (rekonstruieren) indogermanischen Grundsprache.240
Es geht hier um den Begriff der Altertumskunde und was damit beschrieben bzw. wissenschaftlich erschlossen werden soll. Im Fall der Altertumskunde und der Indogermanischen Altertumskunde, wie im RGA erläutert, geht es nicht nur um sprachliche oder archäologische Quellen, sondern um eine interdisziplinäre Zusammenschau der Ergebnisse aus verschiedenen Wissenschaften, deren Quellen Aussagen erlauben. Es geht nicht mehr nur um antiquarisches Sammeln von Altertümern und der Registrierung von Geländeund Ausgrabungsbefunden oder um philologische bzw. etymologische Erörterungen von Sprachresten, sondern um die bewusste und gewollte Zusammenfassung, um die Verknüpfung von Ergebnissen verschiedener Wissenschaften, wie komplex das auch sein mag – wie oben erörtert. Die Arbeit der Göttinger Akademie-Kommission „Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas“ als Begleitung zum RGA hatte sich dies zum Ziel gesetzt, um Ergebnisse für die Artikel im Lexikon fruchtbar zu machen. Mit der geographischen Bezeichnung „Mittel- und Nordeuropa“ wurde das Problem, was als Germanen zu bezeichnen ist und wo diese gesiedelt haben, überwunden, indem es zentral um den Raum und nicht um ethnische Gruppierungen im Einzelnen ging, von denen während der Epoche vor und nach Christi Geburt verschiedene Einheiten in diesem Raum gelebt haben. Anders war es mit dem Begriff „Altertumskunde“, der einerseits altertümlich wirkt und andererseits auch eine bestimmte Art des Zugriffs und der Deutung von Quellen bedeutet hat. Deshalb wird eigentlich inzwischen der Begriff „Altertumswissenschaft“ bevorzugt, der für das Lexikon jedoch nicht übernommen werden konnte und es somit auch im Zeitalter des „Internet“ weiterhin bei RGA/GAO (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde / Germanische Altertumskunde online) bleibt. „Altertumswissenschaft“ zielt schon von der Geschichte des Begriffs her auf Interdisziplinarität, weil nur auf diesem Weg neue Ergebnisse zur Rekonstruktion vergangener Sachverhalte, wenn auch nur in Annäherung, gewonnen werden können. 240
Schmitt, Indogermanischen Altertumskunde (wie Anm. 232), S. 384.
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(Es ist allgemein akzeptiert, dass sich in den Forschungsergebnissen weitgehend auch die Vorstellungen von den gegenwärtigen Verhältnissen spiegeln, weshalb – wie oben erläutert – zum Verständnis alter Epochen die Kenntnis der Zeitgebundenheit der Forschungsansätze gehört.) Für die Archäologie des Mittelalters habe ich diesen Weg der multidisziplinären Erforschung und der interdisziplinären Synthese als Mittelalterkunde am Beispiel der Mittelalterarchäologie, hier exemplifiziert am Phänomen Stadt, zu begründen versucht (Abb. 3).241 Ich habe mich aber auch damals nicht von dem Begriff der „Kunde“ gelöst, obgleich ich eine neue Art des wissenschaftlichen Zugangs propagiert hatte und daher von „Mittelalterwissenschaft“ sprechen sollte, wie das Patrick Geary fordert, „eine neue Mittelalterwissenschaft für eine neue Gesellschaft zu begründen“.242 Im Kopf nur des einzelnen Wissenschaftlers erfolgt diese interdisziplinäre Zusammenschau.243 Interdisziplinarität muß vielmehr im eigenen Kopf stattfinden. Ein Mediävist, ein Archäologe und ein Wirtschaftshistoriker können tagelang an demselben Tisch sitzen, ohne daß etwas passiert,
sagt auch Helmut Hundsbichler:244 Daß nicht das vielgepriesene Teamwork, sondern zuallererst einmal die ‚personale‘ Interdisziplinarität das Ideal abgeben sollte: das möglichst weitgehende
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Heiko Steuer, Entstehung und Entwicklung der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit in Mitteleuropa – auf dem Weg zu einer eigenständigen Mittelalterkunde. Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 25/26, 1997/98, S. 19–38 mit der Abb. 4 auf S. 35; aufgegriffen von Eggert, Archäologie: Grundzüge (wie Anm. 166), S. 183 ff. mit der Abb. 10.2 und 10.3, der jedoch mein Schaubild halbiert und damit anscheinend nicht ganz richtig verstanden hat. Steuer, Entstehung (wie Anm. 241), S. 38. Dazu Arnold Esch, in: Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung am Ende des 20. Jahrhunderts. Mit Beiträgen von Arnold Esch, Johannes Fried und Patrick J. Geary. Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft Bd. 2 (Göttingen 1996), S. 17. Helmut Hundsbichler, Perspektiven für die Archäologie des Mittelalters im Rahmen einer Alltagsgeschichte des Mittelalters. In: Jörg Tauber (Hrsg.), Methoden und Perspektiven der Archäologie des Mittelalters. Tagungsbericht zum Internationalen Kolloquium 1989 in Liestal. Archäologie und Museum Heft 20 (Liestal 1991), S. 85–99, hier S. 87 und S. 94; Helmut Hundsbichler, Sachen und Menschen, Alltag und Geschichte. Faust und die Erkenntnis der Realität. In: Realienforschung und Historische Quellen. Ein Symposium 1995. Archäologische Mitteilungen aus Nordwestdeutschland Beiheft 15 (Oldenburg 1996), S. 11–28, hier S. 20 f.
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Die Stadt im Mittelalter Kunstgeschichte
Archäologie*
Geschichte
Bildquellen Pläne Ansichten
Ausgrabungen Funde Befunde
RechtsPolitische Erzählende Quellen
Geschichte
Archäologie*
Kunstgeschichte
Fragestellung
Ausgrabung
Vorberichte Monographien
Zusammenschau
Mittelalterkunde
Synthesen
Die einzelne
Stadt
Bauliche Hülle Multidisziplinär
im allgemeinen
Lebensweise Interdisziplinär
* mit allen naturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen
Abb. 3: Schematische Darstellung der multidisziplinären Erforschung einerseits und der interdisziplinären Synthese als Mittelalterkunde andererseits am Beispiel der Stadt im Mittelalter. (= quellen- und fächerübergreifende) Wissen, Können und Verstehen des Einzelwissenschaftlers als unerlässliche Basis für effektives Teamwork.
Die Perspektive der Archäologie im Reallexikon und darüber hinaus sollte also auf eine „Altertumswissenschaft“ ausgerichtet sein. Schon August Pauly begründete „Pauly’s Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft“ (1837 ff.) als interdisziplinäre Altertumswissenschaft, wollte das jedenfalls so aufgefasst wissen.245
245
Es ging dann weiter: Georg Wissowa u.a. (Hrsg.), Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft / Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaften (dieser Plural erscheint nur im Abkürzungsverzeichnis im RGA Bd. 1, 1973, S. XXXIII; nicht mehr dann im Abkürzungsverzeichnis in Bd. 11, 1998,
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14 Das Echo des RGA und der Ergänzungsbände in den jüngeren Abhandlungen zu den Germanen Es wäre sicherlich lohnend, systematisch zu überprüfen, wie das RGA von den verschiedenen Wissenschaften zu Rate gezogen wurde und wird. Doch ist das ebenso eine Forschungsaufgabe für die Zukunft, wie die Geschichte des RGA selbst. Dabei wird es aufschlussreich sein, welche Wissenschaft jeweils welche Stichwörter und Ergänzungsbände zitiert und damit berücksichtigt hat. Hier mag ein Blick in einige der jüngeren Publikationen genügen. Erwähnt wurde schon, dass im Aufsatz aus dem Jahr 2010 des Historikers Herwig Wolfram,246 der selbst am RGA mitgewirkt hat, „Wie schreibt man heute ein Germanenbuch?“ eigentlich für die Archäologie nur das zweibändige Werk „Die Germanen“ (1983) zitiert wird und das RGA-Stichwort zur Jastorf-Kultur. Immerhin werden in etwas mehr als 160 Anmerkungen rund 25 RGA-Stichwörter und drei Ergänzungsbände zitiert, die mehrheitlich historisch oder philologisch ausgerichtet sind. Im Studienbuch des Historikers Frank M. Ausbüttel, Die Germanen, von 2010247 bietet das Literaturverzeichnis einen guten Überblick. Der Zeitrahmen reicht von den Anfängen bis zu den Reichsbildungen der verschiedenen Stämme. Zitiert werden ebenfalls als archäologisches Standardwerk das Handbuch „Die Germanen“, die Kataloge zu den Ausstellungen im VarusJahr 2009, zahlreiche neue archäologische Literatur, und das 35bändige RGA mit den Ergänzungsbänden wird als unentbehrliches Hilfsmittel aufgeführt; außerdem werden immerhin neun weitere Ergänzungsbände (Nr. 5, 20, 28, 41, 45, 55, 57, 60, 62) direkt genannt, dabei auch archäologische Werke, – insgesamt ein guter Überblick über die historische und archäologische neuere Literatur auf viereinhalb Seiten mit etwa 115 Titeln. Das Buch „Die Germanen“ des Althistorikers Bruno Bleckmann aus dem Jahr 2009248, das von den Anfängen bis zur Wikingerzeit reicht, bringt im Anhang umfangreiche bibliographische Hinweise auf über zwölf Seiten, Quellen und Literatur, insgesamt rund 200 Titel, dabei zahlreiche archäolo-
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15*). Dann folgte die Neuausgabe seit 1893 von „Pauly’s Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft“; während „Der neue Pauly“ (seit 1996) „Enzyklopädie der Antike“ heißt. Zuvor gab es noch das dtv-Lexikon „Der Kleine Pauly – Lexikon der Antike“(seit 1975/1979). Wolfram, Wie schreibt man (wie Anm. 148). Frank M. Ausbüttel, Die Germanen. Geschichte Kompakt (Darmstadt 2010). Bruno Bleckmann, Die Germanen von Ariovist bis zu den Wikingern (München 2009).
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gische Titel, darunter auch das zweibändige Handbuch „Die Germanen“ von 1983. Speziell genannt wird auch das RGA mit den nützlichen Registerbänden249 und dem Hinweis: „viele Artikel…haben die Dimensionen historischer Monographien“. Genannt werden auch Bände zu Tagungen der „Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas“. Die vier aufgeführten Titel von Ergänzungsbänden (Nr. 1, 19, 53, 55) werden nicht als solche zitiert. Das einzige direkt zitiert RGA-Stichwort bezieht sich auf den „Zähringer Burgberg“ bei Freiburg. Der Archäologe Ernst Künzl begnügt sich in seinem Buch „Die Germanen“ von 2006250 auf vier Literaturseiten mit guten, wenn auch manchmal etwas willkürlich ausgewählten Literaturangaben aus dem Bereich Archäologie, nennt den ersten Ergänzungsband „Germanenprobleme in heutiger Sicht“ (1986), das kompakte Stichwort „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“ und bringt dann einfach die Notiz: Zu den Stammesnamen findet man die wesentlichen Hinweise in den großen Lexika wie dem RGA. Sein großformatiges Buch „Die Germanen. Geheimnisvolle Völker aus dem Norden“251 von 2008 bringt nicht nur in den Abbildungen verschiedene Perspektiven auf das Leben der Germanen. Das Literaturverzeichnis bietet einen größeren Teil der Publikationen zu den Germanen, die hier im Anhang aufgeführt werden, mit dem Hinweis auf den von Heinrich Beck herausgegebenen Band „Germanenprobleme in heutiger Sicht“ (1986), auch das RGA wird genannt, außerdem finden sich einige Ergänzungsbände im der Liste (Bd. 1, 5, 15, 19, 20, 38, 42). Rudolf Simek, der selbst am RGA mitgearbeitet und auch einen Ergänzungsband (Bd. 4) geschrieben hat, hat zwei Germanen-Bücher verfasst, 2004 „Götter und Kulte der Germanen“ in der Reihe Beck-Wissen252, die Spannweite reicht von der Frühzeit bis zur Epoche der Wikinger, und 2006 „Die Germanen“ als Reclam-Bändchen,253 das ebenfalls den Bogen von der vorrömischen Eisenzeit bis zur Wikingerzeit spannt. Zur germanischen Reli249
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Der Hinweis, dass die Bände 35 bis 38 Nachträge und Register bringen, ist deshalb nicht korrekt, weil es zum einen 35 Bände und 2 Register, also 37 Bände insgesamt sind, und dass Band 35 nur deshalb scheinbar Nachträge bringt, weil Stichworte zuvor gestrichen werden sollten und von den Herausgebern und Autoren trotzdem geschrieben wurden. So enden die beiden Bände 34 (Wielbark Kultur – Zwölften) und 35 (Speckstein – Zwiebel / Nachträge und Ergänzungen) mit dem Buchstaben Z: seit Band 29 (Speckstein) wird auf Bd. 35 verwiesen. Ernst Künzl, Die Germanen. Theiss Wissen Kompakt (Stuttgart 2006). Ernst Künzl, Die Germanen. Geheimnisvolle Völker aus dem Norden (Stuttgart 2008): Der unpassende Untertitel steht nur auf dem Schutzumschlag. Rudolf Simek, Götter und Kulte der Germanen (München 2004). Rudolf Simek, Die Germanen (Stuttgart 2006); 2. überarbeitete Aufl. 2011.
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gion und Mythologie hat Simek mehrere Bücher vorgelegt, in diesem Buch „Götter und Kulte“ führt er einige Stichwörter aus dem RGA an, außerdem einen Band von den Tagungen der „Kommission für die Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas“ („Vorgeschichtliche Heiligtümer und Opferplätze“ mit mehreren Aufsätzen) und auch den Band 5 der Ergänzungsbände zum RGA „Germanische Religionsgeschichte“, aus dem mehrere Beiträge zitiert werden. Von den großen Kriegsbeuteopfern wird Illerup beschrieben, von den auffälligen Bestattungen das Königsgrab von Mušov, also eine knappe Auswahl, ohne jedoch die einschlägige Literatur zu nennen. Im Reclam-Bändchen „Die Germanen“ ist die Übersicht nicht so leicht zu gewinnen, da „Spezialuntersuchungen“ nur in den Anmerkungen, nicht im Literaturverzeichnis aufgeführt werden. Im knappen vierseitigen Literaturverzeichnis werden das RGA, einzelne Stichwörter (mehrere noch in knapp 20 Anmerkungen) und das Studienbuch „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“ aufgeführt, außerdem einige Ergänzungsbände (Bd. 1, 4 [in einer Anmerkung], 23, 43, 45). Im Text werden einige der Kriegsbeuteopfer beschrieben (Ejsbøl, Illerup, Nydam, Skedemosse, Thorsberg, Vimose), doch nur zum Teil dazu die Stichwörter im RGA angegeben. Insgesamt hat dieses Buch von Simek am meisten von den genannten Publikationen das RGA benutzt. Der einzige Althistoriker, der von der Arminiusschlacht spricht, Michael Sommer, hat in seinem Buch aus dem Jahr 2009 mit 190 Seiten immerhin ein Literaturverzeichnis von über zehn Seiten mit geschätzt mehr als 170 Titeln.254 Er nennt naturgemäß zahlreiche archäologische Literatur, aber nur zwei Beiträge aus einem Ergänzungsband (Bd. 34 Zur Geschichte der Gleichung ‚germanisch-deutsch‘) und kein Stichwort aus dem RGA. Vielmehr sieht es so aus, als ob er regelmäßig die Primärliteratur auswertet und eben meint, Lexikonartikel bringen nur Zusammenfassungen anderer Veröffentlichungen; auch im Abkürzungsverzeichnis erscheint das RGA nicht. In seinem mehrfach in Rezensionen gelobten Buch aus dem Jahr 2002 „Die Geschichte der Germanen“ hat Arnulf Krause, Germanist, auf archäologische Quellen verzichtet, entwirft also kein Bild vom realen „Leben“ der Germanen von den Kimbern und Teutonen bis zu den Wikingern.255 Eigentlich nur zur Illustration verwendet er jedoch auch archäologische Sachgüter, nennt in einem Anhang die Museen und im zweiseitigen Literaturverzeichnis auch Ausstellungskataloge sowie nicht wenige Publikationen aus archäologischer Sicht. Das RGA und außerdem die Beiträge zu „Germanenproblemen in heutiger Sicht“ werden genannt. 254
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Michael Sommer, Die Arminiusschlacht. Spurensuche im Teutoburger Wald (Stuttgart 2009). Arnulf Krause, Die Geschichte der Germanen (Frankfurt, New York 2002).
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Die nachhaltige Wirkung des RGA und der Ergänzungsbände ist dadurch eingeschränkt, dass nur ein begrenzter Kreis von Bibliotheken und Privatpersonen Zugriff auf das Lexikon hat, dass aber auch ein Lexikon wie das RGA oft – trotz der monographischen Artikel – seltener zitiert, aber häufiger in ihm nachgeschlagen wird. Es ist zu hoffen, dass mit der GAO im Internet sich die Benutzung des Lexikons steigert.
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 177–195 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
Das Fachgebiet Geschichte im RGA Dieter Geuenich
1 Die Voraussetzungen Die Betreuung des Fachgebiets Geschichte und damit auch die Organisation und Konzeption der die Geschichte betreffenden Artikel im RGA verlief wechselhafter und weniger kontinuierlich als die Konzeption und Erarbeitung der philologischen und archäologischen Artikel oder Teilartikel. Denn das Fachgebiet „Philologie“ wurde über alle 35 Bände hinweg von Heinrich Beck als verantwortlichem Herausgeber betreut,1 und auch für das Fachgebiet „Archäologie“ war vom ersten Band ab eine gewisse Kontinuität durch Heiko Steuer gegeben, der zwar erst mit Bd. 8 (1994) offiziell als „Herausgeber“ seinen 1990 verstorbenen Lehrer Herbert Jankuhn ablöste; aber bereits seit 1968, also von Beginn des Unternehmens an, gehörte er zu „denjenigen, die die Last der Redaktion trugen“;2 er schrieb auch schon im ersten Band eigene Artikel.3 Ganz anders stellt sich die Situation im Fachgebiet Geschichte dar: Zwar lag die Verantwortung während der letzten 23 Bände – und damit für immerhin zwei Drittel des RGA – beim Verfasser, der aber erst vor neun Jahren, als das Lexikon bereits eine mehr als 30jährige Geschichte und Entwicklung hinter sich hatte, in das Herausgeber-Team eingetreten ist. Zuvor, während der ersten 30 Jahre des Lexikons, hat die Person des verantwortlichen Historikers im Herausgebergremium des Öfteren gewechselt: Im ersten Band musste bereits des 1970 verstorbenen „Hauptherausgebers“, des Historikers
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Heinrich Beck ist für alle Bände – seit Bd. 1 (1973) – als Herausgeber aufgeführt, und er hat auch als einer der vier Herausgeber das „Vorwort zur 2. Auflage“ vom Dezember 1972 unterzeichnet: RGA 1, 1973, S. XII. In diesem ersten Band stammen bereits 31 Artikel aus seiner Feder. RGA 1 (1973), S. XII. Im RGA 1 (1973) die Artikel „Alemannen“ (S. 142–163) und „Axt“ (S. 549–559).
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Dieter Geuenich
Percy Ernst Schramm, gedacht werden;4 ihm folgte von Bd. 1 bis Bd. 7 Reinhard Wenskus als Verantwortlicher für den Bereich Geschichte – neben Kurt Ranke, der insbesondere den damals noch getrennten Bereich Volkskunde betreute; für die Bände 8 und 9 zeichneten als historische Herausgeber Reinhard Wenskus und Dieter Timpe gemeinsam, bevor Timpe dann für die Bände 10 bis 12 allein für den Bereich Geschichte zuständig war und mit Bd. 13 – nach nur fünfjähriger Tätigkeit als Herausgeber – wieder ausschied. Inmitten der Arbeiten am Buchstaben G- (mit dem umfang- und inhaltreichen Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“5) trat der Verfasser dem Herausgebergremium bei. Das aus nahezu 100 Positionen bestehende so genannte „Fachregister“,6 das die Zuständigkeit der Herausgeber für einzelne Teilgebiete wie Wirtschaft, Gesellschaft, Staat, Rechtswesen, Religion und so weiter regelte und dementsprechend die Verantwortlichkeit für die darunter subsumierten Artikel festlegte, hatte sich zum Zeitpunkt des Eintritts des Verfassers bereits mehr oder weniger bewährt und wurde bei den Arbeitssitzungen, in denen die Artikel im Herausgebergremium besprochen und vergeben wurden, stets zugrunde gelegt. Die mehr als 5.000 Stichwörter waren – jedes einem Paragraphen im Fachregister und damit einem oder mehreren der drei Herausgeber zugeordnet – in einem gedruckt vorliegenden Verzeichnis von A- bis Z- festgelegt und konnten prinzipiell nicht mehr verändert werden.7 Denn gegen Eingriffe in die Struktur und gegen nachträgliche Veränderungen oder Neuaufnahmen von Stichwörtern sprachen zwei gewichtige Gründe: 1. Die ersten 12 Bände mit den Buchstaben A- bis G- lagen bereits gedruckt vor, so dass die Einheitlichkeit und Systematik des Lexikons durch nachträgliche Änderungen gefährdet gewesen wäre. So verbot es sich etwa – um dies an einem Beispiel deutlich zu machen –, die drei Alemannen in römischen Diensten Agilo, Latinus und Scudilo8 4
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Seines Todes am 12. November 1970 wird im „Vorwort zur 2. Auflage“ in RGA 1 (1973), S. XII) gedacht. RGA 11 (1998), S. 181–438. Das Fachregister ist – mit einem vorangestellten Inhaltverzeichnis – im RGARegisterband 1 (2008), S. 167–436 wiedergegeben. Die 5.124 Stichwörter (und 1.720 Verweisstichwörter) sind im RGA-Registerband 1, 2008, S. 57–164 aufgelistet. Sogenannte „Komplex-Stichwörter“ wurden von mehreren Autoren bearbeitet, so dass sich die Zahl der (Teil-)Artikel auf 6.710 erhöht, die von 1.443 Autorinnen und Autoren (s. das Verzeichnis S. 1–55) geschrieben worden sind. Zu diesen drei Alemannen des 4. Jahrhunderts vgl. Dieter Geuenich, Germanen
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nachträglich aufzunehmen, weil nur noch die beiden letzteren, nicht aber der Alemanne Agilo (unter dem Buchstaben A-) noch hätte Berücksichtigung finden können. Der Alemannenkönig Chrocus konnte zumindest als „Krokus“ mit K- noch behandelt werden9 – ein „Taschenspielertrick“, der in der Geschichte des RGA mehrfach helfen musste, um in früheren Bänden nicht behandelte Stichwörter in späteren Bänden noch unterzubringen. Das besonders schmerzlich empfundene Fehlen des Stichworts „Ethnogenese“, das in den 80er Jahren noch nicht aktuell und vom damals zuständigen Herausgeber Reinhard Wenskus dementsprechend nicht vorgesehen worden war, konnte nachträglich noch kompensiert werden, indem es inhaltlich unter S- – unter dem Lemma „Stammesbildung, Ethnogenese“ – Berücksichtigung gefunden hat.10 2. Die „Leitungskommission“ der Akademie achtete peinlich genau darauf, dass keine neuen Stichwörter aufgenommen wurden, selbst wenn triftige inhaltliche Gründe vorlagen. So wurde beispielsweise die Aufnahme der Stichwörter „Werner, Joachim“ (gestorben 9.1.1994) und „Wenskus, Reinhard“ (gestorben 6.7.2002) von der Leitungskommission der Akademie schriftlich untersagt, obwohl Herbert Jankuhn, Rudolf Much, Kurt Ranke und viele andere, auch weniger um die Germanische Altertumskunde verdiente Persönlichkeiten, im Lexikon entsprechend gewürdigt worden sind. Dass schließlich dennoch ein „Wenskus“- und ein „Werner“-Artikel erschienen sind,11 gehört zu den unerlaubten „Eigenmächtigkeiten“ der Herausgeber, die schließlich – dankenswerterweise mit Zustimmung des Verlages – auch zum „illegal“ erschienenen Bd. 35 geführt haben.
2 Die Zusammenarbeit mit Fachberatern Der Wechsel in der Person des für das Fachgebiet Geschichte verantwortlichen Herausgebers spiegelt sich auch in der Auswahl der „Fachberater“12
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oder (Wahl-)Römer. Karrieren germanischer Offiziere ab dem 4. Jahrhundert n. Chr. In: 2000 Jahre Varusschlacht. Konflikt (Stuttgart 2009), S. 253–257 und S. 415 f. Hermann Reichert, Helmut Castritius, Artikel „Krokus“. In: RGA 17 (2001), S. 387–389. Helmut Castritius, Artikel „Stammesbildung, Ethnogenese“. In: RGA 29 (2005), S. 508–515, mit Hinweis auf den „Paradigmenwechsel durch Reinhard Wenskus“ (S. 509–511). Heinrich Beck, Artikel „Wenskus, Reinhard“. In: RGA 33 (2006), S. 454–457; Volker Bierbrauer, Artikel „Werner, Joachim“. In RGA 33 (2006), S. 473–485. Die „Fachberater“ sind jeweils auf den Titelseiten der einzelnen Bände in alphabeti-
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wieder, die ihm bei der Suche nach kompetenten Autoren oder auch selbst beim Schreiben von Artikeln zur Seite standen. In den ersten Bänden, für die Reinhard Wenskus als Herausgeber im Fachgebiet Geschichte fungierte, standen ihm die Althistoriker Horst Callies und Harald von Petrikovits, der Mittelalterhistoriker Heinz Löwe, der Rechtshistoriker Hermann Nehlsen sowie für den Bereich Skandinavien Karl Wührer und für die angelsächsische Geschichte Henry Royston Loyn als Fachberater zur Seite. Mit dem Übergang von Reinhard Wenskus zu Dieter Timpe ging die Zahl der historischen Fachberater auf zwei zurück: im Bereich der Rechtsgeschichte stützte sich Timpe auf Karl Kroeschell, im Bereich der Geschichte des Mittelalters auf Herwig Wolfram. Eine Folge dieses Verzichts auf weitere Fachberater dürfte es gewesen sein, dass bis zum Erscheinen des ersten Bandes (RGA 8, 1994), für den Timpe als Mitherausgeber verantwortlich zeichnete, fünf Jahre vergingen. In den acht Jahren – von 1990 bis 1997 – sind nur zwei Bände (Bd. 8, 1994 und Bd. 9, 1995) erschienen. Nach dem Eintritt des Verfassers in das Herausgeber-Trio konnte mit Zustimmung der beiden Kollegen und des Verlags, der die entsprechenden Verträge abschloss, der Kreis der Fachberater auch im Bereich der Geschichte um zehn auf unterschiedliche Bereiche spezialisierte Historiker erweitert werden, die bei der Auswahl von qualifizierten Autoren und auch durch eigene Artikel tatkräftig Unterstützung gewährten. Dies hat zweifellos maßgeblich zur Beschleunigung der Erscheinungsweise des Lexikons auf bis zu drei Bände pro Jahr und letztlich auch zu dessen Fertigstellung im Jahre 2007 beigetragen. Fortan waren auch für den Bereich Geschichte – wie zuvor schon für die beiden anderen Fachgebiete – bis zu zwölf „Spezialisten“ beratend und vermittelnd tätig, die hier ausdrücklich dankend hervorgehoben werden sollen: – Im Fachgebiet „Rechtsgeschichte“: Nach Karl Kroeschell, der 1999 ausschied, waren von 1998 ab Ruth Schmidt-Wiegand und Dieter Strauch13 sowie ab 2000 zusätzlich noch Andreas Roth und Christoph Saar als rechtshistorische Fachberater tätig. Dies ist der Qualität des Lexikons im Bereich der Rechtsgeschichte, zu dem jeder von ihnen rund 20 Artikel selbst beisteuerte, zweifellos zugute gekommen.14
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scher Reihenfolge aufgeführt. Ihre Zahl schwankte zwischen 19 in RGA 1–2 (1973–1976) und 38 in RGA 27–34 (2003–2007). Dieter Strauch sprach auf dem Abschlusskolloquium am 12. September 2008 über „Das skandinavische Recht“. Vgl. auch Anm. 19. Vgl. insbesondere die „Leges“-Artikel in RGA 18 (2001), S. 195–216), sowie „Lex“… in RGA 18 (2001) S. 305–337), und „Recht“- in RGA 24 (2003), S. 209– 295).
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– Im Bereich der „Alten Geschichte“ konnten vom Jahr 2000 ab Thomas Grünewald (bis 2003), Helmut Castritius und Reinhard Wolters als Fachberater gewonnen werden. Mit ihnen wurde in zahlreichen Redaktionssitzungen in Frankfurt, Darmstadt und Tübingen über die Vergabe anstehender Artikel an kompetente Autorinnen und Autoren diskutiert und einvernehmlich entschieden. Reinhard Wolters war dann später nach dem Ausscheiden von Peter Berghaus auch als Fachberater für das der Archäologie zugewiesene Gebiet der Numismatik tätig.15 – Für den skandinavischen Bereich waren Birgit und Peter Sawyer beratend tätig, für das Gebiet der Slawen Christian Lübke16 und für den angelsächsischen Raum – nach dem Tode von Henry Roysten Loyn im Jahre 2000 – Ian N. Wood. Diese Fachberater wirkten durch die Abfassung eigener Artikel sowie durch die Vermittlung geeigneter Autoren für Stichwörter aus den genannten Bereichen mit. – Schließlich standen von Seiten der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien Herwig Wolfram und Walter Pohl (seit 1998) beratend zur Seite, denen so wichtige Artikel wie „Goten“ (RGA 12, 1998), „Herrschaft“ (RGA 14, 1999), „Origo gentis“ (RGA 22, 2003), „Sakralkönigtum“ (RGA 26, 2004), „Theodiscus“ (RGA 30, 2005) – sowie durch die Einbeziehung ihrer Schüler17 – neue Impulse zu verdanken sind. Ohne die beratende Mitarbeit der genannten Kolleginnen und Kollegen wäre es dem im Bereich Geschichte verantwortlichen Herausgeber unmöglich gewesen, in allen zu betreuenden Bereichen einen Überblick über den Forschungsstand und die kompetentesten Autoren zu gewinnen. Denn abgesehen von den verschiedenen geographischen Regionen, die der Herausgeber überblicken muss, entstand der – zumindest subjektiv empfundene – Eindruck, dass es für einen Alt- oder Mittelalter-Historiker noch schwieriger ist als für den in der Archäologie oder im Bereich der Philologie zuständigen Herausgeber, alle Teilgebiete seines Zuständigkeitsbereichs zu überblicken und die in einzelnen Teildisziplinen tätigen Forscher zu kennen. Denn zum Bereich Geschichte im RGA gehören ja nicht nur die (Spät‑)Antike und das (Früh‑)Mittelalter, die zahlreichen völkerwanderungszeitlichen „Stämme“, die Könige und Dynastien, die Länder, Städte und Dörfer auf dem Kontinent, sondern auch:
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Vgl. dazu Heiko Steuer in diesem Band. Vgl. auch Anm. 18. So verfassten etwa Richard Corradini, „Landnahme“ in RGA 17, „Lorsch“ in RGA 18; Maximilian Diesenberger, „Gaut“ in RGA 10, „Tassilo III.“ und „Theodo II.“ in RGA 30 und andere; Helmut Reimitz, „Kontinuitätsprobleme“ in RGA 17, „Positivismus“ in RGA 23, „Raumbewußtsein“ in RGA 24 und andere.
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– die skandinavische Geschichte: von den „Skandiai nesoi“ des Ptolemäus (RGA 28, 2005) bis zur „Wikingerzeit“ (RGA 34, 2007); – die Geschichte der Angeln, Sachsen, Jüten, Mercier, Nordhumbrer in der Britannia (RGA 1, 1973: „Angelsächsische Stämme“) bis „Tribal Hidage“ (RGA 31, 2006), und „Wales“ (RGA 33, 2006); – „die slawische Welt“,18 von den balt(oslaw)ischen Völkern (RGA 2, 1976) bis zur die Frage der Urheimat, zur so genannten „Landnahme“ und zur Gliederung der Slawen (RGA 29, 2005); – die gesamte Rechtsgeschichte, bekanntlich eine eigene Disziplin neben der Geschichte im engeren Sinne, und hier wiederum zahlreiche Sondergebiete wie „das skandinavische Recht“19 usw.; – schließlich die römische Spätantike, vornehmlich ein Forschungsfeld der Althistoriker, die an den Universitäten mit gutem Grund durch eigene Lehrstühle vertreten sind. In Anbetracht der Spezialisierung der Forschung in den genannten Teilgebieten, denen noch die Religionsgeschichte und Kirchengeschichte, für die Knut Schäferdiek (RGA 8, 1994 bis zum letzten Bd. 35, 2008) als Fachberater tätig war, die Geschichte des Schriftwesens,20 des Kriegs- und Militärwesens21 und vieles Andere mehr anzureihen sind, kommt ein verantwortungsbewusster Herausgeber nicht ohne ein Team von Fachleuten aus, auf das er sich bei der Einschätzung der Relevanz der Stichwörter für die Altertumskunde, bei den Umfangsvorgaben und hinsichtlich des Forschungsstandes und nicht zuletzt bei der Auswahl der Autorinnen und Autoren stützen kann und, um die Qualität des Lexikons zu garantieren, auch stützen muss. Der neue Schwung, den das Lexikon nicht zuletzt durch die Gewinnung eines größeren Fachberaterkreises in den Jahren 1998/99 erfuhr, in denen allein fünf Bände (RGA 10–14) erschienen sind, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in den 27 Jahren zwischen 1970 und 1997 insge18
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„Die slawische Welt“ lautete der Titel des Vortrags, den der Fachberater Christian Lübke (Leipzig) auf dem Abschlusskolloquium am 11. September 2008 gehalten hat; leider war es ihm nicht möglich, das Vortragsmanuskript rechtzeitig für den Druck einzureichen. Einen zusammenfassenden Überblick über „Das skandinavische Recht“ vermittelte Dieter Strauch (Köln) am 13. September 2008 auf dem Abschlusskolloquium. Die erweiterte schriftliche Fassung hat er in diesem Band zur Verfügung gestellt: Dieter Strauch, Skandinavisches Recht. Einführung und Überblick. Den Artikel „Schrift und Schriftwesen“ verfasste der Historiker Andreas Bihrer (Freiburg) in RGA 27 (2004). Vgl. beispielsweise die Artikel „Heerwesen“ von Bernhard S. Bachrach, Charles R. Bowlus (RGA 14, 1999, S. 120–136) und „Kriegswesen“ unter Mitarbeit von Matthias Springer (RGA 17, 2001, S. 336–343) .
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samt nur neun Lexikon-Bände erschienen sind – also alle drei Jahre ein Band –, im letzten Jahrzehnt aber, von 1998 bis 2008, in jedem Jahr durchschnittlich zwei bis drei Bände – und zusätzlich noch rund 50 umfangreiche Ergänzungsbände.22 Das ist einerseits auf die Mitwirkung der bis zu 39 Fachberaterinnen und Fachberater zurückzuführen; es ist aber andererseits auch ein Verdienst der Göttinger Arbeitsstelle und ihrer Leiterin Rosemarie Müller, die 1994 von der Göttinger Akademie angestellt worden war. Ihre umsichtige und kompetente Organisation der Arbeitsstelle, ihre reibungslose Zusammenarbeit mit dem Verlag sowie ihr persönliches Engagement und der Einsatz ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Gesamtprojekt des neuen Hoops haben wesentlich zur Steigerung und Optimierung der Lexikonproduktion bei gleich bleibender Qualität beigetragen.
3 Der Ertrag für die Geschichtswissenschaft Ein Reallexikon der „Altertumskunde“, der „Altertumswissenschaft“ oder gar der „Kulturwissenschaft“ – um die drei Schlagworte des AbschlussKolloquiums aufzugreifen23 – kann und sollte nicht einseitig nach dem Ertrag für die einzelnen Fachdisziplinen, also gesondert für die Archäologie, die Philologie oder die Geschichtswissenschaft, beurteilt werden. Denn der Vorzug dieses Lexikons liegt gerade in der transdisziplinären Zusammenschau und darin, dass sich der Historiker über den Stand der archäologischen Forschung zum behandelten Gegenstand (beispielsweise im Artikel „Xanten“24 über die Militärlager Vetera castra und Colonia Ulpia Traiana sowie die zugehörigen zivilen Siedlungen) informieren kann; dass sich der Archäologe wiederum im Teilartikel des Historikers über den Stand der Geschichtsforschung und die einschlägigen Schriftquellen (etwa zur Basilika apud Bertunensim oppidum, der Keimzelle des späteren Xanten) informieren kann; und dass beide, Historiker und Archäologe, vom Sprachwissen22
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In den Jahren 1998 bis 2007 erschienen die RGA-Bände 11 bis 35 sowie die beiden RGA-Registerbände und im gleichen Zeitraum die RGA-Ergänzungsbände 15 bis 62. „Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft. Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“ lautete der Titel der internationalen Tagung, die vom 11. bis 13. September 2008 in der Paulinerkirche zu Göttingen stattfand. – Zur historischen Entwicklung und zur Begrifflichkeit der Altertumskunde und Altertumswissenschaft siehe den Beitrag „Die philologische Perspektive im RGA“ von Heinrich Beck in diesem Band. Norbert Hanel, Heike Hawicks, Ingo Runde, Hans-Joachim Schalles, Artikel „Xanten“. In: RGA 34 (2007), S. 363–377.
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schaftler in einem weiteren Teilartikel über die Entstehung und Etymologie des Namens (Troja sive Xantum) aufgeklärt werden. In der Möglichkeit der Zusammenschau des neuesten Forschungsstandes in allen drei Disziplinen und dem Nachweis der Schriftquellen sowie der jeweils neuesten Literatur zum Stichwort beruht die besondere Qualität des RGA.25 Dennoch soll im Folgenden kurz skizziert werden, was im Bereich der Geschichte vom RGA erwartet werden kann beziehungsweise was das RGA dem historisch interessierten Benutzer mehr bietet als vergleichbare Lexika. In keinem Nachschlagewerk, auch nicht im Internet, wo inzwischen eine erstaunliche Fülle von Informationen – dank Wikipedia, aber auch aus soliden Nachschlagewerken, die online verfügbar sind, – angeboten wird, werden beispielsweise mehr Informationen zu den frühen Stämmen und Völkern geboten als im RGA. Sehen wir von dem mehr als 250 Seiten Text und rund 1.300 Literaturangaben umfassenden Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“ (RGA 11, 1998) einmal ab, weil er sozusagen zur Pflichtaufgabe dieses Lexikons gehört, und blicken auf die Artikel über die Alemannen, Goten, Franken und Slawen, um nur vier Beispiele frühmittelalterlicher gentes in den Blick zu nehmen, so ist zu konstatieren, dass deren Umfang die entsprechenden Artikel im renommierten Lexikon des Mittelalters (1980–1998) gewaltig übersteigt: – Den 26 Seiten zu den „Alemannen“ im RGA stehen 3 Spalten im Lexikon des Mittelalters gegenüber;26 – den 50 Seiten „West-/Ost-Goten“ im RGA27 entsprechen 12 Spalten im Lexikon des Mittelalters;28 25
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Dem in Anm. 24 erwähnten „Xanten“-Artikel sind insgesamt 97 Quellen- und Literaturhinweise beigefügt, die sich allerdings zu einem Teil überschneiden, das heißt teilweise doppelt aufgeführt sind, da jeder der vier Autoren seinem Teilartikel ein eigenes Verzeichnis beigegeben hat. RGA 1 (1973), S. 137–163: „Alemannen“, von Hans Jänichen, Hans Kuhn, Heiko Steuer. Lexikon des Mittelalters 1 (1980), Sp. 263–266: „Alamannen, Alemannen“, von Thomas Zotz, Hermann Ament. RGA 12 (1998), S. 402–443: „Goten“, von Thorsten Andersson, Volker Bierbrauer, Walter Pohl, Piergiuseppe Scardigli, Rüdiger Schmitt; RGA 22 (2003), S. 344– 349: „Ostgoten“, von Albrecht Greule, Herwig Wolfram; RGA 33 (2006), S. 536– 540: „Westgoten“, von Herwig Wolfram. Hinzu kommen im RGA 12 (1998), noch 23 Seiten mit den Artikeln „Gothiscandza“, „Gotikon“, „Gotische Literatur“, „Gotische Mission“, „Gotische Schrift“, „Gotische Sprache“, „Gotizismus“, denen im Lexikon des Mittelalters 4 (1989) und 9 (1998) nur 4 Spalten „Goticismus“ sowie 4 Spalten „Gotische Schrift“ und „Westgotische Schrift“ entsprechen. Lexikon des Mittelalters 4 (1989), Sp. 1572 f.: „Goten“, von Gerhard Wirth; Lexikon des Mittelalters 6 (1993), Sp. 1530–1535: „Ostgoten“, von Herwig Wolfram, Volker Bierbrauer; Lexikon des Mittelalters 9 (1998), Sp. 27–34: „Westgoten“, von Gerd Kampers, Volker Bierbrauer.
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– den 360 Seiten „Franken“ im RGA stehen 40 Spalten im Lexikon des Mittelalters gegenüber;29 – und den 15 Seiten „Slawen“ im RGA entsprechen 3 Spalten im Lexikon des Mittelalters.30 Schon vom Umfang her bietet das RGA in diesen vier Artikeln jeweils ein Vielfaches der im Lexikon des Mittelalters verfügbaren Spalten;31 aber es darf wohl auch behauptet werden, dass die RGA-Artikel, zu denen jeweils mehrere kompetente Archäologen, Historiker und Sprachwissenschaftler beigetragen haben, auch vom Inhalt her reichhaltiger, vielseitiger und umfassender sind; sie zeichnen sich vor allem durch eine Fülle von weiterführenden Quellen- und Literaturangaben32 sowie durch Tafeln und großformatige Kartenbeilagen33 aus. Kleinere Völker, wie die Aisten, Amsivarier, Angriwarier, Bastarnen, Bataver, Boier, Brukterer, Bucinobantes, Cananefaten, Chaibones, Chaideinoi, Chaimai, Chaituoroi, Chali, Chamaver, Charini, Chasuarier, Chattwarier, Chaubi, Chauken usw., die im Lexikon des Mittelalters völlig fehlen und denen der Kleine Pauly – zumindest einigen von ihnen – wenige Zeilen widmet,34 sind im RGA durch bis zu 30 Spalten umfassende Artikel vertre29
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RGA 9 (1995), S. 373–461: „Franken“, von Hermann Ament, Hans Hubert Anton, Heinrich Beck, Arend Quak, Frank Rexroth, Knut Schäferdiek, Heiko Steuer, Dieter Strauch, Norbert Voorwinden. – Lexikon des Mittelalters 4 (1989), Sp. 689– 728: „Franken, Frankenreich“, von Hermann Ament, Hans Hubert Anton, Josef Fleckenstein, Rudolf Schieffer, Adriaan Verhulst. RGA 29 (2005), S. 44–59: „Slawen“, von Marek Dulinicz, Christian Lübke, Jürgen Udolph; hinzu kommen die Artikel „Slawisch-Baltisch-Germanische Sprachbeziehungen“ (S. 59–77), „Slawische Keramik“ (S. 79–94, „Slawische Religion“ (S. 94–101) und „Slawische Sprachen“ (S. 101–106), also nochmals 47 Seiten. – Lexikon des Mittelalters 7 (1995), Sp. 2000–2003: „Slaven“, von Norbert Kersken. Bei den Umfangsangaben zum RGA handelt es sich um Seitenzahlen (mit jeweils zwei Spalten), der Umfang im Lexikon des Mittelalters ist in Spalten angegeben, die allerdings enger bedruckt sind als im RGA. Die Literaturliste zu „Goten“ umfasst im Lex MA beispielsweise 20 Titel, im RGA dagegen 228 Titel, also mehr als das Zehnfache. Dem Artikel „Slaven“ im Lexikon des Mittelalters sind 14, im RGA 206 Literaturangaben angehängt; zum RGAArtikel „Slawisch-Baltisch-Germanische Sprachbeziehungen“ gehören nochmals 171, zu „Slawische Keramik“ 130 Literaturangaben usw. Der Artikel „Goten“ im RGA enthält beispielsweise 8 ganzseitige Karten: RGA 12 (1998), Abbildungen 66–73 (vgl. Anm. 35). Vergleiche etwa Heinz Cüppers, Artikel „Bructeri“ (9 Zeilen). In: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden, Bd. 1 (München 1970), Sp. 952, mit RGA 3 (1978), S. 581–586: Artikel „Brukterer“, von Günter Neumann, Harald von Petrikovits, Rafael von Uslar.
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ten.35 Vor allem die reichhaltigen weiterführenden Literaturangaben im RGA – bei den Goten das Zehnfache, bei den Slawen gar das Zwanzigfache gegenüber dem Lexikon des Mittelalters – zeichnen das Reallexikon aus. Noch deutlicher lässt sich der Unterschied bei den Personen-Artikeln über die reges und duces der frühen Völker erkennen: Von den 34 bekannten Anführern der Alemannen,36 die im RGA durch umfangreiche Artikel mit reichlichen Quellen- und Literaturhinweisen vertreten sind, findet man nur drei, nämlich Gotefried und die Brüder Lantfrid und Theudebald, im Lexikon des Mittelalters.37 Diese Gegenüberstellung soll nur die spezifische Ausrichtung des RGA hervorheben und verdeutlichen, wo seine Stärken zu suchen sind und wo es sich besonders lohnt, das RGA zu befragen und sich die Fülle der dort gebotenen Informationen zunutze zu machen. Denn selbstverständlich hat das Lexikon des Mittelalters ein völlig anderes Spektrum und bietet dem Mediävisten eine ganz andere Bandbreite von Informationen, die das RGA nicht zu Verfügung stellt. Der besondere Vorzug und die spezifische Qualität des RGA beruhen zweifellos auch darin, dass neuere Forschungsergebnisse oder auch Forschungsprobleme im Bereich der „Germanischen Altertumskunde“ oder „Altertumswissenschaft“38, die zur Zeit kontrovers diskutiert werden, Berücksichtigung gefunden haben, ausführlich dargelegt werden und ihnen viel Platz eingeräumt wird. Dies gilt beispielsweise für die folgenden Artikel: – „Dux“ (RGA 6, 1986) und „Herzog“ (RGA 14, 1999) werden in insgesamt 55 Spalten, in denen 163 Literaturhinweise verarbeitet sind, von sechs Autoren in sprachwissenschaftlicher Analyse und historischer Entwicklung erörtert, wobei weder die Sprachwissenschaftler noch die Historiker zu übereinstimmenden Erklärungen gelangen und auch die jeweils gegenteiligen Auffassungen referiert werden.39 – Im 28 Spalten umfassenden Artikel „Herrschaft“ in RGA 14 (1999), S. 443–457 folgt der Begriffsbestimmung eine Darstellung der „älteren 35
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Vgl. etwa RGA 4 (1981), S. 393–413: „Chauken“, von Günter Neumann, Reinhard Wenskus, Peter Schmid (zusätzlich mit 5 Tafeln und 8 Abbildungen). Zusammenfassend: Dieter Geuenich, Zu den Namen der Alemannenkönige. In: Studien zu Literatur, Sprache und Geschichte in Europa. Wolfgang Haubrichs zum 65. Geburtstag gewidmet, hrsg. von Albrecht Greule, Hans Walter Hermann, Klaus Ridder, Andreas Schorr (St. Ingbert 2008), S. 641–655, Namenliste: S. 644–651. Lexikon des Mittelalters 4 (1989), Sp. 1596 f.; 5 (1991), Sp. 1706 f.; 8 (1997), Sp. 685 (jeweils zwischen 9 und 23 Zeilen). Vgl. dazu Heinrich Beck in diesem Band und Heiko Steuer in diesem Band. Die sprachwissenschaftlichen Autoren sind Hans-Peter Naumann und Eckhard Meineke, die Historiker Dietrich Claude, Henry Royston Loyn, Reinhard Wenskus und Hans-Werner Goetz.
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verfassungsgeschichtlichen Forschung“, sodann eine umfassende „Kritik an der ‚herrschenden Lehre‘“ (10 Spalten), bevor „neuere Ansätze in der Germanen- und Mittelalterforschung“ erläutert und im „Ausblick: Neue Modelle und Fragestellungen“ vorgestellt werden. Walter Pohl, dem dieser gewichtige Artikel zu verdanken ist, hat seine Darlegungen durch zahlreiche Querverweise (auf die Artikel „Fehde“, „Gehorsam“, „Genossenschaft“, „Grundherrschaft“, „Herr“, „König und Königtum“, „Königsdienst“, „Lehnswesen“, „Treue“ usw.) innerhalb des RGA verzahnt und dem Artikel 150 Hinweise auf weiterführende Literatur angefügt. – Der Begriff der „Origo gentis“ in RGA 22 (2003), der als identitätsstiftendes Element in der Diskussion um die Ethnogenese40 eine wichtige Rolle spielt, ist von fünf Historikern verfasst worden. Der 72 Spalten umfassende Artikel wird durch eine allgemeine Einführung und Begriffsbestimmung (von Herwig Wolfram) eingeleitet und durch ein 58 Quellen- und 131 Literaturhinweise umfassendes Verzeichnis abgeschlossen, das sich auf alle dem Stichwort subsumierten Teilartikel bezieht. Diese gemeinsame Organisation und Strukturierung des Artikels durch die beteiligten Autoren, die den Herkunftsmythen bei den Goten (Herwig Wolfram), den Langobarden (Walter Pohl), den Franken (Hans Hubert Anton), den Burgunden und Angelsachsen (Ian N. Wood) sowie den Sachsen (Matthias Becher) nachgehen und deren Bedeutung für die ethnogenetischen Prozesse herausarbeiten, kann als vorbildlich gelten. Leider konnte eine solche Kooperation der Autoren und die daraus resultierende Homogenität des (Gesamt‑)Artikels in den meisten anderen Artikeln – oft unter dem vorgegebenen Zeitdruck – nicht erreicht werden. – Der „Komplementär“-Artikel „Sakralkönigtum“ in RGA 26 (2004), S. 179–320, der sich über 282 Spalten erstreckt, ist aus der Zusammenarbeit von 13 Autoren entstanden; die insgesamt 105 Quellen- und 850 Literaturangaben sind auf drei Verzeichnisse verteilt, die zwangsläufig einige Überschneidungen aufweisen. Die Ergebnisse der am Artikel beteiligten Archäologen, Ethnologen, Historiker, Philologen und Religionswissenschaftler wurden im Jahr 2004, in dem der Artikel im Druck erschien, auf einem internationalen und interdisziplinären Wissenschaftlichen Kolloquium an der Universität Passau zum Thema „Ideelle und religiöse Grundlagen des frühmittelalterlichen Königtums“ zur Diskussion gestellt und um weitere Aspekte und Befunde erweitert. 17 Beiträge, die größtenteils aus den Manuskripten erwachsen sind, die auf der Tagung vorgetragen wurden,
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Zur Diskussion der Ethnogenese-Forschung vgl. Heinrich Beck (in diesem Band).
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sind in einem Ergänzungsband zum RGA publiziert worden und ergänzen auf willkommene Weise das Spektrum des Artikels.41 – Der Artikel „Synkretismus“ in RGA 30 (2005), S. 216–230 (mit über hundert Quellen- und Literaturhinweisen) ist von drei Autoren verfasst, die im Bereich der Religionswissenschaft tätig und ausgewiesen sind: Gregor Ahn, Anders Hultgård und Lutz von Padberg. Nach der Darlegung des religionsgeschichtlichen und des historisch-theoretischen Ansatzes der Synkretismus-Forschung werden exemplarisch die angelsächsischen, die fränkischen und die skandinavischen Quellen in den Blick genommen. Wenn damit auch längst nicht alle verfügbaren Quellen ausgewertet werden, bietet der Artikel doch einen informativen Einblick in den Forschungsstand, und die Autoren teilen, wenn auch auf unterschiedliche Weise, die Skepsis hinsichtlich der „Brauchbarkeit der Kategorie des Synkretismus“: „Man sollte bei ihrer Verwendung nicht gleich jede Mischung von heidn[ischen] und christl[ichen] Praktiken als S[ynkretismus] bezeichnen.“42 Synkretismus ist nicht „als problematischer Sonderfall einer ansonsten von relativer Stabilität geprägten Religionsgesch(ichte) aufzufassen, sondern als Regelfall stetiger komplexer Aushandlungsdiskurse…“.43 – Nur im RGA (31 [2006], S. 132–134) und in keinem anderen Lexikon findet sich ein Artikel zum Stichwort „Transformation of the Roman World“, verfasst von Ian N. Wood, einem der drei Leiter des 1993 bis 1997 von der European Science Foundation geförderten wissenschaftlichen Programms zur Erforschung des Wandels Europas von der Spätantike bis zur Karolingerzeit.44 – Als letztes Beispiel sei der Artikel „Völkische Weltanschauung“ in RGA 32 (2006), S. 522–538 hervorgehoben, in dem ein Archäologe, ein Ethnologe und ein Historiker die Geschichte und Entwicklung der „Völkischen Bewegung“ und der „Völkischen Weltanschauung“ (Uwe Puschner) sowie der „Völkischen Wissenschaft“45 (Oliver Haid) vorstellen. Heiko Steuer, der in einem weiteren Teilartikel den Einfluss der Völkischen 41
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Das frühmittelalterliche Königtum. Ideelle und religiöse Grundlagen, hrsg. von Franz-Reiner Erkens. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 49 (Berlin, New York 2005). Lutz von Padberg, Artikel „Synkretismus“. In: RGA 30 (2005), S. 224. Gregor Ahn, Artikel „Synkretismus“ (wie Anm. 42), S. 218. Gemeinsam mit Ian N. Wood leiteten Evangelos Chrysos und Javier Arce das Projekt, an dem mehr als 100 Wissenschaftler aus mehr als 20 Ländern beteiligt waren. Bislang sind 19 Bände aus dem Projekt hervorgegangen; die Publikationsreihe wird in Leiden in Brill’s Series on the Early Middle Ages (continuation of The Transformation of the Roman World) fortgesetzt. Vgl. Arnold Ruge, Völkische Wissenschaft (Berlin 1940).
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Wissenschaft auf die Forschungen der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kritisch analysiert, hatte bereits 1999 acht Fachkolleginnen/-kollegen zu einem Arbeitsgespräch nach Freiburg eingeladen und deren Beiträge in einem RGAErgänzungsband veröffentlicht.46 Im mehr als tausend Seiten umfassenden „Alphabetischen Register“ können zu diesen, aber auch zu anderen Stichwörtern, die im Rahmen der Germanischen Altertumskunde relevant sind, zu denen aber keine eigenen Artikel verfasst worden sind, zusätzlich hilfreiche Verweise auf Artikel aufgefunden werden, in denen sie behandelt sind. Dies sei zu den oben erwähnten Artikeln exemplarisch verdeutlicht: – unter „Dux“ finden sich Hinweise auf 80 weitere Artikel (beispielsweise „Graf/Grafio“, „Häuptling“, „Heerkönigtum“, „Herzog“, „Pagus“ usw.), in denen der dux-Titel ebenfalls erwähnt und behandelt wird, – unter „Herrschaft“ wird auf 24 weitere Artikel (zum Beispiel „Gefolgschaft“, „Macht“, „Personenverbandsstaat“ usw.) verwiesen, – unter „Origo gentis“ auf 60 weitere Artikel (beispielsweise „Gentilismus“, „Landnahme“, „Paulus Diaconus“, „Stammesbildung / Ethnogenese“, „Volk“ usw.), – unter „Sakralkönigtum“ auf 60 weitere Artikel (wie „König und Königtum“, „Kultische Umfahrt“, „Reges criniti“, „Weihe/Weihung“ usw.) – unter „Synkretismus“ auf 33 weitere Artikel (wie „Heide“, „Keltische Religion“, „Mission“, „Religion“ usw.) – und unter „Völkische Weltanschauung“ auf 21 andere Artikel (wie „Rassenlehre“, „Rassenideologie“, „Skandinavismus und Nordischer Gedanke“ usw.).47 Über dieses sehr hilfreiche und nützliche Suchinstrument lässt sich auch der oben angesprochene Mangel ausgleichen, dass gewisse Stichwörter – wie etwa „Ethnogenese“ – nicht mehr nachträglich ins Lexikon aufgenommen werden konnten. Im Register findet man nun das Lemma „Ethnogenese“ 46
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Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1945, unter Mitarbeit von Dietrich Hakelberg hrsg. von Heiko Steuer. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 29 (Berlin, New York 2001). Im darauf folgenden Jahr 2000 fand wiederum in Freiburg eine Fortsetzungstagung statt, deren Ergebnisse ebenfalls in dieser Reihe erschienen sind: Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, hrsg. von Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer, Dietrich Hakelberg. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 34 (Berlin, New York 2004). RGA Register, Bd. 2: Alphabetisches Register (Berlin, New York 2008), S. 185, 394 f., 653, 761, 856 und 950.
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mit dem Hinweis auf immerhin 16 Artikel, in denen von Ethnogenese die Rede ist, unter anderem auch auf das „Ersatzstichwort“ „Stammesbildung, Ethnogenese“ (RGA 29, 2005). In ähnlicher Weise enthält das Register etwa wichtige Hinweise auf den „Freiheitsbegriff“, der zwar selbst nicht als Lemma Berücksichtigung gefunden hat. In der entsprechenden Registerposition wird aber nun erkennbar, dass er in vielen anderen Artikeln („Freie“, „Gemeinfreie“, „Halbfreie“, „Freie“, „Königsfreie“ usw.) behandelt ist. Über „Verehrung“ – ebenfalls kein eigenes Lemma – wird, wie im Register nachzuschlagen ist,48 in weit über hundert anderen Artikeln (wie „Ahnenglaube und Ahnenkult“, „Baumkult“, „Bergkult“, „Heiligenkult“ usw. aber auch unter „Bilddenkmäler“, „Felsbilder“, „Götterbilder“, „Reliquien“ usw.) gehandelt; die betreffenden Artikel sind im Register mit dem Hinweis auf die exakten Band-, Seiten- und Spalten-Angaben aufgeführt. So bieten die beiden Registerbände eine willkommene zusätzliche Hilfe und damit einen wichtigen Beitrag zur Erschließung des RGA, und sie tragen dazu bei, nachträglich entdeckte Unvollkommenheiten oder auch Unzulänglichkeiten auszugleichen.
4 Das Problem des interdisziplinären Zusammenwirkens Ein grundsätzliches Problem für ein interdisziplinär strukturiertes beziehungsweise ein für mehrere Disziplinen angelegtes Lexikon und für ein erfolgreiches Zusammenwirken von (zuletzt) drei Herausgebern aus den Fachgebieten Philologie – Archäologie – Geschichte besteht in der Gestaltung der so genannten „Komplementär-Artikel“, das heißt, der Artikel, zu denen alle drei Disziplinen – oder gar noch mehr Disziplinen49 – einen Teil-Beitrag beisteuern sollten. Dies ist in der Regel etwa bei Siedlungen der Fall, die (1.) einen Ortsnamen haben, der sprachwissenschaftlich zu durchleuchten und wenn möglich etymologisch zu erklären ist, die (2.) eine Geschichte aufweisen, die aufgrund der schriftlichen Überlieferung (in Urkunden, Chroniken usw.) darzustellen ist, und die (3.) archäologische Funde bergen, die ergraben wurden und vor diesem Hintergrund interpretiert werden können. 48 49
RGA Register, Bd. 2 (wie Anm. 47), S. 934 f. Wie oben erwähnt wurde, gehören dazu beispielsweise nicht nur die Teilgebiete wie Alte und Mittelalterliche Geschichte, Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft, Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie und Mittelalterarchäologie, sondern auch zahlreiche eigenständige Fachgebiete wie die Volkskunde, die Ethnologie, die Rechtsgeschichte, die Anthropologie, die Namenkunde, die Religionswissenschaft, die Numismatik, die Epigraphik, die Paläographie und viele andere mehr.
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In den meisten Fällen ist es gelungen, die Teil-Artikel aufeinander abzustimmen. Mitunter kam es aber auch vor, dass der eine Teilartikel schon in den Druck gegangen war, wenn der andere erst als Manuskript eintraf. Weder die Herausgeber noch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Arbeitsstelle konnten in solchen Fällen, wie sie in den letzten zehn Jahren, in denen der Druck der Akademie auf die Herausgeber und die Arbeitsstelle extrem zugenommen hatte, häufiger vorkamen, eine inhaltliche oder zumindest noch eine redaktionelle Angleichung vornehmen. So ist es bedauerlicherweise die Regel, dass jeder Teilartikel ein eigenes Quellen- und Literaturverzeichnis aufweist; ein gemeinsames Verzeichnis am Ende des Gesamtartikels wäre für die Benutzer übersichtlicher, zumal Doppelnennungen vermieden worden und die Bezugsziffern eindeutig wären.50 Auch dies sei am Beispiel eines Komplementär-Artikels, des bereits 1986 erschienenen Artikel „Dorestad“, verdeutlicht: Unter „I. Philologisches“ erläutert der Sprachwissenschaftler Heinrich Tiefenbach die überlieferten Namenformen; unter „II. Historisches“ werden vom Historiker Peter Johanek die Schriftzeugnisse vorgeführt, in denen der Name Dorestad bezeugt ist; unter „III. Archäologisches“ behandeln die niederländischen Archäologen Willem van Es und Willem Verwers die topographische Lage, die Funde und die Funktion der Siedlung. Da in Dorestad merowinger- und karolingerzeitliche Münzen geprägt wurden, folgt unter „IV. Numismatisches“ noch ein eigenes Kapitel von Peter Berghaus über die Dorestader Münzprägungen. Auf den ersten Blick scheint dieser Artikel ein gutes Beispiel für ein vorbildliches interdisziplinäres Zusammenwirken vier verschiedener Disziplinen zu sein, die von fünf in ihrem Fachgebiet bestens ausgewiesenen Wissenschaftlern vertreten werden. Allerdings wird weder bei der sprachwissenschaftlichen Deutung, noch bei der historischen Bestimmung der frühesten Namenformen auf den Münzen auf deren Lesung und Datierung durch Berghaus im 4. Teil des Artikels verwiesen, wie Berghaus auch umgekehrt ganz offensichtlich die philologischen, historischen und archäologischen Teilbeiträge nicht zur Kenntnis genommen hat, – oder richtiger: nicht zur Kenntnis nehmen konnte, weil die anderen Teilartikel vermutlich erst gleichzeitig mit seinem eigenen fertig geworden sind und schleunigst in den Druck mussten, ohne dass die Autoren voneinander Kenntnis nehmen konnten. Hinzu kommt der oben angesprochene Mangel, dass jedem der vier Teilbeiträge ein eigenes umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis mit zum Teil übereinstimmenden Titeln beigegeben ist. 50
Wie dies vorbildlich im oben erwähnten Origo gentis-Artikel der Fall ist.
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Ist schon misslich, dass in allen drei Teilbeiträgen dieselben Namenformen des Ortsnamens Dorestad, Dorstat usw. auf denselben Münzen aufgelistet werden, ohne aufeinander Bezug zu nehmen, so ist es im konkreten Fall besonders bedauerlich, dass sowohl im historischen als auch im archäologischen Teilbeitrag die Namenformen Levefano in der Tabula Peutingeriana und Leuphana bei Ptolemäus mit der Siedlung Dorestad in Verbindung gebracht werden, dieser Name aber dem namenkundlichen Bearbeiter offensichtlich nicht bekannt war, so dass er ihn auch nicht sprachlich erläutern konnte.51 Es geht hier nicht um den Ausgleich divergierender Forschungsmeinungen, die durchaus nebeneinander stehen können und, wie schon im Vorwort zum Ersten Band betont wurde, im Lexikon keineswegs „harmonisiert“ werden sollten (RGA 1 [1973], S. XII). Es geht vielmehr um die Frage, wie die schon von Johannes Hoops als ein wichtiges und erstrebenswertes Ziel bezeichnete „Verbindung zwischen Vorgeschichte und Geschichte einerseits, zwischen Archäologie und Sprachwissenschaft andererseits“52 (RGA 1 [1973], S. V) in einem Lexikon der Altertumswissenschaft verwirklicht werden kann. Wörtlich formulierte Johannes Hoops: „Ein Hauptzweck des Buches ist die Herstellung einer engeren Fühlung zwischen den verschiedenen Zweigen der germanischen Kulturgeschichte“;53 heute bezeichnen wir das, was Hoops als „Fühlung zwischen den verschiedenen Zweigen der … Kulturgeschichte“ bezeichnete, mit dem Modewort „Interdisziplinarität“. Wenn schon, wie in den genannten vier Teilartikeln zu „Dorestad“ geschehen, renommierte und in ihrer jeweiligen Disziplin ausgewiesene Wissenschaftler den neuesten Forschungsstand zu einem Gegenstand darstellen, dann wäre es der Verwirklichung und Umsetzung des Gedankens der Interdisziplinarität, der „Fühlung zwischen den Zweigen“ im RGA besonders förderlich gewesen, wenn die Autoren aufeinander hätten Bezug nehmen können. Dies ist in der Retrospektive als eine der Unzulänglichkeiten des Reallexikons, vielleicht als die am schwersten wiegende, einzuräumen, die sich auf Grund des Zeitdrucks und der damit verbundenen Unmöglichkeit, nachträglich noch korrigierend eingreifen zu können, nicht vermeiden ließ. Diese offensichtliche Unzulänglichkeit des RGA hat allerdings inzwischen in den beiden Registerbänden bereits ein nützliches und, wie anhand des Dorestad-Beispiels gezeigt werden kann, brauchbares Korrektiv gefunden:
51 52
53
Siehe Anm. 55, Hinweis auf Levefanum im Alphabetischen Register. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, hrsg. von Johannes Hoops (Straßburg 1911–1919), Vorwort: wieder abgedruckt in RGA 1 (1973), S. V–VII, hier S. V. RGA 1 (1973), S. V.
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Im „Alphabetischen Register“ wird unter dem Stichwort „Levefanum“,54 auf den Artikel „Römische Ortsnamen“ (RGA 25, 2003, S. 110) verwiesen, wo der Sprachwissenschaftler und Namenforscher Günter Neumann den für das frühe Dorestad bezeugten Ortsnamen Levefanum als *Hlaevae fanum, als Heiligtum (fanum) der germanischen Göttin Hlaeva erklärt.55 Diese Verknüpfung der zu verschiedenen Zeiten (innerhalb eines Zeitraums von vier Jahrzehnten) von 1.443 Autoren aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen verfassten Artikel in den beiden Registerbänden, deren Benutzung nur nachdrücklich empfohlen werden kann, vermag viele der Unzulänglichkeiten in den 35 Lexikonbänden nachträglich auszugleichen. Für die Organisation und Erstellung der Register gilt Rosemarie Müller, der Leiterin der Arbeitsstelle des RGA (1994–2008), und dem Verlag de Gruyter Dank und Anerkennung. Zweifellos wäre eine bessere „Verzahnung“ der Teilartikel wünschenswert gewesen, aber angesichts der vor allem in den letzten Jahren forcierten Erscheinungsweise des Lexikons mit durchschnittlich drei Bänden – das heißt rund 2000 Seiten – pro Jahr war dies schlechterdings nicht immer – jedenfalls nicht immer vollständig – möglich. Für den insbesondere im letzten Jahrzehnt auf der Arbeit am RGA lastenden Zeitdruck, der die Arbeitsstelle, die Herausgeber, die Fachberater und die Autoren oft über das zumutbare Maß hinaus forderte und die wissenschaftliche Qualität nicht immer förderte, ist nicht allein die Leitungskommission der Akademie verantwortlich, die verständlicherweise auf einen raschen Abschluss des Langzeitprojektes drängte. Vielmehr ist auch zu berücksichtigen, dass die Einheitlichkeit in der Konzeption und im Forschungsstand eines Lexikons, wenn es über einen Zeitraum von 40 Jahren hinweg in alphabetischer Abfolge der Stichwörter erscheint, kaum zu gewährleisten ist. Der Artikel „Alemannen“ (RGA 1, 1973), der Ende der 60er Jahre geschrieben wurde, könnte und müsste heute – mehr als vier Jahrzehnte später –, nachdem mehr als hundert einschlägige Forschungsbeiträge mit neueren Ergebnissen zur Geschichte (und auch zum Namen) der Alemannen erschienen sind und fast ebenso viele neue Fundplätze entdeckt wurden, dringend neu geschrieben werden. 54 55
RGA Register, Bd. 2 (wie Anm. 47), S. 541 . Vgl. auch RGA 11 (1998): „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“, S. 265, wo Günter Neumann bereits die Möglichkeit andeutete, dass Levefanum als lateinischer Siedlungsname gedeutet werden könne, „wenn sein Zweitglied lat. fanum ist“. Vgl. auch RGA 18 (2001), S. 302 f.: „Leuphana“. Dort hält Barbara Günnewig eine Identität des bei Ptolemäus bezeugten Leuphana „mit dem auf der Tabula Peutingeriana genannten Levefanum“ für möglich, ohne allerdings wiederum auf den „Dorestad“-Artikel hinzuweisen.
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Und was für das Stichwort „Alemannen“ gilt, gilt nicht nur für dieses: Auf fehlende Lemmata und überholungsbedürftige Artikel ist oben und in den Beiträgen der Herausgeberkollegen bereits hingewiesen worden.56
5 Ausblick: Vom RGA zur GAO Die zuletzt angesprochenen Probleme resultieren einerseits – bezüglich des unterschiedlichen Forschungsstandes – aus der zwangsläufig langen Entstehungszeit eines derart umfang- und inhaltreichen Lexikons. Sie haben andererseits – was die oft mangelhafte oder fehlende „Verzahnung“ der Teilartikel betrifft – ihre Ursache darin, dass die einzelnen Bände in alphabetischer Abfolge nacheinander fertig gestellt und die (Teil-)Artikel gleichzeitig geschrieben werden mussten. Zu einer vorausschauenden Planung blieb oftmals keine Zeit, so dass die Autoren kaum oder gar nicht aufeinander Bezug nehmen konnten. Diese offenkundigen Probleme, die nicht nur für das RGA, sondern für jedes alphabetisch aufgebaute Lexikon, dessen Bände über einen längeren Zeitraum hinweg erscheinen, charakteristisch sind, können nur dadurch, dass das Lexikon in einer Online-Version verfügbar gemacht, ergänzt und fortgeführt wird, gelöst werden. In der im Aufbau befindlichen „Germanischen Altertumskunde Online“ (GAO) besteht diese Möglichkeit, sowohl bestehende Artikel auf den neuesten Forschungsstand zu bringen als auch bislang fehlende Artikel auf aktuellem Forschungsstand neu zu schreiben und in das vorhandene Alphabet nachträglich einzuordnen. So wird es künftig möglich sein, um bei den erwähnten Beispielen zu bleiben, den „Alemannen“-Artikel durch Überarbeitung, Ergänzung und Literaturnachträge auf den neuesten Stand bringen und einen „Ethnogenese“-Artikel, der dem neuesten Forschungsstand entspricht, in das vorhandene Lexikon einzufügen, ohne dass die Gesamtkonzeption des RGA aufgegeben werden muss und – das ist besonders hervorzuheben – ohne dass das RGA das Schicksal aller Lexika und Handbücher teilt: dass es seit dem Erscheinen der Druckfassung „veraltet“. Dem de Gruyter Verlag ist für die Initiative zu diesem Projekt „Germanische Altertumskunde Online“ (GAO) zu danken, das dem RGA nun eine Zukunft eröffnet. Die Herausgeber haben sich gern zur verantwortlichen Mitwirkung bereit erklärt, zumal die Akademie der Wissenschaften zu Göt56
Vgl. die Bemerkungen oben zu „Ethnogenese“, „Dorestad“, „Leuphana“ sowie zu den fehlenden Artikeln „Agilo“, „Latinus“ und „Scudilo“, und auch Heinrich Beck (in diesem Band) und Heiko Steuer (in diesem Band) etwa zu „Anthropologie“.
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tingen die Arbeitsstelle RGA aufgelöst und eine von den Herausgebern beantragte weitere Unterstützung des Projektes abgelehnt hat.57 Es ist zu hoffen, dass sich auch künftig kompetente Autorinnen und Autoren zur Mitarbeit bereit finden und an der Aktualisierung und Optimierung des Lexikons, das eine erfreuliche Resonanz im In- und Ausland gefunden hat,58 mitwirken werden.59
57 58
59
Vgl. dazu Heiko Steuer in diesem Band. Vgl. das Kapitel 14 „Echo des RGA und der Ergänzungsbände in der Germanenliteratur“ bei Heiko Steuer (in diesem Band). Erste Artikel für die GAO sind bereits geschrieben und werden schon bald online erscheinen; so beispielsweise Steffen Patzold, Andreas Schaub, „Aachen“; Matthias Becher, „Chlodwig“.
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 197–211 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
Das RGA aus indogermanischer Sicht Stefan Zimmer
I. Die Vollendung der 2. Auflage des ‚Hoops‘ ist fürwahr ein ausgezeichneter Anlass, einen Rückblick auf das bisher Erreichte und einen Ausblick auf das ferner Erwünschte zu werfen. Dies sei hier aus dem Blickwinkel der Indogermanistik versucht.1 Kein anderes Fach hat meines Wissens etwas dem RGA Vergleichbares vorzuweisen. Selbst die Klassische Altertumswissenschaft hat es nicht vermocht, den monumentalen fünfundachtzigbändigen ‚Pauly-Wissowa‘, kurz RE genannt,2 in vollem Umfang neu zu bearbeiten, sondern musste sich mit dem – freilich durchaus respektablen – ‚Neuen Pauly‘ bescheiden.3 Es wäre sicher passend und gewiss lehrreich, die beiden Enzyklopädien RE und RGA unter geistesgeschichtlichen und wissenschaftspolitischen As1
2
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Zuvörderst muss ich jedoch Dank und Bewunderung aussprechen. Jeder Benutzer wird den Initiatoren, den Herausgebern, den Autoren, der Redaktion, der Göttinger Akademie der Wissenschaften und dem Verlag zutiefst dankbar sein: eine wirklich umfassende Summe der gesamten Germanischen Altertumskunde auf heutigem Stand. Wenigstens einen Namen muss ich hier nennen: Heinrich Beck hat es verstanden, mehr als vier Jahrzehnte lang das immer größer und damit zwangsläufig komplexer werdende Projekt mit sicherer Hand durch zahllose Stürme zu steuern – eine quantitativ wie qualitativ einmalige Leistung. Das nun vorliegende Monument germanistischer Forschung wird jeden tief beeindrucken, der um die Schwierigkeiten geisteswissenschaftlicher Publikationen in einer immer schnelllebigeren Zeit weiß, und das an Universitäten, die in immer stärkerem Maße von Politik und Bürokratie in ihrer wissenschaftlichen Arbeit behindert, ja geradezu von ihrer eigentlichen Aufgabe abgehalten werden. August Friedrich Pauly, Real-Encyclopädie der classischen Alterthumswissenschaft, Neubearbeitung hg. v. Georg Wissowa u.a. (Stuttgart 1890–1997). Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hrsg. von Hubert Cancik, Helmuth Schneider, Manfred Landfester, 13 Bände Altertum A-Z, 5 Bände Rezeptions- und Wissensgeschichte A-Z, 1 Registerband (Stuttgart, Weimar 1996–2003).
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pekten zu vergleichen.4 Für den einzigartigen Erfolg des RGA mitbestimmend war möglicherweise die Tatsache, dass die Germanistik in Deutschland und Skandinavien auch heute, im Zeitalter der Globalisierung, immer noch als ‚Nationalphilologie‘ gilt und damit einen gewissen Bonus genießen mag, auch wenn kaum ein Politiker oder Wirtschaftsführer mehr als nebulöse, bestenfalls vom Besuch Bayreuther Opernaufführungen bestimmte Vorstellungen vom Fach haben dürfte. Weder in der Realität der heutigen Universitäten noch im Internationalen Konzert der geisteswissenschaftlichen Forschung kommt jedoch der Germanistik derzeit noch eine wie auch immer geartete Vorrangstellung zu; das ist in erster Linie die Schuld der deutschen Germanisten selbst, die ihr Fach erstens zu einer ‚Teutonistik‘ (wie laut Ursula Schulze, Berlin, Helmut de Boor zu spotten pflegte) verengt haben und zweitens im Lehrbetrieb die Vormoderne weitgehend ausblenden – mit dem Erfolg, dass für heutige GermanistikStudenten Goethe zur „alten“ Abteilung gehört und der Fachbegriff ‚Ablautreihen‘ in der Regel auf verständnisloses Kopfschütteln stößt. Aus dem Blickwinkel eines Faches, das viertausend Jahre dokumentierte Sprachgeschichte und Literaturen in Dutzenden von Sprachen, von althethitischen Urkunden und vedischen Götterhymnen bis hin zu modernen Gedichten in kaum verschrifteten Idiomen Asiens und Europas als seinen eng zusammengehörigen Studien-Gegenstand ansieht, ist die Vollendung des völlig erneuerten ‚Hoops‘ höchst erfreulich. Es stellt nämlich ein in jeder Beziehung gewichtiges Argument dafür dar, ‚Germanistik‘ wieder im alten, umfassenden Sinn als ‚Studium aller germanischen Sprachen, ihrer Literaturen und der in ihnen dokumentierten Kulturen‘ zu verstehen. Die höchst erfolgreiche Zusammenarbeit von philologischen, historischen und archäologischen Disziplinen hat ein Ergebnis gezeigt, das ohne Einschränkung als Musterbeispiel dienen kann.
II. Der erste Gedanke, der sich angesichts der 37 Bände des RGA aufdrängt, ist natürlich: Wäre etwas Vergleichbares heutzutage auch möglich für alle anderen benachbarten Fächer und letztlich für die Indogermanistik selbst? Nach dem Sinn einer solchen Unternehmung brauchte man nicht lange zu suchen; schließlich sind weder die Germanen noch die anderen Völker indogermanischer Zunge „vom Himmel gefallen“. Ganz gleich welche Vorstel4
Vgl. in diesem Band S. 5–19: Rudolf Schieffer, Das RGA in der Typologie geisteswissenschaftlicher Enzyklopädien.
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lungen man im Einzelnen von der Ethnogenese der jeweiligen Völker haben mag, die sprachliche Kontinuität zeigt mit aller wünschenswerten Deutlichkeit, dass dahinter in jedem Falle eine starke indogermanische Tradition vor allem auch kultureller Art steht. Es dürfte daher nicht schwerfallen, eine sachliche Begründung für jeden einzelnen möglichen Fall zu formulieren; freilich wird es an Einwänden ebenso wenig mangeln. Das RGA zeigt eindrucksvoll, wie eine beträchtliche Anzahl von Fächern an einem gemeinsamen, breit gefassten Thema fruchtbar zusammenarbeiten kann und welche neuen Erkenntnisse daraus entspringen. Sehr deutlich wird das in dem monographischen Artikel ‚Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde‘ (RGA 11, S. 181–438). Die Autoren der dort zusammengeführten Teilbeiträge dürften jetzt, nach 37 Bänden, vermutlich geneigt sei, das alles unter Einbeziehung der seit damals erschienenen Bände nochmals neu zu fassen. Ähnliches gilt wohl für viele Verfasser von Artikeln vor allem der ersten Bände. Enzyklopädische Werke solchen Umfangs sind ja stets schon wieder erneuerungsbedürftig, sobald sie am Ende des Alphabets angelangt sind. Leider lässt sich wohl keine Redaktion so verstetigen wie etwa die Kölner Dombauhütte. Der im RGA demonstrierte Forschungsstand ist vermutlich einzigartig und in keinem anderen vergleichbaren Fach – mit der Ausnahme der Klassischen (das heißt Hellenischen und Italischen) Altertumskunde – auch nur annähernd so gut. Der ‚Neue Pauly‘ fällt schon vom Umfang gegenüber dem neuen RGA deutlich ab. Hinsichtlich der anderen Zweige der Indogermania fällt die Bilanz ganz unterschiedlich aus.5 1. Eine Anatolische Altertumskunde aus der Feder von Altorientalisten, Archäologen, Althistorikern und Philologen wäre ein Novum und dürfte auf hohes Publikumsinteresse stoßen, weit über die Fachwissenschaft hinaus. 2. Eine ‚Indische Alterthumskunde‘ ist bereits 1847–1861 in vier Bänden erschienen.6 Ihr Autor, Christian Lassen, war Norweger und Nachfolger Schlegels auf dem ersten indologischen Lehrstuhl Deutschlands in Bonn. Trotz großer Fortschritte in der indischen Archäologie ist dennoch auf dem Riesenkontinent – verglichen mit Europa oder Mesopotamien – noch das allermeiste zu leisten. Die politischen Verhältnisse der 5
6
Auf die älteren Grundrisse (meist: ‚Grundriß der x-ischen Philologie‘), die jeweils Sprache(n), Literature(n) und (in unterschiedlichem Maße) auch Kulturgeschichte behandeln, gehe ich hier nicht weiter ein. Sie waren höchst wertvoll und sind oft heute noch mit Gewinn zu benutzen. Indische Alterthumskunde, hrsg. von Christian Lassen (Bonn, Leipzig 1847–1861); Band 1 und 2 auch in verbesserter 2. Auflage (Leipzig 1867–1874).
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Gegenwart (vor allem in Afγānistān und Pākistān) und die ideologischen Vorurteile der Hindutvā-Anhänger dürften aber den für eine moderne ‚Indische Altertumskunde‘ nötigen Forschungsarbeiten größte Hindernisse entgegenstellen. Ein gutes Beispiel, wie förderlich die Verbindung der archäologischen Befunde und der philologischen Forschungsergebnisse auch in Indien sein könnten, stellen die neueren Arbeiten von Michael Witzel vor, jetzt auch einem weiteren deutschsprachigen Publikum bequem zugänglich in der Einleitung zum Kommentarteil der neuen Rig-Veda-Übersetzung.7 Darin wird unter anderem das Einsickern der Arier nach Nordwestindien mit der Entstehung der vedischen Hymnensammlung synchronisiert und die aus der Literatur erschlossene, zum Teil auch archäologisch fassbare, kulturelle Entwicklung in Raum und Zeit verankert. 3. Die alte ‚Erânische Althertumskunde‘ von Friedrich Spiegel8 ist natürlich längst überholt. Bekanntlich gibt es nur wenig altiranische Textzeugnisse (die altpersischen Achämenideninschriften und das zwar viel ältere, aber erst viel später aufgezeichnete Awesta, das heilige Buch der Zoroastrier); und die archäologische Erforschung des sehr großen, die Grenzen des modernen Staates Īrān weit überschreitenden iranischen Kulturraumes steckt noch in den Kinderschuhen. Gegenüber der Indologie ist die Iranistik geradezu traditionell vernachlässigt worden; dazu kommt das beinahe totale Desinteresse der sich auf Judentum, Islam und Christentum beschränkenden Orientalistik am vorislamischen ‚Greater Iran‘. Die meisten mitteliranischen und viele neuiranische Sprachen und die Literaturen in diesen Sprachen sind außerhalb ihrer Sprechergemeinschaften zudem erst in neuerer Zeit und bisher auch kaum hinreichend vollständig bekannt geworden. Recht guten Ersatz bietet einstweilen die im Erscheinen begriffene umfangreiche ‚Enyclopaedia Iranica‘.9 Altertumskundliche Fragestellungen werden darin nach Kräften berücksichtigt. 4. Eine ‚Armenische Altertumskunde‘ scheint mir aufgrund mangelnder Vorarbeiten derzeit unmöglich. 5. Die Klassische Altertumskunde ist die älteste wissenschaftliche Altertumskunde überhaupt, an vielen Universitäten durch zahlreiche Lehrstühle vertreten. Für Hellas wird die Verbindung bis ins Mittelalter durch die Byzantinistik gewährleistet, für das Gebiet des Römischen Reiches 7
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Michael Witzel, Toshifumi Gotō, unter Mitwirkung von Eijirō Dōyama, Mislav Ježić, Rig-Veda, Das heilige Wissen, erster und zweiter Liederkreis (Frankfurt/ Main 2007). Friedrich Spiegel, Erânische Althertumskunde, 3 Bände (Leipzig 1871–1878). Ehsan Yarshater (Hrsg.), Encyclopedia Iranica (London, Boston 1985 ff.) – Derzeit bis Band XV, part 6 im Buchstaben K (Stand September 2011).
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durch die Romanistik. Beide Fächer sind jedoch, soweit ich sehe, rein philologisch, das heißt sprachlich und vor allem literaturwissenschaftlich ausgerichtete Fächer. Wie es um die Einbeziehung der Archäologen und Historiker steht, weiß ich nicht.10 Eine Spätantike und Mittelalter umfassende ‚Romanische Altertumskunde‘ nach dem Muster des RGA hätte den Vorteil, auf die römisch-lateinischen Grundlagen der RE beziehungsweise des Neuen Pauly zurückgreifen zu können. Sie könnte etwa Parallelen und Unterschiede in der Romanisierung und der kulturellen Interaktion mit Sub-, Ad- und Superstrat-Kulturen deutlich machen, die meines Wissens bisher nirgends zusammenfassend untersucht, geschweige denn dargestellt sind. Die potentielle wissenschaftliche und politische Bedeutung solcher vergleichenden, zugleich umfassenden und detaillierten Untersuchungen dürfte kaum zu überschätzen sein. 6. Ein großes Desiderat der Forschung wäre eine ‚Keltische Altertumskunde‘. Eine unter den Auspizien der UNESCO geplante enzyklopädische Darstellung der ‚History and Culture of the Celts‘ ist über ein Meeting of Experts (Dublin 1981) und eine programmatische Vorbereitungskonferenz (Bonn 1982) nicht hinausgekommen,11 da das Budget letztlich nicht zur Verfügung gestellt wurde. Das neue, von John T. Koch herausgegebene fünfbändige Lexikon ‚Celtic Culture. A Historical Encyclopedia‘12 ist gewiss ein Schritt in die richtige Richtung, aber ganz offensichtlich mehr an ein weiteres Publikum gebildeter Laien (allenfalls Bachelor-Studenten) als an die wissenschaftliche Welt gerichtet. Viele Lücken und manche Unausgewogenheiten zeigen, dass es quantitativ und vor allem auch qualitativ nicht den Maßstäben etwa des Neuen Pauly oder gar des RGA gerecht wird. Die Fairness gebietet es allerdings, deutlich darauf hinzuweisen, dass die Keltologie in allen ihren Teildisziplinen international krass unterbesetzt und unterfinanziert ist. Unter diesen Umständen ist die Produktion der genannten Enzyklopädie durch Koch und seine Mitarbeiter in Aberystwyth binnen weniger Jahre eine erstaunliche Leistung. Vor wenigen Monaten hat zudem derselbe Gelehrte, unterstützt durch drei jüngere Kollegen, eine für das Fach neuartige Publikation vorgelegt, die als weitere gewichtige Vorarbeit für eine zukünftige Keltische Altertumskunde gelten darf, nämlich ‚An Atlas of 10
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Die Romanistik scheint neuerdings weitgehend bereit zu sein, ihre beeindruckend solide philologische Tradition einer Anpassung an modisch verstandene ‚Kulturwissenschaften‘ der einzelnen Sprachgebiete zu opfern. Vgl. Karl Horst Schmidt, Rolf Ködderitzsch (Hrsg.), Geschichte und Kultur der Kelten. Vorbereitungskonferenz 1982, Vorträge (Heidelberg 1986). John T. Koch (Hrsg.), Celtic Culture. A Historical Encyclopedia. 5 Bände (Santa Barbara u.a. 2006).
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Celtic Studies’.13 Neben vorzüglichen Karten ist der detaillierte Textteil, vor allem die methodisch hervorragende Einleitung zu rühmen. 7. Eine ‚Baltische Altertumskunde‘ wäre meines Erachtens durchaus möglich, könnte aber derzeit wohl nur in den Baltischen Staaten selbst und durch langfristige Finanzierung von außen und in internationaler Zusammenarbeit mit Aussicht auf Erfolg begonnen werden. 8. Eine nach Aussage von Kollegen recht gute ‚Slawische Altertumskunde‘ liegt in polnischer Sprache vor. Es ist der achtbändige ‚Słownik starożytności słowiańskich‘.14 Daneben stehen natürlich vielerlei enzyklopädische Publikationen aus anderen slawischen Ländern. Die Sprachbarrièren sind erfahrungsgemäß sehr hoch, so dass man überlegen sollte, ob nicht vielleicht eine deutsche Fassung wenigstens der einbändigen Kurzausgabe15 des genannten polnischen Werks einen Markt finden könnte. Ein etwas kleiner angelegtes, aber neueres Unternehmen in Russland ist bisher nur bis zu Band 3 und dem Buchstaben P gekommen.16 9. Von einer ‚Tocharischen Altertumskunde‘ ist derzeit allenfalls zu träumen. Die (um einen witzigen Spötter zu zitieren) ‚paratocharologischen‘ Phantasmen aus neuerer Zeit, die sich an zum Teil altbekannte Mumienfunde aus dem Tarimbecken knüpfen, sind kaum ernst zu nehmen, solange auch nur annähernd repräsentative archäologische Begehungen (Surveys) der lebensfeindlichen Wüstengebiete Zentralasiens ausstehen, an deren Rändern und in deren Oasen jene östlichste indogermanische Kultur zwischen ihrer Bekehrung zum Buddhismus und dem Mongolensturm geblüht hat. Zudem müssten insbesondere die Ruinenstätten der südlichen Seitenstraße noch ein paar Manuskripte in den ‚richtigen‘ Sprachen preisgeben, bevor man sich an die Erstellung ernsthafter Hypothesen über Wanderungen und Kulturkontakte der Vor-Tocharer an ihre historischen Orte wagen könnte.
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John T. Koch in collaboration with R. Karl, A. Minard, S. Ó Faoláin, An Atlas of Celtic Studies. Archaeology and Names in Ancient Europe and Early Medieval Ireland, Britain, and Brittany (Oxford 2007). Władysław Kowalenko, Gerard Labuda, Tadeusz Lehr-Spławiński (Hrsg.), ‚Słownik starożytności słowiańskich. Encyklopedyczny zarys kultury słowian od czasów najdawniejszych. 8 Bände (Wrocław u.a. 1961–1991). Lech Leciejewicz, Mały słownik kultury dawnych słowian, 3. Auflage (Warszawa 1990). Slavjanskie Drevnosti, ėtnolinguističeskij slovar’ v pjati tomach, hrsg. von Nikita I. Tolstoj. Moskva: Meždunarodnye Otnošenija. Band I A‒G 1995, II D‒K 1999, III K‒P 2004, IV P‒S 2009. – Für ausführliche Beratung danke ich Herrn Kollegen Helmut Keipert herzlich.
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10. Eine ‚Albanische Altertumskunde‘ existiert nicht und wird nach Auskunft von Kennern des Landes auch auf absehbare Zeit nicht möglich sein.
III. Nun zum Indogermanischen selbst: Immerhin ist schon einmal ein zweibändiges ‚Reallexikon der indogermanischen Altertumskunde‘ im Verlag Walter de Gruyter erschienen.17 Als vor etwa 30 Jahren Rüdiger Schmitt beim Verlag anfragte, ob nicht eine Neubearbeitung davon sinnvoll sei, hat dem Vernehmen nach Herr Wenzel aufgrund kaufmännischer Erwägungen abgelehnt. Das ist sehr zu bedauern, denn gerade Rüdiger Schmitt hätte gewiss eine erheblich verbesserte Version herstellen können. Er hätte ohne jeden Zweifel die bedeutenden Fortschritte auf allen Gebieten der Indogermanistik, nicht zuletzt auch seines eigenen Schwerpunktes ‚Indogermanische Dichtersprache‘ verzeichnet und wäre gewiss auch auf die alten (letztlich auf Wahle und Bosch-Gimpera zurückgehenden) archäologischen Thesen eingegangen, die damals (von Marija Gimbutas) wieder ins Gespräch gebracht wurden18 und auch heute noch durch die populärwissenschaftliche Literatur geistern. Die beiden in neuerer Zeit publizierten Werke von James P. Mallory und D.Q. Adams19 sind, wie an anderer Stelle ausführlich gezeigt,20 zwar sehr zu begrüßen und bringen in vielem deutliche Fortschritte, weisen jedoch allzu viele Fehler, Lücken und Schiefheiten auf, um als repräsentative Summe des gegenwärtigen Wissensstandes gelten zu können. Ihr Hauptproblem besteht meines Erachtens in der ganz unzureichenden Berücksichtigung europäischer und vor allem nicht in englischer Sprache verfasster indogermanistischer Arbeiten. Das Thema ist viel zu groß, um nur von einem Archäolo17
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Otto Schrader, Alfons Nehring, Reallexikon der indogermanischen Altertumskunde, 2 Bände (Berlin 1917–1928). Man vergleiche den Beitrag von Rüdiger Schmitt in RGA 15 (2000), S. 384–402, jedoch auch die extreme Skepsis des Archäologen Alexander Häusler in RGA 15 (2000), S. 402–408. James P. Mallory, Douglas Q. Adams (Hrsg.), Encyclopedia of Indo-European Culture (London, Chicago 1997); James P. Mallory, Douglas Q. Adams (Hrsg.), The Oxford Introduction to Proto-Indo-European and the Proto-Indo-European World (Oxford 2006). Stefan Zimmer, Comments on a Great Book: The Encylopedia of Indo-European Culture by Mallory and Adams. Journal of Indo-European Studies 27/1–2, 1999, S. 105–163; Stefan Zimmer, Rezension von Mallory-Adams 2006. Kratylos 53, 2008, S. 21–24.
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gen in Belfast und einem Linguisten in Moscow/Idaho, sei es auch unter Beteiligung einiger amerikanischer Kolleginnen und Kollegen, bearbeitet zu werden. Auffällig ist, dass praktisch kein bekannter europäischer Indogermanist zur Mitarbeit eingeladen beziehungsweise gewonnen wurde. Mallorys Buch von 198921 ist dagegen weiterhin die nach wie vor brauchbarste Stellungnahme der Archäologie zur sogenannten ‚Urheimatfrage‘, der freilich keinesfalls die hohe Priorität zukommt, die ihr gewöhnlich eingeräumt wird. Andere Fragen sind, wie ich seit zwanzig Jahren wiederholt ausgeführt habe,22 viel wichtiger, vor allem die der Ethnogenese jener Gruppe, die das rekonstruierte Urindogermanische gesprochen haben muss. Es bleibt natürlich die Frage, ob der Versuch einer ‚Indogermanischen Altertumskunde‘ sachlich gerechtfertigt wäre und ob eine Durchführung möglich sei. Hier sind die Meinungen nach wie vor geteilt;23 erfreulicherweise scheint das für die praktische Detailarbeit der täglichen Forschungsarbeit im Fach weltweit keine Rolle zu spielen. Die etymologische Durcharbeitung der Lexika vieler Sprachen geht beständig weiter; der Fundus der Indogermanischen Dichtersprache wächst langsam,24 aber stetig durch Entdeckung weiterer ‚Formeln‘ und fortschreitende Erhellung dichtersprachlicher Techniken. Archäologische Fortschritte in dem weiten Raum zwischen den nordpontischen Steppen und Zentralasien könnten möglicherweise weitere Aufschlüsse zur ‚Urheimatfrage‘ bringen. Ich halte das allerdings aus theoretischen Gründen für wenig wahrscheinlich, da eben eine kleine, hochaktive Gesellschaft wie die der Urindogermanen viel mehr 21
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23
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James P. Mallory, In Search of the Indo-Europeans. Language, Archaeology and Myth (London 1989). (Davon besitze ich eine kuriose ‚First paperback edition 1991‘: Sie ist laut Rückseite des Titelblatts ‚Printed and bound in the German Democratic Republic‘!) Vgl. Stefan Zimmer, Urvolk, Ursprache und Indogermanisierung. Zur Methode der Indogermanischen Altertumskunde (Innsbruck 1990 [recte 1991]) und Stefan Zimmer, 2002–3: [Forschungsbericht] Tendenzen der Indogermanischen Altertumskunde, I. Teil : Sachkultur. Kratylos 47, 2002, S. 1–22; II. Teil: Geistige Kultur. Kratylos 48, 2003, S. 1–25. Über die bereits genannten Titel hinaus vgl. noch etwa Calvert Watkins, IndoEuropean and the Indo-Europeans. In: The American Heritage Dictionary of IndoEuropean RootS. 2nd. ed. (Boston, New York 2000), S. VII–XXXV, und – eher negativ – Xavier Tremblay, Grammaire comparée et grammaire historique: Quelle réalité est reconstruite par la grammaire comparée? In: G. Fussman et al., Aryas, Aryens et Iraniens en Asie Centrale. Publications de l’Institut de Civilisation Indienne, Collège de France, fasc. 72 (Paris 2005), S. 21–195, 335–346. Vgl. den neuen Sammelband, hrsg. von Georges-Jean Pinault, Daniel Petit: La langue poétique indo-européenne. Actes du Colloque de travail de la Société des Études Indo-Européennes, Paris 2003 (Leuven, Paris 2006).
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durch ihre geistige Kultur bestimmt ist als durch ihre materielle und daher kaum in nennenswertem Maße substantielle archäologisch nachweisbare Spuren hinterlassen haben wird. Ganz anders sieht es aus, wenn wir eine ‚Indogermanische Altertumskunde‘ von den Einzelsprachen und den sie tragenden Kulturen her ins Auge fassen. Dies sei hier auf die Beziehungen zwischen Germanisch und Indogermanisch, genauer gesagt zwischen germanistischer und indogermanistischer Forschung beschränkt. Aus indogermanistischer Sicht sind alle Zweige der Familie ‚Einzelsprachen‘, also auch das Germanische. Aus jeweils einzelsprachlicher Perspektive ist die Indogermanistik eine Hilfswissenschaft ersten Ranges. Dieser traditionelle Terminus ‚Hilfswissenschaft‘ ist freilich beileibe kein abwertender Begriff: Was wäre eine Altertumskunde ohne Numismatik, was eine Philologie ohne Diplomatik? Seitens der Germanistik ist das nicht immer richtig eingeschätzt worden. In der Frühphase des Faches hatten alle Germanisten schon auf der Schule gründlich Latein und Griechisch gelernt, viele zudem ihre sprachwissenschaftlichen Studien durch Sanskrit untermauert, alle die im engeren Sinne philologischen Techniken von der Klassischen Philologie übernommen. Es war selbstverständlich, dass ein Studium der Germanistik mit dem Studium der ältesten Sprachen und ihrer Denkmäler zu beginnen hatte – worauf sonst könnte sich die Philologie stützen? Seit hundert, verstärkt seit 40 Jahren, wurde das alles schrittweise aufgegeben zu Gunsten vermeintlich einzig relevanter sogenannter moderner Fragestellungen.25 Damit schwand zugleich die Bereitschaft und recht bald auch die Möglichkeit, Nachbarfächer wie die Indogermanistik überhaupt noch wahrzunehmen. Unter den heutigen Absolventen des Fachs ist wohl kaum einer zu finden, der die Flexion der ‚Starken Verben‘ nicht als bloß unverständlicherweise abweichende, eben ‚unregelmäßige‘ missversteht. Das Bewusstsein um die historische Verankerung der eigenen Sprache im Kreis ihrer Nachbarn und weiteren Verwandten ist weitgehend verschwunden. Dem korreliert entsprechende Unterschätzung der kulturellen und literarischen Verflechtungen.
IV. Wie könnte eine stärkere Berücksichtigung der Indogermanistik für die Germanische Altertumskunde förderlich sein? Dazu im Folgenden ein paar Anregungen und Hinweise – mehr ist an dieser Stelle nicht möglich. 25
Ich kann mich noch gut an eine meiner ersten Lehrveranstaltungen für Germanisten erinnern, einen Gotisch-Kurs an der FU Berlin ca. 1976: griechische Vergleichswörter riefen ehrfürchtiges Staunen hervor, altindische provozierten Gelächter.
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Als erstes wäre auf wirklich konsequente Berücksichtigung der jeweiligen sprachwissenschaftlichen Problematik zu achten. Die Bände der RGA enthalten zwar erfreulich viele sprachwissenschaftliche Beiträge, vor allem Etymologien und Namensdeutungen. Aber vielfach fehlen entsprechende Abschnitte. Der lange Artikel ‚Niederlande‘ fragt nicht einmal nach der Entstehung und Bedeutung des Begriffs, obwohl die hervorragenden Beiträge von Detlev Ellmers zu ‚Boot und Schiff‘ wertvolle Ansatzpunkte bieten.26 Auch die gegebenen Etymologien sind des Öfteren nicht immer klar genug formuliert und vernachlässigen zum Teil den heutigen Stand der Forschung. 1. Deutlich wird das vor allem bei der zum Teil mangelhaften Berücksichtigung der indogermanischen Laryngale. Es gibt immer noch Germanisten, die im Anschluss an ihre Lehrer vor 50 Jahren glauben, sie könnten auf diese angeblichen ‚Zauberstäbe‘ verzichten. Sie haben nicht bemerkt oder wollen nicht wahrhaben, dass jene Klasse von Phonemen längst nicht mehr bloß hypothetischen Status hat. Die Regeln sind weitgehend (wenn auch nicht vollständig) bekannt, nach denen die drei (etwas unglücklich so benannten) Laryngale in den Einzelsprachen wirken, darunter auch im Germanischen. Spätestens jetzt, seit der Dissertation von Stefan Müller,27 kann nun wirklich niemand mehr vorgeben, er/sie habe es nicht gewusst. Die Entwicklung der germanischen Verbalmorphologie ist ohne hinreichende Berücksichtigung der indogermanischen Laryngale nicht angemessen zu verstehen. Vielfach werden auch etymologische Probleme elegant lösbar, sobald man nur indogermanistische Selbstverständlichkeiten in Betracht zieht, man vergleiche etwa die Erklärung von dt. saufen als ‘Saft trinken’ *suh2-ph3-o- durch Müller 28 oder meine von deutsch hören, gotisch hausjan als genaue Entsprechung zu griechisch ἀκούω ‘die Ohren spitzen’.29 Natürlich hat die exakte Etymologie oftmals Konsequenzen für Hypothesen über mögliche Bedeutungsentwicklungen, man vergleiche den Fall von fränkisch-lateinisch wargus, das traditionell mit altnordisch vargr ‘Wolf; Verbrecher’ in Beziehung gesetzt wurde. Das ist, wie ich in meinem Beitrag zur Klärung kürzlich zeigen konnte,30 nicht möglich; damit ist freilich noch keine endgültige Lösung gefunden. Kürzlich (erst nach dem Göttinger Vortrag) ist mir die Habili26 27 28 29
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S. v. ‚Niederlande‘ (RGA 21 (2002), S. 164–191) fehlen entsprechende Verweise. Stefan Müller, Zum Germanischen aus laryngaltheoretischer Sicht (Berlin 2007). Müller, Zum Germanischen (wie Anm. 27), S. 114–116. Stefan Zimmer, Laryngale im Germanischen, zwei Fallstudien. Zeitschrift für deutsche Philologie 126, 2007, S. 51–52. Zimmer (wie Anm. 29), S. 53–57.
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tationsschrift von Frau Feulner bekannt geworden, in der unter anderem elegant gezeigt wird, dass ein angebliches Problem der altenglischen Metrik sich durch zwei Entwicklungsschritte (im Urgermanischen und dann im Angelsächsischen) erklärt, die auf einer Besonderheit der altindogermanischen Syntax aufbauen.31 2. Die Methoden der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft sind von der Indogermanistik entwickelt worden und werden noch ständig verfeinert. Auch hier ist offenbar noch Überzeugungsarbeit zu leisten, da die Einzelphilologien, darunter die Germanistik, bisweilen mit aus unserer Sicht zu laxen Regeln arbeiten. Aus indogermanistischer Sicht ist es undenkbar, etwa mit Jürgen Udolph32 mit einem (mehr oder weniger willkürlichen) ‚Konsonantenwechsel‘ zu rechnen, mit dessen Hilfe Namen als germanisch in Anspruch genommen werden, die nach Ausweis ihres Lautstandes nicht germanisch sein können beziehungsweise die zu anderen als den jeweils angeführten Namenelementen gehören müssen. Lautgesetze werden durchbrochen nur von Analogien (dann müssen passende Vorbilder beigebracht werden); andere sogenannte ‚Ausnahmen‘ beruhen entweder auf Entlehnungen (vgl. die Ergebnisse der Dialektgeographie) oder auf (dann genau zu ermittelnden) Sonderregeln (ein typisches Beispiel dafür ist Verners Gesetz). 3. Die Altertumskunde fragt unter anderem nach dem Entstehen von menschlichen Gemeinschaften, die kulturell und politisch aktiv werden und historisch fassbare Spuren hinterlassen. So ist der gesamte Komplex um die Ethnogenese der späteren germanischen ‚Stämme‘ seit Beginn der modernen Wissenschaft immer wieder heftig diskutiert worden und bis heute ‚aktuell‘. Ich habe den Eindruck, dass die Frage in keiner anderen Disziplin so intensiv behandelt wird, aber das mag an meiner subjektiven – und damit notwendigerweise eingeschränkten – Perspektive liegen. Vielfach leidet der wissenschaftliche Diskurs über solche Fragen unter politischen Vorbedingungen, vor allem unter mancherorts leider immer noch virulenten Nationalismen. In der Germanistik scheint das weitgehend überwunden. Glücklicherweise sind Fachgebiete, die unter anderem nach prähistorischen Gesellschaften fragen, davon weniger betroffen; so auch die Indogermanistik (jedenfalls soweit sie von Indogermanisten betrieben wird!). Das Thema ist natürlicherweise in allen ein31
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Anna Helene Feulner, Theorie des ‚metron ametron‘: Zu den Grundlagen der altgermanischen Alliterationsdichtung. Unpublizierte Habilitationsschrift HumboldtUniversität Berlin 2008. Jürgen Udolph, Namenkundliche Studien zum Germanenproblem. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 9 (Berlin, New York 1994).
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zelsprachlichen Disziplinen relevant und stößt in vielen Ländern, darunter in Deutschland, immer noch auf öffentliches Interesse. Das ist nicht ganz unproblematisch, soll aber hier ausgeklammert bleiben. Von der Indogermanistik sind seit Beginn der Forschung immer wieder Hypothesen entwickelt und Modelle vorgestellt worden, nach denen man sich die Indogermanisierung – früher sprach man etwas naiv meist einfach von der ‚Ausbreitung der Indogermanen‘ – vorstellen könne. Erst in neuerer Zeit haben die methodischen und typologischen Erkenntnisse, die in Völkerkunde und historischer Soziologie erarbeitet wurden, gebührende Berücksichtigung gefunden. Vielfach, vor allem in den Medien, werden ganz falsche Erwartungen an diese Art von Forschung herangetragen. Wenn sich schon die wissenschaftliche Geschichtsforschung von der alten Maxime, „zu sagen, wie es eigentlich gewesen war“, hat verabschieden müssen, da eben jede Art von Geschichtsschreibung eine Konstruktion, eine Neuerfindung der Vergangenheit darstellt, um wie viel mehr müssen prähistorische Theorien relativiert werden? Es kann also nicht darum gehen, die „wahrscheinlichste“ Erklärung zu finden, sondern lediglich darum, die „am wenigsten unwahrscheinliche“ zu ermitteln. Nur in diesem Sinne habe ich mehrfach mein ‚colluvies gentium‘-Szenario erläutert, das sowohl auf ethnographischen Forschungen (vor allem von Wilhelm Mühlmann) wie althistorischen Thesen aus dem Bereich der Germanistik (Reinhard Wenskus) und der Semitistik33 aufbaut. Dass sich die Indogermanistik damit nicht so recht anfreunden will, ja dass viele Indogermanisten die Frage nach der Herkunft der Grundsprache gar nicht stellen beziehungsweise sie bewusst ausklammern, verstellt ihnen den Blick auf mögliche soziale und linguistische Faktoren des Sprachwandels, den die klassische historisch-vergleichende Sprachwissenschaft untersucht. Die Pigdin-und-Creol-Linguistik der letzten fünfzig Jahre hat gezeigt, wie erfolgsträchtig die enge Verbindung von sozio-historischer und linguistischer Forschung sein kann. Angesichts des neuen, so ungeheuer reichhaltigen RGA darf man jetzt auch auf die Germanische Altertumskunde hinweisen; sie unterstreicht die Fruchtbarkeit interdisziplinärer altertumskundlicher Wissenschaft auf das schönste. Archäologie, alte Geschichte und historische Sprachforschung können hier sehen, wie sie sich gegenseitig zu fördern vermögen, wenn jede einzelne Disziplin sowohl streng die eigenen wissenschaftlichen Methoden wahrt als auch den Grad der Wahrscheinlichkeit von Thesen aus den Nachbarwissenschaften einzuschätzen weiß. Freilich, nur luftige Spekulationen aufeinander 33
Abraham Menes, Die sozialpolitische Analyse der Urgeschichte. Zeitschrift für alttestamentliche Wissenschaft 43, 1925, S. 33–62.
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zu häufen, bringt bloß ein Kartenhaus zustande, das beim ersten Lufthauch einstürzen muss. Niemand spricht heute mehr ernsthaft von der ‚Ausbreitung der Indogermanen‘, sondern eines unserer großen Themen ist die – übrigens bis heute andauernde – ‚Indogermanisierung‘ weiter Teile Asiens und von fast ganz Europa.34 Das ist ein soziolinguistischer Vorgang allererster Bedeutung, dessen Erforschung nicht jeweils allein Indogermanisten, Historikern oder Ethnologen überlassen werden darf: Erst durch gemeinsame Arbeit sind Thesen entwickelbar, denen ein Anspruch auf Wahrscheinlichkeit zukommt. Die Indogermanische Gesellschaft hat das Thema kürzlich auf einer ihrer Arbeitstagungen behandelt.35
V. Aus dem Rückblick auf das RGA erwachsen also Bitten und Wünsche für die Zukunft. Zuvörderst: Noch engere und bessere Zusammenarbeit der dem Thema verbundenen Einzelfächer – wie das angesichts der Zustände an unseren Universitäten zukünftig möglich sein soll, muss man sich freilich mit wachsender Besorgnis fragen. Dann: Stärkere Berücksichtigung der Indogermanistik, sowohl der altertumskundlichen Arbeiten wie auch der im eigentlichen Sinne linguistischen Forschungsergebnisse; insbesondere die Namenkunde kann davon nur profitieren. Drittens: Intensive und kontinuierliche Zusammenarbeit ist vor allem mit der Keltologie vonnöten, sind doch große Teile des später permanent oder zeitweilig germanischen Sprachgebiets ehedem von keltisch sprechenden Menschen bewohnt gewesen. Hier besteht die Hauptschwierigkeit in der angesichts ihrer Aufgaben völlig unzureichenden Institutionalisierung und Ausstattung der Keltologie. Es ist eine Schande für Frankreich, dass es in dem Land, das gerne von „nos ancêtres, les Gaulois“ spricht, nur eine einzige Professur für Keltologie gibt, deren Inhaber zudem ohne jeden Mitarbeiterstab auskommen muss; dass es in Deutschland, trotz herausragender Funde in neuester Zeit, bis heute keine Professur für Keltische Archäologie gibt; dass die Keltologie in diesem Land inzwischen mit nur noch zwei halben Professuren und zwei halben Mitarbeiterstellen auskommen muss, ob34
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Vgl. dazu schon Stefan Zimmer, On Indo-Europeanization. Journal of Indo-European Studies 18/1–2, 1990, S. 141–155. Die Akten befinden sich dzt. (2011) in Druckvorbereitung: Die Ausbreitung des Indogermanischen. Thesen aus Sprachwissenschaft, Archäologie und Genetik. Arbeitstagung der Indogermanischen Gesellschaft vom 24.–26. Sept. 2009 in Würzburg, hrsg. von Heinrich Hettrich, Sabine Ziegler.
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wohl etwa die altirische Literatur die älteste und bei weitem umfangreichste des frühen Mittelalters in ganz Europa ist. Und all das angesichts hohen und höchsten öffentlichen Interesses an den Kelten! Die Germanistik scheint, wenn auch langsam und zögerlich, zu bemerken, dass den Kelten auch bei der Ethnogenese germanischer, vor allem süd- und westdeutscher Gruppen eine nicht zu vernachlässigende Rolle zukommt. Hermann Amendt hat schon vor über 20 Jahren an mögliche keltische Sprachreste in Süddeutschland erinnert.36 Der Keltologe Peter Schrijver in Utrecht, bis vor wenigen Jahren Indogermanist in München, hat linguistisch nachweisen können, dass niederländische Küstendialekte deutliche Zeichen eines leicht romanisierten keltischen Substrats aufweisen, woraus er den naheliegenden Schluss zieht, dass das Gebiet der späteren Niederlande vor der Germanisierung dem keltischen Sprachgebiet zuzurechnen sei; sogar die Friesen seien möglicherweise germanisierte Kelten.37 Damit muss sich die Germanische Altertumskunde auseinandersetzen, was sicherlich solide Kenntnisse im Keltischen erfordert. Wir brauchen also zukünftig auch Studiengänge, die Germanistik im weitesten Sinne mit der Keltologie verbinden. In den bürokratischen Schemata des verschulten BA/MA-Studiums ist dafür allerdings kein Platz mehr. Die Forschung wird ganz auf Doktoranden-Programme abgedrängt, für die dann jedoch weder Geld noch Zeit-Kapazität eingeräumt werden; zwangsläufig wird damit die geisteswissenschaftliche (und zum Teil auch die naturwissenschaftliche) Grundlagenforschung letztlich völlig aus den universitären Fakultäten beziehungsweise Fachbereichen vertrieben. Seit langem wünschen sich vor allem Vertreter von (nur fälschlicherweise) so genannten ‚Kleinen Fächern‘ die Einrichtung von Forschungsinstituten wie den Max-Planck-Instituten und ähnlichem auch für ihre Fächer. Vielleicht ist es eine realistischere Möglichkeit, dass Wissenschaftliche Akademien mit Hilfe von einsichtigen Mäzenen solche Möglichkeiten schaffen; über die Notwendigkeit von deutschen Äquivalenten der angelsächsischen ‚Institutes of Advanced Studies‘ besteht unter Fachleuten kein Zweifel. Die Geisteswissenschaften brauchen Freiräume, Zeit, Ruhe und dabei für ihre Arbeit (verglichen mit Naturwissenschaften und Medizin) nur wenig Geld. An den Universitäten ist dafür im immer hek36
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Hermann Ament, Die Ethnogenese der Germanen aus der Sicht der Vor- und Frühgeschichte. In: Ethnognese europäischer Völker. Aus der Sicht der Anthropologie und vor- und Frühgeschichte, hrsg. von Wolfram Bernhard, Anneliese KandlerPálsson (Stuttgart 1991), S. 247–256. Zuerst in Peter Schrijver, The Celtic contribution to the development of the North Sea Germanic vowel system, with special reference to coastal Dutch. Nowele 35, 1999, S. 3–47.
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tischer werdenden Rechtfertigungsdruck und gegenüber der ausufernden Bürokratie kein Platz mehr. Nicht nur die Göttinger Akademie der Wissenschaften, auch das in Deutschland immer noch sehr große und einflussreiche Universitätsfach Germanistik sollte öffentlich darauf drängen, dass angemessene Lehr- und Forschungsmöglichkeiten neben der Massenuniversität erhalten bleiben beziehungsweise wieder geschaffen werden. Das neue RGA hat neben vielen anderen Qualitäten auch die: Es eignet sich hervorragend dazu, möglichen Mäzenen und Politikern als leuchtendes Beispiel vorgeführt zu werden, für das, was geduldige und sorgfältige Wissenschaft vermag. Mögen ihm noch viele ähnliche Werke folgen können!
Perspektiven
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 215–244 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
Der nordgermanische Sprachzweig Thorsten Andersson Die nordgermanischen oder, wie wir zu sagen pflegen, die nordischen Sprachen zeigen eine größere Homogenität als die west- und ostgermanischen Sprachen. Der nordgermanische Sprachzweig nimmt im Vergleich zu den west- und ostgermanischen, wenn wir also bei dieser althergebrachten Einteilung bleiben, eine Sonderstellung ein. Eine gemeinsame Vorstufe, Urnordisch, die weitgehend dem Urgermanischen nahesteht, lässt sich rekonstruieren und ist z.T. sogar durch Runeninschriften belegt. Westgermanisch wird dagegen nunmehr bloß als ein geographischer Sammelbegriff betrachtet, und in ähnlicher Weise ist vielleicht auch Ostgermanisch zu verstehen.1 Bezeichnenderweise fehlen auch alte zusammenfassende Benennungen der west- oder ostgermanischen Sprachzweige, während die nordischen Sprachen der Wikingerzeit als do˛ nsk tunga ‘dänische Zunge’ zusammengefasst werden konnten.2 Sprachgeschichtlich gesehen liegt hier ein wesentlicher Unterschied vor, der sich heute noch psychosozial erkennen lässt. Es gibt in Skandinavien3, in Island und auf den Färöern entschieden ein nordisches Zusammen1
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Elmar Seebold, Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde 2. Sprache und Dichtung B. Sprache und Schrift“. In: RGA 11 (1998), S. 275–305, hier S. 299 f.; Elmar Seebold, Artikel „Westgermanische Sprachen“. In: RGA 33 (2006), S. 530–536; vgl. Johann Tischler, Artikel „Ostgermanen“. In: RGA 22 (2003), S. 338–344; Sebastian Brather, Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 42 (Berlin, New York 2004), S. 176 f.; zu Ostgermanisch s. weiter unten. Es sei hier an die schwedische chronologische Terminologie erinnert: Wikingerzeit 800–1050, erst danach Mittelalter. Der Name Skandinavien wird im nordischen Sprachgebrauch etwas unterschiedlich benutzt. Er kann – der Etymologie entsprechend – die Skandinavische Halbinsel, d.h. Norwegen und Schweden, bezeichnen, aber oft wird auch – so in dieser Darstellung – Dänemark mit einbezogen.
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gehörigkeitsgefühl, ein Wir-Gefühl. Außerhalb des Nordens fühlen wir, die wir Nordisch sprechen, uns nicht nur als Vertreter des eigenen Landes, sondern eben auch als „nordbor“, Nordleute. Ein entsprechendes westgermanisches Wir-Gefühl gibt es nicht. Deutsche, Niederländer oder Engländer fühlen sich nicht zusätzlich als Westgermanen. Das hängt alles mit der Sprachgeschichte zusammen. Es muss allerdings hinzugefügt werden, dass auch das sprachlich gesehen hauptsächlich finnisch-ugrische Finnland als „nordisch“ betrachtet werden kann, vor allem in kulturellen und politischen Zusammenhängen. Die größere Homogenität des Nordischen erleichtert die Beschreibung dieses Sprachzweiges und seiner Beziehungen zu den benachbarten germanischen Sprachen. Die germanischen Sprachen nehmen im Nordwesten des indogermanischen Sprachgebiets eine periphere Lage ein. Am periphersten liegen die nordischen Sprachen, die an das finnisch-ugrische Sprachgebiet grenzen. Innerhalb des Germanischen wird leicht das deutsche Sprachgebiet auf dem Kontinent als Zentrum aufgefasst, was vor einigen Jahren in den Akten einer Tagung mit dem selbstkritischen Titel „Zur Geschichte der Gleichung ‘germanisch–deutsch’“4 ausführlich dargestellt und eingehend analysiert wurde.5 Beispiele der deutschen Dominanz sind Grimms Deutsche Grammatik im Sinne von ‘germanischer Grammatik’, der englische Name Germany für ‘Deutschland’, die Reihe Hydronymia Germaniae, die die Gewässernamen Deutschlands behandelt, Germanistik als Bezeichnung des Studiums deutscher Sprache und Literatur. Das alles sagt aber nichts über ein ursprüngliches Zentrum innerhalb der Germania aus. Der Grund ist außerhalb des germanischen Sprachgebiets zu finden, und zwar darin, dass die Germanen von Süden aus, von den Römern, „entdeckt“ wurden. Wenn sie stattdessen vom finnisch-ugrischen Kulturraum aus „entdeckt“ worden wären, dann wäre Skandinavien in derselben irreführenden Weise zum germanischen Zentrum geworden.6 Zentrum und Peripherie innerhalb der Germania müssen in anderer Weise ermittelt werden. Maßgebend ist dabei die Verbreitung des ursprünglichen germanischen Sprachgebiets. Wie sich Germanisch aus dem Indogermani4
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Zur Geschichte der Gleichung „germanisch–deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, hrsg. von Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer, Dietrich Hakelberg. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 34 (Berlin, New York 2004). Siehe dazu Thorsten Andersson, Rezension von Zur Geschichte (wie Anm. 4). Studia anthroponymica Scandinavica 24, 2006, S. 131–135. Andersson, Rezension (wie Anm. 5), S. 135.
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schen entwickelt hat, wird sich wohl nie feststellen lassen. Einigkeit besteht aber darüber, dass das älteste germanische Gebiet Norddeutschland und Südskandinavien (mit Dänemark, vgl. Anm. 3), durch Ost- und Nordsee verbunden, umfasst hat und dass sich Germanisch von diesem Zentrum aus nach Süden und Norden verbreitet hat.7 In Skandinavien ist die Germanisierung bis zum finnisch-ugrischen Sprachgebiet erfolgt, worauf ich zurückkomme. Es mag verlockend sein, innerhalb dieses ältesten germanischen Gebietes in Skandinavien und Norddeutschland weiter nach der germanischen „Urheimat“ zu suchen.8 Wie aus der neuen von Oskar Bandle u.a. herausgegebenen nordischen Sprachgeschichte, The Nordic languages9, hervorgeht, stehen heute zwei Hypothesen nebeneinander. Jürgen Udolph10 möchte die „Urheimat“ in Norddeutschland sehen,11 Jorma Koivulehto12 hingegen in Skandinavien.13 Udolph geht von hydronymischen Verhältnissen aus, 7
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Norbert Wagner, Rezension von Jürgen Udolph, Namenkundliche Studien zum Germanenproblem (1994). Beiträge zur Namenforschung NF 29/30, 1994–95, S. 184–193, hier S. 185 ff.; Seebold, Germanen (wie Anm. 1), S. 293; Elmar Seebold, Indogermanisch – Germanisch – Deutsch. Genealogische Einordnung und Vorgeschichte des Deutschen. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Aufl., hrsg. von Werner Besch, Anne Betten, Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger 1. Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Bd. 2.1 (Berlin, New York 1998), S. 963–973, hier S. 969; Brather, Ethnische Interpretationen (wie Anm. 1), S. 224 f. Vgl. Ingo Wiwjorra, Artikel „Urheimat“. In: RGA 35 (2007), S. 314–322. The Nordic languages. An international handbook of the history of the North Germanic languages, ed. by Oskar Bandle (main editor), Kurt Braunmüller, Ernst Håkon Jahr, Allan Karker, Hans-Peter Naumann, Ulf Teleman. Consulting eds.: Lennart Elmevik, Gun Widmark 1. Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Bd. 22.1 (Berlin, New York 2002). Jürgen Udolph, Nordic, Germanic, Indo-European and the structure of the Germanic language family. In: The Nordic languages (wie Anm. 9), S. 544–553. Siehe auch Jürgen Udolph, Artikel „Slawische Sprachen“. In: RGA 29 (2005), S. 101–106, hier S. 104. Jorma Koivulehto, Contact with non-Germanic languages 2. Relations to the East. In: The Nordic languages (wie Anm. 9), S. 583–594. Siehe auch Jorma Koivulehto, Die Datierung der germanisch-finnischen Kontakte, revidiert. In: Finnisch-ugrische Sprachen in Kontakt. Vorträge des Symposiums aus Anlaß des 30-jährigen Bestehens der Finnougristik an der Rijksuniversiteit Groningen 21.–23. November 1996, hrsg. von Sirkka-Liisa Hahmo, Tette Hofstra, László Honti, Paul van Linde, Osmo Nikkilä (Maastricht 1997), S. 11–33, besonders S. 27 f.; Jorma Koivulehto, Frühe Kontakte zwischen Uralisch und Indogermanisch im nordwestindogermanischen Raum. In: Languages in prehistoric Europe, ed. by Alfred Bammesberger, Theo Vennemann in collaboration with Markus Bieswanger, Joachim Grzega (Heidelberg 2003), S. 279–317, hier S. 311; vgl. Petri Kallio,
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während sich Koivulehto auf die große Menge sehr früher germanischer (und vorgermanischer) Lehnwörter im Samischen, dem benachbarten finnisch-ugrischen Sprachzweig in Nordskandinavien, beruft. Koivulehto14 kommt zu diesem Schluss: „It is, therefore, in Scandinavia and Denmark that the primary Germanic homeland must be sought, within the area of the Nordic Bronze Age Culture as defined by archaeology.“ Dieser sprachlicharchäologischen Hypothese steht bekanntlich die Hypothese entgegen, dass die Genese des Germanischen mit der Jastorf-Kultur in Nordwestdeutschland im letzten halben Jahrtausend v. Chr. zu verbinden sei.15 Es geht in diesen beiden Versuchen also darum, das archäologische Umfeld festzustellen, innerhalb dessen sich aus dem Indogermanischen Germanisch entwickelt hat. Leider werden die Hypothesen von Koivulehto und Udolph in der genannten Sprachgeschichte nicht aufeinander bezogen,16 was man als Leser eigentlich erwartet hätte. Spätere Auseinandersetzungen mit den beiden Thesen, die an sich nötig wären, sind mir auch nicht bekannt. Die Frage scheint heute kaum als zentral betrachtet zu werden. Das nordgermanische Sprachgebiet wurde in einer intensiven Expansionsphase zur Wikingerzeit erheblich erweitert, vor allem nach Westen, mit nordischer Landnahme und Kolonisation in Island (und von dort aus auf Grönland), auf den Färöern und den Orkneyinseln, auf den Britischen Inseln und in der Normandie. Auch nach Osten wurde die nordische Sprache im Zusammenhang mit der Gründung des „rusischen“ Reiches durch die Rus’ aus dem Stamm der Svear17 verbreitet.18 Heute ist die nordische Sprache
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Languages in the prehistoric Baltic Sea region. In: Languages in prehistoric Europe, ed. by Alfred Bammesberger, Theo Vennemann in collaboration with Markus Bieswanger, Joachim Grzega (Heidelberg 2003), S. 227–244, hier S. 240, Map 3. Koivulehto, Contact (wie Anm. 12), S. 591. Vgl. Hermann Ament, Die Ethnogenese der Germanen aus der Sicht der Vor- und Frühgeschichte. In: Ethnogenese europäischer Völker. Aus der Sicht der Anthropologie und Vor- und Frühgeschichte, hrsg. von Wolfram Bernhard, Anneliese KandlerPálsson (Stuttgart, New York 1986), S. 247–256; Heiko Steuer, Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde 3. Archäologie B. Ursprung und Ausbreitung der Germanen. Die Germ. und der Norden“. In: RGA 11 (1998), S. 318–327; Hermann Reichert, Rezension von Allan A. Lund, Die ersten Germanen. Ethnizität und Ethnogenese (1998). Göttingische gelehrte Anzeigen 252, 2000, S. 139–175, hier S. 171 ff. Vgl. Thorsten Andersson, Rezension von The Nordic languages (wie Anm. 9). Namn och bygd 93, 2005, S. 162–166, hier S. 165. Eva Nyman, Artikel „Roslagen. Namenkundliches“. In: RGA 25 (2003), S. 344– 346. Thorsten Andersson, Ortsnamen und Siedlungsgeschichte: Skandinavien. In: Na-
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der wikingerzeitlichen Expansionszeit nur in Island und auf den Färöern erhalten geblieben. Auf der Skandinavischen Halbinsel, in Norwegen und Schweden, war das germanische Sprachgebiet ursprünglich erheblich kleiner. Die Frage, wie weit hier das germanische Gebiet nach Norden verbreitet war, lässt sich mit Hilfe der Ortsnamen beantworten. Das germanische Altsiedelgebiet erstreckt sich nördlich bis zum Tröndelag in Norwegen sowie bis Jämtland und Ångermanland in Schweden (Abb. 1). Nördlich davon, in Nordskandinavien, treten alte germanische Namen nur vereinzelt auf. Das hat zuletzt eindeutig Eva Nyman19 mit ihrer Arbeit über nordische Ortsnamen auf -und gezeigt.20 Alte Suffixbildungen, darunter Namen auf -und, sind eben hauptsächlich so weit nördlich verbreitet. Diese Namen enthalten oft Wörter (oder Wurzeln), die auf hohes Alter deuten. Sie gehören zur ältesten germanischen Schicht in Skandinavien. Chronologisch reicht die Sprache dieses germanischen Gebietes in Skandinavien wenigstens bis in die späte Bronzezeit, d.h. bis vor die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends, zurück. In sprachlichen Termini beinhaltet dies, dass wir hier nicht nur mit germanischer, sondern auch mit indogermanischer, vorgermanischer Sprache zu
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menforschung/Name studies/Les noms propres. Ein internationales Handbuch zur Onomastik, hrsg. von Ernst Eichler, Gerold Hilty, Heinrich Löffler, Hugo Steger, Ladislav Zgusta 2. Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Bd. 11.2 (Berlin, New York 1996), S. 1696–1706, hier S. 1701 ff.; Thorsten Andersson, Nordische Ortsnamen aus germanischer Perspektive. Onoma 37, 2002, S. 95–120, hier S. 96 ff.; Svante Strandberg, Scandinavians at home and abroad during the Viking Age and the Middle Ages. The evidence of place-names. In: Proceedings of the 21st international congress of onomastic sciences. Uppsala 19–24 August 2002 1, ed. by Eva Brylla, Mats Wahlberg in collaboration with Vibeke Dalberg, W. F. H. Nicolaisen (Uppsala 2005), S. 50–61; Svante Strandberg, I vikingarnas spår. Nordiska namn utanför Norden. In: Namn och mångkultur – flerspråkiga miljöer och kulturella influenser. Föredrag vid Ortnamnssällskapets i Uppsala 70-årssymposium 21–22 oktober 2006. Utgivna av Ortnamnssällskapet i Uppsala i samarbete med Institutet för språk och folkminnen. Redigerade av Katharina Leibring, Staffan Nyström, Mats Wahlberg (Uppsala 2007), S. 87–94; Klaus Böldl, Artikel „Wikinger. Definition des W.-Begriffs“. In: RGA 35 (2007), S. 697–708, hier S. 704 f. Eva Nyman, Nordiska ortnamn på -und. Acta Academiae regiae Gustavi Adolphi 70. Studier till en svensk ortnamnsatlas 16 (Uppsala 2000). S. dazu Albrecht Greule, Namentypen und Namenräume. Das Suffix -nd- und seine Varianten in germanischen Ortsnamen. In: Proceedings of the 21st international congress of onomastic sciences. Uppsala 19–24 August 2002 1, ed. by Eva Brylla, Mats Wahlberg in collaboration with Vibeke Dalberg, W. F. H. Nicolaisen (Uppsala 2005), S. 34–49.
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Abb. 1: Skandinavien und angrenzende Teile des Kontinents mit im Text genannten (zum Teil historischen) Ortsnamen. I = Dänemark, II = Norwegen, III = Schweden, IV = Finnland, V = Deutschland, VI = Polen
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rechnen haben.21 Geographisch lässt sich mit Hilfe der Ortsnamen in dieser Weise somit das alte indogermanische Sprachgebiet in Skandinavien, das germanisiert wurde, in groben Zügen feststellen. Hans Fromm stellte noch 199722 die in der damaligen archäologischen Forschungslage23 begründete Frage: „Germanen im bronzezeitlichen Mittelschweden?“ Diese Frage ist ohne Weiteres mit Ja zu beantworten.24 Das indogermanische Sprachgebiet umfasste also nicht Nordskandinavien und erstreckte sich auch nicht nach Finnland, das bis 1809 einen Teil des schwedischen Reiches ausmachte. Die nordischen Ortsnamen in Finnland sind, mit einzelnen Ausnahmen, erst nach der Wikingerzeit entstanden; sie spiegeln die mittelalterliche schwedische Kolonisation an den Küsten entlang wider.25 In Finnland besteht also keine germanische Sprachkontinuität seit urgermanischer Zeit. Zwar rechnet man archäologisch mit einer gemeinsamen bronzezeitlichen Kultur in Schweden und an den Küsten Finnlands, aber in Finnland ist Germanisch offensichtlich zur betreffenden Zeit eine Superstratsprache gewesen, die den finnisch-ugrischen Wortschatz stark beeinflusst, dagegen keine Spuren im Ortsnamenschatz hinterlassen hat.26 Auf der Skandinavischen Halbinsel haben sich Nordisch und später Norwegisch und Schwedisch weiter nach Norden verbreitet und dabei das Samische zurückgedrängt. Die Nordverbreitung des alten germanischen Gebietes in Schweden stimmt gut mit der archäologischen Situation überein. Südlich der germanischen Nordgrenze breitet sich in Jämtland und Ångermanland sowie in den südlicher gelegenen Landschaften Medelpad und Hälsingland ein Kulturraum aus, der in den sechs ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung für das mittlere Norrland27 („kulturprovinsen Mellannorrland“) kennzeichnend war (s. Abb. 1). Die archäologischen Funde, die ja über die sprachliche 21
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Thorsten Andersson, Artikel „Vorgermanisch/Vorindogermanisch. Skandinavien“. In: RGA 32 (2006), S. 608–612, hier S. 609 f. Hans Fromm, Germanen im bronzezeitlichen Mittelschweden? Finnisch-ugrische Forschungen 54, 1997, S. 127–150. S. z.B. Steuer, Germanen (wie Anm. 15). Nyman, Nordiska ortnamn (wie Anm. 19), S. 145; Thorsten Andersson, Germanisch in Skandinavien im Lichte der Ortsnamen. In: Runica – Germanica – Mediaevalia, hrsg. von Wilhelm Heizmann, Astrid van Nahl. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 37 (Berlin, New York 2003), S. 1–8, hier S. 4. Thorsten Andersson, Artikel „Nordgermanische Sprachen“. In: RGA 21 (2002), S. 289–306, hier S. 290. Koivulehto, Contact (wie Anm. 12), S. 591. Norrland ist der nördlichste Hauptteil Schwedens, neben Svealand in Zentralschweden und Götaland in Südschweden (s. Abb. 1).
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Zugehörigkeit der Bevölkerung nichts aussagen, lassen sich hier durch die Ortsnamen mit einer germanischsprachigen Völkerschaft kombinieren.28 Der besagte Kulturraum ist auch durch bestimmte Ortsnamentypen gekennzeichnet.29 Nördlich des hier genannten germanischen Kulturraums schließt sich ein finnisch-ugrisches Sprachgebiet an, was gut mit dem Bericht des Norwegers Ottar aus dem Ende des neunten Jahrhunderts übereinstimmt.30 Die Völkerbezeichnungen Fenni, Finni bei den antiken Autoren beziehen sich wahrscheinlich, jedenfalls hauptsächlich, auf die finnisch-ugrischen Samen, obwohl es sich hier um ein germanisches Wort handelt, das erst sekundär ethnische Bedeutung angenommen hat.31 Zwischen Germanisch und Samisch entstand allmählich eine Grenzzone, die allerdings keinesfalls scharf war. Alte germanische Ortsnamen kommen, wie schon erwähnt, auch in 28
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Evert Baudou, Kulturprovinsen Mellannorrland under järnåldern. Namn och bygd 90, 2002, S. 5–36; Evert Baudou, Arkeologiska tolkningar av kulturhistoriska fynd i Mellannorrlands järnålder. In: The Sámi and the Scandinavians. Aspects of 2000 years of contact, hrsg. von Jurij Kusmenko. Schriften zur Kulturwissenschaft Bd. 55 (Hamburg 2004), S. 17–33, hier S. 28 ff. Oskar Bandle, Skandinavische Ortsnamen unter kulturräumlichem Aspekt. In: Namenforschung/Name studies/Les noms propres. Ein internationales Handbuch zur Onomastik, hrsg. von Ernst Eichler, Gerold Hilty, Heinrich Löffler, Hugo Steger, Ladislav Zgusta 2. Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Bd. 11.2 (Berlin, New York 1996), S. 1090–1099, hier S. 1097 f. The Old English Orosius, ed. by Janet Bately. Early English text society. Supplementary series 6 (Oxford u.a. 1980), S. 14; s. dazu Jorma Koivulehto, Artikel „Finnland. Sprachliches“. In: RGA 9 (1995), S. 77–89, hier S. 82; Lars-Erik Edlund, Artikel „Schrittfinnen (Schridfinnen)“. In: RGA 27 (2004), S. 330–334, hier S. 331. Koivulehto, Finnland (wie Anm. 30), S. 82 f.; Edlund, Schrittfinnen (wie Anm. 30), S. 330 ff.; Thomas Wallerström, Emerging ethnonyms, ethnicity and archaeology. The case of „Finns“ in northern Europe. In: The European frontier. Clashes and compromises in the Middle Ages. International symposium of the culture clash or compromise (CCC) project and the Department of archaeology, Lund University, held in Lund October 13–15 2000, ed. by Jörn Staecker. Lund studies in medieval archaeology 33/CCC papers 7 (Lund, Visby 2004), S. 73– 88; Andersson, Vorgermanisch (wie Anm. 21), S. 610 f.; Alexander Sitzmann, Friedrich E. Grünzweig, Die altgermanischen Ethnonyme. Ein Handbuch zu ihrer Etymologie. Unter Benutzung einer Bibliographie von Robert Nedoma, hrsg. von Hermann Reichert. Philologica Germanica 29 (Wien 2008), S. 123 ff., s.v. Fenn, 126 f., s.v. Finnaith, 241 f., s.v. Scrithifinn; Thorsten Andersson, Altgermanische Ethnika. Namn och bygd 97, 2009, Abschnitt 3.5; vgl. Jurij Kusmenko, Der samische Einfluss auf die skandinavischen Sprachen. Ein Beitrag zur skandinavischen Sprachgeschichte. Berliner Beiträge zur Skandinavistik 10 (Berlin 2008), S. 329 ff.
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Nordskandinavien vor. Samische Ortsnamen sind auch im alten germanischen Raum zu finden, unsicher wie weit südlich, aber diese Frage ist noch nicht näher untersucht worden.32 Der hier geschilderte Zustand stimmt vorzüglich mit den Ergebnissen überein, die Jorma Koivulehto33 in seinen Untersuchungen über die frühen Sprachkontakte im Ostseeraum und in Skandinavien erzielt hat.34 In einem der Aufsätze von Koivulehto35 heißt es zusammenfassend: „Schon vor der germanischen Periode haben die Vorgermanen/Indogermanen mit den Urfinnen/Vorlappen in Kontakt gestanden“. So sah es offensichtlich in Mittelskandinavien Ende der Bronzezeit aus. Die indogermanische Schicht ist zweifellos erheblich älter; ihr Alter ist aber sprachlich nicht greifbar.36 Ein vorindogermanisches Substrat lässt sich jedenfalls nicht nachweisen; in Skandinavien sind keine vorindogermanischen toponymischen Spuren gefunden worden, die zur Frage der Indogermanisierung Nordeuropas hätten beitragen können. Dagegen wird ein vorsamisches Substrat in Nordskandinavien erwogen.37
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Andersson, Vorgermanisch (wie Anm. 21), S. 611; vgl. Ulla Swedell, Finska och samiska ortnamn i Sverige. Opuscula Uralica 4 (Uppsala 2001), S. 8 f., 78; Ulla Swedell, Rezension von The Sámi and the Scandinavians. Aspects of 2000 years of contact, hrsg. von Jurij Kusmenko (2004). Namn och bygd 96, 2008, S. 187–190, hier S. 189 f.; Svenskt ortnamnslexikon. Utarbetat inom Språk- och folkminnesinstitutet och Institutionen för nordiska språk vid Uppsala universitet. Redaktör: Mats Wahlberg (Uppsala 2003), S. 12 f.; Kusmenko, Der samische Einfluss (wie Anm. 31), S. 336 ff.; vgl. Michael Schulte, Rezension von Kusmenko, Der samische Einfluss (wie Anm. 31). NOWELE 56/57, 2009, S. 163–176. Jorma Koivulehto, Seit wann leben die Urfinnen im Ostseeraum? Zur relativen und absoluten Chronologie der alten idg. Lehnwortschichten im Ostseefinnischen. In: Symposium saeculare Societatis fenno-ugricae. Redaktion: Juha Janhunen, Anneli Peräniitty, Seppo Suhonen. Suomalais-ugrilaisen seuran toimituksia/Mémoires de la Société finno-ougrienne 185 (Helsinki 1983), S. 135–157; Jorma Koivulehto, Die Datierung (wie Anm. 13); Jorma Koivulehto, Contact (wie Anm. 12). Siehe auch Kallio, Languages (wie Anm. 13), S. 236; vgl. Thomas Birkmann, A survey of ancient Nordic sources. In: The Nordic languages (wie Anm. 9), S. 619– 625, hier S. 621. Koivulehto, Die Datierung (wie Anm. 13), S. 27. Andersson, Germanisch (wie Anm. 24), S. 6. Andersson, Ortsnamen (wie Anm. 18), S. 1697 f.; Thorsten Andersson, Förgermanska ortnamn i Norden. In: Eivindarmál. Heiðursrit til Eivind Weyhe á seksti ára degi hansara 25. apríl 2002. Ritstjórn: Anfinnur Johansen, Zakaris Svabo Hansen, Jógvan í Lon Jacobsen, Malan Marnersdóttir. Annales Societatis scientiarum Færoensis. Supplementum 32 (Tórshavn 2002), S. 53–57; Andersson, Germanisch (wie Anm. 24); Andersson, Vorgermanische Ortsnamen in Skandinavien. Namenkundliche Informationen 83/84, 2003, S. 15–20; Andersson, Vorgermanisch (wie
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Die Aufgliederung des Germanischen, die wenigstens hauptsächlich im südlichen Ostseeraum erfolgt sein dürfte, gehört zu den umstrittensten Fragen der germanischen Sprachforschung.38 Zentral in dieser Diskussion ist die Frage, ob Nordgermanisch eher mit West- oder Ostgermanisch zusammenzuhalten ist. Lange standen dabei die gotonordischen Übereinstimmungen im Mittelpunkt des Interesses. Als Vertreter dieser Auffassung ist vor allem Ernst Schwarz39 zu nennen. Er rechnet bekanntlich mit einer gemeinsamen Vorstufe des Nordischen und des Gotischen, das heißt mit einer auf das Urgermanische folgenden nordgermanischen Sprachstufe, aus der sich Gotisch und andere ostgermanische Sprachen abgezweigt haben. Seit der Mitte der 1950er Jahre hat sich durch die scharfe Kritik Hans Kuhns40 das Interesse auf die Verwandtschaft zwischen Nord- und Westgermanisch verschoben. Kuhn, der ebenso wie Schwarz von der Herkunft der Goten aus Skandinavien überzeugt ist, konzentriert sich auf die Sprachstufe, die nach der Abwanderung der Goten entstanden war, was zwangsläufig zu einer gewissen Einseitigkeit führen muss (vgl. unten über das Kontinuum West-, Nord- und Ostgermanisch). Die Sprache der ältesten Runeninschriften, die meistens urnordisch41, aber ausweichend auch „altrunisch“ oder „early runic“42 genannt wird, spielt dabei eine zentrale Rolle. Als Vertreter
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Anm. 21), S. 610 f.; Michael Rießler, Substratsprachen, Sprachbünde und Arealität in Nordeuropa. NOWELE 54/55, 2008, S. 99–130, hier S. 110 ff., 124 f. Andersson, Nordgermanische Sprachen (wie Anm. 25), S. 290 ff. Ernst Schwarz, Goten, Nordgermanen, Angelsachsen. Studien zur Ausgliederung der germanischen Sprachen. Bibliotheca Germanica 2 (Bern, München 1951). Hans Kuhn, Rezension von Schwarz, Goten (wie Anm. 39). Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 66, 1952, S. 45–52 (Neudruck in: Hans Kuhn, Kleine Schriften. Aufsätze und Rezensionen aus den Gebieten der germanischen und nordischen Sprach-, Literatur- und Kulturgeschichte 1. Sprachgeschichte, Verskunst, Berlin 1969, S. 196–204); Hans Kuhn, Zur Gliederung der germanischen Sprachen. Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 86, 1955, S. 1–47 (Neudruck in: Hans Kuhn, Kleine Schriften. Aufsätze und Rezensionen aus den Gebieten der germanischen und nordischen Sprach-, Literatur- und Kulturgeschichte 1. Sprachgeschichte, Verskunst, Berlin 1969, S. 246–290). So Lena Peterson, Lexikon över urnordiska personnamn (Uppsala 2004, PDF), http://www.sofi.se. Thorsten Andersson, Nordische und kontinentalgermanische Orts- und Personennamenstruktur in alter Zeit. In: Nordwestgermanisch, hrsg. von Edith Marold, Christiane Zimmermann. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 13 (Berlin, New York 1995), S. 1–39, hier S. 3; Thorsten Andersson, Artikel „Urnordische Sprache“. In: RGA 31 (2006), S. 559–562; Hans Frede Nielsen, The early runic language of Scandinavia. Studies in Germanic dialect geography. Indogermanische Bibliothek. Erste Reihe (Heidelberg 2000).
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der von Kuhn eingeleiteten neuen Forschungstradition sind unter anderen Herbert Penzl, Marian Adamus und anfangs Elmer Antonsen zu nennen. Später ist Antonsen aber zur Auffassung eines näheren Zusammenhangs des Nordischen nicht mit Westgermanisch überhaupt, sondern mit Nordseegermanisch (Altsächsisch, Altfriesisch, Altenglisch), das heißt mit Ausklammerung des Althochdeutschen, gekommen. Antonsen nimmt dann nicht mehr eine nordisch-westgermanische Spracheinheit, sondern eine nordwestgermanische, an, das heißt eine sprachliche Einheit im Nordwesten des germanischen Sprachgebiets.43 Grundlegend für das weitere Studium der Verbindung zwischen Nordund Westgermanisch ist eine Arbeit von Hans Frede Nielsen.44 Seine tiefe und eingehende Analyse führt zu dem Schluss, dass sich der nordisch-westgermanische Sprachzweig um 200 in einen „early runic“-Zweig und einen westgermanischen Zweig aufteilt, von denen der erstere ab ungefähr 500 bekanntlich durch die für die nordischen Sprachen grundlegenden Veränderungen mit Synkope und damit zusammenhängenden Umlauterscheinungen umstrukturiert wird. Nielsen zögert, schon um 200 mit nordischer Sprache zu rechnen. Die Terminologie ist jedoch nicht wesentlich. Es sei hier an eine Formulierung von Thomas Klein45 in einem Aufsatz über die Inschrift auf dem Horn von Gallehus in Jütland (um 400) erinnert: Inschriften von Sprachtypus und Entstehungszeit der Gallehus-Inschrift sind […] nicht westgermanisch, sondern gehören eher ins Vorfeld des Nordgermanischen – nicht, weil sie bereits kennzeichnend nordgermanische Züge trügen, sondern weil sie eine Sprachform bewahren, welche die westgermanischen, und hier besonders die nordseegermanischen, Dialekte längst verlassen hatten.
Eine von Gallehus zum Altnordischen führende Linie ist jedenfalls deutlich zu erkennen. 43 44
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Andersson, Nordgermanische Sprachen (wie Anm. 25), S. 292. Nielsen, The early runic (wie Anm. 42); siehe dazu Thorsten Andersson, Rezension von Nielsen, The early runic (wie Anm. 42). Studia anthroponymica Scandinavica 19, 2001, S. 132–137; Andersson, Nordgermanische Sprachen (wie Anm. 25), S. 292 f.; Andersson, Urnordische Sprache (wie Anm. 42), S. 559 f.; siehe auch Hans Frede Nielsen, Nordic-West Germanic relations. In: The Nordic languages (wie Anm. 9), S. 558–568; Hans Frede Nielsen, The early runic inscriptions and Germanic historical linguistics. In: Runes and their secrets. Studies in runology, ed. by Marie Stoklund, Michael Lerche Nielsen, Bente Holmberg, Gillian FellowsJensen (Kopenhagen 2006), S. 247–269. Thomas Klein, Zu horna und zur sprachlichen Einordnung der Gallehus-Inschrift. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 114, 1992, S. 212– 226, hier S. 224.
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Thorsten Andersson
Die nordwestgermanische Zusammengehörigkeit in der ersten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrtausends wird durch die Ortsnamen bestens bestätigt.46 Das wichtigste Zeugnis sind dabei die neben den germanischen pluralischen Namen auf *‑ingōz (deutsch ‑ingen) vorkommenden Namen auf *‑ingia- n., die mit den pluralischen Namen genetisch zusammenzuhalten sein dürften.47 Die pluralischen, ursprünglich personenbezeichnenden Namen sind gemeinsam für die germanischen Sprachzweige; sie sind in gotischen Ortsnamen in Südeuropa bezeugt.48 Die *‑ingia-Namen zeigen dagegen eine typisch nordwestgermanische Verbreitung. Sie sind über ein großes zusammenhängendes Gebiet verbreitet, das sich von Zentral- und Südschweden über Dänemark, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Thüringen und die Nordseeküste bis England erstreckt.49 Gemeinsam für Skandinavien und den Kontinent sind auch die Ortsnamen auf ‑heim und ‑statt/‑stätten (altnordisch ‑staðir Plural)50, die aber genauso gut allgemein germanisch sein können; der alte ostgermanische Ortsnamenschatz ist uns ja mit der gerade genannten Ausnahme unbekannt. Auf beiden Seiten der Grenze zwischen Nord- und Westgermanisch breiten sich bekanntlich über ein begrenztes Gebiet die Ortsnamen auf deutsch ‑leben und nordisch ‑lev/
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Andersson, Nordische und kontinentalgermanische (wie Anm. 42), S. 9 ff.; Nielsen, The early runic (wie Anm. 42), S. 303 ff. Thorsten Andersson, De germanska ‑ingi-namnen. Namn och bygd 94, 2006, S. 5–13; Thorsten Andersson, Folk – fylki, kind – *kindi. In: Namn från land och stad. Hyllningsskrift till Mats Wahlberg 25 maj 2008. Redigerad av Eva Brylla, Svante Strandberg. Namn och samhälle 21 (Uppsala 2008), S. 7–16, hier S. 8. Ernst Gamillscheg, Romania Germanica. Sprach- und Siedlungsgeschichte der Germanen auf dem Boden des alten Römerreichs 1. Zu den ältesten Berührungen zwischen Römern und Germanen. Die Franken. Die Westgoten. Grundriß der germanischen Philologie 11.1 (Berlin, Leipzig 1934), S. 330 ff. mit Karte 1; Ernst Gamillscheg, Romania Germanica. Sprach- und Siedlungsgeschichte der Germanen auf dem Boden des alten Römerreichs 2. Die Ostgoten. Die Langobarden. Die altgermanischen Bestandteile des Ostromanischen. Altgermanisches im Alpenromanischen. Grundriß der germanischen Philologie 11.2 (Berlin, Leipzig 1935), S. 14 ff.; Dietrich Claude, Geschichte der Westgoten. Urban-Taschenbücher 128 (Stuttgart u.a. 1970), S. 38; Michel Rouche, L’Aquitaine. Des Wisigoths aux Arabes 418– 781. Naissance d’une région (Paris 1979), S. 136 ff. mit Carte 16, S. 139, 532 Anm. 12, 554 ff.; Tischler, Ostgermanen (wie Anm. 1), S. 342. Andersson, Nordische und kontinentalgermanische (wie Anm. 42), S. 10 ff.; Andersson, De germanska (wie Anm. 47), S. 5; Svenskt ortnamnslexikon (wie Anm. 32), S. 150, s.v. ‑inge. Die nordischen -staðir-Namen werden meistens mit den -statt/-stätten-Namen zusammengehalten; siehe Andersson, Nordische Ortsnamen (wie Anm. 18), S. 103; Svenskt ortnamnslexikon (wie Anm. 32), S. 289 f., s.v. sta(d).
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‑löv aus, die sicherlich zusammenzuhalten sind und somit auch die hier besprochene nordwestgermanische Zusammengehörigkeit beleuchten. Zum gotonordischen Problem nimmt Hans Frede Nielsen in der genannten sprachgeschichtlichen Arbeit eine etwas abweisende Haltung ein. Denkbare nordische und gotische Übereinstimmungen werden abgelehnt,51 so die Annahme, dass die Endung -a im Nom. Sing. der maskulinen n-Stämme in den ältesten Runeninschriften (später altnordisch ‑i) und gotisch ‑a auf indogermanisch *‑ēn zurückzuführen sind, eine Herleitung, die jetzt als anerkannt anzusehen ist.52 Wir haben hier gesehen, wie der nordgermanische Sprachzweig vorzugsweise oder gar einseitig entweder mit dem ostgermanischen oder mit dem westgermanischen Zweig zusammengehalten wird. In einem Kontinuum handelt es sich ja aber nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohlals-auch, und dieses Kontinuum von West-, Nord- und Ostgermanisch bestand sicherlich noch lange nach Christi Geburt, das heißt bis sich Gotisch (Ostgermanisch) abzweigte (siehe unten; vgl. oben Hans Kuhns Einstellung). Die Übereinstimmungen zwischen Gotisch (als Vertreter des Ostgermanischen) und Nordisch sind durch die Handbücher bekannt und brauchen hier nicht wiederholt zu werden.53 Am größten sind die Übereinstimmungen zwischen dem Gotischen und dem Ostnordischen. Der a-Umlaut, der im Gotischen fehlt, ist im Nordischen schwächer im Osten als im Westen vertreten. Beispiele sind Part. Prät. wie gotisch budans zu biudan ‘bieten’, altschwedisch buþin gegenüber altwestnordisch boðinn. Am schwächsten ist der a-Umlaut im Altgutnischen, der alten gotländischen Sprache, vertreten, wo er nur vor der Lautverbindung r + Konsonant auftritt, z.B. borþ ‘Tisch’, korn ‘Getreide; Gerste’ gegenüber fulc ‘Volk’, spur ‘Spur’. Hier sei an die Inschrift auf dem Horn von Gallehus (um 400) erinnert, in der der Beiname Holtijaz (eher Einwohnerbezeichnung als Patronymikon) 51
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Andersson, Rezension (wie Anm. 44); Thorsten Andersson, Gutþiuda och Gutland – en tillfällig likhet? In: Namn och kulturella kontakter i Östersjöområdet. Handlingar från NORNA:s 30:e symposium i Visby 14–16 september 2001. Redigerade av Staffan Nyström. NORNA-rapporter 78 (Uppsala 2003), S. 74–86, hier S. 80 ff. Jón Axel Harðarson, Der geschlechtige Nom. Sg. und der neutrale Nom.-Akk. Pl. der n-Stämme im Urindogermanischen und Germanischen. In: Sprachkontakt und Sprachwandel. Akten der 11. Fachtagung der Indogermanischen Gesellschaft, 17.– 23. September 2000, Halle an der Saale, hrsg. von Gerhard Meiser, Olav Hackstein (Wiesbaden 2005), S. 215–236; Robert Nedoma, Urnordisch -a im Nominativ Singularis der maskulinen n-Stämme. NOWELE 46/47, 2005, S. 155–191. Andersson, Nordgermanische Sprachen (wie Anm. 25), S. 290 f.; siehe auch Piergiuseppe Scardigli, Nordic-Gothic linguistic relations. In: The Nordic languages (wie Anm. 9), S. 553–558.
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neben horna n. Akk. Sing. auftritt. Das dem Beinamen zugrunde liegende Wort, germanisch *hulta- n. ‘Wald’, zeigt hier schon die a-umgelautete Form, die mit dem Westgermanischen (deutsch Holz usw.) übereinstimmt und in altwestnordisch und neudänisch holt weiterlebt, während die altschwedische Form hult lautet. Dagegen ist horna (< *hurna- mit u vor r + Konsonant) gemeinnordisch.54 Im germanischen Kontinuum sind allmählich Grenzen entstanden, an denen sich die Nachbarn nicht mehr miteinander verständigen konnten. Die Grenze zwischen Nord- und Westgermanisch wird bekanntlich mit der Auswanderung nach England im 5. Jahrhundert in Verbindung gesetzt, die unter anderem von Angeln, dem Land der Angeln im südlichen Jütland, ausging (Abb. 1). Dadurch entstand eine Lücke in Jütland, das den Ortsnamen zufolge noch in den ersten Jahrhunderten n. Chr. enger mit dem Kontinent als mit den dänischen Inseln und dem übrigen nordischen Raum zusammenhing.55 Diese Lücke wurde vom Stamm der Danir gefüllt, der sich um die Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends über Jütland verbreitete. Damit war das Kontinuum mit gegenseitiger Verstehbarkeit gebrochen und eine Sprachgrenze entstanden.56 Weniger greifbar ist das Entstehen der Grenze zwischen Nord- und Ostgermanisch, das heißt in erster Linie zwischen Nordisch und Gotisch. Mit diesem Problem hängt eine Reihe miteinander verbundener Fragen zusammen. Die sprachliche Nähe, die sich hier oben zwischen Altgutnisch und Gotisch andeutet, wird besonders spannend, wenn wir bedenken, dass die Völkerschaftsbezeichnungen Goten, gotisch gutans57, und altgutnisch und alt54
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Wortschatzuntersuchungen erlauben bis jetzt keine sicheren Schlüsse über die Stellung des Gotischen innerhalb des Germanischen. Siehe Schwarz, Goten (wie Anm. 39), Kap. 9; Ingemar Olsson, Gotländska ortnamn (Visby 1994), S. 19 ff.; Andersson, Nordgermanische Sprachen (wie Anm. 25), S. 292 f.; Tischler, Ostgermanen (wie Anm. 1), S. 343. Andersson, Nordgermanische Sprachen (wie Anm. 25), S. 290. Elmar Seebold, Völker und Sprachen in Dänemark zur Zeit der germanischen Wanderungen. In: Nordwestgermanisch, hrsg. von Edith Marold, Christiane Zimmermann. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 13 (Berlin, New York 1995), S. 155–186, hier S. 161; Seebold, Germanen (wie Anm. 1), S. 278 f., 298; Seebold, Indogermanisch (wie Anm. 7), S. 965, 972; Seebold, Westgermanische Sprachen (wie Anm. 1), S. 534; Andersson, Nordgermanische Sprachen (wie Anm. 25), S. 294; Thorsten Andersson, Svear, goter och burgunder. Germanska stammar med en spännande historia. In: Namn och mångkultur – flerspråkiga miljöer och kulturella influenser. Föredrag vid Ortnamnssällskapets i Uppsala 70-årssymposium 21–22 oktober 2006. Utgivna av Ortnamnssällskapet i Uppsala i samarbete med Institutet för språk och folkminnen. Redigerade av Katharina Leibring, Staffan Nyström, Mats Wahlberg (Uppsala 2007), S. 13–20, hier S. 16. Nom. Plur. gutans ist nicht belegt, dagegen Gen. Plur. gutani in der Inschrift auf
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schwedisch gutar (altschwedisch Guti als Beiname belegt; NB ohne a-Umlaut gegenüber altwestnordisch gotar), die einheimische Benennung der Gotländer, sprachlich identisch sind. Die *gutaniz, so die urgermanische Form, sind also auf Gotland als eine autochthone Völkerschaft zu betrachten, und nach ihnen trägt die Insel ihren Namen, altgutnisch Gutland, zu vergleichen mit gotisch Gutþiuda, einer Bezeichnung des gotischen Volkes (gotisch þiuda f. ‘Volk’).58 Durch die antiken Autoren, besonders Ptolemaios (um 150 n. Chr.), wissen wir auch, dass *gutaniz im Weichsel-Gebiet im heutigen Polen gesessen haben. Eine Völkerschaft *gutaniz ist somit im südlichen Ostseeraum an zwei Stellen nachweisbar. Diese Erkenntnis ist keinesfalls neu, jedoch bis jetzt kaum gründlich durchdacht worden. Waren die *gutaniz ursprünglich auch südlich der Ostsee zu Hause? Die archäologische Literatur gibt verschiedene Antworten, was ich mit einigen Beispielen zeigen möchte. Jerzy Strzelczyk59 rechnet fest mit Einwanderung aus Skandinavien und gotischer Ethnogenese in der neuen Heimat. Eine ganz andere Einstellung vertritt Przemysław Urbańczyk.60 Seiner Meinung nach ist der Stamm der Goten in Polen autochthon: „the Goths never came to northern Poland because they originated from this area“.61 Urbańczyk geht also davon aus, dass Polen zum alten germanischen Gebiet gehört. Das tut auch Volker Bierbrauer, der diese auf die Goten bezogene Frage stellt: „Kontinentale Ethnogenese oder Einwanderung über See?“62
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dem Ring von Pietroasa, entsprechend gutanē in der klassischen gotischen Sprache. Siehe Thorsten Andersson, Götar. In: Från götarna till Noreens kor. Hyllningsskrift till Lennart Elmevik på 60-årsdagen 2 februari 1996. Redigerad av Eva Brylla, Svante Strandberg, Mats Wahlberg. Skrifter utgivna genom Ortnamnsarkivet i Uppsala. Serie B. Meddelanden 11 (Uppsala 1996), S. 33–50, hier S. 36; Thorsten Andersson, Götar, goter, gutar. Namn och bygd 84, 1996, S. 5–21, hier S. 5; Robert Nedoma, Artikel „Pietroassa. Runologisches. Lesung, Deutung“. In: RGA 23 (2003), S. 155–158, hier S. 157. Andersson, Gutþiuda (wie Anm. 51), S. 74. Jerzy Strzelczyk, Einige Bemerkungen zur Diskussion über die Frühgeschichte der Goten. In: Europa Slavica – Europa orientalis. Festschrift für Herbert Ludat zum 70. Geburtstag, hrsg. von Klaus-Detlev Grothusen, Klaus Zernack. Osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen. Reihe 1. Gießener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens (Berlin 1980), S. 1–29. Przemysław Urbańczyk, The Goths in Poland – where did they come from and when did they leave? European journal of archaeology 1, 1998, S. 397–415. Urbańczyk, The Goths (wie Anm. 60), S. 410. Er fügt sogar hinzu: „and they have never really left the Baltic coast because some of their population stayed there“. Ohne Kommentar klingt diese Hinzufügung unüberlegt. Sie müsste beinhalten, dass die Goten früh slawisiert worden wären, denn sonst hätte es im Ortsnamenschatz gotische Spuren gegeben. Volker Bierbrauer, Die Goten vom 1.–7. Jahrhundert n. Chr.: Siedelgebiete und
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Seine Antwort ist, dass Einwanderung nur eine unbedeutende Rolle gespielt hat.63 Dieselbe Ansicht drückt Bierbrauer64 in seinem RGA-Artikel über Goten aus.65 Die gerade zitierte Frage ist eigentlich falsch gestellt: kontinentale Ethnogenese oder Einwanderung über See? Es ist hier nötig, etwas weiter auszuholen. Die Frage, ob die Goten seit alters her im Weichsel-Gebiet zu Hause waren, ist in erster Linie sprachlich, nicht archäologisch.66 Die slawische Expansion über das alte germanische Sprachgebiet an der Südküste der Ostsee, die nach heutiger Auffassung erst im 7. Jahrhundert anfing,67 hat bekanntlich den alten germanischen und vorgermanischen Ortsnamenschatz weitgehend getilgt. Das Problem vorslawischer Ortsnamen zwischen Elbe und Oder ist in den letzten Jahrzehnten eifrig diskutiert worden.68 Wie
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Wanderbewegungen aufgrund archäologischer Quellen. In: Peregrinatio Gothica 3. Fredrikstad, Norway, 1991. Redaksjon: Eldrid Straume, Ellen Skar (Oslo 1992), S. 9–43, hier S. 9; Volker Bierbrauer, Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.–7. Jahrhundert. Versuch einer Bilanz. Frühmittelalterliche Studien 28, 1994, S. 51–171, hier S. 52, 75. Bierbrauer, Die Goten (wie Anm. 62), S. 16; Bierbrauer, Archäologie (wie Anm. 62), S. 87. Volker Bierbrauer, Artikel „Goten. Archäologisches“. In: RGA 12 (1998), S. 407–427, hier S. 412. Zustimmend M. Mączyńska, Artikel „Wielbark-Kultur“. In: RGA 34 (2007), S. 1–20, hier S. 15 ff.; grundsätzliche Gesichtspunkte auf die Frage gotischer Ethnogenese bei Brather, Ethnische Interpretationen (wie Anm. 1), S. 228 ff. Die Möglichkeit, ethnische Identität archäologisch nachzuweisen, wird von Sebastian Brather nachdrücklich zurückgewiesen; s. Sebastian Brather, Ethnic identities as constructions of archaeology: The case of the Alamanni. In: On barbarian identity. Critical approaches to ethnicity in the early Middle Ages, ed. by Andrew Gillett. Studies in the early middle ages 4 (Turnhout 2002), S. 149–175; Brather, Ethnische Interpretationen (wie Anm. 1). In der ersteren Arbeit (S. 175) heißt es grundsätzlich: „ ‚Ethnic identity‘ is beyond the reach of archaeology“. Vgl. Walter Pohl, Ethnicity, theory, and tradition: A response. In: On barbarian identity. Critical approaches to ethnicity in the early Middle Ages, ed. by Andrew Gillett. Studies in the early middle ages 4 (Turnhout 2002), S. 221–239, hier S. 235 ff. Achim Leube, Germanische Völkerwanderungen und ihr archäologischer Fundniederschlag. Slawisch-germanische Kontakte im nördlichen Elb-Oder-Gebiet. Ein Forschungsbericht (2). Ethnographisch-archäologische Zeitschrift 36, 1995, S. 259–298, hier S. 259, 284. Aus der umfangreichen sprachwissenschaftlichen und archäologischen Literatur sei hier auf eine Auswahl hingewiesen: Ernst Eichler, Hans Walther, Untersuchungen zur Ortsnamenkunde und Sprach- und Siedlungsgeschichte des Gebietes zwischen mittlerer Saale und Weißer Elster. Deutsch-slawische Forschungen zur Namenkunde und Siedlungsgeschichte 35 (Berlin 1984), Teile 1 und 3; Gerhard Schlim-
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sich dabei herausgestellt hat, sind dort vorslawische Namen, besonders in (ursprünglichen) Gewässernamen, deutlich zu erkennen, und zwar zum Teil mit germanischen Spuren. Über das Gebiet östlich der Oder liegen entsprepert, Brandenburgisches Namenbuch 5. Die Ortsnamen des Barnim. Mit einem siedlungsgeschichtlichen Beitrag von R. Barthel. Berliner Beiträge zur Namenforschung 6 (Weimar 1984), S. 404 f.; Gerhard Schlimpert, Zur Überlieferung vorslawischer Namen in der DDR. In: Siedlung, Wirtschaft und Gesellschaft während der jüngeren Bronze- und Hallstattzeit in Mitteleuropa. Internationales Symposium. Potsdam, 25. bis 29. April 1983. Bericht, hrsg. von Dietmar-Wilfried R. Buck, Bernhard Gramsch. Veröffentlichungen des Museums für Ur- und Frühgeschichte Potsdam Bd. 20 (Berlin 1986), S. 25–28; Gerhard Schlimpert, Die Gewässernamen Brandenburgs. In: Studia onomastica 5. Namenkundliche Informationen. Beiheft 11 (Leipzig 1987), S. 40–47; Gerhard Schlimpert, Alte Gewässernamen in Brandenburg und Mecklenburg. In: Probleme der älteren Namenschichten. Leipziger Symposion 21. bis 22. November 1989, hrsg. von Ernst Eichler. Beiträge zur Namenforschung NF. Beiheft 32 (Heidelberg 1991), S. 43–52; Gerhard Schlimpert, Germanische Gewässernamen in Brandenburg. Namn och bygd 79, 1991, S. 131– 138; Ernst Eichler, Gerhard Schlimpert, Teodolius Witkowski, Bruno Krüger, Das Verhältnis zwischen slawischen Einwanderern und germanischer Restbevölkerung. In: Die Slawen in Deutschland. Geschichte und Kultur der slawischen Stämme westlich von Oder und Neiße vom 6. bis 12. Jahrhundert. Ein Handbuch. Neubearbeitung, hrsg. von Joachim Herrmann. Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR Bd. 14 (Berlin 1985), S. 33–36; Ernst Eichler, Teodolius Witkowski, Namen der Stämme und Landschaften. In: Die Slawen in Deutschland. Geschichte und Kultur der slawischen Stämme westlich von Oder und Neiße vom 6. bis 12. Jahrhundert. Ein Handbuch. Neubearbeitung, hrsg. von Joachim Herrmann. Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR Bd. 14 (Berlin 1985), S. 10–14; Sophie Wauer, Brandenburgisches Namenbuch 6. Die Ortsnamen der Prignitz. Mit einem siedlungsgeschichtlichen Beitrag von Christa Plate. Berliner Beiträge zur Namenforschung 7 (Weimar 1989), S. 426 ff.; Sophie Wauer, Brandenburgisches Namenbuch 12. Die Ortsnamen des Kreises Beeskow-Storkow. Nach Vorarbeiten von Klaus Müller mit einem siedlungsgeschichtlichen Beitrag von Kerstin Kirsch. Berliner Beiträge zur Namenforschung 13 (Stuttgart 2005), S. 231; Ernst Eichler, Ortsnamenschichten im SaaleElbe-Gebiet. In: Probleme der älteren Namenschichten. Leipziger Symposion 21. bis 22. November 1989, hrsg. von Ernst Eichler. Beiträge zur Namenforschung NF. Beiheft 32 (Heidelberg 1991), S. 53–58; Ernst Eichler, Slawen und Deutsche in ihren Sprachbeziehungen östlich von Elbe und Saale. In: Sprachkontakte. Niederländisch, Deutsch und Slawisch östlich von Elbe und Saale, hrsg. von Dieter Stellmacher. Wittenberger Beiträge zur deutschen Sprache und Kultur Bd. 3 (Frankfurt/ Main u.a. 2004), S. 55–71; Hans Walther, Spätgermanisch-frühdeutsches Namengut zwischen Werra und Elbe. Betrachtungen zur Siedlungsnamenstratigraphie Altthüringens. In: Probleme der älteren Namenschichten. Leipziger Symposion 21. bis 22. November 1989, hrsg. von Ernst Eichler. Beiträge zur Namenforschung NF. Beiheft 32 (Heidelberg 1991), S. 15–31, hier S. 18 Anm. 8; Jürgen Udolph, Alteu-
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chende Untersuchungen nicht vor.69 Soweit mir bekannt ist, sind dort Spuren eines germanischen Substrates nicht sicher nachgewiesen worden.70 Bezeichnenderweise erwägt Elmar Seebold71, dass sich das alte germanische Sprachgebiet nur bis zur Oder erstreckt hat. Damit ist die von mehreren Seiten geäußerte Annahme zu vergleichen, dass das alte slawische Gebiet von Osten her eben bis zur Oder verbreitet war.72 Unter diesen Umständen wären somit nähere Untersuchungen des Gebietes östlich der Oder wünschenswert. Zu beachten ist hier auch, dass der slawisch-germanische Kontakt wahrscheinlich erst sekundär, auf einen älteren baltisch-germanischen Kontakt folgend, entstanden ist.73 Im Weichsel-Gebiet hat man – eher laienhaft – Ortsnamenspuren der Goten finden wollen. Ein solcher Gedanke wird aber von Jürgen Udolph74
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ropäische und germanische Namen in Brandenburg und seiner Umgebung. In: Beiträge zur Entstehung und Entwicklung der Stadt Brandenburg im Mittelalter, hrsg. von Winfried Schich. Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin Bd. 84 (Berlin, New York 1993), S. 1–28; Jürgen Udolph, Artikel „Slawisch-Baltisch-Germanische Sprachbeziehungen. Germanisch-Slawische Sprachbeziehungen“. In: RGA 29 (2005), S. 69–73, hier S. 72; Peter Donat, Reinhard E. Fischer, Die Anfänge slawischer Siedlung westlich der Oder. Methodische Überlegungen zu Problemen aktueller archäologischer und onomastischer Forschungen. Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 45, 1994, S. 7–30; Achim Leube, Germanische Völkerwanderungen und ihr archäologischer Fundniederschlag. Das 5. und 6. Jh. östlich der Elbe. Ein Forschungsbericht (1). Ethnographisch-archäologische Zeitschrift 36, 1995, S. 3–85; Leube, Germanische Völkerwanderungen 2 (wie Anm. 67); Sebastian Brather, ‚Germanische‘, ‚slawische‘ und ‚deutsche‘ Sachkultur des Mittelalters – Probleme ethnischer Interpretation. Ethnographisch-archäologische Zeitschrift 37, 1996, S. 177–216; Sebastian Brather, Einwanderergruppen oder Regionalentwicklung? Die frühen Slawen zwischen Elbe und Oder. Das Altertum 45, 1999, S. 331–346; Sebastian Brather, The beginnings of Slavic settlement east of the river Elbe. Antiquity 78, 2004, S. 314–329; Inge Bily, Die mittelelbische Ortsnamenlandschaft – zur siedlungsgeschichtlichen Entwicklung des Raumes. In: Sprachkontakte. Niederländisch, Deutsch und Slawisch östlich von Elbe und Saale, hrsg. von Dieter Stellmacher. Wittenberger Beiträge zur deutschen Sprache und Kultur Bd. 3 (Frankfurt/Main u.a. 2004), S. 133–157. Vgl. Leube, Germanische Völkerwanderungen 1 (wie Anm. 68), S. 3, 61 ff. Siehe dazu Jürgen Udolph, Artikel „Slawen. Namenkundlich“. In: RGA 29 (2005), S. 44–50, hier S. 45 f.; Udolph, Slawisch-Baltisch (wie Anm. 68), S. 71 f. Seebold, Germanen (wie Anm. 1), S. 297. Udolph, Slawen (wie Anm. 70), S. 45; Udolph, Slawische Sprachen (wie Anm. 11), S. 103; M. Dulinicz, Artikel „Slawen. Archäologisch“. In: RGA 29 (2005), S. 54–59, hier S. 54 f. Seebold, Germanen (wie Anm. 1), S. 293, 295; Seebold, Indogermanisch (wie Anm. 7), S. 969. Jürgen Udolph, Rezension von Wilhelm Brauer, Prußische Siedlungen westlich der
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entschieden zurückgewiesen. In einem RGA-Artikel stellt Udolph75 mit Emphase fest: „Die immer wieder postulierte got. Landnahme im unteren […] Weichsel-Gebiet ist allerdings im Lichte der ON [Ortsnamen] durch nichts gerechtfertigt“. Udolph76 unterstreicht, dass die Toponymie in Ostpreußen, Westpreußen und im östlichen Pommern „gegen intensive germ.slaw. Kontakte im unteren Weichselgebiet spricht“. Auch ein finnischer Sprachforscher, Petri Kallio, kommt in einem Überblick über Sprachverhältnisse in Europa von ältester Zeit bis zu Beginn unserer Zeitrechnung zu dem Schluss, dass Germanen nicht ursprünglich an der Weichsel gesessen haben. Sie seien seiner Ansicht nach allerdings schon etwa um 300 v. Chr. von Westen aus dorthin gelangt.77 Ich bewege mich hier zwar auf einem mir fremden Forschungsfeld, aber offensichtlich spricht das Fehlen germanischer Ortsnamenspuren an der Weichsel dafür, dass dort kein germanisches Altsiedelgebiet gelegen hat, sondern dass es sich vielmehr um eine Zwischenstation der Goten handelt, ehe dieser Stamm (auf den ich mich hier beschränke) nach Südosten weiterzog.78 Wären sie in größerer Zahl geblieben, hätte es im Ortsnamenschatz anders ausgesehen (vgl. Anm. 61). Es ist zu vergleichen, dass die Goten an verschiedenen Stellen in Südeuropa, ehe sie sprachlich integriert wurden, deutliche toponymische Spuren hinterlassen haben (siehe oben). Wenn das Weichsel-Gebiet nur eine Zwischenstation war, müssten die Goten von auswärts gekommen sein. Wir denken dann sofort an die *gutaniz auf Gotland.79 Es ist denkbar, dass es auch anderswo, das heißt auf dem südskandinavischen Festland, *gutaniz gegeben hat, aber von dieser Möglichkeit sehe ich hier ab. Ein anderes Szenario, nach dem *gutaniz auch in Südskandinavien autochthon gewesen wären, würde grundsätzlich auch nichts ändern.80
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Weichsel. Versuch einer etymologischen Deutung heimatlicher Flurnamen (1983). Beiträge zur Namenforschung NF 23, 1988, S. 291–300, hier S. 299 f.; Udolph, Slawen (wie Anm. 70), S. 45 f.; Udolph, Slawisch-Baltisch (wie Anm. 68), S. 70 f. Udolph, Slawen (wie Anm. 70), S. 45 f. Udolph, Slawisch-Baltisch (wie Anm. 68), S. 71. Kallio, Languages (wie Anm. 13), S. 236. Andersson, Gutþiuda (wie Anm. 51), S. 76; Andersson, Svear (wie Anm. 56), S. 15. Vgl. Andersson, Nordgermanische Sprachen (wie Anm. 25), S. 291; Thorsten Andersson, Artikel „Skandinavische Stämme“. In: RGA 28 (2005), S. 587–602, hier S. 595; Andersson, Altgermanische Ethnika (wie Anm. 31), Abschnitt 3.2. Die Etymologie von *gutaniz und die damit zusammenhängende Frage des Verhältnisses zur Stammesbezeichnung altschwedisch gøtar (altwestnordisch gautar) ‘Gauten’ in Östergötland und Västergötland werden hier ausgeklammert. Zur Etymologie dieser Stammesbezeichnungen siehe zuletzt Sitzmann, Grünzweig, Die alt-
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Die Idee einer *gutaniz-Auswanderung aus Gotland ist alt. Erik Brate81 betrachtet die Goten an der Weichsel als eine Kolonie aus Gotland. Ein ähnlicher Gedanke ist in der letzten Zeit erneut von Gösta Holm82 befürwortet worden. Er stellt sich dabei eine Herrschaftsstellung der Goten vor, vergleichbar mit der Stellung der Svear bei der Gründung des „rusischen“ Reiches.83 Die Sprache der (zukünftigen) Goten südlich der Ostsee wäre dann eine Superstratsprache gewesen, zu vergleichen mit Germanisch in Finnland in der ältesten germanischen Zeit (siehe oben). Ein Bericht in der mittelalterlichen altgutnischen Gutasaga über eine Auswanderung aus Gotland in vorgeschichtlicher Zeit lenkt hier das Interesse auf sich. In der Saga wird geschildert, wie ein Drittel der Gotländer wegen Übervölkerung auswandern muss und wie diese Auswanderer allmählich Griechenland erreichen, wo sie sich niederlassen.84 Es heißt, dass die Auswanderer immer noch „etwas von unserer Sprache“ behalten haben (enn hafa þair sumt af waru mali).85 Elias Wessén86 möchte dies als ein Zeichen dafür sehen, dass es im Mittelalter auf Gotland noch bekannt war, dass Leute, die sich Gutar (Goten) nannten, im südöstlichen Europa wohnten und dass diese Leute behaupteten, aus Skandinavien zu stammen. Auch Dietrich Hofmann87 stellt sich vor, dass hier „eine dunkle Erinnerung an die nach Süden abgewanderten gotischen Stammesbrüder“ vorliegen könnte.88 Die
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germanischen Ethnonyme (wie Anm. 31), S. 140 f., s.v. Gaut, 162 ff., s.v. Guto; Andersson, Altgermanische Ethnika (wie Anm. 31), Abschnitt 3.2. Erik Brate, De nya nordiska runverken. Svenska fornminnesföreningens tidskrift 9, 1896, S. 319–336, hier S. 329. Gösta Holm, Gutar och goter. Namn och bygd 90, 2002, S. 165. Vgl. Lars Hermodsson, Fragen der Völkerwanderung. In: Kleine Beiträge zur Germanistik. Festschrift für John Evert Härd, hrsg. von Bo Andersson, Gernot Müller. Acta Universitatis Upsaliensis. Studia germanistica Upsaliensia 37 (Uppsala 1997), S. 99–112, hier S. 103 f. Gotlands-lagen/Codex iuris Gotlandici. Utgifven af C. J. Schlyter. Samling af Sweriges gamla lagar/Corpus iuris Sueo-Gotorum antiqui 7 (Lund 1852), S. 94 f.; Åke Holmbäck, Elias Wessén, Svenska landskapslagar tolkade och förklarade för nutidens svenskar 4. Skånelagen och Gutalagen (Stockholm 1943), S. 291 f., 303. Gotlands-lagen (wie Anm. 84), S. 95; Holmbäck, Wessén, Svenska landskapslagar (wie Anm. 84), S. 292. Elias Wessén, Artikel „Gutasagan“. In: Kulturhistoriskt lexikon för nordisk medeltid från vikingatid till reformationstid 5 (Malmö 1960), Sp. 602–604, hier Sp. 603. Dietrich Hofmann, Gotlands alte Sprache und ihre Zeugnisse. In: Gotland. Tausend Jahre Kultur- und Wirtschaftsgeschichte im Ostseeraum. Veröffentlichungen des Zentrums für nordische Studien 2. Bearbeitet von Robert Bohn. Kieler historische Studien Bd. 31 (Sigmaringen 1988), S. 27–40, hier S. 38. Siehe weiter Lars Hermodsson, Goterna. Ett krigarfolk och dess Bibel (Stockholm
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Erzählung der Gutasaga ist selbstverständlich kein Beweis einer Auswanderung aus Gotland, würde sich aber gut mit einer solchen Vorstellung vereinbaren lassen. Eine Auswanderung der *gutaniz und auch anderer Stämme aus Skandinavien wurde lange allgemein angenommen, wobei wir nunmehr in der Nachfolge von Reinhard Wenskus, Herwig Wolfram und Walter Pohl89 an traditionstragende Kerne denken. Solche Auswanderungen sind aber in der letzten Zeit häufig in Frage gestellt worden. Zum Teil haben wir es hier wahrscheinlich mit einer Gegenreaktion gegen früheres Hervorheben Skandinaviens zu tun. Noch schwerwiegender ist vielleicht die zunehmende Kritik gegen Jordanes’ Darstellung der sagenhaften gotischen Auswanderung aus Skandinavien.90 Jordanes wird deswegen hier bewusst beiseite gelassen. Meine Argumentation baut auf der Analyse authentischer Stammesbezeichnungen und Ortsnamen auf, unter Heranziehung von Angaben antiker Autoren. Das Beachten eines eventuellen etymologischen Zusammenhangs zwischen den Stammesbezeichnungen Goten/gutar und altschwedisch gøtar (vgl. Anm. 80) hätte zu einer „gemischten“ Argumentation geführt, die hier unbedingt zu vermeiden war. Halten wir uns also an die vorliegenden Tatsachen. Die Existenz eines *gutaniz-Volkes ist auf Gotland und im Weichsel-Gebiet bezeugt. Dieses *gutaniz-Volk wurde durch den Verkehr über See zusammengehalten, was auch archäologisch bestens bezeugt ist.91 Die nahe Zusammengehörigkeit kommt allem Anschein nach auch darin zum Ausdruck, dass in der altwestnordischen Literatur die beiden Gotengebiete sprachlich unterschieden werden: Eygotaland bezieht sich auf Gotland, Reiðgotaland (< Hreiðgotaland)
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1993), S. 25; Herwig Wolfram, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie. 4. Aufl. Reihe ‚Frühe Völker‘ (München 2001), S. 33 f.; Hans-Peter Naumann, Artikel „Gutasaga“. In: RGA 13 (1999), S. 226–228. Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes (Köln, Graz 1961; 2., unveränderte Aufl., Köln, Wien 1977); Wolfram, Die Goten (wie Anm. 88), S. 50; Herwig Wolfram, Terminologisches. In: Nomen et fraternitas. Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag, hrsg. von Uwe Ludwig, Thomas Schilp. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 62 (Berlin, New York 2008), S. 787–802, hier S. 793 ff.; Pohl, Ethnicity (wie Anm. 66); Walter Pohl, Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration (Stuttgart u.a. 2002), S. 45. Siehe besonders Arne Søby Christensen, Cassiodorus, Jordanes and the history of the Goths. Studies in a migration myth (Kopenhagen 2002). Anders Kaliff, Gothic connections. Contacts between eastern Scandinavia and the southern Baltic coast 1000 BC–500 AD. Occasional papers in archaeology 26 (Uppsala 2001).
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auf das „Land“ auf dem Kontinent.92 Der Name Eygotaland ist sprachlich durchsichtig: ‘das Land der Inselgoten’ (altwestnordisch ey f. ‘Insel’), der Name Reiðgotaland dagegen umstritten. Nach einem Vorschlag enthält er als Erstglied altwestnordisch hreiðr n. ‘Nest’, was dann bedeuten würde, dass die Goten „im Nest“ zur betreffenden Zeit als der Hauptteil des *gutaniz-Volkes angesehen wurden. Aus dem geographisch getrennten *gutaniz-Volk mit einer gemeinsamen Sprache sind die ostgermanischen Goten und die nordgermanischen Gutar auf Gotland hervorgegangen. Die Sprache dieser beiden Völkerschaften muss anfangs ein sprachliches Kontinuum mit gegenseitiger Verstehbarkeit gewesen sein, und dieser Zustand herrschte sicherlich noch lange nach dem Beginn unserer Zeitrechnung. Die Zersplitterung, die allmählich erfolgte, setzt voraus, dass der Kontakt schwächer wurde. Vielleicht ist, wie Elmar Seebold93 annimmt, Gotisch als eigene Sprache erst nach der Auswanderung (eines Hauptteiles) der Goten nach Südosten entstanden. Um auf die von Volker Bierbrauer gestellte Frage zurückzugreifen, sieht es so aus, dass die gotische Ethnogenese zwar auf dem Kontinent, jedoch erst nach Einwanderung erfolgt ist. Einwanderung und kontinentale Ethnogenese würden sich dann ergänzen (vgl. unten). Die Goten sind wahrscheinlich nicht der einzige Stamm, der aus Skandinavien herzuleiten ist.94 Besonders interessant ist dabei die jütische Halbinsel.95 Den antiken Autoren zufolge sind dort die Kimbern zu Hause gewesen, die mit dem Landschaftsnamen Himmerland verknüpft werden können.96 Die Teutonen, die zusammen mit den Kimbern im 2. Jahrhundert v. Chr. nach Süden zogen, werden ansprechend mit dem Landschaftsnamen Thy (altdänisch Thiuth f., eigentlich ‘Volk’) verbunden.97 Auch die Wandalen werden meistens mit einem jütischen Landschaftsnamen, altdänisch 92
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Thorsten Andersson, Eygotaland in der altwestnordischen Literatur. Namn och bygd 96, 2008, S. 5–11. Seebold, Westgermanische Sprachen (wie Anm. 1), S. 533, 536. Thorsten Andersson, Landschaften – Stämme – Reiche. Sprachliche Zusammenhänge in altnordischer Zeit. In: Völkernamen – Ländernamen – Landschaftsnamen. Protokoll der gleichnamigen Tagung im Herbst 2003 in Leipzig, hrsg. von Ernst Eichler, Heinrich Tiefenbach, Jürgen Udolph. Redaktion: Kirstin Casemir, Uwe Ohainski. Onomastica Lipsiensia. Leipziger Untersuchungen zur Namenforschung Bd. 2 (Leipzig 2004), S. 9–32, hier S. 21 ff.; Andersson, Skandinavische Stämme (wie Anm. 79), S. 598 ff.; Andersson, Svear (wie Anm. 56), S. 16 ff.; zum Folgenden siehe Abb. 1. Seebold, Völker (wie Anm. 56), S. 155 ff. Thorsten Andersson, Artikel „Himmerland“. In: RGA 14 (1999), S. 583 f.; Stefan Zimmer, Artikel „Teutonen“. In: RGA 30 (2005), S. 368 f. Zimmer, Teutonen (wie Anm. 96).
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*Wændil m. (urnordisch *Wandilaz)98, zusammengehalten. Wie diese Beispiele zeigen, gehören eben die Ortsnamen zu den wichtigsten Quellen, um vorgeschichtliche Wanderungen zu beleuchten. Die Burgunden sind früh mit Bornholm, altdänisch *Burghund f., verbunden worden. Die lateinischen Formen der Stammesbezeichnung, Burgundiones und Burgundii, sprechen jedenfalls beide dafür, dass hier eine Einwohnerbezeichnung vorliegt, und unter den zahlreichen, hauptsächlich nordischen Borgund-Namen, die eine gleichlautende alte Höhenbezeichnung enthalten, ist der südskandinavische Inselname mit Abstand der bekannteste.99 Bornholm ist auch keineswegs unbedeutend; am Ende des neunten Jahrhunderts hatte die Insel, wie Wulfstan100 berichtet, einen eigenen König. Wie oben erwähnt, war die Auffassung von skandinavischer Herkunft mehrerer germanischer Stämme früher verbreiteter als heute. Völkerschaftsbewegungen innerhalb des alten germanischen Gebietes in Südskandinavien und auf dem Kontinent sind auch völlig normal. In gewissen Fällen lassen sich Ortsnamen und Stammesbezeichnungen kombinieren, um die Herkunft eines Stammes zu beleuchten, in anderen Fällen aber nicht. So scheint nicht zu ermitteln zu sein, wo die Rugier ursprünglich saßen. Sie sind an der Ostseeküste östlich der Oder und im südwestlichen Norwegen (altnorwegisch rygir mit Rogaland ) bezeugt, aber beide Stellen scheinen aus etymologischen Gründen (zum germanischen Wort für ‘Roggen’) als denkbare ursprüngliche Heimat auszuscheiden, da der Roggen an diesen Stellen nicht früh genug angebaut wurde.101 Wo der Stamm der Haruden/Hordar, durch Ptolemaios in Jütland, durch Ortsnamen in Jütland 98
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Eine Einwohnerbezeichnung zu *Wændil liegt im Landschaftsnamen Vendsyssel vor; siehe Bent Jørgensen, Danske stednavne. 3. udgave (Kopenhagen 2008), S. 325. Nyman, Nordiska ortnamn (wie Anm. 19), S. 246; Eva Nyman, Nordiska ortnamn på -und. Kungl. Humanistiska vetenskaps-samfundet i Uppsala. Årsbok/Annales Societatis litterarum humaniorum regiae Upsaliensis 2001, S. 107–111; Eva Nyman, Bornholm, Birgitta och burgunderna. Ortnamnssällskapets i Uppsala årsskrift 2002, S. 5–18; vgl. Wolfgang Haubrichs, Ein namhaftes Volk – Burgundische Namen und Sprache des 5. und 6. Jahrhunderts. In: Die Burgunder. Ethnogenese und Assimilation eines Volkes. Dokumentation des 6. wissenschaftlichen Symposiums der Nibelungenliedgesellschaft Worms e.V. und der Stadt Worms vom 21. bis 24. September 2006, hrsg. von Volker Gallé. Schriftenreihe der Nibelungenliedgesellschaft Worms e.V. Bd. 5 (Worms 2008), S. 135–184, hier S. 158 f.; Sitzmann, Grünzweig, Die altgermanischen Ethnonyme (wie Anm. 31), S. 69. Orosius (wie Anm. 30), S. 16. Thorsten Andersson, Artikel „Rugier. Namenkundliches“. In: RGA 25 (2003), S. 452–455; Andersson, Skandinavische Stämme (wie Anm. 79), S. 590; vgl. Sitzmann, Grünzweig, Die altgermanischen Ethnonyme (wie Anm. 31), S. 233.
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(Hardsyssel ), Norwegen (Hordaland im Südwesten des Landes) und Thüringen (Hardagā) bezeugt, ursprünglich zu Hause waren, wissen wir auch nicht.102 Den antiken Autoren zufolge wohnten einige der hier genannten Völkerschaften ebenso wie die Goten im Osten an der südlichen Ostseeküste: die Wandalen an der oberen Oder, die Burgunden und die Rugier zwischen Oder und Weichsel. Wenn meine hier vorgelegten Ausführungen richtig sind, haben wir es im Oder-Weichsel-Raum mit ziemlich später germanischer Einwanderung zu tun. Es handelt sich hier um ein Gebiet, das früher vielleicht nicht germanisch war (siehe oben), und dann wäre hier mit frühgermanischer Ostkolonisation zu rechnen. Die germanischen Stämme im Oder-Weichsel-Gebiet werden als Ostgermanen zusammengefasst. Umfangreichere Sprachdenkmäler sind bekanntlich nur vom Gotischen erhalten, so dass eine sicherere Analyse des Sprachzweiges unmöglich ist. Für Ernst Schwarz103 bestand keine Schwierigkeit, einen gemeinsamen Nenner für die ostgermanischen Stämme zu finden: „Diese ostgermanischen Völker sind nichts anderes als ausgewanderte Nordgermanen“.104 Wolfgang Krause105 sieht es anders; er rechnet damit, dass sich an der südlichen Ostseeküste eine „ostgermanische Gruppe […] erst in verhältnismäßig später Zeit (etwa seit dem 1. Jh. n. Chr.) sprachlich zusammengefunden und entwickelt“ habe. Es würde sich hier also um ein sekundäres Kontinuum handeln, ungefähr wie in England nach der Invasion germanischer Stämme. Hans Kuhn106 findet es „zum mindesten zweifelhaft, ob schon in Ostdeutschland [!] ein abgesondertes Ostgermanisch bestand“. Auch Elmar Seebold107, der sich eingehend mit dem Problem Ostgermanisch auseinandergesetzt hat, möchte nicht mit einem ostgermanischen Sprachzweig an der Ostseeküste rechnen. Er sieht die Ostgermanen eher als „eine Art Wandergemeinschaft mit gegenseitig verstehbaren Sprachen und gemeinsamer Weiterentwicklung, aber nicht gleichartiger sprachlicher Herkunft“.108 Für die Stämme einer solchen Gemeinschaft, zu der er die Krim102
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Thorsten Andersson, Artikel „Hordar“. In: RGA 15 (2000), S. 115 f.; Andersson, Skandinavische Stämme (wie Anm. 79), S. 599. Rainer Wiegels, Artikel „Nemeter“. In: RGA 21 (2002), S. 66–69, hier S. 66, spricht sich für Jütland aus. Schwarz, Goten (wie Anm. 39), 2. Teil. Schwarz, Goten (wie Anm. 39), S. 186. Wolfgang Krause, Handbuch des Gotischen. 3., neubearbeitete Aufl. Handbücher für das Studium der Germanistik (München 1968), S. 43 f. Kuhn, Zur Gliederung (wie Anm. 40), S. 45. Seebold, Völker (wie Anm. 56), S. 185; Seebold, Germanen (wie Anm. 1), S. 299 f.; Seebold, Westgermanische Sprachen (wie Anm. 1), S. 534 ff. Seebold, Germanen (wie Anm. 1), S. 300.
Der nordgermanische Sprachzweig
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goten nicht zählt,109 könne „die Bezeichnung nur eine geogr. Bezeichnung (unter Einschluß nachträglicher sprachlicher Berührungen) sein“.110 Das Ostgermanische habe sich nach der Meinung Seebolds „vielleicht am Schwarzen Meer, vielleicht auf dem Weg dorthin herausgebildet“.111 Wenn es sich so verhält, scheiden Sprachen wie die der Burgunden und Wandalen aus dem ostgermanischen Sprachzweig aus. Darüber besteht aber keine Einigkeit. Wolfgang Haubrichs112 kommt durch eine Analyse des Bestandes burgundischer Sprachdenkmäler, der durch Heranziehung von Personennamen und auch Ortsnamen erweitert worden ist, zu dem Schluss, dass Burgundisch phonologisch, morphologisch und auch lexikalisch als ostgermanisch zu identifizieren sei.113 Der Status des ostgermanischen Sprachzweiges oder, anders ausgedrückt, der Begriff Ostgermanisch stellt sich vor dem hier kurz skizzierten Hintergrund als unsicher heraus, was wiederum die klassische Frage der Einteilung der germanischen Sprachen vergegenwärtigt. Diese Forschungslage fordert zu erneuter Debatte auf. Bei meiner Arbeit mit diesem Beitrag über den nordgermanischen Sprachzweig und dessen Beziehungen zu den benachbarten germanischen Sprachen bin ich unentwegt zu der entscheidenden Frage zurückgekehrt, welche ethnischen (sprachlichen) Verhältnisse in der Zeit etwa von 500 v. Chr. bis 500 n. Chr. östlich der Oder geherrscht haben mögen, wobei auch zu beachten ist, „daß das Gebiet zw. Balten und Germ. bei den germ. Wanderungen nach O[sten] ständig Durchzugsgebiet war“.114 Bis zur Oder, zur heutigen Grenze Deutschlands, ist diese Fragestellung anhand von Ortsnamen gründlich durchleuchtet worden. Wenn in Zukunft das Gebiet zwischen Oder und Weichsel und auch östlich der Weichsel in derselben gründlichen Weise sprachlich (onomastisch) untersucht worden ist, dann werden wir uns in vielen Fragen sicherer äußern können.
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Seebold, Germanen (wie Anm. 1), S. 299 f.; Seebold, Westgermanische Sprachen (wie Anm. 1), S. 533 ff.; anders Tischler, Ostgermanen (wie Anm. 1), S. 340. Seebold, Germanen (wie Anm. 1), S. 300. Seebold, Westgermanische Sprachen (wie Anm. 1), S. 536. Haubrichs, Ein namhaftes Volk (wie Anm. 99). Den Hinweis auf diese Arbeit verdanke ich einem Diskussionsbeitrag von Prof. Dr. Helmut Castritius, Darmstadt, nach meinem Tagungsreferat. Vgl. Heinrich Beck, Artikel „Burgunden. Philologisches § 1“. In: RGA 4 (1981), S. 224–230; Tischler, Ostgermanen (wie Anm. 1), S. 341. Seebold, Germanen (wie Anm. 1), S. 295; Seebold, Indogermanisch (wie Anm. 7), S. 970 f.
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Bis jetzt haben wir uns hauptsächlich innerhalb des – sprachlich gesehen – germanischen Zentrums mit Ost- und Nordsee als verbindenden Gewässern bewegt. Zum Schluss möchte ich kurz zu der von den Römern geschaffenen Struktur, mit kontinentalem Zentrum und skandinavischer Peripherie, zurückkehren. Das Gegensatzpaar Zentrum – Peripherie ist von besonderem Interesse, wenn wir uns der nordischen Runenschrift zuwenden. Sie ist entstanden, ehe sich der nordgermanische Sprachzweig deutlich abgezweigt hatte, ist aber eindeutig nördlich verlagert. Die Erfindung der Runenschrift ist eine erstklassige kulturelle Leistung, vergleichbar mit dem Schaffen anderer Alphabete. Die Runenschrift ist innerhalb des alten germanischen Zentrums entstanden, ist aber in der – von den Römern aus gesehen – nördlichen Peripherie des germanischen Sprachgebiets lange beibehalten worden. Zu Beginn des Mittelalters wurde sie durch die lateinische Schrift marginalisiert, existierte aber lange neben dieser weiter, regional sogar bis tief in die Neuzeit hinein. Es wird immer noch diskutiert, wie verbreitet die Fähigkeit war, Runen zu lesen und zu schreiben. Für meine Auffassung spricht schon die große Zahl der wikingerzeitlichen Runeninschriften dafür, dass zur Wikingerzeit wenigstens recht viele sie lesen konnten. Aus mittelalterlichen Städten in Dänemark, Norwegen und Schweden ist außerdem durch zahlreiche Inschriften vor allem auf Holzstäbchen die Runenschrift als gewöhnliches Kommunikationsmittel bekannt. (Über Runen siehe näher den Beitrag von Klaus Düwel.) Wie schon das Runenbeispiel zeigt, ist die Peripherie der Germania dadurch von besonderem Interesse, dass dort ursprünglich germanische Züge besser bewahrt bleiben konnten. Am deutlichsten merken wir dies auf dem Gebiet der Religion. Die pagane germanische Religion ist hauptsächlich durch nordische Quellen zu beschreiben. Das geht deutlich aus einem RGA-Artikel über Religion von Anders Hultgård115 hervor. Die pagane Mythologie ist nur in Skandinavien bewahrt geblieben. Hultgård116 stellt fest: „Mit Ausnahme von Skand. ging die vorchristl. Mythol. im germ. Gebiet fast vollständig verloren.“ Auch im Artikel Rituale von Olof Sundqvist117 werden vorwiegend schriftliche Quellen aus Skandinavien, darunter auch Runeninschriften, benutzt, um Riten sowohl religiöser als auch nichtreligiöser Art zu beleuchten.
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Anders Hultgård, Artikel „Religion“. In: RGA 24 (2003), S. 429–457. Hultgård, Religion (wie Anm. 115), S. 449. Olof Sundqvist, Artikel „Rituale. Einführung, Schriftliche Quellen“. In: RGA 25 (2003), S. 32–47.
Der nordgermanische Sprachzweig
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Die wichtigsten Quellen der paganen Religion, die sakralen Ortsnamen, machen in Skandinavien einen charakteristischen Anteil des Namenschatzes aus.118 Auf dem Kontinent und in England sind nur bescheidenere Reste von Sakralnamen übriggeblieben. Ohne die skandinavischen Ortsnamen würden wir über die vorchristliche germanische Religion, deren Kult und Organisation, nicht viel wissen. Die paganen Kultstätten sind eben durch die Ortsnamen zu lokalisieren, und von ihnen ausgehend bemühen sich gegenwärtig schwedische Archäologen um die Beschreibung der Einrichtung solcher sakralen Versammlungsplätze.119 Auch zur übrigen germanischen Gesellschaftsorganisation kann Skandinavien beitragen. Auf dem Kontinent sind huntari (im alemannischen Gebiet) und hunderi (im friesischen Gebiet) nur durch Ortsnamen bekannt. Deren Inhalt lässt sich durch die hundare-Organisation im alten Gebiet der Svear um den Mälarsee (schwedisch Mälaren; Abb. 1) beleuchten. Es handelt sich um Hundertscharen, die in die Seekriegsorganisation (altschwedisch leþunger m.) integriert waren, was mit den Angaben des Tacitus über die Flotten der Svear zusammenzuhalten ist. Eine Grundbedeutung ‘hundert Mann’ ist auch auf dem Kontinent anzunehmen, was einen festen Anhaltspunkt für das weitere Studium bildet. In der sprachlichen Analyse der Hundertschar-Organisation kommen uns auch die Römer zu Hilfe. Innerhalb des schwedischen hundare-Gebiets kommt neben hundare in Ortsnamen auch hund n. vor, das mit dem germanischen Zahlwort *hunða- ‘hundert’ identisch ist. Zu diesem Wort gibt es im Althochdeutschen und Altsächsischen eine Ableitung hunno m. in der Bedeutung ‘centurio; centenarius’. Dieses hunno gehört zu einer kleinen charakteristischen Gruppe alter germanischer Führer- oder Herrscherbezeichnungen und ist sekundär in die römisch beeinflusste Organisation übernommen worden. Sowohl von nord-
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Per Vikstrand, Gudarnas platser. Förkristna sakrala ortnamn i Mälarlandskapen. Acta Academiae regiae Gustavi Adolphi 77. Studier till en svensk ortnamnsatlas 17 (Uppsala 2001); Per Vikstrand, Sacral place-names in Scandinavia. Onoma 37, 2002, S. 121–143; Per Vikstrand, Artikel „Sakrale Namen“. In: RGA 26 (2004), S. 167–179; Hermann Reichert, Nordic language history and religion/ecclesiastical history 1. The pre-Christian period. In: The Nordic languages (wie Anm. 9), S. 389–402, hier S. 394 f.; Thorsten Andersson, Artikel „Theophore Namen“. In: RGA 30 (2005), S. 442–452, hier S. 443 ff. Annlili Nielsen, Under Biltema och IKEA – Ullevi under 1500 år. In: Liunga. kaupinga. Kulturhistoria och arkeologi i Linköpingsbygden. Red.: Anders Kaliff, Göran Tagesson (Stockholm 2005), S. 205–235; Kenneth Svensson, Götavi – en plats som väcker förundran. Från bergslag och bondebygd. Årsbok för Örebro läns hembygdsförbund och Stiftelsen Örebro läns museum 57, 2007, S. 104–119.
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wie westgermanischer Seite lässt sich also eine alte Gesellschaftsorganisation beleuchten.120 In ähnlicher Weise ergänzen sich gotisch kindins m. ‘Statthalter’ und das schwedische Ortsnamenelement kind f. in Götaland. Dieses Wort bezeichnet ursprünglich eine kleinere Völkerschaft und sekundär das Wohngebiet dieser Völkerschaft. Das dazu mit demselben Führersuffix wie hunno gebildete kindins121 dürfte ursprünglich den Häuptling einer kleineren Völkerschaft bezeichnet haben, was mit der verhältnismäßig hohen Rangstufe im Gotischen übereinstimmt.122 Es ist erfreulich, dass sich altgermanische Gesellschaftsverhältnisse in dieser Weise von verschiedenen Sprachzweigen aus beleuchten lassen, und in unserem speziellen Zusammenhang können wir feststellen, dass Nordgermanisch dabei Verbindungen mit sowohl West- wie Ostgermanisch zeigt. Skandinavische Orts- und Personennamen können die Angaben der antiken Literatur ergänzen. Ingwionen (Ingwäonen) ist eine Sammelbezeichnung für germanische Völker proximi Oceano, die wohl am ehesten einen Kultverband ausmachten.123 Ingwionisch124 (Ingwäonisch) wird bekanntlich auch als Sprachbezeichnung im Sinne von ‘Nordseegermanisch’ benutzt.125 Die Ingwionen, so benannt nach einem Gott oder Heros eponymos, germanisch *Ingwaz (altenglisch Ing), sind auch in Schweden, im Raum der Svear im Mälarseegebiet, durch Orts- und Personennamen bezeugt.126 120 121
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Thorsten Andersson, Artikel „Hundare“. In: RGA 15 (2000), S. 233–238. Kindins < germanisch *kindinaz ist ein normaler Vertreter der in dieser Weise gebildeten Führerbezeichnungen (starke Flexion, Mittelvokal). Hunno < germanisch *hunðnan- weicht von diesem Muster ab (schwache Flexion, ohne Mittelvokal). Thorsten Andersson, Artikel „Kind“. In: RGA 16 (2000), S. 523–526; Thorsten Andersson, Kind som ortnamnselement. Namn och bygd 88, 2000, S. 43–51; Thorsten Andersson, Artikel „Kindins“. In: RGA 16 (2000), S. 550 f.; die Königsbezeichnung burgundisch-lateinisch hendinos lasse ich hier vorsichtshalber beiseite; siehe dazu auch Haubrichs, Ein namhaftes Volk (wie Anm. 99), S. 160. Günter Neumann, Artikel „Ingwäonen“. In: RGA 15 (2000), S. 431 f. (Neudruck in: Günter Neumann, Namenstudien zum Altgermanischen, hrsg. von Heinrich Hettrich, Astrid van Nahl. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 59 [Berlin, New York 2008], S. 380–382); Sitzmann, Grünzweig, Die altgermanischen Ethnonyme (wie Anm. 31), S. 180. Im Anschluss an Wolfgang Krause, Ing. Nachrichten von der Akademie der Wissenschaften in Göttingen aus dem Jahre 1944. Philologisch-historische Klasse, S. 229–254 und Günter Neumann, Ingwäonen (wie Anm. 123) benutze ich die Formen Ingwionen, ingwionisch; anders Sitzmann, Grünzweig, Die altgermanischen Ethnonyme (wie Anm. 31), S. 180 ff. Hans Frede Nielsen, Artikel „Ingwäonisch“. In: RGA 15 (2000), S. 432–439. Siehe dazu näher Andersson, Theophore Namen (wie Anm. 118), S. 444 f.; Olof Sundqvist, Aspects of rulership ideology in early Scandinavia – with particular re-
Der nordgermanische Sprachzweig
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Da die Ingwionen somit auch in Skandinavien vertreten waren, eignet sich Ingwionisch nicht gut als Bezeichnung eines westgermanischen Sprachzweiges. Bleiben wir bei den Personennamen. Es sei zunächst daran erinnert, dass die altgermanische Personennamenstruktur in Island insofern noch lebt, als der normale Name einer Person aus einem Individualnamen und meistens einem Patronymikon besteht. Die althergebrachte Art sich vorzustellen ist uns bekannt: „Ég heiti Jón (og er) Guðmundsson“, das heißt: ‘Ich heiße Jón (und bin) Guðmundsson’. Von entscheidender Bedeutung für die germanische Personennamengeschichte ist die in den altnordischen Sprachen noch praktizierte Bildung zweigliedriger Frauennamen durch Movierung von Männernamen. In den germanischen Sprachen herrscht sonst bekanntlich eine Zweiteilung: maskuline Zweitglieder in Männernamen, feminine in Frauennamen. Edward Schröder127 hat dies für eine ursprüngliche germanische Namenstruktur gehalten, was sich als unhaltbar herausgestellt hat. Die alte indogermanische Art, zweigliedrige Frauennamen zu bilden, war Movierung, wie Gottfried Schramm in seiner bekannten Arbeit „Namenschatz und Dichtersprache“128 gezeigt hat. Griechisch Alexandra, gebildet zu Alexander, hat dann etwa die Bedeutung ‘mit dem heldenhaften Männernamen Alexander zusammengehörig’. Diese indogermanische Namenstruktur ist brockenhaft noch im Altnordischen vorhanden. Am deutlichsten zeigt sie sich in den Zweitgliedern altwestnordisch ‑elfr und ‑gerðr, femininen Bildungen zu maskulinen Zweitgliedern, ‑alfr ‘Elf (Naturgeist)’ bzw. ‑garðr, eigentlich ‘Zaun’, von Schramm als Fürstenmetapher aufgefasst. Diese alte indogermanische Namenstruktur ist sonst im Germanischen praktisch ganz zurückgedrängt worden.129
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ferences to the skaldic poem Ynglingatal. In: Das frühmittelalterliche Königtum. Ideelle und religiöse Grundlagen, hrsg. von Franz-Reiner Erkens. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 49 (Berlin, New York 2005), S. 87–124; Olof Sundqvist, Kultledare i fornskandinavisk religion. Occasional papers in archaeology 41 (Uppsala 2007), S. 81 ff. Edward Schröder, Deutsche Namenkunde. Gesammelte Aufsätze zur Kunde deutscher Personen- und Ortsnamen. 2., stark erweiterte Aufl., besorgt von L. Wolff (Göttingen 1944), S. 5 ff. Gottfried Schramm, Namenschatz und Dichtersprache. Studien zu den zweigliedrigen Personennamen der Germanen. Ergänzungshefte zur Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiet der indogermanischen Sprachen 15 (Göttingen 1957). Thorsten Andersson, Germanische Personennamen vor indogermanischem Hinter-
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Es hat zweifellos Nachteile, sich in der Peripherie zu befinden, ab und zu aber auch gewisse Vorteile. Die letzteren habe ich in diesem Überblick über Stellung und Bedeutung des nordgermanischen Sprachzweiges zuletzt mit ein paar Beispielen zu zeigen versucht. Meinen Beitrag zu dieser Tagung möchte ich aber mit zwei übergreifenden Fragen beenden, die nur indirekt den nordgermanischen Sprachzweig betreffen. Wie sah es ethnisch (sprachlich) östlich der Oder in altgermanischer Zeit aus? Damit hängt eine weitere Frage zusammen: Was ist unter Ostgermanisch zu verstehen? Diese beiden Fragen möchte ich an meine kontinentalen Kolleginnen und Kollegen weiterreichen.
grund. In: Namen des Frühmittelalters als sprachliche Zeugnisse und als Geschichtsquellen, hrsg. von Albrecht Greule, Matthias Springer. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 66 (Berlin, New York 2009), S. 9‒25.
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 245–262 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
Die frühen Germanen und ihre Nachbarn Elmar Seebold Um die frühen Germanen und ihre Nachbarn soll es hier gehen, und der Gesichtswinkel, von dem aus wir diese Frage betrachten wollen, ist die Sprache – obwohl wir von der Sprache der frühen Germanen keine unmittelbare Kenntnis haben; aber das allgemeine Wissen darüber, wie sich Sprachen entwickeln und verbreiten, kann uns bei vielen einschlägigen Fragen Kriterien für die Beurteilung an die Hand geben. ‚Frühe Germanen‘ – das klingt so, als hätten die Germanen irgendwann einmal begonnen, und natürlich auch, dass ihre Sprache irgendwann einmal begonnen hat, und so finden wir im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde z.B. Überschriften wie etwa „Ursprung und Ausbreitung der Germanen“.1 Aber was heißt das eigentlich? Weder ein Volk noch eine natürliche Sprache können vom Himmel fallen. Die Mitglieder eines Volkes haben Eltern und die haben auch wieder Eltern usw.; und eine natürliche Sprache hat eine Vorstufe, und die hat auch wieder eine Vorstufe usw. Was verleitet uns dazu, an einer bestimmten Stelle zu sagen: Hier hat etwas Neues begonnen; hier ist der Ursprung, etwa der Germanen oder der Sprache der Germanen? Und von der Sprache ist dabei ganz klar zu sagen: So etwas wie einen Ursprung gibt es nicht. Eine natürliche Sprache kann sterben – wenn alle ihre Sprecher sterben; aber sie kann nicht geboren werden, sie kann immer nur auf eine ältere Sprachstufe folgen; selbst Mischsprachen folgen auf ältere Sprachen – eben auf mehr als eine. Nun kann man bei den Mischsprachen sagen: Der Vorgang der Mischung ist der Zeitraum der Entstehung – das mag man bei den Mischsprachen so sehen, aber wie ist es bei normaler Entwicklung? Da wäre die gängige Antwort: Eine neue Sprache entsteht, wenn die Sprache sich so verändert, dass sie gewissermaßen eine neue Spra1
Heiko Steuer, Artikel „Germanen, Germania, Germanischen Altertumskunde“. In: RGA 11 (1998), S. 318.
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che ist; als z.B. die Frühgermanen die erste Lautverschiebung durchgemacht hatten, war die Sprache eine neue, danach war die Sprache germanisch, und die Frühgermanen sind dadurch zu Germanen geworden. Das ist eine plausible Antwort; aber sie ist trotzdem unzulänglich: Jede natürliche Sprache ändert sich fortlaufend, und wir können nicht bei jeder Änderung von einer neuen Sprache reden, zumal sich sprachliche Änderungen immer in dem Rahmen halten, dass sie verstehbar bleiben. Und die Lautverschiebung ist gar nicht so bedeutend, wie sie aussieht, sie ist eine bloße Aussprache-Verschiebung, die an der Sprachstruktur überhaupt nichts geändert hat. Nachbarn, die die Frühgermanen vor der Lautverschiebung verstanden haben, haben sie auch nach der Lautverschiebung verstanden, und höchstens bemerkt, dass sie jetzt etwas anders sprechen. Es gehört zu einer natürlichen Sprache, dass sie bei jeder Änderung verständlich bleibt. Und das hat zur Folge, dass es in der Entwicklung einer Sprache keinen Bruch gibt, und damit auch keine natürliche Periodisierung. Wir können zwar sagen: Wir legen fest, dass mit dem Eintreten der Lautverschiebung die germanische Sprache beginnt – das mag zweckmäßig sein, aber es ist eine willkürliche Festlegung von außen. Die natürliche Sprache hat keine solchen Brüche, sie ist ein zeitliches Kontinuum (auch über die Lautverschiebung hinweg, und über die Entstehung des Präteritums der schwachen Verben hinweg, und über Änderungen in der Subjekt-Verb-Objekt-Stellung hinweg). Und was ist dann dieses zeitliche Kontinuum, zu dem das Germanische und die germanischen Sprachen gehören? Darauf antworten die Sprachgeschichtler: „Es hat sich aus der Grundsprache der indogermanischen Sprachfamilie herausgelöst“. Das heißt: Eine wesentlich frühere Stelle des zeitlichen Kontinuums der germanischen Sprachen nennen wir indogermanisch oder indoeuropäisch. Und auf diese frühere Stelle des Kontinuums gehen auch die Kontinuen anderer Sprachen zurück: die des Keltischen, Italischen, Baltischen, Griechischen, Indischen und anderer Sprachen. Und wie ist das geschehen, dass sich diese Sprachen voneinander ablösten? Darauf gibt es eine zweigeteilte Antwort: 1. In größeren Sprachgebieten erfassen sprachliche Entwicklungen nicht notwendigerweise das ganze Sprachgebiet, sondern meist nur Teile davon. Jede solche Entwicklung hat also eine bestimmte Verbreitung, und die Verbreitungen der verschiedenen Entwicklungen sind nicht gleich, sondern überlagern und überschneiden sich auf alle möglichen Weisen. Dadurch entsteht ein räumliches Kontinuum, bei dem der Grad der Ähnlichkeit der Sprachausprägungen zweier Orte abhängig ist von ihrer räumlichen Entfernung voneinander. Wenn Sprecher von sehr weit voneinander entfernten Teilen des Kontinuums zueinanderkommen, dann kann es
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sein, dass sie sich nicht gegenseitig verstehen: Die Summe der Verschiedenheiten ist zu groß; aber trotzdem sprechen sie die gleiche Sprache, die sich zwischen ihnen eben in eine Folge von Sprachausprägungen mit jeweils kleinen Veränderungen von Einheit zu Einheit aufgliedert. Das Sprachgebiet bleibt aber trotz dieser gegebenenfalls sehr starken sprachlichen Unterschiede ein zusammenhängendes Sprachgebiet. Dies ist das Ergebnis der natürlichen Sprachentwicklung: So breiten sich natürliche Sprachen mit größerer Sprecherzahl im Raum aus. Wir wissen das als Ergebnis einer wissenschaftlichen Analyse; die Sprecher der Sprachausprägungen eines solchen Kontinuums haben davon normalerweise keine Ahnung: Sie kennen normalerweise nur die von ihrer Sprache etwas abweichenden Sprachformen ihrer Nachbarn; aber von dem großen Ganzen, von der Gesamtsprache, wie ich das nenne, habe sie keine Ahnung. 2. Wenn sich Sprachgemeinschaften räumlich trennen, oder wenn sie durch Einbrüche fremder Sprachgemeinschaften getrennt werden, hört zwischen den voneinander getrennten Teilen der sprachliche Austausch auf, und Entwicklungen können sich deshalb nicht mehr von der einen Hälfte auf die andere ausbreiten, sondern bleiben auf den Teil, in dem sie entstehen, beschränkt. Dadurch entstehen Unterschiede zwischen den beiden Teilen und diese Unterschiede vermehren sich, bis die beiden Sprachen gegebenenfalls nicht mehr gegenseitig verstehbar sind. Dadurch entstehen verschiedene Sprachen. Dies ist das Ergebnis des äußeren Einflusses auf die Sprachgemeinschaft – eben die äußere Trennung. Bei der natürlichen Entwicklung der Sprache als solcher gibt es keine Spaltungen. 3. Und noch ein Drittes als Anhang: Wenn bei solchen Verschiebungen ursprünglich weiter voneinander entfernte Teile eines räumlichen Kontinuums benachbart werden, dann gibt es für die Folgen eine Faustregel: Wenn die Sprecher der verschiedenen Teile sich noch gegenseitig verständigen können, dann kommen neue Gemeinsamkeiten zustande und die beiden Sprachausprägungen nähern sich einander an; es entsteht ein sekundäres Kontinuum, bei dem die ursprüngliche Grenze mehr oder weniger an Bedeutung verlieren kann. Können sich die Sprecher der beiden Teile dagegen nicht mehr gegenseitig verständigen, dann bleiben die sprachlichen Neuerungen im allgemeinen auf den jeweiligen Teil beschränkt und die bereits angelegte Sprachgrenze prägt sich immer stärker aus. Deshalb die Schlussfolgerung (und damit kommen wir wieder zum eigentlichen Thema zurück): Es gibt zwar keinen Zeitpunkt des Ursprungs einer Sprache, wohl aber einen Zeitpunkt oder besser Zeitraum ihrer Abtrennung
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Keltisch
Germanisch
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Italisch
Abb. 1: Die Westgruppe und die Ostgruppe der europäischen indogermanischen Sprachen.
von einer ursprünglich größeren Einheit. Das kann auch eine Folge von immer weitergehenden Trennungen sein bis schließlich hin zur Isolierung der zu betrachtenden Sprache und Sprechergruppe. Und damit ist die Frage nach dem Ursprung einer Sprache, jetzt wieder speziell des Germanischen, in Wirklichkeit die Frage: Wie und wann hat sich das Frühgermanische von seinen Schwestersprachen getrennt? Es geht also nicht um eine Entstehung, sondern um eine Isolierung aus einem größeren Verband. Und wie viele spezifische Eigentümlichkeiten (wie Lautverschiebung und schwaches Präteritum usw.) die Sprache zum Zeitpunkt der räumlichen Trennung hatte, ist ziemlich gleichgültig: Die können auch erst später zusammengekommen sein; die sprachlichen Besonderheiten der isolierten Sprache sind in ihrer Mehrzahl einfach sprachliche Entwicklungen, die nach diesen Trennungen auf die so isolierte Sprachgemeinschaft beschränkt geblieben sind, und in der Regel sind es Summen von ganz unterschiedlichen Entwicklungen. Wichtig ist: Diese Sprachen sind keine Standardsprachen wie die neuhochdeutsche Standardsprache oder die französische oder die englische. Sie sind Kontinuen von Sprachausprägungen, die sich unterscheiden, zum Teil sogar wesentlich unterscheiden. Ich nenne das, um diese Besonderheit hervorzuheben, nicht einfach eine Sprache, sondern wie schon erwähnt eine Gesamtsprache. Und eine solche Gesamtsprache hat ersichtlich auch eine räumliche Struktur (die Gesamtsprache gilt nicht nur einfach in einem bestimmten Gebiet, sondern die einzelnen Ausprägungen sind in diesem Gebiet auf bestimmte Weise angeordnet). Was ist nun die räumliche Struktur des vorausgesetzten indogermanischen Kontinuums? Was sind die Schwestersprachen und Nachbarsprachen des Germanischen, von denen es sich getrennt hat? Von den Sprachen, die wir kennen (und es gibt bestimmt auch Teile, die untergegangen sind, ohne dass wir von ihnen Kenntnis haben), bilden das Italische und Keltische zusammen mit dem Germanischen eine Westgruppe – noch weiter im Westen ist keine indogermanische Sprache bekannt (was natürlich nicht ausschließt, dass es solche Sprachen gegeben hat, die dann ohne Spuren untergegangen sind). Und im Osten ist der Nachbar das Baltische und über das Baltische das Slavische. Weiter nach Osten und Südosten gibt es allerdings noch mehr.
Die frühen Germanen und ihre Nachbarn
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Ich beschränke mich nun auf die beiden genannten europäischen Gruppen Italisch-Keltisch-Germanisch und Germanisch-Baltisch-Slavisch. Da bei diesen fünf oder sechs sprachlichen Unterfamilien in beachtlichem Umfang ausschließlich gemeinsame Entwicklungen von benachbarten Einzelsprachen auftreten (also ausschließlich germanisch-baltische Neuerungen, ausschließlich italisch-keltische Neuerungen usw.), bestand in Mitteleuropa mit einiger Sicherheit ein räumliches Kontinuum, das alle diese Sprachen umfasste. Das bedeutet: Diese Sprachen könnten entweder dort, wo sie sich finden, ein Teil des als ursprünglich vorauszusetzenden indogermanischen Kontinuums gewesen sein – dann wäre das indogermanische Kontinuum als ein primäres Kontinuum in Mittel- und Osteuropa (nebst östlich und südöstlich angrenzenden Gebieten) entstanden; oder das ursprüngliche indogermanische Kontinuum ist an einem anderen Ort entstanden (weiter im Osten oder Südosten) und die europäischen Sprachgruppen sind von dort aus nach Mitteleuropa gewandert, gegebenenfalls mit schon ausgeprägten einzelsprachlichen Besonderheiten. Dann müsste sich in Mitteleuropa ein sekundäres Kontinuum herausgebildet haben. Das heißt, wenn im Fall einer Einwanderung die einzelnen Gruppen vor einer Ankunft in Mitteleuropa schon sprachlich ausgeprägt waren, hätten sie sich doch noch gegenseitig verständigen können. Und nun ist die Frage: Wie hat sich das Germanische aus diesem Kontinuum gelöst, wie ist es zu einer eigenen Einheit geworden? Schauen wir zunächst die Nachbarschaft zum Baltischen an: Germanisch und Baltisch haben viele Archaismen und – was wichtiger ist – viele Neuerungen gemeinsam; sie gehören von der Sprachvergleichung her ziemlich eng zusammen, obwohl das Baltische die frühe und wichtige Entwicklung der Satem-Sprachen mitgemacht hat; das Germanische nicht. Bei Eintritt der Überlieferung sind aber Germanisch und Baltisch nicht mehr gegenseitig verstehbar, obwohl sie, so weit wir das zurückverfolgen können, immer Nachbarn gewesen sind. Woher kommt das? Die Antwort gibt uns ein Blick auf die überschaubare Geschichte: Aus dem Gebiet westlich des Baltischen sind fortwährend Völkerschaften, die sich dort niedergelassen haben nach Südosten in Richtung auf das Schwarze Meer gezogen. Die früheste Bewegung dieser Art, die wir kennen, ist die Ausbreitung der Bastarnen, die mit großer Wahrscheinlichkeit in diesem Bereich gewohnt haben und dann abgezogen sind. Dort waren auch eine Zeitlang die Goten, dort waren die Vandalen, und später sind in umgekehrter Richtung die Slaven dorthin gekommen. Das heißt: Der Zusammenhang zwischen Balten und Germanen ist irgendwann durch Abwanderung eines Zwischenglieds gestört worden, und die nachfolgenden Bewohner des Zwischengebiets haben den sprachlichen Zusammenhang, das sprachliche Kon-
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tinuum, nicht wieder hergestellt. Sie haben ihn eher verhindert, indem sie auch selbst weitergezogen sind und damit die Zeit der Trennung weiter verlängert haben. So weit der Osten (das Slavische schließt sich nur über das Baltische an das mitteleuropäische Kontinuum an). Auf den Norden will ich nicht weiter eingehen, da hier keine Abgrenzung von einer anderen indogermanischen Sprache in Frage kommt. Im Süden waren zu Beginn unserer Überlieferung die Völker und Sprachen, die Herodot als die nördlichsten ihm bekannten nennt: Venetisch, Illyrisch und Thrakisch. Zwischen diesen und dem Germanischen lebten aber wohl in nicht genau präzisierbarem Umfang auch Kelten. Auf jeden Fall ist es unwahrscheinlich, dass Venetisch und weiter südöstlich Illyrisch und Thrakisch dem Germanischen unmittelbar benachbart waren. Im Übrigen wissen wir über diese Sprachen zu wenig, um genauere Angaben über den Zusammenhang mit dem Germanischen machen zu können. Schwierig zu beurteilen ist auch, welche Rolle in der Entwicklung der sprachlichen Zusammenhänge die ebenfalls weiter östlich auftretenden Skythen und später die Sarmaten gespielt haben, die aber als iranische Völker auf jeden Fall keine ursprünglichen Nachbarn des Germanischen waren. Die Westgruppe besteht aus Germanisch (das den Übergang zum Osten bildet), Italisch und Keltisch. Das Italische hat sehr enge Beziehungen zum Keltischen, deutliche (und alte) Beziehungen zum Germanischen. Das vorauszusetzende ursprüngliche Kontinuum zwischen diesen Gruppen ist ersichtlich durch die Abwanderung der Italiker aufgebrochen worden. Dieser Abzug nach Süden wird durch archäologische Quellen nicht gestützt, so dass hier Fragen offen bleiben, die aber in unserem gegenwärtigen Zusammenhang keine Rolle spielen. Damit sind wir bei dem bis in die geschichtliche Zeit hinein sehr wichtigen Kontakt der Germanen mit den Kelten. Wir können einen Zustand fassen, bei dem die Kelten von der Nordsee (wenn auch hier mit einigen Problemen, auf die gleich einzugehen sein wird) nach Süden und dann nach Osten bis ungefähr zum baltischen Bereich die unmittelbaren Nachbarn der Germanen waren. In späterer Zeit haben wir von der Ethnie der Bevölkerung her den gleichen Zustand, doch sprechen die Kelten nun eine romanische Sprache, sowohl in Gallien im Westen, wie auch in Rhaetien, Noricum und Pannonien im Süden (dort mit unterschiedlichen Bevölkerungsanteilen der Kelten). Während man nun traditionell immer mit einer starken Beeinflussung der Germanen durch die Kelten rechnete, ist die viel wichtigere Frage gar nicht ins Blickfeld gekommen, nämlich: Wann und wie ist der ursprüngliche Teil des indogermanischen Kontinuums, der Kelten und Germanen umfasste, gebrochen? Bilden Germanen und Kelten in der frühen Zeit nicht einfach noch
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Keltisch
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Italisch Germanisch
Keltisch
Germanisch
Italisch
Abb. 2: Traditionelle Darstellung der Abwanderung des Italischen.
zusammen einen letzten Teil des alten indogermanischen Kontinuums? Sind die sehr weitgehenden Beeinflussungen, besonders des Germanischen durch die Kelten, nicht einfach eine Frage der Ausbreitung von Neuerungen in einem gemeinsamen Kontinuum – nicht Entlehnung aus einer anderen Sprache und Kultur? Um diese Frage einer Antwort näher zu bringen, müssen wir vor allem festzustellen suchen, ob es einen ursprünglichen unmittelbaren Kontakt zwischen den Vorläufern der späteren Germanen und denen der späteren Kelten gab. Nach gängiger sprachgeschichtlicher Vorstellung saßen zwischen den Kelten und den Germanen ursprünglich die Italiker (das wird angenommen, weil die ausschließlichen Gemeinsamkeiten von Germanisch und Italisch strukturell älter sind als die ausschließlichen Gemeinsamkeiten zwischen Germanisch und Keltisch,2 die vor allem den Wortschatz betreffen; besonders eng sind dann die ausschließlichen Gemeinsamkeiten zwischen Italisch und Keltisch.) Dann wäre der Kontakt zwischen Kelten und Germanen erst eingetreten, nachdem die Italiker nach Süden abgezogen waren und wäre damit nur sekundär. Aber zum einen hängt die Bewertung der ausschließlichen Gemeinsamkeiten an nur wenigen sicheren Beispielen und darf nicht als unumstößliche Voraussetzung gelten, und zum andern könnte die Stellung des Italischen zwischen Germanisch und Keltisch allenfalls einen Teil dieses riesigen Kontaktgebiets betroffen haben, so dass ein ursprünglicher und fortbestehender Kontakt zwischen Germanen und Kelten keineswegs auszuschließen ist. 2
Zuletzt Karl Horst Schmidt, Keltisch-germanische Isoglossen und ihre sprachgeschichtlichen Implikationen. In: Germanenprobleme in heutiger Sicht, hrsg. von Heinrich Beck. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 1 (Berlin, New York 1986), S. 231–247.
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Germanisch Keltisch Italisch
Germanisch Keltisch
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Abb. 3: Darstellung der möglichen Abwanderung des Italischen.
Es ist also auch bei der traditionellen Voraussetzung durchaus denkbar, dass ein großer Teil des Kontaktgebiets ein ursprüngliches Kontinuum fortsetzte, während in einem anderen Teil durch den Abzug der Italiker ein größerer sprachlicher Unterschied, vielleicht sogar eine Sprachgrenze bestand. Noch wichtiger ist ein zweiter Problemkreis, der umschrieben werden kann mit dem Schlagwort „Völker zwischen Germanen und Kelten“. Nach traditioneller Vorstellung sitzen die Kelten in der frühen vorrömischen Eisenzeit im Süden der Germanen, mit stärkerer Ausbreitung nach Westen. Dabei bleibt westlich der Jastorf-Kultur, die üblicherweise mit den Germanen gleichgesetzt wird, grob gesprochen: westlich der Weser, weiter südlich und auch weiter östlich, mindestens bis zur Aller, ein größeres Gebiet unbestimmt. Einen großen Teil dieses Gebiets weist die Archäologie einer ziemlich eigenständigen Harpstedt-Nienburger Gruppe zu. (Auf verschiedenen Kartierungen geht diese Gruppe verschieden weit; teils reicht sie bis zum Meer, teils nicht). Und nun gehen wir zunächst in der Geschichte einen größeren Schritt weiter zu Caesar: Da gibt es rechts des Rheins Germanen, links des Rheins Gallier, also Kelten, weiter im Norden die Belgen (die den Kelten mindestens nahestehen) und dazwischen eine ganz unklare Gruppe, die Caesar germani cisrhenani nennt (und er meint, sie seien Germanen auf keltischem Boden). Und schließlich gibt es in der moderneren Forschung eine Richtung, die ungefähr in dieser Gegend Stämme vermutet, die weder Germanen noch Kelten sind, die „Völker zwischen Germanen und Kelten“ – da wir hier von den Sprachen reden, sei auf den Ansatz von Hans Kuhn hingewiesen, der aus lautlichen Besonderheiten in den Namen dieser Gegend (besonders dem Auftreten von [p], das weder germanisch noch keltisch sein könnte)
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Abb. 4: Ausschnitt aus Flemming Kaul, Jes Martens, Southeast European influences in the Early Iron Age of Southern Scandinavia. Acta Archaeologica (Kopenhagen) 66, 1955, S. 135, Fig. 20 A. 1 Nordische Gruppe, 2 Jastorf-Kultur, 3 Pomeranische Kultur, 4 Westbaltische Hügelgräber-Kultur, 8 Harpstedt-Nienburger Gruppe, 9 Keltische Gruppen.
auf eigenständige Stämme schloss (die Hypothese von dem sogenannten Nordwestblock).3 Wieder zurück in die Frühzeit. Für die Bevölkerung dieses Gebietes, die mindestens in der Frühzeit nicht eindeutig den Germanen, noch den Kelten zugewiesen werden kann, gibt es zwei Möglichkeiten: Die kritische Möglichkeit ist die, dass diese Bevölkerung eine nicht-indogermanische Sprache (oder nicht-indogermanische Sprachen) hatte. Dann ist in einem großen Gebiet die Berührung von Germanisch und Keltisch tatsächlich sekundär. Die Gemeinsamkeiten von Germanen und Kelten sind dann spät entstanden 3
Ausführlicher hierzu zuletzt Wolfgang Meid, Hans Kuhns „Nordwestblock“-Hypothese. Zur Problematik der „Völker zwischen Germanen und Kelten“. In: Germanenprobleme (wie Anm. 2), S. 183–212.
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(nach dem Abzug der Italiker und nach der Germanisierung und Keltisierung des Zwischengebiets). Dann ist mit einem erhaltenen ursprünglichen unmittelbaren Kontinuum zwischen Keltisch und Germanisch kaum zu rechnen. Die andere Möglichkeit: Es handelte sich um Indogermanen. Dann ist der Fall vergleichsweise klar: Es ist dann kaum anders denkbar, als dass die Zwischengruppe auch zu dem europäischen Kontinuum gehörte und einfach innerhalb des Kontinuums das Zwischenglied zwischen Germanisch und Keltisch war (ob es näher beim Keltischen oder näher beim Germanischen stand oder von beiden gleichermaßen abgehoben war, ist dabei von untergeordneter Bedeutung). Für diesen Fall besteht dann auch kein Hindernis dagegen, den Einfluss des Keltischen auf das Germanische als Ausbreitung von Neuerungen innerhalb des Kontinuums zu erklären. Der Bruch zwischen Germanisch und Keltisch ist dann erst eingetreten durch die Wanderungen, die das Kontinuum im Westen und Süden durcheinandergebracht haben: Zuerst die Wanderungen der Kelten seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. und seit dem Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. auch die der Germanen. Gewissermaßen konstituiert wurde dann die Grenze zwischen Germanen und Kelten durch die politischen Konzepte Caesars und die heftigen Eingriffe in die Siedlungsgebiete am Rhein durch die Römer. Welche dieser beiden Möglichkeiten ist nun die wahrscheinlichere? Beim Versuch einer Antwort stoßen wir für die entscheidende Frühzeit auf wenig Hilfe. Kennzeichnend ist, dass das Reallexikon der Germanischen Altertumskunde keinen Artikel hat, der die für uns doch zentral wichtige Harpstedt-Nienburger Gruppe behandelt. Einzelheiten kann man sich allenfalls aus den Artikeln „Nordwestdeutsche Stämme“4 und „Vorrömische Eisenzeit“5 zusammensuchen. Man hätte in einem solchen Nachschlagewerk doch wenigstens ein Lemma und den Hinweis auf die Problematik der Forschung erwartet. Die heute noch als grundlegend geltende Arbeit von Rafael von Uslar „Westgermanische Bodenfunde des 1.–3. Jahrhunderts n. Chr. aus Mittel- und Westdeutschland“ von 1938 hat die Bezeichnung Rhein-WeserGermanen eingeführt, die auch in die sprachwissenschaftliche Forschung übergegangen ist (meist mit der Umstellung zu Weser-Rhein-Germanen).6 4
5
6
Christoph Reichmann, Artikel „Nordwestdeutsche Stämme“. In: RGA 21 (2002) S. 316–320, besonders S. 631–633. Rosemarie Müller, Artikel „Vorrömische Eisenzeit“. In: RGA 32 (2006) S. 623– 638. Rafael von Uslar, Westgermanische Bodenfunde des ersten bis dritten Jahrhunderts nach Christus aus Mittel- und Westdeutschland. Germanische Denkmäler der Frühzeit 3 (Berlin 1938).
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Sowohl der Frühgeschichtler von Uslar wie der von ihm abhängige Sprachgeschichtler Friedrich Maurer7 rechnen für die spätere Zeit mit einem starken Einfluss der Elbgermanen – aber Einfluss auf wen? Auf welche Sprache? Darauf gibt es keine Antwort. Die von Uslar bearbeitete Periode, die frühen nachchristlichen Jahrhunderte, ist für unsere Fragestellung auch etwas spät. Ganz nebenbei ist noch darauf hinzuweisen, dass auf der keltischen Seite die Stellung der dem Germanischen benachbarten Belgen ebenfalls noch keineswegs völlig klar ist. Da sich kein klarer Hinweis auf nicht-indogermanische Sprachen in diesem Gebiet findet, neige ich zu folgender Arbeitshypothese: Der mitteleuropäische Teil des früheren indogermanischen Kontinuums umfasste die späteren keltischen Stämme, dann Zwischengruppen, und dann die später germanischen Stämme. Die keltische Vorherrschaft in diesem Gebiet ist nicht zuletzt die Vorherrschaft des der überlegenen Mittelmeerkultur nächststehenden Teils des Kontinuums und hat so auch entfernte Teile des Kontinuums beeinflusst. Spätestens seit dem Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. beginnen die Kelten sich auszubreiten und verursachen dadurch Verschiebungen im Kontinuum; seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. wirken sich auch germanische Wanderungen aus. Die Eingriffe der Römer führen zu weiterer und wohl abschließender Trennung von Germanen und Kelten. Um die Zeitenwende ist das Kontinuum wohl endgültig gebrochen. Die Zwischengruppe hat sich zum größten Teil nach dem germanischen Standard ausgerichtet. Es bleibt noch die Frage, wie man von Großgruppen wie Germanen und Kelten in einem Kontinuum reden kann, das ja ein Netz von einander im Prinzip gleichwertigen kleinräumigen Sprachausprägungen sein soll. Damit zusammen hängt die Frage nach den Bezeichnungen von Großgruppen überhaupt. Darauf gibt es zwei Antworten: Die eine, die zeigt, woher unsere Bezeichnungen von Großgruppen (wie Germanen und Kelten) kommen; und die andere, die zeigt, wie sich in einem Kontinuum Großgruppen herausbilden können (dazu gehören dann unsere Bezeichnungen für Großstämme, wie Sueben, Alemannen, Franken, Sachsen, Baiern usw.). Zunächst die traditionellen Namen von Großgruppen, wie z.B. Kelten und Germanen. Die Namen als solche sind in der Regel ursprünglich Namen kleinerer Einheiten des betreffenden Gebiets gewesen (von Kleinstämmen, Städten, Landschaften usw.). Bei der Entwicklung zu Namen von Großgruppen spielt praktisch immer der Gebrauch als Fremdbezeichnung 7
Friedrich Maurer, Nordgermanen und Alemannen. Studien zur germanischen und frühdeutschen Sprachgeschichte, Stammes- und Volkskunde (zuletzt 3. Aufl. Straßburg 1952).
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eine Rolle, da für eine Selbstbezeichnung der Großgruppe meist kein Bedarf besteht (die eigene Großgruppe wird meist gar nicht als etwas Besonderes wahrgenommen). Diese Beteiligung der Fremdbezeichnungen lässt sich in vielen Fällen nachweisen, in anderen lässt sie sich vermuten. Nehmen wir zunächst die Griechen.8 Sie hatten ein deutliches Zusammengehörigkeitsgefühl und benutzten zur Bezeichnung ihrer Gemeinschaft (die praktisch einem Kontinuum entsprach) mehrere Stammesnamen, gegebenenfalls unter Voranstellung von Pan- (Argeĩoi, [Pan-] Achaioí, Danaoí, und dann vor allem [Pan-] Héllēnoi); als Bezeichnung ihrer gemeinsamen Sprache wurde offenbar nur das letztere benutzt (also hellēnikē). Die Hellenen im engeren Sinn waren ein Stamm in Süd-Thessalien. Man vermutet eine besondere Stellung dieses Stammes bei der Ausbreitung des Griechischen in früher Zeit und führt darauf die allgemeine Bedeutung des Namens zurück; doch beweisen lässt sich dies nicht. Nicht beweisen lässt sich auch die Funktion der Fremdbezeichnung; doch ist sie bei einem Volk, das sich sehr intensiv mit einer Vorbevölkerung sprachlich auseinandergesetzt haben muss, eigentlich mit Händen zu greifen (man denke an den hohen Anteil fremder Bestandteile in der griechischen Sprache und besonders bei griechischen Namen). Von anderen Bezeichnungen von Kleinstämmen sind die meisten Bezeichnungen für die Griechen in anderen Sprachen ausgegangen; besonders Graeci (ebenfalls ein alter Stammesname), das lateinisch ist und erst spät und sekundär auch ins Griechische übernommen wurde. Bei den Römern auf der anderen Seite ist interessant, dass ihre politische Abgrenzung vom Namen der Stadt Rom ausging, der Name der Sprache dagegen von der umgebenden Landschaft Latium, wodurch bei der Bezeichnung der Sprache eine gewisse Ausweitung des Ausgangsbereichs erfolgte; wobei aber die übrigen näher verwandten indogermanischen Sprachen Italiens unberücksichtigt blieben. Die Bezeichnung italisch und Italiker ist erst durch die Bedürfnisse der Sprachvergleichung entstanden. Dabei zeigt sich die allgemeine Erfahrung, dass die Entwicklung zu Gesamtnamen durch geschichtliche Zufälle bestimmt ist, wobei mit dem Gesamtnamen weder einfach eine Gruppe mit gemeinsamer Sprache, noch eine einheitliche Ethnie gemeint war, sondern lediglich eine Bevölkerung, die man irgendwie als Einheit empfand, wenn sie auch in manchen Punkten heterogen sein konnte. So kannten die Griechen seit früher Zeit Kelten im äußersten Westen Europas – und Kelten hieß für sie eben „die Barbaren im (Nord-) Westen“. Dass dann gegebenenfalls auch Germanen so bezeichnet 8
Vgl. etwa Eduard Schwyzer, Griechische Grammatik I, 4., unveränderte Aufl. (München 1968), S. 75–80.
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wurden, ist kein Irrtum der Griechen, sondern die normale Anwendung eines nur sehr lose umrissenen Begriffs, der erst durch Caesar präzisiert wurde, und zwar durch eine räumliche Eingrenzung einer Untergruppe in Gallien. Die Bestimmung als Teil einer Sprachfamilie ist erst das Ergebnis später wissenschaftlicher Systematik, die der Überlieferung nur in groben Zügen entspricht. Und das, obwohl schon Hieronymus im 4. Jahrhundert bewusst war, dass im kleinasiatischen Galatien die gleiche Sprache wie in Trier gesprochen wurde.9 Auch der Begriff der Germanen ist von derartigen Zufällen abhängig: Welche Bevölkerung der Name ursprünglich bezeichnet hat, ist unsicher. Klar ist dagegen, dass Caesar ihn zu einem strategischen Konzept ausgebaut hat, von dem dann die weitere Geschichte des Namens ausgeht. Auch hier hat erst die Wissenschaft eine klare Bindung an die Sprachgruppe geschaffen. Die antiken Bezeichnungen von Großgruppen gehen also nicht von einheitlichen Kriterien wie „gemeinsame Sprache“ aus, sondern sind in ihrem Begriffsumfang von historischen Zufällen abhängig. Das zeigt sich z.B. sehr deutlich bei den Einzelzuweisungen zu den Germanen bei Tacitus, der allgemein als bei ethnischen Charakterisierung führend gilt: Sein wichtigstes Kriterium ist die Sprache, wie die Entscheidung in Kapitel 43 zeigt: Von diesen erweisen sich die Marsignen und Buren durch Sprache und Lebensweise als Sweben. Die gallische Sprache der Kotinen, die pannonische der Osen und die Tatsache, dass beide sich Abgaben auferlegen lassen, zeigt, dass sie keine Germanen sind.
Aber dann sagt er in Kapitel 45: Rechts bespült das swebische Meer die Gestade der Stämme der Ästien. In Brauch und Lebensart stehen sie den Sweben nahe, in der Sprache eher den Britanniern.
Aber trotzdem rechnet er sie zu den Germanen, wie aus seiner Bemerkung hervorgeht, dass sie sich mit mehr Ausdauer um den Ackerbau bemühen „als man bei der üblichen Lässigkeit der Germanen erwartet“. Umgekehrt fragt er sich, ob die Peukinen, die manche Bastarnen nennen und die in Sprache, Lebensweise, Siedlungsform und Hausbau den Germanen gleichen, den Germanen oder den Sarmaten zuzurechnen seien, weil sie schmutzig und untätig sind und durch Mischehen das hässliche Aussehen der Sarmaten erhalten. 9
Franz Fischer, Die Ethnogenese der Kelten aus der Sicht der Vor- und Frühgeschichte. In: Wolfram Bernhard, Anneliese Kandler-Pálsson (Hrsg.), Ethnogenese europäischer Völker (Stuttgart, New York 1986), S. 209.
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Es gibt also auch für Tacitus kein eindeutiges Kriterium für die Zuweisung zu einer Großgruppe, wenn er auch im Allgemeinen die Sprache in dieser Funktion sieht.10 Damit können wir zusammenfassend zu dem Schluss kommen, dass die antiken Konzepte von Großgruppen weitgehend von der Außensicht, von der Fremdbestimmung, abhängen, und dass sie mehr intuitiv sind, als dass sie einem einheitlichen Kriterium folgen. Entstanden sind sie meist aus Bezeichnungen für Kleingruppen. Anders ist es bei der natürlichen Entwicklung größerer Sprachgemeinschaften, für die wir noch einmal auf den Begriff des Kontinuums zurückkommen müssen, diesmal in Verbindung mit Konzepten der modernen Anthropologie. Bei dieser ist die einfachste Gesellschaftsform die Kleingruppe aus mehreren Kleinfamilien (in der maßgeblichen Terminologie von Elman Rogers Service band, also ‘Bande, Horde’).11 Die nächsthöhere Form ist der Stamm (bei Service: tribe), eine größere Gemeinschaft, bei der Sesshaftigkeit, Ackerbau und Besitz bereits eine größere Rolle spielen. Solche Gemeinschaften sind zunächst segmentär, d.h. ihre Elemente (Kleingruppen, Familien) sind im Grunde gleichberechtigt; Führungsrollen entstehen nur von Fall zu Fall und sind nicht bleibend. Und es ist klar, dass diese Gesellschaftsstruktur die ideale Bedingung für die Herausbildung von sprachlichen Kontinuen bildet; wichtig ist dabei neben der segmentären Struktur besonders die Sesshaftigkeit. Die nächste gesellschaftliche Stufe sind dann größere Einheiten mit einer zentralen Autorität, die sich in der Regel mit einer Rangordnung in der Gesellschaft verbindet; Sesshaftigkeit und Besitz spielen eine größere Rolle (Service spricht hier von chiefdoms, was im Deutschen mit ‘Häuptlingstümer’ übersetzt wird).12 Dieses Prinzip der Zentralisierung hat nun auch Auswirkungen auf das zugehörige sprachliche Kontinuum, besonders wenn die Entwicklung zu wesentlich größeren Einheiten mit mächtigen Zentren führt. Die sprachliche Auswirkung besteht darin, dass die Sprachausprägung des Zentrums ein besonderes Prestige gewinnt. Und das heißt weiter, dass die Sprachformen des Zentrums allgemein bevorzugt werden. Diese bevorzugten Sprachformen müssen nicht im Zentrum selbst entstanden sein – es 10
11
12
An Fachliteratur sei vor allem verwiesen auf Walter Pohl, Helmut Reimitz (Hrsg.), Strategies of Distinction (Leiden u.a. 1998), besonders Walter Pohl, Telling the Difference: Signs of Ethnic Identity, S. 17–69. Elman Rogers Service, Primitive social organization: An evolutionary perspective (New York 1968, 2. Aufl. 1971); Elman Rogers Service, The origins of state and civilization (New York 1975); deutsch: Ursprünge des Staates und der Zivilisation. Der Prozeß der kulturellen Evolution (Frankfurt/Main 1977). Heiko Steuer, Häuptling, Häuptlingtum. In: RGA 13 (1999), S. 291–311.
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genügt, wenn sie vom Zentrum aufgenommen werden. Damit wird das Kontinuum nun ungleichgewichtig – die Verbreitungsgebiete bevorzugen nun die Beteiligung des Zentrums, bleiben aber in ihrer Ausdehnung so zufällig wie vorher (es entstehen also keine klaren Grenzen für die Sprache des zentralen Bereichs oder, wenn es mehrere solche Zentren gibt, der zentralen Bereiche). Im Extremfall führt dies dazu, dass die Sprachausprägung eines Zentrums zu einer überregionalen Sprachform oder einer Literatursprache oder ähnlichem wird (wie etwa bei den Griechen das Attische, die Sprache der Region von Athen). Die regionalen Formen müssen dabei nicht aussterben, aber im überregionalen Verkehr (und das hat meist zur Folge: in den kulturellen Bereichen wie der Dichtung, Religion usw.) treten sie gegenüber der Sprachausprägung des Zentrums zurück. Der wichtigste und häufigste Grund für die Bildung eines Zentrums ist von der Sprache her gesehen: politische Macht. Es gibt daneben aber auch einen zweiten Bereich, der besonders in der späteren Zeit sprachlich eine ganz wesentliche Rolle spielt – das ist die Religion. Wie das in der frühen Zeit ausgesehen hat, lässt sich nicht feststellen – möglicherweise gab es Kultverbände, die auch sprachlich eine Rolle spielten; aber über Vermutungen ist hier nicht hinauszukommen. Im germanischen Bereich führt diese Entwicklung zur Bildung von Großstämmen; zunächst nur in einem einzigen Beispiel, den Sueben, die schon bei Caesar als Großstamm genannt werden. Ihr Zentrum sind nach Tacitus die Semnonen. Weitere solche Großstämme erscheinen im germanischen Bereich ungefähr seit dem 2. nachchristlichen Jahrhundert in größerer Zahl und lassen die alten Kleinstämme in den Hintergrund treten und schließlich weitgehend verschwinden. Jetzt kommen die Alemannen, Sachsen, Franken, Baiern, Thüringer, die alle bei Caesar und Tacitus noch nicht erwähnt sind. Und die Namen dieser Großstämme sind – trotz aller Diskussion – ziemlich durchsichtige Neubezeichnungen: Die Sachsen sind sicher nach ihrer bevorzugten Waffe benannt (dass auch andere Völkerschaften entsprechende Waffen haben, ist kein Gegenargument); die Franken haben sich sehr wahrscheinlich (trotz allen Streitens in dieser Frage) als „Freie, Unabhängige“ bezeichnet; die Bayern sind in irgendeiner Form nach ihrem Wohnsitz benannt; und die Sueben nach einem Merkmal ihrer Gesellschaftsordnung (was das genau war, lässt sich aus der bloßen Etymologie nicht bestimmen). Es ist aber zu beachten, dass diese Entwicklungsstufe im germanischen Bereich bereits in die historisch bezeugte Zeit hineinragt. Die Sueben mögen früher sein, aber die Ablösung der Kleinstämme durch Großstämme erfolgt sozusagen erst nach Tacitus.
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Sprachlich gesehen heißt das, dass die Kontinuen aufgegliedert werden in Zentren und deren Einflussbereich, wobei es keine klaren Grenzen gibt; eventuell gibt es auch Gebiete, die von keinem Zentrum erfasst werden. Der Anlass für diese Aufgliederung in größere Einheiten ist ein außersprachlicher: die Bildung von politischen Blöcken, gegebenenfalls auch religiösen Bünden; aber die Sprache zeigt eine Reaktion darauf oder mindestens, kann eine Reaktion darauf zeigen, so dass wir gewissermaßen zu Dialekten kommen, die nicht klar voneinander abgegrenzt sind, sich aber in ihren Ausrichtungen auf verschiedene Zentren zeigen. Im Kontinentalgermanischen ist diese Entwicklung dadurch gestört worden, dass die Stämme nicht oder nicht durchweg, an ihrem Ort geblieben, sondern gewandert sind, wodurch sich natürlich zusätzliche Störungen ergeben haben, die aber nicht so weit gegangen sind, dass sich nach Ende der Wanderzeit nicht wieder ein zentraleuropäisches Kontinuum bilden konnte. Nach dem Ende der Wanderzeit können wir im germanischen Bereich fünf neue Kontinuen unterscheiden: 1. Die Sprache der Goten und Vandalen, so lange sie noch bestand. 2. Die Sprache der kontinentalgermanischen Stämme von den Westfranken bis zu den Baiern. 3. Die Sprache der skandinavischen Stämme, einschließlich der nach Jütland gewanderten Dänen. Zwischen (2) und (3) entstand durch die Verschiebungen eine deutliche Sprachgrenze. 4. Die Sprache der nach Britannien gewanderten Stämme. 5. Ein Problem bietet die Gruppe der friesischen Mundarten, die verhältnismäßig lose miteinander zusammenhängen. Zwischen (2) und (5) entstand eine deutliche Sprachgrenze (der Grund ist kompliziert). Restgruppen wie die Krimgoten lasse ich beiseite. Solange die Krimgoten noch mit den Goten in ursprünglichem Kontakt standen, waren ihre Sprachen wohl gegenseitig verstehbar, obwohl das Krimgotische auf anderer Grundlage beruht als das Gotische. Die in dieser Zusammenstellung behandelten Kriterien sind selbstverständlich keine Handhaben für Ja-Nein-Entscheidungen, sondern Modelle und Richtlinien, die eine Beurteilung ermöglichen und vielleicht sogar sichern sollen. Ein Kriterium wie „gegenseitige Verstehbarkeit“ ist außerordentlich vielschichtig; in der gleichen Sprechsituation können problemloses gegenseitiges Verstehen und völliges Unverständnis beieinander liegen; von Missverständnissen und Verständnis, das auf bloßem Raten beruht, einmal ganz abgesehen. Aber die Situation des vollen Verstehens auf der einen, und die der völligen Verständnislosigkeit auf der anderen Seite sind die Pole,
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zwischen denen wir unser Urteil ansiedeln müssen. Deshalb seien hier die wesentlichen Kriterien und Ergebnisse noch einmal zusammengestellt: – Unter den Verhältnissen, von denen wir auszugehen haben (relativ hohe Sesshaftigkeit; segmentäre Gesellschaft; Kontakt mit den Nachbarn; Weitergabe der eigenen Sprache an den Nachwuchs) ist das Entstehen eines sprachlichen Kontinuums die natürliche Folge. Ein solches Kontinuum hat keine in dieser Entwicklung begründete Binnengliederung. Es entsteht zu allen Zeiten, also z.B. auch auf der indogermanischen, wie auf der (ur‑) germanischen Stufe. – Für das Germanische der frühen Zeit (ganz grob gesagt: Vor dem Aufbruch der Kimbern und Teutonen) ist für das germanische Gebiet von einem ungebrochenen Kontinuum auszugehen. Inwieweit dieses Kontinuum bruchlos in ein keltisches Kontinuum überging, hängt an der Beurteilung der Zwischenschichten, über deren Bestehen und Eigenart wir zu wenig wissen, um bestimmte Aussagen machen zu können. Mit gegenseitiger Verstehbarkeit benachbarter keltischer und germanischer Gruppen ist aber noch lange Zeit zu rechnen. Das Kontinuum nach Osten (Balten) und Süden (? Thraker, ? Illyrer, ? Veneter; im Südwesten vermutlich Italiker) ist schon vor Beginn unserer Kenntnis der germanischen Völker gebrochen. – Störungen in den Kontinuen ergeben sich zunächst aus Völkerverschiebungen (einschließlich der Verschiebung von Teilvölkern und sonstiger größerer Gruppen). Betroffen ist dabei schon in der Zeit vor unserer Kenntnis der germanischen Völker das Kontinuum zu den Balten durch Abwanderung von Zwischengliedern, das Kontinuum zu den Italikern durch deren Abzug nach Italien (mit welchen Zwischenstationen auch immer), und in der frühesten geschichtlichen Zeit das Kontinuum zu den Kelten durch deren Völkerverschiebungen, durch die sich mindestens der Südrand des germanischen Kontinuums verschob. An den Verschiebungen am Westrand sind dann bereits die germanischen Wanderungen beteiligt; später auch die kriegerischen Eingriffe der Römer. – Die andere Art von Störungen der Kontinuums ergibt sich durch die gesellschaftliche Veränderung, die zu Machtzentren und damit auch zu sprachlicher Zentralisierung führt – zunächst nur durch die Ausrichtung auf bestimmte Zentren, dann aber auch durch Tendenzen zur hochsprachlichen Vereinheitlichung regionaler Unterschieden. Letzteres ist in der frühgermanischen Zeit allenfalls in Ansätzen zu erkennen. – Nach der Zeit der germanischen Völkerverschiebung (grob gesagt: der Völkerwanderungszeit) sind die Unterschiede zwischen den Sprachen der in Mitteleuropa verbliebenen und angelangten germanischen Gruppen
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nicht so groß, dass sie die Entstehung eines sekundären Kontinuums verhindert hätten. Problematisch ist die Entstehung der Sprachgrenze zwischen dem düdischen (deutsch-niederländischen) und dem friesischen Sprachgebiet (zu rechnen ist hier mit einem – nicht bezeugten – sprachlichen Einfluss nordgermanischer Eindringlinge).13
13
Vgl. Elmar Seebold, Die Herkunft der Franken, Friesen und Sachsen. In: Essays on the Early Franks, hrsg. von E. Taayke, J. H. Looijenga, O. H. Harsema, H. R. Reinders (Groningen 2003), S. 24–34.
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 263–291 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
Die Epigraphik im RGA Klaus Düwel Die Berücksichtigung der Epigraphik, d. h. von Inschriften auf Objekten, die mit einer Aufschrift versehen sind, konzentriert sich aus sachlichen Gründen auf Runeninschriften. Diese gelten als genuine germanische Quellenzeugnisse und erstrecken sich über den gesamten Darstellungszeitraum des Reallexikons der Germanischen Altertumskunde*, von den ersten Dokumenten des 1. und 2. nachchristlichen Jahrhunderts wie ‚Meldorf‘, ‚Vimose‘ oder ‚Øvre Stabu‘ bis in die späte Wikingerzeit oder nach skandinavischer Terminologie bis ins Mittelalter hinein. Demgegenüber ist die lateinische Epigraphik (Panzerschließe aus ‚Kalkriese‘ 188 R; ‚Inschriften‘ 446 R; Schildbuckel von ‚Thorsberg‘) oder gar die griechische (Bergkristallkugel aus ‚Årslev‘, ‚Inschriften‘; Schale aus ‚Varpelev‘ 78 R) im Umfeld provinzialrömischer Einflußsphären fast immer eine Import- bzw. eine Beuteangelegenheit.1 In der Merowinger- und Karolingerzeit kann mit der Anfertigung von meist christlich beschrifteten Gegenständen grundsätzlich auch in einheimischen Werkstätten gerechnet werden (‚Silberlöffel‘, Bügelfibel von ‚Wittislingen, in: RGA 34 (2007), S. 155 und Bd. 35 (2008), S. 726 f.). Im Einzelfall machen sowohl die zeitliche Einordnung als auch die Bestimmung der * Reallexikon der Germanischen Altertumskunde: hinfort abgekürzt RGA, die Bezeichnungen Seitenzahl mit L oder R beziehen sich auf die Spaltenangaben eines Stichworts, ablesbar im Registerband 2 Alphabetisches Register (Berlin, New York 2008). Die genannten Stichwörter in einfachen Anführungszeichen, nur mit Seitenangabe oder einer §-Nennung und ohne nähere Angaben, finden sich ebenso leicht über die beiden Registerbände des RGA. 1 Lisbeth M. Imer, Latin og græsk i romersk jernalder – Fremmed indflydelse på Nordens tidligste runeskrift. Aarbøger for nordisk Oldkyndiged og Historie (Kopenhagen) 2004, S. 63–105. Daß ein Teil der nordischen Runeninschriften eine direkte Abspiegelung lateinischer Fabrikationsstempel darstellen soll, halte ich nicht für zutreffend.
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Schrift und der Sprache Schwierigkeiten (Tontafeln von ‚Dürrnberg‘ 272).2 Das prominenteste Beispiel, auch wegen der Überlieferung des wohl ältesten germanischen Personennamens, zumindest aber des frühesten Belegs für Doppelnamigkeit bei den Germanen, nämlich Harigasti, bietet der mit einer Inschrift in einem norditalischen Alphabet beschriebene ‚Negauer Helm B § 4d‘ (vgl. auch RGA 21 (2002), S. 58 ff. und S. 310 f.). Zur Epigraphik gehören auch ‚Graffiti‘, unter denen man „private und spontane Aufzeichnungen“ versteht. Allerdings ist dieser Begriff für Runeninschriften weniger geläufig (‚Graffiti § 6‘), vor allem weil keine Kursive entwickelt wurde, die für diese Art von Einträgen typisch ist. Die Konzentration auf Runeninschriften, die auf größeren Steinen (‚Runensteine‘) eingemeißelt durchaus monumentalen Charakter (‚Runen und Runendenkmäler‘) aufweisen können, bringt es mit sich, daß über die 35 Bände vom Reallexikon der Germanischen Altertumskunde verteilt von ‚Alskog‘ und ‚Alstad‘ bis ‚Wurmlingen‘ und ‚Yttergärde‘ gut 100 Einzelartikel zu Runeninschriften zu finden sind. Dazu kommen insgesamt etwa 150 weitere Inschriften in den Artikeln zu Fundorten wie ‚Jelling‘, ‚Lincoln‘, ‚Nebenstedt‘, ‚Neudingen‘, ‚Pforzen‘, ‚Oseberg‘, ‚Himlingøje‘, ‚Kragehul‘, ‚Gudme‘, ‚Hunnestad‘ mit je zwei, ‚Schretzheim‘ und ‚Weimar‘ mit jeweils drei, ‚Lister‘ und ‚Ribe‘ mit beide Male vier, ‚Vimose‘ mit sieben, ‚Starigard‘ mit acht, ‚Illerup Ådal‘ mit neun3, ‚Haiðaby‘ und ‚Lund‘ mit je zehn, ‚Sigtuna‘ mit zwölf und die Gruppe ‚Brakteaten‘ mit gut sechzig aufgeführten Inschriften (von denen einige in Einzelartikeln in späteren Bänden ausführlich behandelt werden wie ‚Nebenstedt‘ I, Raum Køge = ‚Seeland‘ II, ‚Sievern‘, ‚Skodborg‘, ‚Svarteborg‘, ‚Tjurkö‘ I). Damit ist bereits ein Corpus von 250 Runeninschriften mit den Grunddaten Fundort, Gegenstand, Zeitstellung, Lesung und Deutung im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde vertreten. Diese Zahl vergrößert sich, da mehrfach in übergreifenden Artikeln auch Runeninschriften angeführt werden, wie z. B. bei ‚Amulett‘, ‚Dnjepr‘, ‚Fälschungen‘, ‚Fibel und Fibeltracht‘, ‚Frau‘, ‚Friesen‘, ‚Garðaríkí‘, ‚Goten‘, ‚Handel‘, ‚Hobel‘, ‚Inschriften‘, ‚Kamm‘, ‚Schwertinschriften‘, ‚Seeland‘, ‚Übergangsinschriften‘, ‚Waffennamen‘ u. a. Allerdings konnten aus Zeit- und Koordinationsgründen wegen der von der zuständigen Akademie der Wissenschaften eingeforderten Eile nicht 2
3
Werner Krämer, Ein keltisches Schriftzeugnis vom Dürrnberg bei Hallein. Bayerische Vorgeschichtsblätter 49, 1984, S. 293 f. Lisbeth M. Imer, Runer og runeindskrifter: Kronologi, kontekst og funktion i Skandinaviens jernalder og vikingetid. 2 Bde. Tekst. Katalog. Unpublished Ph.D. dissertation from the University of Copenhagen (Kopenhagen 2007). Dort finden sich die zuletzt bekannt gewordenen Exemplarzahlen für eine Reihe von Fundorten.
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alle solche Gelegenheiten genutzt werden. So fehlt, um nur wenige Beispiele zu nennen, bei den Stichwörtern ‚Lauchheim‘ und ‚Nydam‘, ‚Langobarden‘ oder ‚Östergötland‘ die Erwähnung der von dort stammenden Runenobjekte bzw. ein Paragraph ‚Runologisches‘. Auch in der großen und auch selbständig herausgegebenen Übersichtsdarstellung ‚Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde‘ (258 Seiten) kommen Runen nur randweise an zwei Stellen vor (S. 121 R und S. 123 L). Auf der anderen Seite sind Runeninschriften auch in sprachgeschichtlichen Artikeln berücksichtigt z. B. ‚Urnordisch‘, ‚Nordgermanische Sprache‘, ‚Übergangsinschriften‘, ‚Merowingerzeit‘, ‚Wortforschung‘, desgleichen in namenkundlichen Beiträgen, wie ‚Personennamen‘, ‚mythische Namen‘, in archäologisch-historisch angelegten Artikeln, wie ‚Alemannen‘ und ‚Wikinger‘, in religionsgeschichtlich ausgerichteten Stichwörtern, z. B. ‚Religion‘, ‚Opfer und Opferfunde‘, ‚Priester und Priesterinnen‘ sowie in sachkundlich orientierten Artikeln, z. B. ‚Würfeln und Würfelspiel‘. Besonders in den zuerst genannten linguistisch bestimmten Artikeln wird der Beitrag der Runeninschriften etwa zur Ausgliederung des Urnordischen bzw. der skandinavischen Einzelsprachen sowie zur phonemischen Problematik im Übergang vom älteren zum jüngeren Fuþark thematisiert. Datierungsversuche auf linguistischer Basis sind nicht eigens behandelt worden, kommt man doch trotz verschiedener Bemühungen über eine relativchronologische Kennzeichnung als ältere oder jüngere Form nicht hinaus (vgl. ‚Runeninschriften‘, S. 525 L). Schließlich bringt es die Alphabetordnung mit sich, daß Stichwörter mit ‚Runen-‘ beginnend recht spät an der Reihe sind. Sie finden sich in Band 25 (2003) und bestehen aus folgenden übergreifenden Artikeln: ‚Runen und Runendenkmäler‘, ‚Runendichtung‘, ‚Runenfälschungen‘, ‚Runengedichte‘, ‚Runeninschriften‘, ‚Runenmeister‘, ‚Runenmünzen‘ (Skandinavien und England), ‚Runennamen‘, ‚Runenreihen‘, ‚Runenschrift‘,4 ‚Runensteine‘, ‚Runica manuscripta‘ (zusammen rund 100 Seiten umfassend). Darin sind 4
Bei diesem Artikel wurde unerwartet der Termindruck durch Herausgeber und Redaktion so forciert, daß ich als Autor, um nicht den Ausfall dieses wichtigen Stichworts (übrigens dem einzigen in der ersten Auflage vom RGA) zu verantworten, gezwungen war, im Wesentlichen auf die einschlägigen Passagen in Klaus Düwel, Runenkunde, 3. vollständig neu bearbeitete Auflage. Sammlung Metzler 72 (Stuttgart, Weimar 2001) zurückzugreifen. (Inzwischen gibt es die seitengleiche überarbeitete und aktualisierte 4. Auflage 2008.) Der erwähnte Umstand führte dazu, daß u. a. ein wichtiger Titel im Artikel ‚Runenschrift‘ unberücksichtigt bleiben mußte: Ottar Grønvik, Über die Bildung des älteren und jüngeren Runenalphabets. Osloer Beiträge zur Germanistik 29 (Frankfurt/Main u. a. 2001). Im Laufe der Lexikonbearbeitung änderten sich vereinzelt auch Stichwörter: ‚Runenschrift‘ hieß anfangs offenbar ‚Runenschrift und Runensprache‘ (siehe Band 10, S. 1 R).
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noch einmal zahlreiche Runenobjekte erwähnt, wenn auch vielfach in Doppelung zu den bereits gezählten,5 so daß doch insgesamt eine repräsentative Auswahl vor allem der älteren aus dem großen Corpus von insgesamt etwa 6500 Runeninschriften getroffen worden ist. Seit dem Sammelwerk von Arntz und Zeiss6 sowie der Edition der Runeninschriften im älteren Futhark durch Krause und Jankuhn (1966)7 sind Ausgaben von Runeninschriften (auch die Edition von einzelnen Neufunden) tunlichst in Zusammenarbeit eines Philologen mit einem Archäologen zu erstellen, obwohl immer wieder gegen diesen Grundsatz verstoßen wird. In den Artikeln zu den Runeninschriften einzelner Fundorte im RGA sind in der Regel archäologische und runologische Behandlung nebeneinandergestellt, in einigen Fällen noch mit einer historischen Darlegung – wie bei ‚Jelling‘ – verbunden. Auf diese 5
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Solche Doppelungen bzw. Mehrfachnennungen sind über das ‚Alphabetische Register‘ im Bd. 2 der Register (2008) leicht erreichbar, siehe z. B. ‚Berezan‘, das zwar kein eigenes Lemma bildet, aber unter sechs anderen Stichwörtern behandelt wird, darunter ‚Runen und Runendenkmäler‘ und ‚Runeninschriften‘. Helmut Arntz, Hans Zeiss, Die einheimischen Runendenkmäler des Festlandes. Gesamtausgabe der älteren Runendenkmäler I (Leipzig 1939). Helmut Arntz (1912– 2007) hat nach einer umfangreichen runologischen Publikationstätigkeit in den 30er und frühen 40er Jahren des 20. Jahrhunderts nach 1945 nur noch wenige Arbeiten zur Runologie beigesteuert, darunter mit Hans Jänichen die Veröffentlichung einiger Neufunde in den ‚Fundberichten aus Schwaben N. F.‘ und im Übersichtsartikel ‚Runen‘ in: Deutsche Philologie im Aufriß, hrsg. von Wolfgang Stammler (Berlin 1957 u. a.), Bd. III, Sp. 1549–1568, 2. Aufl. 1962, Bd. III, Sp. 1849–1870. Im Übrigen hat Arntz sich einer außeruniversitären Tätigkeit zugewandt. Daher war eine Mitarbeit am RGA von vornherein ausgeschlossen. Siehe Ulrich Hunger, Die Runenkunde im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Wissenschafts- und Ideologiegeschichte des Nationalsozialismus. Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 227 (Frankfurt/Main u. a. 1984), besonders S. 43–70, 466 f. Wolfgang Krause (mit Beiträgen von Herbert Jankuhn), Die Runeninschriften im älteren Futhark. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, phil.-hist. Klasse, 3. Folge 65 (Göttingen 1966). Wegen seines hohen Alters und der schleppenden Anfänge des RGA konnte Wolfgang Krause (1895–1970), der europaweit bekannteste deutsche Runenforscher in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nur drei Artikel in Band 1 bearbeiten: ‚Alt-Ladoga § 5. Runologisches‘ (S. 224 f.); ‚Amulett § 4. Runeninschriften‘ (S. 271 f.) und ‚Auzon, das Bilder- und Runenkästchen § 9. Die Runeninschriften‘ (S. 522 f., mit einer Nachbemerkung von Heinrich Beck). Siehe Klaus Düwel, Artikel „Krause, Wolfgang“. In: RGA 17 (2009), S. 320–324) und Klaus Düwel, Runenforschung in Göttingen. In: Historia archaeologica. Festschrift für Heiko Steuer zum 70. Geburtstag, hrsg. von Sebastian Brather, Dieter Geuenich, Christoph Huth. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 70 (Berlin, New York 2009), besonders S. 640–657. Ferner: Hunger, Runenkunde im Dritten Reich (wie Anm. 6), besonders S. 70–95, 220–237, 483 f.
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Weise werden die Runeninschriften nach ihrem inneren und äußeren Kontext aufgeschlossen und sogleich mit Deutungsalternativen und gezielten Nachweisen dargeboten, so daß damit eine Grundlage für weitergehende Forschungen gegeben ist. Dabei konnten über rund 35 Jahre hin die besten Kenner der Objekte und ihrer Inschriften für die Darstellung gewonnen werden, wobei, wenn irgend möglich, folgendes beachtet wurde: Dänen schreiben über dänische, Schweden über schwedische, Norweger über norwegische Inschriften, Engländer über englische Inschriften usw. Dieses Prinzip hat sich bewährt und bewirkt, daß die entsprechenden Artikel zumindest seit Mitte der 1990er Jahre eine gute Zeitspanne Bestand haben werden. Kaum nötig zu sagen, daß nach der bekannten und vielfach zitierten Unterscheidung von skeptischen und imaginativen Runologen durch Ray Page hier nur skeptische Runologen mitgewirkt haben. Der in der zweiten Auflage des RGA erreichte Status im Bereich der Epigraphik/Runologie läßt sich am besten im Vergleich zur ersten Auflage veranschaulichen. Darin ist die Runologie nur mit einem einzigen, allerdings mit knapp 50 Seiten recht umfangreichen Beitrag ‚Runenschrift‘ vertreten.8 Der Autor, Otto von Friesen (1870–1942), „Sprachwissenschaftler, Runologe und Historiker“,9 war um 1910 bereits ein renommierter Runologe, der vor allem mit seiner Herkunftsthese Bekanntheit erlangt hatte. Er schloß sich der Meinung des norweg[ischen] Forschers Sophus Bugge an […], zu der von F[riesen] unabhängig selbst gekommen war, daß die Runen aus der griech[ischen] Minuskelschrift des 3. Jh.s n. Chr. entstanden seien und von den Goten im Pontusgebiet zuerst verwendet wurden.10
Zur Verbreitung seiner inzwischen aufgegebenen Herkunftsthese trug u. a. sein Artikel ‚Runenschrift‘ in der ersten Auflage des RGA bei. Dieser weist eine konventionelle Gliederung auf, beginnend mit „Erstes Auftreten und Herkunft der Runenschrift“ (§ 1–4) und dann chronologisch und geographisch fortfahrend „Die 24-typige Runenreihe bei den Nordgermanen“ (§ 5–7) – „[…] bei den Westgermanen“ (§ 8 Übersicht), [1.] „Die anglofriesischen Runen“ (§ 9–10), [2.] „Die deutschen Runen“ (§ 11–12), „Die jünge8
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Otto von Friesen, Artikel „Runenschrift“. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 4 (Straßburg 1918/1919), S. 5–51. Dieser Artikel gehört zur 1. Lieferung, erschien also bereits 1918. Der nachfolgende knappe Artikel ‚Runenzauber‘ von Eugen Mogk (S. 51 f.) enthält nur literarische Zeugnisse, wirft deshalb für die Runenepigraphik nichts ab. Vom Stichwort her bietet sich zum unmittelbaren Vergleich an: Klaus Düwel, Artikel „Runenschrift“. In: RGA 25 (2003), S. 571–585, freilich mit ganz anderer Zielsetzung. Else Ebel, Artikel „Otto von Friesen“. In: RGA 10 (1998), S. 1 f. Ebel (wie Anm. 9).
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ren speziell nordischen Runen“ (§ 13 Übersicht), „Die 16-typige Runenreihe“, unterteilt in „Die schwedisch-norwegischen Runen“11 (§ 14–15) und „Die dänischen Runen“12 (§ 16), deren Überlieferung „I. In Dänemark“ (§ 17) und „II. In Schweden“ (§ 18) verfolgt werden. Am Ende steht „Das vollständig punktierte Runenalphabet“ (§ 19–20). Durchgängig werden jeweils „Zeugnisse“ bzw. „Urkunden“ sowie „Die Runenzeichen, ihre Lautwerte und Namen“ und zumeist auch die „Geschichte der einzelnen Runen“ erörtert. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei gesagt, daß die „Urkunden“ für die Kurzzweigrunen in § 14 sowohl norwegische Überlieferung als auch schwedische umfassen, während sie bei den Langzweigrunen geographisch getrennt behandelt werden. Von den Runeninschriften im älteren Futhark erwähnt von Friesen 28, von den anglofriesischen deren 10 (2 aus Friesland, 8 aus England), dazu einige Runenmünzen. „Die deutschen Runen“ sind „alle angebracht auf Spangen“, von denen Charnay, Bezenye, Freilaubersheim und Nordendorf I, also 4, namentlich genannt werden.13 Aus den zahlreichen jüngeren Runeninschriften behandelt von Friesen: Norwegen 20, Schweden 22 (von „fast 2000 Runeninschriften“, S. 38 R), einschließlich der gotländischen und der späten aus Dalekarlien, Dänemark 10 Steine (aus Dänemark sind „nicht ganz 200 eigentliche Runensteine bekannt“, S. 37 R) und 1 Taufstein, dazu führt er summarisch an: mehr als 25 Steine „auf den britischen Inseln, besonders auf der Insel Man in der Irischen See“ (S. 30 R), aus Island „etwa 40 mit Runen beschriebene Grabsteine“ (S. 48 L) und schließlich „die beinahe 30 Runeninschriften, die auf den inneren Wänden der gewaltigen Grabkammer Maeshowe auf Mainland, Orkney, angebracht sind“ (S. 45 L). Auf 7 Tafeln mit 35 Abb. wird eine Reihe der behandelten Inschriften und Runica manuscripta mit Hilfe von Photos und Zeichnungen veranschaulicht. Die Nachweise erfolgen in Anmerkungen, die den einzelnen Paragra11
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Auch als Rökrunen oder Stutzrunen bezeichnet. Gebräuchlich ist jetzt der neutrale Terminus Kurzzweigrunen (schwedisch kortkvistrunor, englisch short-twig runes), siehe Düwel, Runenkunde (wie Anm. 4), S. 91. Auch als Normalrunen bezeichnet. Üblich ist jetzt der neutrale Terminus Langzweigrunen (schwedisch långkvistrunor, englisch long-branch runes), siehe Düwel, Runenkunde (wie Anm. 4), S. 90. Von Friesen bezieht sich andeutungsweise auf zwei einschlägige Werke: Rudolf Henning, Die deutschen Runendenkmäler (Straßburg 1889) und Ludvig F. A. Wimmer, De tyske Runemindesmærker. Aarbøger for nordisk Oldkyndighed og Historie, 2. Række 1894, S. 1–82. Bei Henning sind unter den 16 Nummern nur 7 südgermanische Inschriften, von denen von Friesen nur 3 anführt und Bezenye hinzufügt.
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phen, gelegentlich auch Gruppen von Paragraphen, als Block folgen. Daraus läßt sich ersehen, wie schmal noch die Quellengrundlage war. Für Norwegen gab es Bugges Ausgabe „Norges Indskrifter med de ældre Runer“, jedenfalls Bd. I (1891–1903), während für die jüngeren Inschriften Norwegens noch keine Sammlung existierte. Für Dänemark konnte von Friesen Ludvig F. A. Wimmer, De danske Runemindesmærker I–IV (Kopenhagen 1893–1908), benutzen. Anmerkungsweise notiert er dazu: „Überall, wo nichts besonderes bemerkt ist, stammen meine Angaben über Dänemarks Runensteine aus diesem nun abgeschlossenen monumentalen Werk.“14 Ebenfalls dort (Anm. 3) heißt es: Schwedens zahlreiche Runensteine sind in folgenden Hauptwerken publiziert: Bautil […] 1750 […]. R. Dybeck Sverikes runurkunder […] 1860 ff. […]. Ein neues zeitgemäßes Werk über Sveriges runinskrifter wird von der K. Vitterhets Historie och Antiqvitets Akademi herausgegeben. Erschienen sind die vier ersten Hefte, Ölands und Ostgotlands [Östergötlands] Runensteine umfassend, bearbeitet von S. Söderberg und E. Brate, Stockholm 1900–1915.15
Die Schlußbemerkung des Autors lautet: Betreffs einiger Einzelheiten dieses Artikels ist der Verfasser jetzt auf Grund neuerer Forschungen anderer Meinung. Speziell hat er über den Inhalt des Runensteins von Rök eine Auffassung, die von der geläufigen, von Bugge begründeten, in wichtigen Punkten abweicht. Aus technischen Gründen konnten diese aber vor der Drucklegung nicht mehr berücksichtigt werden.16
Schon der Blick auf die Gliederung des Artikels macht deutlich, daß es im wesentlichen um graphische, sprachwissenschaftliche (lautliche) und onomastische Fragen geht, also um Fragen der Herleitung von Zeichen(formen), der Beziehung von Graphem und Phonem, der unterschiedlichen Runennamen, der Beeinflussung einzelner Runentraditionen und ähnliches. Dagegen 14 15
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Von Friesen, Runenschrift (wie Anm. 8), S. 44 Anm. 1. Von Friesen, Runenschrift (wie Anm. 8), S. 44 Anm. 4. Erst am Ende nennt er eine eigene Schrift: „Eine sehr kurz gefaßte historische Übersicht gibt v. Friesen Runorna i Sverige.Grundlinier till föreläsningar. Uppsala 1907. In zweiter vermehrter Auflage herausgekommen als Heft 1 der Sammlung Fordomtima, Uppsala 1915.“ Zu Beginn von Anm. 4 hatte von Friesen auch seine Separatausgabe „Upplands runstenar […]. Neue erweiterte Auflage, Uppsala 1913“ genannt. Von Friesen, Runenschrift (wie Anm. 8), S. 51. Die Einzelheiten lassen sich kaum nachweisen, die neue Auffassung zur Rökinschrift findet sich in: Otto von Friesen, Rökstenen (Stockholm 1920), vgl. Helmer Gustavson, Artikel „Rök“. In: RGA 25 (2003), S. 62–72. Darin konnte die (vorerst) letzte Monographie noch nicht aufgenommen werden: Ottar Grønvik, Der Rökstein. Osloer Beiträge zur Germanistik 33 (Frankfurt/Main u. a. 2003).
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kommen Probleme der Chronologie, der Funktion, der kulturgeschichtlichen Bedeutung u. a. fast gar nicht zur Sprache. Es liegt auf der Hand, daß bei der Neubearbeitung die Akzente verlagert werden mußten und eine Erweiterung der Aspekte und Perspektiven unabdingbar war. Dabei muß immer wieder beachtet werden, daß die Materialvermehrung auf der einen Seite und die wissenschaftliche Präsentation der Quellen in den dazwischenliegenden zwei bis drei Generationen auf der anderen außerordentlich umfangreich war. Allerdings spielte eine Bereinigung von nationalsozialistischen Ideologemen wegen des Publikationsdatums der ersten Auflage keine Rolle. Vom schwedischen Runenwerk konnte von Friesen nur die ersten Lieferungen nutzen. Bis 1970 erschienen die Runeneditionen für folgende Landschaften: Södermanland, Småland, Västergötland, Uppland, Västmanland und der erste Teil von Gotland. Im Verlauf des Erscheinens vom RGA kamen dazu: Närke (1975), der zweite Teil von Gotland, ferner Värmland (beide 1978) sowie Gästrikland (1981). Die Ausgabe der älteren Runeninschriften Norwegens von Sophus Bugge und Magnus Olsen wurde mit Bd. II und III vollendet, die jüngeren Inschriften, bearbeitet von Magnus Olsen und Aslak Liestøl erschienen mit Bd. I–V erst spät (1941–1960), Bd. VI folgte in zwei Teilen 1980 und 1990 und harrt immer noch der Vollendung, wie eben auch das schwedische Runenwerk. Schließlich lag die Neubearbeitung der dänischen Inschriften nach dem monumentalen Werk von Wimmer (vgl. vor Anm. 14) in den Jahren 1941/1942 vor. Erst in der Laufzeit des RGA erschien der Ikonographische Katalog, die Gesamtedition der Goldbrakteaten aus der Völkerwanderungszeit (IK).17 Was die Vermehrung der Quellen, oder, wie es bei von Friesen heißt, der Urkunden, angeht, so mag die Zahl der in Deutschland und angrenzenden Ländern gefundenen südgermanischen Inschriften ein Beispiel abgeben. Rudolf Henning bot in seiner Ausgabe der deutschen Runendenkmäler von 1889 (vgl. Anm. 13), 6 Inschriften. L. F. A. Wimmer (vgl. Anm. 13) behandelte 1894 9 Runengegenstände, wobei er das Fibelpaar von Bezenye 17
Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit. Ikonographischer Katalog. (Einleitung sowie Bd. 1–3: Text- und Tafelbände). Hrsg. von Morten Axboe, Urs Clavadetscher, Klaus Düwel, Karl Hauck, Lutz von Padberg. Münstersche MittelalterSchriften 24, 1, 1–24, 3, 2. München 1985–1989. Dazu tritt der Katalog der Neufunde von Morten Axboe in: Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Auswertung und Neufunde, hrsg. von Wilhelm Heizmann, Morten Axboe. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 40 (Berlin, New York 2011), ab S. 891. Die Inschriftenbrakteaten behandelt Sean Nowak, Schrift auf den Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit. Untersuchungen zu den Formen der Schriftzeichen und zu formalen und inhaltlichen Aspekten der Inschriften. Diss. phil. Göttingen 2003, publiziert unter http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl/?webdoc-512.
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als zwei Stücke rechnete (so auch im folgenden). Wolfgang Krause18 zählte 24 „hochdeutsche Zueignungs“-Inschriften und Arntz, Zeiss (vgl. Anm. 6) kamen 1939 auf 25 Belege. Krause 1966 (vgl. Anm. 7) führte bereits 35 Inschriften unter 29 Nummern an, wenig später stellte Uwe Schnall19 in seiner Bibliographie von 1973 53 sichere (und 16 fälschungsverdächtige) Runeninschriften zusammen. In seiner Dissertation von 1977 bot Stephan Opitz20 einen Katalog mit 56 Nummern. Um weitere 12 vermehrt, benennt Marcello Meli21 1988 insgesamt 68 Denkmäler. In ihrer im Jahre 2003 gedruckten Dissertation (von 1997) hat Tineke Looijenga22 die Zahlen auf den neuesten Stand gebracht: „The Continental Corpus consists of 74 runic objects. I have listed a total of 55 legible and interpretable items; 19 runic inscriptions are uninterpretable or illegible.“ Nach dem letzten Stand, bei dem im einzelnen je nach Zählart und Berücksichtigung problematischer Inschriften die Zahlen abweichen, beträgt die Gesamtzahl „um die 80 Texte“23 bzw. „fast 80 Runengegenstände“.24 Vor allem bedeutende Neufunde, die seit der Edition Krauses (1966) gemacht wurden, sollten, wenn auch nur wegen des fortgeschrittenen Alphabets, in Form einer Erwähnung mit einem Literaturhinweis an späterer Stelle im Lexikon berücksichtigt werden, z. B. der Halsring von Aalen unter ‚Runeninschriften‘25 oder die Bügelfibel von Aschheim und die Scheibenfibel von Bad Krozingen unter ‚Schretzheim‘.26 18
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Wolfgang Krause, Runeninschriften im älteren Futhark. Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Geisteswissenschaftliche Klasse 13. Jahr, Heft 4 (Halle/ Saale 1937). Uwe Schnall, Die Runeninschriften des europäischen Kontinents. Bibliographie der Runeninschriften nach Fundorten. Im Auftrage der Akademie der Wissenschaften in Göttingen hrsg. von Wolfgang Krause. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, phil.-hist. Klasse 3. Folge 80 (Göttingen 1973). Stephan Opitz, Südgermanische Runeninschriften im älteren Futhark aus der Merowingerzeit. Hochschul-Produktionen. Germanistik-Linguistik-Literaturwissenschaft 3 (Kirchzarten 1977). In den sonst unveränderten Folgeauflagen (2.Aufl. 1980, 3. Aufl. 1987) treten zwei weitere Inschriften hinzu. Marcello Meli, Alamannia Runica. Rune e cultura nell’ alto Medioevo (Verona 1988). Tineke Looijenga, Texts and Contexts of the Oldest Runic Inscriptions. The Northern World 4 (Leiden, Boston 2003), S. 269. Robert Nedoma, Personennamen in südgermanischen Runeninschriften. Studien zur altgermanischen Namenkunde I, 1,1. Indogermanische Bibliothek. Dritte Reihe (Heidelberg 2004), S. 12. Düwel, Runenkunde (wie Anm. 4), S. 56. Die Angaben schwanken im einzelnen, wofür es verschiedene Ursachen gibt. Klaus Düwel, Artikel „Runeninschriften“. In: RGA 25 (2003), S. 502 R. Klaus Düwel, Robert Nedoma, Artikel „Schretzheim § 3. Runologisches“. In: RGA
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Eigene Stichwörter erhielten hingegen die Neufunde von ‚Hüfingen‘, ‚Neudingen‘, ‚Pforzen‘, ‚Wremen‘ (siehe Register für die Mitbehandlung unter anderen Lemmata). Beim Schemel von Wremen wurde das Alphabet sozusagen überlistet, indem nicht das Gräberfeld an der *‚Fallward‘ das Lemma abgab, sondern der nächstgelegene Ort ‚Wremen‘. So wird sich denn wohl auf Dauer diese Fundortbezeichnung durchsetzen. Jedoch findet sich weder beim Artikel ‚Trossingen‘ noch bei ‚Zimmermannskunst § 8. Mobiliar‘ ein Hinweis auf die fuþark-Inschrift auf einem Holzstuhl aus dem Männergrab 58, obwohl sie zum Zeitpunkt der Artikel-Publikation bereits bekannt war. Ich führe nachfolgend weitere Besonderheiten des RGA auf und verfolge sie – im gelegentlichen Vergleich mit dem Artikel ‚Runenschrift‘ von Otto von Friesen – vom Einzelnen zum Allgemeinen fortschreitend. Wegen des thematischen Schwerpunkts ‚Germanische Altertumskunde‘ verzichte ich auf einen Vergleich mit anderen Lexika.27 Zu den Besonderheiten gehört, wie schon angedeutet, ein Nebeneinander von Einzelartikeln zu bestimmten markanten runischen (und meist auch archäologischen) Fundorten und Sammelartikel, wie hier schon anfangs aufgeführt, wobei sich für den/die Bearbeiter auch Probleme ergeben haben. Wie soll etwa bei den Stichwörtern ‚Runen und Runendenkmäler‘ und ‚Runeninschriften‘ verfahren werden, was genau wäre und zwar unterschiedlich in diesen Lemmata darzustellen, da es ja auch noch die Artikel ‚Runenschrift‘ und ‚Runensteine‘ gibt?28 Und was hat es mit dem Artikel ‚Inschriften‘ auf sich (vgl. Anm. 36)? Andererseits konnten wegen früherer Verweise diese Stichwörter nicht mehr verändert werden, auch geben die Stellen, an denen diese Verweise stehen, keinen Aufschluß über die Gestaltung der Artikel. Hier galt es also, aus der Not eine Tugend zu machen: unter ‚Runen‘ hätte eine einfache Bestimmung und eine Vorstellung der einzelnen Runenformen und ihrer Lautgeltung stehen können. Dies war aber sinnvoller unter ‚Runenschrift‘ abzuhandeln. So wurde denn ‚Runen und Runendenkmäler‘ auf die DenkmälerBetrachtung verkürzt und diese einmal auf den Träger von Runen, die verschiedenen zur Beschriftung gewählten Materialien also, bezogen und zum andern auf den Denkmalcharakter, d. h. ihre monumentale Präsentation aus-
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27 (2004), S. 303 R, jeweils mit einem Nachweis. Die Scheibenfibel von Bad Krozingen wurde in weiteren Artikeln genannt, siehe Register. Etwa: Kulturhistorisk Leksikon for Nordisk Middelalder oder das Lexikon des Mittelalters. Offenbar hat bei der Aufstellung der Stichwortliste in der Planungsphase kein Philologe mit runologischer Kenntnis mitgearbeitet, der auf mehrfache Überschneidungen hätte hinweisen und diese damit verhindern können.
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gerichtet. So bietet nun der § 2 eine systematische und der Absicht nach vollständige Zusammenstellung aller organischen und anorganischen Materialien, auf denen Runen vorkommen. In § 3 dagegen werden sowohl die Terminologie als auch die wesentlichen Merkmale von Runeninschriften in monumentaler Präsentation zusammengestellt. (Dazu demnächst mein Beitrag „Was ist ein Runendenkmal?“) Auf diese Weise stellt beides einen eigenständigen Beitrag zur Runologie dar. Zwei spezielle Runenarten werden im Lexikon durch eigene Lemmata besonders herausgehoben. Es sind einmal ‚Begriffsrunen‘,29 für die bereits in Band 2 sowohl eine Definition als auch – und dies zum ersten Mal – ein Kriterienkatalog runographisch ausgerichteter Merkmale geboten wurde für den Fall, daß die syntaktische Einbettung einer mit ihrem Runennamen, ihrem Begriffswert, aufgelösten Einzelrune nicht gegeben ist. Dabei wurde auch versucht, Begriffsrunen und Abkürzungen (auf den Anfangsbuchstaben), die beide dem akrophonischen Prinzip folgen, zu scheiden. In diesem Punkt besteht weiterhin Klärungsbedarf, zumindest, wenn eine Einzelrune vorliegt, die sowohl der Anlaut eines Runennamens sein kann, als auch die Abkürzung bis auf den Anlaut eines Inschriftenwortes.30 Das Phänomen ‚Spiegelrunen‘ zum andern hat Peter Pieper erst zu Beginn der 1980er Jahre entdeckt und 1986 regional und 1987 international bekannt gemacht. Im RGA ist dafür kein eigenes Stichwort ausgeworfen worden, denn der Sachverhalt ließ sich gut als „§ 2. Spiegelrunen“ zu ‚Spong Hill‘ anfügen,31 stammt doch von diesem Fundort eines der Gefäße, an dem Pieper die Spiegelrunen erkannt und ihre Bildeweise graphisch veranschaulicht hat. Mehrere Funde von Illerup Ådal (Schildfessel 2 und 3 sowie zwei inschriftengleiche Lanzenblätter) und Vimose (ein drittes zuge29 30
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Klaus Düwel, Artikel „Begriffsrunen“. In: RGA 2 (1976), S. 150–153. Im Artikel ‚Nebenstedt‘ wird diese Problematik nicht angesprochen. Früher habe ich (Klaus Düwel, Die 15. Rune auf dem Brakteaten von Nebenstedt. Studien zur Sachsenforschung. Gewidmet Albert Genrich, hrsg. von Hans-Jürgen Häßler (Hildesheim 1977), S. 90–98, hier S. 94 f.) beide Möglichkeiten erwogen, Krause im Ansatz eines Runennamens *laukaz ‘Lauch, Gedeihen’ für die l-Rune folgend. In der jüngsten Behandlung der Inschrift bevorzugen die Autoren die Abkürzungsthese: Klaus Düwel, Sean Nowak, Die semantisch lesbaren Inschriften auf Goldbrakteaten. In: Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit (wie Anm. 17), Nr. 6. Peter Pieper, Artikel „Spong Hill. § 2. Spiegelrunen“. In: RGA 29 (2005), S. 380– 382. In der beigefügten Literatur findet man Piepers Arbeiten von 1986 und 1987 unter (14) und (15). Im Englischen erscheint der Terminus als ‚mirror-runes‘, siehe Raymond I. Page, An Introduction to English Runes. Second Edition (Woodbridge 1999), S. 93; vgl. David N. Parsons, Recasting the Runes. The Reform of the Anglo-Saxon Futhorc. Runrön 14 (Uppsala 1999), S. 62, der von „mirrored runes“ spricht. Dazu demnächst Sonia Streblin-Kamenskaya.
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höriges Lanzenblatt) bestätigen diese neue Runenvariante, für die auch der Ausdruck „Doppel- oder Spiegelform“ gebraucht wird.32 Diese Art Spiegelrunen bildet die Doppelung oder Spiegelung um den Stab und betrifft nur eine begrenzte Zahl von Runen, sofern sie nicht symmetrisch (wie ) sind oder von Haus aus Wendeformen z. T. mit Varianten haben (wie ); oder anders ausgedrückt: sie betrifft nur die, welche einseitig vom Stab abgehende Zweige oder Haken haben (wie ).33 Gegenüber dieser Art von Doppelung in der Horizontalen mit den bisher angeführten Spiegelformen, gibt es, worauf P. Pieper schon 1987 aufmerksam gemacht hat, auch eine Doppelung in der Vertikalen, etwa „um die Mitte des Stabes ( ); eine solche Form wäre genauer als ‚Klapprune‘ oder ähnlich zu bezeichnen.“34 Diese Form der -Rune begegnet in älterer Zeit sicher allein auf der Fibel von Charnay, kommt aber auch auf dem jüngeren Amulett von Alt-Ladoga vor, dessen Inschrift überhaupt aus vielen Spiegel- und einigen Klapprunen, z. T. in Ligaturen, besteht und noch nicht, wie die Amulettinschriften von Gorodišče I und II, zufriedenstellend gedeutet worden ist.35 Vereinzelt gelang es, neue Inschrifteninterpretationen im Verlauf des Lexikons zu berücksichtigen. Eine 1981 erfolgte neue Deutung der Inschrift auf der Bügelfibel von Nordendorf I im Sinne einer abrenuntiatio diaboli und damit einer Interpretatio christiana statt einer Bezeugung heidnischen Glaubens mit einer Göttertrias (so noch im Artikel ‚Alemannen § 21. Reli32
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Marie Stoklund, Artikel „Illerup Ådal: § 3. Runologisches“. In: RGA 15 (2000), S. 353 f.: „Statt der normalen einseitigen w- und þ-Runen treten in einigen Inschr [iften] Doppel- oder Spiegelformen auf.“ Vgl. Marie Stoklund., Artikel „Vimose. § 6. Runologisch“. In: RGA 32 (2006), besonders S. 413 L. Siehe dazu Düwel, Runenkunde (wie Anm. 4), S. 9. Daß weitere in der runischen Praxis vorkommende Varianten auch anders zugeordnet werden müssen, ist klar, (z. B. oder ). Peter Pieper, Spiegelrunen. In: Runor och runinskrifter. Föredrag vid Riksantikvarieämbetets och Vitterhetsakademiens symposium 8–11 September 1985. Konferenser 15 (Stockholm 1987), S. 70. Siehe Klaus Düwel, Artikel „Staraja Lagoda. § 3. Runologisch“. In: RGA 29 (2005), S. 521 f. Darin blieb unberücksichtigt: Jurij K. Kusmenko, Zur Interpretation der Runeninschrift auf dem Anhänger von Alt-Ladoga. In: Germanic Studies in Honor of Anatoly Liberman, hrsg. von Kurt G. Goblirsch, Marthe Berryman Mayon, Marvin Taylor. NOWELE 31/32 (Odense 1997), S. 181–201. Die Deutung Kusmenkos „Thor hat Mutrunen, (der Ase?). Fange nicht mich das Riesenverderben. Odin gönnt die Tat (den Mut), die Naggi erhalten hat“ (S. 197) ist ebenso interessant wie problematisch. Nach Kusmenko handelt es sich um eine „Kupferlamelle“, im RGA heißt es „Bronzeamulett“. Im Registerband zum RGA fehlt das Lemma ‚Gorodišče‘.
Die Epigraphik im RGA
275
gion‘) konnte in den „§2. Runologisches“ des Artikels ‚Nordendorf‘ eingehen. Da das Stichwort ‚Beuchte‘ bereits im Band 2 zu behandeln war, findet sich dort noch Krauses Auffassung, die abbreviierte Futhark-Inschrift drücke (besondere) Wünsche für die lebende Fibelträgerin aus. Die neue Deutung aus dem Anfang der 1980er Jahre findet sich im Artikel ‚Inschriften‘: Zumindest der Gebrauch der zumeist abgekürzten Runenreihe deutet auf magisch wirksam gedachte I[nschriften], wie die kurz vor der Niederlegung (um 550) als Grabbeigabe [für die Tote also] eingravierten Runen fuþarzj auf der Bügelfibel von Beuchte [Nachweise], die im Sinne eines Alphabetzaubers auch ein Wiedergehen der bestatteten Frau verhindern sollten.36
Aus unbekannten Gründen, vielleicht weil die Publikation des Gräberfeldes erst 1972 erfolgte, fehlt ein Stichwort ‚Donzdorf‘. Um dennoch die bemerkenswerte Runeninschrift, die nachweislich bei der Herstellung der Bügelfibel (Frauengrab 78) in Jütland eingetragen wurde, einzubeziehen, habe ich die mit Helmut Roth erarbeitete Deutung – Eho als Name des jütländischen Metallschmiedes und zugleich als sein Markenzeichen – im Artikel ‚Fibel und Fibeltracht § 37‘ (1994) untergebracht. Da gleichzeitig eine andere seinerzeit überzeugendere Namendeutung erfolgte,37 lautete der Eintrag unter ‚Inschriften‘38 danach: „Sprachlich liegt ein Frauenname nord[ischer] Bildeweise näher, die urspr[üngliche] Besitzerin bezeichnend, wobei offen bleibt, wie der Weg in das alam[annische] Frauengrab verlief.“ 36
37
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Klaus Düwel, Artikel „Inschriften“. In: RGA 15 (2000), S. 448 L. Zu diesem Stichwort bemerkt Henrik Thrane in seinem Übersichtsartikel ‚Germansk oldtidskundskap som leksikon‘ (Fornvännen 105, 2010, S. 115–120, hier S. 118) zu Recht: „Underligt er det under Inschrift ikke at finde et afsnit om Skandinavien.“ Der Grund für diesen Befund ist dem Artikel nicht zu entnehmen, beruhte aber auf folgender Überlegung: Die späteren Stichwörter ‚Runen und Runendenkmäler‘, ‚Runeninschriften‘ und ‚Runensteine‘ würden selbstverständlich entschieden auf die Runenüberlieferung Skandinaviens konzentriert sein. Die kontinentale, insbesondere südgermanische einschließlich der lateinischen epigraphischen Parallelüberlieferung dort war in den bereits veröffentlichten Artikeln ‚Alemannen‘ und ‚Angelsachsen‘ nicht hinreichend oder gar nicht berücksichtigt worden. Somit bot sich beim Stichwort ‚Inschriften‘ eine eigenständige Gelegenheit, diesen Komplex zu behandeln, wobei Ray I. Page den ‚§ 3. England, runic and latin inscriptions‘ dankenswerter Weise übernommen hat. Lena Peterson, On the relationship between Proto-Scandinavian and Continental Germanic personal names. In: Runische Schriftkultur in kontinental-skandinavischer und ‑angelsächsischer Wechselbeziehung. Internationales Kolloquium in der Werner-Reimers-Stiftung vom 24.-27. Juni 1992 in Bad Homburg, unter Mitarbeit von Hanne Neumann und Sean Nowak, hrsg. von Klaus Düwel. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 10 (Berlin, New York 1994), S. 144 f. Vgl. Die Diskussion in Nedoma, Personennamen (wie Anm. 23), LNr. 37. Düwel, Inschriften (wie Anm. 36), S. 448 L.
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Klaus Düwel
Auf den Sammelband ‚Runische Schriftkultur‘ von 1994 (siehe Anm. 37) ist noch öfter zurückzukommen. Auf ihn wird z. B. beim Lemma ‚Inschriften‘ verwiesen, wenn dort die lateinisch-runische Inschrift auf der Scheibenfibel von Chéhéry vorgestellt wird.39 Zum Beschluß dieses Abschnitts über die Berücksichtigung von runischen Neufunden und internen Korrekturen von früher gebotenen Angaben und Deutungen sei noch auf die Inschrift auf dem Brakteaten von IK 128 Nebenstedt I verwiesen: Die gängige Deutung bietet noch der Sammelartikel ‚Brakteaten‘: „Eine Bezeichnung für den Runenmeister findet sich vielleicht in glïaugiR 133 Nebenstedt I ‚der Glanzäugige‘. Die übrige Inschrift uïurnR ist als wiu (für wīhiu) r(ū)n(ō)R verstanden worden.“40 Die Wiederentdeckung des die Inschrift schließenden l für laukaR „Lauch, Gedeihen“,41 konnte im Lemma ‚Nebenstedt § 2. Runologisches‘ in die Deutung einbezogen werden. Von den „Ergänzungsbänden zum RGA“ sind einige speziell runologischen Themen gewidmet und haben sich auch auf die Gestaltung einer Reihe von Artikeln ausgewirkt. Zuerst erschien der Band „Runische Schriftkultur“.42 Neben den untersuchten Wechselbeziehungen England-Kontinent und Skandinavien-Kontinent, wurde erstmals „[d]ie Wechselbeziehung zwischen lateinischer Epigraphik und Fuþark-Inschriften“ in den Vordergrund gerückt,43 und z. B. im Artikel ‚Inschriften‘ berücksichtigt. Auf ein noch breiteres Echo stieß der zweite Band „Runeninschriften als Quellen interdisziplinärer Forschung“, in dem die Vorträge zum 4. Internationalen Symposium über Runen und Runeninschriften 1995 versammelt wurden.44 Dieses 39 40
41 42
43
44
Düwel, Inschriften (wie Anm. 36), S. 449 R. Karl Martin Nielsen, Artikel „Brakteaten. II. Philologisches. § 6.Runeninschriften“. In: RGA 3 (1978), S. 356 L. Düwel, Die 15. Rune (wie Anm. 30), S. 90–98. Runische Schriftkultur (wie Anm. 37). Eine ausführliche Rezension verfaßte Ute Schwab, Zur Schriftkultur des frühen Mittelalters im west- und nordgermanischen Bereich. Ein kritischer Überblick zu drei Bänden runologischer Forschungsliteratur im letzten Jahrzehnt des zweiten Milleniums. Studi Medievali 3a Serie-Anno XLII, 2001, S. 797–839, besonders 823–839. Klaus Düwel, Runische und lateinische Epigraphik im süddeutschen Raum zur Merowingerzeit (S. 229–308), hier auch S. V; Helmer Gustavson, Latin and Runes in Scandinavian Runic Inscriptions (S. 313–327) und Karin Ertl, Runen und Latein. Untersuchungen zu den skandinavischen Runeninschriften des Mittelalters in lateinischer Sprache (S. 328–390). Runeninschriften als Quellen interdisziplinärer Forschung. Abhandlungen des Vierten Internationalen Symposiums über Runen und Runeninschriften in Göttingen vom 4.–9. August 1995 in Zusammenarbeit mit Sean Nowak, hrsg. von Klaus Düwel. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 15 (Berlin, New York 1998). Anmerkungsweise sei
Die Epigraphik im RGA
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Symposium war thematisch ausgerichtet und diente der Erkundung, für welche frühgeschichtlich und mediävistisch ausgerichteten Fächer/Disziplinen und Fachteile Runeninschriften als Quelle(n) eine Bedeutung haben, wobei der interdisziplinäre Aspekt über Fachwissenschaftler oder über spezielle Fragestellungen laufen konnte. Es geht in den zahlreichen Beiträgen um die Aussagemöglichkeiten von Runeninschriften im Kontext von Archäologie, Kunst- und Rechtsgeschichte, allgemeiner und regionaler Geschichte, Kultur- und Siedlungsgeschichte, Religionswissenschaft und Frömmigkeitsgeschichte, Sprach- und Literaturgeschichte, Orts- und Personennamenforschung.45
In rund 40 Beiträgen wird neben anderen Fragestellungen der Quellenwert der Runeninschriften für verschiedene Fachrichtungen verhandelt, so daß für Beiträge in den Bänden 13 ff. des RGA seit 1999 für die Beiträger ein Zugriff auf den Quellenbereich „Runeninschriften“ gegeben war, eine Möglichkeit, die auch vielfach genutzt wurde.46 In einer Rezension hat Piergiuseppe Scardigli auf folgenden Gesichtspunkt bei der Charakterisierung des Bandes hingewiesen: „Mit anderen Worten: es geht darum festzustellen, was sich aus der Zusammenarbeit mehrerer geisteswissenschaftlicher Fächer, vor allem der geschichtswissenschaftlichen Sparte, für das Studium der Runeninschriften ergibt“.47
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bemerkt, daß ein dritter Ergänzungsband erschien: Von Thorsberg nach Schleswig. Sprache und Schriftlichkeit eines Grenzgebiets im Wandel eines Jahrtausends. Internationales Kolloquium im Wikinger Museum Haithabu vom 29. September – 3. Oktober 1994, unter Mitarbeit von Lars E. Worgull hrsg. von Klaus Düwel, Edith Marold, Christiane Zimmermann. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 25 (Berlin, New York 2001). Er kam einmal für weitere Hoops-Artikel recht spät und enthielt zum anderen meist Material für den Zeitraum des Hoch- und Spätmittelalters. Dennoch sei für die Artikel ‚Meldorf‘ und ‚Thorsberg. Runologisch‘ ein Titel nachgetragen: Henrik Williams, From Meldorf to Haithabu: Some early personal names from Schleswig-Holstein, S. 149–154 (Meldorf), S. 154–158 (The Thorsberg chape). Düwel, Runeninschriften als Quellen (wie Anm. 44), S. VII. Auf die Behandlung von Runeninschriften zur Handels- und Verkehrsgeschichte wurde wegen einer neueren einschlägigen Publikation (ebenda, Anm. 4) verzichtet, vgl. ‚Handel § 18‘. Es fehlen Beiträge sowohl zur Bekehrungs- als auch zur Medizingeschichte. In einer Rezension (skandinavistik 34, 2004, S. 153) heißt es: der Band „vermittelt eindrucksvoll den überaus hohen Quellenwert, der den Runeninschriften für die unterschiedlichsten Fachdisziplinen zukommt.“ Das Register Bd. 2 vom RGA ist in diesem Punkt weniger aussagefähig, dagegen finden sich in den Literaturanhängen der Artikel immer wieder Hinweise auf den ‚Kongreßband‘. Piergiuseppe Scardigli, Rezension von Runeninschriften als Quellen (wie Anm. 44). Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 128, 1999, S. 447 ff.
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Klaus Düwel
Der nächste Abschnitt soll am Beispiel der umfangreichen Brakteatenüberlieferung verdeutlichen, welche umwälzenden Erkenntnisse seit dem Beginn der Brakteatenforschung im frühen 19. Jahrhundert und dem fast 100 Jahre später erschienenen Artikel ‚Brakteaten‘ in der 1. Auflage des RGA bis zum entsprechenden Lemma in der 2. Auflage und einigen Einzelartikeln in den Bänden 28 (2005) bis 31 (2006) erreicht worden sind. Im Jahre 1821 besuchte der dänische Altertumsforscher Rasmus Nyerup auf seiner Deutschlandreise die Brüder Grimm in Kassel und übergab sieben Kupfertafeln mit Abbildungen von Brakteaten. Sogleich verfaßte Wilhelm Grimm eine kleine Abhandlung dazu, in der er Deutungen der Bilder und Runen versuchte. Dieses Manuskript galt als verschollen, bis es Hubert Seelow in der Isländischen Nationalbibliothek wiederentdeckte und 1986 publizierte. Inzwischen sind die seinerzeit nicht veröffentlichten Kupfertafeln in zwei Publikationen zugänglich, die auch die runologischen und ikonographischen Arbeiten einschließlich des Manuskripts von 1821 von Wilhelm Grimm, dem eigentlichen Begründer der Brakteatenforschung, in seiner Zeit würdigen.48 Der Artikel ‚Brakteaten‘ in der 1. Auflage des RGA 49 ist zweigeteilt, Teil A behandelt in 4 Paragraphen die Münzbrakteaten, Teil B die Zierbrakteaten in 8 Paragraphen, die sehr knapp gehalten sind und im letzten nur
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Gegen Ende der Rezension (S. 450) – sozusagen von der anderen Seite her betrachtet – heißt es: „Das Experiment, alle möglichen ‚Nachbardisziplinen‘ zur Lösung runologischer Probleme einzubeziehen, ist gelungen, auch wenn meistens an Stelle von Antworten Fragen stehen.“ Hubert Seelow, Zwei Autographe Wilhelm Grimms in der isländischen Nationalbibliothek. Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 115, 1986, S. 124–143; Morten Axboe, Klaus Düwel, Wilhelm Heizmann, Sean Nowak, Alexandra Pesch, Aus der Frühzeit der Goldbrakteatenforschung. Eine Gabe für Karl Hauck zum 90. Geburtstag. Frühmittelalterliche Studien 40, 2006 (erschienen 2007), S. 383–426. Wilhelm Carl Grimm, Ueber deutsche Runen und zur Literatur der Runen. Mit einer Einleitung von Klaus Düwel und einem Glossar von Giulio Garuti Simone […] sowie Würdigungen von Wilhelm Grimms GoldbrakteatenArbeiten durch Wilhelm Heizmann und Alexandra Pesch. Jacob und Wilhelm Grimm, Werke. Forschungsausgabe. Abt. II, Ergänzungsband 2. Hrsg. von Klaus Düwel (Hildesheim u. a. 2009). Zur Forschungsgeschichte der Brakteaten vgl. Charlotte Behr in: Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit (wie Anm. 17), S. 153–229. Br[uno] Schnittger, Artikel „Brakteaten“. In: Hoops, Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 1 (Straßburg 1911–1913), S. 307 f. Die darin genannten Symbolisierungen von Odin durch Vögel und von Thor durch ein bärtiges Tier gehen zurück auf Sune Ambrosiani, Odinskultens härkomst (Stockholm 1907), desssen Auffassung der Brakteatenbilder in letzter Zeit mehrfach wieder angeführt, aber oft nicht genau wiedergegeben wird.
Die Epigraphik im RGA
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einen Satz enthalten: „Die Brakteaten wurden vielfach als Amulette getragen (s. d.)“. Die einzelnen Paragraphen sagen etwas aus über Funktion (Hängeschmuck) und Verbreitung, Vorbilder und Typen ohne klare Systematik, die Ikonographie beschränkt sich auf einige mehr zufällige Beobachtungen: so ist von einem „Mann noch reitend“ die Rede und davon, „daß die Vögelbrakteaten Odin symbolisieren sollen, und daß andere, ohne Vögel, hingegen mit einem bärtigen Tier, Thor-Symbole seien.“ Weiter heißt es: „Eine kleine dänische Gruppe zeigt die Siegesgöttin Viktoria ([in Abb. 11b Stichwort Amulette S. 80 ff.]; vgl. Alsener Gemmen).“ Von Inschriften wird andeutungsweise gesprochen: „In Fig. Amulett 11c [IK 47,2 Broholm-A/Oure] kann man jedoch einen Teil der römischen Inschrift erkennen: (Cons)TANSPFAVG. Auf etwas jüngeren B[rakteaten] ist das Bild des Kaisers von einer Runeninschrift umgeben“. Ältere Bilddarstellungen zeigten einen „Mann noch reitend“ und seien „oft von einer Runeninschrift umgeben, auf den jüngeren ist nur der Kopf geblieben, meistens ohne Runenschrift. Fig. 50 stellt den berühmte [!] Wadstenabrakteaten dar mit dem älteren Runenalphabet“. Demgegenüber präsentiert sich der Artikel ‚Brakteaten‘ in der 2. Auflage in einer freilich ganz anders gearteten Einteilung, nämlich I. Archäologisches und II. Philologisches.50 Unmittelbar darauf folgt der grundlegende Artikel ‚Brakteatenikonologie‘ von Karl Hauck, der an Umfang (S. 361– 401) bei weitem den vorhergehenden (S. 337–361) übertrifft und damit eindrucksvoll den Vorrang der Bilder gegenüber den Texten veranschaulicht oder anders ausgedrückt: Die Herrschaft des Bildes vor der Macht der Schrift konstituiert.51 Die Vergabe des Artikels ‚Brakteaten. § 6. Runeninschriften‘ erfolgte an den dänischen Gelehrten Karl Martin Nielsen, der bereits an dem dänischen Runenwerk von 1941/1942 mitgearbeitet und 1975 nach einem Vortrag in Göttingen einen forschungsgeschichtlich ausgerichteten Beitrag ‚Runen und Magie‘ veröffentlicht hatte.52 Er schien mir besser geeignet, einen angemessenen Übersichtsartikel zu verfassen als etwa Erik 50
51
52
Beide Abschnitte weisen mehrere Autoren auf. I. Elisabeth Munksgaard, Kopenhagen; Birgit Arrhenius, Stockholm; Helmut Roth, Marburg; II. Karl Martin Nielsen, Kopenhagen; Klaus Düwel, Göttingen; dazwischen 4 Tabellen und eine Konkordanz von Lutz von Padberg, Münster. In weitreichenden ‚Studien zur Ikonologie der Goldbrakteaten‘ I (1972) – LXII (2003) hat Karl Hauck seine Erkenntnisse zur Beschreibung und Deutung der Bilder niedergelegt, vgl. dazu zusammenfassend: Wilhelm Heizmann, Gold, Macht, Kult: Karl Haucks Studien zur Ikonologie. Frühmittelalterliche Studien 41, 2007 (erschienen 2008), S. 11–23, Taf. I–VIII. Danmarks Runeindskrifter [DR] ved Lis Jacobsen og Erik Moltke under medvirkning af Anders Bæksted og Karl Martin Nielsen. Text (Kopenhagen 1942); Karl
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Klaus Düwel
Moltke, dessen negatives Bild der Brakteaten gerade wieder deutlich geworden war, wenn er etwa meint: „The number of such bracteates of Danish origin (…) is getting on for a hundred; but only a mere five or six of them have intelligible inscriptions. All the rest have more or less corrupt sequences, often mixed with symbols that are not runes at all.“53 Nielsen hat die Darstellung auf dem Forschungsstand des dänischen Runenwerkes unter Berücksichtigung von Krauses Runenedition (1966) in Inschriftengruppen nach dem Grad der Deutbarkeit gegliedert und wesentlich deskriptiv ausgeführt: 1. Der Runenmeister, 2. Magische Formeln, 3. Inschriften mit einzelnen deutbaren Wörtern, 4. nicht sinnergebende Inschriften, 5. Inschriften mit verschiedenen Zeichen. In einem unmittelbar folgenden sieben Punkte umfassenden kurzen „Nachtrag“ habe ich den Anschluß an die neuere Forschung besonders im Münsteraner Brakteatenteam um Karl Hauck mit philologisch-namenkundlicher (Gunter Müller) Akzentuierung herzustellen versucht. Die aus diesen Bemühungen erwachsenen Beiträge54 konnten wegen des fortgeschrittenen Alphabets nicht mehr als eigene Lemmata (‚Beizeichen‘, ‚Buchstabenmagie‘, ‚Formularfamilie‘ usw.) behandelt werden, doch gelang es, bei epigraphischen Artikeln wie bei anderen, wesentli-
53
54
Martin Nielsen, Runen und Magie. Ein forschungsgeschichtlicher Überblick. Frühmittelalterliche Studien 19, 1985, S. 75–97. Erik Moltke, Runes and their Origin. Denmark and Elsewhere (Kopenhagen 1985), S. 113. Die dänische Originalausgabe erschien 1976. Die Metallhandwerker hält Moltke für illiterat; sie kopieren und korrumpieren Inschriften und drehen einem Besteller einen Buchstabensalat als machtvolle Schutzformeln an. Solche „might quicken the imagination and powers of reconstruction of Dr Dryasdust himself – […] – that is the right word for the whole clamjamphrie of bracteate interpretations that philologists have produced from Sophus Bugge onwards“ (S. 113). Es handelt sich vor allem um Klaus Düwel, Buchstabenmagie und Alphabetzauber. Zu den Inschriften der Goldbrakteaten und ihrer Funktion als Amulette. Frühmittelalterliche Studien 22, 1988, S. 70–110; Gunter Müller, Von der Buchstabenmagie zur Namenmagie in den Brakteateninschriften. Frühmittelalterliche Studien 22, 1988, S. 111–157. Beides wieder zugänglich in: Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit (wie Anm. 17), S. 475–523 bzw. S. 317–374. Dort auch weitere Arbeiten aus dem Kreis des Brakteatenteams. Ferner Charlotte Behr, Die Beizeichen auf den völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten. Europäische Hochschulschriften. Reihe XXXVIII Archäologie 38 (Frankfurt/Main u. a. 1991); Morten Axboe, Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Herstellungsprobleme und Chronologie. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 38 (Berlin, New York 2004); Alexandra Pesch, Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Thema und Variation. Die Formularfamilien der Bilddarstellungen. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 56 (Berlin, New York 2007). In diesen Kontext gehört auch Morten Axboe, Brakteatstudier. Nordiske Fortidsminder Serie B, Bd. 25 (Kopenhagen 2007).
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che Ergebnisse mitzuteilen. Ich beschränke mich hier auf den Hinweis, daß der Beitrag ‚Buchstabenmagie und Alphabetzauber‘ (1988) mit der Kernaussage in den Artikel ‚Runeninschriften‘ integriert wurde: Sie [die Formelwörter in den Brakteateninschriften] sprechen u. a. für die Verwendung der Brakteaten als Amulette (…), ebenso wie der Versuch, die vielen semant[isch] nicht lesbaren R[uneninschriften] auf Brakteaten in struktureller Nachbarschaft zu sehen zu den Zauberworten der griech[ischen] Zauberpapyri und ihrer Verwendung auf Amuletten im Sinne einer menschlichem Verständnis verschlossenen, magisch vorgestellten zwanghaften Wirkungsmöglichkeit im Medium der ‚Sprache der Götter und Geister‘ (…) auf diese selbst, sei es um sie herbeizuzitieren oder abzuwehren (…).55
Aus dem „Nachtrag“ zum Artikel ‚Brakteaten‘ sei noch ein Punkt (7 d) für die weiteren Aufgaben der Forschung angeführt, „Beziehungen zwischen Bilddarstellungen und Inschriften herzustellen (vgl. den Versuch bei 130 [Nr. in Krause 1966] Trollhättan).“ Dies ist in folgenden Artikeln geschehen: ‚Nebenstedt‘ I („Der dargestellte Gott [Wotan/Odin] spricht und weiht unter einem seiner Namen GlīaugiR (…) die Runen, die er selbst gefunden hat und darum schriftmächtig beherrscht (…)“). ‚Seeland‘ II: „Die Aussage, ‚Hariūha (der ‚Heer-Hohe‘) heiße ich‘ ist eine erste Selbstprädikation (…) des auf dem Brakteatenbild dargestellten Gottes Odin, der eine zweite Selbstnennung mit seinem Beinamen farauisa als Apposition folgt“; ‚Sievern‘: Müller meint, daß man „r(ūnōR) wrītu auf Sievern-A als Zitat göttlichen Runenschreibens – ‘ich (der dargestellte Gott) schreibe Runen’ – interpretieren [kann]“; ‚Skodborg‘: Schon Müller hatte erkannt, daß mit der „Anrede des Gottes als allumfassenden, allmächtigen Freund […] der ‚Brakteatenhauptgott‘ gemeint ist, dessen Gestalt auch der Skodborg-Brakteat wiedergibt“. Vgl. dazu auch Beck: wenn ikonographisch „die Gestalt des [recte: auf dem] Skodborghus-Brakteaten als der Gott Odin im Kampf mit dämonischen Wesen zu verstehen ist“, dürfen in Übereinstimmung damit 55
Düwel, Runeninschriften (wie Anm. 25), S. 528 f. Vgl. ferner: Morten Axboe, Artikel „Goldbrakteaten“. In: RGA 12 (1998), S. 323–327 (u. a. zur Chronologie); Charlotte Behr, Artikel „Sinnbilder und Heilswörter“. In: RGA 28 (2005), S. 467– 473, besonders S. 468 R (Beizeichen); Alexandra Pesch, Artikel „Sakralkönigtum § 22. Brakteatenikonographie“. RGA 26 (2004), S. 294–299 (Formularfamilien). Die Diskussion von Namen im Anschluß an Müller, Von der Buchstabenmagie zur Namenmagie (wie Anm. 54), wird in den Artikeln zu den Brakteaten von Skodborg, Svarteborg, Tjurkö I aufgenommen, siehe auch Heinrich Beck, Artikel „Merseburger Zaubersprüche § 2. Bildüberlieferung“. In: RGA 19 (2001), S. 604 f. mit der Erklärung von niuwila, niujila, horaR als Namen des Balder-Fohlens in den Bilddarstellungen. Dazu weitere Aufsätze, die im Abschlussband Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit (wie Anm. 17) erschienen sind.
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Klaus Düwel
die Beinamen „als ‚All-Freund‘ und ‚All-Kämpfer‘ interpretiert werden. Die Brakteatenbotschaft gipfelt in einem vokativischen Anruf, der die bildlich fixierte Tätigkeit des Gottes rituell beschwört: Freund seiner Verehrer und Feind der drohenden Dämonen zu sein“; ‚Trollhättan‘: es wird Müller (wie Anm. 54) zitiert: „Für die Inschr[ift] auf dem T[jurkö]-Brakteaten] könnte man […] eine Bedeutung ‚ich (der dargestellte Gott) mache die Zitation‘ ansetzen.“56 Diese Artikel samt dem Beitrag über die semantisch lesbaren Inschriften der Goldbrakteaten (siehe Anm. 30) enthalten auch eine spezielle religionsgeschichtliche Perspektive im Blick auf Bild und Schrift, die weder im Brakteaten-Artikel (in Band 3) noch im „Nachtrag“ dazu als Aufgabe der Brakteatenforschung gesehen wurde. Und so bildet das RGA – wenigstens in Einzelfällen – auch eine Forschungsentwicklung ab, die über das feingliedrige Register erschließbar ist. In mancher Hinsicht hat sich der Stand der Forschung verändert, manchmal so sehr, daß von einem Paradigmenwechsel, vielleicht sogar einem wiederholten, gesprochen werden kann. Als Beispiel wähle ich das Stichwort *Runenmagie.57 Das umfangreiche Register zum RGA verweist unter ‘Runenzauber‘ auf drei andere Lemmata, nämlich ‚Magie‘, ‚Runeninschriften‘ und ‚Schadenzauber‘. In diesem zuletzt genannten liest man immerhin: In der ält[eren] Lit[eratur] wird zwar wiederholt auf die magische Intention der Runen bzw. deren zentrale Rolle für → Zauber im Allg[emeinen] verwiesen (…). Die neuere Runologie vertritt hier jedoch eine differenziertere Sicht, der zufolge magische Verwendung nicht einfach vorausgesetzt, ‚sondern […] in jedem einzelnen Fall im Blick auf deren kulturellen Kontext […] begründet werden‘ muß (…).58 56
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Klaus Düwel, Artikel „Nebenstedt § 2. Runologisches“. In: RGA 21 (2002), S. 32 R; Klaus Düwel, Artikel „Seeland § 3, Runenkundlich“. In: RGA 28 (2005) S. 33 L; Klaus Düwel, Artikel „Skodborg“. In: RGA 29 (2005), S. 21 L; Klaus Düwel, Artikel „Trollhättan“. In: RGA 31 (2006), S. 275 R. Zu Skodborg wird zitiert: Heinrich Beck, Exkurs I: Die zwei Eigennamen im Runenring von IK 161 Skodborghus-B. Frühmittelalterliche Studien 34, 2000, S. 39 f. Vgl. ferner den Beitrag von Düwel, Nowak, Die semantisch lesbaren Inschriften (wie Anm. 30). Allerdings sucht man einen solchen Artikel im RGA vergebens; auch als Lemma im Register gibt es ihn nicht. Das Stichwort ‚Magie‘ enthält zwar „§ 5. Runenzauber und Wort-M[agie]“, der sich aber in dem Satz erschöpft: „Im Germ[anischen] ist M[agie] v[or] a[llem] mit Runen-M[agie] (→ Runenzauber) verbunden“ (RGA 19, S. 148 L). Auch dieser Verweis führt ins Leere, es gibt kein solches Stichwort und bei ‚Zauber‘ werden in § 2 und 4 zwar Runen erwähnt, aber über Runenzauber selbst, d. h. Zauber mit Hilfe von Runen, erfährt man eigentlich nichts. Ingo Schneider, Artikel „Schadenzauber“. In: RGA 26 (2004), S. 565 L. Die ältere Forschung repräsentiert die ‚Altgermanische Religionsgeschichte‘ (Bd. II, 1957)
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Der hier angedeutete Wandel ist kurz zu entfalten. Im Artikel ‚Runenschrift‘ von Otto von Friesen wird man Aussagen wie, eine Inschrift sei „magischen Inhalts“ oder „zu magischem Zweck angebracht“ oder gar die Rune „R ist magisch“ (S. 13) nur sehr selten finden (zweimal übrigens mit einem Nachweis aus Arbeiten von Magnus Olsen zu Runenamuletten einschließlich Brakteaten). Im großen und ganzen geht es immer wieder um Runen(zeichen) und Runenformen, weniger um Runeninschriften und ihre Funktion.59 Mit den Arbeiten des norwegischen Runologen Magnus Olsen wird die magische Deutungsperspektive in die Runenforschung eingebracht und besonders mit seinem mehrfach gedruckten Vortrag „Über Zauberrunen“ popularisiert.60 Sie wirkt vor allem in Norwegen, aber auch in Schweden (besonders für einige ältere Inschriften) und hierzulande bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein und prägte auch noch im wesentlichen die Runenedition von Krause und Jankuhn. Zurückhaltend bis skeptisch verhielten sich die dänischen Runologen, wie Erik Moltke und Anders Bæksted, eine Haltung, die schon im dänischen Runenwerk (1942) spürbar ist, aber erst in späteren Arbeiten deutlich ausgesprochen wird.61 Wie eine Reaktion darauf
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von Jan de Vries; zitiert wird: Klaus Düwel, Runeninschriften als Quellen der germanischen Religionsgeschichte. In: Germanische Religionsgeschichte. Quellen und Quellenprobleme, hrsg. von Heinrich Beck, Detlev Ellmers, Kurt Schier. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 5 (Berlin, New York 1992), S. 342. Im Register zum RGA wird unter ‚Runenzauber‘ auf ‚Runeninschriften‘ verwiesen. Schlägt man dort nach, findet man zwar zahlreiche Hinweise auf Stichwörter, aber keine gezielten auf ‚Runenzauber‘. Unter ‚Zauber‘ jedoch wird man auf zwei Stellen (Bd. 25, S. 526 R; S. 528 R) geführt, von denen die erste im Sinne der neueren Runologie argumentiert. Und zugleich steht Vergleichbares bei ‚Runenschrift‘ (RGA 25, S. 572 R). Hier scheint der Registereintrag durch den Verweis „(→ Zauber)“ im jeweiligen Text gesichert. Daß darüber hinaus auch an anderen Stellen Einschlägiges und Wichtiges zu Runenmagie und/oder Runenzauber zu finden ist, (z. B. unter ‚Futhark‘ oder ‚Zahlsysteme § 6 Zahlenmagie und Gematrie in Runeninschriften‘), wird vom Register nicht erfaßt. Auf diesen Gegensatz macht auch P. Scardigli in seiner Rezension (wie Anm. 47) aufmerksam. Der Vortrag „Om Troldruner“ erschien zuerst in: Edda 5, 1916, S. 225–245, und Fordomtima 2, Uppsala 1917, S. 6–29. Vgl. Nielsen, Runen und Magie (wie Anm. 52); Karin Fjellhammer Seim, De vestnordiske futharkinnskriftene fra vikingtid og middelalder – form og funksjon (Diss. Trondheim 1998), besonders S. 172 ff.; Klaus Düwel, Wilhelm Heizmann, Das ältere Fuþark – Überlieferung und Wirkungsmöglichkeiten der Runenreihe. In: Das fuþark und seine einzelsprachlichen Weiterentwicklungen, hrsg. von Alfred Bammesberger, Gaby Waxenberger. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 51 (Berlin, New York 2006), besonders S. 34 ff. Anders Bæksted, Målruner og Troldruner. Runemagiske Studier. Nationalmuseets
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gab es in den 1980er und frühen 1990er Jahren mehrere Versuche, die Bestimmung von Magie in Runeninschriften und von magischen Runen(inschriften) genauer zu erfassen, sie also aus der mehr zufällig und arbiträr als magisch deklarierten Einschätzung zu erlösen und sie in kulturelle Kontexte im Blick auf ihren ‚Sitz in Leben‘ einzuordnen, theoretisch zu fundieren und damit begründet als magisch zu präsentieren.62 In den Runen-Artikeln ist früh und durchgehend diese neue Sicht beachtet worden, nach der die „R[unenschrift] – wie die meisten abendländischen Schriften – ein Kommunikationsmittel darstellt, das sowohl profanen Mitteilungen […] als auch sakralen Aussagen sowie magischen Formeln und Fügungen dienen kann (…).“63 In diesem Zusammenhang ist ein weiterer bereits angedeuteter Aspekt von Bedeutung: bei jeder Inschriftendeutung zuerst den innerschriftlichen und danach den außerschriftlichen Kontext (auch als „innere“ und „äußere Deutung“ bezeichnet) zu klären, eine Forderung, die von den einzelnen Bearbeitern der Runenartikel im RGA in unterschiedlicher Weise erfüllt worden ist, nachdem die grundsätzlichen Überlegungen dazu bereits 1992 veröffentlicht worden sind: 1. der innerschriftliche Kontext muß vollständig in eine Deutung eingehen. Es ist unzulässig, eine Runenfolge oder gar einzelne Runen herauszuheben und damit eine Inschrift erklären zu wollen. Im einzelnen sind folgende Fragen zu klären: Art und Richtung der Runen, Positionierung der Inschrift bzw. ihrer Teile, Eintrag von einer Hand oder mehreren Händen, sicherer oder ungeübter Ritzer.
62
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Skrifter. Arkæologisk-historisk række 4 (Kopenhagen 1952); Erik Moltke, Runes and their Origin (wie Anm. 53), S. 113 ff., 487 ff. Dazu die schon genannten Arbeiten von Seim, De vestnordiske futharkinnskriftene (wie Anm. 60) und Düwel, Heizmann, Das ältere Fuþark (wie Anm. 60). Siehe auch Düwel, Runenkunde (wie Anm. 4), besonders S. 208 ff. Stephen E. Flowers, Runes and Magic. Magical Formulaic Elements in the Older Runic Tradition. American University Studies, Series I: Germanic Languages and Literature 54 (New York u.a. 1986; spätere Auflagen, zuletzt 3. Auflage, sind voller Lese- und Druckfehler und ersetzen die erste Auflage nicht); Düwel, Buchstabenmagie und Alphabetzauber (wie Anm. 54); Düwel, Runeninschriften als Quellen der germanischen Religionsgeschichte (wie Anm. 58); Klaus Düwel, Runen als magische Zeichen. In: Das Buch als magisches und als Repräsentationsobjekt, hrsg. von Peter Ganz. Wolfenbüttler Mittelalter-Studien 5 (Wiesbaden 1992), S. 87–100; Klaus Düwel, Magische Runenzeichen und magische Runeninschriften. In: Runor och ABC. Elva föreläsningar från ett symposium i Stockholm våren 1995, hrsg. von Staffan Nyström. Sällskapet Runica et Medievalia. Opuscula 4 (Stockholm 1997), S. 23–42. Düwel, Runenschrift (wie Anm. 8), S. 572 R.; vgl. Düwel, Runeninschriften (wie Anm. 25), S. 526 R, 528 f.
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2. Der außerschriftliche Kontext erstreckt sich auf mehrere Merkmale: A) Die Beziehung einer Inschrift zum Inschriftenträger: Runen a) auf dem Objekt selbst oder auf einem Reparaturstück, b) auf der Schau- oder Rückseite eines Gegenstandes, auf dem Gegenstand im Herstellungsprozeß oder später eingetragen, c) vergleichbarer oder unterschiedlicher Abnutzungsgrad der Oberfläche eines Inschriftenträgers im Vergleich zur Inschriftenoberfläche, d) bei deformierten Gegenständen eine genaue Prüfung des Inschriftenduktus, um zu ermitteln, ob die Inschrift vor oder nach der Deformation des Gegenstandes angebracht wurde. B) Die Beziehung eines Inschriftenträgers zum gleichzeitigen kulturellen Milieu: a) bei losen Gegenständen: Provenienz, übliche oder besondere Verwendungsweise, Wanderwege des Gegenstandes (Import bzw. Export), Art der Niederlegung, zufällig oder absichtlich (Grabbeigabe, Versenken im Moor, Depotanlage), Art der Auffindung: in situ oder in einem gestörten Ensemble, vollständiges oder beraubtes Inventar; b) bei ortsfesten Runensteinen: ursprünglicher Standort, eventuelle Ortsveränderung, ursprüngliche Position (liegend oder stehend), Teil einer Steinsetzung oder einzeln stehender Stein, naturräumliche Gegebenheiten, Verbindung mit einem Grab (Flach- oder Hügelgrab) bzw. einem Gräberfeld, Verbindung zu besonderen Fundkategorien (Horte) in der Umgebung.64
Das heißt nun nicht, daß dieses „methodische Prinzip Kontext“ früher nicht beachtet wurde. Die im Rahmen des außerschriftlichen Kontextes zu behandelnden Fragen gehören zumeist in die Archäologie und sind insbesondere dann berücksichtigt worden, wenn Philologen und Archäologen zusammengearbeitet haben, wie Arntz und Zeiss sowie Krause mit Jankuhn, ebenso bei den meisten Runenstichwörtern im RGA. Die Runologie in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ist besonders durch eine vermehrte methodische Reflexion gekennzeichnet, die Auswirkungen auch auf die Gestaltung runologischer Artikel im RGA gehabt hat, auch wenn die Autoren dieser vorwiegend kritischen Beiträge keine Runologica für das Lexikon verfaßt haben. Es handelt sich in der Reihenfolge des Entstehens um folgende: Michael P. Barnes nahm sich auf dem 3. Internationalen Symposium über Runen und Runeninschriften Typen der Argumentation in der Runologie vor und kam zu einem harten Urteil.65 René Derolez hat sich in seiner Rezension als „Angeklagter“ geäußert und bekannt: 64
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Düwel, Runeninschriften als Quellen der germanischen Religionsgeschichte (wie Anm. 58), S. 345 f. unter Berufung auf Anders Hultgård, De äldsta runinskrifterna och Nordens förkristna religion. Nathan Söderbloms-Sällskapets Årsbok 1982, S. 57–73. In erweiterter Form findet sich dieser Merkmalkatalog bei Düwel, Heizmann, Das ältere Fuþark (wie Anm. 60), S. 15–23, besonders S. 16 f. Michael P. Barnes, On Types of Argumentation in Runic Studies. In: Proceedings
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Michael P. Barnes chastises the foibles and errors of many runologists, including the present reviewer. He finds them guilty of making ‘insubstantiated claims and assertions’, of ‘ignorance of other disciplines and lack of intellectual rigour’, of quoting conjectures as fact, and of relying on ‘unestablished or questionable principles’. Each point is supported by ample evidence and in this court the accused can do little but plead guilty, though perhaps invoking extenuating circumstances.66
Ebenfalls 1994 hielt Elmer H. Antonsen vor der Wissenschaftsgesellschaft in Trondheim einen Vortrag über die Frage, was denn Runologie für eine Art von Wissenschaft sei. Und erneut betont er sein Credo: „I consider the linguist to be the primary actor in the deciphering and interpreting of runic inscriptions.“67 Im Jahre 1996 erschien der Beitrag ‚Runologi’ von Lena Peterson, die, ich zitiere ihre Summary, unterscheidet between runic philology and runic linguistics, both of which form part of the science of language. The philologist concentrates on the facts conveyed by runic inscriptions, whereas the linguist regards such interpretations as linguistic remains and draws conclusions about the languages and language structures which they represent.68
Wiederum anläßlich eines Runensymposiums sprach Kurt Braunmüller über ‚Methodische Probleme in der Runologie‘ und rechnet mit einer häufig be-
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of the Third International Symposium on Runes and Runic Inscriptions. Grindaheim, Norway, 8–12 August 1990, hrsg. von James E. Knirk. Runrön 9 (Uppsala 1994), S. 11–29. René Derolez (Rez.), Proceedings (wie Anm. 65). Collegium Medievale 8, 1995 (Oslo 1996), S. 91. Vgl. auch Ute Schwabs Rezension (wie Anm. 42), S. 815: „Barnes unterstreicht dann in einem Schlußparagraphen [„Conclusions“ in 9 Punkten] die moralischen Prinzipien eines wahren Runologen. (Sie scheinen uns für die Mittelalterphilologie überhaupt verbindlich zu sein).“ Elmer H. Antonsen, What Kind of Science is Runology? Det Kgl. Norske Videnskabers Selskabs Forhandlinger 1995, S. 117. Man bemerke, daß Barnes, On Types (wie Anm. 65), S. 24 f., Antonsens ‚rigorous linguistic approach‘ kritisiert, wenn dieser Zugriff mit anderen verfügbaren Zeugnissen in Konflikt gerät. Lena Peterson, Runologi. Försök till ett aktuellt signalement. Saga och Sed. Kungl. Gustav Adolfs Akademiens Årsbok 1995 (Uppsala 1996), S. 53 f. Problematisch scheint mir, wenn Peterson das philologische Geschäft in der Runologie folgendermaßen charakterisiert: „The philological side of runology has often been carried to extremes, however, giving the discipline a bad name: runology is sometimes described as a ‚playground for guesswork‘, ‚the art of the possible‘ etc. and accused of lacking theory and methods.“ Daß es dergleichen gibt, soll nicht bestritten werden, aber es gilt eben auch nicht generell für runologische Philologie. Vgl. auch Lena Peterson, Tolkaren och texten, texten och tolkaren. In: Runor och ABC (wie Anm. 62), S. 141–148.
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triebenen Runologie durchaus kritisch ab. Sein Ziel ist dabei: „Neben der oben skizzierten methodologischen Statusbeschreibung und Kritik des Faches Runologie möchte ich vor allem für eine konsequente synchrone linguistische Analyse von runischen Inschriften, quasi einer [!] Saussureschen Wende plädieren.“69 Die Forderung nach einer linguistischen Analyse, und wenn möglich, auch einer synchronen, in der Inschriftendeutung ist im Grundsatz berechtigt. Die linguistische Runologie – man vergleiche etwa die Diskussionen um die Transliteration der ‚Besenrune‘ z als /z/ oder /R/ – hat wesentlich zur Erkenntnis des Urnordischen beigetragen, wie die Grammatiken von Krause und Antonsen ausweisen.70 Es ist aber auch zu fragen: Liegt die Lösung wirklich vor allem oder allein in strenger Beachtung linguistischer Prinzipien? Verbindet sich damit eine Erwartung, wie sie auch die junggrammatische Sprachwissenschaft kennzeichnet? Sicher hilft eine präzise, unmißverständliche linguistische Terminologie zur Verständigung. Notwendig ist es, die aufeinanderfolgenden Schritte einzuhalten: Transliteration, phonetische und phonemische Transkription, auf einen Sprachstatus bezogene Textherstellung, Verknüpfung mit einzelsprachlich bekannten Lexemen, gegebenenfalls etymologische Rückführung usw. bis zu einer Interpretation unter Berücksichtigung des außersprachlichen Kontextes. Jedoch muß bedacht werden, daß die älteren Runeninschriften einer archaischen oralen Kultur entstammen, deren Schreibgewohnheiten nur bruchstückhaft bekannt sind. Nur andeutungsweise werden sprachliche Wandlungsprozesse greifbar und dies über weite geographische Räume hinweg, in denen es regionale Unterschiede gegeben haben wird. Die Spärlichkeit der Überlieferung bietet oftmals nur Namen, die einer linguistischen Analyse nicht ohne weiteres zugänglich sind. Es scheint widersprüchliche Sprachformen zu geben. Grundsätzlich ist zu fragen, ob überhaupt moderne linguistische Verfahren zum Verstehen archaischer Inschriften angemessen sind. Es entsteht gelegentlich der Eindruck, daß linguistische Analysen die sprachliche Überlieferung überfordern und zu einem artistischen Spiel geraten. Zur Unwahrscheinlichkeit etwa führt die linguistische Argumentation, wenn das den ältesten Futhark-Inschriften zugrundeliegende Phonemsystem bis in die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends zurückgeführt und damit eine Entstehung der Runenschrift aus einem vorklassischen griechischen Alphabet begründet wird.71 69
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Kurt Braunmüller, Methodische Probleme in der Runologie – einige Überlegungen aus linguistischer Sicht. In: Runenschriften als Quellen (wie Anm. 44), S. 20. Wolfgang Krause, Die Sprache der urnordischen Runeninschriften. Germanische Bibliothek. Dritte Reihe (Heidelberg 1971). Elmer H. Antonsen, A Concise Grammar of the Older Runic Inscriptions. Sprachstrukturen. Reihe A.3 (Tübingen 1975). Ich zitiere hier die deutschsprachige Vorlage (von ca. 1999/2000) für die Übersetzung ins Englische durch Malcolm Read von: Klaus Düwel, Runic. In: Early Germanic Literature and Culture, hrsg. von Brian Murdoch, Malcolm Read. Camden House History of German Literature 13 (Rochester 2004), S. 136 f. Der letzte Satz
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Es ist eben nicht nur Mangel an Methode und Theorie oder linguistischer Analysefähigkeit, sondern es sind einmal die solchen Inschriften (und ihren Trägern) inhärenten Probleme auf der einen und die Dispositionen (VorEinstellungen) der Feld- oder Schreibtischrunologen auf der anderen Seite, die zusammengenommen in der Bearbeitung einer Runeninschrift den Eindruck einer Beliebigkeit, ja eines Ratens entstehen lassen können. An Beispielen im RGA-Artikel ‚Runeninschriften‘ sind solche Probleme und Dispositionen meines Wissens erstmals in einer gewissen Vollständigkeit aufgezählt worden. Zwei Beispiele: In dem 1986 erschienenen Artikel zum norwegischen Stein von ‚Eggja‘ hat Gerd Høst bereits 53 Titel einschlägiger Literatur genannt, darunter 6 Monographien, 16 Aufsätze und 16 Rezensionen.72 Neben dem uneindeutigen außerschriftlichen Kontext „1. Grab oder Kenotaph“ sind es weiter folgende Aspekte des innerschriftlichen Kontextes: 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
12.
Anordnung der Runenzeichen. Abweichende Lesungen nicht eindeutig erkennbarer Runen. Verschiedenartige Ausfüllung der Lakunen in der Runeninschr[ift]. Unterschiedliche Abtrennung von Wörtern/Einheiten in der fortlaufend geritzten Inschr[ift] (scriptio continua). Abweichende Transkription einzelner Runenfolgen. Verschiedene Bedeutungsansätze von Wörtern, bes. bei hapax legomena. Alternative Auffassung von Wörten als nomen apellativum oder nomen proprium. Alternative Interpretation einer Runenfolge als Kompositum oder Kenning. Unterschiedliche syntaktische Einschnitte. Annahme von magischen und kultisch-rituellen Handlungen aus Anlaß einer Bestattung gegen eine Grabschändung oder gegen ein Wiedergehen der Toten. Verschiedene religionsgeschichtl[ich] und religionspsychologische Ausgangspositionen.
Die verschiedenen Aspekte bewegen sich auf vier Ebenen: 1.) die epigraphischliterale, 2.) die morphologisch-kontextuelle, 3.) die lexikalisch-semant[ische] und, davon abgehoben, 4.) die intellektuell-interpretatorische Ebene, die allein in der Vor-Einstellung des jeweiligen Interpreten zu religions-, rechts- und kulturgeschichtl[ichen] denk- bzw. rekonstruierbaren Möglichkeiten zu sehen oder zu suchen ist. Für die Runeninschr[ift] von Eggja ergeben sich auf diese Weise u. a. folgende Deutungszugänge:
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bezieht sich auf: Richard Morris, Runes and Mediterranean Epigraphy. NOWELE Supplement 4 (Odense 1988). Meine Ausführungen sind auf dem 5. Internationalen Symposium über Runen und Runeninschriften im September 2005 in Lancaster kontrovers diskutiert worden. Gerd Høst, Artikel „Eggja § 2. Runologisches“. In: RGA 6 (1986), S. 460–466.
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1. Runen- oder Grabsteinweihe durch Übergießen mit Blut. 2. Begräbnis eines Häuptlings mit Blutopfer und Weihe des Bootes, auf dem dieser herbeigebracht wurde. 3. Inschr[ift] und Kenotaph sollen einen Verbrecher, der in einem Schiff im Fjord versenkt wurde, am Wiedergehen hindern. 4. Aufforderung des Runenmeisters an den Gott Odin, nach Eggja zu kommen, um den toten Krieger nach Hel zu geleiten. 5. Gedenken an einen Toten, der Seekrieger besiegt, ihr Blut vergossen und ihr Schiff versenkt hat. 6. Begräbnis in Anwesenheit der Hausgemeinschaft der Toten, die mit einem Schiff unterwegs Mastbruch erlitten hatten.73
Das zweite Beispiel findet sich in einem der letzten Bände des RGA, nämlich in Band 31 aus dem Jahre 2006, mit dem Stichwort ‚Tune‘, ebenfalls einem norwegischen Runenstein.74 Obwohl James E. Knirk diesen Beitrag so knapp wie möglich gestaltet hat, kann er doch die wesentlichen, im Artikel ‚Runeninschriften‘ herausgestellten Divergenzen deutlich machen. 1. Unterschiedliche Lesungen führen zu verschiedenen Deutungen (arjosteR bzw. asijosteR). 2. Eine Ergänzung der Inschr[ift] auf der verlorengegangenen oberen Steinpartie läßt mehrere Möglichkeiten zu. 3. Damit zusammenhängend kommt man zu verschiedenen Bedeutungsansätzen (worahto 1. Person Sing. Präteritum zu *wurkian ‘wirken, verfertigen’ bzw. ‘dichten’). 4. Unterschiedliche Deutungszugänge sind möglich, da kultische und erbrechtliche Aspekte des Totenbrauchtums auf verschiedene Weise rekonstruiert werden können.75
Und noch einmal das damit verbundene Fazit aus der systematisierenden Zusammenstellung von Interpretationsdiskrepanzen: „Die Deutungsvielfalt gerade bei umfangreicheren R[uneninschriften] beruht nicht auf Unvermögen oder Willkür, vielmehr liegt die Ursache dafür in den folgenden [hier zuvor genannten] Bereichen […]“ (wie Anm. 75). Aber auch Ein-Wort-Inschriften sind von dieser Problematik nicht ausgenommen. So ist bei harja auf dem Kamm von Vimose (Datierung in die Zeit 150–160 n. Chr. allgemein akzeptiert) „nicht mit Sicherheit auszumachen, ob diese[s] den Besitzer, den Hersteller, den Runenmeister, den Schenker oder gar den Kamm 73
74
75
Düwel, Runeninschriften (wie Anm. 25), S. 527 f. Die Einzelnachweise sind hier weggelassen. James E. Knirk, Artikel „Tune § 1 b. Runological“. In: RGA 3 (2006), S. 332–335. In der Literatur findet sich auch Düwel, Runic (wie Anm. 71), wo die im folgenden zu nennenden Punkte S. 129 aufgeführt sind. Düwel, Runeninschriften (wie Anm. 25), S. 527.
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selbst bezeichnet“.76 In Kürze hat Marie Stoklund die sprachlichen Deutungsvorschläge aufgenommen und zugleich bewertet: Obwohl eine Deutung von harja als ein Wort für ‘Kamm’ vorgebracht worden ist [Nachweis], wird harja […] gewöhnlich als Männername […] gedeutet [Nachweise]. Dagegen erscheint die Annahme […], daß damit ein Stammesangehöriger der Harii bezeichnet wird [Nachweis], eher spekulativ.77
Beispielhaft kann dieser Fall für den Befund stehen, daß bei den zahlreichen Deutungszugängen geisteswissenschaftlicher Art eine Interpretation in der Regel weder verifiziert noch falsifiziert werden kann. Zu erreichen ist bestenfalls Plausibilität,78 d. h. daß für den einen Vorschlag mehr als für den anderen spricht, der deshalb nicht ausgeschlossen werden kann; denn wie in der Textkritik gilt auch hier grundsätzlich die Möglichkeit der lectio difficilior. In diesem methodisch fundierten Sinn ist eine Reihe von Lemmata bearbeitet worden, für die z. B. ‚Gallehus‘, ‚Meldorf‘, ‚Pietroassa‘, ‚Rök‘, ‚Schretzheim‘, ‚Thorsberg‘, ‚Tryggevælde‘ namentlich genannt sein mögen. 76
77
78
Düwel, Runeninschriften (wie Anm. 25), S. 527. Beim Lemma „Kamm § 3 Runenkundliches“ (RGA 16, 2000, S. 207) hatte ich den Kamm von Vimose nur kurz erwähnt: „harja PN (Besitzer, vielleicht Runenmeister [Krause, Jankuhn Nr. 26]).“ Marie Stoklund, Artikel „Vimose § 6. Runologisch“. In: RGA 32 (2006), S. 411 L. An der angeführten Stelle bemerkt Stoklund nach dem Hinweis auf die allgemein akzeptierte Datierung: „Damit ist sie [die Inschrift harja] die älteste sichere Runeninschr[ift] aus dän[ischem] Gebiet, wenn auch ihre Provenienz unsicher ist“, d.h. also daß die Inschrift an einem anderen Ort auf den Kamm gekommen sein kann, bevor er als Kriegsbeute im Vimose niedergelegt wurde. Zu diesem Befund und seinen Konsequenzen s. Klaus Düwel, Altes und Neues zur Entstehung der Runenschrift. Die Kunde N.F. 61, 2010 (erschienen 2011). Nach gängiger Auffassung wurde die Kriegsbeute von Einheimischen angreifenden Invasoren abgenommen, deren Ausgangsregion in der Regel aber unbekannt ist. Man darf den Status der ältesten Runeninschrift in diesem Fall verallgemeinern, sie ist es überhaupt. Konkurrenten sind 1.) die über ca.100 Jahre ältere Fibel von ‚Meldorf‘, aber die trägt keine sichere Runeninschrift, und 2.) das Lanzenblatt von ‚Øvre Stabu‘, das aus einer in die frühe Stufe von C 1 b datierten Grabanlage stammt, somit noch in die 2. Hälfte des 2. Jh. n. Chr. gehört, aber sicher etwas jünger als der Vimose-Kamm sein dürfte. So findet man es auch bei ‚Runeninschriften § 1‘ angegeben, allerdings mit einer Datierung „um 200 n. Chr. oder auch später (C 1b).“ Eine Sammlung der skandinavischen Runeninschriften von der ältesten Überlieferung (einschließlich der Inschriften-Brakteaten) bis in die Wikingerzeit hinein in alphabetischer Folge nach den Fundorten, mit den Grunddaten und Zeichnungen versehen, ...bietet Lisbeth M. Imer, Runer og runeindskrifter (wie Anm. 3). Vgl. dazu auch Düwel, Heizmann, Das ältere Fuþark (wie Anm. 60), S. 32, mit der Forderung „zu Interpretationen zu gelangen, bei denen der Grad der erreichten Plausibilität wie der einer bestehen bleibenden Unsicherheit gekennzeichnet sein sollte.“
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Im Zusammenhang einer Erörterung methodischer Probleme in der Runologie ist auch daran zu erinnern, daß in der archäologischen Hermeneutik zwischen den Verfahren „Beschreiben“ und „Benennen“ unterschieden wird.79 Diese verschiedenen und in dieser Reihenfolge vorzunehmenden Arbeitsschritte gelten in ersten Linie für die Ikonographie (siehe dafür die Brakteatenartikel ‚Sievern‘, ‚Skodborg‘, ‚Trollhättan‘, ‚Tjurkö‘), kann aber auch auf die philologische Bearbeitung überhaupt bezogen werden, wenn „Beschreibung“ und „Interpretation“ z. B. auf einen sprachlichen Sachverhalt zielen, wie es im Artikel ‚Wittislingen. Fibelinschrift‘ etwa anschaulich wird. Vielfach kommen Ungereimtheiten in Beiträgen zu Runeninschriften und darüber hinaus zustande und machen den Eindruck des Ratens und einer gewissen Beliebigkeit der Deutung, weil die Arbeitsschritte „Beschreiben“ und „Benennen“ bzw. „Interpretation“ nicht klar auseinandergehalten werden, vielmehr in „Beschreibung“ häufig schon „Interpretation“ eingeht. Wenn Scardigli in seiner Rezension feststellt: „Der Schwerpunkt der Forschung hat sich […] von den Runen(zeichen) zu den Runeninschriften verlagert“80, dann gilt das einmal von dem einen großen Runenartikel von Otto von Friesen in der ersten Auflage zu vielfältiger Berücksichtigung von Runeninschriften in zahlreichen Einzel- und mehreren Sammelartikeln in der zweiten Auflage vom RGA . Zum andern markiert das auch in gewisser Weise einen Paradigmenwechsel: Statt der vorwiegenden Betrachtung von Runenformen und der Geschichte einzelner Runen verlagert sich die Behandlung auf Runeninschriften und ihre Funktion, d. h. auf ihren ‚Sitz im Leben‘, um es mit dem treffenden Ausdruck Hermann Gunkels zu sagen.81
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Carl Robert, Archäologische Hermeneutik. Anleitung zur Deutung klassischer Bildwerke (Berlin 1919). P. Scardigli in seiner Rezension (wie Anm. 47). Hermann Gunkel, Die Psalmen (Göttingen 1926). „Gunkel selbst hatte die Bez[eichnung] ‚Sitz im Leben‘ nur für mündliche G[attungen] verwendet“ (Martin Rösel, Artikel „Formen/Gattungen“. In: Religion in Geschichte und Gegenwart 3, 4. Aufl. 2000, Sp. 187). Vgl. auch (kritisch) Klaus Berger, Artikel „Form- und Gattungsgeschichte“. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hrsg. von Hubert Cancik et al. (Stuttgart u.a. 1999), Bd. II, bes. S. 435–437. Der Begriff findet sich z.B. bei Robert Nedoma, Artikel „Pietroassa“ § 2. Runologisches – d. ‚Sitz im Leben‘“. In: RGA 23 (2003), S. 157.
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 293–316 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
Skandinavisches Recht: Einführung und Überblick Dieter Strauch
A. Zugänglichkeit der Quellen Vor allem das 19. Jahrhundert hat bei der Erschließung mittelalterlicher skandinavischer Quellen Erhebliches geleistet. Diese Arbeit haben vor allem einheimische Gelehrte bis zur Gegenwart fortgesetzt. Man muss deshalb in der jeweiligen Nationalliteratur stöbern, um diese Werke zu finden. Nun ist der europäische Austausch von Forschungsergebnissen bereits im 19. Jahrhundert recht umfangreich gewesen. Deshalb sind die nationalen Quellenausgaben auch nach Deutschland gelangt.
I. Rechtsquellen Was zunächst die Rechtsquellen angeht, so sind die großen Sammlungen aus Norwegen / Island, Dänemark und Schweden in die meisten Universitätsoder die einschlägigen Seminarbibliotheken gelangt. Allerdings haben nur wenige deutsche Universitätsbibliotheken Skandinavien zu ihrem Hauptsammelgebiet gemacht: Kiel, Hamburg und Göttingen. Auch Münster, Köln, München haben gewisse Schwerpunkte gebildet, während die anderen dem Norden ferner stehen. Vor allem ist die rechtshistorische Sekundärliteratur nur vereinzelt in nennenswertem Umfang verfügbar. Das erschwert die wissenschaftliche Arbeit an der skandinavischen Rechtsgeschichte ungemein.
II. Urkunden Die Urkunden waren lange weit weniger zugänglich als die Rechtsquellen. Dieser Zustand hat sich erfreulicherweise im Zeitalter des Internet grundlegend geändert. Außer den alten Teilen des Diplomatarium Danicum (bis
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1400) sind inzwischen alle Diplomatarien digitalisiert und im Internet verfügbar: Für Norwegen haben wir das Diplomatarium Norvegicum1 und als Übersicht in Buchform die Regesta Norvegica;2 für Island das Diplomatarium Islandicum;3 für Dänemark Danmarks Riges Breve (Diplomatarium Danicum),4 das bis 1990 in Buchform, seitdem nur noch im Internet erscheint. Die schwedischen mittelalterlichen Urkunden finden sich im Diplomatarium Svecanum, das seit 1829 veröffentlicht wird und 1991 bei Band X (bis 1375) angelangt war.5 Die neue Serie Svenskt Diplomatarium umfasst bis jetzt die Jahre 1401–1420 in drei Bänden und einem Supplement.6 Das Diplomatarium Fennicum schließlich (Finlands Medeltidsurkunder)7 ist ebenfalls digitalisiert und ins Internet gestellt8 worden. III. Literarische Quellen Eine für die Rechtsgeschichte wichtige Literatur sind auch die isländischen Sagas (Íslendinga sögur), die zwischen 1200 und 1350 anonym verfasst und zunächst mündlich tradiert wurden. Nachdem die Altnordische Sagabibliothek zwischen 1892 und 1929 viele dieser Sagas wissenschaftlich ediert hatte, gibt Hið Íslenzka Fornritafélag seit 1933 die Reihe Íslenzk fornrit heraus, die noch nicht abgeschlossen ist.9 Für die Edda ist noch immer die Ausgabe von Hans Kuhn/Gustav Neckel Standard.10 Die Sagas sind mehr1
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Diplomatarium Norvegicum, Bd. I–XXII (Christiania 1847–Oslo 1991); Online: http://www.dokpro.uio.no/dipl_norv/diplom_felt.html Regesta Norvegica, Bd. I–VI (Oslo 1989–1993). Diplomatarium Islandicum online: http://www.heimildir.is/ugla.php?verk=fornbr Diplomatarium Danicum, 1. række, I–VII; 2. række, I–XII, 3. række I–IX; 4. række I (København 1938–1990); Fortsetzung jetzt im Internet: 4. række (1376–1412), Bände 8–12 (1401–1412) udg. av Aage Andersen etc.; damit ist die 4. række abgeschlossen. Online: online 1401–1412: http://dd.dsl.dk/ Diplomatarium Svecanum (Svenskt Diplomatarium), im Druck: bis 1375 und 1401– 1420 zuletzt: Teil XI. 1 (1411–1420); online: http://www.ra.sera/diplomat.html Svenskt Diplomatarium, hrsg. von Carl Silfverstolpe, Karl Henrik Karlsson, Bd. 1–3 (Stockholm 1875–1902) und Bd. 4 (Supplement) (1903). Reinhard Hausen, Finlands Medeltidsurkunder, Bd. I–VIII (Helsingfors 1910– 1935). Diplomatarium Fennicum online: http://193.184.161.234/DF/df.php [Dagegen noch nicht: Registrum ecclesiæ Aboensis eller Åbo domkyrkas svartbok, hrsg. von Reinhard Hausen, Helsingfors 1890, aber Neudruck: Helsinki 1950]. Heimskringla, ed. Bjarni Aðalbjarnarson, 3 Bde. Íslenzk Fornrit, Bde. 26–28 (Reykjavík 1941/51); im Internet findet sich der Text dieser Ausgabe unter http:// www.heimskringla.no. Gustav Neckel (Hrsg.), Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten
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fach ins Deutsche übersetzt worden, zunächst in zwei Auflagen in der Sammlung Thule.11 Eine neue Reihe „Saga. Bibliothek der altnordischen Literatur“ hat Kurt Schier12 begründet, in der er, Heinrich Beck13 und andere Autoren Übersetzungen vorgelegt haben; auch Hans-Peter Naumann14 hat eine neue Reihe von Sagaübersetzungen begonnen. Über die verschiedenen Arten der isländischen Sagas unterrichten nicht nur die neueren Literaturgeschichten,15 sondern auch der Artikel Isländersagas im neuen Hoops.16 Den nicht einfach zu ermittelnden rechtlichen Gehalt der Isländersagas hat für das Strafrecht Andreas Heusler bereits 1911 erarbeitet.17 Weitere Untersuchungen für andere Rechtsgebiete (Familien-18 und Erbrecht.19 Schuldrecht u. Gesellschaftsrecht,20 Dorfschaftsrecht21) sind auf Untersuchungen allgemeineren Zuschnitts zerstreut, während das isländische Sachenrecht zwar im Landnámabók historisch angedeutet, aber bisher nicht näher behan-
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Denkmälern. Bd 1: Text. 5., verbesserte Auflage von Hans Kuhn (Heidelberg 1983); Bd. 2, Kommentierendes Glossar (Heidelberg 1968). Die Sammlung Thule erschien in erster Auflage in 24 Bänden in Jena (1911–1930), in zweiter Auflage in Düsseldorf (1963–1967), allerdings gibt sie die Sagas häufig verkürzt wieder und ist durch Register und literarische Hilfsmittel kaum erschlossen. Saga-Bibliothek der altnordischen Literatur, 8 Bände, hrsg. von Kurt Schier (München 1996–1999). Laxdoela Saga, hrsg. und übersetzt von Heinrich Beck (München 1997) (in der Saga-Bibliothek, wie Anm. 12). Die Saga von Njal und dem Mordbrand, hrsg. und übersetzt von Hans-Peter Naumann. (Skandinavistik: Sprache ‒ Literatur – Kultur, Bd. 3.) 2. Auflage Münster 2006. Vgl. Jónas Kristjánsson, Eddas und Sagas (Hamburg 1994); Kurt Schier, Sagaliteratur. Sammlung Metzler M 78 (Stuttgart 1970); Heiko Uecker, Geschichte der altnordischen Literatur (Stuttgart 2004); Jan de Vries, Altnordische Literaturgeschichte, 3. Auflage (Berlin u.a. 1999); sowie Rudolf Simek, Hermann Pálsson, Lexikon der altnordischen Literatur, 2. Auflage (Stuttgart 2007). Stephanie Würth, Artikel „Isländersagas“. In: RGA 15 (2000), S. 511–517. Andreas Heusler, Das Strafrecht der Isländersagas (Leipzig 1911). Für das Eherecht verweise ich auf Dieter Strauch, Vertrags-, Raub- und Friedelehe. Zur Entwicklung des Eherechts im mittelalterlichen Island. In: Festschrift Andreas Wacke (München 2001), S. 451–485; Dieter Strauch, Artikel „Raub- und Entführungsehe § 5: Skandinavien“. In: RGA 24 (2003), S. 166–172. Erbrechtliche Fragen sind mitbehandelt in Dieter Strauch, Artikel „Giftorätt“. In: RGA, Bd. 12 (1998), S. 96–101. Vgl. Karl von Amira, Nordgermanisches Obligationenrecht, Bd. II, Westnordisches Obligationenrecht (Leipzig 1895, Neudruck Berlin 1973). Diese Frage spricht Wolfgang Gerhold, Armut und Armenfürsorge im mittelalterlichen Island (2002) in Kapitel 5.2 an; vgl. online: Per Joergen Olafsen’s Nordic Local Government Page, Nordisk lokalstyre, Island: http://home.sol.no/~perj/ komdiv.html; ferner: „Iceland, Administration and social conditions“:http://www. britannica.com/bcom/eb/article/6/0,5716,109066+1+.
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delt wurde. Diese Rechtsgebiete sind auch im neuen Hoops nur teilweise aufgearbeitet.
B. Zur Gestalt nordischer Stichworte im Hoops I. Anforderungen skandinavischer Rechtsgeschichte Die skandinavische Rechtsgeschichte umfasst in geographischer Hinsicht nicht nur die eigentlichen skandinavischen Länder Dänemark, Norwegen und Schweden, sondern daneben auch Finnland und – von Norwegen aus besiedelt – Island, Grönland, die Färöer, Orkneys, Shetlands, Hebriden (Suðreyar), Man sowie Irland und – am Rande – auch das Danelag in England und die Normandie. In sachlicher Hinsicht gehört dazu nicht nur die allgemeine Verfassungsgeschichte dieser Länder (einschließlich ihrer Kirchenverfassung), sondern auch das Dorfschaftsrecht, das Stadtrecht, das Privatrecht und das Strafrecht, wobei diese letzten beiden nicht immer deutlich geschieden sind. Da die Rechtsgeschichte nur ein Sonderzweig der allgemeinen Geschichte ist, zieht sie bei der Bearbeitung ihrer Aufgaben auch die der Geschichtswissenschaft dienenden Hilfswissenschaften heran. Ich nenne z. B. die Paläographie, die Namenkunde, die Familienforschung, die historische Theologie, die Geistesgeschichte, aber auch die Archäologie. Sie darf sich – wenn sie die geschichtliche Wirklichkeit erfassen will, nicht auf die Rechtsfragen beschränken, denn diese stehen nicht allein, sondern sind eingebunden in die sozialen, geistigen und politischen Zusammenhänge ihrer Zeit. II. Inhaltliche Anforderungen Nicht immer konnten im Hoops alle Aspekte eines Stichwortes erfasst werden: So hat den Artikel Grágás ein Philologe22 allein bearbeitet, der die philologischen Aspekte hervorragend darstellt, aber in § 423 fast nur die Herkunft des Rechtsstoffes erörtert, ohne zum rechtlichen Inhalt des Rechtsbuches Stellung zu nehmen. Hier wäre eine Teilung der Aufgabe mit einem Rechtshistoriker sinnvoll und fruchtbar gewesen, wie sich bei den Stichworten Gutalag und Gutasaga zeigt,24 wo dies geschehen ist. Die Dar22 23 24
Hans-Peter Naumann, Artikel „Grágás“. In: RGA 12 (1998), S. 569–573. Naumann, Grágás (wie Anm. 22), S. 570f. Dieter Strauch, Artikel „Gutalag“. In: RGA 13 (1999), S. 222–226; Hans-Peter Naumann, Artikel „Gutasaga“. In: RGA 13 (1999), S. 226–228.
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stellung des Artikels Thingvellir25 hat nur zwei Paragraphen: GeographischTopographisch und Historisch. Der erste beschreibt zwar Lage und Topographie vor Ort, doch kann sich der Ortsfremde letztlich nicht vorstellen, wie die einzelnen Teile zueinander stehen, denn eine verdeutlichende Karte fehlt, obwohl sie bereits zur Verfügung stand.26 Die Darstellung der rechtshistorischen Bedeutung dieser Thingstätte kommt völlig zu kurz: Sie verweist lediglich auf die Stichworte ‚Ding‘ und ‚Island‘. Die Stellen der Grágás, die sich auf Thingvellir beziehen, sind nicht namhaft gemacht, so dass nur eine unverbindliche Plauderei vorliegt, die eine Nachprüfung schwierig macht und das Thema nicht erschöpft.27 Ähnliches gilt auch für das Stichwort Ding: Man hätte sich als Benutzer gewünscht, dass die mitgeteilten Besonderheiten durch Quellen- und/oder Literaturhinweise namhaft gemacht worden wären. Dies geschieht aber nur selten, so dass der Leser die Belege selbst erarbeiten muss. Dass dieser (und andere) Artikel so unbefriedigend ausgefallen sind, ist weder die Schuld der Herausgeber noch der Redaktorin, die sich bei der Bewältigung der großen Aufgabe hervorragend bewährt hat: Im Laufe der Bearbeitung ist deutlich geworden, dass auch Forscher mitgearbeitet haben, denen die Darstellung eines Stichwortes keine Herzensangelegenheit, sondern eher eine quantité negligeable war. Wenn dann Artikel bei der Redaktion auch noch sehr spät einliefen, war eine Besserung kaum noch möglich. Auch erwiesen sich einige Autoren – trotz erheblicher Bemühungen der Redaktion und der Herausgeber – als beratungsresistent. III. Komplexität der Stichworte Die allseitige Bearbeitung eines Stichwortes bedeutet, dass der Bearbeiter eines rechtlichen Stichwortes sich nicht auf die Darstellung der Rechtsverhältnisse beschränken darf, sondern die Ergebnisse der genannten Nachbarwissenschaften bei seiner Darstellung berücksichtigen muss. Besser noch sollte ein solcher Artikel auf mehrere Verfasser aufgeteilt werden, um alle Seiten eines Problems sichtbar und fassbar zu machen. In großartiger Weise ist dies bei dem Artikel „Germanen“28 geschehen, der nicht nur viele Bearbeiter ver25 26
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Gunnar Karlsson, Artikel „Þingvellir“. In: RGA 35 (2007), S. 117–122. Gedruckt in: Ólafur Lárusson, Lov og Ting. Islands forfatning og lover i fristatstiden (Bergen, Oslo 1960), S. 23. Dass Gunnar Karlssons Artikel „Þingvellir“ statt in RGA 30 (2005) erst in RGA, Bd. 35 (2007) erschien, deutet darauf, dass er zudem nicht rechtzeitig fertig geworden ist. Vgl. den Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“. In: RGA 11 (1998), §§ 47–51, S. 181–438.
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eint, sondern in 58 Paragraphen unterteilt ist und insgesamt 258 Seiten umfasst, also ein Buch im Buche darstellt, wobei das Recht die §§ 47–51 umfasst.29 Doch war dies nur bei diesem Zentralartikel möglich, weil sonst der Umfang des Lexikons gesprengt worden wäre. Hinsichtlich der skandinavischen Rechte sagt dieser Artikel zu Recht, dass sie nicht als ursprünglich germanisch in Anspruch genommen werden können. Die dort genannten Autoren Åqvist, Sjöholm und v. See30 haben zwar mit vielen falschen Ansichten aufgeräumt, sind aber mit ihren Ansichten zum Teil selbst in die Diskussion geraten und geben so willkommenen Anlass zur Weiterarbeit. Ein Beispiel dafür, dass ein Artikel über seine ursprüngliche Planung hinauswuchs und in weitere Zusammenhänge vorstieß, ist das Stichwort „Zaun“: Zuerst nur für die frühmittelalterlichen Leges geplant, wurde später der skandinavische Bereich ergänzt, und die Archäologen haben schließlich viele Beispiele ihrer Ausgrabungen hinzugefügt, sie mit instruktiven Zeichnungen illustriert und so den Artikel abgerundet.
IV. Die Stellung der skandinavischen Rechte in der europäischen Rechtsgeschichte 1. Allgemeiner Einfluss des Christentums auf Skandinavien Über die Christianisierung Skandinaviens brauche ich hier nichts auszuführen; sie ist bereits häufig dargestellt worden.31 Das Upplandslag bietet ein 29 30
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Kroeschell, Germanen (wie Anm. 28), S. 395–415. Kroeschell, Germanen (wie Anm. 28), S. 402 f.; Gösta Åqvist, Frieden und Eidschwur (Stockholm 1968); Elsa Sjöholm, Gesetze als Quellen mittelalterlicher Geschichte des Nordens (Stockholm 1976); Klaus von See, Altnordische Rechtswörter (Tübingen 1964). So schon für Norwegen: Fridtjov Birkeli, Hva vet vi om kristningen av Norge? Utforskningen av Norsk kristendoms- og kirkehistorie fra 900 – til 1200-tallet (Oslo 1982); Jan-Arvid Hellström, Vägar till Sveriges kristnande (Stockholm 1996), S. 164 ff.; vgl. im übrigen die neuesten Forschungen über die Christianisierung Schwedens in dem seit 1989/90 betriebenen ‚Projektet Sveriges kristnande‘. Publikationer 1: Kontinuitet i kult och tro från vikingatid till medeltid, red. Bertil Nilsson (Stockholm 1992); Publikationer 2: Möres kristnande, red. Henrik Williams (Stockholm 1993); vgl. ferner: Karl Schildener, Guta-Lagh, Gutasaga III: 8, 9, S. 111, Carl Johan Schlyter, Gutalag, cap. 5, S. 100; Hellström, Vägar (vgl. diese Anm. oben), S. 172 f., 182 ff. Der Vorgang der Annahme des Christentums durch Beschluss ist zuvörderst aus Island bekannt, wo das Allthing des Jahres 1000 beschloss, das Christentum anzunehmen, um Blutvergießen zu vermeiden. An diesen Beschluss erinnert die Graugans I: 7 mit ihrem Verbot heidnischer Opfer, für Norwegen, vgl. Gulathingslov I: 29. Wohl infolge der frühen Christianisierung Västergötlands hat Äldre Västgötalagh (von ca. 1220) bereits einen Kirchenabschnitt,
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Beispiel dafür, dass der Christianisierungsbeschluss eines Landsthings aus drei Teilen besteht:32 a) dem Verbot des alten Glaubens, b) dem Gebot, dem christlichen Glauben, seinem Kult und dem christlichen Recht zu folgen und c) dem Beschluss, eine Kirche zu bauen. Das Ergebnis ist bekannt: Nicht nur Sitte und Brauchtum, Feiertage und das tägliche Leben sind christianisiert, sondern auch die rechtlichen Verhältnisse: Ehe und Erbrecht, vor allem auch das Strafrecht. Nun behauptet zwar Elsa Sjöholm, es sei ein Irrtum, dass die mittelalterlichen Menschen in zwei Rechtssystemen – dem weltlichen und dem kirchlichen – lebten,33 doch steht dem etwa entgegen, dass zum Beispiel nach Västgötalagen über Inzest und Mord in der Familie weder das Thing noch der Bischof, sondern nur der Papst richten durfte.34 Der Täter musste nach Rom reisen, um Sündennachlass zu erwirken.35 Auch ergänzt die kirchliche Sendgerichtsbarkeit die weltliche Strafgerichtsbarkeit oder tritt an deren Stelle.36
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doch fehlt hier der Thingbeschluss zur Annahme des Christentums wie im Uplandslagh, Kyrkobalkær 1. An Christus sollen alle Christen glauben, dass er Gott ist und dass es keine anderen Götter gibt als ihn allein. Keiner soll Abgöttern opfern und keiner an Haine und Steine glauben. Alle sollen die Kirche verehren. Dorthin sollen alle geführt werden, Lebende und Tote, die in die Welt kommen und die aus ihr fahren. Christus gebot, eine Kirche zu bauen und Zehnt zu zahlen … . Vgl. Claudius von Schwerin, Schwedische Rechte. Älteres Westgötalag, Uplandslag, Weimar 1935, S. 68 f.; Gutalagen cap. 4, mit dem Verbot, Abgöttern zu opfern. Die Gutasaga cap. 4 berichtet über den Thingbeschluss, das Christentum anzunehmen (Schlyter (wie Anm. 31), S. 99 f.; Schildener (wie Anm. 31), cap. III: 9). Vgl. Sjöholm, Gesetze (wie Anm. 30), S. 53 ff. (85). Vgl. Äldre Västgötalagh, Giptar balkær 8: 1 (vgl. Yngre Västgötalagh, Kyrkobalkær 52) (beruht auf dem Brief König Erik Erikssons von 1228/29 oder 1234/38 in: Diplomatarium Svecanum (Svenskt Diplomatarium) Bd. I–X. 3 (Stockholm 1829– 2002), ed. Joh. Gust. Liljegren, et alii, Vol. I (817–1285) (Holmiæ 1829), Nr. 215, S. 226 f.); Äldre Västgötalagh, Giptar balkær 15; Västgötalagh, Statuta generalia: 17 (Mord in der Familie geht nach Rom); vgl. Diplomatarium Svecanum I Nr. 56 (1165–1181, Alexander III.) und Diplomatarium Svecanum I Nr. 196 (Honorius III., 1220), vgl. X. 5. 38. 7 (Clemens III., 1188–1191); in Östgötalagh, Kristnu balkær 15: principium, werden nur an den Bischof drei Mark gebüßt. Anders in Uplandslagh, Drapabalkær 13: pr: Tötete ein Mann seine Frau, so bedrohte Uplandslagh den Mord mit Rädern, tötete die Frau ihren Mann, so erwartete sie die Steinigung (Uplandslagh, Drapabalkær 13: 1); wollten die Verwandten dem Täter allerdings das Leben schenken, so konnte er außer Landes [in Rom?] Kirchenbuße tun, musste aber im Inland 140 Mark büßen. Das privilegium canonis des kanonischen Rechts schützte die Priester persönlich gegen Tätlichkeiten: jede Gewalttat gegen Geistliche wurde mit der Exkommunikation bestraft, die nur der Papst lösen konnte Vgl. Gratian, Causa 17, q. 4. 29 = c. 15 Concilium Lateranense II (1139, Conciliorum Oecumenicorum Decreta, hrsg. von
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2. Die Veränderbarkeit des Rechts Im Mittelalter beruhte – wie vor allem Fritz Kern behauptet hat37 – das Recht auf alter und guter Gewohnheit (antiqua et bona consuetudo oder consuetudo ab antiquo servata),38 es war ungeschrieben und wurde nur anerkannt, wenn es alt war und gut. Zu fragen ist aber, wie man dann neues Recht setzen konnte. Nach dieser Auffassung war Gesetzgebung entweder nur die Aufzeichnung bereits bestehenden Rechts, oder das Gesetz ergänzte das alte Recht unter der Vorgabe, altes, bereits vergessenes Recht wieder hervorzuholen, es gleichsam wiederzuentdecken.39 Der Lehre vom guten
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Giuseppe Alberigo etc. /Dekrete der ökumenischen Konzilien, hrsg. von Josef Wohlmuth, Bd. 2: Konzilien des Mittelalters (vom 1. Lateran-Konzil (1123) bis zum 5. Lateran-Konzil (1512–1517) (Paderborn 2000) [Conciliorum Oecumenorum Decreta II], S. 200) und X. 5. 39. 5; vgl. Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 5. Auflage (Köln, Wien 1972), S. 394. Vgl. Lotte Kéry, Gottesfurcht und irdische Strafe. Der Beitrag des mittelalterlichen Kirchenrechts zur Entstehung des öffentlichen Strafrechts (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas, Symposien und Synthesen 10), Köln etc. 2006, S. 115 ff. Fritz Kern, Recht und Verfassung im Mittelalter. In: Historische Zeitschrift 120 (1919), S. 1–79; selbständiger Nachdruck, Darmstadt 1958, S. 23 ff. Isidor von Sevilla (570–636). In: Patrologia, Series Latina, Bd. 82, Etymologiae II, 10 (Sp. 130 f.) = V 3, 2 (Sp. 199), zitiert bei Gratian, Distinctio 1. 5 und dem Dictum Gratiani dort (Emil Friedberg, corpus iuris canonici, Bände I, II, Leipzig 1879, Neudruck Graz 1995 [Corpus iuris canonici], Bd. I, Sp. 2) sagt: § 2: Consuetudo autem est ius quoddam moribus institutum, quod pro lege suscipitur, cum deficit lex; § 3 a. E.: Vocatur enim consuetudo, quia in communi est usu. Eine constitutio Kaiser Konstantins von 319 (Cod. 8. 52 (53), 2) verneinte die derogatorische Kraft der Gewohnheit. Als Gesetz anerkannt wurde nur eine gute Gewohnheit. Im römischen Recht stehen die Hauptfundstellen in Digesta Justiniani 1. 3. 32. 1 (Julian); bei Gaius, Institutiones Justiniani 3. 82; Institutiones Justiniani 1. 2. 9; Cod. 8. 52 (53).2; vgl. Max Kaser, Rolf Knütel, Römisches Privatrecht, 19. Auflage (München 2008), § 3. 2, S. 28 f. Gratian hat für das Kirchenrecht Anleihen bei Isidor und im römischen Recht genommen (Gratian, Distinctio 1. 1–5 [Friedberg, Corpus iuris canonici I, Sp. 1 f.]). Tertullian, Cyprian und Augustinus haben an die Gewohnheit den Maßstab der veritas und der ratio gelegt, vgl. Gratian, Distinctio 8. 4–9; 11; 12 (Friedberg, Corpus iuris canonici I, Sp. 14 ff.; 22 ff.). Die Voraussetzungen sind erheblich verschärft bei Gregor IX. in: X. 1. 4. 11 (Friedberg, Corpus iuris canonici II, Sp. 41); vgl. Hermann Krause, Gerhard Köbler, Artikel „Gewohnheitsrecht“ in Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, 2. Auflage, hrsg. von Albrecht Cordes, Heiner Lück, Dieter Werkmüller, Christa Bertelsmeier-Kierst, Bd. II, 10. Lieferung (Berlin 2009), Sp. 364–375, hier 367 f. Im Mittelalter hieß der Vorgang legem emendare, das Recht von seinen Verunstaltungen befreien, vgl. Kern, Recht (wie Anm. 37), S. 40; Armin Wolf, Gesetzgebung in Europa 1100–1500. Zur Entstehung der Territorialstaaten, 2. Auflage (München
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alten Recht stand aber seit dem 11. Jahrhundert eine neuere gegenüber, begründet von Ivo von Chartres40 und Thomas von Aquino, welche die Möglichkeit einräumte, Gesetze zu verändern, also neues Recht zu schaffen, wenn dies notwendig sei.41 Da die für Skandinavien überlieferten Rechtstexte erst aus dem 12. bis 14. Jahrhundert stammen, hatte sich dort die neue Lehre bereits durchgesetzt. Dies folgt schon aus der Vorrede von Jyske Lov (1241),42 findet sich aber ebenso in der confirmatio von Upplandslagen (1296).43
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1996), S. 41 ff. Sowohl Gerhard Köbler, Das Recht im frühen Mittelalter. Untersuchungen zu Herkunft und Inhalt frühmittelalterlicher Rechtsbegriffe im deutschen Sprachgebiet. Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 7. (Köln u.a. 1971), S. 223 ff.; Gerhard Köbler, Recht, Gesetz und Ordnung im Mittelalter. In: Karl Kroeschell, Albrecht Cordes (Hrsg.), Funktion und Form. Quellen und Methodenproblem der mittelalterlichen Rechtsgeschichte (Berlin 1996), S. 93–116 als auch Karl Kroeschell, Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert. In: Probleme des 12. Jahrhunderts. Vorträge und Forschungen 12 (Sigmaringen 1968), S. 309–335 (hier S. 317) meinen, „gutes altes Recht“ habe es im frühen Mittelalter nicht gegeben; auch Winfried Trusen, Gutes altes Recht und consuetudo. Aus den Anfängen der Rechtsquellenlehre im Mittelalter. In: Festschrift für Günther Küchenhoff zum 65. Geburtstag am 21. 8. 1972, Bd. I (Berlin 1972), S. 189–204, hier S. 191, meint, unveränderliches „gutes altes Recht“ gebe es nicht. Vgl. auch Johannes Liebrecht, Das gute alte Recht in der rechtshistorischen Diskussion. In: Kroeschell, Cordes (wie Anm. 39 Anfang), S. 185–204. Vgl. zu Ivo von Chartres: Lotte Kéry, Canonical Collections of the Early Middle Ages (Washington D. C. 1999), S. 250 ff.; Peter Landau, The importance of Classical Canon Law in Scandinavia in the 12th and 13th Centuries. In: Ditlev Tamm, Helle Vogt (Ed.), How Nordic are the Nordic Medieval Laws? (København 2005), S. 24–39, hier S. 25 ff. Bereits Ivo von Chartres (im ‚Prologus in decretum‘ [Patrologia, Series Latina 161, Sp. 57 A] sagte 1090: Ex necessitate fit mutatio legis. Ihm folgte Thomas von Aquino (Summa theologiae Ia, IIae 97, 1 resp. ad 2): …lex recte mutari potest propter mutationem conditionum hominum, der zugleich das Gesetz definiert (ebda Ia, IIae, 90, 4; vgl. 97): potest colligi definitio legis, quae nihil est aliud quam quaedam rationis ordinatio ad bonum commune, ab eo qui curam communitatis habet; vgl. Sten Gagnèr, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (Stockholm u.a. 1960), S. 270 ff., 317 ff.; Hermann Krause, Dauer und Vergänglichkeit im mittelalterlichen Recht. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 75 (1958), S. 206–251, hier S. 231 ff., 238; Armin Wolf, Gesetzgebung (wie Anm. 39), S. 43. Och wæræ ey gørth. æth schreuæn for annæn mans særligh wyld. num æfftær allæ mæns tharff thær i land bo. Vgl. die Übersetzung Klaus von Sees, Rechtswörter (wie Anm. 30), S. 24: „Das Gesetz soll nicht gemacht werden nach dem sonderlichen Wunsch irgendeines Menschen, sondern für den Nutzen aller Menschen, die im Lande wohnen“.
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Hierher gehört die These Elsa Sjöholms, die vorliegenden mittelalterlichen skandinavischen Rechtsquellen enthielten nur Recht der Entstehungszeit (12.–14. Jahrhundert), aber kein früheres. Im Zusammenhang damit behauptet sie, niemand habe bisher nachweisen können, wie das skandinavische Recht vor der Niederschrift ausgesehen habe. Diese These hat einiges für sich, obwohl es einige Stellen in den Quellen gibt, die ein älteres Gepräge zeigen als die umliegenden Vorschriften. Ich denke vor allem an ÖGL Byggningabalken 28: 2, wo die Abgrenzung eines Hügeldorfs aus der Heidenzeit zur Allmende beschrieben ist:44 Die Allmendegrenze wird bestimmt durch einen Ruf zwischen Botulfsmesse (17. Juni) und Johanni (24. Juni) zur Zeit, wo der Tag am taubsten ist (ok öpa þa daghrin ær döuaster); und der Bootshakenschaft wird geworfen, um die Wassergrenze festzulegen. Hier verbindet sich die christliche Sommerzeit mit einer Abgrenzungsmethode, die so urtümlich wirkt, dass sie weder zur Sonnenteilung (solskifte) passt noch aus der Zeit der Niederschrift stammen kann, wo man bereits auf den Höhen der Kanonistik wandelte.
3. Organe der Gesetzgebung Damit erhebt sich die Frage, wer berechtigt war, neue Gesetze zu geben. Hier herrschten unterschiedliche Ansichten bei Kaiser und Papst. Nach den Digesten hat das römische Volk mit der lex regia das Gesetzgebungsrecht dem Kaiser übertragen,45 er allein sollte Recht setzen.46 Auch die deutschen 43
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In der confirmatio von Uplandslagen heißt es (Sveriges Gamla Lagar, Bd. III, S. 3): þo at forni laghæ rættir sein wirþningæ wærþir. þa kombær stundum swa til. at vm skiptis þæn laghæ staþgi sum skipaþær ær „Obgleich altes Recht würdig ist, verehrt zu werden, kommt es doch zuweilen so, daß die Rechtsatzung geändert wird…“ (Claudius v. Schwerin, Schwedische Rechte (wie Anm. 32), S. 65). Auf dem Kontinent sprechen die Herrscher offen aus, dass sie neue Gesetze geben, so ist in der Regalienfunktion der Roncalischen Gesetze die Rede von novis constitutionibus (Monumenta Germaniae historica, Constitutiones I. S. 245, Zeile 2); das Krönungsgesetz Kaiser Friedrichs II. von 1220 (Druck: Jean Louis Alphonse Huillard-Bréholles, Historia diplomatica Friderici Secundi, Bd. I (Parisiis 1861), S. 880 f.; Bd. II (Parisiis 1860), S. 2–6, Neudruck Torino 1963) heißt nova sanctio und in den Constitutiones Regni Siciliae, ‚Liber Augustalis‘, Ausgabe Neapel 1475, mit einer Einleitung hrsg. von Hermann Dilcher (Glashütten/Taunus 1973), I. 38 sagt dieser: de nostro gremio nova iura producimus. Abgrenzung der Dorfmark gegen die Allmende in Östgötalagh, Bb 28: 2, 3 (Sveriges Gamla Lagar II, S. 216) = Dieter Strauch, Das Ostgötenrecht (Östgötalagen), aus dem Altschwedischen übersetzt und erläutert (Weimar 1971), S. 211. In Distinctio 1. 4. 1 principium heißt es: quod principi placuit, legis habet vigorem utpote cum lege regia, quae de imperio eius lata est, populus ei et in eum omne
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Kaiser beriefen sich auf Justinian.47 Im Investiturstreit hat Papst Gregor VII. im Dictatus papae 1075 das Gesetzgebungsrecht allein für sich beansprucht.48 Gratian (um 1140) allerdings billigte es sowohl dem Papst als auch den Kaisern und Königen zu.49 Das Gesetzgebungsrecht der römischen Kaiser übertrug Johannes von Salesbury seit 1168 mit seiner Lehre vom rex imperator in terra sua (oder: in regno suo)50 auch auf die Könige. Zur Begründung ihrer Ansicht beriefen sich die Päpste auf Römer 13, 4,51 woraus folgt, dass die Könige gottgewollte Macht haben. Die Päpste Gelasius I. (492–495) und Gregor der Große (560–604) hatten daraus die Zweischwerterlehre entwickelt: Gott habe das geistliche Schwert dem Papst, das weltliche dem Kaiser verliehen. Gregor VII. (1073–85) gab der Zweischwerterlehre eine neue Deutung: Beide Schwerter habe Gott dem Papst verliehen, der das eine dem weltlichen Herrscher weiterreiche, was zugleich hieß, dass dieser es nicht aus eigenem Recht führte, sondern lediglich als
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suum imperium et potestatem conferat; ähnlich in Institutiones Justiniani 1. 2. 6: Quodcumque igitur imperator per epistulam et subscriptionem statuit vel cognoscens decrevit vel de plano interlocutus est vel edicto praecepit, legem esse constat. Haec sunt quas vulgo constitutiones appellamus. In Cod. 1. 14. 12. 3 heißt es: Si enim in praesenti leges condere soli imperatori concessum est, et leges interpretari solum dignum imperio esse oportet, ähnlich in Cod. 1. 14. 12. 5: tam conditor quam interpres legum solus imperator iuste existimabatur. Vgl. das gefälschte Privileg für Otto I. in Monumenta Germaniae historica, Constitutiones I, Nr. 449, S. 667; vgl. Walter Ullmann, The growth of the papal government in the middle ages. A study in the ideological relation of clerical to lay power, 3rd edition (London 1970, Neudruck London 2010), S. 356; Armin Wolf, Gesetzgebung (wie Anm. 39), S. 18 f. Dort heißt es im Dictatus papae Nr. 7 (Monumenta Germaniae historica Epistolae Selectae II, 1, S. 203 [auch bei Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. I: Bis 1250, 12. Auflage (Köln u.a. 2005), S. 176]): Quod illi (sc. papae) soli licet pro temporis necessitate novas leges condere … Gratian Causa XXV, qu. 1. 6 (einem Papst Urban II. zugeschrieben, vgl. Friedberg, Corpus iuris canonici, I, Sp. 1008). Unter Berufung auf Isidor, Etymologiae lib V, c. 10 und lib. II, c. 10 definiert Gratian in Distinctio II, 1 das Gesetz: Lex est constitutio populi, qua maiores natu simul cum plebibus sanxerunt und in Distinctio 2. 4 (Friedberg, Corpus iuris canonici, I, Sp. 3) die constitutio: Constitutio vel edictum est, quod rex vel imperator constituit vel edidit; vgl. Armin Wolf, Gesetzgebung (wie Anm. 39), S. 19. Vgl. Walther Holtzmann, Das mittelalterliche Imperium und die werdenden Nationen (Köln 1953), S. 19, Anm. 20; vgl. Armin Wolf, Gesetzgebung (wie Anm. 39), S. 20. In Römer 13. 4 heißt es: Dei enim minister est tibi in bonum si autem male feceris time non enim sine causa gladium portat; Dei enim minister est vindex in iram ei que malum agit ideo necessitate subditi estote non solum propter iram sed propter conscientiam …
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Bevollmächtigter der Kirche.52 Seine Handlungen zur Friedens- und Rechtswahrung (auch die Gesetzgebung) waren deshalb nur so lange gerechtfertigt, als sie sich an den Auftrag Gottes bzw. der Kirche hielten. a) Norwegen Die norwegische Konungs Skuggsjá (vor 1260) sagt, der König solle „der heiligen Gesetze Regel hüten“, sie legt ihm damit die Sorge für die lannznauðsyniar auf: Er solle Sorge tragen für das Wohl des Volkes und die Notwendigkeiten des Reiches.53 Darin kommt zwar die Regel vom guten alten Recht zum Ausdruck, doch ist Gesetzgebung nicht verboten. Als sich Magnus Hakonarsson (1263–80) mit seinem Ratgeberkreis, den gode menn, daran machte, das überkommene landschaftliche Recht in Norwegen umzugestalten, stieß er auf den Widerstand des gregorianisch gesinnten Erzbischofs Jón Raude. Auf dessen Rat genehmigte ihm das Frostathing 1269 nur die Reform des weltlichen und das Königtum betreffende Rechts.54 So konnte er weder das Christenrecht des Frostathings noch anderer Landschaften bearbeiten. 52
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Magnus Lagabøters landslov II, 2 betrachtet den König und den Bischof als Gottes Bevollmächtigte: (guð hefir skipat) sinum tueim þionum at vera augsyniliga hans vmboðs menn vm þessa hælga tru oc hans heilagt logmal … („(Gott hat) seine beiden Diener zu seinen augenscheinlichen Bevollmächtigten für diesen heiligen Glauben und sein heiliges Gesetz bestellt“) und weiter: Oc firir þui, at þeir eru guðs vmbods menn … („Weil sie aber Gottes Bevollmächtigte sind“) Druck in Norges Gamle Love II, S. 23; Rudolf Meißner, Landrecht des Königs Magnus Hakonarsson. Germanenrechte Neue Folge, Nordgermanisches Recht II (Weimar 1941), S. 34 f. Vgl. Konungs Skuggsjá, ed. Ludvig Holm-Olsen. Gammelnorske texter utgitt av Norsk Historisk Kjeldeskrift-Institutt i samarbeid med gammelnorsk ordboksverk, 1 (Oslo 1945, 2. reviderte opplag Oslo 1983), S. 74 f., Z. 41 f.; S. 75, Z. 11; Wilhelm Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters. Schriften des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde. Monumenta Germaniae historica 2 (Leipzig 1938, Neudruck Stuttgart 1952), S. 182 f., der die Ausgabe Finnur Jónssons, Konungs Skuggsjá, Speculum Regale utgiven af det kongelige Nordiske Oldskriftselskab (Kjøbenhavn 1920/21), S. 188, Z. 15 ff. und Z. 28, sowie S. 229, Z. 30 zitiert; vgl. Rudolf Meißner, Der Königsspiegel Konungsskuggsjá (Halle/ Saale 1944), cap. XLIV, S. 166 f. Die Islandske Annaler indtil 1578, utg. av Gustav Storm (Christiania 1888, Neudruck Oslo 1977), S. 138 sagen: þá fekk Magnus konungr samþyct allra frostru þingsmanna at skipa Frostu þings bók um alle luti þa sem til veralldar héyra ok konungdómsins sem honom sýnndiz bezt bera („da erhielt König Magnus die Zustimmung aller Thingmänner aus Frosta, das Frostuthingsbuch in allen Teilen zu bearbeiten, die zum Weltlichen gehören und zum Urteil des Königs, wie es ihm am besten dünkt“).
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Das Konkordat von Tønsberg vom 9. August 127755 brachte der Kirche zwar neue Privilegien und erkannte ihr die Gerichtsbarkeit in causis mere ecclesiasticis und in causis ecclesiasticis adnexis zu,56 sagte jedoch über das Gesetzgebungsrecht der Kirche nichts. Zu Recht hat Grethe Authén Blom57 daraus geschlossen, dass der König der Kirche kein eigenes Gesetzgebungsrecht in seinem Lande zugestand, denn die von der Kirche bereits verfassten zwei Kirchenrechte (der Bischöfe Jón58 und Arne59) erkannte der König nicht an.60 Er hat lediglich den Erzbischof bei der Ausarbeitung des Christenrechtes beteiligt, wie auch die Überschrift von Jóns Christenrecht zeigt.61 Im übrigen war er der Auffassung, dass weltliches und geistliches Schwert gleichberechtigt nebeneinander ständen.62 Bei der Gesetzgebung hielt er der Form nach am guten alten Recht und der Beteiligung des Volkes durch die Thinge fest. In Wirklichkeit formulierten gelehrte Männer, die römisch-rechtlich und kanonistisch geschult waren, die Gesetze; auch ihre Annahme auf den Landsthingen war nicht viel mehr 55
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Sættargjerden von Tønsberg vom 9. August 1277, Druck in: Norges Gamle Love II, lateinisch S. 462–467; altnorwegisch S. 467–477; vorausgegangen war die Übereinkunft vom 1. August 1273 in Bergen (Druck in: Norges Gamle Love II, S. 455–462); vgl. Halvdan Koht, Sættargjerder in Tønsberg 1277, zuerst in: (Norsk) Historisk Tidsskrift 5. Række III (1916), S. 261–276, wieder in: Andreas Holmsen (Ed.), Norsk middelalder. Utvalgte avhandlinger for historiestudiet (Oslo u.a. 1966), S. 119 ff.; Didrik Arup Seip, Sættargjerden i Tunsberg og kirkens jurisdiktion (Oslo 1942), S. 99 ff.; 143 ff.; Hartmut Böttcher, Das Glaubensbekenntnis im Landrecht Magnus Lagabøters (Berlin 1971), S. 121 ff. Sie sind im Konkordat von Tønsberg, § 2 (Norges Gamle Love II, S. 464) aufgeführt (vgl. Anm. 55). Grethe Authén Blom, Kongemakt og privilegier i Norge inntil 1387 (Oslo 1967), S. 174; vgl. Hartmut Böttcher (wie Anm. 55), S. 128. Biskop Jón Raudes Kristenret, Druck in Norges Gamle Love II, S. 341–386. Biskop Arnes Kristenret, ausgearbeitet 1273/74, vom Allthing großenteils 1275 angenommen; vgl. Arna biskuper saga c. 14 Biskupa sögur, utg. av Guðbrandur Vigfússon, Jón Sigurðsson, 2 Bde (København 1858–1878, Neudruck: Byskupa sögur I, Reykjavík 1948), S. 697; Druck in Norges Gamle Love V, S. 16–56; vgl. Hartmut Böttcher (wie Anm. 55), S. 113. Das folgt aus einem Brief König Magnus Lagabøters an die Isländer von 1276, vgl. Biskupa sögur (wie Anm. 59), cap. 17, Bd. I, S. 701 f.; vgl. Hartmut Böttcher (wie Anm. 55), S. 129. Jóns Christenrecht haben auch die norwegischen Thingverbände nicht angenommen, Seip, sættargjerden (wie Anm. 55), S. 155 ff.; Hartmut Böttcher (wie Anm. 55), S. 129. Jedenfalls in Handschrift B, vgl. Norges Gamle Love II, S. 341, mit Anm. 1. Vgl. Magnus Lagaböters Landslov II, 2. In: Norges Gamle Love II, S. 23 = Meißner, Landrecht (wie Anm. 52), S. 35; vgl. auch die Konungsskuggsjá, cap LXIX = Meißner, Königsspiegel (wie Anm. 53), S. 256.
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als eine Formsache63, zumal in Magnus Lagaböters landslov I: 11: 364 der Satz steht: þui at hann er ifir login skipaðr („denn er ist über das Gesetz gestellt“).
b) Dänemark Um 1120 schreibt Aelnoth in der Märtyrergeschichte Knuts des Heiligen, der König sei Stellvertreter Gottes auf Erden.65 Das Kirchenprivileg Knuts des Heiligen66 von 1085 für die Lunder Domkirche67 beleuchtet die damaligen dänischen Verhältnisse. Daraus folgt zwar, dass es in Dänemark bereits geregelte Abgaben und königliche Bußansprüche gab (auf die der König teilweise verzichtet),68 dass aber des Königs Gesetzgebungsmacht beschränkt war: Er konnte nicht über das gute alte Recht hinausgehen, sondern allenfalls Vergessenes wiederbeleben.69 Außerdem war er an die Zustimmung der Betroffenen gebunden, wie sich aus der Niederschrift des Gefolg63
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Vgl. Knut Helle, Norge blir en stat 1130–1319. Handbok i Norges Historie Bd. I, 3. 4. Auflage (Bergen 1996), § 23. Magnus Lagaböters Landslov I: 11: 3 (Norges Gamle Love II, S. 21). Aelnoth, Druck bei: Martin Clarentius Gertz (Hrsg.), Vitae sanctorum Danorum (København 1908–1912), S. 77–136; Hal Koch, Bjørn Kornerup, Den danskes Kirkes Historie, Bd. I: Den ældre Middelalder indtil 1241 (København 1950); S. 19– 105; Übersetzung bei Hans Olrik (Ed.), Danske Helgernes Levned, Bd. I (København 1968), S. 19–105. Vgl. Ælnoths Bericht über ein edictum regale, die kirchlichen Feiertage und Fastenzeiten zu halten bei Hans Olrik (wie Anm 65), I, S. 60 und Martin Clarentius Gertz (wie Anm. 65), S. 101; vgl. Ole Fenger, Om kildeværde af nomative tekster. In: Tradition og historieskrivning. Kilderne til Nordens ældste historie. In: Acta Jutlandica LXIII: 2, Humanistisk Serie 61 (Aarhus 1987), S. 39–51 (S. 43 f.). Privileg Knuts des Heiligen vom 21. Mai 1085 für die St. Laurentius-Kirche in Lund. In: Diplomatarium Danicum I. Række, 2. Bind (1053–1169), Nr. 21, S. 43– 52; vgl. Ole Fenger, Gammeldansk ret. Dansk rets historie i oldtid og middelalder (Viborg 1983), S. 75 ff.; derselbe, Kildeværde (wie Fn. 66), S. 41. Vgl. Ole Fenger, Gammeldansk ret (wie Anm. 67), S. 67 ff. Die Einführung von Abgaben und der Forderung, Friedensbußen zu zahlen, beziehungsweise sich in den Frieden zu kaufen, führte allerdings zum Aufstand und zur Erschlagung des Königs, vgl. Fenger, S. 75. In der Totschlagsverordnung vom 28. Dezember 1200 heißt es (Danmarks gamle Landskabslove med Kirkelovene I, S. 777 = Diplomatarium Danicum 1. række V, Nr. 96): Quamvis autem regie sit potestatis leges condere vel mutare, legem hanc ex novo non condimus, sed ab antiquis temporibus constitutam et annorum multitudine, que oblivionis mater est, ignorancie nebulis obfuscatam ad humanam a qua lapsus est memoriam revocamus.
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schaftsrechts (Vederloven70) ergibt. Dies ist die alte Anschauung der königlichen Gesetzgebungsbefugnisse. Aber bereits Knut VI. (1182–1202) spricht beim Erlass seiner Totschlagsverordnung vom Jahre 120071 vom ministerium nobis divina gracia traditum, also einem ihm von Gott übertragenen Gesetzgebungsamt. Eine Bindung an die kirchlichen Vorgaben für Gesetze folgt auch aus Anders Sunesøns liber legis72 (nach 1216) und aus einem Brief von ca. 1220,73 wo er sich allgemein über Gesetzgebung äußerte. Dass der Anteil des dänischen Königs an der Gesetzgebung des 13. Jahrhunderts 70
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Vgl. Ole Fenger, gammeldansk ret (wie Anm. 67), S. 80 f.; Dieter Strauch, Artikel „Vitherlagsret“. In: RGA 32 (2006), S. 461. Totschlagsverordnung vom 28. Dezember 1200, Druck in: Danmarks gamle Landskabslove med Kirkelovene I, S. 774–778 (774) = Diplomatarium Danicum 1. række IV, Nr. 24 = Diplomatarium Svecanum, Vol. I (817–1285) (Holmiæ 1829), Nr. 118, S. 143–146. Vgl. Dieter Strauch, Artikel „Schonen“. In: RGA 27 (2004), S. 259–262. In cap. 127 hat Anders Sunesen das Kirchenrecht höher gestellt als das weltliche schonische: … matrimonia iubet non fori sed poli, non curie secularis sed ecclesie spiritualis examine atque regimine subiacere… (Danmarks gamle Landskabslove med Kirkelovene I, 2, S. 644; Andreae Sunonis filii archiepiscopi lundensis Hexaëmeron libri duodecim, ed. Martin Clarentius Gertz (Hauniæ 1892), v. 2981; 3507); dies entspricht dictum Gratiani post c. 7. C 2, qu. 3 (Friedberg, Corpus iuris canonici, I, Sp. 453); vgl. dictum Gratiani ante c. 1. D. X (Friedberg, Corpus iuris canonici, I, Sp. 19) und cap. 19. C XXVII, qu. 2 (Friedberg, Corpus iuris canonici I, Sp. 1067); vgl. Ludvig Holberg, Dansk Rigslovgivning. Forholdet mellem Vederlagslov og Rigslov. Rigslovene i Perioden 1241–1282 (København 1889), S. 61; Sigvard Skov, Anders Sunesøns parafrase af Skånske Lov. In: Scandia Bd. 13, 1940, S. 171–195, hier S. 190; Bertil A. Frosell, En gejstlig stormand ser på retten i Skåne. In: Sten Ebbesen (Hrsg.), Anders Sunesen. Stormand, Teolog, Administrator, Digter. Femten studier (København 1985), S. 243–253, hier S. 248, so hat er doch das dänische Gewohnheitsrecht nur dort zurückgedrängt, wo die Kirche sich unmittelbar auf römisches Recht oder das ius divinum positivum, das heißt die Bibel, berief. Die Urkunde haben neben Anders Sunesen auch die Bischöfe Karl und Bengt von Linköping mitverfasst, Druck in: Diplomatarium Svecanum I Nr. 832 (1216–1223), S. 690 f., wo es heißt: unde perutile fore censetur, ea scripto commendari, ut tam errori quam pravae voluntati tollatur occasio, sicque fragili succuratur memorie, ut quivis habeat, ad quod recurrere debeat certificandi gratia, si de aliquo positivi iuris articuclo contingat dubitari, quaelibet autem terra pro sui qualitate et morum diversitate, suas ac varias leges habeat.Legem enim (ut Isidorus ait) loco et patriae convenire convenit. Der Einwand Elsa Sjöholms, die Urkunde betreffe nur die Vorschriften über Bischofsvisitationen, trifft nicht, denn das Zitat aus Isidor (Etymologiae lib. V, c. 20f. In: Patrologia, Series Latina, Bd. 82, S. 203, auf den das dictum Gratiani und Gratian, cap. 1 f. Distinctio IV verweist) zeigt, dass er hier lediglich den von ihm gebilligten allgemeinen Nutzen von Rechtsaufzeichnungen auf die Visitationsvorschriften bezieht.
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gewachsen war, folgt aus der Vorrede von Jyske Lov:74 König Valdemar II. Sejr (1202–41) wird ausdrücklich als Urheber des Gesetzes genannt; es wurde nicht auf dem eigentlich zuständigen Landsthing in Viborg beschlossen, sondern in Vordingborg auf Seeland, wo sich Valdemar II. mit Vorliebe aufhielt, und zwar mit dem Rat seiner Söhne, des gesamten Klerus und der besten Männer seines Reiches.75 Dabei war „Rat“ keine bloße Beratung, sondern eine echte Einflussnahme und Mitwirkung.76
4. Die Christianisierung des schwedischen Rechts am Beispiel des Strafrechts von Äldre Västgötalagh Das königliche Machtstreben und der Kampf der Kirche um die libertas ecclesiae wirkten sich auf das Gemeinwesen insgesamt aus. Die Menschen des 12. und 13. Jahrhunderts lebten nach Landschaftsrecht, aber als „Kirchenvolk“ auch nach (modifiziertem) kanonischem Recht. Vermutlich war die Kirche als Erbin römischer Kultur und Hüterin des rechten Glaubens in größerem Umfang der gebende Teil als die Schweden. Bereits an Västgötalagen, der ältesten Rechtsaufzeichnung Schwedens von ca. 1220,77 lässt sich der Einfluss der Kirche ablesen. 74
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Jyske Lov, Vorrede a. E.. In: Danmarks gamle Landskabslove med Kirkelovene II, S. 14–18 = Peter Skautrup, Jyske Lov. Facsimile-Ausgabe. In: Danmarks gamle Landskabslove med Kirkelovene III (København 1932), S. 5 = Klaus von See (Übersetzer), Das Jütsche Recht (Weimar 1960), S. 36, Zeile 60 ff.; vgl. eingehend zu den Quellen der Vorrede: Ludvig Holberg, Dansk og fremmed Ret. Retshistoriske Afhandlinger (Kjøbenhavn 1891), S. 25–83. In der Vorrede zu Jyske Lov heißt es (wie Anm. 74): meth hans sønnæer raath thær wyth waræ … Offæ thær tha war erkibiscop i Lund,… Oc thær tyl allæ bæstæ mæns raath thær i hans rigi waræ („Mit dem Rat seiner Söhne, die dort waren… und Uffe, der da Erzbischof in Lund war … und dazu mit dem Rat der besten Männer, die in seinem Reiche waren“ [womit offenbar eine Reichsversammlung gemeint war]), vgl. den vollständigen Text bei Klaus von See, Das Jütsche Recht (wie Anm. 74), S. 26. Peter Skautrup (Jyske Lov, wie Anm. 74) S. 4, Z. 25, und Danmarks gamle Love paa nutidsdansk I–III, av Erik Kroman, Stig Iuul (København 1945–1948), S. 136, Z. 25 übersetzen denn auch das altdänische sønnær raath mit sønners samtycke („Einverständnis der Söhne“). Vgl. auch Dieter Strauch, Birger Jarl. Kirche, Königtum und Kaufleute im mittelalterlichen Schweden. In: Festschrift der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600Jahrfeier der Universität zu Köln (Köln 1988), S. 135–162; Neudruck in: Dieter Strauch, Kleine rechtsgeschichtliche Schriften, Aufsätze 1965–1997, hrsg. von Manfred Baldus, Hanns Peter Neuheuser (Köln 1998), S. 337–365, hier S. 339 ff.
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Königtum und Kirche kämpften gemeinsam für eine Einschränkung der Rache: Wer sich rächen wollte, musste die sonst vom Täter an König und Harde zu zahlenden Bußen als eine Art Rachesteuer selbst zahlen.78 Im Strafrecht setzte sich die kanonistische Schuldlehre durch.79 Die Dekretisten bemühten sich, auch bei unvorsätzlichen Missetaten die Schuld des Täters zu erfassen. Dazu unterschieden sie das forum externum, wofür der Grundsatz galt „lex opus attendit “, und das forum internum, wofür der Satz galt Deus attendit voluntatem,80 denn nur Gott könne in das Herz des Täters schauen, die Kirche könne nur die äußerlichen Anzeichen von Schuld erkennen und das Gesetz könne nur die Tat beurteilen (ecclesia de occultis non iudicat).81 Immerhin unterscheidet schon Äldre Västgötalagh die vorsätzliche von der unvorsätzlichen Tat und bestraft diese milder.82
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Vgl. Uplandslagh, Manhælghis balkær 9: 2 und 10: 1 (Sveriges Gamla Lagar III, S. 138; 140 = Claudius von Schwerin, Schwedische Rechte (wie Anm. 32), S. 133; 135); vgl. Klaus von See, Selbsthilfe und öffentlicher Strafanspruch im mittelalterlichen Norden. In: Gerhard Dilcher, Eva Marie Distler (Hrsg.), Leges, Gentes, Regna. Zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen Rechtskultur (Berlin 2006), S. 377–390, S. 384 nennt die vom Rächer zu zahlende Buße „Vergnügungssteuer“. Vgl. dazu allgemein: Daniela Müller, Schuld – Geständnis – Buße. Zur theologischen Wurzel von Grundbegriffen des mittelalterlichen Strafprozessrechts. In: Herrschaftliches Strafen seit dem Hochmittelalter. Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas 5 (Köln u.a. 2002), S. 403–420. Vgl. Stephan Kuttner, Kanonistische Schuldlehre (Vatikanstadt 1935), S. 58 f.; Kéry, Gottesfurcht (wie Anm. 36), S. 400 ff., 449. Vgl. Stephan Kuttner, Ecclesia de occultis non iudicat. In: Acta Congressus iuridici internationalis … (Romae 1934, 3 (1936)), S. 227–246 ; Lotte Kéry, La culpabilité dans le droit canonique classique de Gratien (vers 1140) à Innocent IV (vers 1250). In: La culpabilité. Actes des XXèmes Journées d’Histoire du Droit 4.–6. Octobre 2000. Textes réunies par Jacqueline Hoareau-Dodineau, Pascal Texier (Limoges 2001), (Cahiers de l’Institut d’Anthropologie Juridique No 6), S. 429–444 (S. 432 ff.). Vgl. Äldre Västgötalagh, Af mandrapi 12; 13; 15 und den Abschnitt über Ungefährwunden; vgl. Ragnar Hemmer, Om vådaverken i den svenska landskapsrätten. In: Rättshistoriska Studier II (Stockholm 1957), S. 26–53 (S. 51 f.); Stephan Kuttner, Kanonistische Schuldlehre (wie Anm. 80), S. 17–20, 200 ff. und Kéry, Strafe (wie Anm. 36), S. 103 ff., die auf Reginonis abbatis Prumiensis libri duo de synodalibus causis et disciplinis ecclesiasticis, ed. F. G. A. Waschersleben, Friedrich Wilhelm Wasserschleben (Lipsiae 1840, Neudruck Graz 1964), (das Sendhandbuch Reginos von Prüm), II, S. 15–19 verweist. Dies findet sich außerdem in Östgötalagh, Uplandslagh, Gutalagh und Bjärköa-Rätten, vgl. Sveriges Gamla Lagar XIII (Ordbok), Artikel vaði, S. 697.
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Aus Anlass der Ermordung Thomas Beckets unterscheidet die Dekretale Sicut dignum Papst Alexanders III.83 vier Formen der Teilnahme an Missetaten: Beihilfe, Anstiftung, Unterlassung und nachträgliche Zustimmung. Ihnen gemeinsam ist die Zustimmung (consensus) zur Tat. Systematisiert und auf ihre Grundformen beschränkt hat Papst Innozenz IV.84 die Teilnahme, indem er consensus negligentiae (Unterlassung von Widerstand gegen die Tat), consensus consilii (Anstiftung), consensus cooperationis (Beihilfe) und consensus authoritatis sive defensionis (nachträgliche Genehmigung oder Verteidigung) unterscheidet.85 Die ersten drei Teilnahmeformen sind – jedenfalls in ihren Grundzügen – auch in die schwedischen Quellen eingedrungen. So ergibt sich aus VGL I, Drapabalkær 1: 1; 3: pr, 1, 2, dass dort zwischen dem Haupttäter, dem Halttöter und dem Rattöter unterschieden wird, die der Erbe des Getöteten nach seiner Wahl anklagen kann, indem er ihnen ihre Tatbeteiligung vorwirft. Selbst diejenigen, die nur dabeistanden (mit consensus negligentiae), können belangt werden. Ähnliche Regeln finden sich in anderen götischen und oberschwedischen Landschaftsrechten.86 In Uplandslagen hat sogar die Talion Eingang gefunden.87 83
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Dekretale Sicut dignum in X. 5. 12. 6 (Friedberg, Corpus iuris canonici, II, Sp. 794 f.). Sinibaldus Fliscus (Innozenz IV.), Apparatus in V libros Decretalium (Frankfurt 1570, Neudruck Frankfurt/Main 1968), Quadruplex est consensus in seinem Kommentar zur Dekretale Quia quaesitum (ad X. 1. 29. 1), s. v. Poena, fol. 119rb, unter Hinweis auf Römer 1, 32; vgl. Kéry, Gottesfurcht (wie Anm. 36), S. 412. Auf die erweiterten Teilnahmeformen geht er in seinem Kommentar zu Sicut dignum ein in: Apparatus Decretalium ad X. 5. 12. 6, fol. 510 ra; vgl. Kéry, Gottesfurcht (wie Anm. 36), S. 411 ff., wo er den consensus negligentiae und consilii schwerer als die eigentliche Tat bestrafen will. Für Östgötalagh vgl. Drapabalkær 2: 1; 2; 6: 1; Uaþa mal ok sara mal 34: 1, wo zunächst die Teilnehmer milder bestraft wurden, was aber in Eþsöres balkær 8 geändert wurde, wonach Haupttäter und Teilnehmer gleich schwer bestraft werden, was Karl Gustaf Westman, Om delaktighet i dråp enligt de svenska landskapslagarna. In: Antikvarisk Tidskrift för Sverige, Bd. 17, 2 (Stockholm 1905), S. 9 aus dem römischen Recht ableitet; vgl. Per Edwin Wallén, Artikel „Rådsbane“. In: Kulturhistoriskt lexikon för nordisk medeltid XIV (1969), Sp. 547–550. Uplandslagh, Manhelgis balkær 9: 3, 4 bestraft Haupttäter und Teilnehmer gleich, legt aber den Zuschauern (mit consensus negligentiae) in Manhelgis balkær 9: 4 nur Kirchenbuße, aber kein Bußgeld auf; vgl. auch Västmannalagh, Manhelgis balkær 9: 3, wo auch ein bloß am Kampfplatz Anwesender als Täter verklagt werden kann. Die Beihilfe ist auch erwähnt in Jyske Lov III: 35; 36. Thords Artikler Artikel 4 (zu Jyske Lov III: 35. In: Danmarks gamle Landskabslove med Kirkelovene, Tillæg til Bind 4, S. 80) kennt die wetherwisteboot: solvat heredibus interfecti sex marchas et
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Das kirchliche Denken schränkte auch das Recht ein, einen ertappten und flüchtigen Dieb zu töten.88 Er durfte fortan nur getötet werden, wenn er sich wehrte und der Bestohlene sein Gut sonst nicht zurückerlangen konnte. Es handelt sich also um Notwehr. Auch sonst wirkte die Kirche auf eine Humanisierung des Erfolgsstrafrechts hin. Da der altschwedische Prozess im Wesentlichen nur Geschäftszeugen und Eidhelfer kannte, dürfte auch der mehrfach auftretende Augenzeuge aus dem kanonischen Prozess übernommen sein.89 Die Kirche war inzwischen so fest mit der staatlichen Ordnung verwoben, dass das Recht auch ihre Bedürfnisse berücksichtigte. So ist der Bruch des Kirchenfriedens mit besonderer Strafe bedroht,90 das Priesterpferd darf im umzäunten Land weiden, um
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regi tres marchas, das ist die Buße des Anwesenden, der hier ähnlich dem consensus negligentiae belangt wird; vgl. Klaus von See, Jyske Lov (wie Anm. 74), Artikel „Gefolgebuße“, S. 177; Artikel „Mitwisser“, S. 194. Der Mitwisser des Diebes als Gehilfe ist erwähnt in Jyske Lov II: 92; 95; 97; 100; vgl. Stig Iuul, Artikel „Meddelagtighed“. In: Kulturhistoriskt lexikon för nordisk medeltid, Bd. X, Sp. 513 f. In Norwegen findet sich der consensus negligentiae in Frostuthingslov IV: 6; die Beihilfe in Frostuthingslov IV: 35. Talion. In: Uplandslagh, Manhelgis balkær, 9: 4 (Sveriges Gamla Lagar III, S. 139): hawær han æi pænninge til at bötæ. giældi þa liff fore liff („hat er kein Geld zur Bußzahlung, gelte er Leben gegen Leben“); übernommen aus: 2. Mose 21: 23–25 = 3. Mose 24: 19; 20 = 5. Mose 19: 21; vgl. Holmbäck, Wessén, Svenska Landskapslagar, tolkade och förklarade för nutidens Svenskar, 5 Bände (Stockholm 1933–1946), Bd. I, Uplandslagh, N. 42, S. 120. Vgl. Äldre Västgötalagh, Af mandrapi 8 a.E.; vgl. Gratian, cap. 32 Causa 13, q. 2 und X. 5. 12. 2; dazu: Per Edwin Wallén, Kanoniska och germanska element i rätten att dräpa tjuv i de svenska landskapslagarna. In: Kyrkohistorisk Årsskrift 57 (1957) [dräpa tjuv], S. 1–24 (S. 18f.). Vgl. zum Beipsiel Äldre Västgötalagh, Rætlösa balkær 8: principium, 9: principium, 2; 11: principium, Västmannalagh unterscheidet zwischen Geschäftszeugen (Ärfþa balk 9: 2; 12: 2; Bygninga balkær 6: 1) und Zufallszeugen (Bygninga balkær 6: 3; 14: 10), wobei auch hierbei das römische und biblische Prinzip deutlich wird, dass nur zwei oder drei Zeugen einen Beweis erbringen (Västmannalagh, þingmala balkær 18: pr). Es ist dem römischen Recht (Codex 4. 20. 9: unius omnino testis responsio non audiatur), beziehungsweise der Bibel entlehnt (Numeri 35: 30; Deuteronomium. 17: 6; 19:15, worauf Johannes 8: 17; 2. Korinther 13: 1 und 1. Timotheus 5: 19 verweisen). vgl. Natanael Beckman, Antikritiska anmärkningar till Äldre Västgötalagen. In: Arkiv för nordisk filologi 37 (1921), S. 135–160 (S. 156 f.), der von „neuem Recht“ spricht, vgl. denselben, Små bidrag till äldre Västgötalagens textkritik och tolkning. In: Arkiv för nordisk filologi 40 (1927), S. 227–255 (S. 231 f.); Beispiele bei Claudius von Schwerin, Zur altschwedischen Eidhilfe (Heidelberg 1919), S. 17 f.; zweifelnd aber: Holmbäck, Wessén, Sveriges Landskapslagar (wie Anm. 87), Bd. V, (Äldre Västgötalagh) S. 129, N. 63. Vgl. Äldre Västgötalagh, Bardaghæ Balkær 4; Urbotamal, principium, 6.
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stets zur Hand zu sein,91 und das bäuerliche Leben richtete sich jetzt nach den Festzeiten des Kirchenjahres.92 Aber das Streben nach kirchlichen Vorrechten stieß auch an Grenzen: Der Bischof hatte zwar das Beweisrecht vor dem König und dessen Lehnsmännern,93 aber erst nach den Bauern. Die Stelle zeigt, dass das privilegium fori des Klerus sich für Grundstückssachen nicht durchsetzen ließ.
5 Zur Rezeption fremden Rechts Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass die christliche Kirche – teils im Zusammenwirken mit dem Königtum teils gegen dessen Machtstreben – sich im ganzen Norden zwischen dem achten und dem zwölften Jahrhundert durchgesetzt hat. Dabei haben die Skandinavier den neuen Glauben zum Teil aus praktisch-nützlichen Gesichtspunkten angenommen, doch bleibt zu bemerken, dass die Mission auch den christlichen Glauben verwandelt hat, weil die Kirche sich dem bisherigen Geistesleben der Neubekehrten angeglichen hat. Im christlichen Glauben zeigt sich der Synkretismus einer Universalreligion.94 Dies gilt für das ganze Gebiet des Geistes, also auch für das Recht. Deshalb ist es unzutreffend, wenn Elsa Sjöholm behauptet, die Landschaftsrechte des 12./13. Jahrhunderts seien in allen Teilen neu und enthielten kein altes Recht,95 sondern bestünden lediglich aus den 91
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Vgl. Äldre Västgötalagh, Fornæmis balkær. 4:1 (Weiden eines Priesterpferdes); Jorda balkær 9: principium (Kirchenzaun). Vgl. Äldre Västgötalagh, Giptamals balkær 9: principium (Martinsmesse); Fornæmis balkær 1 (Christi Himmelfahrt), Fornæmis balkær 11: principium (Ostern und Michaelsmesse); Jorda balkær 12: 1 (Leichenweg zur Kirche); Jorda balkær 15: 1 (Begriff des Volldorfes); vgl. Hans Hildebrand, Sveriges Medeltid, Del I–III (Stockholm 1879–1903), Del I, S. 121 f; Holmbäck, Wessén, Sveriges Landskapslagar (wie Anm. 87), Bd. V (Äldre Västgötalagh), S. 150, N. 71. Äldre Västgötalagh, Jorda balkær 5 (Beweisrecht des Bischofs) vgl. Bruno Sjöros, Äldre Västgötalagen. Diplomatisk avtryck och normaliserad text jämte inledning och kommentar. Skrifter utgivna av Svenska Literatursällskapet i Finland 144 (Helsingfors 1919), S. 245; Holmbäck, Wessén, Sveriges Landskapslagar (wie Anm. 87), Bd. V (Äldre Västgötalagh), S. 145 f., N. 42. Vgl. Adolf von Harnack, Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Bd. I, 2. Auflage (Leipzig 1906), S. 261–268; 419 ff.; vgl. Reinhart Staats, Missionshistoria som „Geistesgeschichte“; ledmotiv i den nordeuropeiska missionshistorien 789–1104. In: Per Beskow, Reinhart Staats, Nordens kristnande i europeiskt perspektiv. Tre uppsatser. Occasional Papers on Medieval Topics, 7 (Skara 1994), S. 3–15 (S. 15), der die skandinavische Missionsgeschichte als Geistesgeschichte sieht. Vgl. Elsa Sjöholm, Gesetze (wie Anm. 30), S. 174 ff.; Elsa Sjöholm, Sveriges Me-
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damals in Europa herrschenden Gesetzen, nämlich hauptsächlich aus langobardischem und Kirchenrecht. Dass langobardisches und dänisches Erbrecht sich ähneln, ist eine Entdeckung, die Christian Kier bereits 1901 gemacht hat.96 Er zieht daraus den Schluss, dass die Langobarden kein deutscher, sondern ein skandinavischer Stamm seien, woraus sich die Vergleichbarkeit ihres und des dänischen Erbrechts erkläre. Schaut man dazu in die neuesten Forschungsergebnisse, so ist durchaus zweifelhaft, ob die Langobarden in Skandinavien gesiedelt haben:97 An der südlichen Niederelbe sind sie zwar im 2. Jahrhundert nachweisbar,98 gaben dieses Gebiet aber am Ende des 4. Jahrhunderts auf. Sie sind also zu den Elbgermanen zu zählen.99 Das Edictum Rothari wird allerdings erst auf 643 datiert, die leges Liutprandi auf die Jahre 713–735,100 beide liegen also nach der Niederlassung der Langobarden in Italien (568). Zwischen dem vierten und dem 7. bzw. 8. Jahrhundert liegt aber eine so erhebliche Zeitspanne, dass sowohl eine aus der Nähe der Siedlungsstätten abzuleitende Parallelentwicklung als auch eine Übernahme sehr zweifelhaft wird.101 Da die Bologneser Rechtsschule die Lombarda in der Vulgata-Rezension in ihren Lehrstoff übernahm, das lombardische Recht auch für die Kirche praktische Bedeutung erhielt,102 und die Theologen Europas nach Bologna
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deltidslagar. Europeisk Rättstradition i politisk omvandling. Rättshistoriskt Bibliotek 41 (Stockholm 1988), S. 50 f.; vgl. Ole Fenger, Besprechung von: Elsa Sjöholm, Gesetze als Quellen mittelalterlicher Geschichte des Nordens. Acta Universitatis Stockholmiensis 21 (Stockholm 1976). In: Dansk Historisk Tidskrift 1979, S. 112–124, hier S. 118 f. Vgl. Christian Kier, Dansk og Langobardisk arveret. En retshistorisk undersøgelse (Aarhus u.a. 1901). Den im Artikel „Origo gentis“ von Walter Pohl, RGA 22 (2003), in § 3, S. 186, sich findenden Namen Scathanavia siedelt Fredegar in: Scriptores et aliorum Chronica. Vitae sanctorum. Monumenta Germaniae historica, Scriptores rer. Merovingicarum, Bd. 2., hrsg. von Bruno Krusch (Hannover 1888, Neudruck Hannover 1984): 17 III, 65 inter danuviam et mare Ocicanum an, also zwischen Ostsee und Donau. Vgl. Christoph Eger, Artikel „Langobarden“. In: RGA 18 (2001), § 10, Karte 7 (S. 72) und § 11, S. 75 ff. Vgl. Franz Beyerle, Die Gesetze der Langobarden (Weimar 1947), S. XIII f. Vgl. Heinrich Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte, 3. Auflage (Berlin 1961; unveränderter Nachdruck der 2. Auflage 1906), Bd. I, S. 533 f. So aber Heinrich Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte (wie Anm. 100), Bd. I, S. 538 f mit Beispielen in Anm. 37. Vgl. Christoph H. F. Meyer, Langobardisches Recht nördlich der Alpen. Unbeachtete Wanderungen gelehrten Rechts im 12.–14. Jahrhundert. In: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis Bd. 71 (2003), S. 387–408 (S. 393 ff.).
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strebten, um dort das Kirchenrecht zu studieren, wird Anders Sunesen die Lombarda bei seinem Aufenthalt in Bologna (1180er Jahre) kennen gelernt haben.103 Genaueres ist nicht bekannt. Jedoch wird man die Ähnlichkeit des langobardischen Rechts mit dem dänischen bzw. gutnischen nicht leugnen können. Sjöholm hat nicht erklärt, warum die skandinavischen Rechtsquellen die Lombarda rezipiert haben. Die Rechtshistoriker kennen eine Bedarfs- und eine Autoritätsrezeption. Während kaum zweifelhaft ist, dass die Übernahme kanonischen Rechts auf der geistlichen Autorität der Kirche beruhte, ist bisher noch offen, ob die Ähnlichkeit der dänischen Rechtsregeln zur Lombarda eine Parallelentwicklung, beruhend auf ähnlichen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Elbgermanen104 war, ob ein Rezeptionsbedarf vorlag – oder ob es sich auch hier um eine Autoritätsrezeption handelt – gegründet auf Rang und Ruf der Bologneser Rechtsschule, deren Lehren Anders Sunesen für sein Land als nützlich ansah. Die bisherigen Ausführungen dürften deutlich gemacht haben, dass die skandinavischen Rechte des 12.–14. Jahrhunderts keineswegs nur auf Rechtsentwicklungen im eigenen Lande beruhen, sondern dass vor allem die Kirche mit ihren herausragenden Vertretern, die zumeist im Ausland (Bologna, Paris, Oxford) studiert hatten, das Recht kräftig nach den Anforderungen der Zeit, aber auch zu ihren Gunsten beeinflusst hat.105 Eine zweite Einflussquelle ist das Königtum, das – teilweise unter kirchlichem Einfluss – die Gesetzgebung mehr und mehr an sich zog und dadurch das Recht zu seinen Gunsten änderte. Auch Bußen hat es neu eingeführt oder bestehende erhöht, und so die königlichen Einnahmen aufgebessert. Den Großen des Landes haben die Könige Privilegien gewährt, um ihre Dienste zu belohnen oder sie günstig zu stimmen. Die Meliores waren ihrerseits bestrebt, durch Thronfolgegesetze die Macht des Königtums zu begrenzen. Alle diese Vorgänge sind mit Vorsicht zu betrachten, denn monokausale Erklärungen, wie sie etwa Per Nyström106 anbietet, der aus den Land-
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Vgl. Dominik Waßenhofen, Skandinavier unterwegs in Europa (1000–1250). Untersuchungen zu Mobilität und Kulturtransfer auf prosopographischer Grundlage (Berlin 2006), S. 154; Christoph H. F. Meyer (wie Anm. 102), S. 394 ff. Zur Bedarfsrezeption vgl. Jens Arup Seip, Problemer og metode i norsk middelalderforskning. In: Norsk Historisk Tidskrift 32 (1940/42), S. 49–133 (S. 78); vgl. Ole Fenger, Besprechung Gesetze (wie Anm. 95). in Dansk Historisk Tidskrift 1979, S. 119; Per G. Norseng, Lovmaterialet som kilde til tidlig nordisk middelalder. In: Kilderne til den tidlige middelalders historie. Rapporter til den XX. nordiske historikerkongres Reykjavik 1987, Bind I, redigeret af Gunnar Karlsson (Reykjavík 1987), S. 48–77, hier S. 67. Vgl. Per G. Norseng, Lovmaterialet (wie Anm. 104), S. 63.
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schaftsrechten lediglich Tributpflichten der kleinen Leute gegenüber der adeligen und kirchlichen Oberklasse herleitet, also das Klassendenken des 19. Jahrhunderts in das skandinavische Mittelalter versetzt,107 dürften an der Wirklichkeit vorbeigehen. Zugleich zeigt er – gleich Elsa Sjöholm108 – eine heftige Abneigung gegen den Entwicklungsgedanken im Recht.109 Nun ist hier weder an Hegel noch an Rudolf Sohm anzuknüpfen, aber es liegt auf der Hand, dass sich das Recht im Laufe der Zeit ändert, womit noch nicht gesagt ist, dass es sich stetig bessert. Weil es immer Rechtsänderungen gegeben hat, sind die überlieferten Landschaftsrechte keine Einheit aus einem Guss, die der Gesetzgeber zu seiner Zeit aus dem Ärmel geschüttelt hat, sondern eine Mischung aus Altem und Neuem.110 Dabei ist inzwischen deutlich geworden, dass die Unterscheidung zwischen Rechtsbuch und Gesetzbuch im 19. Jahrhundert an die Quellen herangetragen worden ist, denn das Mittelalter kannte diesen Unterschied nicht, auch ist er möglicherweise unbedeutend,111 weil sich beide Typen von Rechtsentstehung häufig mischen. Der Papst nannte diese nordischen Rechtsaufzeichnungen
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Per Nyström, Landskapslagarna. In: Per Nyström, Historieskrivningens dilemma och andra studier (Stockholm 1974), S. 62–81; vgl. Per Norseng, Lovmaterialet (wie Anm. 104), S. 64. Nyström, Landskapslagarna (wie Anm. 106), S. 64; ihm stimmt Elsa Sjöholm, Gesetze (wie Anm. 30), S. 85 zu; vgl. dagegen Ole Fenger, Besprechung Gesetze. In: Dansk Historisk Tidskrift 79 (1979), S. 122; Thomas Lindqvist, Besprechung Landskapslagar. In: Svensk Historisk Tidsskrift 1989, S. 419. Vgl. Elsa Sjöholm, Besprechung von Ole Fenger, Fejde og mandebod; Lizzie Carlsson, Jag giver dig min dotter, Georg J. V. Ericsson, Den kanoniske rätten …; Vegard Skånland, Det eldste norske provinsialstatutt, Hartmut Böttcher, Glaubensbekenntnis… und Dieter Strauch, Ostgötenrecht. In: Svensk Historisk Tidskrift 1975, S. 202–208 (S. 204); vgl. Ole Fenger, Besprechung Gesetze (wie Anm. 95). In: Dansk Historisk Tidskrift 79, 1979, S. 112–124 (S. 120). Per Nyström, Historieskrivningens dilemma och andra studier, Stockholm 1974, darin: Historieskrivningens dilemma I, S. 20–45; II, S. 46–51; S. 26 ff.; auch hierin zeigt sich Elsa Sjöholm mit ihm einig, vgl. Sjöholm, Gesetze (wie Anm. 30), S. 33 f., 51 f., 67 ff., 85; dieselbe, Medeltidslagar (wie Anm. 95), S. 33 ff., 40 ff. Vgl. Ole Fenger, Besprechung Gesetze (wie Anm. 95), Dansk Historisk Tidskrift 79 (1979), S. 114; Per G. Norseng, Lovmaterialet (wie Anm. 104), S. 60. Vgl. Lars Arne Norborg, Källor till Sveriges historia (Lund 1968), S. 80; Gudmund Sandvik meint, die norwegischen Landschaftsrechte seien zum Gebrauch der politischen Zentralorgane aufgezeichnet worden (in: Kristian Bloch, Knut Helle, Alf Kiil, Gudmund Sandvik (Hrsg.), Utvalde emne frå Norske rettshistorie (Oslo 1981), S. 7) und Ole Fenger, Romerret i Norden (København 1977), S. 55–59, sieht in ihnen zutreffend eine Bestandsaufnahme des jeweilig geltenden (alten und neuen) Rechts.
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leges consuetudinis112 und hat damit das Rechte getroffen, da der Rechtsprechervortrag – wenn das Thing ihn widerspruchslos anhörte – damit als Gesetz anerkannt war. So zeigt sich insgesamt, dass zwar der Fragen zu den skandinavischen Rechtsquellen des Mittelalters noch viele sind, dass jedoch die Zahl der Rechtshistoriker, die sich um Antworten bemühen, zur Zeit gering ist. Gleichwohl bleibt die mittelalterliche skandinavische Rechtsgeschichte ein unverzichtbares Forschungsfeld, das weiter beachtet und beackert zu werden verdient.
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In der Urkunde vom 10. März 1206, Druck in: Diplomatarium Svecanum, Bd. I, Nr. 131, S. 156 f.
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 317–388 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
Heilkunde bei den Germanen Gundolf Keil* Über die Heilkunde bei den Germanen schreiben zu wollen ist angesichts der augenblicklichen Forschungslage ein mehr als gewagtes Unterfangen. Im Hinblick auf die vielfach kontrovers interpretierten Resultate archäologischer, anthropologischer, (prae)historischer, sozialgeschichtlicher und sprachwissenschaftlicher Forschungen ist man von der „Definition eines multi- oder interdisziplinären Germanen-Begriffes“1 derzeit weiter entfernt als noch vor wenigen Dezennien. Ohne auf kulturräumliche Dimensionen wie die der Jastorf-Kultur oder Przeworsk-Kultur einzugehn oder auf die Differenzierung anhand von Kunststilen abzuheben, scheint es am verläßlichsten, von jener Sprechergemeinschaft auszugehn, die aus dem westlichen indogermanisch-alteuropäischen Kontinuum heraus im 8. vchr. Jh. das Urgermanische (oder dessen Vorstufe) entfaltete, sich dann ins Nordgermanische, Anglofriesische und Kontinentalgermanische (sowie in die Wandergemeinschaft des Ostgermanischen) teilte und aus dem Nordund Kontinentalgermanischen die neueren germanischen Sprachen bzw. Dialekte entwickelte. Die komplexen Abläufe, die von Annäherung und Entfremdung ebenso geprägt sind wie von Überdachungen, Superstratbildungen und konvergierenden Zusammenschlüssen, erlauben, ein primäres nordgermanisches Kontinuum von einem sekundären kontinentalgermanischen zu unterscheiden, und weisen für die Frühzeit der Entfaltung auf die Nähe zum Baltischen hin, während im (Nord-)Westen die anscheinend italischen oder vorindogermanischen Gruppierungen des Nordwestblocks die
* Für kritisches Gegenlesen des Manuskripts und weiterführende Hinweise bin ich Christoph Weißer (Würzburg) zu Dank verbunden. 1 Heiko Steuer, Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde, III. Archäologie, C. Wirtschafts- und Sozialgeschichte“. In: RGA 11 (1998), S. 327– 356, hier S. 328, 332 und öfters.
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Germania von der Keltiké trennen.2 In dieser nordwestlichen Randlage des indoeuropäischen Sprachraums ist das Germanische in Norddeutschland von der Ems bis zur Weichsel, in Dänemark und im südlichen Skandinavien zu verorten, von wo es dann durch Wanderung, Besiedelung und Akkulturation weiter nach Westen, Süden und Osten ausgreift. Dabei erschließt es sich durch Besiedelung auch den Norden Skandinaviens bis zum Polarkreis und darüber hinaus – von Island, Grönland, Neufundland,3 Shetland,4 den Orkneys und den Faröern5 ganz zu schweigen. In den ursprünglichen Siedelräumen waren die Germanen sulpolaren bis boreal-kühlgemäßigten Klimaeinflüssen ausgesetzt; in mediterran-subtropischer Umgebung scheinen sie sich weniger gut behauptet zu haben als in kaltfeuchten Klimata. Den klimatischen Bedingungen war die Lebensweise angepaßt: Bei allen germanischen Gruppierungen handelt es sich um bäuerliche Viehzüchter, die gentilgesellschaftliche Grundstruktur bei geringer stratigraphischer Differenzierung zeigen und Formen der Hierarchisierung erst spät unter keltischem bzw. römischem Einfluß entwickeln. Angebaut werden Kulturpflanzen wie die (meist im oberen Euphrat-Tigris-Becken) domestizierten Getreide-, Hülsenfrucht-, Obst- und Gemüsearten.6 Bei Feld-Graswirtschaft, Fruchtwechsel und Streusiedlung innerhalb der Ackerfluren, die gemeinsam bewirtschaftet werden, bilden sich über den Weidegang Agrarverfassungen wie die Allmende heraus, die eine Nutzung von Brache und Futterwald innerhalb von Gemarkungen regeln. Im Gegensatz zu den Gemarkungsgrenzen, die bemerkenswerte Konstanz zeigen, erweisen sich die Standorte von Hof und Dorf als inkonstant und sind innerhalb der Ackerflur ständigen Verlagerungen unterworfen.7 2
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Elmar Seebold, Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde, II, B. Sprache und Schrift“. In: RGA 11 (1998), S. 275–305. Manfred Kurt, Artikel „Amerika, 1. Skandinavische Entdeckungsfahrten“. In: Lexikon des Mittelalters 1 (München, Zürich 1980), Sp. 527–529. Wilhelm Fritz Hermann Nicolaisen, Artikel „Orkneyinseln“ und „Shetlandinseln“. In: RGA 22 und 28 (2003 und 2005), S. 214 f. und S. 259–263. Peter Kosgaard, Artikel „Färöer“; Ulrich Müller, Artikel „Faröische [lies: Färingische] Balladen“. In: Lexikon des Mittelalters 4 (München, Zürich 1989), Sp. 300 f. und Sp. 302. Manfred Rösch, Artikel „Kulturpflanzen“. In: RGA 17 (2001), S. 457–459, mit Hinweis auf Weizen, Gerste, Hafer, Roggen, Erbsen, Linsen, Wicken, Möhren, Zwiebeln, Äpfel und Birnen, ferner mit Nennung von Rüben, Beten, Kohl, Kohlrabi, Eppich (‚Sellerie‘), Schwarzwurzel, Mangold u.a. Steuer, „Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ (wie Anm. 1), S. 338, 344; vgl. auch Heiko Steuer, Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde, III. Archäologie, B. Ursprung und Ausbreitung der Germanen“. In: RGA 11 (1998), S. 318–327, hier S. 318–322.
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Und damit ist der Bereich der Heilkunde erreicht: Hausbau, Hauserneuerung und ständige Standortverlagerung, „die von einer ortsfesten“, gemarkungsgebundenen „Bevölkerung getragen wurde“, lassen sich als Antwort auf klimatische Herausforderungen interpretieren und gehören entsprechend in das Gebiet der Hygiene. Im Gegensatz zu den kleinen – wenn nicht winzigen – Block- und Grubenhäusern der Slaven und im Kontrast zur keltischen sowie römischen Steinbauweise bestimmen ebenerdige Wohnstallbauten das Siedlungsbild bei den Germanen. Sie weisen rechteckig(-langoval)en Grundriß auf, sind in Pfostenbauweise erstellt, aus Holz gefertigt, mit Torf, Stroh oder Ried gedeckt und werden von lehmverkleideten Wänden umschlossen, deren Binnenstruktur aus Flechtwerk, Stäben oder Bohlen besteht (sofern sie nicht aus Soden aufgeführt wurden).8 Der Fußboden war gestampft und wies in der Regel einen Lehmestrich auf, der in Ausnahmefällen durch Rost- bzw. Dielenkonstruktionen unterfangen sein konnte und für den die aufliegende Strohschütte nicht unüblich war.9 Obligat sind die Wohnstallbauten als Langhaus angelegt mit einer axialen Ausdehnung von durchschnittlich 15– 20 Metern, die im Extremfall 48–50 m erreichte. Bei einer Breite von 4 bis über 10 m übernahmen Firstsäulen die dachtragende Funktion, die – axial gereiht – bei Einerreihe eine zweischiffige, bei Dreierreihe eine vierschiffige Raumaufteilung bewirkten. Gängig war das dreischiffige Wohnstallhaus mit zwei längsgeordneten Firstsäulenreihen, die den langgestreckten Raum in drei Areale aufteilten: Beidseits entlang der Wände erstreckten sich im Wohnteil die Fletten, die leicht erhöht sein konnten, Bänke aufwiesen und zum Sitzen sowie Schlafen genutzt wurden. Das Golf als Mittelstreifen war breiter als die beiden Fletten zusammen und trug im Wohnteil die Feuerstelle. Ein Kamin bzw. Schornstein war nicht vorhanden; der Rauch zog durch das Stroh, Ried oder den Torf der Dachhaut10 ab. Das germanische Wohnstallgebäude war allenfalls unvollkommen isoliert. Die in Skandinavien, Jütland und teilweise auch im kontinentalgermanischen Gebiet herrschende West-Ost-Ausrichtung der Längsachse läßt erkennen, daß man im Sinne eines „lamellar air flow“ mit einer Luftbewegung im 8
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Heinrich Beck, Artikel „Haus. 1. Sprachliches. a. Indoeuropäisch“ sowie Brigitte Bulitta, Artikel „Haus. 1. Sprachliches. b. Germanisch.“ In: RGA 14 (1999), S. 57– 59 bzw. S. 59 f.; Trond Løken, Lennart Carlie, Jørgen Lund, Artikel „Siedlungs-, Gehöft-, Hausformen. I. Norwegen./II. Schweden/III. Dänemark.“ In: RGA 28 (2005), S. 282–293, 293–301, 301–314. Heinrich Beck, Rosemarie Müller, Artikel „Fußboden. 1. Sprachliches. 2. Archäologisches“. In: RGA 10 (1998), S. 269 f. und S. 270–271. Heinrich Beck, Hermann Hinz, Artikel „Dach. 1. Philologisches. 2. Archäologisches“. In: RGA 5 (1984), S. 123–130 und S. 130–133.
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Hause rechnete, die bei vorherrschender Westwetterlage ostwärts gerichtet war: Insofern ist der Wohnbereich in den west-ostwärts orientierten Langhäusern obligat auf der Westseite des Gebäudes lokalisiert, während die Stallungen (mit der Tenne) im Ostteil des Gebäudes untergebracht waren. Bei vorherrschenden Westwinden zog der Rauch von der Feuerstelle also nach Osten ab, ohne den Wohnbereich unnötig zu beizen. Und von den lästigen Stallgerüchen blieb der Wohnbereich des Hauses bei Westwetterlage ebenfalls verschont. Schließlich vertrieb der Rauch im Haus die Insekten und schützte vor Mückenplage, Bremsen und anderem unerwünschtem Ungeziefer.11 Es hat germanische Häuser gegeben, für die sich eine kontinuierliche Nutzung über einen längeren Zeitraum nachweisen läßt;12 in der Regel wurden sie jedoch nur „eine Hausgeneration“ lang – und das sind 20 bis 40 Jahre – bewohnt und dann abgerissen, um durch einen in der Nähe errichteten Neubau ersetzt zu werden. Diese Verschiebung und Neuaufstellung in Generationenfolge kann als weitere hygienische Maßnahme gewertet werden, da sie sich gegen Nager und anderes Ungeziefer richtete und außerdem der haus-umgebenden Nitrat-Phosphat-Belastung Rechnung trug: Das germanische Wohnstallhaus verfügte über keinen Abort; ausfließende Jauche sowie in Hausnähe abgesetzte menschliche Exkremente, dazu organische Abfälle führten zu erhöhten Phosphatkonzentrationen, die das Gebäude umgaben, sich bis heute hielten und inzwischen in der archäologischen Geländeforschung sich als Grundlage eines vielgenutzten Prospektionsverfahrens bewährt haben: Mit der Phosphatmethode lassen sich Stallungen, Dungplätze, Viehtriften und Flächen der Kleintierhaltung ebenso aufspüren wie Abfallplätze und bevorzugte Abtritte.13 Wo Latrinen bzw. Kloaken bestanden, geben sie Aufschluß über bakterielle Infektionen sowie parasitäre Infestinationen.14 In den Bereich der Hygiene gehört neben dem Haus die Kleidung.15 Sie unterliegt zahlreichen modischen Einflüssen keltischer und insbesondere römischer Provenienz, weist trotz allen Schwankungen und Akzessoirs aber 11
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Gundolf Keil, Artikel „Ungeziefer“. In: RGA 31 (2006), S. 481–483: Osmische Repellentien. Lund, Hausformen (wie Anm. 8), S. 310. Jörg Lienemann, Artikel „Naturwissenschaftliche Methoden in der Archäologie, 11. Phosphatmethode“. In: RGA 20 (2002), S. 609–610; Jörg Lienemann, Artikel „Prospektionsmethoden, 4. Phosphatanalyse“. In: RGA 23 (2003), S. 497–499. Bernd Herrmann, Parasitologische Untersuchungen mittelalterlicher Kloaken. In: Mensch und Umwelt im Mittelalter, hrsg. von Bernd Herrmann (Stuttgart 1986, 4. Auflage Frankfurt a.M. 1989), S. 160–169. Vgl. Anm. 93. Johanna Banck-Burgess, Mechthild Müller, Artikel „Kleidung. Mesolithikum – Ka-
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doch einige Grundelemente auf, die spätestens ab der Eisenzeit begegnen und im Hinblick auf Umwelt und Lebensgewohnheiten sich durchaus als zweckmäßig erweisen. Der Mann trägt als Untergewand ein kittelartiges, langärmeliges Hemd, darüber als Obergewand einen tunika-artigen Rock; der umhangartige Mantel wird über der Schulter gefibelt; die langen, eng anliegenden Hosen (germanisch *brōk, altnordisch brók, altsächsisch brôc, ins Keltische entlehnt als brāca, bracca, althochdeutsch bruoh, gegenwartssprachlich Bruch)16 laufen fakultativ in Füßlingen aus; der winterliche Fellumhang wendet die Haarseite nach innen und wird als Kapuzenmantel getragen; große, viereckige Tücher und Wämser schützen zusätzlich vor Kälte; wadenhohe Schuhe,17 durch Schnürsenkel oder Riemen geschlossen, wurden durch eng gewickelte Beinbinden (rolbinden) ergänzt und konkurrierten mit kniehohen Stiefeln; im Sommer reichten Sandalen aus. – Für die Frau wurden „schlauchförmige Gewebestücke, die aus eínem Webstück bestehen“, nahtlos auf Rundwebstühlen „in Form“ gewoben und als knöchellanger Rock getragen; je eine Fibel über den Schultern sorgte für die Halterung; die Drapierung des Kleidungsstücks zeigt Einflüsse des griechischen péplos; „wärmende Untergewänder“ (Hemden) werden vorausgesetzt; große rechteckige Tücher, die an den gegenüberliegenden Seiten zusammengenäht wurden, standen mit dem Rundgewebe in Konkurrenz. – Säuglinge wurden als Wickelkind18 mit Leinenwindeln gewickelt; Kleinkinder trugen ausschließlich ein unten offenes Leinenhemd.19 – Die Gewebe bestanden aus Wolle oder Leinen; die Fäden erreichten Kammgarnqualität; bei Obergewändern wurde rot(braune)e Färbung bevorzugt; von hoher Webkunst zeugt die Brettchenweberei,20 die seit der Eisenzeit begegnet, für gewobene Seitenkanten (Borten) genutzt wurde und mit ihrer farbigen Musterbildung beeindruckt.
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rolingerzeit“. In: RGA 16 (2000), S. 603–617; Inga Hägg, Artikel „Kleidung. Wikingerzeit“. In: RGA 16 (2000), S. 617–625. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, weitergeführt von Alfred Götze und anderen, 24. Auflage besorgt durch Elmar Seebold (Berlin, New York 2002), S. 153. Elmar Seebold, Artikel „Schuhe. 1. Sprachliches“. In: RGA 27 (2004), S. 348–350; Rosemarie Müller, Artikel „Schuhe. 3. Archäologisches“. In: RGA 27 (2004), S. 357–362. Johannes Steudel, Abschied vom Wickelkind, Grünenthal-Waage 2 (1961), S. 3–12. Gert Kreutzer, Artikel „Kinder. 1. Sprachliches – 7. Das Ende der Kindheit“. In: RGA 16 (2000), S. 526–534, hier S. 530; Wolf-Rüdiger Teegen, Artikel „Kinder. 8. Archäologisches und Paläopathologisches“. In: RGA 16 (2000), S. 534–540. Kurt Schlabow, Artikel „Brettchenweberei“. In: RGA 3 (1978), S. 445–450.
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Abb. 1: Fragment eines gemusterten Brettchengewebes aus dem frühkeltischen Fürstengrab von Eberdingen-Hochdorf. Die Kette verläuft senkrecht (nach BanckBurgess, Kleidung [wie Anm. 15] S. 609 Abb. 65).
In den Hygiene-Bereich gehört neben Haus und Kleidung auch die Ernährung, die sich auf die Konstitution – ablesbar an den Körperhöhen von Populationen – auszuwirken pflegt.21 Der Alltagskosttyp bei den Germanen 21
Helmut Wurm, Körpergröße und Ernährung der Germanen im Mittelalter. In: Mensch und Umwelt im Mittelalter, hrsg. von Bernd Herrmann (Stuttgart 1986, 4. Auflage Frankfurt/Main 1989), S. 101–108; Helmut Wurm, Über die Ernährungsverhältnisse bei den germanischen Wander- und Siedelstämmen der Völkerwanderungs- und Merowingerzeit. Scripta Mercaturae 20, 1986, S. 93–142; Helmut
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war (wie bei bäuerlichen Viehzüchtern mit Feld-Gras-Wirtschaft nicht anders zu erwarten) ebenso ausgewogen wie abwechslungsreich.22 Neben das Fleisch der Nutztiere, das Milcheiweiß von Kühen, Ziegen und Schafen23 traten die Kohlehydrate der Getreide, ergänzt durch Nüsse, Hülsenfrüchte, Obst und Gemüse. Eine zentrale Rolle spielte der Fischfang,24 der die aus Ackerbau und Viehhaltung erwirtschafteten Nahrungsmittel als Hauptnahrungsquelle ablösen konnte. Im Binnenland waren es Hecht, Barsch, Wels, Stör und Karpfenfische; an der See standen Hering und Dorsch im Vordergrund, die – als Stockfisch oder Salzhering konserviert – auch gehandelt wurden und regional als Währung galten. Der Fischfang auf See bezog die Robbenjagd und den Walfang mit ein; eingesammelt wurden darüber hinaus die Eier von Meeresvögeln, und dies in so großem Stil, daß ein Artensterben unvermeidbar wurde.25 Im Gegensatz zum Fischfang und dessen wachsender Bedeutung ist der Anteil der Jagd an der Ernährung seit dem Neolithikum ständig zurückgegangen. Für die Deckung des Fleisch- und Fettbedarfs standen in zunehmendem Maße Haustiere zur Verfügung, was den Anteil der Wildtierknochen an den einschlägigen Fundmengen auf 10% und weniger absinken ließ.26 Von den bejagten Tieren steht der Hirsch an erster Stelle
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Wurm, Zu Ernährungsverhältnissen und skelettmorphologischen Merkmalen deutscher Populationen im Früh- und Hochmittelalter. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 40, 1992, S. 637–645; Helmut Wurm, Ernährungskonstitutionen, die Geschichte gemacht haben. Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 7, 1989, S. 259–290; 8, 1990, S. 255–277 (sowie 14 [1996], S. 325–358); Helmut Wurm, Forschungen zur Ernährungskonstitution: Absichten, Bilanz und Ausblick, Fachprosaforschung – Grenzüberschreitungen 2/3, 2006/07, S. 473–487. Vgl. Anm. 6. Neben Kleinvieh spielte darüber hinaus die Schweinezucht mit Waldweide und Schweinemast eine Rolle; vgl. Wolf Haio Zimmermann, Winfried Schenk, Ingo Eichfeld, Artikel „Viehaltung und Weidewirtschaft“. In: RGA 32 (2006), S. 348– 355. Johann Tischler, Artikel „Fische. 1. Sprachliches“. In: RGA 9 (1995), S. 120–126; Dirk Heinrich, Artikel „Fisch. 3b. Archäologisches zum Fisch.“ In: RGA 9 (1995), S. 128–130; Dirk Heinrich, Artikel „Fischerei und Fischereimethoden. 1. Archäologisches“. In: RGA 9 (1995), S. 130–138; Johann Tischler, Artikel „Fischerei und Fischereimethoden. 2. Fischfang in den verschiedenen Texten“. In: RGA 9 (1995), S. 138–140; Else Ebel, Artikel „Literarisches zur Fischerei im Norden“. In: RGA 9 S. 140–146. Erinnert sei an den geirfugl, den ausgestorbenen arktischen Repräsentanten der Pinguine; siehe Sveinbjörn Rafnsson, Torsten Capelle, Artikel „Island“. In: RGA 15 (2000), S. 524–534, hier S. 529. Hans Reichstein, Tierknochenfunde: Eine Quelle zur qualitativen und quantitativen Erfassung des Nahrungskonsums? In: Determinanten der Bevölkerungsentwick-
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(wobei die abgeworfenen Stangen, die zu Gebrauchsgegenständen verarbeitet wurden, die archäologischen Befunde zugunsten des Cervus elaphus ein wenig schönen). Für das Wildbret bzw. die Versorgung mit Wildtierfleisch spielte das Wildschwein wahrscheinlich die dominierende Rolle, gefolgt vom Reh, dessen Bestände durch die Rodungen ab dem Hochmittelalter begünstigt waren. Vom Übergang geschlossenen Waldlands in eine licht bewaldete Kultursteppe profitierte schließlich der Hase, bei dem die bäuerlichen Jagd- und Fangmethoden archaische Vorgehensweisen erkennen lassen.27 Elch, Wisent und Auerochse traten demgegenüber zurück; dem Biber (und Fischotter) wurden die christlichen Fastengebote zum Verhängnis;28 im Alpenraum trug die Gemse maßgeblich zur Versorgung mit Wildtierfleisch bei. Den Bären hat man als Raubwild verfolgt, sein Fleisch als Delikatesse geschätzt, sein Fett ebenso wie das Dachsschmalz medizinisch verwendet.29 – Unter den Vögeln wurden Enten, Gänse, Säger, Scharben,30 Lummen und Reiher als Nahrungsquelle genutzt; daneben aß man größere Singvögel, die man leimte, mit dem Kloben klemmte, lockte,31 täuschte, umgarnte, mit Ködern betäubte und flugunfähig machte.32 – Nicht nur gejagt (gezeidelt), sondern über Waldbienenzucht und Hausbienenzucht auch als Nutztier ausgebeutet wurde die Biene,33 die über den Honig den
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lung im Mittelalter, hrsg. von Bernd Herrmann, Rolf Sprandel (Weinheim an der Bergstraße 1987), S. 127–142; Hans Reichstein, Artikel „Jagd. 2. Jagdwild“. In: RGA 16 (2000), S. 4–8. Gundolf Keil, Artikel „Vogelfang und Hasensuche“, In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl. Bd. 10 (Berlin, New York 1999), Sp. 484– 486. Christian Hünemörder, Artikel „Biber. 2. Lebensweise“. In: Lexikon des Mittelalters 2 (München, Zürich 1983), Sp. 106–107. Christian Hünemörder, Gundolf Keil, Artikel „Dachs“. In: Lexikon des Mittelalters 3 (München, Zürich 1986), Sp. 427–428; Christian Hünemörder, Sigrid Schwenk, Artikel „Bär“. In: Lexikon des Mittelalters 1 (München, Zürich 1980), Sp. 1431 f.; Marian Elizabeth Polhill, Hans Minners ‚Tierbuch‘ (ca. 1478): Edition – Kommentar – Wörterbuch. Würzburger medizinhistorische Forschungen 88 (Würzburg 2006), S. 98–103. See-, Zwerg-, Krähenscharben, französisch cormorans (aus corvi marini). Gelockt wurde mit Lockvögeln. Keil, Vogelfang (wie Anm. 27); Gundolf Keil, Artikel „Vogelfangbüchlein vom Bodensee“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 10 (1999), Sp. 486–487; Hans Reichstein, Artikel „Vögel“. In: RGA 32 (2006), S. 484–487. Bruno Schier, Artikel „Biene. II. Biene und Bienenwirtschaft“. In: RGA 2 (1976), S. 515–528; Louis Carlen, Artikel „Bienenrecht“. In: RGA 2 (1976), S. 528–529. – Das Verbum ausbeuten kann genausogut auf Beute ‘Waldbienenstock’ wie auf Beute ‘(Verteilung des Gewinns), Kiegsbeute’ bezogen werden; vgl. Kluge, Seebold, Etymologisches Wörterbuch (wie Anm. 16), S. 74 und S. 117.
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einzigen Süßstoff lieferte und damit zugleich die Grundlage für den Met bereitstellte, der als „ältestes … gegorenes Getränk Mittel- und Südeuropas“34 seit der römischen Kaiserzeit bei den Germanen in Konkurrenz zum – aus unterschiedlichen Getreidearten gebrauten – Bier trat. Zu den wichtigsten Hygienemaßnahmen germanischer Völker gehörte zweifellos der Mutterschutz bzw. die Säuglingsfürsorge.35 Beide Bereiche waren aufeinander abgestimmt und wurden motiviert durch das Bestreben, dem wachstumslimitierenden Faktor existenzbedrohender Kindersterblichkeit entgegenzuwirken.36 Daß „noch im 16. Jh. nur etwa die Hälfte“ der Kinder „das fünfte Lebensjahr … erreichte“, läßt die Dimensionen gefährdeter Kindheit erahnen und wird bestätigt durch modernere demographische Erhebungen, die teilweise noch ungünstigere Verhältnisse aufzeigen: In Ulm an der Donau übersteigt die Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit bis Mitte des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus noch die 50%-Marge; in Württemberg stirbt über ein Drittel der Neugeborenen bereits vor Vollendung des ersten Lebensjahrs;37 die Generationenfolge liegt um 1850 bei grade noch 25 Jahren. Dieser existenzbedrohenden Kindersterblichkeit sind germanische Völker von mehreren Seiten entgegengetreten. Zunächst von Seiten der Sexualmoral: „Die Kastration des Mannes wurde als ‚höchste Wunde‘ gewertet und wie ein Totschlag mit der ‚schweren Acht‘ (d.h. Friedlosigkeit) belegt bzw. durch die ‚volle Mannesbuße‘ geahndet“; auf die Kastration der Frau, die (mit Entfernung der Eierstöcke) freilich erst an der Schwelle zur Neuzeit 34
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Michael Lundgreen, Artikel „Met“. In: RGA 19 (2001), S. 618–622; Maria Hopf, Günter Wiegelmann, Artikel „Bier“. In: RGA 2 (1976), S. 530–537. Gundolf Keil, Artikel „Schwangerschaft“. In: RGA 27 (2004), S. 413–419; Gundolf Keil, Artikel „Wöchnerin“. In: RGA 34 (2006), S. 174–181; vgl. auch Gundolf Keil, Die Frau als Ärztin und Patientin in der medizinischen Fachprosa des deutschen Mittelalters. In: Frau und spätmittelalterlicher Alltag, hrsg. von Harry Kühnel. Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 473 = Veröffentlichungen des Instituts für mittelalterliche Realienkunde Österreichs 9 (Wien 1986), S. 157–211; Gundolf Keil, Arzt und Patientin im Mittelalter. In: TABU. Über den gesellschaftlichen Umgang mit Ekel und Scham, hrsg. von Anja Hesse, Hans-Joachim Behr, Alexander Schwarz, Annette Boldt-Stülzebach. Braunschweiger kulturwissenschaftliche Studien: Veröffentlichungen des Fachbereichs Kultur der Stadt Braunschweig, Abteilung Kulturpflege, Literatur und Musik 1 (Berlin 2009), S. 161–200. Kreutzer, Kinder (wie Anm. 19), S. 530, 531. Rudolf Max Biedermann, Ulmer Biedermeier im Spiegel seiner Presse. Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 1 (Ulm 1955), S. 181 und S. 203 f. – Im kontinentalgermanischen Frühmittelalter war die Kindersterblichkeit signifikant geringer (Sterbeziffer der Subadulten bei 45–46%); vgl. Böhme, Beginn des Mittelalters (wie Anm. 293), S. 218–221.
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belegt ist, stand Todesstrafe. Sexuelle Abartigkeit wurde nicht geduldet: bei Sodomie wurde der Überführte entmannt und des Landes verwiesen; wer als Mann der Homosexualität überführt und dabei ertappt wurde, daß er seine Zeugungskraft vergeudete, verlor sein Vermögen und wurde friedlos gestellt, wenn man ihn nicht im Moor versenkte.38 Schon wer einen andern des Schwulseins bezichtigte, dem drohte wegen schwerster Beleidigung die Friedlosigkeit. Strafbewehrt war in Island auch jede Art der Transvestie. Dagegen fielen die Strafen bei Notzucht in der Regel glimpflicher aus;39 lediglich bei Frauenraub und Entführungsehe konnte die Todesstrafe verhängt werden,40 wenngleich auch hier die Kapitalstrafe in der Regel vermieden wurde und meist eine nachträgliche Einigung zur Straffreiheit führte. Vom Manne wurde erwartet, daß er den Aufgaben des Zeugens gerecht wurde. Männliche Impotenz galt (wenn sie nicht durch Verletzung oder Krankheit verursacht war) als Trollwerk und wurde durch Gegenzauber behandelt; erwies sich das vanmegin als therapierefraktär, folgte die Eheauflösung. Einen Mann, der den Beischlaf scheute und als fuð-flogi den Koitus floh, ereilte die gleiche Strafe wie den Homophilen: er wurde friedlos gestellt. Angestrebt war eine harmonische Ehe, die zu Kinderreichtum führte und den Fortbestand nicht nur der Sippe sicherte. „Reinheit des Blutes“ wurde vorausgesetzt. Die Eheleute sollten „Freude aneinander“ haben und beim Geschlechtsverkehr „einander genießen“. Ein Mann, der seine Frau häufig schwängerte (mehr als 30 Geburten sind bezeugt), galt als kvennamaðr mikill und führte die Bezeichnung „großer Frauenmann“ wie einen Ehrentitel. Die Frau war unter besonderen Schutz gestellt. Starb infolge Hausfriedensbruchs eine Frau, betrug die Strafe das doppelte Wergeld; war sie schwanger, wurde das dreifache Wergeld fällig; stellte sich heraus, daß sie Zwillinge getragen hatte, wurde die ungeheure Summe von 160 Mark – das vierfache Wergeld – eingezogen. Der Rechtschutz für die Schwangere griff weiter: Werdende Mütter durften weder innerhalb noch außerhalb der Sippe geschlagen werden, was den Gewaltverzicht engster Verwandter einbezog. Zuwiderhandlungen wurden bei gewaltbedingtem Abort mit dem halben, bei gewaltbedingter Totgeburt mit vollem Wergeld geahndet. Der Rechtsschutz ging so weit, daß er straf38
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Vgl. hierzu auch Else Ebel, Artikel „Sittlichkeitsdelikte“. In: RGA 28 (2005), S. 515–522. In der Regel wurden Geldstrafen verhängt; bei Notzucht unter Angehörigen des Gesindes drohte dem vergewaltigenden Knecht, daß er „mit seinem Gliede büßen“ mußte. Ebel, Sittlichkeitsdelikte (wie Anm. 38), S. 516.
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fällig gewordene Schwangere – selbst wenn sie geächtet oder in Unheiligkeit gefallen waren – außer Vollzug stellte und eine Bestrafung erst dann zuließ, wenn sie aus dem Wochenbett aufgestanden waren. Abtreibung war in hohem Maße strafbewehrt,41 wurde aber trotzdem sowohl mechanisch wie auch medikamentös praktiziert. Das Neugeborene auszusetzen war Vaterrecht; für unerwünschte Kinder sowie für alle unehelich Geborenen hat man Vormünder bestellt und die Eingliederung in eine Sippe angestrebt. In Ermangelung einer Säugamme wurden mutterlose Säuglinge mit Kuh- oder Ziegenmilch aufgezogen und mit „Brei ernährt, der mit Milch oder Wasser verdünnt war“.42 Bei Umstellung auf Tiermilch kam ein an der Spitze perforiertes Kuhhorn als Vorläufer der Milchflasche zum Einsatz. Die Schwangere wurde mit Amuletten geschützt, die in ihre Schutzfunktion das Ungeborene einbezogen und es beispielsweise gegen Anfallsleiden (Fallsucht) feien sollten. Bei der Niederkunft erhielt sie Unterstützung durch mehr oder minder erfahrene Frauen aus der Sippe oder Nachbarschaft.43 Die Zeit des Wochenbetts wurde auf fünf bis acht Tage (die Dauer der Frühen Lochien [Lochia rubra]) angesetzt; die Stillzeit betrug üblicherweise zwei Jahre; das Einhalten des Abstill-Termins unterlag rechtsrelevanter Regelung. Fruchtbarkeitsfördernde Maßnahmen beschränkten sich bei der Frau, die nach der Menarche als heiratsfähig galt, im wesentlichen auf die Behandlung dysmenorrhoischer Beschwerden; Schwangerschaftsregimina kamen erst gegen Ende des Mittelalters auf 44; eine leistungsstarke Obstetrik mit 41
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Kreutzer, Kinder (wie Anm. 19), S. 531; Keil, Wöchnerin (wie Anm. 35), S. 417 f.; vgl. Teegen, Kinder (wie Anm. 19), S. 538 f. Kreutzer, Kinder (wie Anm. 19), S. 530. Die Situation ist in der Frühmoderne ganz ähnlich; vgl. Eva Labouvie, Frauenkörper – Tabu- und Schamkonzepte in der Vormoderne. In: TABU. Über den gesellschaftlichen Umgang mit Ekel und Scham, hrsg. von Anja Hesse, Hans-Joachim Behr, Alexander Schwarz, Annette Boldt-Stülzebach. Braunschweiger kulturwissenschaftliche Studien: Veröffentlichungen des Fachbereichs Kultur der Stadt Braunschweig, Abteilung Kulturpflege, Literatur und Musik 1 (Berlin 2009), S. 201–215: hier freilich unter den Voraussetzungen einer tiefgreifend gewandelten Mentalität. Gundolf Keil, Artikel „Ps.-Ortolfisches Frauenbüchlein“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 7 (1989), Sp. 82–84; Gundolf Keil, Artikel „[Ps.-] Eucharius Rößlin der Ältere (Rhodion)“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 8 (1992), Sp. 244–248; Bernhard Dietrich Haage, Wolfgang Wegner, Gundolf Keil, Helga Haage-Naber, Deutsche Fachliteratur der Artes in Mittelalter und Früher Neuzeit. Grundlagen der Germanistik 43 (Berlin 2007), S. 53, 204, 237 und öfter; Britta-Juliane Kruse[-Mohn], Verborgene Heilkünste.
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fachlich spezialisierten Geburtshelfern wird vereinzelt ab dem 15. Jahrhundert greifbar (die Vertreter lassen sich den Wundärzten oder Apothekern zuordnen). Das Fundmaterial von Aebelholt45 weist unter 380 weiblichen Bestattungen ein Kollektiv von 50 Frauen im gebärfähigen Alter auf; darunter ist nur eine einzige, die bei der Geburt gestorben zu sein scheint: in ihrem rachitisch verengten Becken steckt der Föt in Steißlage. Säuglinge bzw. Kleinkinder schliefen im Bett der Mutter oder Säugamme, was durch oppressio infantium gelegentlich zu Unfällen mit Todesfolge führte und im Extremfall als Mord geahndet werden konnte.46 Besser geschützt waren sie in der Wiege, die in unterschiedlichen Ausführungen genutzt wurde47 und in ihren ältesten Ausprägungen seit urgermanischer Zeit zur Verfügung stand. In Gestalt der Trogwiege diente sie auch als Kindersarg. Löcher am Boden von Trog-Wiegen sind als Abflußvorrichtungen für den Harn (bzw. für breiig-liquide Exkremente) gedeutet worden, was Zweifel daran aufkommen läßt, ob tatsächlich die Säuglinge in allen Fällen zweibis dreimal täglich gebadet wurden und ob man die Windeln noch häufiger – nämlich „sobald sie schmutzig waren“48 – gewechselt hat. Sollten die zusätzlichen Löcher an den Seitenbrettern bzw. Enden der Trog-Wiegen nicht nur „zum Durchziehen von Schnüren für die Aufhängung“, sondern auch (oder ausschließlich) „zum Anbinden des Kleinkindes“ gedient haben,49 ergibt sich konkurrierend zum Wickelkind eine alternative Versorgung des Säuglings, bei der das Kleinkind in backtrog- oder teigmulden-artigen Holzvorrichtungen mit Schnüren gesichert und auf einem „Pflanzenpolster“ gelagert wurde. Eine solche Behandlung hätte jedenfalls den Betreuungsaufwand reduziert. Germanische Eltern haben ihre Kinder geliebt. Das ergibt sich aus literarischen Quellen, die „von maßloser Trauer“ berichten,50 und das läßt sich an
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Geschichte der Frauenmedizin im Spätmittelalter. Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 239 (Berlin, New York 1996), S. 298–313. Belegungszeit etwa 1200–1550; vgl. Vilhelm Møller-Christensen, Umwelt im Spiegel der Skelettreste vom Kloster Aebelholt. In: Mensch und Umwelt im Mittelalter, hrsg. von Bernd Herrmann (Stuttgart 1986, 4. Auflage Frankfurt/Main 1989), S. 129–139. Kreutzer, Kinder (wie Anm. 19), S. 531. Als Korb-, Trog-, Kufenwiege, letztere als Quer- und als Längsschwinger; vgl. Heinrich Beck, Heiko Steuer, Artikel „Wiege“. In: RGA 35 (2007), S. 678–681. Kreutzer, Kinder (wie Anm. 19), S. 530. Beck, Steuer, Wiege (wie Anm. 47), S. 680. Kreutzer, Kinder (wie Anm. 19), S. 531.
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Kindergräbern ablesen, deren Ausstattung mit Amuletten51 und deren Positionierung in der Traufe des Kirchendachs52 (verbunden mit andern Besonderheiten der Bestattung53) sichtbar macht, daß elterlicher Schutz und elterliche Fürsorge die allzu früh Gestorbenen über den Tod hinaus begleitete. Kinder waren unter besonderen Schutz gestellt. Das zeigt sich vor allem im Rechtswesen, das unmündige Kinder selbst bei Kapitalverbrechen glimpflich davonkommen ließ; das zeigt sich in der Tendenz, die Allgewalt des Vaterrechts (das über Leben und Tod entschied) schrittweise einzuschränken; das läßt sich am Bestreben ablesen, die mütterliche Erziehungsund Verfügungsgewalt zunehmend auszuweiten. Im Alter von zwei Jahren wurden die Kinder abgestillt, nachdem die Heilkunde bis dahin medikamentiv für ausreichende Stilleistung gesorgt und mental den Stillwillen von Mutter bzw. Amme gestärkt hatte. Von Windeln, Wickelbändern (bzw. fesselnden Schnüren) befreit, lernten die Kinder im dritten Lebensjahr laufen, was ihnen hölzerne Gestelle auf Rädern zuweilen erleichterten. Sie standen bis etwa zum siebten Lebensjahr unter Aufsicht; bei Unfällen konnte die Aufsichtsperson juristisch belangt werden. Ab etwa dem siebten Lebensjahr wurden Kinder mit leichteren Aufgaben betraut und zu Tätigkeiten in Haus, Hof sowie zum Viehhüten herangezogen. Bemerkenswert sind die isländischen Kinderspiele54, die – literarisch bezeugt – erkennen lassen, daß Jungen spielerisch zur Ausbildung ihres Charakters geführt wurden und in systematischen Übungen jene Fertigkeiten erlernten, über die sie im Erwachsenenalter verfügen sollten. Wettspiele und Wettkämpfe lehrten sie das Reiten, Segeln, Schwimmen, Jagen und den Umgang mit Waffen. Grabbeigaben in Knabengräbern der Merowingerzeit – insbesondere die speziell gefertigten Kinderwaffen – scheinen derartige Kampfsport-Übungen auch für den Kontinent zu belegen. In den Bereich der Pathologie führt das frühe Ende der Kindheit: Eine feste Altersgrenze für den Eintritt in die Mündigkeit gab es nicht, die Schwankungsbreite liegt zwischen 10 und 15 Jahren mit einem Häufigkeits51 52
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Brigitte Lohrke, Artikel „Kindergräber“. In: RGA 16 (2000), S. 540–543. Lohrke, Kindergräber (wie Anm. 51), S. 542; Keil, Wöchnerin (wie Anm. 35), S. 175. Auffallend ist jener (gegenüber Beisetzungen auf Grabfeldern) überwiegende Anteil an Siedlungsbestattungen; auffallend ist auch die – verglichen mit der Altersgruppe Infans II – reichere Ausstattung von Säuglingsgräbern; auffallend ist ferner, daß man Säuglinge relativ selten verbrannt hat und daß man Kinder in Gruppen beisetzte oder Erwachsenen mit ins Grab legte, gleichsam um sie deren Schutz und Geleit anzuvertrauen. – Vgl. zur Deutung von Bestattungen im Wohn- oder Stallteil von Häusern auch Teegen, Kinder (wie Anm. 19), S. 537. Gert Kreutzer, Artikel „Kinderspiele“. In: RGA 16 (2000), S. 543–548.
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gipfel bei 12. Das bedingte einen bemerkenswert frühen Eintritt in die Arbeitswelt und schlägt sich nieder an Überlastungserscheinungen infantiljuveniler Skelette.55 Während Mädchen zu Haus-, Hof-, Stallarbeiten herangezogen wurden und das Spinnen, Weben und Beaufsichtigen übernahmen, halfen in die Mündigkeit entlassene Buben als Kinder bzw. Jugendliche bei allen übrigen Arbeiten mit, was Tätigkeiten in der Fischerei, in (Salz-)Bergwerken56 sowie „in der Massenproduktion von Gütern wie Keramik“ mit einbegriff. Einblutungen in Ursprungs- und Ansatzstellen von Muskeln bzw. Sehnen, oft vergesellschaftet mit Mikrofrakturen (wenn nicht mit Abrissen einzelner Dornfortsätze der Wirbelsäule) waren die Folge; nach der Heilung erscheinen die Muskelansatzstellen „rauh bzw…. auszipfelnd“. Besonders stark von der arbeitsphysiologischen Überbeanspruchung waren die Schlüsselbeine betroffen, die in einigen Kohorten juveniler Skelette zu über 80% „extreme Ausziehungen“ zeigen, was auf Schwerstarbeit von Kindern und Jugendlichen deutet. Wenn Kinder – was anzunehmen ist – wegen ihrer hohen Nah-Akkomodation57 bei der Fertigung hochwertiger Kettenpanzer58 eingesetzt wurden, dürfte das bei längerer Tätigkeit zu „schweren Augenschäden“ geführt haben, worunter hochgradige Myopie zu verstehen ist – : und die war bis zu Frans Donders59 nicht zu korrigieren. Kindesmißhandlungen waren bei den Germanen offensichtlich signifikant seltener als im gegenwärtigen Europa; allerdings beanspruchte man beim Spielen den kleinkindlichen Organismus gelegentlich bis an die Grenzen seiner mechanischen Belastbarkeit. Bei älteren Kindern zeigt sich stattdessen ein höheres Unfallrisiko.60 – Die Kinderkrankheiten als solche bewegen sich im Rahmen des Erwarteten. Aufgrund schriftlicher Quellen sind identifiziert worden: Grippe, Keuchhusten, Masern, Lungenleiden.61 Bei der Diagnose „Lungenschwindsucht“ scheint hinsichtlich Beurteilung Zurück55 56
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Teegen, Kinder (wie Anm. 19), S. 543. Müller, Schuhe (wie Anm. 17), S. 359: (Frauen- oder) Kinderschuhe in tonnenlägigen Stollen von Salzbergwerken. Die durchschnittliche Akkomodationsbreite des Zwölfjährigen beträgt 12 Dioptrien, was ein scharfes Sehen noch in 8 bis 9 cm Entfernung ermöglicht und damit Feinarbeiten in der Nähe wie unter Lupenvergrößerung erlaubt; siehe [Otto Dornblüth, Willibald] Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 261 [= 44.] Auflage besorgt von Martina Bach u.a. (Berlin, New York 2007), S. 16a. Kompositpanzer: Teegen, Kinder (wie Anm. 19), S. 534. Barbara I. Tshisuaka, Artikel „Frans Cornelis Donders“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte, hrsg. von Werner Erich Gerabek, Bernhard Dietrich Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner, 2. Auflage, 1 (Berlin 2007), S. 322: 1818–1889. Teegen, Kinder (wie Anm. 19), S. 535 f. Kreutzer, Kinder (wie Anm. 19), S. 531.
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haltung geboten:62 Bei den 760 Aebelholter Skeletten des 13. bis frühen 16. Jahrhunderts ist der osteoarchäologische Nachweis von Tuberkulose nur ausnahmsweise gelungen.63 Erwachsene zeigen vergleichbare Erscheinungsbilder, angefangen mit osteoarchäologisch greifbaren Skelettveränderungen: „Arthrotische“ Schäden an den Gelenken der großen Arm- und Beinknochen“ deuten bei adulten und maturen Individuen auf „schwere körperliche“ Belastung, wobei Männer stärker betroffen sind als Frauen. In der Altersklasse der Greise gleicht sich dieser Geschlechterunterschied aus64. Zahnkaries ist relativ selten, was an der damaligen Ernährung gelegen haben mag, bei der angenommen werden darf, daß sie „die Selbstreinigung des Gebisses im Sinne antikariöser Wirkung unterstützte“65. Erwähnung verdienen Befunde, die einen Zusammenhang zwischen granulomatös beherdeten Zähnen und „degenerativ entzündlichen Sekundärerkrankungen der Wirbelsäule“ erkennen lassen.66 Nicht unbedingt zu den Sekundärkrankheiten der Schwindsucht gehört der Pottsche Buckel, der sich bei Spondylitis tuberculosa einstellt. Die tuberkulöse Wirbelsäulenentzündung führt zur keilförmigen Deformierung der Wirbelkörper bei gleichzeitiger Verschmälerung der Bandscheiben und ausgeprägter Kyphose:67 das Aebelholter Skelett mit extremer Buckel-Bildung68 62 63
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Gundolf Keil, Artikel „Tuberkulose“. In: RGA 35 (2007), S. 283–287. Møller-Christensen, Skelettreste (wie Anm. 45), S. 131 f.: Pottscher Höcker. – Der Anteil am Gesamtmaterial liegt bei knapp 0,3%. Im Fundmaterial aus Altägypten ist der Anteil möglicherweise größer; vgl. Eugen Strouhal, Evidence of some rare pathologies from the new kingdom necropolis at Saqqara. In: Papyrus Ebers und die antike Heilkunde. Akten der Tagung vom 15.–16.3.2002 in der Albertina/UB der Universität Leipzig, hrsg. von Hans-Werner Fischer-Elfert. Philippika: Marburger altertumskundliche Abhandlungen 7 (Wiesbaden, 2005), S. 103–120, hier S. 110–112. Møller-Christensen, Skelettreste (wie Anm. 45), S. 133. Møller-Christensen, Skelettreste (wie Anm. 45), S. 132. – Anhand 197 vollständigen Gebissen des Aebelholter Materials kommt Møller-Christensen auf „nur knapp 6% kariöse“ Zähne; das Fundgut aus Südwestdeutschland bietet weniger günstige Relationen; vgl. Alfred Czarnecki, Christian Uhlig, Rotraut Wolf, Menschen des Frühen Mittelalters im Spiegel der Anthropologie und Medizin. Württembergisches Landesmuseum Stuttgart: Begleitheft zur Ausstellung (Stuttgart 1982); vgl. auch Markus Hedemann, Zahn- und Kieferbefunde an Schädeln des frühmittelalterlichen Gräberfeldes Schwanenstadt/Niederösterreich, med. Diss. Marburg an der Lahn 1988. Die entsprechend interpretierten Spondylitis-Befunde sind am Aebelholter Fundgut von Møller-Christensen gemacht worden, der bekennender Anhänger der Päßlerschen Lehre von den Fokalinfektionen war und insbesondere das von W. Hunter 1910 vorgetragene Konzept der stomatogenen („oralen“) Fokalinfektion vertrat. Keil, Tuberkulose (wie Anm. 62), S. 285–286. Møller-Christensen, Skelettreste (wie Anm. 45), S. 133, Abb. 2. Christoph Weißer
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stammt von einem etwa 40jährigen Mann, der an seinem nahezu rechtwinkligen Wirbelsäulenknick gestorben ist (dies aber im späten Mittelalter). Vitamin-D-Mangel hat – ähnlich wie die Tuberkulose – anscheinend keine wesentliche Rolle bei den germanischen Völkern gespielt. Die Aebelholter Funde bieten ein rachitisch verengtes Becken, das als Geburtshindernis offensichtlich zum Tod bei der Niederkunft führte.69 Von größerer Bedeutung war dagegen der Vitamin-C-Mangel: Intravitaler Zahnverlust, der weder durch Karies oder Abrasion70 noch durch andere Ursachen erklärt werden kann, deutet auf Skorbut und kommt bei über 14% der Aebelholter untersuchten Gebisse71 vor, wobei Männer annähernd viermal so oft72 betroffen sind wie Frauen. Fälle von Morbus Moeller-Barlow sind indessen selten; diese frühkindliche Form der Skorbut ist gekennzeichnet durch schalenartige, fein-poröse Auflagerungen, wie sie sich vor allem auf langen Röhrenknochen zeigen und die Folge subperiostaler Blutungen sind.73 Jodmangel, der zu Kropf und Kretinismus führt, war hinsichtlich seiner Symptomatik unübersehbar. Von der endemischen Häufung in den Alpen und im Appennin hatte schon die Antike Kenntnis, die das Leiden vor allem medikamentös zu behandeln suchte, es aber nicht als eigentliche Krankheit sah. Eine gezielte Therapie mit oralen Jodpräparaten ist gegen 1200 von der lombardisch(-langobardisch)en Chirurgie eingeführt und von der Rüdiger-Frutgard-Schule durchgesetzt worden,74 wobei insbesondere Roland von Parma und seiner ‚Rolandina‘75 eine Initialstellung zukommt.
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(Würzburg) macht mich darauf aufmerksam, daß der Wirbelsäulenknick keineswegs zweifelsfrei die Todesursache gewesen sein muß. Siehe den Text S. 328 mit Anm. 45. Bedingt vor allem durch Verunreinigungen (Gesteinspartikel [Silikate]) im Brot, verursacht teilweise durch den Mahlvorgang; vgl. Møller-Christensen, Skelettreste (wie Anm. 45), S. 136; Czarnecki, Uhlig, Wolf, Menschen Frühmittelalter (wie Anm. 65). N = 197. 22 der insgesamt 28 Fälle. Teegen, Kinder (wie Anm. 19), S. 535 f.; Schultz, Krankheiten (wie Anm. 87), S. 318; Herbert Reier, Heilkunde im mittelalterlichen Skandinavien. Seelenvorstellungen im Altnordischen (Kiel 1976), Bd. II, S. 757: „kissenartige Beläge auf den Oberflächen der Schienbeine“. F[ranz] Merke, Geschichte und Ikonographie des endemischen Kropfes und Kretinismus (Bern, Stuttgart, Wien 1971), S. 117–124. Zur textgeschichtlichen Stellung der ‚Chirurgia Rolandina‘ innerhalb des padanisch-lombardischen Komplexes hochmittelalterlicher Chirurgie siehe Gundolf Keil, Artikel „Roger Frugardi (Rüdiger Frutgard)“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Auflage Bd. 8 (Berlin, New York 1992), Sp. 140–
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Mangel an Warmwetterlagen hat schließlich zu Erkältungs-Affektionen der kranialen Schleimhäute geführt mit Sinusitiden der Stirnhöhle, der Kieferhöhlen, Siebbeinzellen und Keilbeinhöhlen. Bei den erkrankten Kieferhöhlen kommen konkurrierend durchgebrochene Wurzel-Granulome der Oberkiefer-Molaren in Betracht. Bei Mittelohrentzündungen ist es gelegentlich zu grotesken Veränderungen bis hin zur Felsenbein-Einschmelzung gekommen; der Versuch, durch Trepanation des Schläfenbeins Erleichterung zu verschaffen, läßt die starken Schmerzen des Krankheitsgeschehens erahnen.76 Eine Panzerpleura im Fundmaterial von Aebelholt wird in der Regel mit tuberkulöser Ätiologie in Verbindung gebracht,77 könnte meines Ermessens aber auch auf schwere, erkältungsbedingte Rippenfellentzündungen anderer Keimbesiedelung zurückgeführt werden. Tuberkulose der Haut und der Lungen ist im Gegensatz zur Knochentuberkulose78 archäologisch schwer nachweisbar, muß aufgrund der hochund spätmittelalterlichen Fachliteratur aber vorausgesetzt werden.79 Für den Wundarzt bedeutete die Differentialdiagnose zwischen Struma, Skrofeln und Halslymphomen oft eine kaum zu bewältigende Herausforderung.80 Auch Aussatz ist osteoarchäologisch schwer nachweisbar, kann aber anhand der Knochenläsionen beim Lepragesicht dank Møller-Christensens Symptomatik gesichert werden.81 Die Germania ist schon während der römischen Kaiserzeit mit der Infektion in Berührung gekommen – : die erste Nachricht aus dem später deutschsprachigen Gebiet stammt aus Arel und datiert von 347.82 Isolation der Aussätzigen und konsequente Sequestrie-
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153; Gundolf Keil, Hans Hugo Lauer, Artikel „Roland von Parma“. In: Lexikon des Mittelalters 7 (München, Zürich 1995), Sp. 957–958; Gundolf Keil, Hans Hugo Lauer, Artikel „Roland von Parma“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte, hrsg. von Werner Erich Gerabek u.a. (Berlin, New York 2005, 2. Auflage 2007), Bd. III, S. 1263ab. Reier, Heilkunde (wie Anm. 73), S. 753–754, 557–558 und S. 772; MøllerChristensen, Skelettreste (wie Anm. 45), S. 134. Zum Aebelholter Befund eines Pottschen Buckels siehe Anm. 68 und vgl. zur Fallbeschreibung auch Reier, Heilkunde (wie Anm. 73), S. 754. Reier, Heilkunde (wie Anm. 73), S. 544, 733, 752–754; Kurt Schier, Artikel „Lungenentzündung“. In: RGA 19 (2001), S. 47–48: Pleuritiden mit Verdacht auf tuberkulöse Ätiologie. Keil, Tuberkulose (wie Anm. 62), S. 285–287. Merke, Kropf und Kretinismus (wie Anm. 74), S. 116–120. Das Moeller-Christensen-Syndrom hat auch in die klinische Diagnostik Eingang gefunden: Møller-Christensen, Skelettreste (wie Anm. 45), S. 135–137. Gundolf Keil, Seuchenzüge im Mittelalter. In: Mensch und Umwelt im Mittelalter, hrsg. von Bernd Herrmann (Stuttgart 1986; 4. Auflage Frankfurt/Main 1989), S. 109–128; Gundolf Keil, Aussatz im Mittelalter. In: Aussatz, Lepra, Hansen-
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rung der Erkrankten hat die Durchseuchung jedoch niedrig gehalten; die ersten Leproserien sind für das 6. und 7. Jahrhundert bezeugt; das Kirchenrecht nahm sich der Aussonderung und Versorgung der Infizierten an; für den Lebensunterhalt hatte die zuständige Kirchengemeinde zu sorgen. Im Spätmittelalter ging die Durchseuchung zurück; in Norwegen, Nordschweden und Litauen (bzw. Livland) hielten sich Reste der Endemie bis ins 20. Jahrhundert. Ab dem Hochmittelalter verfügten die schouwaere über einen diagnostisch zuverlässigen Symptomenkatalog, der dank neurologischer Befunde der Aussätzigenschau hohe Präzision verlieh und wesentlich zur Überwindung der Seuche beitrug. Unter den zahlreichen Namen des Aussatzes begegnen Bezeichnungen, die das Isoliertsein benennen (ûzsaz) und den Patienten als Sequestrierten ausweisen (ûzsâzeo, uzseze, ûzsiech, sundersiech, vëltsiech); andere Termini heben auf die ‚rauhe‘, unebene Körperoberfläche ab (hrûf, hreofl, hrjufr, þrūstfell) oder richten das Augenmerk auf die ‚hellen‘, depigmentierten Areale (hwite hriefþo).83 Tuberkulose und Aussatz werden von Mykobakterien hervorgerufen, die – „morphologisch nicht zu unterscheiden“84 – intrazellulär leben und damit zu den Viren überleiten, die gleichfalls auf das Innere lebender Wirtszellen angewiesen sind.85 Neben Rhino-, Adeno-, Echoviren, den häufigsten Erregern von Husten, Schnupfen, Heiserkeit, ist mit dem saisonalen Auftreten von Grippe zu rechnen, wobei die Antigen-Variabilität eine konstant wirksame Immunisierung verhindert und immer wieder zu epidemischen Schüben unterschiedlichen Schweregrads führt.86 Ob sich unter den unspezifisch bezeichneten Seuchen wie sótt, landfarsótt, farkonusótt, mann-
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Krankheit: Ein Menschheitsproblem im Wandel. II: Aufsätze, hrsg. von Jörn Henning Wolf. Kataloge des Deutschen Medizinhistorischen Museums , Beiheft 1 (Würzburg 1986), S. 85a-102b. Vgl. auch Kurt Schier, Artikel „Aussatz“. In: RGA 1 ([1968–]1973), S. 505–508; Gundolf Keil, Claudia Schott-Volm, Axel-Hinrich Murken, Günther Binding, Artikel „Aussatz“. In: Lexikon des Mittelalters 1 (München, Zürich [1977–]1980), Sp. 1249–1257; Gundolf Keil, Artikel „Lepra, Aussatz, Hansen-Krankheit“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte, hrsg. von Werner Erich Gerabek u.a. (2005, 2. Auflage 2007), Bd. II, S. 841a–844b; Gundolf Keil, Artikel „Lepraschautexte“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte, hrsg. von Werner Erich Gerabek u.a. (2005, 2. Auflage 2007), Bd. II, S. 844b–845a; Keil, Lenhardt, Lepraschautexte (wie Anm. 133). Pschyrembel, Klinisches (wie Anm. 57), S. 1277b. Pschyrembel, Klinisches (wie Anm. 57), S. 2042a–2046b. – Die Aussage gilt nur bedingt für die unkonventionellen Viren (Viroide). Pschyrembel, Klinisches (wie Anm. 57), S. 910ab; zu Haemophilus influenzae, dem gramnegativen bakteriellen Sekundärerreger von Atemwegserkrankungen, sowie
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fall oder manndauði entsprechende Influenza-Epidemien befunden haben, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen,87 wohl aber vermuten. Der Englische Schweiß mit seinen fünf Schüben von 1485 bis 1551 gibt ein ungefähres Verlaufsmodell für eine saisonale Grippe-Pandemie, bei der die Komplikation einer Mening(oenzephal)itis besonders gefürchtet war; die Letalität88 ist als hoch beschrieben. Nicht nur hohe Letalität, sondern auch hohe Mortalität kennzeichnete die Pockenepidemien,89 die sich insbesondere in mittelalterlichen Ballungsräumen entfalteten und noch im 18. Jahrhundert – vor Durchgreifen der Schutzimpfungen – mit 10 bis 15% an der Spitze der Todesursachen standen. In den Gebieten germanischer Streusiedlung werden sie sich weniger gravierend ausgewirkt haben. Die in den Islandske Annaler für 1240 bis 1511 ausgewiesenen bólnasótt-Schübe werden allgemein als derartige PockenEpidemien gedeutet; die für 1347 auf Island bezeugten 800 Toten90 lassen auf eine eher geringe Morbidität schließen.91 Der Begriff der „Infektion“ ist heute dahingehend definiert worden,92 daß er den Denkinhalt von „Infestination“93 einbegreift und damit den Bereich des Eindringens nicht nur von Viren und Bakterien, sondern auch
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zu den Pneumokokken der Lungenentzündung siehe S. 748ab und 1521a–1523a. – Vgl. S. 330 mit Anm. 61. Charlotte Kaiser, Artikel „Krankheiten“. In: RGA 17 (2001), S. 302–315, hier S. 307–308; Michael Schultz, Artikel „Krankheiten“. In: RGA 17 (2001), S. 316– 320; vgl. auch Gundolf Keil, Neithard Bulst, Artikel „Epidemien“. In: Lexikon des Mittelalters 3 (München, Zürich 1986); Sp. 2055–2060; Gundolf Keil, Artikel „Seuchen“. In: RGA 28 (2005), S. 232–236; Gundolf Keil, Artikel „Englischer Schweiß“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte, hrsg. von Werner Erich Gerabek u.a. (2005, 2. Auflage 2007), Bd. I, S. 355b–356a. Ncht aber die Mortalität; vgl. Keil, Seuchenzüge (wie Anm. 82), S. 123–124, 128. Barbara T. Tshisuaka, Artikel „Pocken (Variola, Blattern): Zentralasiatischer Pocken-Urherd; Vakzination“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte, hrsg. von Werner Erich Gerabek u.a. (2005, 2. Auflage 2007), Bd. III, S. 1171b–1173a. Kaiser, Krankheiten (wie Anm. 87), S. 307. Bei einer Letalität (Kaiser spricht versehentlich von „Mortalität“) zwischen 30 bis 50 v.H. läßt das auf die Erkrankung von 1500 bis 2500 Menschen schließen, was bei einer Bevölkerung von schätzungsweise 70 bis 80.000 eine Morbidität von deutlich unter 5% bedeutet. Diese geringe Erkrankungsdichte könnte durch die Einzelhof-Streusiedlung mitbedingt sein, bei der „Ballungszentren“ wie Dörfer fehlten; vgl. Sveinbjörn Rafnsson, Capelle (wie Anm. 25). Pschyrembel, Klinisches (wie Anm. 57), S. 907b–909b. In der hier benutzten Pschyrembel-Ausgabe von 2007 wird das Lemma „Infestination“ bereits unterdrückt; in älteren Auflagen taucht es – zumindest als Nebeneintrag mit Verweis auf „Invasion(skrankheiten)“ – noch auf; vgl. Otto Dornblüth, Klinisches Wörterbuch mit klinischen Syndromen, 185.–250. [= 33.] Auflage besorgt von Willibald Pschyrembel (Berlin 1969), S. 556a und 568a.
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das Befallenwerden durch Eukarioten wie Protozoen und Würmer mit einbezieht. Unter den parasitären Eukarioten haben intrazellulär in Blutkörperchen heranwachsende Plasmodien94 eine Rolle gespielt; sie werden durch Mückenstich übertragen und rufen Wechselfieber hervor. In Mittel-, West- und Osteuropa waren es Plasmodium malariae und Plasmodium vivax, die bei endemischer Durchseuchung das Quartan- bzw. das Tertianfieber hervorrufen. Ab dem 11. Jahrhundert kam durch die zurückkehrenden Kreuzfahrer95 das Plasmodium falciparum als Erreger der gefürchteten Malaria tropica mit oft tödlichem Ausgang hinzu.96 Die mittelniederdeutschen Arzneibücher sparen nicht mit Hinweisen auf Wechselfieber, beziehen mit cottidiana (quotidiana) die Malaria tropica mit ein und benennen sogar das Schwarzwasserfieber, das präfinal den nahen Tod des Patienten signalisiert:97 boze lucht … darvan komen de febres vnde dat heet dat kolde efte rede … Also de … maghe … de spyse nicht vordouwen mach, darvan wert de terciana vnde de quartana vnde de cottidiana.98
Massive Hämolyse – bedingt durch die Falciparum-Plasmodien – färbte beim Schwarzwasserfieber der Malaria tropica den Harn schließlich dunkelbraun99 und kündigte den infausten Ausgang des Leidens an: 94 95 96
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Pschyrembel, Klinisches (wie Anm. 57), S. 1506ab. Hier im kirchlichen, nicht im touristischen Sinne gebraucht. Zu den Opfern gehört vielleicht auch Kaiser Friedrich II., der möglicherweise an der intestinalen Form der Tropica starb, die durchaus eine „Darminfektion vortäuschen … kann“; vgl. Pschyrembel, Klinisches (wie Anm. 57), S. 1165b, und siehe Thomas Gregor Wagner, Die Seuchen der Kreuzzüge. Krankheit und Krankenpflege auf den bewaffneten Pilgerfahrten ins Heilige Land. Würzburger medizinhistorische Forschungen, Beiheft 7 (Würzburg 2009), S. 215–218. Pschyrembel, Klinisches (wie Anm. 57), S. 1165ab, 1506a, 1610b: „schwerste Form der Malaria mit akuter Lebensgefahr“, „Schwarzwasserfieber“, „febris quotidiana“. Mittelniederdeutscher Bartholomäus, Kap. 17, vgl. die Ausgabe von Sven Norrbom, Das Gothaer mittelniederdeutsche Arzneibuch und seine Sippe. Mittelniederdeutsche Arzneibücher 1 (Hamburg 1921), S. 184, Z. 1–4, und siehe zum Text: Gundolf Keil, Artikel „Mittelniederdeutscher Bartholomäus“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Auflage Bd. 6 (Berlin, New York 1987), Sp. 620–622: nordniedersächsisch, 14. Jahrhundert. – Siehe auch Bernhard Dietrich Haage, Wolfgang Wegner, Gundolf Keil, Helga Haage-Naber, Deutsche Fachliteratur der Artes in Mittelalter und Früher Neuzeit. Grundlagen der Germanistik 43 (Berlin 2007), S. 201, 205, 243. Und das galt als Todeszeichen; vgl. Friedrich Lenhardt, Blutschau. Untersuchungen zur Entwicklung der Hämatoskopie. Würzburger medizinhistorische Forschungen 22 (Pattensen/Hannover [jetzt Würzburg] 1986), S. 89, 133 und öfter; vgl. Anm. 136.
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De minsche, de de hette heuet, sin nette is rot also ein blot. Is it dat veuer, so is se brunrot. Is it de quartanie, so is se al svart. Svellet eme de cop van der blasen, so vlotet an der nette svarte stucke also etter vnde blot; is se darby rodelachte, so is he des dodes. … So wanne sin nette goltvar is vnde bouene enen svarten manen heuet vnde100 besloten is, de is des dodes …101
In der Regel dürften die Malaria-Infektionen jedoch blande verlaufen sein. Und vielleicht liefert der Durchseuchungsgrad der Niederlande, wie er sich bis Mitte des 20. Jahrhunderts nachweisen läßt,102 ein Muster für Abläufe und Verbreitung der Anopheles-Infestinationen, das man als Modell auch für frühere Zeiten verwenden kann.103 Ohne Fiebermücken als Überträger oder sonstige aktive Vektoren kam die Krätzmilbe (Sarcoptes scabiei de Geer) aus, bei der enger körperlicher Kontakt für die Ansteckung ausreichte104 und von der auch Haustiere (wie Hunde) mitinfiziert wurden. Beim Krankheitsbild dominiert der Juckreiz, der zum Kratzen verleitet, und ins Auge springt das exanthematisch veränderte Hautbild mit seinen Knötchen und Knoten, das im Extremfall von Erythrodermie mit dicken Borkenbelägen bestimmt wird, Hände und Füße überzieht und als Scabies norvegica bekannt ist. Altnordisch kláðasótt hebt auf den Juckreiz ab;105 altnordisch skabb, lateinisch scaber106 und scabies 100
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vnde] hier in pronominaler Verwendung mit relativem Bezug, und zwar auf mane: es handelt sich also um ein ringförmiges, in sich geschlossenes Gebilde. Utrechter Arzneibuch § 65 Van der hette, und zweiter Satz aus § 67 Van deme dode; vgl. die Ausgabe von Agi Lindgren, Das Utrechter Arzneibuch (Ms. 1355, 16º, Bibliotheek der Rijksuniversiteit Utrecht). Acta universitatis Stockholmiensis: Stockholmer germanistische Forschungen 21 (Stockholm 1977), S. 59 f., und siehe zum Text: Agi Lindgren, Gundolf Keil, Artikel „Utrechter Arzneibuch“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Auflage Bd. 10 (Berlin, New York 2004), Sp. 145–148: nordniedersächsisch-nordalbingisch, 14. Jahrhundert; Haage, Wegner, Keil, Haage-Naber, Fachliteratur der Artes (wie Anm. 44), S. 200–201. N. H. Swellengrebel, A. de Buck, Malaria in the Netherlands (Amsterdam 1938), S. III–IV, 89 f. und öfters. Zwei Erreger (Plasmodium vivax, P. malariae), ein in mehreren Rassen auftretender Überträger (Anopheles atroparvus Meigen), der Mensch als Erregerreservoir und ein durchweg blander Verlauf, der zu sagen erlaubte, daß die Malaria in den Niederlanden „is so mild as to be more a curiosity than a problem“. – Zur gegenläufigen heutigen Entwicklung siehe Manfred Vasold, Grippe, Pest und Cholera. Eine Geschichte der Seuchen in Europa (Stuttgart 2008), S. 281–282. Pschyrembel, Klinisches (wie Anm. 57), S. 1703ab. Kaiser, Krankheiten (wie Anm. 87), S. 307: von altnordisch kláði ‘Jucken’. Alois Walde, Lateinisches etymologisches Wörterbuch, 3. Auflage besorgt von Johann Baptist Hofmann. Indogermanische Bibliothek, 1. Abteilung: Lehr- und
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sowie mittelhochdeutsch kretze107 akzentuieren das reaktive Kratzen, während angelsächsisch (h)rūde, altsächsisch hrūtho, althochdeutsch (h)riuthi, mittelhochdeutsch riude ‘Räude’ den Kratzeffekt ins Blickfeld rücken,108 der durch Skarifizierung, Ekzematisierung und borkige Krustenbildung gekennzeichnet ist, was auch in altnordisch hruðr ‘Schorf’ zum Ausdruck kommt. Carl von Linné hat die Krätzmilbe als Acarus Siro bezeichnet109 und damit den Haut-„Wurm“ Sir benannt, der in der altdeutschen Fachliteratur als Verursacher der Krätze angeschuldigt wird.110 Bei Hildegard von Bingen111 (der „die erste Beobachtung der Krätzmilben im Abendlande“ gelungen sein soll112) erscheint synonym zur Bezeichnung von Hautmilben der Terminus sneuelzen/snebelza, dem in den ‚Althochdeutschen Glossen‘ snebuliz/snebeliz/snebilaz entspricht, einmal in Übersetzung von surro und seitens Schützeichels gedeutet als ‘Mücke’,113 während Hildebrandt versehent-
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Handbücher, 2. Reihe: Wörterbücher, 1 (Heidelberg 1938, Neudrucke 1956 und 1972), dazu Elsbeth Berger, Registerband (Heidelberg 1956), hier Bd. II, S. 484. Kluge, Seebold, Etymologisches Wörterbuch (wie Anm. 16), S. 535b. Kluge, Seebold, Etymologisches Wörterbuch (wie Anm. 16), S. 746b. Paul Brohmer, Fauna von Deutschland. Ein Bestimmungsbuch unserer heimischen Tierwelt, 21. Auflage besorgt von Matthias Schaefer u.a. (Wiebelsheim 2002), S. 173–174. Gundolf Keil, Die ‚Cirurgia‘ Peters von Ulm. Untersuchungen zu einem Denkmal altdeutscher Fachprosa mit kritischer Ausgabe des Textes. Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 2 (Ulm 1961), S. 211, 290, 463. Physica, I, 76; vgl. Hildegard von Bingen, Das Buch von den Pflanzen, nach den Quellen hrsg., übersetzt und erläutert von Peter Riethe (Salzburg 2007), S. 180, 411, 537; Barbara Fehringer, Das ‚Speyrer Kräuterbuch‘ mit den Heilpflanzen Hildegards von Bingen. Eine Studie zur mittelhochdeutschen ‚Physica‘-Rezeption mit kritischer Ausgabe des Textes. Würzburger medizinhistorische Forschungen, Beiheft 2 (Würzburg 1994), Kap. 131, S. 142: Dje ander myntz [= Roßminze, Mentha longifolia (L.) Huds.] … Wer süren hatt, die in bissent vnd juckent, der neme dis crût vnd stoß es vnd leige es uff die suren vnd binde ein tuch dar über, so sterbent sie. Vorausgegangen waren Beobachtungen im antiken China (‚Huang Di Nei jing Su wen‘, 1. nachchristliches Jahrhundert) sowie in der arabischen Medizin des frühen Mittelalters (at-Tabarī, Avenzoar); vgl. Wolfgang U[do] Eckart, Artikel „Krätze“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte, hrsg. von Werner Erich Gerabek u. a. (Berlin, New York 2005, Neudruck 2007), Bd. II, S. 786b–787a; Peter Riethe, Scabies und die Bedeutung der „Suriones“ in den Handschriften Hildegards von Bingen. Sudhoffs Archiv 90, 2006, S. 203–218, mit Bezug auf Carl Jessen (1862). Althochdeutscher und Altsächsischer Glossenwortschatz, bearbeitet unter Mitarbeit zahlreicher Wissenschaftler und hrsg. von Rudolf Schützeichel (Tübingen 2004), Bd. IX, S. 6a.
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lich die ‘Zecke’ ins Spiel bringt.114 In Diefenbachs älterem ‚Glossarium‘115 findet sich denn auch die Gleichung sirones i pustulae manum et pedum, und im Frühneuhochdeutschen dominiert süre, súrr gegenüber sir(re),116 wobei immer wieder auf die Praedilektionsstelle des Krätzmilbenbefalls hingewiesen wird: die syr an den henden; rudig an den henden von lebendigen súren.117 Ob nun surr, súrr, sure, sir oder sire auf griechisch sirós, seirós118 zurückgeht oder nicht, sei dahingestellt; auf jeden Fall steht fest, daß Krätzmilben als Erreger von Krätze und Haarausfall bereits Hildegard von Bingen geläufig waren und daß im Hinblick auf die Parallelüberlieferung es so scheint, als sei die kláðasótt schon früher in der Germania als Zoonose bekannt gewesen. Damit aber ist ein Anhaltspunkt dafür gegeben, daß bei der Krankheitsfindung germanische Völker die Symptomatik bis in den Bereich der Lupenvergrößerung119 verfolgten und diagnostisch auswerteten.
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Reiner Hildebrandt, Zum rheinfränkischen Wortschatz der Hildegard von Bingen. In: Werte und Wertungen. Festschrift Eugeniusz Tomiczek, hrsg. von Iwona Bartoszewicz et al., Orbis linguarum, Beiheft 26 (2004), S. 84–91, besonders S. 88 f.; dazu korrigierend Riethe, Scabies (wie Anm. 112), S. 211 f. Lorenz Diefenbach, Glossarium latino-germanicum mediae et infimae aetatis (Frankfurt/Main 1857, Neudrucke Darmstadt 1968 und 1997), S. 538b. Entsprechend der Ansatz von Klaus Grubmüller in seinem: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Index zum deutschen Wortgut des ‚Vocabularius Ex quo‘ (= ‚Vocabularius Ex quo‘. Überlieferungsgeschichtliche Ausgabe, VI). Texte und Textgeschichte. Würzburger Forschungen 27 (Tübingen 2001), S. 696a. Keil, Peter von Ulm (wie Anm. 110), S. 463; vgl. auch Riethe, Scabies (wie Anm. 112), S. 211. Franz Passow, Handwörterbuch der griechischen Sprache, 5. Auflage besorgt von Valentin Ch. Fr. Rost u.a. (Leipzig 1841–1857, Neudruck Darmstadt 2008), Bd. II/ 2, S. 1427a; Hjalmar Frisk, Griechisches etymologisches Wörterbuch (Heidelberg 1960–1972, dritter Neudruck 2006), Bd. II, S. 710: ‘Getreidegrube’, ‘Silo’; ohne Anknüpfung. – Für Entlehnung aus dem Griechischen plädierte der Dermatologe Paul Richter, der die Getreidegruben entsprechend den intradermalen Milbengängen zu „kellerartigen Gängen zum Aufbewahren von Getreide“ umgestaltete; vgl. P. Richter, Geschichte der Dermatologie. In: Handbuch der Haut- und Geschlechtskrankheiten, hrsg. von Josef Jadassohn, XIV/2 (Berlin 1928), S. 115–117. – Hinsichtlich Benennungsmotivation bzw. Entstehung der Termini surr/sirr/sürr bzw. surro, siro usw. könnte meines Ermessens aber auch erwogen werden, ob es sich nicht um eine onomatopoetische Bildung handelt, die lautmalend das Fluggeräusch kleiner Insekten wie Mücken und Schnaken (Culicidae, Tipulidae) nachgestaltet; es würde sich dann um nominale Rückbildungen der schwachen Verben surren und sirren handeln, die freilich erst ab der Neuzeit belegt sind; vgl. Kluge, Seebold, Etymologisches Wörterbuch (wie Anm. 16), S. 850a und 899b. Das Krätzmilbenweibchen – doppelt so groß wie das Männchen – erreicht nur die
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Die Diagnostik bei den Germanen war beispielhaft. Ihre Präzision zeigt sich nicht nur im Erkennen von Krätz- und Haarbalgmilben,120 sondern genauso beim „staging“ bzw. „grading“, will sagen beim diagnostischen Differenzieren des pathologischen Schweregrads. Ein mustergültiges Paradigma121 zum „stufenweisen Schwinden des Augenlichts“ hat Charlotte Kaiser122 zusammengestellt, das in absteigender Folge sechs Grade des Visus zu unterscheiden erlaubt: heil-eygr sur-eygr
þung-eygr
óskyggn sjón-litill sjón-lauss blindr, stein-blindr
über volles Sehvermögen verfügend triefäugig, an Epiphora leidend (die offenen Feuerstellen machen das germanische Wohnstallgebäude zum Rauchhaus mit zumindest temporär erheblicher Reizung der Konjunktividen) schwer sehen könnend, nicht scharfsichtig (infolge von Kurzsichtigkeit oder anderer Refraktionsanomalien) schlecht sehend schwachsichtig, amblyop nur noch über einen Sehrest verfügend, der zur Orientierung nicht mehr ausreicht blind, stockblind
Mit vergleichbarer Abstufung half die Diagnostik bei der Bußgeld-Festsetzung, die von der Schwere der Wunden123 ausging, Anzahl sowie Größe der herausgehauenen Knochensplitter wertete,124 bei der nässenden Skarifizierung125 einsetzte und bei den infausten Hohlwunden endete. Als holundarsár
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Länge von 0,3 bis 0,4 Millimetern und zeigt damit Dimensionen, die der Breite eines „normalen“ Kugelschreiber-Strichs entsprechen. Vgl. Anm. 57. Im Gegensatz zur rundlichen Krätzmilbe zeigt die Haarbalgmilbe „wurmförmige“ Gestalt, erreicht aber auch nur eine Länge von 0,4 Millimetern; vgl. Brohmer, Schaefer, Fauna von Deutschland (wie Anm. 109), S. 169: Demodex folliculorum Simon; dazu: Riethe, Scabies (wie Anm. 112), S. 211. Ich verwende den Terminus im Aristotelischen, nicht im Thomas-Kuhnschen Sinne. Kaiser, Krankheiten (wie Anm. 87), S. 305ab. Gundolf Keil, Artikel „Verletzungen“. In: RGA 32 (2006), S. 215–219; Heinrich Beck, Gundolf Keil, Artikel „Wunden und Wundbehandlung“. In: RGA 34 (2006), S. 322–332. Reier, Heilkunde (wie Anm. 73), S. 665; Kurt Schier, Lázló von Károlyi, Artikel „Chirurgie“. In: RGA 4 (1981), S. 462–476, hier S. 467. Sie macht bereits die Behandlung mit Speck bzw. Schweineschmalz erforderlich; vgl. Wilhelm Heizmann, Ulrich Willerding, Artikel „Heilmittel und Heilkräuter“. In: RGA 14 (1999), S. 208–233, hier S. 221.
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bzw. holsár galten126 Wunden i heila, à hol, sowie i beini; sie betrafen den Hirnschädel, die Brust- bzw. Bauchhöhle sowie die Markhöhle der langen Röhrenknochen; definiert waren sie dahingehend, daß „das Blut aus der Wunde in die Leibeshöhle fallen kann“. In der Regel handelte es sich um penetrierende Wunden. Doch galt als Markwunde auch der bloße Bruch eines langen Röhrenknochens. An der Schädelkalotte wurden vermutete Fissuren freigelegt und mittels Farbstoffs gesichert. Bemerkenswert erscheint die Vibrationsprobe mit Modulation der Frequenz – sie ist freilich erst in der lombardischen Chirurgie ab dem 13. Jahrhundert bezeugt127 und beruht auf dem Resonanzprinzip des frakturierten Knochens:128 Über Kopfwunden und Schädelbruch [1] Wenn eine Wunde mit Fraktur des Schädels entsteht, überlege,129 ob die Fraktur nach innen durchgeht: [2] das kann man auf verschiedene Weise feststellen: nämlich bei anhaltendem Erbrechen, geringem Grad der Schmerzen, Tränen der Augen, verzogenem Gesicht, geröteten, blutunterlaufenen und verdrehten Augen sowie Nystagmus,130 [3] des weiteren durch Versuche, die untrüglich sind, nämlich: Stecke zwischen die Zähne des Kranken einen gewachsten Zwirn; der Patient soll ihn mit den Zähnen festhalten, und dann beginn beim Gesicht mit deinen Nägeln und führe die Nägel streichend über den Faden, daß du einen Ton hervorbringst, bis zum andern Ende des Fadens, der vom Ellbogen bis zum Munde reicht: tu das in mehrfachem Wechsel. Wenn der Patient den Ton aushalten kann und keinen Schmerz verspürt, hat er keinen gebrochenen Schädel; wenn der aber gebrochen wäre, kann er auf keine Weise das Streichen und Reiben der Fingernägel auf dem Faden aushalten. 126
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Kaiser, Krankheiten (wie Anm. 87), S. 304; Reier, Heilkunde (wie Anm. 73), S. 643–644 und 672. Gundolf Keil, Artikel „Chirurg, Chirurgie“. In: Lexikon des Mittelalters 2 (München, Zürich 1983), Sp. 1845–1859, hier Sp. 1855 mit Verweis auf die Frikationsprobe in Lanfranks ‚Kleiner Chirurgie‘, Kap. VII, § 1–3[–5]. Günter Klamroth, Lanfranks ‚Kleine Chirurgie‘ in moderner deutscher Übertragung, med. Diss. Würzburg 1978 (in Kommission bei Königshausen & Neumann, Würzburg), S. 6–7. – Zum lombardischen Autor siehe auch Gundolf Keil, Artikel „Lanfrank von Mailand“ . In: Enzyklopädie Medizingeschichte, hrsg. von Werner Erich Gerabek u.a. (Berlin 2005, 2. Auflage 2007), Bd. II, S. 822b– 823b. Lanfrank spricht hier seinen jungen, 1283–1308 in Montpellier internistisch tätigen Freund Bernhard an. Seine ‚Chirurgia parva‘ war als persönliches Geschenk gedacht und als wundärztliches Geheimbuch angelegt. Gemeint ist der Rucknystagmus („unwillkürliche, rhythmische Oszillationen“ des Augenpaares in der Senkrechten oder Waagerechten), der „Ausdruck“ einer „läsionalen Störung der willkürlichen Blickhaltung im Hirnstamm oder Kleinhirn ist“; Pschyrembel, Klinisches (wie Anm. 57), S. 1367a-1368b.
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Die Vibrationsprobe auf ossäre Resonanz der frakturierten Kalotte setzt die Mitwirkung eines wachen Patienten voraus; bei Bewußtlosigkeit oder Sopor des Verletzten wird der Wundarzt auf auskultatorisches Ermitteln der Resonanz verwiesen, die er durch Perkussion des Schädels auslöst und durch Anlegen des Ohres abhört: [4] Ebenso kann der Kopf mit einem trockenen leichten Weiden- oder KieferStecken perkutiert werden. Lege dein Ohr an den Kopf: wenn der Knochen heil ist, hörst du einen heilen Ton; wenn er gebrochen oder gespalten ist, wirst du einen dumpfen Ton hören, vergleichbar dem einer heilen Glocke mit dem einer geborstenen. [5] … und … manchmal diagnostizierst du den Bruch allein durch Palpieren des Schädels.
Die gleiche Resonanzprobe begegnet in merowingerzeitlichen Germanenrechten sowie im norwegischen Frostathingslag131, wobei es nicht um therapeutische, sondern um forensische Diagnostik geht, die zweckgerichtet die Schwere des Körperschadens ermitteln soll und zum Festsetzen des Strafmaßes durchgeführt wird. Hierbei dient das „herausgehauene“ oder herausgelöste Knochenstück des Verletzten als Projektil, das – aus bestimmter Entfernung gegen einen Schild geworfen – diesen zum Erklingen bringt. Das Knochenstück liefert dabei die Energie; der Schild schwingt als Resonator. Aus dem forensisch abgehörten Klangbild ergibt sich die Schadensermittlung und die Festsetzung des Bußgeldes. Das diagnostische Vorgehen bei germanischen Völkern brachte sämtliche Sinne zum Einsatz; es wurde palpiert, perkutiert, auskultiert, inspiziert, und in gleicher Weise kamen Geruchs- und Geschmackssinn zur Anwendung.132 Alle Körperausscheidungen (angefangen mit der Flatulenz) waren in die diagnostische Befund-Erhebung mit einbezogen; wenn zur Ader gelassen wurde, kam das Blut hinzu, das bei der Aussätzigenschau eine Rolle spielte133; wenn Abszesse aufbrachen oder ausgeleitet wurden, konnte auf die Apostasenschau 131
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Schier, Károlyi, Chirurgie (wie Anm. 124), S. 467; Reier, Heilkunde (wie Anm. 73), Bd. II, S. 665, 666, 669. So etwa bei der Harn-, Stuhl-, Blutschau (Uroskopie, Koproskopie, Hämatoskopie); hinzu kommen noch die Schweiß-, Auswurf- und Apostasenschau; die Wundinspektion begegnet im Bereich der Traumatologie; vgl. Gundolf Keil, Artikel „Diagnostik“. In: Lexikon des Mittelalters 3 (München, Zürich 1986; Neudruck Stuttgart, Weimar, Lachen am Zürichsee 1999), Sp. 935–939, und siehe zur Wundinspektion bzw. Apostasenschau: Gundolf Keil, Pathologie und Reihung: Der abnehmende Schweregrad als serielles Gliederungsprinzip der Rezeptliteratur. In: Pharmazie in Geschichte und Gegenwart. Festschrift Wolf-Dieter Müller-Jahncke, hrsg. von Christoph Friedrich, Joachim Telle (Stuttgart 2009), S. 229–245. Zum Beurteilen des Blutes durch den Geschmack siehe Reier (wie Anm. 73), Bd. II, S. 651. Vgl. Keil, Lepraschautexte (wie Anm. 83); Gundolf Keil, Friedrich Lenhardt, Arti-
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zurückgegriffen werden; die Wund- bzw. Geschwürs-Inspektion134 war in der traumatologischen Praxis gang und gäbe; die forensische Beurteilung akuter Verletzungen sowie bleibender Schäden lag in der Hand wundärztlicher Sachverständiger, die auch Funktionsprüfungen vornahmen.135 Eine erhebliche Rolle spielten die Todeszeichen (signa mortis),136 die auf das infauste Schicksal des Kranken bzw. Verwundeten hinwiesen. Ihre Feststellung oblag wundärztlich erfahrenen Männern „hoher Autorität“.137 Als diagnostisches Hilfsmittel war die Sonde im Einsatz, die in Körperöffnungen, Stichkanäle sowie Fistelgänge eingeführt werden konnte; als Instrument zum Spreizen (bzw. als Spekulum) diente der Kloben. Weithin Unerreichtes erzielte die germanische Diagnostik auf dem Gebiet der Nervenheilkunde. Hier nutzte sie Ausfälle des peripheren Nervensystems zur Krankheitserkennung,138 und durch das sorgfältige Beobachten von Funktionsstörungen zentralnervöser Ursache gelangte sie zu hirntopographischen Lokalisierungen, die dann spezialisierten Wundärzten die Anhaltspunkte für neurochirurgische Eingriffe gaben. Aus der Veterinärmedizin belegt ist das hirnchirurgische Entfernen des Quesenwurms aus dem Schädel drehwurmkranker Schafe.139 Und seit dem 14. Jahrhundert bezeugt ist die operative Entfernung des wormes in deme koppe, bei der es um die Exzision eines Meningeoms (oder Glioms) nach lokalisatorisch exakter Vorbereitung geht. Der hirnchirurgische Eingriff wurde unter Vollnarkose vorgenommen.140
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kel „Lepraschau-Texte“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Auflage Bd. 5 (Berlin, New York 1985), Sp. 723–726. Sie folgt dem gleichen Erfahrungsschatz wie die Wundinspektion und ist wie diese in der traumatologischen Praxis bis heute gültig geblieben; vgl. Keil, Pathologie und Reihung (wie Anm. 132), S. 232–234. – Zum Blutgeruch- und Blutgeschmackstest siehe auch Kaiser, Heilkunde (wie Anm. 151), S. 203. Reier, Heilkunde (wie Anm. 73), Bd. II, S. 664–668. Gerhard Eis, Die Todeszeichen im Nibelungenlied. Euphorion 51, 1957, S. 295– 301. Siehe auch Anm. 99. Reier, Heilkunde (wie Anm. 73), Bd. II, S. 651; vgl. auch Text bei Anm. 332, 333, 334, 335. Und zwar in der Aussätzigenschau; siehe Anm. 82, 83 und vgl. Keil, Lenhardt, Lepraschau-Texte (wie Anm. 133). Zu entsprechenden veterinär-„chirurgischen Spitzenleistungen“, die „recht weit fortgeschrittene“ und „gute anatomische Kenntnisse voraussetzen“, siehe Angela von den Driesch, Peter Joris, Geschichte der Tiermedizin. 5000 Jahre Tierheilkunde. 2., erweiterte Auflage mit einem Vorwort von Gundolf Keil (New York, Stuttgart 2003), S. 111ab: über germanische Bujatrik. Die neurochirurgischen Eingriffe zur Entfernung der Coenurus-cerebralis-Hydatide waren angeblich bei Rindern erfolgreicher als bei Schafen. Vgl. Anm. 242, 243, 244, 245.
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In der germanischen Pathologie beanspruchten die „Würmer“141 einen hohen Stellenwert, wobei die Semantik weiter greift und über die Begrifflichkeit von Igel-, Platt-, Schnur-, Schlauch-, Saiten- und Ringelwürmern deutlich hinausreicht und beispielsweise das Krätzmilben-Weibchen142 mit einbezieht. Eine Abgrenzung gegenüber dem onomasiologischen Feld des „Ungeziefers“143 ist auf vielen Gebieten – insbesondere auf dem der Kerbund Spinnentiere – kaum möglich. Das Modell der Ansteckung und des Überträgers war geläufig;144 für Epidemien wurde gelegentlich die Vorstellung des Wiedergängers145 bemüht, der als Nachzehrer Sippen tötete und ganze Gehöfte, Gemarkungen, ja sogar Landstriche entvölkerte. Daß ein solcher mannfall, der als manndauði umging und als landfarsótt oder lant-stërbe146 epidemisch um sich griff, auch von „überirdischen Mächten“ ausgehen und „als Strafmaßnahme“ gedeutet werden konnte,147 lag auf der Hand, und mit seinen kosmischen Vorzeichen wie Kometen, blutfarbener Sonne, Beben und Vulkanausbrüchen entsprach er antik-mittelalterlichen Seuchenvorstellungen, wie sie beispielhaft in der Ersten Summe des ‚Pariser 141
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Heinrich Beck, Gundolf Keil, Artikel „Wurm“. In: RGA 34 (2006), S. 332–340; vgl. auch Gundolf Keil, Artikel „Ungeziefer“. In: RGA 31 (2006), S. 481–483; Christian Hünemörder, Artikel „Würmer“. In: Lexikon des Mittelalters 9 (München 1998, Neudruck Lachen am Zürichsee 1999), Sp. 372 f.: „neben überwiegend parasitisch lebenden Vertretern auch echte Insekten …, Spinne, Tausendfüßler, Schnecke“. Im Hinblick auf ihre Kleinheit werden sie bei Hildegard von Bingen nicht als vermes, sondern als vermiculi bezeichnet; siehe Riethe, Scabies (wie Anm. 112), S. 209, 206, 208 f. und öfters. Keil, Ungeziefer (wie Anm. 141); Christian Hünemörder, Artikel „Insekten“. In: Lexikon des Mittelalters 5 (München, Zürich 1991), Sp. 447–449; Karl Brunner, Helmut Hundsbichler, Artikel „Ungeziefer“, „Schädlingsbekämpfung“, in: Lexikon des Mittelalters 8 (München 1997, Neudruck Lachen am Zürichsee 1999), S. 1235–1237. Kaiser, Krankheiten (wie Anm. 87), S. 308. Kaiser, Krankheiten (wie Anm. 87), S. 308, mit Verweis auf Reinhard Bodner, Artikel „Wiedergänger“. In: RGA 33 (2006), S. 598–605, und mit Bezug auf Leander Petzoldt, Artikel „Lebender Leichnam“. In: RGA 18 (2001), S. 165–169; Leander Petzoldt, Artikel „Nachzehrer“. In: RGA 20 (2002), S. 486–487; vgl. auch Keil, Wöchnerin (wie Anm. 35), S. 175 in Bezug auf die Säuglings- und Kindersterblichkeit. Gloria Werthmann-Haas, Altdeutsche Übersetzungen des Prager ‚Sendbriefs‘ („Missum imperatori“) (Untersuchungen zur mittelalterlichen Pestliteratur I). Auf Grund der Ausgabe von Andreas Rutz neu bearbeitet. Würzburger medizinhistorische Forschungen 27 (Pattensen/Hannover, Würzburg 1983), S. 193, 252: der gemain land sterb. Kaiser, Krankheiten (wie Anm. 87), S. 307–308.
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Pestgutachtens‘ von 1348 vorgetragen wurden.148 Das jüdisch-christliche Modell von „Krankheit als Folge der Sünde“149 fand im strafenden Thor seine Entsprechung, der individuell „Verletzungen religiöser Pflichten mit lebensgefährlichen Krankheiten“ ahndete.150 Älter war die Auffassung, die „Krankheit als unpersönlich lenkendes Schicksal ( forlog, ørlog …)“ deutete, wie es „jedem Sterblichen widerfahren konnte“.151 Es scheint, als habe erst Rîchbôdô von Lorsch im Jahr 788 dem Sünden-Strafe-Modell die sozial stigmatisierende Wertigkeit genommen.152 Überirdische Mächte, die Krankheit und Tod sandten, mußten für jeden halbwegs überzeugten Adepten eine unwiderstehliche Herausforderung darstellen, sich lenkend in das unheilvolle Geschehen einzuschalten. Krankmachender Schadenzauber wurde – so scheint es – bei den Germanen vor allem von „Frauen … in sozial schwierigen Verhältnissen“ ausgeübt; „meist“ handelte es sich um „Witwen und junge unverheiratete Mäd148
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Keil, Seuchenzüge (wie Anm. 82), S. 115–116; Gundolf Keil, Artikel „Pariser Pestgutachten (Visis effectibus/Veus et consideres les effecs)“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Auflage Bd. 7 (Berlin, New York 1989), Sp. 309–312; Rudolf Sies, Das ‚Pariser Pestgutachten‘ von 1348 in altfranzösischer Fassung (Untersuchungen zur mittelalterlichen Pestliteratur IV). Würzburger medizinhistorische Forschungen 7 (Pattensen/Hannover, Würzburg 1977), S. 18–35; Andrea Birgit Schwalb, Das Pariser Pestgutachten von 1348. Eine Teiledition und Interpretation der ersten Summe, med. Diss. Tübingen 1990; Gundolf Keil, Artikel „Pest“. In: RGA 22 (2002), S. 618–623, hier S. 620. Wolf von Siebenthal, Krankheit als Folge der Sünde. Heilkunde und Geisteswelt 2 (Hannover 1950). Kaiser, Krankheiten (wie Anm. 87), S. 302. Kaiser, Krankheiten (wie Anm. 87), S. 302, mit Verweis auch auf Charlotte Kaiser, Artikel „Heilkunde“. In: RGA 14 (1999), S. 200–208, hier S. 201: Thor als „Inbegriff des Bösen … straft die Menschen mit Krankheit und Tod, wenn sie sich vom altüberlieferten Glauben abwenden“. Ulrich Stoll, Das ‚Lorscher Arzneibuch‘. Ein Arbeitsbericht. In: Das Lorscher Arzneibuch und die frühmittelalterliche Medizin. Verhandlungen des medizinhistorischen Symposiums 1989 in Lorsch, hrsg. von Gundolf Keil, Paul Schnitzer. Geschichtsblätter für den Kreis Bergstraße, Sonderband 12 (Lorsch 1991), S. 29–60, hier S. 50–51; Ulrich Stoll, Das ‚Lorscher Arzneibuch‘. Ein Überblick über Herkunft, Inhalt und Anspruch des ältesten Arzneibuchs deutscher Provenienz. In: Das Lorscher Arzneibuch (wie Anm. 152), S. 61–80, hier S. 78–79; Gundolf Keil, Möglichkeiten und Grenzen frühmittelalterlicher Medizin. In: Das Lorscher Arzneibuch (wie Anm. 152), S. 219–262, hier S. 235–236; Gundolf Keil, Artikel „Lorscher Arzneibuch“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte, hrsg. von Werner Erich Gerabek u.a. (Berlin, New York 2005, 2. Auflage 2007), Bd. II, S. 865a– 866b; Gundolf Keil, Albert Ohlmeyer, Artikel „Lorscher Arzneibuch“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Auflage Bd. 11 (Berlin, New York 2004), Sp. 926–930.
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chen“,153 mit denen zusätzlich „fahrende Weiber“ (des Typs einer farande qvinna, farkona) konkurrierten. Sie galten als zauberkundig, als vertraut mit der Abtreibung, und ihr schwarzmagisches Wirken war insbesondere in der Sexualsphäre gefürchtet, wo es bei Impotenz, Frigidität sowie Infertilität angeschuldigt wurde und wo man im Zentrum des unheilvollen Wirkens die Schwangere, die Wöchnerin und das Neugeborene sah.154 Über das Wechselbalg-Modell konnte man die zauberkundigen Frauen auch für embryonale oder frühkindliche Missbildungen verantwortlich machen;155 daß sie über ihre Schwarze Magie mit elbischen Wesen kooperierten und mit wiedergehenden Wöchnerinnen in Verbindung standen, war über jeden Zweifel erhaben. Die Angst von ihnen spiegelt sich in grotesken Abwehrmaßnahmen,156 die nach der Zeitenwende in den frühneuzeitlichen Hexenverbrennungen kulminierten. Selbstverständlich war die Weltsicht germanischer Populationen von magischen Vorstellungen durchsetzt und sahen sich die germanischen Völker von einer Natur umgeben, die durch Analogien strukturiert war und sich ihnen „als komplexes Gebilde mystischer Partizipationen“ offenbarte.157 Das soll jedoch nicht heißen, daß alles medizinische Wirken in der Germania von irrationalen Vorstellungen geprägt und von pararationalen Überzeugungen bestimmt gewesen wäre. Der Umgang mit Schmarotzern, das verlaufsorientierte Wundmanagement, das Beherrschen der Ulcus-Therapie, die Behandlung von Frakturen, die operativen Eingriffe in Hirn und Leibeshöhlen – : das alles zeugt von einem sicheren Erfahrungswissen, das aus nüchterner Beobachtung hervorgegangen war und zu seiner praktischen Anwendung weder mantischer noch magischer Unterstützung bedurfte. Die gleiche Beobachtungsgabe zeigt sich im Erfahrungsschatz der Hygiene, der Ernährungsgewohnheiten und der Pharmakologie, wobei insbesondere die Kenntnisse auf dem Gebiet der Phytotherapie, aber auch der mineralischen Arzneimittel überraschen. In diesen Bereichen sind – wie nicht anders zu erwarten – pathophysiologische und pharmakodynamisch-kinetische Modellvorstellungen entwickelt worden, die nicht immer leicht zu rekonstruieren sind, aus den Benennungsmotivationen einiger Wortfelder heraus aber doch 153 154 155 156
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Kaiser, Heilkunde (wie Anm. 151), S. 201. Heizmann, Willerding, Heilmittel und Heilkräuter (wie Anm. 125), S. 212–213. Kathrin Sohm, Artikel „Wechselbalg“. In: RGA 33 (2006), S. 328–329. Gundolf Keil, Artikel „Unfruchtbarkeit“. In: RGA 31 (2006), S. 440–444; vgl. auch Keil, Wöchnerin (wie Anm. 35), S. 174–175; Keil, Schwangerschaft (wie Anm. 35), S. 415. Christian Daxelmüller, Artikel „Heilbräuche und Heilzauber“. In: RGA 14 (1999), S. 161–164; Leander Petzoldt, Artikel „Magie“. In: RGA 19 (2001), S. 145–149.
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schon erste Konturen gewinnen:158 Besonders deutlich wird das auf dem Gebiet der Wundheilung, die mit dem thermischen Vorgang des Siedens bzw. Wallens ineinsgesetzt worden ist.159 Das zu ahd. swëdan ‘brennen’, ‘sieden’ gebildete Kausativum swedan ‘kochen machen’ erscheint synonym zu heilan in der Wendung: ein Pflaster heilit vnde swedit … wunden;160 die von (swëdan oder) sweden abgeleiteten Deverbativa swedî, swedil,161 swedunga sowie das Kollektivum giswedi übersetzen samt und sonders mittellateinisch „fomentum“, das für ‘Feuchte Bähung’ steht162 und einen ‘warmen Umschlag’163 bezeichnet. Schützeichel übersetzt denn auch die Gleichung kisuedit = „fotus“ mit ‘feucht erwärmt’; Starck/Wells164 kommen mit ‘erwärmender Umschlag’ der intendierten Bedeutung etwas näher und interpretieren das resultative gi-sweden entsprechend mit ‘wärmen’. Im Angelsächsischen entsprechen swaesung und swethel. – Im Hinblick auf die Knochenbrüche wird das Modell des Siedens oder Wallens beim Heilungsvorgang noch deutlicher:165 Das durch den Kochungsvorgang bewirkte Zusammenwachsen frakturierter Knochen heißt im älteren Deutschen zusammenwallen,166 die in Heilung begriffene Wunde wallt; das für die Wund- und Knochenheilung gleichermaßen zuständige Symphytum offici-
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Entsprechende Ansätze zur Erschließung bei Jörg Riecke, Beiträge zum mittelalterlichen deutschen Wortschatz der Heilkunde. In: Gesund und krank im Mittelalter. Marburger Beiträge zur Kulturgeschichte der Medizin, hrsg. von Andreas Meyer, Jürgen Schulz-Grobert. 3. Tagung der Arbeitsgruppe „Marburger Mittelalter-Zentrum (MMZ)“ 2005 (Leipzig 2007), S. 89–106. Keil, Peter von Ulm (wie Anm. 110), S. 167; Willerding (wie Anm. 125), S. 211. Karl Sudhoff, Beiträge zur Geschichte der Chirurgie im Mittelalter. Studien zur Geschichte der Medizin 10–11/12 (Leipzig 1914–1918), Bd. II, S. 438, Z. 60. Bei der -il-Ableitung handelt es sich – wie bei „Schlüssel“, „Würfel“, „Schlägel“, „Stößel“ – um ein typisches Werkzeugsuffix, das den swedil zu den Gerätenamen stellt; vgl. Walter Henzen, Deutsche Wortbildung. 3. Auflage, Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte, B 5 (Tübingen 1965), § 98, S. 156. – Als Tätigkeitsname ist auch swedunga zu bezeichnen (Henzen, § 115, S. 179–182); zur wurzelhaften Bildung auf -î- des Deverbativs swedî vgl. Henzen, § 111, S. 173–174. Willem Frans Daems, Artikel „Arzneiformen“. In: Lexikon des Mittelalters 1 (München, Zürich [1977–]1980), Sp. 1094–1096: embrocatio, fomentum. Schützeichel, Althochdeutscher Glossenwortschatz (wie Anm. 113), Bd. IX, S. 381b. Althochdeutsches Glossenwörterbuch, einschließlich des von Taylor Starck begonnenen Glossenindexes zusammengetragen, bearbeitet und hrsg. von John C. Wells, Germanische Bibliothek [ ] (Heidelberg [1972–]1990), S. 614b. Keil, Peter von Ulm (wie Anm. 110), S. 167, 432, 481–482. Das althochdeutsche stv. zisamane-wallan steht für ‘branden’, das heißt für die in der Brandung aufeinanderprallenden Wogen; vgl. Starck, Wells, Glossenwörterbuch (wie Anm. 164), S. 693a.
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nale L. heißt mittelhochdeutsch wal-wurz167 (mit den Komposita walwurzkrût und walwurz-wazzer); das wal-phlaster wird ausschließlich bei Knochenbrüchen angewandt, und das gleiche gilt für den wal-stein, den ‘Tropfstein’, von dem man erwartete, daß er seine Fähigkeit, mit Stalaktit und Stalakmit zu einer festen Säule zusammenzuwachsen, analog auf den frakturierten Knochen übertrage, dessen Bruchenden der Wundarzt gerichtet hatte und der nun wieder zuosamen-wallen sollte. Ganz klar hat diese Benennungsmotivation der Chirurg von der Weser168 gesehn, als er von Symphytum officinale sagte:169 Consolida maior … etiam ossa consolidat et ideo tali effectu in teutonico nomen accepit – : er hat damit, wie Sudhoff nachwies, die Benennungsmotivation des Beinwells aufgezeigt, der im ersten Kompositionsglied den ‚Knochen‘ (bein) führt und als zweites Glied das Grundwort well bereithält, das (als durch den Deklinationstyp bestimmtes Deverbativum170) sich von wellen, walte ‚zum Sieden bringen‘171 herleitet und als Nomen actionis soviel wie ‚Kocher‘ bedeutet. Der Bildungstyp ist bei altdeutschen Pflanzennamen nicht selten172. Walwurz, Wallstein, Walpflaster und Beinwell umreißen also ein pathophysiologisches Modell, das die Wundheilung als Siedevorgang ausweist und am deutlichsten in den Benennungsmotivationen der Knochenheilung zum Ausdruck kommt. Der bein-well als ‚Knochen-Kocher‘ läßt daran keinen Zweifel. Das Vertrauen in seine Pharmakodynamik war so groß, daß man seine „zusammenwallende“ Wirkung sogar für die Kochkunst sich nutzbar zu machen versucht hat173. 167
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Vgl. Jörg Mildenberger, Anton Trutmanns ‚Arzneibuch‘. Teil II: Wörterbuch, 1–5. Würzburger medizinhistorische Forschungen 56/I–V (Würzburg 1997), V, S. 2235–2236. Gundolf Keil, Artikel „Chirurg von der Weser“ [um 1200 bis gegen 1265]. In: Lexikon des Mittelalters 2 (München, Zürich 1983), Sp. 1859–1860; Gundolf Keil, Artikel „Chirurg von der Weser“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Auflage Bd. 1 (Berlin, New York 1978), Sp. 1196 f.; Gundolf Keil, Artikel „Chirurg von der Weser“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte (Berlin, New York 2005, 2. Auflage 2007), Bd. I, S. 250 f.; Hans-Georg Stephan, Der Chirurg von der Weser (ca. 1200–1265) – ein Glücksfall der Archäologie und Medizingeschichte. Sudhoffs Archiv 77, 1993, S. 174–192. Sudhoff, Chirurgie im Mittelalter (wie Anm. 160), Bd. II, S. 310 und 318–319, Z. 181–183. Henzen, Deutsche Wortbildung (wie Anm. 161), § 78–79, S. 124–128. Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch (Leipzig [1869–]1872– 1878), Bd. III, Sp. 754–755; Kausativum zum stv. wallen, ahd. wallan ‘sieden’. Gundolf Keil, Rolf Müller, Mittelniederfränkisch self-ete. Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 108, 1979, S. 180–187. Vgl. Text bei Anm. 224. Und zwar wenn es darum ging, kleine Fleischbrocken im Kochtopf zu einem ansehnlichen Stück Fleisch zusammenzufügen, will sagen: „aneinanderzukochen“; vgl. Gerd Boßhammer (Hrsg.), Technische und Farbrezepte des Kasseler Codex
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Ein zweites pathophysiologisches Modell, das sich zu konturieren beginnt, ist weniger thermisch als kinetisch ausgerichtet und maßgeblich von der Pharmakodynamik her konzipiert. Es geht aus von der Vorstellung, daß einige einfache bzw. zusammengesetzte Arzneimittel – per os eingenommen – im Magen-Darm-Trakt eine Eigendynamik entfalteten, die vektoriell bestimmt und zentrifugal gerichtet ist. Dabei verläßt das (in seiner Konsistenz flüssige oder verflüssigte) Arzneimittel das Leibesinnere und strebt zur Körperoberfläche, wo es eine pathologische Leibesöffnung sucht, um durch deren Stoma – eine Wunde bzw. ein Geschwür – ins Freie auszuströmen. Schadstoffe (wie Gift, verdorbene Leibessäfte, Extravasate, Eiter, Verunreinigungen, Fremdkörper), die es auf dem Wege von innen nach außen antrifft bzw. im penetrierenden Trauma vorfindet, treibt es dabei vor sich her und schwemmt sie dann durch das pathologische Stoma aus, den Körper von „Materia peccans“ befreiend. Das Modell begegnet in rudimentärer Form zunächst in der Diagnostik, wo bei penetrierenden Unterleibs-Verwundungen es darum ging festzustellen, ob das Trauma heilbar sei oder infaust (at kenna holsár af laukinum ór sárinu).174 Als Kriterium höchster Bedrohlichkeit galt, wenn die penetrierende Verwundung den Magen bzw. die Därme getroffen hatte. Um eine Verletzung der Baucheingeweide zu sichern oder auszuschließen, wurde dem Verwundeten ein Lauchgericht verabfolgt: War der Magen-Darm-Trakt leck, trat Lauch in die Bauchhöhle aus und konnten die schwefligen Umsetzungsprodukte des Alliins am Geruch und Geschmack des austretenden Blutes bzw. Wundsekrets nachgewiesen werden. Vergleichbare Verfahren aus der Antike sowie aus dem Mittelalter fehlen, so daß dem „Blutgeschmackstest“ auf Lauch „Einmaligkeit als Diagnoseverfahren“ bescheinigt werden kann. Eine nächste Stufe des pharmakodynamischen Modells begegnet Ende des 12. Jahrhunderts in der langobardisch-lombardischen Chirurgie Hochsalerns: Hier sind insbesondere die Fistel-Tränke (potiones contra interiorem fistulam) der ‚Ersten (Salerner) Roger-Glosse‘175 zu nennen, die immer
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medicus 4°10. Untersuchungen zur Berufssoziologie des mittelalterlichen Laienarztes. Würzburger medizinhistorische Forschungen 10 (Pattensen/Hannover, Würzburg 1977), Kap. 38, S. 49 und 83–84: Vt carnes crescant in vnum frust[r]um in olla. Kaiser, Heilkunde (wie Anm. 151), S. 203; sieh auch Anm. 216. Um 1195; vgl. Keil, Roger Frugardi (wie Anm. 75), Sp. 144; Gundolf Keil, Artikel „Rogerglosse“. In: Lexikon des Mittelalters 8 (München, Zürich 1995), Sp. 945; Gundolf Keil, Artikel „Rogerglosse“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte, hrsg. von Werner Erich Gerabek u.a. (Berlin, New York 2005, 2. Auflage 2007), Bd. III, S. 1262ab.
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dann verordnet werden, wenn man mit dem Docht oder der Sonde den tiefliegenden, bis in den Knochen gehenden Fistel-Grund nicht erreichen kann (Si vero fuerit fistula in loco ubi tenta non possit ponere, scilicet in osse infistulato … corrupto)176: die oral verabfolgte potio dringt dann vom Magen-Darm-Trakt aus bis zum tiefreichenden Geschwür vor und curat fistulam, was bei dreimal täglich verabfolgter Applikation hohe Ansprüche an die Geduld des Patienten stellt, weil die Therapie nur per longum usum anschlägt: aliquando per annum debet accipi. Daß die ebenso reichlichen wie anhaltend genommenen Mengen des Fistel-Tranks durchs Fistelmaul nach außen abfließen, ist nicht eigens gesagt, wird aber implizit vorausgesetzt und zusätzlich dadurch zum Ausdruck gebracht, daß die Gänge der Röhrenfistel vor Beginn der Trank-Therapie operativ geweitet, das heißt: in Wunden umgewandelt werden sollen ( prius factis vulneribus, … detur patienti ter in die ad quantitatem testae ovi). Die letzte Stufe des zentrifugal-pharmakodynamischen Modells ist erreicht im Konzept des wunt-trankes.177 Es dürfte sich um 1200 herausgebildet haben; die frühesten Belege stammen aus der Mitte des 13. Jahrhunderts und begegnen im ‚Breslauer Arzneibuch‘,178 beim ‚Chirurgen von der 176
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[‚Erste (Salerner) Rogerglosse, hrsg. von] Francesco Puccinotti, Storia della medicina, II, 2 (1. Auflage Livorno 1859), S. 662–795 [zit.]; (2. Auflage Neapel 1863), S. VIIa–LIXb, hier S. 707–708. Klaus Müller, Die ‚Würzburger Wundarznei‘. Ein chirurgisches ArzneimittelHandbuch des Spätmittelalters. Textausgabe, Teil VIII: Edition des achten Segments (Wundtränke), med. Diss. (Würzburg 2003); Klaus Müller, Gundolf Keil, Hilde-Marie Groß, ‚Wundtränke‘ in der deutschen medizinischen Fachprosa des 13. bis 15. Jahrhunderts. Studien zum mittelalterlichen Bedeutungsumfeld eines Erstbelegs im ‚Breslauer Arzneibuch‘. Acta historica et museologica Universitatis silesianae Opaviensis 6 (Troppau, Opava 2003), S. 119–141; Gundolf Keil, Artikel „Wundtrank“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte, hrsg. von Werner Erich Gerabek u.a. (Berlin, New York 2005, 2. Auflage 2007), Bd. III, S. 1507a–1508a; vgl. auch Thomas Schultes, Wunt-tranc – Ruor-tranc. Anmerkungen zu einem inversen pharmakodynamischen Modell, med. Diss. (Würzburg, voraussichtlich 2012); Gundolf Keil, Christine Wolf, Acht Wundtrank-Rezepte aus der ‚Hübsch Chirurgia‘ des Niklas von Mumpelier. In: Forschungsbeiträge der Naturwissenschaftlichen Klasse, hrsg. von Heinrich F. K. Männl, Rudolf Fritsch, Barbara Gießmann. Schriften der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste 31 (München 2011), S. 55–80. Vgl. Anm. 316. Vgl. Anm. 177 und siehe zum oderländischen medizinischen Kompendium aus der Schulstadt Breslau Gundolf Keil, Technisches und medizinisches Schrifttum im mittelalterlichen Schlesien. In: Anfänge und Entwicklung der deutschen Sprache im mittelalterlichen Schlesien, hrsg. von Gudolf Keil, Josef Joachim Menzel. Schlesische Forschungen.Veröffentlichungen des Gerhard-Möbus-Instituts für Schlesienforschung an der Universität Würzburg 6 (Sigmaringen 1995), S. 183–
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Weser‘, bei Petrus Hispanus im ‚Thesaurus pauperum‘ sowie im ‚Arzneibuch‘ Ortolfs von Baierland. 1363 beschreibt Guy de Chauliac in seiner ‚Chirurgia magna‘179 die neue Arzneiform als typisch deutsche Angelegenheit (secta omnium Theutonicorum militum et sequentium bella, qui … potionibus … atque caulis folio procurant omnia vulnera) – : das rote Kohlblatt zur Wundabdeckung hatte in Verbindung mit den Fistel-Tränken bereits die ‚Erste (Salerner) Roger-Glosse‘ verordnet.180 Und welche Rolle der Wundtrank im Heeressanitätswesen des Deutschen Ordens spielte, zeigt Heinrich von Pfalzpaint181 1460 anhand einer Vielzahl von Rezepturen, Geräten und Transportvorrichtungen. Johan van Seghen, der die Pharmakodynamik bestens kannte, hat Wundtrank-Rezepte im Markgräfler Krieg 1450–51 gesammelt und 31 Formeln in seine westfälische Heimat mitgebracht.182 Den flämischen Chirurgen waren um 1300 die Verbindungen nach Salern durchaus noch geläufig: „dit is enen goeden
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218, hier S. 192–202 und S. 218; Gundolf Keil, Das ‚Breslauer Arzneibuch‘ und sein fachliterarisches Umfeld. Jahrbuch der schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 47/48, 2006/07, S. 27–47, hier S. 46 = B 7; Gundolf Keil, Isâk künig Salomons sun machte in Arabia ein buoch, daz Got nie bezzerz geschuof – Die Repräsentanz der Schule von Kairouan im Würzburg und Breslau des 13. Jahrhunderts. In: Ex oriente lux? Wege zur neuzeitlichen Wissenschaft. Begleitband zur Sonderausstellung, hrsg. von Mamoun Fansa, Karen Aydin, Rainer Brömer, Menso Folkerts, Gundolf Keil, Helmuth Schneider, Wolfgang Torge. Schriftenreihe des Landesmuseums Natur und Mensch 70 (Oldenburg, Mainz 2009), S. 212a–225b und 495a–526c; Bernhard Schnell, Werk, Textcorpus oder Sammelhandschrift? Zu den deutschsprachigen Arzneibüchern des Mittelalters. In: Textsortentypologien und Textallianzen des 13. und 14. Jahrhunderts [Beiträge der Internationalen Tagung vom Juni 2007 in Erlangen], hrsg. von Mechthild Habermann. Berliner sprachwissenschaftliche Studien 22 (Berlin 2011), S. 177–200, hier S. 187–190. Und zwar im spitzenständigen ‚Capitulum singulare‘; vgl. Guy de Chauliac, Chirurgia magna Guidonis de Gauliaco … suae primae integritati restituta à Laurentio Jouberto …, Lugduni MDLXXXV. Mit einem Vorwort zum Neudruck von Gundolf Keil (Darmstadt 1976, Neudruck 1980), S. 7. Puccinotti, Storia della medicina (wie Anm. 176), Bd. II,2, S. 708; vgl. auch Müller, ‚Jonghe Lanfranc‘ (wie Anm. 184), S. 62: Usus deutscher Wundärzte, op alle wunden, diemen heelt met drancken, … een root coelblat te legghen. Eine Analyse seiner Wundtrank-Rezepturen und -Konzepte gibt Schultes, Wunttranc – Ruortranc (wie Anm. 177). Helny Alstermark (Hrsg.), Das Arzneibuch des Johan van Seghen. Acta Universitatis Stockholmiensis: Stockholmer germanistische Forschungen 22 (Stockholm 1977), S. 27 und S. 52–58, Kap. 22–53.
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wonden dranc van den iiij mesters uan Salernen die183 si ordinerden …“.184 Inwieweit das Wundtrank-Modell auch außerhalb der Germania rezipiert wurde, läßt sich noch nicht im einzelnen sagen. Auffällig ist, daß Wilhelm von Brescia185 in seinem Theriaktraktat zu Beginn des 14. Jahrhunderts Einflüsse des zentrifugalen Wirkungskonzepts erkennen läßt.186 Was nicht übersehen werden darf, ist die Verankerung in physikalischmechanistischen Denkkategorien: Beide Modelle – das des Siedens und jenes der Zentrifugalkraft – sind außerhalb des humoralpathologischen Paradigmas187 entworfen worden und aus dem Erfahrungswissen abgeleitet. 183
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die] lies dien. Zum n-losen Akkusativ singular des mittelniederländischen Artikels bzw. Demonstrativpronomens siehe Adolphe van Loey, Middelnederlandse spraakkunst I: Vormleer, 4. uitgave (Groningen, Antwerpen 1965), § 32d, S. 45. Vgl. auch: Dese pusone ende drancken ordinerde de iiij mesters van Salerne ter sirurgien van Roelandine ende Rogerus; Eenen anderen wonden dranc, die [vgl. Anm. 183] ordinerden Rogerus, ende es seer wonderlic goet omme wonden met te heelen; Dit es dranc van Salernen; ende dit es eenen goeden wonden dranc van den iiij mesters uan Salernen, die [!] si ordinerden jeghen alle onghemake uan den ogen (Tränenfistel); Dit es den dranc van den iiij mesters van Salernen ende es goet jeghen alle onghemaken die gaten hebben, sonder (‘insbesondere’) jn uersche wonden: Rolf Müller (Hrsg.), Der ‚Jonghe Lanfranc‘. Altdeutsche Lanfranc-Übersetzungen 1, med. Diss. (Bonn 1968; in Kommission: Würzburg), S. 88–91 Bl. 15a–19b; siehe zum Text auch Ria Jansen-Sieben, Artikel „Jonghe Lanfrank“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Auflage Bd. 4 (Berlin, New York 1983), Sp. 836–838; Erwin Huizenga, Het wonderbaarlijke leven van meester Jan Framons. Handschriftelijke context, structuur en intentie van de Middelnederlandse overlevering van de „Jonghe Lanfranc“. In: Artes in context. Opstellen over het handschriftelijk milieu van Middelnederlandse artesteksten, hrsg. von Orlanda S.H. Lie, Joris Reynaert. Artesliteratuur in de Nederlanden 3 (Hilversum 2004), S. 99–148, zu den Wundtrank-Rezepten S. 112–115, 118, 123. Geboren um 1250, gestorben nach 1326. Stammt aus der lombardisch-langobardischen Tradition (Parmas bzw.) Bolognas, lebte als päpstlicher Leibarzt ab 1307 in Avignon und verfaßte seinen Theriaktraktat zur selben Zeit, als die flämisch-brabantischen Wundtrank-Rezepte des ‚Jonghen Lanfranks‘ entstanden (um 1315); vgl. Gundolf Keil, Thomas Holste, Randnotizen zu Wilhelm von Brescia. Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 38/39, 1997/1998, S. 181–184. Michael McVaugh, Theriac at Montpellier 1285–1325 (with an edition of the ‚Questiones de tyriaca‘ of William of Brescia). Sudhoffs Archiv 56, 1972, S. 113– 144, hier S. 130–131, 133, 138 und öfters. Vgl. zur Humoralpathologie die konzise Übersicht von Konrad Goehl (Hrsg.), Guido d’Arezzo der Jüngere und sein ‚Liber mitis‘. Würzburger medizinhistorische Forschungen 32, I–II (Pattensen/Hannover, Würzburg 1984), Bd. I, S. 99–116, 169–180; zusammenfassend Gundolf Keil, Artikel „Humoralpathologie“. In: En-
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Was die Fliehkraft des pharmakodynamischen Modells betrifft, so hat man ihr eine derartige Stärke zugetraut, daß die zentrifugale Dynamik des Wundtranks den Patienten umbringen mußte, wenn der nach außen strebende Trank nicht ein Trauma oder ein Geschwür vorfand, durch das er aus dem Leib ausströmen konnte.188 Und was die thermisch erwirkte Osteosynthese anbelangt, so war die Tatsache, daß durch Sieden und Verdampfen eine Verfestigung erzielt werden konnte, ohne weiteres vom Einkochen am häuslichen Herd her geläufig und wurde zusätzlich durch die zahlreichen Siedegefäße bestätigt, die aus den dicht verbreiteten Meeressalinen und binnenländischen Salzsiedeanlagen weithin bekannt gewesen sein dürften – sie zeigten, wie aus flüssiger Sole durch Sieden festes Steinsalz entstand, das dann als Formsalz in handlichen Brocken gehandelt wurde.189 Physikalisch-mechanistische bzw. technomorphe Vorstellungen begegnen – und das nicht nur aufgrund der pathophysiologischen Vorgaben – auch in der Therapie. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß den Kernbereich germanischer Heilkunde die persönliche Zuwendung und liebevolle Anteilnahme ausmacht, was pflegerische Leistungen einbegreift, sich vor allem jedoch im wirkenden Wort vollzieht: Die germanische Heilkunde ist in erster Linie von menschlicher Nähe geprägt und durch das Gespräch gekennzeichnet.190 In der Benennung des Arztes als lâhhi/laeknir/lâhhinâri kommt dieses Erscheinungsbild des ‚Wortarztes‘ in klaren Konturen zum Ausdruck191 und trägt das Konzept ärztlicher Gesprächsbereitschaft durch den Terminus Sprechzimmer192 bis in die Gegenwart.193
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zyklopädie Medizingeschichte, hrsg. von Werner Erich Gerabek u.a. (Berlin, New York 2005, 2. Auflage 2007), S. 641b–643a. Müller, Würzburger Wundarznei VIII (wie Anm. 177), S. 40–41; Müller, Keil, Groß, Wundtränke (wie Anm. 177), S. 134–135. Theodor Stöllner, Artikel „Salz, Salzgewinnung, Salzhandel“. In: RGA 26 (2004), S. 354–379. Kaiser, Heilkunde (wie Anm. 151), S. 204–205; Kaiser, Krankheiten (wie Anm. 87), S. 313–314. Riecke, Heilkunde (wie Anm. 158), S. 103; Schützeichel, Glossenwortschatz (wie Anm. 113), V, S. 450–451. Der entsprechende DWB-Artikel ist in hohem Maße unbefriedigend; siehe Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, I–XVI und Quellenverzeichnis, 2. Auflage (Leipzig 1854–1971), Neudruck in 33 Bänden, dtv 5945 (München 1984), hier Bd. X/II/I ([1906–]1960) = 17, Sp. 7. Gundolf Keil, Ethische Aspekte des ärztlichen Handelns. . In: Rudolf Berchtold, Chirurgie, weitergeführt gemeinsam mit Horst Hamelmann, Hans-Jürgen Peiper, 4. Auflage besorgt von Hans-Peter Bruch, Otmar Trentz (München, Jena 2001), S. 85a–86b, mit Hinweis auf die Zusammensetzungen Sprechzeit und Sprechstunde sowie auf die Kategorien „Redlichkeit“, „Wahrhaftigkeit“, „Geduld“.
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Sprechzimmer, Sprechstunde, Sprechzeit: Es ist anzunehmen, daß es beim Kontakt zwischen den Kranken und dem lâhhinâri nicht bei einer trostspendenden Unterhaltung geblieben ist, sondern daß seitens des laeknirs auch diätetisch-kurative Verhaltensregeln gegeben wurden, die im Sinne eines „regimen sanitatis“ dem Patienten das râtes lëben194 ermöglichten und ihm den Weg zur Genesung bzw. zur Krankheitsbewältigung wiesen, wobei seine Sippe oder Hausgemeinschaft in diese „vägledning“ mit einbezogen wurde. Und damit nicht genug! Daß der lâhhinâri nicht nur ein Krankenregimen bereithalten, sondern zusätzlich eine Prognose anbieten mußte, lag hinsichtlich der Erwartung des Patienten und seiner Hausgemeinschaft auf der Hand. Die Bedeutungsverschiebung vom ‚Arzte‘ zum ‚Hellseher‘, wie sie der Terminus lâhhinâri in althochdeutscher Zeit durchlaufen hat,195 gibt derartiger Hinwendung zu divinatorischen Praktiken beredten Ausdruck. Eine nicht geringe Rolle bei mantisch gestützten Prognosen dürfte in Gestalt des Krankheitslunars196 das Mondorakel gespielt haben, das allerdings auch unter therapeutischem Aspekt genutzt und hinsichtlich des Blutentzugs zum Festlegen der Laßtage197 befragt wurde; hier stand es in Konkurrenz zu andern laienastrologischen Praktiken wie dem Beachten der Verworfenen198 Tage oder dem Beobachten aufschießender Papulopusteln auf der Haut.199 194
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Gundolf Keil, „regimen sanitatis“ – „râtes lëben“: Gesundheitsregeln des Mittelalters. In: Voeding en geneeskunde/Alimentation et médecine. Acten van het colloquium Brussel 1990, hrsg. von Ria Jansen-Sieben, Frank Daelemans. Archief- en bibliotheekwezen in België, Extranummer 41 (Brüssel 1993), S. 95–124. Schützeichel, Glossenwortschatz (wie Anm. 113), Bd. V, S. 450b. Christoph Weißer (Hrsg.), Studien zum mittelalterlichen Krankheitslunar. Ein Beitrag zur Geschichte laienastrologischer Fachprosa. Würzburger medizinhistorische Forschungen 21 (Pattensen/Hannover, Würzburg 1982); Christoph Weißer, Artikel „Lunare“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 5 (Berlin, New York 1985), Sp. 1054–1062; Christoph Weißer, Artikel „Lunar“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte (Berlin, New York 2005, 2. Auflage 2007), Bd. II, S. 870–871. Die Laßtage wurden begleitet von den gleichfalls aderlaßbezogenen Laßmännlein (ab dem 14. Jahrhundert) und Laßkalendern; vgl. Bettina Götte (Hrsg.), Laßlunare. Untersuchungen zur mittelalterlichen Lunarliteratur unter besonderer Berücksichtigung des Aderlasses. med. Diss. (Würzburg 1997); Bettina Götte, Das Sammellunar aus dem Schlettstätter Kodex 49. Würzburger medizinhistorische Forschungen 20, 2001, S. 168–177; Max Künzel, Beilngrieser Aderlaßmännlein. Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 19, 2000, S. 153–176. Gundolf Keil, Die verworfenen Tage. Sudhoffs Archiv 41, 1957, S. 27–58; Christoph Weißer, Artikel „Verworfene Tage“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 10 (Berlin, New York 1999), Sp. 318–320. Gundolf Keil, Artikel „Capsula eburnea“. In: Die deutsche Literatur des Mittelal-
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Bemerkenswert ist die Bedeutungsverschiebung über den mantischen Bereich hinaus: Die althochdeutsche Gleichung lâchinâra = pythonissa200 läßt erkennen, daß jenseits des Hellseherisch-Divinatorischen der germanische Wortarzt auch suggestivtherapeutisch tätig war und durch wirkende Worte im Gebet, im Segen und in der Beschwörung Heilung zu erzielen versuchte. Entsprechende Zauberformeln sind in reicher Überlieferung verfügbar und haben nicht selten in ihrer Ausbreitung weite Strecken über mehrere Sprachräume hinweg zurückgelegt.201 Thematisch differenzieren lassen sich Wurm-, Fieber-, Pfeil-, Verrenkungs- und Blutsegen,202 die teils als Beschwörung ausgeführt wurden (Tier-
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ters. Verfasserlexikon 11 (Berlin, New York 2004), Sp. 310–314; Hans Hugo Lauer, Artikel „Klostermedizin“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte (Berlin, New York 2005, 2. Auflage 2007), S. 758–764, hier S. 763b. Schützeichel, Glossenwortschatz (wie Anm. 113), S. 450a; zur Bedeutung des lateinischen Lemmas siehe Diefenbach, Glossarium (wie Anm. 115), S. 237b sub voce „Fi-/phitonissa“ = zaubererin, selbeswererin. Alfons Augustinus Barb, Die Blutsegen von Fulda und London. In: Fachliteratur des Mittelalters. Festschrift Gerhard Eis, hrsg. von Gundolf Keil, Rainer Rudolf, Wolfram Schmitt, Hans Josef Vermeer (Stuttgart 1968), S. 485–493; Gundolf Keil, Artikel „Jordansegen“. In: Lexikon des Mittelalters 5 (München, Zürich 1991), Sp. 627; Gundolf Keil, Artikel „Longinussegen“. In: Lexikon des Mittelalters 5 (München, Zürich 1991), Sp. 2107, mit Bezug auf Jozef van Haver, Longinus en de longinuslegende in het Nederlandse taalgebied. Handelingen der koninklijke Zuidnederlandse maatschappij voor taal- en letterkunde en geschiedenis 17, 1963, S. 397–459; 18 (1964), S. 324–364. Friedrich Hälsig, Der Zauberspruch bei den Germanen bis um die Mitte des XVI. Jahrhunderts, phil. Diss. (Leipzig 1910); Oskar Ebermann, Blut- und Wundsegen in ihrer Entwicklung dargestellt. Palaestra 24 (Berlin 1903); Ferdinand Ohrt, De danske Besvaergelser mod Vrid og Blod, phil. Diss. (Kopenhagen 1922); Alfons Augustinus Barb, Der Heilige und die Schlangen. Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 82, 1952, S. 1–7; J. H. G. Grattan, Charles Singer, Anglo-saxon magic and medicine, illustrated specially from the semi-pagan text ‚Lacnunga‘ (London, Toronto 1952); Willy [Louis] Braekman, Middelnederlandse zegeningen, bezweringsformulieren en toverplanten. Uit de Seminarie voor Volkskunde van de Rijksuniversiteit te Gent 6, Verslagen en mededelingen der koninklijke Vlaamse academie voor taal- en letterkunde (1963), S. 275–386; Willy [Louis] Braekman, Middeleeuwse witte en zwarte magie in het Nederlands taalgebied. Gecommentarieerd compendium van incantamenta tot einde 16de eeuw. Verhandelingen der koninklijke Academie voor Nederlandse taal- en letterkunde VI, 147 (Gent 1997); Jozef van Haver, Nederlandse incantatieliteratuur. Een gecommentarieerd compendium van Nederlandse bezweringsformules. Koninklijke Vlaamse academie voor taal- en letterkunde, VI: Bekroonde werken 94 (Gent 1964); Irmgard Hampp, Beschwörung – Segen – Gebet. Untersuchungen zum Zauberspruch aus dem Bereich der Volksheilkunde. Veröffentlichungen des staatlichen Amtes für Denkmalpflege C, 1 (Stuttgart 1961); Monika Schulz, Artikel „Wund-,
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Stellung), teils als Gebet gestaltet sind, wobei die Grenzen mitunter fließend scheinen und nicht selten dieselbe Formel in unterschiedlichen Gattungen begegnet. Auffällig sind Beispiele hervorragender morphologischer Kenntnisse sowohl auf dem Gebiet der Human- wie Veterinäranatomie203, die in ihrer Komplexität nachzuvollziehen grade moderne Interpreten oft vor unüberwindliche Hindernisse stellt.204 Mit dem Zauberspruch verwandt ist das Zauberwort, das diesem gattungsgeschichtlich anscheinend vorausgeht.205 Am verbreitetsten scheinen und zu sein, wobei alu unter apotropäischer Ausrichtung ‘Schutz’ verhieß und ‘Abwehr’ des Unheils bedeutete, während laukaR, der ‘Lauch’, in Heilfunktion konnotierte und ‘Gedeihen’ versprach. Bemerkenswert ist die stabende Zwillingsformel ‘Leinen und Lauch’ (linaR, laukaR), die – neben lathu ‘Einladung’ gestellt – so etwas wie eine Einladung an schützende Geister darstellte und wie ‘Heil’ versprach.206 Das Gegenteil bewirkte ota, der ‘Schrecken’. Beachtung verdient
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Blutbeschwörungen“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 11 (Berlin, New York 2004), Sp. 1683–1690; Monika Schulz, Artikel „Wurmbeschwörungen“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 11 (Berlin, New York 2004), Sp. 1691–1694; Beck, Keil, Wunden und Wundbehandlung (wie Anm. 123), S. 329–330: Blutbann; Beck, Keil, Wurm (wie Anm. 141), S. 337–338: Wurmsegen; Gundolf Keil, Artikel „Ungeziefer“. In: RGA 31 (2006), S. 481–483: Bannsprüche; Rudolf Simek, Artikel „Zauberspruch und Zauberdichtung“. In: RGA 34 (2006), S. 441–446; Wolfgang Wegner, Artikel „Wundsegen“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte (Berlin, New York 2005, 2. Auflage 2007), Bd. III, S. 1506; Wolfgang Wegner, Artikel „Zauberspruch“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte (Berlin, New York 2005, 2. Auflage 2007), Bd. III, S. 1524–1526. Gerhard Eis, Altdeutsche Zaubersprüche (Berlin 1964, Neudruck 1996), S. 7–30, 58–66. Rainer Reiche, Neues Material zu den altdeutschen Nesso-Sprüchen. Archiv für Kulturgeschichte 59, 1977, S. 1–24; Monika Schulz, Beschwörungen im Mittelalter. Einführung und Überblick (Heidelberg 2003). Simek, Zauberspruch (wie Anm. 202), S. 442–443; Kaiser, Heilkunde (wie Anm. 151), S. 201. Klaus Düwel, Runenkunde. Sammlung Metzler 72 (Stuttgart, Weimar, 4. Auflage 2008), Kapitel „Formelwörter“, S. 52–54, mit Bezug auf Wilhelm Heizmann, Bildformel und Formelwort. Zu den laukaR-Inschriften auf Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit. In: Runor och runinskrifter. Föredrag vid Riksantikvarieämbetets och Vitterhedsakademiens symposium 1985. Kungliga Vitterheds Historie och Antikvitets Akademien: konferenser 15 (Stockholm 1987), S. 145–153; Heinrich Beck, Karl Hauck, Zur philologischen und historischen Auswertung eines neuen DreiGötter-Brakteaten aus Sorte Muld, Dänemark (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, LXIII). Frühmittelalterliche Studien 36, 2002, S. 51–94; Solveig Möllenberg, Tradition und Transfer in spätgermanischer Zeit. Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 76 (Berlin, New York 2011), S. 63.
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die dreigliedrige Formel thistill mistill kistill, die gelegentlich kryptographische Sortierung der Runen aufweist und möglicherweise als Verschlußzauber zu deuten ist, der unheilbringende Wesenheiten nicht bannt, sondern umschließt und „unter Verschluß“ hält.207 Die Schutz und Heil bringenden Formelwörter wurden in Brakteaten geprägt, in Stein gemeißelt, in Bleiamulette geritzt: mit den Zauberwörtern auf Amuletten und Talismanen war die Grenze von der Wortmagie zum Zauberritual, zu den Zauberpraktiken überschritten.208 Die Formelvielfalt des Heilungszaubers ist beeindruckend; sie umfaßte Kontakt- und Distanzmagie209 in gleicher Weise und kannte keine Abgrenzung zwischen ausschließlich suggestivtherapeutischem Ritual und pharmazeutisch-traumatologisch-chirurgischer Maßnahme: Wortmagie und Zauberritual waren von chirurgischem Redressement begleitet, mit Verfahren des Wundmanagements verquickt, von hämostyptischem Vorgehen flankiert,210 auf Modalitäten der Arzneimittelherstellung ausgerichtet und auf das Gewinnen einfacher Arzneimittel fixiert.211 Die Eisenkraut-Ernte und die Geier-Jagd können hier als exemplarisch gelten. Die germanische Heilkunde hat mit magischen Edelsteinen gearbeitet, und ihr Arzneischatz weist mineralische Arzneidrogen ebenso auf wie tier-
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John McKinnell, Rudolf Simek, Klaus Düwel, Runes, magic and religion. A sourcebook. Studia mediaevalia septentrionalia 19 (Wien 2004), S. 134–140. Karl Hauck, Die Spannung zwischen Zauber- und Erfahrungsmedizin, erhellt an Rezepten aus zwei Jahrtausenden (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, XIV). Frühmittelalterliche Studien 11, 1977, S. 414–510. Vgl. Gundolf Keil, Der Botensegen. Eine Anweisung zur Wasserweihe bei der Wundbehandlung. Medizinische Monatsschrift 11, 1957, S. 541a–543b. Ein gutes, wenngleich spätmittelalterliches Beispiel bietet die ostmitteldeutsche Feldchirurgie: Hilde-Marie Groß, Gundolf Keil (Hrsg.), ‚Wiltu die wunde wol bewarn‘. Ein Leitfaden feldärztlicher Notversorgung aus dem spätmittelalterlichen Schlesien. Fachprosaforschung – Grenzüberschreitungen 2/3, 2006/07, S. 113–134, hier S. 129, § 36b–f. Gute Beispiele liefern die Eisenkraut- und die Geier-Traktate; vgl. Joachim Stürmer, Gundolf Keil, Artikel „Geiertraktat“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Auflage Bd. 2 (Berlin, New York 1980), Sp. 1137–1140; Gundolf Keil, Artikel „De vulture“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Auflage Bd. 10 (Berlin, New York 1999), Sp. 552; Gundolf Keil, Artikel „Verbenatraktat“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Auflage Bd. 10 (Berlin, New York 1999), Sp. 242–243. – Vgl. zur Sache auch Armand Delatte, Herbarius. Recherches sur le cérémoniel usité chez les anciens pour la cueillette des simples et des plantes magiques. 3. Auflage. Verhandelingen der koninklijke Academie van België: Klasse der letteren en der morele en staatkundige wetenschappen, Oktav-Serie, LIV, 4 (Brüssel 1961).
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ische Arzneimittel.212 Die zentrale Rolle spielten indessen die Heilpflanzen, unter denen dem Wegerich,213 der Engelwurz214 und dem Wacholder215 besondere Bedeutung zukam – von den Laucharten216 ganz zu schweigen. Für Abtreibungen wurde der Säbenbaum217 benutzt. Einige Arzneipflanzen erzielten so hohe Anerkennung, daß sie in weitgefächerter Heilanzeige zur Anwendung kamen und den Status von Wunderdrogen218 erlangten.
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Heizmann, Willerding, Heilmittel und Heilkräuter (wie Anm. 125); Kaiser, Heilkunde (wie Anm. 151), S. 205; Reier, Heilkunde (wie Anm. 73), Bd. I, S. 180–183, 280–281, 525–541. Animalische Materia medica stammte vom Menschen und seinen Haustieren (Rind, Schwein, Ziege, Schaf, Hund, Katze, Gans, Ente, Huhn) sowie von – teils bejagten – Wildtieren (Bär, Hirsch, Wildschwein, Reh, Hase, Wolf, Fuchs, Wal, Aal, Schlangen, Lurche, Spinnen); vgl. die Nachweise bei Mildenberger, Trutmanns Wörterbuch (wie Anm. 167), unter den Stichwörtern; Marian Elizabeth Polhill, Hans Minners Tierbuch (ca. 1478): Edition – Kommentar – Wörterbuch. Würzburger medizinhistorische Forschungen 88 (Würzburg 2006). Henrik Harpestraeng, Liber herbarum [Denne latinske Urtebog], utgivet af Poul Hauberg (København 1936), Kap. 40, S. 104–107, 147; zu Pseudo-Harpestraeng siehe Gundolf Keil, Artikel „Henrik Harpestraeng“ und „Alexander Hispanus“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Auflage Bd. 3 (Berlin, New York 1981), Sp. 476–479, und Bd. 4 (1983), Sp. 53–58. Johannes Gottfried Mayer, Die ersten gedruckten Kräuterbücher und das AngelikaWasser der Donaueschinger Taulerhandschrift. In: Würzburger Fachprosa-Studien. Beiträge zur mittelalterlichen Medizin-, Pharmazie- und Standesgeschichte. Festschrift Michael Holler, hrsg. von Gundolf Keil. Würzburger medizinhistorische Forschungen 38 (Würzburg 1995), S. 156–177. Sabine Kurschat-Fellinger, Kranewitt. Untersuchungen zu den altdeutschen Übersetzungen des nordischen Wacholderbeertraktats (Mittelalterliche Wunderdrogentraktate III). Würzburger medizinhistorische Forschungen 20 (Pattensen/Hannover, Würzburg 1983); Sabine Kurschat-Fellinger, Gundolf Keil, Artikel „KranewittbeerTraktat“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Auflage Bd. 5 (Berlin, New York 1985), Sp. 338–340. Vgl. Text mit Anm. 174 sowie Düwel, Runenkunde (wie Anm. 206), S. 53, mit Hinweis auf „die überragende Bedeutung“ von Lauch-Arten (Allium spec.) „in der Heilbehandlung fast aller Arten von Verletzungen und Erkrankungen von Pferdeextremitäten“. Vagn Jørgensen Brøndegaard, Der Sadebaum als Abortivum. Sudhoffs Archiv 48, 1964, S. 331–351; Gundolf Keil, Artikel „Säbenbaum, Sadebaum“. In: Lexikon des Mittelalters 7 (München, Zürich 1995), Sp. 1216. Gundolf Keil, Artikel „Wunderdrogentraktate“. In: Lexikon des Mittelalters 9 (München 1998, Neudruck Stuttgart u.a. 1999), Sp. 365–366; Gundolf Keil, Artikel „Wunderdrogentraktate“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte (Berlin, New York 2005, 2. Auflage 2007), Bd. III, S. 1504b–1505b; Francis B. Brévart, Between medicine, magic, and religion: Wonder drugs in German medico-pharmaceutical treatises of the thirteenth to the sixteenth centuries. Speculum 83, 2008, S. 1–57; vgl. auch Gundolf Keil, Phytotherapie im Mittelalter. Scientiarum Historia 17, 1994,
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Was wiederum überrascht, ist die überaus genaue Kenntnis der PflanzenPhysiologie219 und insbesondere der -Morphologie, was sich in Kräutersammelkalendern220 spiegelt und in Benennungen zum Ausdruck kommt, die in frappierender Weise das Gestalthafte der Pflanze bis aufs Niveau der Lupenvergrößerung wiedergeben.221 Sie korrelieren mit ebenso präzisen Beobachtungen zur Pharmakodynamik und -kinetik, die über das Pflanzenreich hinausgreifen und das Reich der Pilze mit einbeziehn.222 In der Kenntnis pflanzlicher Heilwirkungen waren germanische Völker ihren Nachbarn überlegen. Obwohl aus der Zeit vor dem Hochmittelalter keine Drogenmonographien geschweige denn Kräuterbücher erhalten sind,223 fehlt es nicht an einschlägigen Benennungsmotivationen, die auf die therapeutische Verwendung einfacher Arzneimittel hinweisen. Die Deutung ist nicht immer ganz einfach, wie die Beispiele aus der Knochenheilung (beinwell) und aus der Praxis des Ätzens (selfete) zeigen224 und wie sie
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S. 7–38, hier S. 22; Gundolf Keil, Peter Dilg, Artikel „Kräuterbücher“. In: Lexikon des Mittelalters 5 (München, Zürich 1991), Sp. 1476–1480. Peter Dilg, Artikel „Pflanzenkunde“. In: Lexikon des Mittelalters 6 (München, Zürich 1993), Sp. 2038–2046. Ulrich Stoll, „De tempore herbarum“. Vegetabilische Heilmittel im Spiegel von Kräuter-Sammel-Kalendern des Mittelalters. Eine Bestandsaufnahme. In: Rhythmus und Saisonalität. Kongreßakten zum 5. Symposium des Mediävistenverbandes in Göttingen 1993, hrsg. von Peter Dilg, Gundolf Keil, Dietz-Rüdiger Moser (Sigmaringen 1995), S. 347–375. Vagn Jørgensen Brøndegaard, Ein angelsächsischer Pflanzenname : ‚openars(e)‘. Sudhoffs Archiv 63, 1979, S. 190–193; auch in: Vagn Jørgensen Brøndegaard, Ethnobotanik. Pflanzen im Brauchtum, in der Geschichte und Volksmedizin. Beiträge zur Ethnomedizin, Ethnobotanik und Ethnozoologie 6 (Berlin 1985), S. 17–20; Vagn Jørgensen Brøndegaard, Das „Menschlein“ in der Blüte. Zur Genese eines Pflanzennamens: Stiefmütterchen. Sudhoffs Archiv 79, 1995, S. 227– 230; Vagn Jørgensen Brøndegaard, Elfentanz und Hexenring Pilze in der Volksmedizin: Lycoperdon und Bovista, in: Vagn Jørgensen Brøndegaard, Ethnobotanik (Berlin 1985), S. 21–81 sowie 238–255. Vagn Jørgensen Brøndegaard, Die Hirschtrüffel. Ethnomedizin 3, 1974/75, Heft 1/2, S. 169–174; auch in: Vagn Jørgensen Brøndegaard, Ethnobotanik (wie Anm. 221), S. 231–237. Wahrscheinlich waren die entsprechenden Gattungen, die sich gegenseitig bedingen (die Monographien stellen die Teiltexte für die aggregative Textsorte „Kräuterbuch“) in der Germania vor dem 11. Jahrhundert gar nicht ausgebildet. Vgl. zur Wortbildung den Text Anm. 172. – Gegenüber der Antike hat sich die Artenkenntnis im Mittelalter vervielfacht. Der erhebliche pharmakobotanische Wissenszuwachs ist zum großen Teil der agrarischen Gesellschaft zu danken. Bauerngärten lassen sich im Spätmittelalter als Vorläufer der botanischen Gärten nachweisen. Vgl. Gundolf Keil, „…daz crütlin, daz man mir zů Kammerach zůg“: Anton Trutmann als spätmittelalterlicher Phytopharmazeut zwischen Deutschland,
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auch die metonyme Indikationsbezeichnung des anthelminthisch genutzten Wermuts225 erkennen läßt. Besonders hervorzuheben ist die Tatsache, daß die kreislaufstabilisierende Wirkung von Glykosiden bereits im 8. Jahrhundert therapeutisch genutzt wurde – das ‚Lorscher Arzneibuch‘ verordnet einen Meerzwiebel-Breiumschlag bei großflächigen Unterschenkelgeschwüren226 – , und aus dieser äußerlichen Anwendung ist die innerliche Verabreichung erwachsen, wie sie Gabriel von Lebenstein gegen 1400 empfiehlt:227 Der Mährisch Schlesier hat die Meerzwiebel gegen das Maiglöckchen ausgetauscht und damit vom Scillaren den Wechsel zum wirksameren Convallarin vollzogen, was ihm die Möglichkeit gab, die Glykosidtherapie gezielt bei Herzinsuffizienz einzusetzen.228 Über Wien, Augsburg und Straßburg setzte sich seine kardiotrope Anwendung grenzübergreifend durch.229 William Withering, der zunächst noch mit dem Maiglöckchen therapierte, hat in den 1770er Jahren die Convallaria majalis gegen den Roten Fingerhut aus-
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Frankreich und der Schweiz. In: Botanische Gärten und botanische Forschungsreisen. Beiträge der Tagung vom 7. bis 9. Mai 2010 an der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, hrsg. von Ingrid Kästner, Jürgen Kiefer. Europäische Wissenschaftsbeziehungen 3 [Horst-Rudolf-Abe-Studien für Wissenschaftsgeschichte 3] (Aachen 2011), S. 3–34, hier S. 22–33; sieh auch Gundolf Keil (, Jörg Mildenberger), Artikel „Gottfried von Franken/von Würzburg“, „Meister Richard, ein grôzer meister“ und „Anton Trutmann“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Auflage Bd. 3 (1981), Sp. 125–136; Bd. 8 (1992), Sp. 43 f.; Bd. 9 (1995), Sp. 1107–1109. Beck, Keil, Wurm (wie Anm. 141), S. 332. Das Lorscher Arzneibuch, hrsg. von Gundolf Keil, Bd. I: Faksimile der Handschrift Msc. med. 1 der Staatsbibliothek Bamberg; Bd. II: Übersetzung von Gundolf Keil, Ulrich Stoll, Albert Ohlmeyer (Stuttgart 1989), I: Bl. 31v; II: S. 14b und 62b, Kap. 123: „Behandlung des orthostatischen Ödems mit Herzglykosiden (Scillaren …)“. Gundolf Keil, „Es hat vnser libe fraw gesprochen in dem puch der libe: ‚Ich pin ein plvm des tals vnd auch des grvnen waldes‘“: Die Einführung der ConvallarinGlykoside als Hinweis auf mährisch-schlesische Provenienz. In: Germanistik im Spiegel der Generationen. Festschrift Zdeněk Masařík, hrsg. von Iva Kratochvílová, Lenka Vaňková (Troppau u.a. 2004), S. 72–131, korrigierter Wiederabdruck in: Fachprosaforschung – Grenzüberschreitungen 1, 2005, S. 105–154. Gernot Rath, Die Convallaria majalis, ihr Weg durch die Geschichte. In: Convallaria-Glykoside und die quantitativen Probleme der Herzglykosidwirkung. Festschrift Hans Madaus, hrsg. von [Wilhelm] Grote (Köln 1959), S. 3–37. Heike Will, Vergleich der Indikationen des ‚Kleinen Destillierbuches‘ des Chirurgen Hieronymus Brunschwig (Straßburg 1500) mit den nach derzeitigem Erkenntnisstand belegten Indikationen, math.-nat. Diss. (Würzburg 2009), S. 190, Nr. 166, und S. 382.
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getauscht.230 Dessen herzwirksame Glykoside sind bis heute führend in der Behandlung von Herzinsuffizienzen geblieben.231 Im Gegensatz zur Herzglykosidtherapie ist die Antibiotika-Behandlung gegen Ende des Mittelalters in Vergessenheit geraten. Ihre Wiederentdeckung aufgrund der Hemmhof-Beobachtung brachte Alexander Fleming 1943 den englischen Adelstitel, 1945 den medizinischen Nobelpreis und darüber hinaus eine Vielzahl nationaler wie internationaler Ehrungen ein. Nach seiner Entdeckung (1927) erprobte Fleming ein Jahrzehnt den Einsatz von Penicillin in der Wundbehandlung.232 Das ‚Lorscher Arzneibuch‘233 bietet das Verfahren 1100 Jahre früher: es empfiehlt bei ausgedehnten und tiefgreifenden Ulcera cruris, die „schon die Knochen herausschauen lassen“, den Einsatz von Schimmelpilzen: Die Penicillium-Bestände werden von trockenem Käse abgerieben, unter Honig-Zusatz auf einen Käse-Schafdung-Nährboden aufgebracht und bei einer Wachstumsphase von 20 Tagen über das Geschwür gelegt: das heile unter einem solchen Kataplasma „schnell“.234 Aus derselben Zeit wie das Penicillin-Rezept stammt eine Anweisung zur zytostatischen Bekämpfung von Hautkrebs. Die Rezeptformel bezieht sich auf eine an Karl dem Großen durchgeführte Behandlung und verordnet die äußerliche Anwendung des Pulvers von citulosa:235 Das Herbstzeitlosen-Pulver mit seinem Gehalt an Kolchizin236 hat sich als zellwachstums-
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Publiziert 1785; vgl. Christoph Gradmann, Artikel „William Withering“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte (Berlin, New York 2005, 2. Auflage 2007), Bd. III, S. 1501a. Curt Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch, weitergeführt von Artur Burger und Helmut Wachter, 9. Auflage besorgt von Herman P.T. Ammon (Berlin, New York 2004), S. 449b–450a und 670a-672b; Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch (wie Anm. 57), S. 428b–429a und 790a–791a. Barbara I. Tshisuaka, Artikel „Sir Alexander Fleming“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte (Berlin, New York 2005, 2. Auflage 2007), Bd. I, S. 404ab. Keil, Stoll, Ohlmeyer, Lorscher Arzneibuch (wie Anm. 226), Bd. I, Bl. 31v; Bd. II, S. 14b und 62ab, Kap. 121: „gegen Unterschenkelgeschwüre an den Schienbeinen“. Vgl. dazu Ulrich Stoll, B. Müller, Alte Rezepte modern betrachtet. Ein Versuch zur Beurteilung frühmittelalterlicher Pharmakotherapie aus heutiger Sicht. Geschichte der Pharmazie 42, 1990, S. 33a–40c; Gundolf Keil, Albert Ohlmeyer, Artikel „Lorscher Arzneibuch“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 11 (Berlin, Leipzig 2004), Sp. 926–930, hier Sp. 928. Gundolf Keil, Das Krebs-Pulver-Rezept für Karl den Großen. Histoire des Sciences médicales 17, 1982, Sondernummer, Bd. II, S. 209–215, korrigierter Wiederabdruck in: Würzburger medizinhistorische Forschungen 3, 1985, S. 243–250. – Zu den Schreibungen von zîtelôsa siehe Schützeichel, Althochdeutscher Glossenwortschatz (wie Anm. 113), Bd. XI, S. 431a: citolosa, cytholosa. Von Colchicum autumnale L., das im Mittelalter unter dem Terminus „hermodacty-
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hemmendes Mitose-Gift in der zytostatischen Therapie äußerlicher Krebsgeschwüre weit über das Mittelalter hinaus bewährt; die lombardischlangobardische Chirurgie von Parma, Salern und Bologna sicherte dem pulvis citulosae seine führende Stellung in der Krebstherapie grenzübergreifend bis in die Neuzeit.237 Was bei den drei Rezeptformeln auffällt, ist ihre wortkarge Schlichtheit. Sie gehören zu den Kurzrezepten und gehn in ihrer Strukturierung über das Zwei-Komponenten-Modell kaum hinaus.238 Textpragmatik und die Ausrichtung auf außerschriftliches Memorieren haben ihre Gestalt geprägt. Doch zeigt ein Blick auf ‚Kaiser Karls Latwerge‘,239 daß es in der Germania auch aufwendigere Formeln gab, die zu den Vollrezepten gehörten und von ihrer Textgestalt wie von ihrer Pharmakokinetik her als so gelungen galten, daß sie in Nachschlagewerke aufgenommen wurden und als magistrale Formeln sich im offizinellen Arzneischatz bis nahezu in die Gegenwart hielten.
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lus“ läuft. – Zu Colchicin siehe Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch (wie Anm. 231), S. 385b–386a; Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch (wie Anm. 57), S. 360a. Die Tradition läuft über die Roger-Chirurgie, die Roger-Glosse und die lombardischen Nachfolge-Schriften des 12.–13. Jahrhunderts; vgl. Rüdiger Frutgard/ Roger Frugardi, ‚Chirurgie‘ (bzw. ‚Rogerglosse‘) (wie Anm. 75), S. 141–147; vgl. Sudhoff, Chirurgie im Mittelalter (wie Anm. 160), Bd. II, S. 207 (Z. 180), 221 (Fußnote 2), 285 (Z. 608–610), 286 (Z. 619–621), 435 (Z. 61–62: aus der Rogerglosse des ‚Brelauer Arzneibuchs‘, Külz-Trosse [wie Anm. 288], S. 141, Z. 2–3: das „puluer hermodactili“); vgl. auch Guy de Chauliac, ‚Chirurgia magna‘ (wie Anm. 179), VII, I, 6, S. 406: „De medicinis corrosiuis …: hermodactyli puluerati“. Vgl. Gundolf Keil, Medizinisches Wissen und der gemeine Mann. Heilkundliche Katechese im 17. und 18. Jahrhundert. In: Wissenschaftskommunikation in Europa im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge der Tagung vom 5. und 6. Dezember 2008 an der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt. Europäische Wissenschaftsbeziehungen 1 (Aachen 2009), S. 325–376, hier S. 333–336; Gundolf Keil, Die „Römische Chrurgie“: Anmerkungen zu einem schlesischen ArzneimittelHandbuch aus dem spätmittelalterlichen Kloster Farfa in Latium. In: Textsortentypologien und Textallianzen des 13. und 14. Jahrhunderts [Beiträge der Internationalen Tagung vom Juni 2007 in Erlangen], hrsg. von Mechthild Habermann. Berliner sprachwissenschaftliche Studien 22 (Berlin 2011), S. 201–266, hier S. 202–208 sowie S. 247 Anm. 304. Gundolf Keil, Ein Rezept mit dem Namen Karls des Großen, Zeitschrift für deutsche Philologie 81, 1962, S. 329–337, mit Nachträgen in: Sudhoffs Archiv 59, 1975, S. 80–81; Hartmut Broszinski, Zwei Rezepte mit dem Namen König Karls. Medizinische Monatsschrift 29, 1975, S. 397a–401b; Hartmut Broszinski, Artikel „Kaiser Karls Latwerge“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Auflage Bd. 4 (Berlin, New York 1983), Sp. 944–945: Neuzeitliche Umwidmung auf Kaiser Karl V., bis ins 19. Jahrhundert offizinell; eine fast 1000jährige Textgeschichte; Keil, Krebs-Pulver-Rezept für Karl den Großen (wie Anm. 235), S. 244–248.
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Aufwendigere Rezeptformeln (wenn nicht Rezepturtraktate240) waren auch erforderlich, als es um die pharmazeutische Technologie für Vollnarkosen ging. Die im schlesischen ‚Traktat von den schlafmachenden Stücken‘ zusammengefaßten Vorschriften füllen immerhin drei engbeschriebene Quart-Seiten.241 Sie bieten von der reinen Inhalationsnarkose über die Schlafschwämme der Resorptionsnarkose bis hin zu den „slâpdranken“ einen weiten Fächer von Anästhesie-Methoden, wie sie vor 1300 im Norden der deutschen Gulden-Zone gang und gäbe waren. Das Verfahren der Vollnarkose ist vor 800 anscheinend „von germanischen Wundärzten entwickelt“ worden;242 es benutzt ein Stoffgemisch aus sedierenden, narkotisierenden sowie analgesierenden243 Alkaloiden, denen als Gegenspieler zentral erregende Stoffe wie Anethol und d-Fenechon entgegengestellt wurden. Das duale System baut auf dem Antagonismus von Schlafschwämmen gegen Weckschwämme auf, wobei die ersteren die Narkose einzuleiten und fortzuführen hatten, während mit den Weckschwämmen die Narkose gesteuert bzw. ausgeleitet wurde. Jüngere Entwicklungen des Hochmittelalters gesellten diesem Standard einer Inhalations-Resorptionsnarkose weitere Verfahren hinzu, unter denen die reinen Inhalationsnarkosen ( fumigationes; lâz ez den kranken riechen), die oralen Narkosen (slâf machende trenke) und die analgesierenden Analzäpfchen besonders hervorzuheben sind. Auch intranasale Applikationen wurden versucht. Die Suchtgefahr war erkannt; der Austausch giftiger gegen weniger giftige Substanzen begann im 12. Jahrhundert; die schlechte Steuerbarkeit der Narkosen führte indessen zu Zwischenfällen und ließ ab 1363 Kritik an den slâfmachenden swemben laut werden, die 1497 schließlich zum Verdikt des führenden Wundarztes Hieroe nymus Brunschwig führten: „do hut dich vor“, warnt er seine Berufskollegen im Hinblick auf die Narkosen, „dann werden gern schöl240
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Beziehungsweise prozessual geordnete Rezeptgruppen; vgl. Keil, Pathologie und Reihung (wie Anm. 132), S. 231–232; Keil, Römische Chirurgie (wie Anm. 238), S. 236–239, 240–241, 242–245. Gundolf Keil, Artikel „Traktat von den schlafmachenden Stücken nach der arabischen [!] Weise“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Auflage Bd. 9 (Berlin, New York 1995), Sp. 997–998; Haage, Wegner, Keil, Haage-Naber (wie Anm. 44), S. 211–212. Gundolf Keil, „Spongia somnifera“: Mittelalterliche Meilensteine auf dem Weg zur Voll- und Lokalnarkose. Der Anaesthesist 38, 1989, S. 643a–648b; Gundolf Keil, Zum Geleit. In: Illustrierte Geschichte der Anästhesie, hrsg. von Ludwig Brandt zusammen mit Karl-Heinz Bräutigam, Michael Goerig, Csaba Nemes, Hans Nolte, Gundolf Keil (Stuttgart 1997), S. Va–Xc. Hinzu kamen halluzinogene und psychotomimetische Alkaloide; Ende des Hochmittelalters begegnen als Adjuvans vereinzelt auch anorganische Gifte (Arsentrioxid).
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lig244 und unsinnig daruon“. Paracelsus, dem wir ein frühes Verfahren der Äthergewinnung verdanken, hat drei Jahrzehnte später denn auch die Äthernarkose nicht mehr am Menschen erprobt, sondern die Ätherdämpfe nur noch an Hühnern getestet, wobei er feststellte, daß sie „endtschlaffen auff ein zeit“ und daß sie nach einer gewissen Frist „ohn schaden wider auffstond“. – Moderne Medizinhistoriker präsentieren den 16.10.1846 als den „Äthertag von Boston“ und feiern William Th. G. Morton als „den Entdecker des Äthers als Anästetikum“.245 Narkose, Antibiose, Zytostatika und kreislaufstabilisierende Glykoside verschafften der germanischen Chirurgie jenen Vorsprung vor der Romania, der zunehmend Beachtung findet und sich in den osteoarchäologischen Befunden spiegelt. Zu ihren beeindruckenden Leistungen wären die Wundärzte germanischer Völker indessen nicht in der Lage gewesen ohne ihre beispielhafte Diagnostik,246 ohne detaillierte anatomische Kenntnisse247 und ohne das Beherrschen der Blutstillung, die sie zu größeren chirurgischen Eingriffen befähigte und ihnen die Möglichkeiten der Stumpfversorgung wie auch – bei Amputationen248 – des Absetzens im Gesunden gab. Das Umstechen der spritzenden arteriellen Gefäße wird gegen 1250 in der Lombardei249 und im Weserbergland250 nachweisbar, 244
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„schöllig“] entspricht „hirn-schellig“, ‘toll im Hirn’, ‘tobsüchtig’, ‘maniakalisch’, ‘nicht bei Verstand’, vgl. M[ax] Höfler, Deutsches Krankheitsnamen-Buch (München 1899, Neudruck Hildesheim 1970), S. 562a. Vgl. Michaela Triebs, Artikel „Thomas William Green Morton [!]“. In: Ärztelexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, hrsg. von Wolfgang U[do] Eckart, Christoph Gradmann. Beck’sche Reihe 1095 (München 1995), S. 258b–259a; Barbara I. Tshisuaka, Artikel „William Thomas Green Morton“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte (Berlin, New York 2005, 2. Auflage 2007), Bd. II, S. 1011b–1012a; Andreas-Holger Maehle, Neue Mittel der Schmerzbekämpfung: Vom Morphium zur Narkose. In: Meilensteine der Medizin, hrsg. von Heinz Schott (Dortmund 1996), S. 296–303. Vgl. Text bei Anm. 120–140. Beispiele ausgezeichneter anatomischer Kenntnisse weist Reier, Heilkunde (wie Anm. 73), S. 544–551, nach, wobei er auch ein beeindruckendes Glossar altnordischer Termini aus der Anatomie zusammenstellt. Weitere Nachweise bietet Riecke, Wortschatz der Heilkunde (wie Anm. 158), S. 94, mit Bezug auf Jörg Riecke, Die Frühgeschichte der mittelalterlichen medizinische Fachsprache im Deutschen (Berlin, New York 2004), Bd. I, S. 156–198. Wolf-Rüdiger Teegen, Rimantas Jankauskas, Peter Stegemann-Auhage, Michael Schultz, Überlegungen zur Differentialdiagnose der Amputation in der Paläontologie. Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 14 (1996), S. 359– 366. Bei Bruno von Longoburgo; vgl. zu ihm Gundolf Keil, Artikel „Bruno von Longoburgo“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Auflage
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wobei Bruno von Longoburgo251 das Zusammenbinden beider Gefäßstümpfe empfiehlt (soe salmen becnopen beide die eynden der aderen met enen drade,252 dat sie nyet bloeden en mogen), während die gebogenen Nadeln (mit Klemm-Tülle zum Fadeneinlegen) des Chirurgen von der Weser253 erkennen lassen, daß der niederdeutsche Wundarzt die elegante Methode des Umstechens bevorzugte. Bei Jan Yperman kommt „op het einde van de dertiende eeuw“ zur Ligatur noch die Verdrillung (Torsion) hinzu, auf die Ende des 15. Jahrhunderts Hans Seyff von Göppingen254 besonders stolz gewesen ist – : er hat das Verfahren zur Durchstechungsligatur erweitert. Daß all diese Vorgehensweisen lange vor ihrer Erstbezeugung verfügbar gewesen sein dürften, hat Erwin Huizenga bereits angedeutet.255
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Bd. 1 (Berlin, New York 1978), Sp. 1070–1071; Erwin Huizenga, „Een nuttelike practijke van cirurgien“. Geneeskunde en astrologie in het Middelnederlandse handschrift Wenen, Österreichische Nationalbibliothek, 2818. Middeleeuwse studies en bronnen 54 (Hilversum 1997), S. 165. Und zwar in Corvey bei Höxter; vgl. Keil, Chirurg von der Weser (wie Anm. 168). Zitat nach der flämischen (niederrheinisch-ostbrabantisch überlieferten) ‚Chirurgiamagna‘-Übersetzung „draet“ hier in der Bedeutung ‘Faden’; vgl. Jacob Verdam, Middelnederlandsch handwoordenboek, 2. Auflage besorgt von C[laudius] H[enricus] Ebbinge Wubben (’s‑Gravenhage 1932, Neudruck 1964), S. 150a. Keil, Chirurg von der Weser (wie Anm. 168); Stephan, Glücksfall der Archäologie und Medizingeschichte (wie Anm. 168), S. 178, Abb. 4, 3. Jean Pierre Tricot, Jehan Yperman: Vader der Vlaamse heelkunde. In: In de voetsporen van Yperman. Heelkunde in Vlaanderen door de eeuwen hen, hrsg. von Robrecht van Hee. Publicatie naar aanleiding van het XXXIIe Internationaal Congres over de Geschiedenis van de Geneeskunde, Antwerpen, 2. tot 8. september 1990 (o.O. [Gent, Antwerpen] 1990), S. 78–86, hier S. 82; Manfred Gröber, Das wundärztliche Manual des Meisters Hans Seyff von Göppingen (ca. 1440–1518): Der cod. med. et phys. 2°8 der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Göppinger Arbeiten zur Germanistik 656 (Göppingen 1998), Kap. 205 und 208, S. 366–368; dazu S. 106, 109 f., 458; Manfred Gröber, Gundolf Keil, Artikel „Hans Seyff (Seiff, Siff, Syf, Syfer, irrtümlich Súff)“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Auflage Bd. 8 (Berlin, New York 1992), Sp. 1130–1133; Gundolf Keil, Artikel „Hans Seyff“. In: Neue deutsche Biographie 24 (Berlin 2010), S. 295a–296a; Bernhard Dietrich Haage, Wolfgang Wegner, Artikel „Hans Seyff (Suff) von Göppingen“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte (Berlin, New York 2005, 2. Auflage 2007), III, S. 1325ab; vgl. auch Sudhoff, Chirurgie im Mittelalter (wie Anm. 160), Bd. I, S. 599–600. Huizenga, „nuttelike practijke van cirurgien“ (wie Anm. 249), S. 165, vorletzte Z., durch den Terminus „minstens“.
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Eng verknüpft mit der Problematik des Blutstillens ist die Frage nach dem Instrumentar. Der Instrumentenschatz wundärztlicher Praktiker der Germania zeichnet sich durch Sparsamkeit, hohe Spezialisierung und Zweckmäßigkeit aus. Neben den runden, gebogenen Nadeln mit Klemmtülle für den eingelegten Faden (wie sie in der Hämostyptik fürs Umstechen der Gefäße benutzt wurden) begegnen grade, biegsame Nadeln mit rechteckigem Querschnitt256 und gekerbtem, leicht gabelförmigem Ende, wie sie bei einer Frühform der Klammernaht Verwendung fanden und zum Heften klaffender Wunden durchgestochen und dann über dem Wundspalt festgezurrt wurden.257 – Das Operationsbesteck aus dem Ärztegrab von Aschersleben stammt aus dem 3. Jahrhundert und ist aufgrund seiner Wundhaken, Knochenheber und seiner Pinzette mit gezacktem Greifkörper der Hirnchirurgie zuzuweisen und auf Eingriffe am zertrümmerten Schädel spezialisiert; bei einigen Stücken scheint die Annahme gerechtfertigt, daß es sich um „Instrumente eigener germanischer Machart“ handle.258 Die Singularität des Ensembles aus dem Ärztehaus von Corvey ist wahrscheinlich dadurch bedingt, daß der Chirurg von der Weser259 sein Instrumentar „auf spezielle Anweisung vor Ort“ fertigen ließ, wofür das „vielseitige Metallgewerbe in Corvey und Höxter“ die erforderlichen Voraussetzungen bot.260 Neben Naht- und Schneid-Instrumenten ist insbesondere ein rugen-Schabmesser für das Periost des Schädels zu nennen und das hochkomplexe Kauterisier-Gerät zum multiplen Brand-Setzen hervorzuheben. Der niederdeutsche Wundarzt ließ seine Geräte in Stahl bzw. in Buntmetall arbeiten und zum Schutz vor Korrosion teilweise verzinnen. Bei Neuentwicklungen wurde der Prototyp zuerst aus Buchsbaumholz angefertigt und anschließend – wenn er sich bewährt hatte – in Stahl nachgeformt. – Roger 256
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Stephan, Glücksfall der Archäologie und Medizingeschichte (wie Anm. 168), S. 178, Abb. 4, 4: Vierkantnadel. Als sogenannte zwic-haften. Zur Anwendung (Fixierung, Polsterung) der Vierkantnadel acus quadrata siehe den Roger-Urtext bzw. die Roger-Glosse (vgl. Anm. 75): Sudhoff, Chirurgie im Mittelalter (wie Anm. 160), Bd. II, S. 164, Z. 305–308; S. 285, Z. 4–3 von unten; ferner Keil, Chirurg, Chirurgie (wie Anm. 127), Sp. 1855. Ernst Künzl, Wissenschaftsvermittlung auf dem Gebiet der Medizin durch Griechen und Römer. In: Technologietransfer und Kulturwandel im geschichtlichen Vergleich: die Römer in Bonn vor 2000 Jahren, hrsg. von der Zentralstelle für Erziehung, Wissenschaft und Dokumentation der Deutschen Stiftung für internationale Entwicklung (Bonn 1988), S. 42–52, hier S. 46–48; Gundolf Keil, Werner Erich Gerabek, Roger Frugardi und die Tradition langobardischer Chirurgie. Sudhoffs Archiv 86, 2002, S. 1–26, hier S. 23. Stephan, Glücksfall der Archäologie und Medizingeschichte (wie Anm. 168), S. 181–186. Stephan, Glücksfall (wie Anm. 168), S. 180.
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Frugardis Murphyknopf-Vorläufer261 bestand aus leicht resorbierbarem Holunderholz;262 konkurrierend kam das paßgenaue Stück einer tierischen Trachea zum Einsatz. Über der Pia mater sorgte das Hantieren mit einer (Gänse-) Feder für die erforderliche Zartheit263. Und Tumor-Gewebe hat man aus der Hirnsubstanz mittels Baumwoll-Tupfern freipräpariert und dann myt enen behenden instrumento (eyner behenden tanghen) extrahiert – es handelte sich um Faßzangen.264 Die überragende Leistungsfähigkeit germanischer Chirurgie zeigt sich an frappierenden Heilerfolgen und ist an mehreren Fallbeispielen eindrucksvoll demonstriert worden. Das Zitieren zweier Fallbeschreibungen scheint in diesem Zusammenhang angebracht. Beide Kasuistiken sind repräsentativ und haben entsprechend exemplarische Bedeutung. Der erste Fall betrifft einen polytraumatisierten Patienten; es handelt sich um den „bedauernswerten Menschen“ von Aebelholt:265 In dem Falle eines frühmaturen266 Mannes, der den Abschlag eines Knochenspanes aus dem linken Schläfenbein und die Durchtrennung des Jochbogens durch Schwerthieb überlebte (dabei war natürlich seine Kaumuskulatur inaktiviert), sind sechs Rippen der rechten Seite im Sinne einer Serienfraktur gebrochen und wieder verheilt. Am rechten Schulterblatt und Oberarm sind Spuren einer alten Luxation267 zu sehen, während das linke Schulterblatt einen alten268 261
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Vgl. zur Sache Christoph Weißer, Mechanische Darmanastomosen in der Chirurgie. Ein Beitrag zur Geschichte der Abdominalchirurgie zum hundertjährigen Jubiläum des Murphy-Knopfes. Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 11, 1993, S. 9– 26; Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch (wie Anm. 57), 1254b, führt nur noch das „Murphy-Zeichen“. Keil, Gerabek, langobardische Chirurgie (wie Anm. 258), S. 21, mit Bezug auf Rüdiger Frutgard/Roger Frugardi, ‚Chirurgie‘-Urtext (vgl. Anm. 75), Kap. III, 27, siehe Sudhoff, Chirurgie im Mittelalter (wie Anm. 160), II, S. 217–218, Z. 480– 496. – Die ‚therapeutische Rogerglosse aus Montpellier‘ läßt anstelle des „canellus de sambuco“ die Luftröhre eines (Haus-)Tieres zu: „trachea arteria alicuius animalis“, Sudhoff, Chirurgie im Mittelalter (wie Anm. 160) II, S. 287, Z. 678–680. Keil, Gerabek, langobardische Chirurgie (wie Anm. 258), S. 23–24: „mit einer zarten Feder“. Vgl. zum chirurgischen Besteck Kaiser, Heilkunde (wie Anm. 151), S. 203. Beschreibung nach Møller-Christensen, Kloster Aebelholt (wie Anm. 45), S. 138. Vilhelm Møller-Christensen hat das Lebensalter nach dem Reifegrad des Skelettsystems bestimmt; „frühmatur“ entspricht dabei der Altersstufe von 40 bis 47 Jahren (Møller-Christensen, Kloster Aebelholt [wie Anm. 45], S. 139); ein solches „Kalenderalter“ erscheint relativ hoch: „das mittlere Sterbealter der in Aebelholt Bestatteten betrug 32,2 Jahre, für Männer 34,0, für Frauen 27,7 Jahre“ (S. 131). Vgl. dazu Gundolf Keil, Artikel „Verrenkungen“. In: RGA 32 (2006), S. 230–233: Redressionsverfahren.
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Bruch aufweist. – Das rechte Schlüsselbein desselben Mannes weist an seinem schultergelenksnahen Ende die Spuren eines alten Infektionsherdes auf, der mit einem Brenneisen269 behandelt wurde; das linke Ellbogengelenk ist nach einem Bruch unter einem Winkel von 90° versteift.270 – Die eigenartige Konzentration von traumatisierenden Ereignissen an diesem bedauernswerten Menschen ermöglicht 271 uns zugleich beispielhaft Einblicke in den Stand der Heilbehandlung …272
Die Bestattungen im Aebelholter Klosterbezirk reichen nicht in die Zeit vor 1175 zurück. Weiter südlich und zudem im Frühmittelalter verortet ist der „Horrheimer Schädel“,273 den die Württembergischen Grabungen freigelegt haben und der von einer noch gravierenden Verletzung zeugt:274 … bei den germanischen Skeletten … stehn – wenn wir von Zahnerkrankungen absehn – die Schädelzertrümmerungen im Vordergrund paläopathologischer Befunde. Neben Verwundungen, die sofort zum Tode führten, begegnen überraschend viele Schädelverletzungen wie Impressionen, Aussprengungen, Biegungs- und Berstungsbrüche, die – trotz gelegentlich auftretenden Osteomyelitiden und Fistelbildungen275 – erstaunlich gute Heilungsresultate zeigen und nicht selten Behandlungsspuren aufweisen. Als beispielhaft kann der Horrheimer Schädel eines etwa 60jährigen Mannes gelten, den Jahre vor seinem Tod ein wuchtiger Schräghieb traf: Der Augenhöhlenrand brach mehrfach ein, das rechte Auge ging verloren, beide Stirnhöhlen wurden eröffnet, und als eindrucksvoll imponiert das große dreieckige Loch in der Schädeldecke, das von einem offenen Schädel-Hirn-Trauma zeugt und den Beweis operativer Versor268 269
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„alten“] hier im Sinne von ‘verheilten’. „Spur“; „Brandeisen“; „Ellenbogen“, Møller-Christensen; zum Kauterisieren siehe Schier, Chirurgie (wie Anm. 124), S. 467. – Der deutschsprachige Aufsatz des dänisch-schleswigischen Autors Møller-Christensen wurde anscheinend nicht lektoriert. Das zeigt auch Anm. 271. In rechtwinkliger Flexion ließ man üblicherweise auch verletzte Kniegelenke ankylotisch verheilen; vgl. Wolf-Rüdiger Teegen, Artikel „Künstliche Glieder“. In: RGA 17 (2001), S. 406–408; Wolf-Rüdiger Teegen, Artikel „Invaliden“. In: RGA 15 (2000), S. 466–470, hier S. 468. „ermöglichen“, Møller-Christensen; vgl. Anm. 269. Hier bezogen auf „die Mönche von Aebelholt“; vgl. zum seeländischen Augustinerkloster auch Reier, Heilkunde (wie Anm. 73), Bd. II, S. 731–732, mit Bezug auf Vilhelm Møller-Christensen, Bogen om Aebelholt, Kopenhagen 1958, 2. Auflage 1982 unter dem Titel ‚Aebelholt kloster‘. Czarnecki, Uhlig, Wolf, Menschen des Frühen Mittelalters (wie Anm. 65), S. 47, Nr. 4; Keil, frühmittelalterliche Medizin (wie Anm. 152), S. 237–238. Beschreibung nach Keil, Gerabek, langobardische Chirurgie (wie Anm. 258), S. 22–23, mit Bezug auch auf Fall 5; vgl. Anm 275. Czarnecki, Uhlig, Wolf, Menschen des Frühen Mittelalters (wie Anm. 65), S. 48, Nr. 5.
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gung bietet: mehre Knochenfragmente hat der Chirurg entfernt; bei einem paramedian liegenden, fingerlangen Bruchstück hat er sich dagegen entschlossen, es einheilen zu lassen. – Beda Venerabilis berichtet in seiner Kirchengeschichte von einem vergleichbaren Fall, den er freilich intentional überhöht.276
Diese hirnchirurgische Souveränität, wie sie seitens Germanenrechten als selbstverständlich vorausgesetzt wurde,277 macht verständlich, daß es bei der wundärztlichen Versorgung von Schädel-Hirn-Traumata nicht blieb und daß das neurochirurgische Können sich auch der Herausforderung von Hirntumoren stellte: Eine niederdeutsche Operationsanleitung für das Exstirpieren von Meningeomen (oder Gliomen) ist aus dem 14. Jahrhundert überliefert; der ebenso präzise wie prägnante Text fordert die Vollnarkose, setzt exaktes neurologisches Lokalisieren voraus und befaßt sich ausdrücklich mit dem Vermeiden von Rezidiven.278 Wer Scheitelbeine abklappte, Kalotten-Fragmente einheilen ließ, Amputationsstümpfe mit Weichteillappen deckte, für den bedeuteten auch die Herausforderungen Plastischer Chirurgie kein unüberwindbares Hindernis. Der Chirurg von der Weser ist durch seine Lidplastik bekannt geworden, für die er ein eigenes Besteck in Auftrag gab;279 im ausgehenden Hochmittelalter war die Lippenplastik so geläufig, daß sie als Hasenschartenoperation literarisch verarbeitet werden konnte;280 ausführliche Operationsanleitungen geben in den 1460er Jahren die ‚Kopenhagener Wundarznei‘281 und 276
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Keil, Gerabek, langobardische Chirurgie (wie Anm. 258), S. 23, mit Verweis auf ‚Historia ecclesiastica gentis Anglorum‘, V, 6. Keil, Gerabek, langobardische Chirurgie (wie Anm. 258), S. 23, mit besonderer Akzentuierung der ‚Lex Alamannorum‘. Ich werde (unter dem Titel Wedder den worm in deme koppe) demnächst auf diesen Text zurückkommen – voraussichtlich in Band 8 (Baden-Baden 2012) der Zeitschrift ‚Fachprosaforschung – Grenzüberschreitungen‘. Vgl. inzwischen Keil, Chirurg, Chirurgie (wie Anm. 127), Sp. 1855–1856. Stephan, Glücksfall der Archäologie und Medizingeschichte (wie Anm. 168), S. 180; Keil, Chirurg, Chirurgie (wie Anm. 127), Sp. 1856; Gundolf Keil, Zur Geschichte der plastischen Chirurgie. Laryngologie Rhinologie Otologie 57, 1978, S. 581a–591b, hier S. 582a. Bernhard Dietrich Haage, Herbert Kater, Lippenspalten-Operation im ‚Frauendienst‘ 1255. Zahnärztliche Mitteilungen 5, 1990, S. 524–526; auch in: Gesichter. Informationsschrift der Selbsthilfegruppe „Bremen und umzu“: Lippen-Kiefer-Gaumensegelspaltenträger 2, 1990, S. 20–22; Haage, Wegner, Keil, Haage-Naber, Fachliteratur der Artes (wie Anm. 44), S. 42, 191– 192, 242. Kap. 233: „hassen schartten sniden“; Gundolf Keil, Artikel „Kopenhagener Wundarznei“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2. Auflage Bd. 5 (Berlin, New York 1985), Sp. 311–312; Gundolf Keil, Artikel „Kopenhage-
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der Chirurg des Marienburger Konvents.282 So kommt es nicht von ungefähr, daß die Erstbeschreibung einer gestielten Ferntransplantation283 aus dem spätmittelalterlichen Deutschland stammt.284 Ob Lanfrank von Mailand285 seine berühmte End-zu-End-Nervennaht286 selbst entwickelt oder aus der langobardisch-lombardischen Tradition entlehnt hat, bleibt zu klären.287 Die Wahrscheinlichkeit spricht für ein alterbiges Verfahren.
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ner Wundarznei“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte (Berlin, New York 2005, 2. Auflage 2007), Bd. II, S. 777b–778a; Christian Tenner, Gundolf Keil (Hrsg.), Die ‚Kopenhagener Wundarznei‘. Ein chirurgisches Arzneimittel-Handbuch von 1468 aus dem nördlichen Elsaß. Bibliothek und Wissenschaft 33, 2000, S. 188– 194; vgl. auch Gundolf Keil, Hasso-Schärtlin und das hasen-schärtlîn-phlâster. Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 111, 1990, S. 453–454. Bernhard Dietrich Haage, Medizinische Literatur des Deutschen Ordens im Mittelalter. Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 9, 1991, S. 217–231, hier S. 226–228; Haage, Wegner, Keil, Haage-Naber, Fachliteratur der Artes (wie Anm. 44), S. 242; Claudia Richter, Phytopharmaka und Pharmazeutika in Heinrichs von Pfalzpaint ‚Wündärznei‘ (1460). Untersuchungen zur traumatologischen Pharmakobotanik des Mittelalters. Würzburger medizinhistorische Forschungen 84 (Würzburg 2004), S. 105, Kap. II, 72. Es handelt sich um ein durch Ferdinand von Graefe Anfang des 19. Jahrhunderts ohne Kenntnis der Erstbeschreibung erneut entwickeltes Verfahren, das er als „deutsche Rhinoplastik“ vorstellte; vgl. Keil, plastische Chirurgie (wie Anm. 279), S. 586a. Englische Übersetzung in: Leo M. Zimmerman, Ilza Veith, Great ideas in the history of surgery (Baltimore 1961), S. 204–207; kritische Edition: Christoph Weißer, Die Nasenersatzplastik nach Heinrich von Pfalzpaint. Ein Beitrag zur Geschichte der plastischen Chirurgie. In: Licht der Natur. Medizin in Fachliteratur und Dichtung. Festschrift Gundolf Keil, hrsg. von Josef Domes, Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Ch. Weißer, Volker Zimmermann. Göppinger Arbeiten zur Germanistik 585 (Göppingen 1994), S. 485–506. Vgl. zu ihm Anm. 128–129 und siehe auch Gundolf Keil, Artikel „Lanfrank von Mailand“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Auflage Bd. 5 (Berlin, New York 1985), Sp. 560–572, hier Sp. 564; vgl. auch Zimmerman, Veith, Great ideas (wie Anm. 284), S. 124–129. Erstbeschreibung 1293/94 in der ‚Kleinen Chirurgie‘, Kap. IV, 1–5, Klamroth (wie Anm. 128), S. 4; Keil, Chirurg, Chirurgie (wie Anm. 127), Sp. 1855. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die bei lombardischen Wundärzten zu beobachtende Tendenz, blutende Gefäße durch End-zu-End-Naht wieder zusammenzufügen; die entsprechende Empfehlung Brunos war Lanfrank zweifellos bekannt (vgl. Text mit Anm. 249, Anm. 250, Anm. 251 und Anm. 252), desgleichen der entsprechende Hinweis bei Rüdiger Frutgard/Roger Frugardi (Roger-Urtext, II, 3; Sudhoff, Chirurgie im Mittelalter [wie Anm. 160], Bd. II, S. 188–189, Z. 63– 89), der bei durchtrennter Drosselvene (organica vena, Vena jugularis interna) eine End-zu-End-Naht für diese Innere Halsvene vorschreibt und anschließend in einem gesonderten Paragraphen – durch Lunula abgehoben – sich mit der Nervennaht be-
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Der Heilungsvorgang nach Verletzungen und invasiven Eingriffen der Chirurgie wurde diätetisch begleitet288 und durch Heilschlaf sowie durch Heilfieber289 gefördert. Abszesse konnten entleert, Blasensteine290 extrahiert, Kröpfe291 exzidiert, Eingeweidebrüche reponiert werden – bei schweren Verletzungen stieß die (rekonstruktive) Chirurgie indessen an ihre Gren-
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faßt, wobei er für längsgeschlitzte Stränge das Regenwurmöl verordnet und bei querdurchtrennten Nerven zusätzlich zum Regenwurm-Baumöl-Präparat die Endzu-End-Nervennaht in die Perspektive rückt: sie solle im Epineurium, der derben, bindegewebigen Nervenhülle erfolgen: Si uero neruus incidatur … ex obliquo totus, minime [Glosse: id est non] consolidabitur; predicto tamen remedio, natura coadiuuante, sepe conglutinatur. Potest quoque cuticula, que supra neruum est, sui … : que cura non est inutilis. Aliquos enim non solum conglutinatos, sed etiam consolidatos nostra cura conspeximus. Das sieht ganz nach einem aus Erfahrung erwachsenen Verfahren aus. – Zur Nervennaht allgemein siehe Herbert Lippert, Anatomie. Text und Atlas. 7. Auflage besorgt von H. Lippert, Désirée Herbold, Wunna Lippert-Burmester (München, Jena 2002), S. 49b, und zur Analogie zwischen Gefäß- und Nervennaht: Gundolf Keil, Festvortrag: Aperçus zur Geschichte der Gefäßchirurgie. In: Gefahren, Fehler und Erfolge in der vaskulären Chirurgie und ihre Wirklichkeit. Gefäßchirurgisches Symposium Würzburg 1991. , hrsg. von Martin Sperling (Basel u.a. 1991), S. 13–21 und 171– 172, hier S. 14–16. Die (vor allem nahrungsmittel‑)diätetische Führung eines Operierten nach SchädelHirn-Trauma bietet das – auf den Roger-Urtext zurückgehende – ‚Schädelchirurgische Fragment‘ (1180/1250) im ‚Breslauer Arzneibuch‘ (um 1270); vgl. Keil, medizinisches Schrifttum im mittelalterlichen Schlesien (wie Anm. 178), S. 200–202; Keil, ‚Breslauer Arzneibuch‘ (wie Anm. 178), S. 36 und S. 45, mit Bezug auf die Textausgabe: Das Breslauer Arzneibuch. R[hedigeranus] 291 der Stadtbibliothek, hrsg. von C[onstantin] Külz, E. Külz-Trosse [, Joseph Klapper]. I. Teil: Text [mehr nicht erschienen] (Dresden 1908), S. 138–142, Bl. 111r–114v. Der früheste Beleg – aufgezeichnet um 1200 – begegnet im Umfeld des RogerUrtextes; der Nobelpreis für die Heilfiebertherapie wurde 1927 vergeben; vgl. Werner Erich Gerabek, Artikel „Julius Wagner von Jauregg“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte (Berlin, New York 2005, 2. Auflage 2007), Bd. III, S. 1463a; Bernhard Dietrich Haage, Gundolf Keil, Zum künstlich erzeugten Heilfieber in Wolframs ‚Parzival‘. In: Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift Werner Schröder, hrsg. von Kurt Gärtner, Joachim Heinzle (Tübingen 1989), S. 343–355. Hrafn Sveinbjarnarson, inn mesti laeknir, extrahiert um 1200 einen (Pfeifen- oder) Urethra-Stein; vgl. Kaiser, Krankheiten (wie Anm. 87), S. 309–310; Ortolf von Baierland setzt um 1280 die Sectio lateralis bei seinen wundärztlichen Berufskollegen als allgemein bekannt voraus (‚Arzneibuch‘, Kap. 127), das gleiche tut wenige Jahre später Jan Yperman (‚Surgie‘, VII, 13) unter Berufung auf den Roger-Urtext. ‘… so eist te wetene dat .1. steen in hem (nämlich in dem zieken) es. post mundi fabricam gebiettene te snidene. ende seit datter toe bestaet. Vgl. den Text mit Anm. 74, Anm. 75.
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zen und mußte sich mit Fuß- und Beinprothesen behelfen.292 T-Prothesen als Schemel für die abgewinkelte untere Extremität lassen sich erst seit dem 15. Jahrhundert nachweisen; üblicher waren Stelzfüße mit Stumpfbett zur Aufnahme der verkürzten Extremität. Bemerkenswert ist Baldur Keils Fund von Griesheim (Dieburg),293 wo die Beinprothese den amputierten „Unterschenkel ersetzte und durch eine komplizierte Halterung am Oberschenkel befestigt war. Eine Bronzeblechhülse diente als ledergefüttertes Stumpfbett, von dem Bänder, Stulpe bzw. eine hölzerne Schaftgabel ausgingen“. Derartige Stelzfüße scheinen häufig gewesen zu sein; jedenfalls haben sie sich in kennzeichnenden Übernamen294 niedergeschlagen (trefótr, viðleggr, stelzaere, ûf dir stelzin, stelzner,295 râvôt). Interessant sind sie im Hinblick auf die Stumpfversorgung – : ohne ausreichende Lappendeckung ist eine Belastung des Amputationsstumpfes nicht möglich. Wo die Abdeckung unterbleibt bzw. unzureichend ist, ergeben sich infolge des Druckes entzündliche Komplikationen. Ein entsprechendes Beispiel bietet Grab 246 von Bonaduz,296 in dem ein maturer Mann nach Exartikulation des rechten Fußes beigesetzt war. Als Prothese diente ein Abroll-Beutel mit Querleiste als Kufe. Trotz sorgfältiger Auspolsterung des Beutels war die Belastung für den (ohne ausreichende Lappendeckung verheilten) Unterschenkel so hoch, daß sich eine Osteo-
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Teegen, Künstliche Glieder (wie Anm. 270). Baldur Keil, Eine Prothese aus einem fränkischen Grab von Griesheim, Kreis Darmstadt-Dieburg. Fundberichte aus Hessen 17/18, 1977/78 (1980), S. 195–211; dazu Keil, Frühmittelalterliche Medizin (wie Anm. 152), S. 237 und 249–250; Horst Wolfgang Böhme, Krankheit, Heilung und früher Tod zu Beginn des Mittelalters. In: Gesund und krank im Mittelalter. Marburger Beiträge zur Kulturgeschichte der Medizin. 3. Arbeitstagung der Arbeitsgruppe „Marburger Mittelalter-Zentrum (MMZ)“ 2005, hrsg. von Andreas Meyer/Jürgen Schulz-Grobert (Leipzig 2007), S. 211–226, hier S. 217 und 226 [Vorsicht!]; vgl. auch Czarnetzki, Uhlig, Wolf, Menschen des Frühen Mittelalters (wie Anm. 65), S. 91–94 und 43. Kaiser, Krankheiten (wie Anm. 87), S. 303. Josef Karlmann Brechenmacher, Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Familiennamen, 2. Auflage (Limburg/Lahn 1957–1963), Bd. II, S. 669a; vgl. auch Annette Niederhellmann, Arzt und Heilkunde in den mittelalterlichen Leges. Eine wort- und sachkundliche Untersuchung. Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 12 = Die volkssprachigen Wörter der Leges barbarorum 3 (Berlin, New York 1983), S. 83–84: stelzia. René Baumgartner, Fußprothese aus einem frühmittelalterlichen Grab aus Bonaduz, Graubünden/Schweiz. Helvetica archaeologica 13, 1982, Heft 51/52, S. 155–162; vgl. dazu Czarnetzki, Uhlig, Wolf, Menschen des Frühen Mittelalters (wie Anm. 65), S. 92–94 und 43.
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myelitis herausbildete mit infausten Folgen: anscheinend hat der Amputierte „wohl nur wenige Jahre“ die prothetische Versorgung „überlebt“.297 Amputiert wurde im Gesunden,298 die Stumpf-Versorgung wurde beherrscht, der Ersatz der unteren Extremität war gang und gäbe; die prothetische Versorgung der oberen Extremität scheint seltener gewesen zu sein, ist aber gleichfalls bezeugt299 und mündet ab dem 15. Jahrhundert in die Vielzahl der eisernen Hände,300 bei denen es sich um „passive Greifhände“ handelt „mit starrem oder beweglichem Daumen, einfachem oder paarigem Fingerblock und gestufter Arretierung über einen Federmechanismus“. Besondere Aufmerksamkeit gefunden haben die Balbronner Hand und die Zweite Jagstfelder Hand, die beide kurz nach 1500 gefertigt wurden, funktionelle Perfektion zeigen und vom selben Hersteller stammen. Die Herstellungsorte liegen in Deutschland (und Skandinavien), von wo aus der mediterrane Raum bis ins 16. Jahrhundert beliefert wurde. Noch Ambroise Paré, königlich französischer Leibwundarzt und gefeiert als „Vater der modernen wissenschaftlichen Chirurgie“,301 bediente sich bei der Stumpf-Versorgung302 des „Kleinen Lothringers“, der als deutscher Techniker die erforderlichen Arm- und Beinprothesen für ihn herzustellen vermochte. 297
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Böhme, Beginn des Mittelalters (wie Anm. 293), S. 217 und 225 (nach Carnetzki, Uhlig, Wolf [wie Anm. 296]). Vgl. den Text mit Anm. 248. Keil, Chirurg, Chirurgie (wie Anm. 127), Sp. 1856: kosmetische Armprothese 9./ 10. Jahrhundert; bei der „Eisenhand von 880“ handelte es sich wahrscheinlich „um eine passive Prothese für die obere Extremität mit einem Fingerblock“; vgl. Löffler, Obere Extremität (wie Anm. 300), S. 9. Liebhard Löffler, Der Ersatz für die obere Extremität. Die Entwicklung von den ersten Zeugnissen bis heute. Mit einem Geleitwort von August Rütt, Gundolf Keil (Stuttgart 1984), S. 9–69; Liebhard Löffler, Die Braunschweiger Hand und Herzog Christian II.: Altersbestimmung und Erbauerberufsgruppe. Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 18, 1999, S. 65–74; Alfred Walz, Die Armprothese aus Metall des Herzog-Anton-Ulrich-Museums in Braunschweig. Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 18, 1999, S. 55–64. Löffler, obere Extremität (wie Anm. 300), S. 62–65; Wolfgang U. Eckart, Artikel „Ambroise Paré (ca. 1510 … 1590)“. In: Ärztelexikon, hrsg. von W. U. Eckart, Christoph Gradmann (München 1995), S. 275b–276b; Barbara I. Tshisuaka, Artikel „Ambroise Paré“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte (Berlin, New York 2005, 2. Auflage 2007), Bd. III, S. 1107a–1108a. – Abbildungen von Parés Prothesen in: Sudhoffs Archiv 93, 2009, S. 235–238: iambe de bois, main de fer. Paré hat sich im Zusammenhang mit den „Hakenbüchsen“-Verletzungen und der Stumpf-Versorgung auch mit dem Phantomschmerz auseinandergesetzt; vgl. Gundolf Keil, Ralf Vollmuth, Sogenannte Erstbeschreibung des Phantomschmerzes. „Chose digne d’admiration et quasi incredible“: die „douleur ès parties mortes et amputées“. Fortschritte der Medizin 108, 1990, S. 58a–66b.
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Gundolf Keil
„Het is opvallend, dat vijf van zeven breukbanden gevonden zijn in Frankische grafvelden …“.303 Inzwischen ist die Anzahl der Fundstücke auf über 20 angestiegen, indessen trifft die Aussage des Nimwegener Medizinhistorikers noch immer zu: ‚Es ist auffallend‘, sagt Dan de Moulin, daß sich diese elastischen Bruchbänder des 6. und 7. Jahrhunderts vorzugsweise in Germanengräbern finden, auch wenn zu den fränkischen Bestattungen inzwischen Grabfunde aus alamannischem und bajuwarischem Gebiet kommen und obwohl sich einzelne Stücke auch bei den Wisigoten in Spanien und bei den Langobarden auf der apenninischen Halbinsel haben nachweisen lassen. Es handelt sich um offene Eisenreifen, die den Unterleib zur Hälfte umfassen und in einer löffelförmigen Druckplatte enden. Sie waren mit Tuch oder Leder überzogen und wurden zusätzlich durch eine Binde auf das Abdomen gepreßt, wobei die gewölbte Druckplatte auf die Bruchpforte zu liegen kam und die andrängen Darmschlingen am Austreten hinderte. Schenkel-, Leisten-, Nabelbrüche wurden auf diese Weise versorgt. Wenn es galt, die Unterleibsteile insgesamt aufzufangen, wurden vier eiserne Reifen um das Abdomen gelegt.304 Aber das war schon im 13. bis 14. Jahrhundert. In der Zwischenzeit hatte sich die Schmiedekunst anderen Bereichen zugewandt und hatte der lederne klotzgürtel 305 den federnden Eisenreifen ersetzt. Einen Eindruck vom Formenreichtum spätmittelalterlicher Leder-Bruchbänder vermitteln die aquarellierten Zeichnungen in Caspar Stromayrs chirurgischem Geheimbuch.306 303
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Daniël de Moulin, De heelkunde in de vroege middeleeuven“ (Leiden 1964), S. 132–134 und Tafeln 22–23; dazu Keil, frühmittelalterliche Medizin (wie Anm. 152), S. 237 und 249–250; Böhme, Beginn des Mittelalters (wie Anm. 293), S. 216 und S. 223–224, mit Bezug auf Gerd Koenig, Schamane und Schmied, Medicus und Mönch: Ein Überblick zur Archäologie der merowingerzeitlichen Medizin im südlichen Mitteleuropa. Helvetica archaeologica 13, 1982, Heft 51/52, S. 75–154, hier S. 127–129 und Abb. 65–69. Die Maßnahme versuchte einem Patienten mit Pottschem Buckel zu helfen, dessen Wirbelsäule infolge Knochentuberkulose rechtwinklig nach vorne abgeknickt war; vgl. Møller-Christensen, Skelettreste vom Kloster Aebelholt (wie Anm. 45), S. 133. man sol jm machen ein klotz gurttel mit einem klotz, alß man gewenclich den gebrochen lútten machett, ‚Kopenhagener Wundarznei‘, Kap 234, Tenner, Keil (wie Anm. 281), S. 95–96. Caspar Stromayr, Practica copiosa von dem rechten Grundt deß Bruch Schnidts (Lindau 1559–67) & Jakob Ruëff, Practica in arte ophthalmica copiosa (Zürich, um 1550). Bd. I: Faksimile; Bd. II: Kommentar zur Faksimile-Ausgabe unter besonderer Berücksichtigung der Paracelsus-Rezeption und der Kommunikationsstruktur in chirurgischen Geheimbüchern der frühen Neuzeit, von Gundolf Keil, Peter Proff (Darmstadt 1994), Bd. I, Bl. 238r–259v (–261v, 153rv), Bd. II, S. 34–35, 47.
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Caspar Stromayr befaßt sich ausgiebig auch mit der hodenschonenden Hernien-Operation, die spätestens seit dem 15. Jahrhundert bekannt war,307 den klotz-gürtel indessen nicht überflüssig machte: Hernienoperationen blieben bis weit in die Neuzeit gefahrenumwittert und zwangen den Wundarzt zu ausführlichen Aufklärungsgesprächen mit seinen Patienten.308 Selbst ausgewiesene snit-erzte hatten als Bruchschneider noch Mitte des 16. Jahrhunderts bei ihren Hernien-Operierten eine Letalität von an die 30% zu befürchten. Schnittärzte versuchten entsprechend, die vorgefallenen Darmschlingen zu reponieren, durch Bruchbänder im Leibe zurückzuhalten, und erst wenn diese palliativ-kompensatorische Maßnahme nicht mehr ausreichte, waren sie bereit zu operieren. Dieses Vorgehen wandten sie auch beim UterusProlaps an, indem sie muoter-kugeln fertigten und paßgenau als Hysterophor in die Scheide einführten.309 Wenn ein solches Widerlager das vnndersich steigen der Beermuetter nicht aufhalten konnte und es zum auß steigen der Beermuetter – das heißt: zum gefürchteten Prolapsus totalis uteri inversi et vaginae – kam,310 war „manicher vnerfarner schnidtArtzt“ versucht, seiner todgeweihten Patientin zu helfen und den vollständig umgestülpten Uterus zu exstirpieren. Die ‚heroische‘ Operation war verpönt, da sie nur selten lebensverlängernd wirkte und außer peritonealem Schock und anschließend „grossen schmertzen“ der Kranken nichts einbrachte. Entsprechend selten dürfte es zur Mastektomie gekommen sein, obwohl für das Abtragen der Brust ein kompliziertes Instrumentar bereitstand und zum Erkennen des Brustkrebses die (germanische) Medizin eine präzise Diagnostik entwickelt hatte.311 Bemerkenswert ist das „ynstroment“, das als 307
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Keil, Proff, Geheimbuch (wie Anm. 306), Bd. II, S. 27–28: 1477 wurde die hodenschonende Operation des direkten Leistenbruchs durch den Grafen Hans von Toggenburg auf der Leipziger Messe angepriesen. Der fahrende Wundarzt adeliger Herkunft steht in einer chirurgischen Tradition, die ins Spätmittelalter zurückweist. Keil, Proff, Geheimbuch (wie Anm. 306), Bd. I, Bl. 51rv, 53rv, 52rv [!]; Bd. II, S. 33, 43. Keil, Proff, Geheimbuch (wie Anm. 306), Bd. I, Bl. 144r-149v; Bd. II, S. 33 und 46–47; dazu Keil, Arzt und Patientin im Mittelalter (wie Anm. 35), S. 179–180, 184, 195; Abb. 1–3. Vgl. Keil, Wöchnerin (wie Anm. 35), S. 180–181. Keil, Arzt und Patientin im Mittelalter (wie Anm. 35), S. 193–194, mit Bezug auf Kap. 3 des ‚Kopenhagener chirurgischen Fragments‘; vgl. Gundolf Keil, Artikel „Kopenhagener chirurgisches Fragment“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Auflage Bd. 11 (Berlin, New York 2004), Sp. 889–890; Agi Lindgren (Hrsg.), Ein Kopenhagener mittelniederdeutsches Arzneibuch aus dem Ende des 15. Jahrhunderts. Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 4, 1986, S. 135–178, hier S. 140–142; Haage, Wegner, Keil, Haage-Naber, Fachliteratur der Artes (wie Anm. 44), S. 244.
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Rahmenmesser konstruiert war und aus zwei gegeneinander beweglichen Klingen bestand. Es kann als Vorläufer jenes „neuartigen Kombinationsinstruments“ gelten, das im 18. Jahrhundert als Neuerfindung eingeführt wurde und ein Sichelmesser über zwei stumpfen, halbkreisförmigen Messingblättern bewegte.312 Die Kenntnis von Frauenärzten läßt sich erst für das Spätmittelalter konturieren; sie überrascht durch detailliertes Wissen um somatische Geburtstraumen, bezieht psychische Traumen und hypophysär bedingte, deletäre Wesensveränderungen mit ein und achtet neben den Komplikationen bei der Niederkunft vor allem auf die Gefahren des Wochenbetts.313 Ergänzt wird sie durch das Wissen um die Affektionen der Brust, das kurativ bis zur Entwicklung komplexen Instrumentars für die Ablatio mammae führt. Auf dem Gebiet der Hernienoperationen begegnen innovative Entwicklungen für hodenschonende Verfahren. Die Traumatologie hält neuartige Techniken für die Klammernaht, das Umstechen blutender Gefäße und für die Wiedervereinigung durchtrennter Adern und Nervenstränge bereit. Im Spätmittelalter wagen sich Operateure wie Hans Seyff 314 von Göppingen in die Bauchhöhle vor, um Tumoren zu exzidieren, und im Zusammenspiel von Anaesthesie, Diagnostik, Hirntopographie und ererbtem wundärztlichem Können ergibt sich als operativer Höhepunkt die neurochirurgische Exstirpation eines Hirntumors. All das weist auf hohes ärztliches Können, das zu innovativen Entwicklungen Anlaß gab und notwendigerweise zu der Frage führt, wie die Repräsentanten eines solchen Wissens und einer derartigen innovativen Technologie berufssoziologisch konturiert und in einer Gesellschaft geringer stratigraphischer Differenzierung verortet waren. Prosopographisch treten sie erst an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhun312
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Marion Maria Ruisinger, Thomas Schnalke, Da hilft nur noch das Messer. Chirurgische Verfahren im historischen Vergleich (Erlangen 1999), S. 73 (erwähnen den niederdeutschen Vorläufer nicht); Marion Maria Ruisinger, Patientenwege. Die Konsiliarkorrespondenz Lorenz Heisters (1683–1758) in der Trew-Sammlung Erlangen. MedGG-Beiheft 28 (Stuttgart 2008), S. 225: stellt nur die Neuentwicklung von 1731 vor; mit Bezug auf Daniël (Dan) de Moulin, A short history of breast cancer (Boston, ’s-Gravenhage 1983), und auf Juliane Wilmanns, Zur operativen Behandlung des Mammakarzinoms seit Hippokrates. Gynäkologisch-geburtshilfliche Rundschau 35, 1995, S. 103–111 (ohne Kenntnis des mittelalterlichen Verfahrens). Vgl. auch die Besprechung von Gundolf Keil in Sudhoffs Archiv 94, 2010, S. 124–128. Keil, Wöchnerin (wie Anm. 35), S. 177–179; Keil, Arzt und Patientin im Mittelalter (wie Anm. 35), S. 193–196. Vgl. zu ihm Gröber, Hans Seyff von Göppingen (wie Anm. 254), Kap. 203–208, S. 209–211, 365–368, 457–459.
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dert hervor – mit Hrafn Sveinbjarnarson, der Frau von Tesingen,315 Nicolaus de Polonia natione Teutonicus,316 Ortolf von Baierland, Henrik Harpestraeng,317 Jan Yperman, dem Chirurgen von der Weser – , oft sind sie literarisch-fiktional wie der Ritter Gawan, der arzet vür die wunden318 – : was sie alle indessen auszeichnet, ist die chirurgisch-traumatologische Kompetenz oder zumindest die wundärztliche Rezeption, wie sie beispielsweise den Schriften des Nikolaus von Polen eignet.319 Und was trotz allen Einflüs-
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Gundolf Keil, Artikel „Frau von Tesingen“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Auflage Bd. 9 (Berlin, New York 1995), Sp. 717; Keil, Frau als Ärztin (wie Anm. 35), S. 205. Gundolf Keil, „virtus occulta“. Der Begriff des ‚empiricum‘ bei Nikolaus von Polen. In: Die okkulten Wissenschaften in der Renaissance, hrsg. von August Buck. Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 12 (Wiesbaden 1992), S. 159–196; Gundolf Keil, Antoni Jonecko, Studien zum Dichterarzt Nikolaus von Polen. Eine Skizze des mittelalterlichen Arztes und Dichters unter besonderer Akzentuierung seiner ‚Antipocras‘-Streitschrift, seiner ‚Experimenta‘, der ‚Chirurgie‘ sowie seiner Verbindungen nach Schlesien. Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 11, 1993, S. 205–225; Gundolf Keil, Nikolaus von Polen, Niklas von Mumpelier. In: Anfänge des Schrifttums in Oberschlesien, im Auftrage der Stiftung Haus Oberschlesien hrsg. von Gerhard Kosellek. Tagungsreihe der Stiftung Haus Oberschlesien 7 (Bern u.a. 1997), S. 251–272; vgl. auch Gundolf Keil, Artikel „Nikolaus von Mumpelier (Monpolir, Montpellier)“, „Nikolaus von Polen (N. v. Böhmen)“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Auflage Bd. 6 (Berlin, New York 1987), Sp. 1123–1124, 1128–1133; Keil, Wolf, Niklas von Mumpelier (wie Anm. 177). Gundolf Keil, Artikel „Henrik Harpestraeng“/„Alexander Hispanus“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Auflage Bd. 3 und Bd. 4 (Berlin, New York 1981 und 1983), Sp. 476–479 und 53–58: deutsche und altnordische Rezeption; vgl. auch Ute Mauch, Beschreibung des Kodex Mss. 8769 der Biblioteca Nacional in Madrid und Notizen zum ‚Melleus liquor physicae artis magistri Alexandri Yspani‘. Fachprosaforschung – Grenzüberschreitungen 2/3, 2006/07, S. 59–80. Bernhard Dietrich Haage, Der Ritter Gawan als Wundarzt. In: Würzburger Fachprosa-Studien. Beiträge zur mittelalterlichen Medizin-, Pharmazie- und Standesgeschichte aus dem Würzburger medizinhistorischen Institut. Festschrift Michael Holler, hrsg. von Gundolf Keil. Würzburger medizinhistorische Forschungen 38 (Würzburg 1995), S. 1–23, mit Bezug auf: Bernhard Dietrich Haage, Die Thorakozentese in Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘ (X, 506, 5–19). Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 2, 1984, S. 79–99; Bernhard Dietrich Haage, Methodisches zur Interpretation von Urjans’ Heilung (Parzival 505,21–506,19). Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 10, 1992, S. 163–173. Vgl. ergänzend zu Anm. 317 auch Christine Boot, Artikel „Prager Wundarznei“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Auflage Bd. 7 (Berlin, New York 1989), Sp. 807–809; Keil, medizinisches Schrifttum in Schlesien (wie Anm. 178), S. 205–206.
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sen der Hochschulen von Salern,320 Parma/Bologna,321 Montpellier322 und Paris323 zumindest bei Hrafn Sveinbjarnarson noch greifbar wird, ist die familiale Verwurzelung in einer heilkundlich tätigen Hausgemeinschaft bzw. einer medizinisch versierten Sippe324. Dieses einübende Lernen in der familialen Hausgemeinschaft scheint die ursprüngliche Form medizinischer Ausbildung gewesen zu sein; sie sicherte die Weitergabe tradierten Wissens, war im Rechtswesen verankert,325 zeigte sich in der Lage, auch mediterrane Einflüsse aus Byzanz und dem provinzialrömischen Bereich aufzunehmen, und sie fand spätestens im 12. Jahrhundert Anschluß an das von Salern ausgehende medizinische Hochschulwesen, auf das sie über Parma, Bologna und Rüdiger Frutgards lombardische Chirurgie326 wegweisenden Einfluß nahm. Germanische Wundärzte ab dem 13. Jahrhundert waren als traumatologische Spezialisten hauptberuflich tätig und bezogen dermatologische, ophthalmologische,327 herniologische sowie urogenitale Erkrankungen mit ein, was ein Tätigwerden auf den Gebieten der Frauenheilkunde328 und 320
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Einfluß auf Hrafn Sveinbjarnarson; vgl. Kaiser, Krankheiten (wie Anm. 87), S. 309; Einfluß auf Henrik Harpestraeng sowie Ortolf. Einfluß auf Ortolf von Baierland (und über Wilhelm Burgensis auf den Chirurgen von der Weser). Einfluß auf Nicolaus de Polonia natione Teutonicus und auf den Chirurgen von der Weser. Einfluß auf Ortolf von Baierland und auf Jan Yperman. Kurt Schier, Artikel „Arzt“. In: RGA 1 ([1968-]1973), S. 440–446; Kaiser, Krankheiten (wie Anm. 87), S. 309. Schier, Arzt (wie Anm. 324), S. 444; Keil, Gerabek, langobardische Chirurgie (wie Anm. 258), S. 23–25, mit Bezug auf Niederhellmann, Arzt und Heilkunde in den mittelalterlichen Leges (wie Anm. 295). Dazu zusammenfassend Keil, Gerabek, lombardische Chirurgie (wie Anm. 258). Als früher Augenarzt und fahrender Okulist wird um 1440 Lorenz Thüring greifbar; das ‚Pommersfeldener schlesische Augenbüchlein‘, als dessen Verfasser sich (der konvertierte Jude) Meister Johannes nennt, läßt sich auf das ausgehende 14. Jahrhundert datieren; siehe Gundolf Keil, Artikel „Pommersfeldener (schlesisches) Augenbüchlein“ und „Lorenz Thüring“. In: Die deutsche medizinische Literatur des Mittelalters 7 (Berlin, New York 1989), Sp. 778–780, und 9 (Berlin, New York 1995), Sp. 907–908: jeweils mit Starstich durch Reclinatio lentis (cauching). Vgl. zum mittelalterlichen Vorgehen bei den Staroperationen Gundolf Keil, Karen Aydin, Starstich. In: Ex oriente lux? Wege zur neuzeitlichen Wissenschaft. Begleitband zur Sonderausstellung, hrsg. von Mamoun Fansa u.a. Schriftenreihe des Landesmuseum Natur und Mensch 70 (Oldenburg, Mainz 2009), S. 436a–442c. Siehe demnächst auch: Bernd Natschak, Das ‚Pommersfeldener (schlesische) Augenbüchlein‘. Kommentar zu einem altdeutschen Denkmal medizinischer Fachprosa mit kritischer Edition ausgewählter Kapitel. Med. Diss (Würzburg 2012). Vgl. zur Sache Keil, Arzt und Patientin (wie Anm. 35), mit Bezug auf: Kruse
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Geburtshilfe329 einbegriff. Daß derart hauptberufliches Tätigsein auch für frühere Zeiten gegolten hätte, ist zu bezweifeln. Eher dürfte das RitterGawan-Modell zugetroffen haben, dem auch Thorvarðr laeknir entsprochen zu haben scheint – : ein durchaus erfolgreicher Kämpfer, der echte ärztliche Ethik zeigt, indem „er auch seinen, nach einem Kampf lange verwundet darniederliegenden Widersacher heilt“330 (was in gewisser Weise auch Gawan tut). In diesen Zusammenhang ist des weiteren der Gode Snorri einzufügen, der neben dem Wahrnehmen seiner Verwaltungs- und Herrschaftsaufgaben331 auch heilkundlich tätig war und grade aufgrund seiner Erfolge „als Arzt in hohem Ansehen … stand“.332 Übertragen auf den bäuerlichen Bereich würde das bedeuten, daß der laeknir sich in erster Linie den Aufgaben von Anbau, Weidewirtschaft, Waidwerk und Fischerei zu widmen hatte und neben der Haus- und Hofhaltung nur episodisch, bei Gelegenheit, ärztlich tätig war. Er übte die Heilkunde also nur im Nebenberuf aus.
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[‑Mohn], Frauenmedizin (wie Anm. 44); Dorothée Leidig, Frauenheilkunde in volkssprachigen Arznei- und Kräuterbüchern des 12. bis 15. Jahrhunderts. Eine empirische Untersuchung, phil. Diss. (Würzburg 2004); Jörg Siegfried Kotsch, Das ‚Erlauer Frauenbüchlein‘ (Eger B.V. 3). Untersuchungen zu einem gynäkologischen Rezeptar aus dem Spätmittelalter. Text und Kommentar, med. Diss. (Würzburg 2009); Jörg Siegfried Kotsch, Gundolf Keil, Das ‚Erlauer Frauenbüchlein‘. Untersuchungen zu einem gynäkologischen Rezeptar aus dem spätmittelalterlichen Oberungarn. Text und Kommentar. Fachprosaforschung – Grenzüberschreitungen 4/5 (2008/09), S. 47–112; Gundolf Keil, Christine Wolf, Das ‚Erlauer Frauenbüchlein‘ in der gynäkologischen Fachprosa des deutschen Mittelalters. In: Symbiosen – Wissenschaftliche Wechselwirkungen zu gegenseitigem Vorteil. Festschrift Werner Köhler, hrsg. von Klaus Manger, Hans Peter Klöcking, red. von Jürgen Kiefer. Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt: Sonderschrift 39 (Erfurt 2009), S. 75–89. Siehe auch: Christine Boot, Gundolf Keil, Artikel „Frauenbüchlein der Salzburger Hs. M III 3 (‚Speyrer Frauenbüchlein‘)“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Auflage Bd. 11 (Berlin, New York 2004), Sp. 457–458, sowie Gundolf Keil, Nachwort. In: Gynaecia Mustionis. Der Hebammenkatechismus des Mustio (deutsch und lateinisch) & Eucharius Rösslins „Rosengarten“. Mit einem Nachwort von Gundolf Keil hrsg. von Helmut H. Hess Sen. (Frankfurt/Main 1997), Bd. II, S. 263–278. Hier ist insbesondere der Verfasser des pseudo-Ortolfischen ‚Frauenbüchleins‘ zu nennen; vgl. Keil, Nachwort (wie Anm. 328) und siehe Text mit Anm. 313 sowie Keil, Pseudo-Ortolfisches Frauenbüchlein (wie Anm. 44) und Keil, [Ps.-]Eucharius Rößlin (wie Anm. 44). Schier, Arzt (wie Anm. 324), S. 442. Else Ebel, Artikel „Gode, Godentum“. In: RGA 12 (1998), S. 260–263. Schier, Arzt (wie Anm. 324), S. 442; Reier, Heilkunde (wie Anm. 73), Bd. II, S. 650.
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Ärzte standen – auch wenn nur nebenberuflich tätig – in hohem Ansehen.333 Ihre gutachterliche Tätigkeit war ebenso rechtlich geregelt334 wie ihr therapeutisches Tätigsein. Sie unterlagen (nicht anders als der Gode) einer gesetzlich festgelegten Gebührenordnung und waren bei offensichtlichen Kunstfehlern zum Entrichten eines rechtlich gestaffelten Bußgelds verpflichtet. Als geschworene Wundärzte (lagha laekaere) hatten sie sich – nach erbrachtem Leistungsnachweis – auf gebietskörperschaftlich geltendes Recht festgelegt und eidlich einer judikativen Einrichtung (Instanz[en]) zugeordnet.335 Die Standesbezeichnung ‚Arzt‘ (læknir) galt als Ehrentitel und wurde wie „Gode“, „Gesetzessprecher“ oder „Skalde“ dem Eigennamen nachgestellt. Hildigunnr laeknir, Alfgerðr laeknir, Helga Haraldsdottir jarls laeknir – : zahlreiche Frauen tragen in der älteren Zeit den Standestitel ‚Arzt‘;336 im langobardischen Salern fielen weithin die gelehrten Frauen auf;337 eine von ihnen, die Trot(t)ula, ist als medizinische Hochschullehrerin und akademische Fachschriftstellerin338 im 12. Jahrhundert so berühmt geworden, daß drei gynäkologisch(-kosmetisch)e Fachtexte339 einschlägiger Thematik gegen 1200 umredigiert und unter ihren Namen gestellt340 wurden. Hildegard von Bin-
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Schier, Arzt (wie Anm. 324), S. 442–444; Reier, Heilkunde (wie Anm. 73), Bd. II, S. 650–652, 661–681. Schier, Arzt (wie Anm. 324), S. 444; Niederhellmann, Arzt und Heilkunde in denmittelalterlichen Leges (wie Anm. 295); Reier, Heilkunde (wie Anm. 73), Bd. II, S. 660–672. Reier, Heilkunde (wie Anm. 73), S. 671–679: Lagha laeker heter then, sum helt hawer iarnhoggit sar. benbrut. hulsar. afhog. gönumlaghat sar med undum twem, wobei die letzten beiden Positionen des Leistungskatalogs mit ‘Abhieb’ (afhog) sich auf verstümmelnde und mit gönumlaghat sar auf penetrierende Verletzungen beziehen; die zum Schluß genannten ‚zwei Wunden‘ benennen die Eintritts- und die Austrittsöffnung des penetrierenden Traumas (Manhaelghis balker IX). Schier, Arzt (wie Anm. 324), S. 442–443. John F. Benton, Trotula, women’s problems, and the professionalization of medicine in the Middle Ages. Bulletin of the History of Medicine 59, 1985, S. 30–53. Benton, Trotula (wie Anm. 337), S. 40–53; Keil, Frau als Ärztin und Patientin (wie Anm. 35), S. 206–209; Orlanda S.H. Lie, Willem Kuiper (Hrsg.), The ‚Secrets of Women‘ in Middle Dutch. Artesliteratuur in de Nederlanden, 7 (Hilversum 2011), S. 34–35. Keil, Ärztin und Patientin (wie Anm. 35), S. 207. Monica Green, Margaret Schleissner, Artikel „Trotula (Trota), ‚Trotula‘“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Auflage Bd. 9 (Berlin, New York 1995), Sp. 1083–1088; Britta-Juliane Kruse, Artikel „Trotula (Trota, Trocta, Trotta)“. In: Enzyklopädie Medizingeschichte (Berlin, New York 2005, 2. Auflage 2007), Bd. III, S. 1421a–1422a.
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gen341 erzielte mit dem ‚Liber subtilitatum‘ eine weniger spektakuläre Wirkungsgeschichte, die über das ‚Speyrer Kräuterbuch‘342 und den ‚Gart der Gesundheit‘343 dann aber doch bis zu Koppernikus ausgriff.344 Die Frau von Sangershausen stand als Heilkundige mit ihren Arzneien, Rezepten und Konsilien Mitte des 12. Jahrhunderts in hohem Ansehen und wurde auch aus der Ferne um Rat gefragt.345 Entsprechend positiv ist das Bild, das die klassische mittelhochdeutsche Dichtung von der ärztlich tätigen Frau entwirft.346 All dies sind seßhafte Frauen, mit denen in der Frühzeit aber auch noch heilende Vagantinnen347 (vom Typ der farande qvinna) konkurrieren. Diese ‚fahrenden Frauen‘ treten unter dem Zeichen „Hure, Hexe, Heilende“ auf (stria aut meretrix = faras), bieten neben Liebesdiensten Wahr341
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Christel Meier, Michael Embach, Artikel „Hildegard von Bingen“. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Auflage Bd. 3 (1981), Sp. 1257– 1279; Bd. 11 (2004), Sp. 658–670. Barbara Fehringer, Das ‚Speyrer Kräuterbuch‘ mit den Heilpflanzen Hildegards von Bingen. Eine Studie zur mittelhochdeutschen ‚Physica‘-Rezeption mit kritischer Ausgabe des Textes. Würzburger medizinhistorische Forschungen, Beiheft 2 (Würzburg 1994). Peter Riethe, Hildegards von Bingen ‚Liber simplicis medicinae‘ im Mainzer ‚Gart der Gesundheit‘. Sudhoffs Archiv 89, 2005, S. 96–119, mit Bezug auf Gundolf Keil, ‚Gart‘, ‚Herbarius‘, ‚Hortus‘: Anmerkungen zu den ältesten KräuterbuchInkunabeln. In: „gelêrter der arzenîe, ouch apotêker“. Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte. Festschrift Willem F. Daems, hrsg. von Gundolf Keil, Würzburger medizinhistorische Forschungen 24 (Pattensen/ Hannover, Würzburg 1982), S. 589–635. Gundolf Keil, Das medizinische Weltbild des Nicolaus Copernicus. In: Nicolaus Copernicus (1473–1543), Revolutionär wider Willen, hrsg. von Gudrun Wolfschmidt (Stuttgart 1994), S. 138–152, 313–339, hier S. 140–141. Vgl. Werner [Erich] Gerabek, „Consolida maior“, „consolida minor“ und eine Kräuterfrau. Medizinhistorische Beobachtungen zur Reinhardsbrunner Briefsammlung. Sudhoffs Archiv 67, 1983, S. 80–93, besonders S. 88; Keil, Ärztin und Patientin (wie Anm. 35), S. 159–160: „Frau von Sangershausen“. Bernhard Dietrich Haage, Die heilkundige Frau in Dichtung und Realität des deutschen Mittelalters. Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 11, 1963, S. 107– 132. Nicht zu verwechseln ist die heilkundige, ärztlich tätige Frau mit jenen oberschichtlichen Konsumentinnen eines überwiegend gynäkologischen Schrifttums, das (nicht ohne erotischen Einschlag) von männlichen Autoren verfaßt wurde, didaktisch ausgerichtet ist, ab dem 13. Jh. greifbar wird und gebundene Rede bevorzugt, siehe Lie, Kuiper, Secrets of Women (wie Anm. 338), S. 48–50 u.ö.; vgl. entsprechend Kristian Bosselmann-Cyran (Hrsg.), ,Secreta mulierum‘ mit Glosse in der deutschen Bearbeitung von Johann Hartlieb. Würzburger medizinhistorische Forschungen, 36 (Pattensen/Hannover [jetzt Würzburg] 1985), S. 9-38. Heizmann, Willerding, Heilmittel und Heilkräuter (wie Anm. 125), S. 213–214.
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sagerei und Zauber an, erweisen sich darüber hinaus aber auch als kompetent auf traumatologischem Gebiet, indem sie Wunden verbinden und mit Salbe behandeln. Ob die in Trutmanns ‚Arzneibuch‘ bezeugte Fifei Geswy zuo Basel, die sich auf das Behandeln von ‚Mundfäule‘ versteht, als „Fiffi Götzweib“ zu den reichsstädtischen Huren zu stellen und als farkona auszuweisen ist, bleibt vorerst umstritten.348 Immerhin kennt sie sich mit dem Wegätzen wuchernd-granulomatösen Gewebes im Munde aus und weiß ihre Patienten in bezug auf die Wirksubstanzen zu täuschen.349 – Erwähnenswert bleibt, daß Frauen an der weltersten Universität (der Medizinschule von Salern) im 14. Jahrhundert das Lizentiat der Chirurgie erwarben und mit königlicher Approbation das Recht erhielten, als Wundärztinnen zu praktizieren;350 fürs 15. Jahrhundert ist der Erwerb eines Doktorgrads bezeugt351. In den Händen der Frauen lag die Krankenpflege, und daß Frauen auch bei Verletzungen für die Erste Hilfe zuständig waren, ist vom Handlungsbedarf her ebenso naheliegend wie in der Forschung unbestritten.352 Die vielzitierte Stelle aus der ‚Germania‘ von Tacitus,353 die von der Präsenz der Frauen bei den Kämpfen berichtet und von den verletzten Kriegern sagt, ad matres, ad coniuges vulnera ferunt, …
weist jedoch über diese erste Hilfe hinaus, indem sie die Frauen auch zu Zeugen (testes) und damit zu Kampfrichtern macht, die Anzahl und Schweregrad der Verletzungen feststellen und dadurch den Tapferkeitsgrad bestimmen: … nec illae354 numerare aut exigere355 plagas pavent.356 348 349
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Mildenberger, Trutmann-Wörterbuch (wie Anm. 167), S. 622. „daz mans nit kennen müg“, 56r15; vgl. Rainer Sutterer, Anton Trutmanns ‚Arzneibuch‘. Teil I: Text, med. Diss. (Bonn 1976), S. 146, vgl. dort auch S. 42, Anm. 149. Paul Oskar Kristeller, Studi sulla Scuola medica salernitana. Istituto Italiano per gli Studi Filosofici „Hippocratica civitas“: collana, 1 (Neapel 1986), S. 26 mit Anm. 39. „la dottoressa Costanza Calenda“, 1422. – Vgl. zu Stadt und Hochschule auch allgemein Giovanni Vitolo, Gundolf Keil, Artikel „Salerno“. In: Lexikon des Mittelalters 7 (München, Zürich 1995), Sp. 1293–1300. Schier, Arzt (wie Anm. 324), S. 442; Heizmann, Willerding, Heilmittel und Heilkräuter (wie Anm. 125), S. 212–213; Reier, Heilkunde (wie Anm. 73), Bd. II, S. 615–616, 619–635 [grundlegend]. P[ublii] Cornelii Taciti libri qui supersunt recognovit Carolus [Karl] Halm; editionem quintam curavit Georgius Andresen; septimum edidit Ericus Koestermann, I–II,2 (Leipzig 1949–1951), hier II,2, S. 10: ‚Germania‘, Kap. VII,2. Scilicet „matres aut/et coniuges“. „exigere“] hier eher im Sinne von ‘abwägend beurteilen’, ‘werten’ als in der Bedeutung ‘nicht gelten lassen’, ‘durchfallen lassen’; in Frage kommt eventuell auch
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Und damit ist der Umgang mit den Kriegsbeschädigten konturiert: Selbst Schwerbeschädigte mit verstümmelnden Verletzungen behielten Rang und Ansehen357 in der germanischen Gesellschaft; sie wurden nach Versorgung des Stumpfes (stufr) mit Stelzbeinen (trefotr, viðleggr) versorgt, erhielten Kniestützen unter die Ankylose, bekamen Krücken (haekja) angemessen und liefen mit ihrem spitzenbewehrten (broddr) Krückstock als stafkarbar. Und wenn trotz aller Gehhilfen sie gar nicht mehr sich fortbewegen und auch im krodeganc mit untergeschnallten Schemeln nicht mehr kriechen konnten, hat man sie „auf einen Stuhl“ gesetzt und „getragen“.358 Diese Invaliden-Fürsorge, an der sich sippenübergreifend auch Nachbarn beteiligten, blieb nicht auf Kampfbeschädigte beschränkt. Osteoarchäologisch läßt sich nachweisen, daß sie auch bei krankheitsbedingter Invalidität gewährt wurde: bei chronischer Vergiftung,359 chronischer Infektion360 oder bei genetisch verursachten Erbkrankheiten.361 Die Versorgung war selbst dann gesichert, wenn die leistungsgewährende Gemeinschaft „in extremer Umwelt“ um ihr eigenes Fortbestehn kämpfen mußte.362 Und sie begnügte sich nicht mit rehabilitativen Maßnahmen, sondern schloß die Langzeitbetreuung von Pflegefällen mit ein363 – dies unter Einbezug von Nachbarschaftshilfe.
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die Bedeutung ‘einfordern’; vgl. Karl Ernst Georges, Ausführliches lateinischdeutsches und deutsch-lateinisches Handwörterbuch. Lateinisch-deutscher Theil, 7. Auflage (Leipzig 1879–1880), Bd. I, S. 2378–2380. „pavere“] hier im Sinne von „pavescere“ ‘sich scheuen’; Georges, Handwörterbuch (wie Anm. 355), Bd. II, Sp. 1351. Böhme, Beginn des Mittelalters (wie Anm. 293), S. 217, mit Bezug auf Keil, Prothese von Griesheim (wie Anm. 293); Klaus Tausend, Artikel „Invaliden“. In: RGA 15 (2000), S. 466. Vgl. auch Anm. 363. Reier, Heilkunde (wie Anm. 73), Bd. II, S. 608 f. Schleichende, im Verlauf letal endende Ergotaminvergiftung durch Ergotalalkaloide aus dem Mutterkorn: Møller-Christensen, Skelettreste vom Kloster Aebelholt (wie Anm. 45), S. 134–136 mit Abb. 4: Gefahr durch Roggenbrot. Schwerste Schädigungen des Skeletts durch Knochentuberkulose; Møller-Christensen, Skelettreste (wie Anm. 45), S. 133–134 mit Abb. 2. Teegen, Invaliden (wie Anm. 270), S. 468: „multiple kartilaginäre Exostosen“ bei einem spätjuvenil/frühadulten Mann, „hereditär bedingt“. Teegen (wie Anm. 361). Um Pflegefälle über viele Jahre handelte es sich bei der Anm. 359–361 erwähnten Kasuistik. Literarische Belege für Langzeit-Fürsorge bzw. -Pflege hat Reier, Heilkunde (wie Anm. 73), Bd. II, S. 602–607 sowie S. 616–634 zusammengestellt, beispielsweise die vom Bauern Ref, der beide Beine verloren hatte und nach der verstümmelnden Verletzung auch „genas; aber er musste stets auf einem Stuhl getragen werden und … lebte noch lange, sodass er den Beinamen ‚der Alte‘ erhielt, und er galt als einer der angesehensten Bauern der Gegend“.
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Eigens zur Krankenpflege errichtete Gebäude hat es in der Germania ursprünglich nicht gegeben. Die zu versorgenden Kranken bzw. Verletzten wurden bei Bedarf „für lange Zeit in das Haus … aufgenommen“, wo sie – betreut und gepflegt – „eine stationäre Behandlung … erfuhren“, je nachdem wie der „langwierige Heilungsprozess“ bzw. Krankheitsverlauf es erforderte. Die Leitung der Behandlung lag meist in den Händen einer Ärztin, die weisungs-unabhängig entschied.364 Das Spital-Modell des christlich bestimmten Xenodocheions, dessen Aufgabenbereiche die Bezeichnungen „Gerokomeion“, „Nosokomeion“, „Ptochotropheion“ umschreiben, hat sich als Stätte christlicher Nächstenliebe in der Germania zunächst nur zögerlich durchgesetzt.365 Wichtiger waren die Einflüsse des römischen Militärhospitals, die klar in der Struktur der „domus medicorum“366 aufscheinen und sich damit im Idealplan für ein Kloster-Infirmarium zeigen, wie er um 820 auf der Reichenau entworfen367 wurde und sich in St. Gallen teilverwirklichen ließ.368 Einen entscheidenden Durchbruch erwirkte dann das byzantinisch-arabische Krankenhaus-Modell, das die Johanniter im Heiligen Land übernahmen, überformten369 und im Verlauf der Kreuzzüge ins Abendland mitbrachten.370 – Eine Sonderentwicklung stellen die soge364 365
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Reier, Heilkunde (wie Anm. 73), Bd. II, S. 620–623 und öfters. Als ältester Vertreter dieses Spitaltyps, in dem „am ehesten … sich noch auf dem pflegerischen Gebiete die Bedürfnisse des Leidenden angehen … ließen“, kann die bis heute bestehende „Hospitalgründung des fränkischen Königs Childebert in Lyon (540)“ gelten; vgl. Eduard Seidler, Geschichte der Pflege des kranken Menschen (Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 2. Auflage 1970), S. 57 und S. 64; vgl. auch Uta Lindgren, Artikel „Hospital“ [I; IV]. In: Lexikon des Mittelalters 5 (München, Zürich 1991), Sp. 133; 134–137; Gundolf Keil, Aphorismen zur Krankenhausgeschichte. In: Krankenhaus der Zukunft, hrsg. von Arnulf Thiede, Heinz-Jochen Gassel (Heidelberg 2006), S. 735–742, hier S. 738a–739b. Schier, Arzt (wie Anm. 324), S. 445, Abb. 80 [B]; Seidler, Pflege des kranken Menschen (wie Anm. 365), S. 52: Grundriß des Militärlazaretts (Valetudinariums) von Neuß-Dormagen. Er setzt die durch „Ludwig den Frommen 816 in die Wege geleitete Institutionalisierung der Hospitalidee“ voraus (Lindgren, Hospital [wie Anm. 365], Sp. 134). Hans-Dieter Stoffler (Hrsg.), Der Hortulus des Walahfrid Strabo. Aus dem Kräutergarten des Klosters Reichenau (Sigmaringen 2. Auflage 1996), S. 23–28. Wagner, Seuchen der Kreuzzüge (wie Anm. 96), S. 94–108. Dankwart Leistikow, Hospitalbauten in Europa aus zehn Jahrhunderten. Ein Beitrag zur Geschichte des Krankenhausbaues (Ingelheim/Rhein 1967), S. 37–40 und Taf. 246–249; Jonathan Riley-Smith, Günther Binding, Artikel „Johanniter“. In: Lexikon des Mittelalters 5 (München, Zürich 1991), Sp. 613–616; vgl. auch Seidler, Pflege (wie Anm. 365), S. 81 f.
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nannten „Gutleuthäuser“ dar. Sie sind aus der Aussätzigen-Sequestrierung hervorgegangen,371 bestanden ursprünglich nur aus einer Hütte (cabane), zu der sich dann weitere hiuselîn gesellen konnten, bis schließlich Institutionen eigenen Rechts entstanden. Einige von ihnen entfalteten im Spätmittelalter erhebliche Wirtschafts- und Finanzkraft. Die Entwicklung setzt gegen 500 ein, wird zunächst im gallo-fränkischen Bereich greifbar und zeigt in ihrer Ausbreitung ein deutliches West-Ost- bzw. Süd-NordGefälle, was es mit sich bringt, daß in Norddeutschland372 der Aussatz erst im 19. Jahrhundert völlig zum Erlöschen kommt und daß sich späte Lepra-Erkrankungen in Norwegen bis ins 20. Jahrhundert nachweisen lassen.373 Als zur Völkerwanderungszeit die germanische Heilkunde in den Staatengründungen auf römischem Boden – insbesondere bei den Franken und Langobarden – unmittelbar auf antike Gesundheitspflege stößt, begegnet ihr eine Medizin, die im Niedergang begriffen ist, die ihre Traditionen und ihr Ansehen weitgehend verloren hat374 und die in ihrer verminderten Leistungsfähigkeit keineswegs in der Lage ist, sich mit den Standards germanischer Hygiene, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation zu messen – von der Krankenbetreuung und Invalidenfürsorge ganz zu schweigen. Insofern kann es nicht überraschen, daß bei der Restitution eines neuen abendländischen Gesundheitswesens die germanische Heilkunde prägenden Einfluß auf die Gestaltung der modernen europäischen Medizin genommen hat: Das fängt an mit der gesellschaftlichen Struktur geringer stratigraphischer Differenzierung, die sich im Modell einer gleichguten Medizin für jedermann wiederfindet, wie sie das ‚Lorscher Arzneibuch‘ als gesundheitspolitisches Programm aufgestellt und gefordert hat.375 Eine solche gleichermaßen gute Medizin für jedermann im 371
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Schier, Aussatz (wie Anm. 83); Keil, Aussatz im Mittelalter (wie Anm. 82); Keil, Schott-Volm, Murken, Binding, Aussatz (wie Anm. 83). Memelland (wahrscheinlich handelte es sich um einige aus Litauen – wo der Aussatz im 19. Jahrhundert noch endemisch war – eingeschleppte Infektionen). Aussatz, Lepra, Hansen-Krankheit: Ein Menschheitsproblem im Wandel. Teil I: Katalog, hrsg. von Christa Habrich, Juliane C. Wilmanns, Jörn Henning Wolf, Felix Brandt. Kataloge des Deutschen Medizinhistorischen Museums 4 (Ingolstadt 1982), S. 21, 194 und öfters. Keil, Möglichkeiten und Grenzen frühmittelalterlicher Medizin (wie Anm. 152), S. 225–235. Zur solidargemeinschaftlichen Umverteilung und Kostendämpfung auf dem Pharma-Sektor siehe Gundolf Keil, Einleitung. Zu: Das Lorscher Arzneibuch und die frühmittelalterliche Medizin. Verhandlungen des medizinhistorischen Symposiums 1989 in Lorsch, hrsg. von Gundolf Keil, Paul Schnitzer. Geschichtsblätter
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Reich brachte die Notwendigkeit der Kostendämpfung mit sich, die durch zwei Maßnahmen durchgesetzt wurde: einmal durch Aufwertung der urheimischen* Heilkräuter, die als gleichwertig die exotischen afrikanischen bzw. asiatischen Arzneidrogen ersetzen und die teuren Arzneimittel-Importe überflüssig machen sollten,376 und zum andern durch das obligatorische Anlegen von Kräutergärten, in denen mediterrane Arzneipflanzen auch nördlich der Alpen verfügbar gehalten werden konnten, was die pharmazeutische Selbstversorgung377 fränkischer Reichsgüter sicherstellte, deren Betriebsverfassung gemäß frühdeutscher Grundherrschaft auf wirtschaftliche Autarkie ausgerichtet war. Kern der Lorscher Medizinalreform ist jedoch das Wiederaufwerten des Arztes, der im lateinischen Westen seit der Spätantike poenalisiert und für überflüssig erklärt worden war,378 was mit der Ausgrenzung von Medizin und Naturwissenschaften einherging, deren deterministisches Naturverständnis sich dem christlichen Heilsplan scheinbar widersetzte,379 und was bei der antiken Heilkunde noch dadurch verschärft wurde, daß sie göttlicher Fügung zuwiderzuhandeln schien, indem sie bei Krankheiten, die als Prüfung oder als Strafe verhängt waren, lindernd einzugreifen suchte.380 Hier war es naheliegend, aufgrund germanischen Krankheitsverständnisses noch für den Kreis Bergstraße, Sonderband 12 (Lorsch 1991), S. 7–28, hier S. 11–13: Erstes Programm der Lorscher Medizinalreform. * Der Terminus ist geschützt: Dr. Pandalis Urheimische Medizin®. 376 Zum Konzept der Kostendämpfung siehe Keil, Einleitung Lorscher Arzneibuch (wie Anm. 375), S. 13 f.: Zweites Programm der Lorscher Medizinalreform, urheimische Arzneipflanzen. 377 Zum Konzept der Importunabhängigkeit aufgrund pharmazeutischer Selbstversorgung über Kräutergärten siehe Keil, Einleitung Lorscher Arzneibuch (wie Anm. 375), S. 14 f.: Drittes Programm der Lorscher Medizinalreform. 378 Gundolf Keil, [Benedikt Konrad Vollmann], Klostermedizin im frühen Mittelalter, dokumentiert am ‚Lorscher Arzneibuch‘ von etwa 790. In: Geistliche Aspekte mittelalterlicher Naturlehre. Symposion 30. November – 2. Dezember 1990, hrsg. von B. K. Vollmann. Wissensliteratur im Mittelalter. Schriften des Sonderforschungsbereichs 226 Würzburg/Eichstätt 15 (Wiesbaden 1993), S. 11–25, 112–116, hier S. 19–22; Loris Sturlese, Die Sonderstellung der Kosmologie in der antiken und mittelalterlichen Naturlehre. In: Geistliche Aspekte mittelalterlicher Naturlehre, S. 48–58, 132–138; vgl. auch Keil, Möglichkeiten und Grenzen frühmittelalterlicher Medizin (wie Anm. 152), S. 228–229. 379 Sturlese, Sonderstellung Kosmologie (wie Anm. 378), S. 54–55: „vana curiositas“; vgl. auch Loris Sturlese, Storia della filosofia tedesca nel medioevo – dagli inizi alla fine del XII secolo. Accademia toscana di scienze e lettere „La colombaria“: studi, 105 (Florenz 1990), S. 58–60, 67–69. 380 Keil, Vollmann, Klostermedizin im frühen Mittelalter (wie Anm. 378), S. 23–24; vgl. auch Text mit Anm. 149, Anm. 150, Anm. 151, Anm. 152.
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eine dritte Kategorie von Erkrankungen einzuführen, die als Bagatellkrankheiten außerhalb göttlicher Fügung angesiedelt waren und als solche sich christlicher Karitas zugänglich zeigten.381 Durch dieses elegante Konzept, das ohne weiteres dem karitativ tätigen Arzt therapeutischen Zugriff auch auf die beiden Bereiche der Nicht-Bagatellkrankheiten eröffnete,382 sicherte die Lorscher Medizinalreform der Medizin (und den Naturwissenschaften) jenen Autonomie-Raum,383 aus dem heraus sie ihre Texte sichten, den Prototyp der Universität384 entwickeln und von Salern aus das antike Erbe durch Übersetzungen aus dem Arabischen zurückgewinnen konnte.385 Was beim Blick ins ‚Lorscher Arzneibuch‘ auffällt, ist das Fehlen der Chirurgie. Diese Tatsache weist darauf hin, daß der Kernbereich germanischer Heilkunde386 lange Zeit außerhalb schriftlicher Tradierung blieb und 381 382 383
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Keil, Vollmann, Klostermedizin im frühen Mittelalter (wie Anm. 378), S. 24. Keil, Vollmann, Klostermedizin im frühen Mittelalter (wie Anm. 378), S. 114–115. Keil, Vollmann, Klostermedizin im frühen Mittelalter (wie Anm. 378), S. 24: „therapeutischer Autonomieraum der Medizin“; Sturlese, Sonderstellung der Kosmologie (wie Anm. 378), S. 35: „Wiederentdeckung der alten Autonomie…“ bei den „Wissenssegmenten Astronomie Medizin“. Er ist aus einer gilda – und damit aus zünftisch-genossenschaftlichen Verbandsstrukturen einer Gewerbebürgerstadt – heraus gestaltet worden, beginnend im ausgehenden 10. Jahrhundert; vgl. Kristeller, Scuola medica salernitana (wie Anm. 350), S. 56–57, über die multizentrischen Anfänge Salerner medizinischen Unterrichts, der sich in der „cooperazione fra i vari maestri“ vollzog, aus der sich schrittweise dann eine „organizzazione regolare in forma di gilda“ ergab und schließlich die Struktur der Universität resultierte. Zu den Übersetzungsleistungen Salerns im 11. und 12. Jahrhundert siehe Kristeller, Scuola medica salernitana (wie Anm. 350); Heinrich Schipperges, Die Assimilation der arabischen Medizin durch das lateinische Mittelalter. Sudhoffs Archiv, Beiheft 3 (Wiesbaden 1964); Gerhard Baader, Die Schule von Salerno. Medizinhistorisches Journal 13, 1978, S. 124–145; La Scuola medica salernitana. Gli autori e i testi. Convegno internazionale Università degli Studi di Salerno, 3–5 novembre 2004, hrsg. von Danielle Jacquart und Agostino Paravicini Bagliani. Edizione nazionale „La scuola medica salernitana“ (Florenz 2007): Beiträge zu mehreren Einzeltexten; Keil, Die Repräsentanz der Schule von Kairouan (wie Anm. 178). Die Dominanz der Traumatologie und hier insbesondere der Schädelchirurgie ist bedingt durch die hohe Morbidität durch Kampfverletzungen. Bei den Aebelholter Bestattungen weisen 33% der männlichen Skelette traumatische Verletzungen auf; bei den Frauen sind es 13%; die Akkumulation liegt für beide Geschlechter erwartungsgemäß in der maturen Altersgruppe. Kai Rüdiger Teegen ist die Häufung der Parierverletzungen am linken Unterarm aufgefallen; vgl. Møller-Christensen, Skelettreste Kloster Aebelholt (wie Anm. 45), S. 136; Teegen, Invaliden (wie Anm. 270), S. 467: „Amputationen … betreffen meist … die obere Extremität…; eine Häufung im Bereich des linken Unterarms deutet auf Kampfverletzungen im Sinne
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daß wundärztlich-traumatologische Kenntnisse bis ins Hochmittelalter durch mündliche Anleitung und einübendes Lernen weitergegeben wurden. Eine schriftliche Fixierung gelang erst in den 1170er Jahren, als Rüdiger Frutgard in Parma den Stoff vortrug und Guido d’Arezzo der Jüngere den ‚Roger-Urtext‘ anhand mehrerer Hörermitschriften gestaltete.387 Aber da war das moderne Wissen Salerns bereits bis in den isländischen Norden der Germania vorgedrungen.388
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von Parierfrakturen“ hin. – Im Roger-Urtext macht das Segment allein der Schädelchirurgie immerhin 30 von insgesamt 80 Seiten und damit 37,5% des Gesamttextes aus; vgl. Sudhoff, Chirurgie im Mittelalter (wie Anm. 160), Bd. II, S. 156–236 (157–186). Vgl. Anm. 75 und siehe Goehl, Guido d’Arezzo (wie Anm. 187), Bd. I, S. 145– 147, 194–196. Schier, Arzt (wie Anm. 324), S. 443; Reier, Heilkunde (wie Anm. 73), Bd. II, S. 631–632, unter Berufung auf I[ngjald] Reichborn-Kjennerud, Medisinens historie i Norge (Oslo 1936), S. 69; Kaiser, Krankheiten (wie Anm. 87), S. 309–310; vgl. auch I[ngjald] Reichborn-Kjennerud, The School of Salerno and surgery in the North during the Saga Age. Annals of medical History. N.S. 9, 1937, S. 321–337. Erwartungsgemäß zeigen sich salernitanische Einflüsse in jenem Altwestnordischen Arzneibuch, dessen Rezeptbestand in unterschiedlicher Folge und Vollständigkeit in fünf Handschrift(fragment)en des 13. bis 16. Jahrhunderts aufscheint; vgl. Fabian Schwabe (Hrsg.), Fragment eines altwestnordischen Arzneibuches aus dem 13. Jahrhundert. Sudhoffs Archiv 93, 2009, S. 201–214. – Einen Weg medizinischer Wissensvermittlung aus dem hochmittelalterlichen Mikelgard (Byzanz, Konstantinopel, Stambul, Istanbul) nach Norwegen zeichnet Rudolf Hiestand anhand König Sigurds Ausweidung (Exenteratio) einer Leichenleber als Vorstufe einer Obduktion; siehe R. Hiestand, Skandinavische Kreuzfahrer, griechischer Wein und eine Leicheneröffnung im Jahre 1110. Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 7, 1989, S. 143–153. Vgl. zum sumerisch-babylonischen Hintergrund (dem Prognostizieren aus der Leberschau/Hepatoskopie) auch Martha Haussperger, Die mesopotamische Medizin aus ärztlicher Sicht. Fachprosaforschung – Grenzüberschreitungen: Beiheft 1 (Baden-Baden 2012), S. 221–247, 263–265, hier S. 222.
Problemfelder
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 391–400 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
Zum „Germanen“-Begriff der Historiker* Jörg Jarnut „Zum ‚Germanen‘-Begriff der Historiker“ möchte ich mich äußern. Der Vortragstitel bedeutet doch in etwas ausführlicherer Fassung „Anmerkungen zum ‚Germanen‘-Begriff der Historiker“ oder besser „Marginalien zum ‚Germanen‘-Begriff der Historiker“, ist also alles andere als der schon aus Zeitgründen mit Sicherheit zum Scheitern verurteilte Versuch, hier die Forschungsgeschichte dieses Begriffes darzulegen. Und speziell für diesen Kreis, der in personeller wie in institutioneller Hinsicht eine einzigartige Position in der Germanenforschung innehat, für diesen Kreis also etwas Neues oder wenigstens nicht nur Banales über mein Thema zu sagen, ist fast schon kühn, um nicht noch negativere Bewertungen zu provozieren. Dennoch möchte ich nun versuchen, einige Aspekte des historischen Germanenbegriffes herauszuarbeiten, um dann Bereiche zu identifizieren, wo dieser sinnvoll gebraucht werden kann, und diese zu scheiden von jenen, wo seine Anwendung nicht erkenntnisfördernd, sondern sogar eher erkenntnisverhindernd wirkt. Am Schluss meiner Ausführungen werde ich Folgerungen aus diesen Beobachtungen ziehen und die Frage stellen, ob ein sinnvoll verwendeter historischer Germanenbegriff auch für die an diesem Forschungsgegenstand arbeitenden Nachbarwissenschaften fruchtbar gemacht werden könnte. Vielleicht ist es aber angebracht, schon hier auf die Zeitgebundenheit aller wissenschaftlichen Bemühungen und konkret insbesondere auf die um die Germanen gebührend hinzuweisen. An dieser Stelle genügt es, die ein halbes Jahrtausend bis fast in unsere Gegenwart andauernde Germanophilie deutscher Intellektueller und besonders deutscher oder österreichischer His* Teile dieses für den vorliegenden Band überarbeiteten Vortrags sind unter dem Titel „Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung“ erstmals gedruckt worden in: Die Suche nach den Ursprüngen, hrsg. von Walter Pohl. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 8 (Wien 2004), S. 107–113.
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toriker ins Gedächtnis zu rufen. Demgegenüber stehen um objektive und kritische Distanz zu dem Forschungsgegenstand „Germanen“ bemühte Historiker vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und in unserer Gegenwart, unter anderem auch deutsche und österreichische. Chiffrenartig könnte man die Forschungsentwicklung vielleicht mit dem Slogan „Von der germanischen Völkerwanderung“ zur „Transformation of the Roman World“ fassen. Wahrscheinlich trifft aber Patrick Gearys tiefsinniger Satz „The Germanic world was perhaps the greatest and most enduring creation of Roman political and military genius“ den aktuellen Forschungsstand und die aktuellen Forschungstendenzen am besten.1 Jener mit diesen Hinweisen markierte Forschungsstand zwingt auch dazu, über die verschiedenen Germanenbegriffe neu nachzudenken. Heute ist es selbstverständlich, dass bei Völkernamen wie dem der „Germanen“ unterschieden wird, ob diese Selbstbezeichnungen oder Fremdbenennungen darstellen. Es ist mittlerweile weitgehend unbestritten, dass es trotz aller Bemühungen bisher nicht gelungen ist, sichere Zeugnisse aus der Antike oder dem Mittelalter zu finden, in denen sich Germanen als solche betrachtet oder bezeichnet hätten. Die zahlreichen Germani-Belege seit Caesar zeigen hingegen, dass es sich dabei um Fremdbezeichnungen handelt, die gewöhnlich römische oder in römisch-lateinischen Traditionen stehende Historiker und Ethnographen für die Völker beziehungsweise das Volk östlich des Rheins verwendeten. Caesars in seinem Bellum Gallicum in antithetischer Weise zur Gallia definierte Germania, die der Rhein voneinander schied, entwickelte in den folgenden Jahrhunderten bis in die Gegenwart hinein eine ungeheure Prägekraft.2 Caesars Germanenbegriff hat nun zwei Hauptdimensionen. Einerseits bezeichnet er so die Bewohner Germaniens, die dabei als Einheit verstanden werden, so dass er in seinem berühmt-berüchtigten Germanen-Exkurs zum Beispiel über germanische Religiosität, Mentalität, Lebensweise, Sitten und Gebräuche berichten kann. Andererseits ist sich Caesar durchaus bewusst, 1 2
Patrick J. Geary, Before France and Germany (Oxford 1988), S. VI. Vgl. zum Beispiel: Wolfgang Maria Zeitler, Zum Germanenbegriff Caesars: Der Germanenexkurs im sechsten Buch von Caesars Bellum Gallicum. In: Germanenprobleme in heutiger Sicht, hrsg. von Heinrich Beck, Ergänzungsbände zum RGA Bd. 1 (1986), S. 41–52; Matthias Springer, Zu den begrifflichen Grundlagen der Germanenforschung. Abhandlungen und Berichte des Staatlichen Museums für Völkerkunde Dresden 44, 1980, S. 170–172; Herwig Wolfram, Die Germanen (München 1995), besonders S. 29–31; Allan A. Lund, Die ersten Germanen. Ethnizität und Ethnogenese (Heidelberg 1998), besonders S. 36–57; Walter Pohl, Die Germanen. Oldenbourg Enzyklopädie Deutscher Geschichte 57 (München 2000), besonders S. 12 f., 52 f.
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dass diese Gruppe der Germanen in Untergruppen zerfällt, wie besonders deutlich folgende Stelle aus dem zweiten Kommentar zeigt: Condrusos, Eburones, Caerosos, Paemanos, qui uno nomine Germani appellantur.3 Caesar verwendete also den Begriff der Germani einmal als Völkernamen und einmal als ethnographischen Ober- und Ordnungsbegriff. Auch in dieser Hinsicht wurde er Vorbild für andere, die sich nach ihm mit den Germani auseinandersetzten, was besonders deutlich in Tacitus‘ Germania erkennbar wird. Dieses für die Geschichte der Germanenforschung zentrale Werk gliedert sich nach den Beobachtungen von Allan Lund in zwei Teile. „Der erstere umfaßt die Kapitel 1–27 und schildert die Züge, die allen Germanen gemeinsam sind, der zweite deckt die Kapitel 28–46 und beschreibt Züge, die nur für einzelne Stämme oder Stammesgruppen charakteristisch sind“.4 Dieser auf Caesar zurückgehende zweidimensionale Germanenbegriff taucht seit dem Bellum Gallicum in so vielen anderen lateinischen und auch in einigen griechischen Quellen auf, dass es allein schon deshalb gestattet, ja notwendig ist, ihn als römische Kategorie der Wahrnehmung und der Ordnung für das rechtsrheinische Barbaricum adäquat zu würdigen. Es ist wegen dieser Quellenlage also legitim, ihn für das erste vorchristliche und für die ersten drei nachchristlichen Jahrhunderte auch in wissenschaftlichen Darstellungen zu verwenden, wenn man ihn dabei seiner bereits seit dem Humanismus erkennbaren vielfältigen und vielgestaltigen pangermanischen Konnotationen entkleidet. Caesar hatte also – um eine beliebte Metapher des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zu gebrauchen – mit Schwert und Feder einen Germanienund Germanenbegriff geschaffen, der in den folgenden Jahrhunderten nie ganz in Vergessenheit geriet. Auffällig ist nun aber, dass gerade in dem Zeitraum, in dem nach traditionellen Vorstellungen sich die schicksalhafteste Begegnung zwischen Germanen und Nicht-Germanen abspielte, also in der Völkerwanderungszeit, der verschiedene Völker oder Stämme umfassende Oberbegriff „Germanen“ als Ordnungskategorie für die in der Gegenwart agierenden germanischsprachigen Völker nicht mehr benützt wurde, während man ihn im Sinne Caesars gelegentlich noch verwendete, um die Bewohner Germaniens in ferner Vergangenheit zu benennen. Wie Norbert Wagner und zuletzt Walter Pohl gezeigt haben, vertraten ihn aber bisweilen die Sammelbezeichnungen „Franken“ und „Alemannen“. Verbreiteter als 3
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C. Iulius Caesar, Commentarii rerum gestarum, vol. I: Bellum Gallicum, hrsg. von Wolfgang Hering (Leipzig 1987), II, 4, 10, S. 28. Allan A. Lund, Zum Germanenbegriff bei Tacitus. In: Germanenprobleme (wie Anm. 2), S. 53–87, hier S. 54.
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ethnographischer Oberbegriff war der der „gotischen Völker“, zu denen nicht nur die Ost- und die Westgoten, sondern auch die Gepiden und die Vandalen gehörten. Wie weit von unseren durch das Denken der Romantik und durch die germanische Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts geprägten Germanenvorstellungen die der Völkerwanderungszeit entfernt waren, zeigt etwa, dass die in diesem Sinne sicher nicht germanischen Alanen zu den „gotischen Völkern“ gerechnet wurden. Diese „gotischen Völker“ aber waren nach den Vorstellungen völkerwanderungszeitlicher Historiographen wie Cassiodor, Jordanes und Prokop keine Germanen. Dieses Schicksal teilten sie bei Cassiodor und Jordanes mit den Franken und den für die germanische Altertumskunde so bedeutsamen Skandinaviern. Als wesentliche Beobachtung muss aber weiterhin festgehalten werden, dass seit Cassiodor und Jordanes die konkrete Nennung der einzelnen gentilen Großverbände die Regel und die Verwendung von klassifizierenden Oberbegriffen die Ausnahme war.5 Ein erstes Zwischenergebnis: In der Völkerwanderungszeit wurde der Oberbegriff „germanisch“ nicht mehr als ethnographisch-historisches Klassifizierungsinstrument benützt. Stattdessen wurden in der Regel die einzelnen gentes präzise benannt, wenn sie in Kontakt mit dem Imperium traten. Wie verhält es sich nun mit der Selbstwahrnehmung germanischsprachiger Großgruppen in jener Epoche? Verstanden sich etwa die Goten des 4. Jahrhunderts als Bestandteile einer größeren Einheit, vielleicht also auch der der „Germanen“? Generationen von germanophilen Historikern und Germanisten haben in den freilich lateinischen und griechischen Quellen verzweifelt, aber völlig vergeblich nach derartigen Zeugnissen gesucht. Es gibt sie einfach nicht. Immerhin berichtet Paulus Diaconus, dass die Taten König Alboins von den Bayern, den Sachsen et alios eiusdem linguae homines besungen wur-
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Die Aussagen dieses Abschnittes resümieren die Ergebnisse Norbert Wagners, Der völkerwanderungszeitliche Germanenbegriff. In: Germanenprobleme (wie Anm. 2), S. 130–154 und vor allem Walter Pohls, Der Germanenbegriff vom 3. bis 8. Jahrhundert – Identifikationen und Abgrenzungen. In: Zur Geschichte der Gleichung ‚germanisch – deutsch‘. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, hrsg. von Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer, Dietrich Hakelberg, Ergänzungsbände zum RGA Bd. 34 (Berlin, New York 2004), S. 163–183; Walter Pohl, Zur Entwicklung des Germanenbegriffes zwischen Antike und Mittelalter: Eine forschungsgeschichtliche Perspektive. In: Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese zwischen Spätantike und frühem Mittelalter, hrsg. von Dieter Hägermann, Wolfgang Haubrichs, Jörg Jarnut, Ergänzungsbände zum RGA Bd. 41 (Berlin, New York 2004), S. 18–34.
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den.6 Dieser Hinweis und einige andere Beobachtungen stützen die Annahme, dass die sprachliche Nähe zwischen den verschiedenen germanischsprachigen Völkern die Verbreitung derartiger Gesänge über gentile Grenzen hinaus ermöglichte und so eine supragentile Sphäre der Heldenlieder entstehen ließ. Und zweifellos müssen die germanischsprachigen Krieger im römischen oder byzantinischen Heer bemerkt haben, dass sie sich auch dann untereinander verständigen konnten, wenn sie nicht derselben gens angehörten, während dies im Normalfall weder mit Hunnen, Berbern oder Arabern möglich war. Aber dies sind Überlegungen, die auf dem gesunden Menschenverstand beruhen, die aber nicht in den Quellen belegt sind. Neuere Untersuchungen etwa von Hans-Werner Goetz und Walter Pohl zeigen überhaupt, dass die Bedeutung der Sprachen für die Großgruppenbildung und -identität leicht überschätzt wird, obwohl diese seit Isidor von Sevilla als entscheidend für die Entstehung und die Struktur der einzelnen gens angesehen wird,7 aber eben der konkreten einzelnen gens und nicht etwa der supragentiler Konstrukte wie dem der „Germanen“. Gegen ein germanisches Gemeinschaftsbewusstsein der germanischsprachigen Völker spricht vor allem die Tatsache, dass es Zeugnisse gibt über angeblich uralte Erbfeindschaften zwischen solchen germanischsprachigen gentes; man denke nur an Franken und Westgoten, Langobarden und Gepiden, Sachsen und Thüringer, wie ja denn überhaupt in fast allen Schlachten der Völkerwanderungszeit germanischsprachige Krieger gegen andere germanischsprachige Krieger kämpften, sei es im Dienste des Kaisers oder gegen das Imperium, sei es im Heer des einen oder des anderen gentilen Königs. Noch weniger passt es in das Bild einer ihrer sich selbst als Einheit bewussten germanischen Welt in der Völkerwanderungszeit, dass nach dem Zeugnis der gentilen origines die Goten und Langobarden skandinavische Herkunft für sich reklamierten, die Franken hingegen – wie die Römer – trojanische und die Burgunder sogar römische.8 Auffällig ist auch, dass Cassiodor in seinen Variae, in denen unter anderem verschiedene an germanischsprachige Könige gerichtete, aber natürlich auf Latein verfasste Briefe überliefert sind, niemals einen Oberbegriff „Germanen“ für diese Herrscher und ihre Völker verwen6
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Paulus Diaconus, Historia Langobardorum I, 27 (hrsg. von Georg Waitz). Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Langobardicarum (Hannover 1878), S. 70. Vgl. Walter Pohl, Telling the difference: signs of the ethnic identity. In: Strategies of Distinction. The Construction of Ethnic Communities, 300–800, hrsg. von Walter Pohl, Helmut Reimitz. The Transformation of the Roman World 2 (Leiden u.a. 1998), S. 17–69, hier S. 22–27. Vgl. Wagner, Germanenbegriff (wie Anm. 5), S. 149–152.
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det hat. Wenn die spätantiken Quellen überhaupt einmal etwas von einem supragentilen Gemeinschaftsbewusstsein berichten, dann geht es nicht um die Solidarität in einer imaginären Großgruppe „Germanen“, sondern es werden Elemente namhaft gemacht, die die „Barbaren“ verbinden, und zugleich wird dabei deren Gegensatz zum Imperium betont.9 Resümierend kann man also feststellen, dass man gegen die von Otto Brunner aufgestellte Forderung, quellennahe Begriffe in der Geschichtswissenschaft zu verwenden,10 massiv verstößt, wenn man in der Völkerwanderungszeit von „Germanen“ spricht. Dies gilt in noch höherem Maße für das Frühmittelalter.11 Einerseits gibt es noch immer – vor allem aus dem kirchlichen Bereich – Zeugnisse dafür, dass die alte caesarische Scheidung zwischen der Gallia und der Germania als antikes Bildungsgut weiterlebt.12 Damit war der Terminus Germania zwischen dem 8. und dem 11. Jahrhundert geeignet, nacheinander die ostrheinischen Bestandteile des großfränkischen, des ostfränkischen und des ostfränkisch-deutschen Reiches zu bezeichnen. Diese geographische Bezeichnung stand folgerichtig dann meist in Opposition zu Gallia, Lotharingia, Francia, Italia oder Burgundia. Seit der späten Ottonenzeit und erst recht in der Salierzeit konnte Germania besonders im Kontrast zu Italien die Bedeutung „deutscher Teil des Reiches“ zuwachsen. Im Sinne einer Unterscheidung zwischen dem westfränkisch-französischen und dem ostfränkisch-deutschen regnum war der Begriff zwar nicht häufig, wurde aber – wie insbesondere Margret Lugge gezeigt hat – sowohl innerhalb wie außerhalb des Reiches verwendet und zwar etwas häufiger im kirchlichen Bereich.13 Weit seltener als die Landesbezeichnung sind das davon abgeleitete Adjektiv germanicus oder gar das Substantiv Germanus belegt, die dann nicht etwa „germanisch“ und „Germane“ bedeuten, sondern „zur Germania, also den rechtsrheinischen Gebieten gehörig“ oder aber den Bewohner dieser Gebiete bezeichnen. Hludowicus Germanicus kann also weder als „Ludwig der Deutsche“ und schon gar nicht als „Ludwig der Germanische“ und am 9 10
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Vgl. Wagner, Germanenbegriff (wie Anm. 5), besonders S. 143. Siehe noch immer – trotz ihrer weltanschaulichen Problematik – die grundlegende Studie von Otto Brunner, Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte. Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 14 (Wien 1939), S. 513–528, besonders S. 526–528. Vgl. zum Folgenden vor allem die Untersuchung von Gerd Tellenbach, Zur Geschichte des mittelalterlichen Germanenbegriffes. Jahrbuch für internationale Germanistik 7, 1975, S. 145–165. Vgl. Margret Lugge, ‚Gallia‘ und ‚Francia‘ im Mittelalter. Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen geographisch-historischer Terminologie und politischem Denken vom 6.-15. Jahrhundert (Bonn 1960), besonders S. 37–51. Vgl. Lugge, Gallia (wie Anm. 12), besonders S. 141–145.
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allerwenigsten als „Ludwig der Germane“ übersetzt werden, sondern man müsste ihn – wie Dieter Geuenich zuletzt noch einmal betont hat – korrekterweise als „Ludwig, der über die rechtsrheinischen Gebiete der Francia herrscht“, umschreiben.14 An den zeitgebundenen Übersetzungen seiner Qualitäten als Germanicus oder rex Germaniae ließe sich im Übrigen das ganze Elend einer zeitgeistbeherrschten Wissenschaftssprache demonstrieren. Germani konnte also im frühen Mittelalter durchaus eine in sich differenzierte Großgruppe bezeichnen, es war allerdings eine Großgruppe, die man seit dem 9. Jahrhundert häufiger mit den Begriffen theodiscus oder teutonicus belegte. Der Begriff „germanisch“ im Sinne der germanischen Altertumskunde des 19. und 20. Jahrhunderts ist im Frühmittelalter überhaupt nicht bezeugt. Wenn man von den in diesem Sinne „germanischen“ Völkern der Vergangenheit berichtete, nannte man sie konkret beim Namen, sprach also von Vandalen und Goten, Langobarden und Franken. Wie fern den mittelalterlichen Menschen der antike und natürlich erst recht der moderne Begriff „germanisch“ war, wird auch daraus ersichtlich, dass ihn erst die Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts einzudeutschen versuchten.15 Ziehen wir ein erstes Resümee: Obwohl der umfassende Germanenbegriff der germanischen Altertumswissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts weder in der Völkerwanderungszeit noch im frühen Mittelalter belegt ist, wird er bis heute als Sammelbezeichnung für verschiedene gentile Großgruppen, die zumindest ursprünglich ein germanisches Idiom sprachen, verwendet. Es gibt während der acht Jahrhunderte, die wir untersucht haben, keine einzige überzeugende Quellennachricht, die erkennen ließe, dass sich die mit diesem Begriff Belegten selbst als Einheit begriffen oder doch wenigstens in der Wahrnehmung von Fremdbeobachtern als eine solche Einheit erschienen. Warum spielt der Germanenbegriff trotz dieses Sachverhaltes bis heute in der Wissenschaftssprache eine so große Rolle? Ich versuche nun als Historiker, diese Frage zu beantworten, und maße mir dabei keinesfalls an, sie für andere Wissenschaften wie zum Beispiel die Philologien, die Archäologie oder die Rechtsgeschichte zu formulieren oder gar zu beantworten. Ich 14
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Siehe Dieter Geuenich, Ludwig ‚der Deutsche‘ und die Entstehung des ostfränkischen Reiches. In: Theodisca. Beiträge zur althochdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters, hrsg. von Wolfgang Haubrichs, Ergänzungsbände zum RGA Bd. 22 (Berlin, New York 2000), S. 313–329, hier S. 314–318. Vgl. jetzt aber auch Wilfried Hartmann, Ludwig der Deutsche. Gestalten des Mittelalters und der Renaissance (Darmstadt 2002), S. 1–5, der sich nach der Erörterung der Beinamenproblematik für die Beibehaltung des traditionellen Epithetons ‚der Deutsche‘, entschied. Vgl. Tellenbach, Geschichte (wie Anm. 11), S. 151.
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erlaube mir allerdings, daran zu erinnern, dass sie auch von berufenen Fachleuten aus diesen und anderen mit den „Germanen“ befassten Wissenschaften aufgeworfen wurde und wird. Also: Warum verwendet der Frühmittelalterhistoriker noch immer den Germanenbegriff? Mir scheinen zwei Hauptgründe dafür vorzuliegen, die ich jetzt an Beispielen verdeutlichen will. Wenn ich die Ursprünge des vandalischen Königtums untersuche, so finde ich fast nichts darüber in den zeitgenössischen Quellen. Betrachte ich die Vandalen des 4. und 5. Jahrhunderts aber als „Germanen“, dann scheinen die berühmten sieben Wörter des Tacitus über die Funktion und Stellung des germanischen Königtums16 wenigstens ansatzweise meine Frage zu beantworten. Stellt sich mir das Problem der Existenz und Struktur der thüringischen Gefolgschaft, so erfahre ich wiederum fast nichts darüber aus den Quellen, die über die Thüringer berichten. Sind diese für mich aber zugleich „Germanen“, dann hilft mir einmal mehr Tacitus mit seiner Germania.17 Nun ein drittes und letztes Beispiel: Die Quellen bezeugen trotz des langen Heruler-Exkurses Prokops in seinen „Gotenkriegen“ nichts über die vorchristliche Religion dieses Volkes.18 Sind die Heruler für mich aber Germanen, dann kann ich mir etwa mit Hilfe berühmter germanischer Religionsgeschichten wie der von Wilhelm Grönbech19 wenigstens eine annähernde Vorstellung davon machen. Wissenschaftlich gesehen bietet die Konstituierung des „Germanischen“ als historische Kategorie also mindestens zwei Vorteile: Sie verlängert die historische Perspektive bis in die Antike und darüber hinaus, ist also nützlich für die noch immer mit großem Engagement betriebene Erforschung der Anfänge. Zugleich erweitert sie scheinbar unser Wissen über jedes germanischsprachige Volk dadurch ungemein, dass viele oder alle Erkenntnisse, die wir über die als Einheit betrachteten „Germanen“ besitzen, nun auf dieses Volk übertragen werden können. Ein weiterer Grund, bis heute von „Germanen“ in der Völkerwanderungszeit und im Frühmittelalter zu sprechen, liegt sicher nicht zuletzt darin, dass in Werken, die auch für ein breiteres Publikum bestimmt sind, die Verwendung dieses Begriffes dem Leser scheinbar Vertrautes, mit Vorkenntnis16
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Tacitus, Germania, cap. 7,1 hrsg. von Alf Önnerfors (Stuttgart 1983): Reges ex nobilitate, duces ex virtute sumunt. Nec regibus infinita aut libera potestas. Vgl. zum „germanischen Königtum“ jetzt Stefanie Dick, Der Mythos vom „germanischen“ Königtum, Ergänzungsbände zum RGA Bd. 60 (Berlin, New York 2008). Tacitus, Germania, cap. 13 f. (wie Anm. 16), S. 10 f. Prokop, Gotenkriege II, 14 (VI, 14), hrsg. von Otto Veh (München 1966), S. 310– 318. Wilhelm Grönbech, Kultur und Religion der Germanen, 2 Bände. 11. Auflage (Darmstadt 1991). Ursprünglich erschien diese Studie zwischen 1910 und 1912 in Dänemark.
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sen Konnotiertes und gegebenenfalls emotional Bewegendes suggeriert und er damit zum Lesen motiviert wird. Wenn jemand den Namen „Quaden“ noch nicht einmal gehört hat, wird er ein Buch über dieses Volk mit dem Titel „Geschichte der Quaden“ kaum interessant finden. Wenn man aber dieser Volksbezeichnung noch ein „germanisch“ hinzufügt, werden viele von den Germanen Faszinierte dieses Buch lesen wollen. Trotz dieser wirklichen oder scheinbaren Vorzüge des Germanenbegriffes scheint es mir absolut notwendig, ihn zumindest in der Geschichtswissenschaft für die Völkerwanderungszeit und das frühe Mittelalter abzuschaffen, nicht aber für die Antike. Bisher habe ich diesen Wunsch nach Abschaffung damit begründet, dass er für jene Epochen anachronistisch und irreführend ist, weil er in den Quellen entweder gar nicht oder aber in einem völlig anderen Sinne als in der modernen Geschichtsforschung verwendet wird. Mindestens ebenso gewichtig ist das Argument, dass zentrale Elemente der bis 1945 vorherrschenden Germanenauffassungen in der Nachkriegszeit infrage gestellt oder widerlegt worden sind. Aus Zeitgründen setze ich die Kenntnis dieser nun schon selber klassisch gewordenen Studien voraus und gebe nur ganz wenige Hinweise. Die Vorstellung von der ethnischen Einheit der Germanen zerstörten Reinhard Wenskus, Herwig Wolfram und seine Schüler.20 Schlüsselbegriffe der historischen Germanenforschung wie Treue, Sippe, Gefolgschaft oder Sakralkönigtum wurden von vielen Seiten problematisiert und demontiert. Ich nenne stellvertretend für viele andere nur Felix Genzmer, Karl Kroeschell und František Graus.21 All jenen Konstrukten ist gemeinsam, dass sie das erst zu Beiweisende voraussetzen, das heißt die Einheit der Germanen. Zudem beruhen sie auf einer nur als abenteuerlich zu charakterisierenden Melange aus Quellenzeugnissen, die in anderthalb Jahrtausenden zwischen Nordafrika und Skandinavien entstanden sind. Ist es denn nicht wirklich abenteuerlich, wenn man aus skandinavischen Dichtungen des 12. oder 13. Jahrhunderts Aussagen über die religiösen Verhältnisse im 6. oder 7. Jahrhundert bei in Pannonien oder in Süditalien siedelnden germanischsprachigen Völkern ableitet? Und: Was 20
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Vgl. etwa Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes (Köln, Wien 1961, 2. Auflage 1977); Herwig Wolfram, Das Reich und die Germanen. Zwischen Antike und Mittelalter (Berlin 1998); Wolfram, Die Germanen (wie Anm. 2); Pohl, Germanen (wie Anm. 2); Walter Pohl, Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration (Stuttgart u.a. 2002). Felix Genzmer, Die germanische Sippe als Rechtsgebilde. Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 67, 1950, S. 34–49; Karl Kroeschell, Die Treue in der deutschen Rechtsgeschichte. Studi medievali, serie terza, 10, 1969, S. 465–489; František Graus, Herrschaft und Treue. Betrachtungen zur Lehre von der germanischen Kontinuität. Historica 12, 1966, 5–44.
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ist an einem in Le Mans im beginnenden 8. Jahrhundert lebenden fränkischen Priester oder an einem um 700 agierenden westgotischen Aristokraten aus Barcelona noch germanisch? Jedenfalls in der Regel nicht einmal mehr die Sprache. Ja, sollten sich diese beiden Persönlichkeiten einmal begegnet sein, dann hätten sie sich nicht auf „germanisch“ – in welcher Ausformung auch immer – verständigen können, sondern sie hätten miteinander Lateinisch reden müssen. Ich komme zum Schluss. An dieser Stelle zeichnet sich ab, dass die kritisch-geschichtswissenschaftliche Anwendung des Germanenbegriffes für die römische Antike vom ersten vorchristlichen bis zum dritten nachchristlichen Jahrhundert vertretbar und sinnvoll ist, während seine Benutzung für spätere (oder auch frühere) Epochen unter allen Umständen vermieden werden sollte, weil er in diesem Kontext anachronistisch und quellenfern ist. Mit einem auf die Antike bezogenen Germanenbegriff, der das wesentlich caesarisch-taciteische Konstrukt „Germane“ in Raum und Zeit einordnet, macht die Geschichtswissenschaft den mit den Germanen beschäftigten Nachbarwissenschaften ein Angebot: Entweder können sie ihn gegebenenfalls auch modifiziert übernehmen oder ihn aber verwerfen beziehungsweise ihn etwa als zu eng gefasst zur Seite schieben. Könnten sich die Philologien, die Rechtsgeschichte, die Archäologie, die Kunstgeschichte und andere Disziplinen mit der Geschichtswissenschaft auf diesen verengten und konkretisierten Germanenbegriff verständigen, wäre dies ein Fortschritt, zumindest würde das interdisziplinäre Gespräch über die Germanen erleichtert. Aber ich bin zu realistisch, um zu glauben, dass die von Reinhard Wenskus vor einem Vierteljahrhundert beschriebene „von allen Forschern zutiefst beklagte Verwirrung, die durch den in den verschiedenen Disziplinen in sehr verschiedenartiger Weise aufgefassten Inhalt und Umfang des Germanenbegriffs hervorgerufen wird“22 durch meine „Marginalien zum ‚Germanen‘Begriff der Historiker“ aufgelöst werden könnte.
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Reinhard Wenskus, Über die Möglichkeit eines allgemeinen interdisziplinären Germanenbegriffs. In: Germanenprobleme (wie Anm. 2), S. 1–21, das Zitat S. 1.
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 401–428 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
‚Völker’, ‚Stämme’ und gentes im RGA Archäologische Interpretationen und ethnische Identitäten Sebastian Brather
1 Fragestellung und Interpretationsprobleme Ethnische Interpretationen gehören nach wie vor zu den zentralen Themen der frühgeschichtlichen Archäologie, was auf anhaltendes Interesse hinweist.1 Diese ‚Subdisziplin‘ beschäftigt sich mit einem historischen Zeitabschnitt (über dessen Abgrenzung man diskutieren kann und die regional unterscheiden muss), doch lassen zahlreiche Ausstellungen wie „Die Franken“, „Die Alamannen“, „Die Bajuwaren“, „I Goti“, „Die Langobarden“, „I Longobardi“, „Die Vandalen“, „Attila und die Hunnen“ oder „Die Angelsachsen“ – um nur einige aus den letzten beiden Jahrzehnten zu nennen – sie nicht selten als archäologische Stammes- oder Völkerkunde erscheinen. Diese Perspektive ist sowohl durch zeitgenössische Texte aus der Fremdwahrnehmung, als auch durch einen modernen nationalstaatlichen Blick geprägt. Gens2, Stamm3 und Volk4 sind daher auseinanderzuhalten und im RGA auseinandergehalten. Auf wesentliche Zusammenhänge verweisen außerdem die
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Sebastian Brather, Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 42 (Berlin, New York 2004); Volker Bierbrauer, Archäologie der Langobarden in Italien. Ethnische Interpretation und Stand der Forschung. In: Die Langobarden. Herrschaft und Identität, hrsg. von Walter Pohl/Peter Erhard. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 9. Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.hist. Klasse, Denkschriften 326 (Wien 2005), S. 21–66. Walter Pohl, Artikel „Gentilismus“. In: RGA 11 (1998), S. 91–101. Matthias Springer, Artikel „Stamm und Staat § 1–4“. In: RGA 29 (2005), S. 496– 502. Matthias Springer, Artikel „Volk“. In: RGA 32 (2006), S. 568–575.
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Stichworte „Stammesbildung, Ethnogenese“5 und „Transformation of the Roman World“.6 Mit ‚ethnischen Deutungen‘ und Bezeichnungen wird auf unterschiedlichen Ebenen argumentiert. Kelten, Germanen und Slawen sind vielen gleich präsent, doch handelt es sich dabei gar nicht um ethnische Gruppen. Für diese ist ein Wir-Bewusstsein konstitutiv, das bei ethnographischen Sammelnamen und sprachlichen Großgruppen (zu denen etwa noch die Romanen zu zählen wären) angesichts ihrer weiten geographischen Erstreckung nicht erwartet werden kann; Gemeinsamkeiten beruhen dort auf Kommunikationsbeziehungen und grundlegenden kulturellen Prägungen oder Rahmenbedingungen. Am anderen Ende der imaginären Skala sind gentes, Stämme, Völker oder Ethnien im engeren Sinne anzusiedeln. Sie besitzen einen Glauben an ihre Zusammengehörigkeit, so dass ihre personelle wie räumliche Reichweite sehr beschränkt bleibt. Moderne Ethnologen geben eine Größenordnung von 10.000 Angehörigen an, was sich ungefähr mit antiken Vorstellungen über die Größe einer polis (der alternativen sozialen Organisationsform) deckt.7 Zwischen beiden Polen existieren Gruppierungen wie ‚Stammesverbände‘ als übergreifende Zusammenschlüsse, aber auch klassifizierende Regionalbegriffe für Bevölkerungen ebenso wie für Gebiete.8 Ethnische Identität stellt die subjektiven Zuordnungen der Zeitgenossen dar. Zugehörigkeit und Abgrenzung führen zu sozialen Unterscheidungen von erheblicher Wirkung. Zwar behauptet der Gemeinsamkeitsglauben eine lang zurückreichende Tradition, doch stellt dies lediglich den Versuch dar, Stabilität und Dauer zu erreichen. Tatsächlich sind ethnische Identitäten kontextabhängig und variabel; in spezifischen Situationen können sie sich verändern oder gar grundlegend wandeln. Die Behauptung von Kontinuität steht daher ständigen Veränderungen gegenüber. Ethnische Identität oder Ethnizität als deren Ausdruck ist somit eher ein ständiger Prozess als ein abgeschlossener Zustand. Ethnogenesen erscheinen dann vor allem als Augen5
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Helmut Castritius, Artikel „Stammesbildung, Ethnogenese“. In: RGA 29 (2005), S. 508–515. Ian N. Wood, „Transformation of the Roman World“. In: RGA 31 (2006), S. 132– 134. Vgl. Frank Kolb, Die Stadt im Altertum (München 1984), S. 58, 74–83. Pohl unterscheidet acht Typen ethnischer Zuordnung mit fließenden Übergängen; zuletzt Walter Pohl, Spuren, Texte, Identitäten. Methodische Überlegungen zur interdisziplinären Erforschung frühmittelalterlicher Identitätsbildung. In: Zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Archäologie des 4. bis 7. Jahrhunderts im Westen, hrsg. von Sebastian Brather. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 57 (Berlin, New York 2008), S. 13–26, hier S. 18 f.
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blicksaufnahmen; sie betreffen Zeiten eines beschleunigten Wandels ethnischer Gruppierungen und dessen Wahrnehmung.9 Die ethnische Unterscheidung benötigt Symbole. Nur dann kann sie beachtet, herausgestellt und durchgesetzt werden. Abgesehen von allgemeinen Barbarenklischees kennt die antike und frühmittelalterliche Ethnographie manche Symbole, die als charakteristisch für eine bestimmte ethnische Gruppe gelten. Dazu gehört der Haarknoten, durch den sich suebische Krieger von anderen Germanen unterschieden.10 Doch war diese Frisur zugleich ein soziales Distinktionsmerkmal innerhalb der suebischen Gesellschaft, und die Nachbarn imitierten sie wegen ihres Prestiges. Über die Franziska der Franken, die auf der Iberischen Halbinsel wegen ihres Gebrauchs in Gallien so genannt wurde, berichtet Isidor von Sevilla aus zeitlicher und räumlicher Distanz. Damit ist seine Information sekundärer Natur, und außerdem waren Äxte im 6. Jahrhundert eine allgemein verbreitete Waffe. Aus den gleichen Gründen erscheint Widukind von Corveys Charakterisierung des Saxes als typisch für die Sachsen ähnlich problematisch. Und die langen Bärte der Langobarden stellten schließlich ein eher allgemeines Barbarenkennzeichen dar. Alle in Textquellen genannten Merkmale der Sachkultur erscheinen damit als unzuverlässig, wie die Berichte selbst verdeutlichen.11 Da alle sozialen Gruppen durch Identitäten konstituiert werden und jedermann gleichzeitig verschiedenen Gruppen angehört, ergeben sich komplexe Verhältnisse. Zugehörigkeiten und Identitäten überlagern sich vielfach, so dass sie anhand von Grabbefunden – der dafür meist herangezogenen Quellengattung – analytisch sehr schwer zu trennen sind. Durch zusätzliche Informationen lässt sich manchen Gruppierungen näherkommen: Geschlechts- und Altersunterschieden sowie Verwandtschaft anhand anthropologischer Daten oder christlichen Symbolen durch deren unabhängige Kenntnis aus anderen Quellen. Welche Kennzeichen aber auf ethnische Gemeinschaften im Sinne bewusster Abgrenzung – und nicht allein aufgrund habitueller Gewohnheiten – zu beziehen sind, ist schwer zu ermitteln. Dazu trägt wesentlich bei, dass ethnische Identität situationsspezifisch und deshalb durch ausgewählte Symbole demonstriert wird – und dass sie soziale Differenzen innerhalb von Gesellschaften in diesen Situationen zielgerichtet ausblendet; die äußere Abgrenzung wird als allein maßgeblich behauptet.12 9 10 11
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Brather, Ethnische Interpretationen (wie Anm. 1), S. 153–156. Heiko Steuer, Artikel „Swebenknoten“. In: RGA 35 (2007), S. 45–50. Walter Pohl, Telling the difference. Signs of ethnic identity. In: Strategies of distinction. The construction of ethnic communities, 300–800, hrsg. von Walter Pohl, Helmut Reimitz. The transformation of the Roman world 2 (Leiden, Boston, Köln 1998), S. 17–69. Brather, Ethnische Interpretationen (wie Anm. 1), S. 107 f.
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Die Debatten in der Archäologie um Möglichkeiten und Grenzen ethnischer Interpretationen unterscheiden oft nicht ausreichend zwischen mehreren analytischen Blickwinkeln. Daraus ergeben sich mitunter Missverständnisse, die die Diskussionen noch komplizierter als ohnehin machen. Entscheidend ist zunächst, wonach eigentlich im Einzelnen gesucht wird. Im Falle von Kelten, Germanen oder Slawen etwa lässt sich nicht von ethnischer Interpretation sprechen, weil es sich um ganz andere Gruppierungen handelte; dort geht es um eine weitgefasste kulturräumliche Kennzeichnung. Ethnische Identitäten können nur bei deutlich kleineren Gruppen Relevanz besitzen, die als historisch Handelnde in Erscheinung traten und mit einem Quellenbegriff als gentes bezeichnet werden können. Mit dieser Gegenüberstellung von kulturräumlicher Charakterisierung und ethnischer Identität ist eine weitere wichtige Differenzierung angesprochen. Es lässt sich einerseits nach der kulturellen und regionalen Herkunft fragen, woher also einzelne Merkmale und Entwicklungen herzuleiten sind – schließlich können zahlreiche kulturelle ‚Traditionen‘ verfolgt werden.13 Andererseits geht es um die zeitgenössische Gegenwart, in der ethnische Identitäten aktuellen Zielen dienten und Handlungsräume bestimmten. Beides kann eng zusammenhängen, wenn Herkunft zum Fundament für Identität wird, dürfte meistens jedoch wenig miteinander zu tun haben; die Bedeutung von Identitäten liegt gerade darin, dass sie mehr behaupten als tatsächlich darstellen.14 Die Untersuchung ethnischer Identitäten muss sich daher mehr auf die historischen Umstände als auf kulturelle ‚Wurzeln‘ konzentrieren (Abb. 1).
2 Rekonstruktionen durch die Archäologie Die Ansätze der Archäologie, ethnische Gruppen zu identifizieren, können recht unterschiedlich ausfallen. Dafür lassen sich zwei Hauptgründe anführen. Erstens differieren Fragestellung, methodisches Vorgehen und Modellvorstellungen, woraus sich verschiedene wissenschaftliche Ansätze ergeben. Zweitens glichen sich die historischen Situationen kaum, für die nach ethnische Gruppen und deren Rolle gesucht wird; darauf müssen archäologische Studien konzeptionell Rücksicht nehmen. 13
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Vgl. Ingo Wiwjorra, Artikel „Urheimat“. In: RGA 35 (2007), S. 314–322, hier S. 315: „Fragen zu ältesten Kulturzentren wie zu frühesten Herkunftsgebieten und Wanderungen von Bevölkerungen stellen jedoch nach wie vor eine intellektuelle Versuchung dar.“ Lutz Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur (Reinbek 2000).
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Abb. 1: Ausgewählte Gräberfelder des 6. und 7. Jahrhunderts in Pannonien und Oberitalien. Auf gemeinsame Traditionen und Herkunft verweisen ähnliche Grabbeigaben, während die Unterschiede das jeweilige kulturelle und politische Umfeld reflektieren (zusammengestellt nach Irene Barbiera, Changing lands in changing memories. Migration and identity during the Lombard invasions. Biblioteca di Archeologia medievale 19 [Firenze 2005] S. 127 Abb. 1, S. 128 Abb. 2, S. 129 Abb. 3).
Ungeachtet dieser Vielfalt lässt sich ein interpretatorisches Grundmuster erkennen. Am Beginn jeder Studie steht ein regionaler Ausgangspunkt, an dem ethnische Gruppe und Sachkultur in Beziehung zueinander gesetzt werden. Von dieser geographischen Identifikation ausgehend, lassen sich kulturelle Verbindungen in die fernere Vergangenheit verfolgen, bis ein Punkt erreicht ist, an dem deutliche kulturelle Wandlungen oder Diskontinuitäten als Ethnogenese interpretiert, das heißt, höher als Kontinuitäten gewichtet werden. Vom Ausgangspunkt lassen sich aber auch Wanderungen in andere Regionen verfolgen, die schließlich zu kulturell Fremden oder zu Minderheiten führen (Abb. 2). Mit diesem Fünf-Phasen-Schema ist das archäologische Interpretationsfeld abgesteckt.15 Es zeigt aber nicht, dass und wie ethnische Rekonstruktionen gegen andere, konkurrierende Interpretationen abgewogen werden. Wie ethnisch interpretiert – wie also der erwähnte Ausgangspunkt gefunden – wird, lässt sich meines Erachtens zu sechs Varianten zusammenfas15
Brather, Ethnische Interpretationen (wie Anm. 1), S. 160 f.
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Sebastian Brather
Abb. 2: Systematik der „ethnischen Deutung“. Die Vielzahl der Versuche, archäologisches Material „ethnisch“ zu interpretieren, lässt sich auf fünf Grundmuster zurückführen. Den Ausgangspunkt bildet die Gleichsetzung von Kultur und Ethnos. Von dort aus gelangt man über kulturelle Kontinuitäten zu Ethnogenesen bzw. in umgekehrter zeitlicher Richtung über Wanderungen zur Ermittlung von Fremden und Minderheiten (verändert nach Brather, Ethnische Interpretationen [wie Anm. 1] S. 161 Abb. 21).
sen.16 Das jeweilige Vorgehen stützt sich auf Prämissen, die entweder ausführlich beschrieben oder nur knapp genannt werden. Mitunter verbirgt sich dahinter eine längere Argumentationskette, die nicht stetig wiederholt, auf die aber verwiesen wird. In vereinfachter Darstellung handelt es sich um folgende Ansätze: a. Einzelformen: Einzelne Elemente der Sachkultur als „typisch“ für eine ethnische Gruppe anzusehen, stellt das eine Ende der Skala dar, dessen anderes von der „archäologischen Kultur“ eingenommen wird. Bereits Gustaf Kossinna war so verfahren, indem er „verzierte Eisenlanzenspitzen als Kennzeichen der Ostgermanen“ ansah.17 Trotz aller gut begründeten Kritik an Kossinnas simplem Ansatz lassen sich gute Gründe für ein solches Vorgehen anführen. Da ethnische Identität symbolisch ausgedrückt wird, bedarf es entsprechender ausgewählter Zeichen. Sie erst erlauben Grenzziehungen in einem kulturellen Milieu, das durch weitgehende Ähnlichkeiten zwischen Nachbarn geprägt ist. Zeitgenössische Texte nennen – wie oben angeführt – entsprechende Symbole. Dass sie in der sozialen Praxis rasch umgedeutet werden (können), ändert nichts am Prinzip. Zusätzliche fundamentale Probleme bereitet die archäologische Spurensuche, weil die Zeichen prinzipiell willkürlich sind und daher nahezu alles in Betracht kommt, ohne dass man abwägen könnte. 16
17
Bislang habe ich lediglich drei Varianten unterschieden, doch können die Kombinationen mehrere kultureller Merkmale weiter differenziert werden; Brather, Ethnische Interpretationen (wie Anm. 1), S. 304–310. Gustaf Kossinna, Über verzierte Eisenlanzenspitzen als Kennzeichen der Ostgermanen. Zeitschrift für Ethnologie 37, 1905, S. 369–407.
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407
Auch wenn „Kultur“ wesentlich ein soziales Bedeutungssystem ist, darf daraus nicht geschlossen werden, jedes Element der Sachkultur sei bedeutungsschwer in diesem Sinne. Es kommt auf sorgfältige Analysen an, die bislang noch nicht unternommen worden sind. Allerdings gelten der Archäologie der Merowingerzeit manche Fibelformen als „typisch“ fränkisch, alemannisch oder thüringisch, doch ist das zentrale Argument dafür allein die geographische Verbreitung. b. „Trachtmodell“: Anknüpfend an Hans Zeiß und Joachim Werner favorisiert Alexander Koch die „Tracht“ als zentrales und beinahe ausschließliches Medium, ethnische Identität auszudrücken.18 Seiner Argumentation liegt die „feste Überzeugung“ zugrunde, dass „[k]eine Fränkin […] ostgotische, thüringische oder langobardische Bügelfibeln getragen haben [wird], sofern sie nicht durch besondere Umstände dazu gezwungen wurde.“19 Leider wissen wir nicht, ob Fibeln einen derart starken Identitätsmarker darstellten. Die entsprechend apostrophierten Formen sind durch die Archäologie definiert und entsprechen damit nicht der Perspektive der Beteiligten. Des weiteren überschätzt das Trachtmodell den Konservatismus von Kleidung über die Maßen, wofür die archäologische Chronologie beredtes Zeugnis ablegt – und es unterschätzt die Rolle von Kleidung für die soziale Repräsentation bei weitem, indem die Binnendifferenzierungen von Gesellschaften übersehen werden; schließlich erhielt nur ein Teil der Frauen Fibeln im Grab. Außerdem bleiben Kommunikation und Austausch unberücksichtigt, denn es gibt außer dem Trachtmodell selbst keinen Grund, a priori davon auszugehen, Kleidungsbestandteile würden ausschließlich durch die Mobilität ihrer Träger verbreitet. Die „thüringische Mode“ des mittleren 6. Jahrhunderts ist ein eindeutiges Gegenbeispiel.20 c. „Totenrituale“ – „Kulturmodelle“ (I): Grabausstattungen – von der Kleidung bis zu Speisebeigaben – weisen erhebliche Unterschiede auf. Sie differieren nach Geschlecht, Alter und sozialem Rang21 – sowie nach Re18
19 20
21
Alexander Koch, Bügelfibeln der Merowingerzeit im westlichen Frankenreich 1–2. Monographien des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 41 (Mainz 1998), S. 535. Koch (wie Anm. 18), S. 536 f. Frank Siegmund, Die Alemannia aus archäologischer Sicht und ihre Kontakte zum Norden. In: Alemannien und der Norden, hrsg. von Hans-Peter Naumann. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 43 (Berlin, New York 2004), S. 142–164, hier S. 153. Sebastian Brather, Kleidung und Identität im Grab. Gruppierungen innerhalb der Bevölkerung Pleidelsheims zur Merowingerzeit. Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 32, 2004 (2005), S. 1–58; Sebastian Brather, Alter und Geschlecht zur Merowingerzeit. Soziale Strukturen und frühmittelalterliche Reihengräberfelder. In:
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gion und Zeit. Letzteres war Ausgangspunkt, zwei idealtypische Varianten zu unterscheiden: umfängliche Grabausstattungen einerseits und weitgehendes Fehlen von Grabbeigaben andererseits. Frauke Stein hat dies als germanisches „Totenritual A“ und romanisches „Totenritual B“ beschrieben.22 Diesem Ansatz entsprechen Volker Bierbrauers „Kulturmodelle“ von Germanen und Romanen.23 Die Unterscheidung zielt weniger auf einen kulturellen Unterschied, sondern vor allem auf religiöse Konzepte. Denn die Interpretation stellt letztlich (germanisch‑)heidnische und (romanisch-)christliche Jenseitsvorstellungen gegenüber, die sich in den Grabausstattungen widerspiegeln sollen. Konkurrierende Interpretationsansätze betonen inzwischen, Bestattungen seien wichtige Gelegenheiten sozialer Repräsentation gewesen, so dass die primär religiöse Interpretation umstritten ist. Aufkommen und Verschwinden aufwändiger Grabausstattungen wird auch mit sich verändernder Repräsentation verbunden.24 Das Konzept der „Totenrituale“ versteht Wandlungen als „Akkulturationsprozesse“, beispielsweise die zunehmende Reduktion von Grabbeigaben als „Romanisierung“ oder „Christianisierung“. Auch gegenüber dieser Interpretation lässt sich einwenden, dass es sich primär um Veränderungen der Repräsentation im Grab gehandelt haben dürfte –
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23
24
Alter und Geschlecht in ur- und frühgeschichtlichen Gesellschaften, hrsg. von Johannes Müller. Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie 126 (Bonn 2005), S. 157–178; Sebastian Brather, Sven Gütermann, Melanie Künzie, Jens Reinecke, Christiane Schmid, Katharina Streit, Dmytro Tolkach, Nina Wächtler, Vera Zadow, Grabausstattung und Lebensalter im frühen Mittelalter. Soziale Rollen im Spiegel der Bestattungen. Fundberichte aus Baden-Württemberg 30, 2007 (2009), S. 273–378. Frauke Stein, Die Bevölkerung des Saar-Mosel-Raumes am Übergang von der Antike zum Mittelalter. Überlegungen zum Kontinuitätsproblem aus archäologischer Sicht. Archaeologia Mosellana 1, 1989, S. 89–195; Frauke Stein, Ergebnisse zur Interferenz zwischen Franken und Romanen im frühen Mittelalter anhand des Gräberfeldes bei Audun-le-Tiche (F, Dép. Moselle). In: ‚Grenzen‘ ohne Fächergrenzen. Interdisziplinäre Annäherungen, hrsg. von Bärbel Kuhn, Martina Pitz, Andreas Schorr (St. Ingbert 2007), S. 403–438. Volker Bierbrauer, Romanen im fränkischen Siedelgebiet. In: Die Franken. Wegbereiter Europas. Ausstellungskatalog Mannheim (Mainz 1996), S. 110–120; Volker Bierbrauer, Romanen und Germanen im 5.–8. Jahrhundert aus archäologischer Sicht. In: Romanen & Germanen im Herzen der Alpen zwischen 5. und 8. Jahrhundert, hrsg. von Walter Landi (Bozen 2005), S. 215–239; Volker Bierbrauer, Archäologie (wie Anm. 1). Guy Halsall, Settlement and social organization. The Merovingian region of Metz (Cambridge 1995); Hubert Fehr, Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung? Zu den Anfängen des Reihengräberhorizontes. In: Zwischen Spätantike und Frühmittelalter (wie Anm. 8), S. 67–102.
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hier die zunehmende Kontrolle der Kirche als Institution über Bestattungen25 und das Einsetzen des liturgischen Totengedenkens. d. „Kulturmodelle“ (II): Auch Frank Siegmund benutzt den Begriff des Kulturmodells, meint damit aber etwas völlig anderes als Bierbrauer. Siegmund konzentriert sich auf die Grabbeigabe von Keramik- und Glasgefäßen sowie die Waffenausstattung der Männer.26 Durch den Vergleich relativer Häufigkeiten werden regionale Differenzierungen erkennbar. Mit diesem statistischen Ansatz wird ein neuer, vielversprechender Weg beschritten, dessen Wert in der komparatistischen, „objektivierten“ Gegenüberstellung regionaler Varianten von Grabausstattungen liegt. Ob es sich bei den erfassten geographischen Häufigkeitsunterschieden aber um Reflexionen ethnischer Identitäten handelt, wie Siegmund meint, scheint offen; auch sind sie wohl komplexer, als eine dichotomische Reduktion suggeriert. Bevor in diese Richtung argumentiert wird, wäre zu untersuchen, ob nicht Produktion und Nachfrage entscheidende Voraussetzungen dafür darstellten, dass Drehscheibenkeramik und Glasgefäße auch als Grabbeigabe zur Verfügung standen.27 e. Archäologische Kultur: Während die bislang genannten Ansätze von Grabausstattungen ausgingen (die auf eine Fülle sozialer Zugehörigkeiten Bezug nehmen), setzt die „archäologische Kultur“ umfassender an. Sie erstreckt sich prinzipiell auf „alle Lebensbereiche“ und bezieht daher Siedlungen ein. Auch wenn das Modell durch innere Heterogenität gekennzeichnet ist (wie seine polythetische Struktur im Sinne David Leonhard Clarkes deutlich macht28), erhebt es einen umfassenden Anspruch. Angesichts der beträchtlichen kulturellen Ähnlichkeit zwischen benachbarten Lokalgesellschaften besitzen archäologische Kulturen eine weite geographische Ausdehnung. Daher sind sie kaum geeignet, ethnische Gruppen im engeren Sinne und deutlich kleineren Umfangs – wie etwa die gentes der 25
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Niklot Krohn, Von der Eigenkirche zur Pfarrgemeinschaft. Kirchenbauten und Kirchengräber der frühmittelalterlichen Alamannia als archäologische Zeugnisse für nobilitäre Lebensweise und christliche Institutionalisierung. In: Centre, region, periphery. Medieval Europe Basel 2002. Preprinted papers 2 (Hertingen 2002), S. 165–178. Frank Siegmund, Alemannen und Franken. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 23 (Berlin, New York 2000). Sebastian Brather, Hans-Peter Wotzka, Alemannen und Franken? Bestattungsmodi, ethnische Identitäten und wirtschaftliche Verhältnisse zur Merowingerzeit. In: Soziale Gruppen, kulturelle Grenzen. Die Interpretation sozialer Identitäten in der Prähistorischen Archäologie, hrsg. von Stefan Burmeister, Nils Müller-Scheeßel. Tübinger Archäologische Taschenbücher 5 (Münster u. a. 2006), S. 139–224. David Leonhard Clarke, Analytical archaeology (London 1968), S. 246 Abb. 53.
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Spätantike und des frühen Mittelalters – zu beschreiben. Sie sind auf einem recht allgemeinen Niveau angesiedelt, auf dem etwa auch Kelten, Germanen und Slawen zu finden sind, und reflektieren kontinuierlich ineinander übergehende Kommunikationsräume. Um ein Identitätsbewusstsein geht es dabei nicht, und es bleibt auch problematisch, einen Zusammenhang zwischen Sachkultur und Sprache vorauszusetzen.29 f. Kontextueller Ansatz: Haben alle genannten Versuche ihren Ausgangspunkt im archäologischen Quellenmaterial, so ist jüngst Nico Roymans zum Ausgangspunkt zurückgekehrt – der Erwähnung bestimmter ethnischer Gruppen in zeitgenössischen Texten und ihrem historischen Kontext. Er analysiert die Formierung der Bataver am Niederrhein, wobei alle relevanten Quellen – zeitgenössische Texte, archäologische Funde und Befunde sowie Inschriften – herangezogen werden.30 Aus dieser umfassenden Perspektive gelingt es zu zeigen, wie vielschichtig und komplex die Verhältnisse waren. Anhand der Sachkultur lassen sich Beziehungen zum heutigen Hessen erkennen und damit zeigen, dass antike Nachrichten über Umsiedlungen einen historischen Kern besitzen und sich die Bataver aus germanischen Neuankömmlingen sowie einer einheimischen keltisch-römischen Bevölkerung entwickelten. Sie entstanden unter besonderen Verhältnissen – innerhalb des Imperiums und damit entscheidend von der römischen Politik beeinflusst. Die Kombination verschiedener Quellen macht deutlich, dass die römischen Beobachter die Situation nur in Teilen zutreffend einschätzten und zugleich das epigraphisch überlieferte Selbstbild der Bataver deutlichen Wandlungen unterworfen war. Die unbefangene Suche nach allen in Schriftquellen vorkommenden ethnischen Namen und Gruppen unterschätzt die Komplexität sozialer, politischer und ethnischer Praxis. Roymans’ Studie zeigt, dass es auf die systematische und kontextuelle Analyse des Einzelfalls ankommt – und die Erwartung, mit einem universalen Modell hantieren zu können, fehl geht. Ruft man sich in Erinnerung, dass Identitäten primär durch den historischen Kontext bestimmt werden [f)], so stehen sie anscheinend nicht im Zentrum archäologischer Untersuchungen. Diese gelten meist kulturellen ‚Ursprüngen‘ und ‚Traditionen‘ [a) bis e)] (indem Herkunftsregionen und Wanderungen rekonstruiert werden), auf die sich ethnische Abgrenzungen in bestimmten Situa29
30
Sebastian Brather, Artikel „Kulturgruppe und Kulturkreis“. In: RGA 17 (2001), S. 442–452. Nico Roymans, Ethnic identity and imperial power. The Batavians in the early Roman Empire. Amsterdam archaeological studies 10 (Amsterdam 2004).
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tionen zwar stützen können, aber nicht müssen. Daher sollte präzise zwischen subjektiven Identitäten und kulturellen Prägungen unterschieden werden.
3 ‚Völker‘, ‚Stämme‘ und gentes im RGA In der Neuauflage des Hoopsschen Reallexikons der Germanischen Altertumskunde werden „Stämme, Völker“ systematisch unter „Gesellschaft und Staat“ und genauer unter „Gesellschafts- und Gemeinschaftsformen“ behandelt, zu denen außerdem „Familie, Sippe, Dorfgemeinschaft“ gehören.31 Von den im Register aufgeführten fast 700 Lemmata findet sich ein Drittel allein in der Erstauflage;32 bei etwa 200 Namen handelt es sich um bloße Verweise in beiden Ausgaben, und ungefähr 250 Stichwörter werden in der umfangreichen Zweitauflage behandelt. Von vielen ethnischen Gruppen sind zwar der Name (sonst könnten sie im Reallexikon gar nicht aufgeführt werden) und einige dürre historische Daten bekannt, aber genauere Lokalisierungen und Charakterisierungen kaum möglich. Aus archäologischer Perspektive lässt sich in diesen Fällen nichts weiter beitragen. Nur für rund 50 Gruppen finden sich deshalb archäologische Erläuterungen in den Stichworten – durchaus unterschiedlichen Umfangs.33 3.1 ‚Völker‘: Germanen, Kelten, Slawen und Romanen Dass die Germanen besonders eingehend behandelt werden, versteht sich beim Titel des Lexikons von selbst. Die Reihe der Ergänzungsbände wurde mit einem Sammelband über „Germanenprobleme in heutiger Sicht“ eröffnet34, und das sehr umfangreiche Stichwort „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“ sogar als Separatum veröffentlicht.35 Dort finden sich zentrale Forschungsprobleme im Hinblick auf Methodologie 31
32
33
34
35
RGA, Register 1. Autoren, Stichwörter, Fachregister, Abkürzungsverzeichnis (Berlin, New York 2008), S. 271–279. Weggelassen wurden in der Zweitauflage vor allem jene Namen und Gruppen, die außerhalb des zeitlichen und räumlichen Schwerpunkts des Reallexikons liegen. Ich danke den Teilnehmern eines Freiburger Hauptseminars im Wintersemester 2007/8, die viele dieser Stichworte analysieren mussten und mir damit die hier vorgelegte Übersicht erleichterten, die dennoch nicht alle einschlägigen Stichworte berücksichtigen kann. Germanenprobleme in heutiger Sicht, hrsg. von Heinrich Beck. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 1 (Berlin, New York 1986, 2., um ein Vorwort erweiterte Aufl. 1999). Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“. In: RGA 11 (1998),
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und Interpretation erörtert, nachdem im Unterschied zur ersten Auflage die Vorstellung einer „germanischen Altertumskunde“ zum Problem geworden und vielmehr eine Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas angestrebt war. Allein die Archäologie betreffen 21 Paragraphen – gemessen am Seitenumfang fast ein Drittel des Lemmas.36 Wie schwierig Abgrenzungen zu anderen (sprachlichen und kulturellen) Gruppen zu erreichen sind, unterstreicht H. Steuers Zusammenfassung: „Gegenwärtig bleibt offen, wie die sprachliche oder kulturelle Germanisierung des N[orden]s vor sich ging – ebenso wie auch für den Kontinent nicht zu beschreiben ist, wie die Ausbreitung und Aufgliederung der germ[anischen] Sprache(n) erfolgt ist“.37 Über wirtschaftliche und soziale Verhältnisse – in bestimmten Regionen und zu bestimmten Zeiten – fallen die Interpretationen der Archäologie dagegen deutlich umfassender und weitreichender aus (Abb. 3). Den Germanen entsprechende, sprachlich definierte Großgruppen werden im RGA deutlich kürzer abgehandelt – und somit wird die komplexe Perspektive also nicht durchgehalten. Besonders auffällig ist, dass die Römer überhaupt nicht vorkommen – obwohl die „germanische Welt […] vielleicht die größte und dauerhafteste Schöpfung des politisch-militärischen Genius Roms“ war.38 Römisch-germanische Beziehungen und die germanischen Provinzen werden unter den §§ 4–9 des Stichworts „Germanen“ kurz thematisiert, wobei es sich um einen ausschließlich historischen Blickwinkel handelt.39 Die ‚Marginalisierung‘ erklärt sich wohl aus der geographisch-kulturellen Beschränkung des RGA insgesamt auf die Welt der mittel- und nordeuropäischen ‚Barbaren‘.
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39
S. 181–438 = Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde. Studienausgabe, hrsg. von Heinrich Beck, Heiko Steuer, Dieter Timpe (Berlin, New York 1998). Rosemarie Müller, Heiko Steuer, Helmut Roth, Torsten Capelle, Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde III. Archäologie“. In: RGA 11 (1998), S. 309–374. Müller, Steuer, Roth, Capelle, Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde III. Archäologie“ (wie Anm. 36), S. 324 (Steuer). Patrick J. Geary, Die Merowinger. Europa vor Karl dem Großen (München 1996), S. 7. Dieter Timpe, Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde I. Geschichte A. Germanen, historisch. § 4. Germ[anen] und Römer; § 5. Die germ[anischen] Großstämme und das Imperium“. In: RGA 11 (1998), S. 215–245; Barbara Scardigli, Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde I. Geschichte. B. Germania (Provinzname) – Germania Magna § 6. Das Rheinland bis Domitian; § 8. Germania prima und secunda; § 9. Germania Magna“. In: RGA 11 (1998), S. 245–259.
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413
Abb. 3: In Tacitus’ Germania erwähnte Namen von Germanengruppen und archäologische Kulturgruppen der frühen römischen Kaiserzeit im Vergleich. Beide Perspektiven lassen sich erwartungsgemäß nicht zur Deckung bringen, weshalb Kulturentwicklung und politisch-ethnische Verbände nicht unmittelbar zusammenhingen. * ostbaltische Kultur; • Wielbark-Kultur; Przeworsk-Kultur; s Odermündungsgruppe; ▲ Elbgermanen; ■ Nordseeküstengermanen; X Rhein-Weser-Germanen; Nordgermanen (Nach Volker Bierbrauer, Archeologia e storia dei Goti dal I al IV secolo. In: I Goti [Milano 1994] S. 22–47, hier S. 23 Abb. 1.1; Tacitus, Germania, hrsg. Gerhard Perl. Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas bis zur Mitte des 1. Jahrtausends 2 [Berlin 1990] Vorsatz).
Ein eigenes Lemma gilt dagegen den Kelten. Sie werden im allgemeinen (nationalen) Verständnis als Opponenten der Germanen verstanden, wenngleich sich beide als barbarische Gegenüber der Mittelmeerwelt ablösten – Griechen hatten es seit dem 5. Jahrhundert mit Kelten zu tun, Römer seit Cäsar mit Germanen. Unter dem Stichwort „Kelten“ werden aus archäologischer Sicht lediglich eisenzeitliche Siedlungsformen West- und Mitteleuropas knapp erörtert.40 Was archäologisch als „keltisch“ charakterisiert werden kann, 40
Olivier Büchsenschütz, Artikel „ Kelten III. Archäologisches“. In: RGA 16 (2000), S. 388–392.
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bleibt dem Leser vorenthalten. Verweise41 führen zwar zu grundlegenden Aspekten wie „Keltische Großplastik“42, „Fürstengräber“43 und „Fürstensitze“44 sowie „Latènekultur und Latènezeit“45, ohne jedoch einen knappen Überblick oder eine kurze Gesamtdarstellung zu bieten. Kaum weniger knapp werden die Slawen behandelt. Auf nur drei Spalten kommen – nüchtern abwägend – regionale Kulturen, Siedlungen und Wirtschaft sowie Bestattungen zur Sprache, so dass ein sehr knapper Überblick geboten wird.46 Ebenso wie bei den Kelten sind kaum einzelne gentes als eigenes Stichwort aufgenommen worden;47 diese waren der Überlieferung zufolge – wie bei Kelten und Germanen – überaus zahlreich und können deshalb, aber auch wegen ungeklärter Lokalisierungsfragen, archäologisch kaum präzise regional beschrieben werden. Beim Stamm der Polanen, auf dessen Namen lange Zeit der Landesname Polen zurückgeführt wurde, hat sich inzwischen herausgestellt, dass es ihn gar nicht gab, aber er gerade deswegen im Nachhinein (um 1000) erfunden wurde.48 Insgesamt erscheint die slawische Welt Ostmitteleuropas im RGA peripher, obwohl sie im Vergleich mit Mittel- und Westeuropa besonders aufschlussreich ist, entwickelten sich dort doch spezifische Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft.49 41 42
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Vgl. RGA Register 2. Alphabetisches Register (2008), S. 470. Otto-Herman Frey, Artikel „Keltische Großplastik“. In: RGA 16 (2000), S. 395– 407. Otto-Herman Frey, Artikel „Fürstengräber § 3. Hallstatt- und Frühlatènezeit“. In: RGA 10 (1998), S. 178–185. Franz Fischer, Artikel „Fürstensitze § 2. Jüngere Hallstattzeit und Frühlatènezeit“. In: RGA 10 (1998), S.221–225. Rosemarie Müller, Artikel „Latènekultur und Latènezeit“. In: RGA 18 (2001), S. 118–124. Marek Dulinicz, Artikel „Slawen § 3. Archäologisch“. In: RGA 29 (2005), S. 54– 59. Rudolph Grenz, Artikel „Abodriten § 2. Archäologisches“. In: RGA 1 (1973), S. 15; Sebastian Brather, Artikel „Heveller“. In: RGA 14 (1999), S. 543–545; Sebastian Brather, Artikel „Lutizen § 2. Archäologisches“. In: RGA 19 (2001), S. 53–56. Przemysław Urbańczyk, Trudne początki polski (Wrocław 2008), S. 317–360; Johannes Fried, Gnesen, Aachen, Rom. Otto III. und der Kult des hl. Adalbert. Beobachtungen zum älteren Adalbertsleben. In: Polen und Deutschland vor 1000 Jahren. Die Berliner Tagung über den „Akt von Gnesen“, hrsg. von Michael Borgolte (Berlin 2002), S. 235–279. Vgl. aber ergänzend: Sebastian Brather, Archäologie der westlichen Slawen. Siedlung, Wirtschaft und Gesellschaft im früh- und hochmittelalterlichen Ostmitteleuropa. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 61 (Berlin, New York 2008); Christian Lübke, Fremde im östlichen Europa. Von Gesellschaften ohne Staat zu verstaatlichten Gesellschaften (9.–11. Jahrhundert). Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart 23 (Köln, Weimar, Wien 2000); Christian Lübke, Das östliche Europa (München 2004).
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Mit mehr als 30 Seiten sind die Romanen besonders ausführlich vorgeführt worden, zumal es sich um einen rein archäologischen Beitrag über eine Sprechergemeinschaft handelt.50 Für den Westen des spätantiken Imperiums werden – nach Regionen getrennt (Alpen, Italien – Langobarden, Spanien – Westgoten, Schweiz – Burgunden und Alemannen, Gallien – Franken) – romanische Bestattungen dadurch von denen der Germanen unterschieden, dass sie (fast) keine Grabbeigaben enthalten haben sollen.51 Die Gegenüberstellung der Gräber hat eine ‚negative‘ Kennzeichnung zur Folge – romanische ‚Beigabenlosigkeit‘ – , und damit wirken sich ein gebietsweise unzureichender Forschungsstand und erschwerte Datierungen nachteilig aus. Die strikte Trennung ‚unverfälschter Kulturmodelle‘ vermag u. a. nicht recht zu erklären, weshalb die ‚germanischen‘ Reihengräberfelder weitgehend auf (ehemals) römischem Boden angelegt wurden, und sie marginalisiert soziale Unterschiede. 3.2 ‚Stämme‘ und gentes Während sich für große Gruppen wie die genannten eine Reihe von Merkmalen der Sachkultur anführen lässt, reduziert sich deren Zahl für ethnische Gruppen im engeren Sinne aufgrund ihrer geographisch recht begrenzten Siedlungsgebiete. Umso schwieriger wird jeder Versuch, die in Schriftquellen genannten, handelnden Gruppen im archäologischen Quellenbestand eindeutig abzugrenzen. Die Bemühungen konzentrieren sich dabei generell auf germanische Stämme zwischen römischer Kaiserzeit und frühem Mittelalter. Für das RGA können mehrere Varianten unterschieden werden, wie mit diesem Interpretationsproblem umgegangen wird (Tab. 1). Aufgrund der Vielzahl der beteiligten Autoren dürften sie das wissenschaftliche Argumentationsfeld weithin abdecken. a. Zurückhaltung: Die meisten Lemmata sind vorsichtig und abwägend formuliert, wenn es um die Beschreibung archäologischer Charakteristika von gentes und um deren (regionale) Abgrenzung geht. Einerseits sieht man methodische Probleme in allzu eindeutigen Festlegungen und charakterisiert daher regionale Grundzüge, andererseits will man wohl Erwartungen von Lesern aus anderen Fächern nicht ‚enttäuschen‘, was denn nun archäologisch das jeweils ‚Typische‘ an einem ‚Stamm‘ oder einem ‚Volk‘ sei. In diesem Spannungsfeld bewegen sich u. a. die folgenden 50 51
Volker Bierbrauer, Artikel „Romanen“. In: RGA 25 (2004), S. 210–242. Vgl. die oben erwähnten „Kulturmodelle“ (wie Anm. 22, 23).
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Tab. 1. Modelle ethnischer Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie und Varianten ihrer Behandlung im RGA. Optimismus
Zurückhaltung
Einzeltypen
Trachtmodell
Totenrituale = Kulturmodelle I
Kulturmodelle II
Archäologische Kultur
kontextueller Ansatz
Skepsis
Stichworte: Raeter52 für die Eisenzeit, Vindeliker53, Markomannen54 und Quaden (?)55 für die römische Kaiserzeit, Alemannen56, Angelsachsen57, Bayern58, Burgunden59, Franken60, Gepiden61, Sachsen62 und 52 53
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Amei Lang, Artikel „Raeter“. In: RGA 24 (2003), S. 72–79. Werner Zanier, Artikel „Vindeliker § 3. Archäologisch“. In: RGA 35 (2007), S. 448–458. Jaroslav Tejral, Artikel „Markomannen § 2. Archäologisches“. In: RGA 19 (2001), S. 302–308. Titus Kolník, Artikel „Quaden § 3. Historische Angaben und archäologischer Hintergrund“. In: RGA 23 (2003), S. 631–640. Heiko Steuer, Artikel „Alemannen. III.Archäologisches“. In: RGA 1 (1973), S. 142–163 David M. Wilson, Artikel „Angelsachsen III. Archaeology“. In: RGA 1 (1973), S. 310–318. Helmut Roth, Artikel „Bajuwaren III. Archäologisches“. In: RGA 1 (1973), S. 610–627. Max Martin, Artikel „Burgunden III. Archäologisches“. In: RGA 4 (1981), S. 248– 271. Hermann Ament, Artikel „Franken II. Archäologisches“. In: RGA 9 (1995), S. 387–414. – Vgl. Hermann Ament, Artikel „Franken, Frankenreich A. Archäologie“. In: Lexikon des Mittelalters 4 (München, Zürich 1989), S. 689–693, hier S. 692, wonach „[m]anche Eigenarten im äußeren Habitus der F[ranken], bestimmte Waffenformen und Trachteigentümlichkeiten, […] ethnisch signifikant gewesen zu sein“ scheinen. Dieser sehr zurückhaltenden Feststellung folgt eine weitere Einschränkung: „In der fr[an]z[ösischen] Forschung wird freilich die ethnische Signifikanz der gen[annten] Erscheinungen stark eingeschränkt beurteilt und werden die daraus abgeleiteten Folgerungen energisch bestritten.“
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Thüringer63 sowie Wikinger64 im frühen Mittelalter sowie Sarmaten65 und Skythen66, Hunnen67 und Awaren (?)68 als ‚Steppennomaden‘. Neben der regionalen Charakterisierung werden Herkunfts- bzw. Kontinuitätsfragen ebenso wie Wanderungen diskutiert. Dieser Ansatz entspricht dem ‚Üblichen‘ in der frühgeschichtlichen Archäologie. Er resultiert aus einer nach 1945 in der deutschsprachigen Archäologie verbreiteten Haltung, angesichts der weit überzogenen Interpretationen in den Jahrzehnten zuvor erhebliche Vorsicht walten zu lassen.69 Außerdem wirken die New Archaeology der 1960er Jahre mit ihren funktionalistischen Konzepten und eine hauptsächlich wirtschaftsgeschichtlich orientierte Archäologie nach. Stichworte stellen sogar bloße Regionalbeschreibungen dar und repräsentieren damit den Verzicht auf ethnische Interpretation. Unter „Angeln“ wird z. B. im Wesentlichen ein Gebiet im heutigen Schleswig-Holstein beschrieben.70 Das Stichwort selbst ist in diesem Fall nicht eindeutig und kann sowohl eine regionale als auch eine ethnische Bezeichnung darstellen. Zwischen beiden Bedeutungen changieren denn auch die einzelnen Beiträge zu (den) ‚Angeln‘. Bei Samen71, Chatten72 und Friesen73 han-
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Áttila B. Tóth/Margit Nagy, Artikel „Gepiden § 2. Archäologisches“. In: RGA 11 (1998), S. 118–131. Torsten Capelle, Artikel „Sachsen § 4. Archäologisches“. In: RGA 26 (2004), S. 46–53. Claudia Theune, Artikel „Thüringer § 5. Archäologisch“. In: RGA 30 (2005), S. 535–544. David M. Wilson, Artikel „Wikinger § 2. Britische Inseln; § 3. Kunst“. In: RGA 34 (2007), S. 59–72. Ion Ioniţă, Artikel „Sarmaten § 2. Archäologisches“. In: RGA 26 (2004), S. 508– 512. Renate Rolle, Artikel „Skythen § 3. Archäologisch“. In: RGA 29 (2005), S. 40–44. Bodo Anke, Artikel „Hunnen § 6. Archäologisches“. In: RGA 15 (2000), S. 256– 261. Gyula László, Artikel „Awaren § 4. Der archäologische Nachlaß“. In: RGA 1 (1973), S. 530–534. Karl J. Narr, Nach der nationalen Vorgeschichte. In: Die sog. Geisteswissenschaften: Innenansichten, hrsg. von Wolfgang Prinz, Peter Weingart (Frankfurt/M. 1990), S. 279–312, hier S. 297; Ulrich Veit, Ethnic concepts in German prehistory. A case study on the relationship between cultural identity and objectivity. In: Archaeological approaches to cultural identity, hrsg. von Stephen J. Shennan (London 1989), S. 35–56, hier S. 42. Herbert Jankuhn, Klaus Raddatz, Artikel „Angeln III. Archäologie“. In: RGA 1 (1973), S. 292–303. Inger Zachrisson, Artikel „Samen § 1. Archäologisches“. In: RGA 26 (2004), S. 383–385.
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delt es sich zwar um ‚Stammesnamen‘, doch die RGA-Autoren beschreiben im Grunde ebenso die archäologischen Charakteristika der Region, in der anhand zeitgenössischer Schriftquellen die jeweiligen Siedlungsgebiete zu lokalisieren sind. Auch das Lemma „Semgallen“ schwankt zwischen Regional- und Stammesbeschreibung.74 Eine ethnische Interpretation liegt in diesen Fällen nicht vor. Ähnlich verfahren auch im Folgenden zu nennende skeptische Stimmen, indem sie bewusst regionale Verhältnisse schildern. b. Skepsis: Einige (jüngere) Autoren stehen in den von ihnen verfassten Stichworten ethnischen Interpretationen recht skeptisch gegenüber. Die aus griechischer und orientalischer Überlieferung bekannten Kimmerier lassen sich z. B. archäologisch nicht von den Skythen unterscheiden75, Kimbern und Teutonen haben auf ihrem zwanzigjährigen Zug offenbar überhaupt keine materiellen Spuren hinterlassen,76 und bei Hevellern77 und Lutizen78 fällt eine Herauslösung aus dem elbslawischen Kulturmilieu mehr als schwer, wie die Autoren betonen. Das jeweils beschriebene Problem ist methodischer Natur – archäologisch ist eine Abgrenzung dieser Gruppen fast unmöglich, doch die Verbände stellten historische Akteure dar, sei der Blick auch noch so sehr durch die Fremdüberlieferung verzerrt. Archäologisch bleiben sie mehr als unscharf. c. Zuversicht: Im Unterschied dazu – und von diesen kritischen Ansichten in den letzten Jahren offensichtlich befördert – gibt es auch recht optimistische Stimmen. Sie konzentrieren sich auf drei bekannte ‚Wandervölker‘. An ihnen hebt Volker Bierbrauer hervor, wie sehr neue Formen der Sachkultur und Bestattungsriten in bisher römisch geprägtem Umfeld 72
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Gerhard Mildenberger, Artikel „Chatten III. Archäologisches“. In: RGA 4 (1981), S. 385–391. Egge Knol, Ernst Taayke, Artikel „Friesen II. Archäologisches § 14–20“. In: RGA 10 (1998), S. 35–52; Hans-Joachim Kühn, Artikel „Friesen II. Archäologisches § 22. Frühm[ittel]a[lterliche] Besiedlung N[ord]-Frieslands“. In: RGA 10 (1998), S. 54–56; Peter Schmid, Artikel „Friesen II. Archäologisches § 23. Zur fries[ischen] Besiedlung in N[ord]w[est]-Niedersachsen“. In: RGA 10 (1998), S. 56– 63. Wojciech Nowakowski, Artikel „Semgallen § 2. Archäologisch“. In: RGA 28 (2005), S. 150–152. Carola Metzner-Nebelsick, Artikel „Kimmerier“. In: RGA 16 (2000), S. 504–523. Jes Martens, Artikel „Kimbern § 3. Archaeological notes“. In: RGA 16 (2000), S. 500–504. Brather, Heveller (wie Anm. 47). Brather, Lutizen (wie Anm. 47).
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auffallen – dort, wo Vandalen79, Goten80 und Langobarden81 Teil der antiken Welt wurden. Nicht unproblematisch ist aber die ‚Eichung‘ der archäologischen Chronologie an den historischen Daten 429, 493 und 568 – können nicht manche Funde auch etwas früher dorthin gelangt und in den Herkunftsregionen nicht auch noch später in Gebrauch gewesen sein?82 Ob alle ‚neuen‘ Kennzeichen den Neuankömmlingen zuzuschreiben sind, ist ebenso unsicher – einheimische Eliten könnten und dürften sich bewusst am Habitus der neuen ‚Herren‘ orientiert haben, denen sie politisch-administrative Dienste leisteten.83 Die ‚optimistische‘ Variante beruht also auf klaren Prämissen – der deutlichen und dauerhaften Unterscheidbarkeit von Bevölkerungen in Kleidung und Bestattung.84
4 ‚Archäologische Kulturen‘ im RGA Einen zweiten Blickwinkel ethnischer Interpretationen kann man in der historischen Einordnung bzw. ‚Deutung‘ ‚archäologischer Kulturen‘ sehen. Dabei kehrt sich das Vorgehen um: statt von bekannten Namen für regionale oder agierende Gruppen von Menschen auszugehen, stehen nun die archäologischen Quellen am Beginn der Betrachtung. Die ‚archäologische Kultur‘ ist dabei ein analytisches Konzept räumlicher Ordnung85, hinter die die zeitliche Bestimmung zurückfällt, auch wenn die ‚Kulturen‘ im RGA systematisch überwiegend unter den prähistorischen bzw. frühgeschichtlichen Epochen aufgelistet sind.86 ‚Kulturen‘ fassen möglichst viele Merkmale aus Artefakttypen, Siedlungs- und Bestattungsformen zusammen, um ein kohä79
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Volker Bierbrauer, Artikel „Wandalen § 2. Archäologisch“. In: RGA 33 (2006), S. 209–217. Volker Bierbrauer, Artikel „Goten II. Archäologisches“. In: RGA 12 (1998), S. 407–427. Christoph Eger, Volker Bierbrauer, Artikel „Langobarden III. Archäologisches“. In: RGA 18 (2001), S. 69–93. Orsolya Heinrich-Tamaska, Deutung und Bedeutung von Salins Tierstil II zwischen Langobardia und Avaria. In: Die Langobarden. Herrschaft und Identität, hrsg. von Walter Pohl, Peter Erhart. Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Denkschriften 329 (Wien 2005), S. 281–300. Philipp von Rummel, Habitus Vandalorum? Zur Frage nach einer gruppenspezifischen Kleidung der Vandalen in Nordafrika. Antiquité Tardive 10, 2002, S. 131– 141. Deshalb werden für die ethnische Unterscheidung durch die Archäologie allein Grabfunde und keine Siedlungsbefunde herangezogen. Brather, Kulturgruppe (wie Anm. 29). Vgl. RGA, Register 1 (wie Anm. 31), S. 184 f., S. 380–436.
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rentes Bild zu erreichen. Tatsächlich stellen sie heterogene Artefakte der Forschung dar, die sich mit einem ‚polythetischen‘ Konzept beschreiben lassen87 und die vom Gang der Forschung abhängig, also wissenschaftsgeschichtlich bedingt sind. Eine abweichende, umfangreichere oder bescheidenere Merkmalsauswahl – die Berücksichtigung anderer ‚Formenkreise‘88 oder ‚Lebensbereiche‘ – würde automatisch zu neuen Abgrenzungen führen, weshalb diese ‚Kulturen‘ nicht als – gewissermaßen durch den Überlieferungszufall ‚namenlose‘ – Ethnien missverstanden werden dürfen.89 Die Zahl der im RGA erfassten ‚archäologischen Kulturen‘ ist nicht besonders groß. Das liegt einerseits an der recht strikten (chronologisch orientierten) Auswahl, andererseits daran, dass eine Ordnung des Fundstoffs durch eine Zusammenfassung zu Regionalkulturen eher für prähistorische Perioden und weniger für frühgeschichtliche Zeiträume üblich ist. Von den prähistorischen ‚Kulturen‘ sind in der Zweitauflage einige berücksichtigt worden, sofern sie – überwiegend forschungsgeschichtlich bedingt – mit Germanen in Verbindung gebracht worden waren. Arktische Steinzeitkultur90, Bootaxtkultur91, Einzelgrabkultur92, RzucewoKultur93, Aunjetitzer Kultur94, Lausitzer Kultur95, Urnenfelderkultur96 und Gesichtsurnenkultur97 liegen nach heutigem Ermessen allerdings zeitlich derart weit vor dem historischen ‚Auftauchen‘ von Germanen oder Kelten, dass sie lediglich archäologisch charakterisiert werden können. Über Ethnogeneseprozesse vermögen sie keinen Aufschluss zu geben, ebenso wenig über sprachliche Verhältnisse. Von den als Stichwort im RGA aufgenommenen jungsteinzeitlichen ‚Kulturen‘ wird lediglich auf das „Neolithikum“ verwiesen, wo die Periode insgesamt abgehandelt wird, und auf eigene Erläuterungen verzichtet. Weitere, vor allem noch frühere Zeiträume betreffende ‚Kulturen‘ und Epochen wurden nicht ein87 88
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Vgl. Anm. 28. Hermann Müller-Karpe, Einführung in die Vorgeschichte (München 1975), S. 74– 81. Hans-Peter Wotzka, „Kultur“ in der deutschsprachigen Urgeschichtsforschung. In: Kultur. Ein interdisziplinäres Kolloquium zur Begrifflichkeit, hrsg. von Siegfried Fröhlich (Halle/Salle 2000), S. 55–80. Hans Christiansson, Artikel „Arktische Steinzeitkultur“. In: RGA 1 (1973), S. 409– 411. Carl Johan Becker, Artikel „Bootaxtkultur“. In: RGA 3 (1978), S. 246–249. Carl Johan Becker, Artikel „Einzelgrabkultur“. In: RGA 7 (1989), S. 43–47. Jarosław Sobieraj, Artikel „Rzucewo-Kultur“. In: RGA 25 (2003), S. 635 f. Rolf Hachmann, Artikel „Aunjetitzer Kultur“. In: RGA 1 (1973), S. 493–499. Rosemarie Müller, Artikel „Lausitzer Kultur“. In: RGA 18 (2001), S. 144–157. Rosemarie Müller, Artikel „Urnenfelderkultur“. In: RGA 31 (2006), S. 549–558. Rosemarie Müller, Artikel „Gesichtsurnenkultur“. In: RGA 11 (1998), S. 543–547.
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mal mehr aufgenommen;98 sie gehörten in ein Handbuch oder „Reallexikon der Vorgeschichte“.99 4.1 ‚Völker‘ und ‚Kulturen‘ Auf den ersten Blick lassen sich Latène- und Jastorf-Kultur leichter mit Kelten bzw. Germanen verbindöen, als das für die frühen Slawen mit einer oder mehreren ‚archäologischen Kultur‘ gelingt.100 Doch handelt es sich hier erneut um ein geographisches Argument, denn bei näherem Hinsehen werden Binnendifferenzierungen oder heterogene Verhältnisse deutlich: im Bereich der Jastorf-Kultur sind „innerhalb der zahlreichen Gruppierungen, die mit diesem Oberbegriff erfaßt werden, im einzelnen hinsichtlich von Bestattungssitten, Sachkultur, Siedlungsverhalten und Zeitansatz erhebliche Unterschiede vorhanden“.101 Auch in zeitlicher Hinsicht weist „die Abfolge der J[astorf]-K[ultur] deutlich sichtbare Zäsuren“ auf.102 So erhält eine Verknüpfung mit den Germanen erst in der späten vorrömischen Eisenzeit ihren Sinn, womit ältere, weitreichende Kontinuitätsdebatten überholt sind. Noch zurückhaltender fällt die Interpretation der Latène-Kultur aus, die „im wesentlichen die arch[äologischen] Hinterlassenschaften der Kelten zum Inhalt“ habe.103 Der Verweis auf das Lemma Kelten führt im Kreis, denn dort wiederum wird die Verbindung ebenfalls nicht weiter thematisiert.104 Ob, wie gelegentlich postuliert, die der Latène-Kultur vorangehende Hallstatt-Kultur zumindest in ihrer jüngeren Phase als „keltisch“ angesehen werden kann, bleibt im betreffenden Stichwort offen. Auch bei ihr handelt es sich um einen vagen Oberbegriff: „Der Hallstattkreis kann weder an Einzelformen des Sachbesitzes, des Kultes und Brauchtums oder der Siedelund Wirtschaftsweise, noch an strukturellen Parallelläufen hinreichend und 98 99
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Vgl. etwa RGA, Register 1 (wie Anm. 31), S. 184 f. Reallexikon der Vorgeschichte 1–15, hrsg. von Max Ebert (1924–1932); Hermann Müller-Karpe, Handbuch der Vorgeschichte 1–4 (München 1966–1980). Vgl. die kritische Übersicht bei Carsten Goehrke, Frühzeit des Ostslaventums. Erträge der Forschung 277 (Darmstadt 1992), S. 14–18, mit Verweis auf PragKorčak-, Pen’kovka- und Koločin-Kultur; außerdem Florin Curta, The making of the Slavs. History and archaeology of the Lower Danube Region, c. 500–700. Cambridge studies in medieval life and thought 4,52 (Cambridge 2001), S. 227–310. Rosemarie Müller. Artikel „Jastorf-Kultur“. In: RGA 16 (2000), S. 43–55, hier S. 43. Müller, Jastorf-Kultur (wie Anm. 101), S. 52. Müller, Latènekultur und Latènezeit (wie Anm. 45), S. 118. Vgl. Abschnitt 3.1.
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durchgängig beschrieben werden […] Die Hallstattkultur ist für sich genommen ein heterogenes Konglomerat aus verschiedenen regionalen Erscheinungen, das bestenfalls als Kommunikationssystem mit ähnlicher sozialökonomischer Grundlage, mit direkten Gruppenbeziehungen und gemeinsamen kulturellen Orientierungen verstanden werden kann“.105 Für die Slawen wird lediglich die Pen’kovka-Kultur als eigenes Stichwort geführt; für sie ist „nicht allein von Slawen auszugehen“, sondern auch mit einer „nomadischen Komponente“ und „germ[anischer] Präsenz“ zu rechnen.106 Angesichts der sprachlich-kulturellen Großgruppen ist mehr als eine geographisch ausgerichtete, zurückhaltende und die kulturelle Heterogenität der großen erfassten Räume berücksichtigende Zurückhaltung nicht möglich (Abb. 4). 4.2 ‚Stämme‘ und ‚Kulturen‘ Beim Blick auf weniger umfangreiche Gruppen lassen sich die bereits genannten drei Varianten unterscheiden. Zuvor sei noch darauf hingewiesen, um wie vieles größer ‚archäologische Kulturen‘ als die potentiellen Reichweiten ethnischer Identitäten ausfallen.107 Das hat seine Hauptursache darin, dass kulturelle Differenzen erst aus der archäologischen Vogelperspektive und damit aus größerer Entfernung deutlich werden. Der Handlungsrahmen ethnischer Gruppen dürfte räumlich deutlich beschränkter als die Erstreckung ‚archäologischer Kulturen‘ gewesen sein. a. Zurückhaltung: Für die Poieneşti-Lukaševka-Kultur im südöstlichen Rumänien konstatiert Verf. zwar eine „allg[emeine] Übereinstimmung zw[ischen] dem arch[äologischen] Tatbestand und der hist[orischen] Überlieferung der Bastarnen“, macht aber zugleich deutlich: „Die Bastarnen sind ja doch letzten Endes Germanen vor den Germanen gewesen.“108 Ähnlich vorsichtig klingt die Einordnung der Săntana-de-MureşČernjachov-Kultur nordwestlich des Schwarzen Meers, die anderenorts durchaus als ‚typisch‘ gotisch angesprochen wird.109 Ioniţă stellt dagegen 105
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Thomas Stöllner, Artikel „ Hallstattkultur und Hallstattzeit“. In: RGA 13 (1999), S. 446–453, hier S. 446. Ion Ioniţă, Artikel „Penkovka-Kultur“. In: RGA 22 (2002), S. 553–558, hier S. 557. Vgl. Anm. 100. Hans-Peter Wotzka, Maßstabsprobleme bei der ethnischen Deutung neolithischer „Kulturen“. Das Altertum 43, 1997, S. 163–176. Mircea Babeş, Artikel „Poieneşti-Lukaševka-Kultur“. In: RGA 23 (2003), S. 230– 239, hier S. 238, 239 (Hervorhebung im Original). Volker Bierbrauer, Archäologie und Geschichte der Goten vom 1.–7. Jahrhundert.
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Abb. 4: Schematisierte Beziehungen zwischen „archäologischen Kulturen“ im östlichen Mitteleuropa zwischen jüngerer Bronzezeit und frühem Mittelalter. Kreise symbolisieren historisch bezeugte Gruppen, Rechtecke stellen „archäologische Kulturen“ dar. Beides ist nur mittelbar miteinander verknüpft, und ‚historische Traditionen‘ sowie zeitgenössische Kontexte spielten gleichermaßen eine Rolle für Identitäten (nach Joachim Herrmann, I. Urheimat und Herkunft der Slawen, In: Welt der Slawen. Geschichte, Gesellschaft, Kultur [Leipzig, Jena, Berlin 1986] S. 17, hier aus Brather, Ethnische Interpretationen [wie Anm. 1] S. 543 Abb. 87).
einen vollkommen unzureichenden Stand der Untersuchungen fest, weshalb vieles noch offen sei; eine Verbindung mit den Goten bzw. ihrer Wanderung wird angenommen, aber doch vorsichtig und am Rande, wenn „v. a. von Goten und Wandalen, wahrscheinlich zusammen mit noch anderen Germ[anen]“, die Rede sein soll.110 Zur Entstehung der Zarubincy-Kultur habe die Zuwanderung germanischer Gruppen (Bastarnen und Kimbern), aber auch ein Latène-Einfluss geführt, und „mit einer Beteiligung von Populationen aller dieser Kulturen an der Herausbildung
110
Versuch einer Bilanz. Frühmittelalterliche Studien 28, 1994, S. 51–171, hier S. 98– 134; vgl. Volker Bierbrauer, Goten (wie Anm. 80), S. 415–418. Ion Ioniţă, Artikel „Săntana-de-Mureş-Černjachov-Kultur“. In: RGA 26 (2004), S. 445–455, hier S. 451.
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der Kultur der hist[orischen] Slawen [ist] zu rechnen“.111 In allen Fällen werden (mitunter mehrere) historische Gruppen im Bereich dieser ‚Kulturen‘ verortet, ohne eine eineindeutige Beziehung zu behaupten. Es handelt sich wiederum um hauptsächlich regionale geographische Charakterisierungen, die dann vorsichtig mit ethnischen Namen verknüpft werden, wenn sie für den betreffenden Raum zur gleichen Zeit überliefert sind. b. Skepsis: Für die hochmittelalterliche Köttlach-Kultur stellt Jochen Giesler nüchtern fest: „Ebenso wie in den Ausbaugebieten des Elb-Saale-Raumes und N[ord]o[st]-Bayerns sagt das Auftreten dieser Kulturströmung auch im Donau- und Alpenraum nichts über die ethnischen Verhältnisse, die Schriftzeugnissen zufolge auch im 11. J[ahr]h[undert] noch weitgehend von slaw[ischen] Elementen geprägt waren.“112 Bei anderen archäologischen Kulturen wird auf jede ethnische Zuordnung verzichtet, was für ihre Auflistung hier an dieser Stelle spricht. Dies gilt für Regionalgruppen größerer kultureller Zusammenhänge wie die eisenzeitliche MarneKultur113, die Hunsrück-Eifel-Kultur114, die nordpolnische Oksywie-Kultur115, die slowakische Púchov-Kultur116 und die mittelböhmische Vinařicer Kulturgruppe des 5. Jahrhunderts117, aber auch für die eisenzeitliche geto-dakische Kultur118, die rein geographisch begründet werden und damit nicht mehr als eine räumliche Abgrenzung bezwecken. c. Optimismus: Klare, wenn auch nicht weiter begründete Aussagen finden sich zur eisen- und kaiserzeitlichen Przeworsk-Kultur, deren geographische Ausdehnung durch Phasenkarten mit scharfen, amöbenartig sich verändernden Umrisslinien verdeutlicht wird: „Im Bereich der P[rzeworsk]-K[ultur] nahmen in der ält[eren] R[ömischen] K[aiser]z[eit] die Lugier die dominierende Stellung ein […] Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Burgunden im N[ord]w[est]-Teil der P[rzeworsk]-K[ultur] anzusetzen sind, während die Silingen im W[est]-Teil (Schlesien?) siedel-
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Teresa Dąbrowska, Artikel „Zarubincy-Kultur“. In: RGA 34 (2007), S. 432–441, hier S. 440. Jochen Giesler, Artikel „Köttlachkultur“. In: RGA 17 (2001), S. 155–161, hier S. 160. Rosemarie Cordie, Artikel „Marnekultur“. In: RGA 19 (2001), S. 339–343. Rosemarie Cordie-Hackenberg, Artikel „Hunsrück-Eifel-Kultur“. In: RGA 15 (2000), S. 266–271. Teresa Dąbrowska, Artikel „Oksywie-Kultur“. In: RGA 22 (2002), S. 45–54. Karol, Pieta, Artikel „Púchov-Kultur“. In: RGA 23 (2003), S. 597–601. Jaroslav Tejral, Artikel „Vinařicer Kulturgruppe“. In: RGA 32 (2006), S. 414–423. Ion Ioniţă, Artikel „Geto-dakische Kultur und Kunst“. In: RGA 11 (1998), S. 569– 577.
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ten.“119 Dafür fehlt jede detaillierte archäologische Begründung, die die ethnische Vielfalt innerhalb einer als homogen beschriebenen ‚Kultur‘ erklärte und Grenzen zwischen diesen Gruppen zöge. Für die kaiserzeitliche Wielbark-Kultur werden im RGA verschiedene Forschungsmeinungen über die ethnische Zuweisung referiert, ohne an der grundsätzlichen Verbindung mit ‚den Goten‘ zu zweifeln; diskutiert wird aber die Alternative skandinavische Zuwanderung oder Prägung durch ein einheimisches ‚Substrat‘ (in Form der Oksywie-Kultur), wenn nach der Entstehung der ‚Kultur‘ gefragt wird.120 Eher vage bleibt die Feststellung, im Bereich der frühmittelalterlichen Strichkeramik-Kultur werde „die dort ansässige Bevölkerung als Stamm der sog[enannten] Dnjepr-(Ost-)Balten gedeutet“.121 Insgesamt sind diese Stimmen etwas weniger ‚optimistisch‘, als es bei jenen der Fall ist, die von ‚Stämmen‘ und gentes ausgehen.122
5 Ergebnisse und Perspektiven Die kulturelle Charakterisierung ethnischer Gruppen in den Lemmata des RGA spiegelt die Situation innerhalb der frühgeschichtlichen Archäologie getreu wider – während des Erscheinens ebenso wie gegenwärtig. Insofern bietet das Lexikon ein unmittelbares Abbild der Forschung und ihrer methodischen Probleme, ohne dass nach meinem Eindruck der Gang des Erscheinens dabei eine nennenswerte Rolle gespielt hat. Erst die im letzten Jahrzehnt wieder aufgeflammte Diskussion hat ihre Spuren hinterlassen, indem sich optimistische und skeptische Stimmen häufen.123 Es sind zuvor eher unterschiedliche ‚Schulen‘ oder allgemeiner Modellvorstellungen und Prämissen, die hinter den Divergenzen stehen, doch spielen wohl auch Stichwortvorgaben (z. B. Angeln) und redaktionelle Richtlinien eine Rolle. Dem unbefangenen Leser wird allerdings erst dann deutlich, dass es sich bei der Archäologie nicht um eine konzeptionslose Disziplin, sondern um konkurrierende Interpretationen handelt, wenn er mehrere Stichworte miteinander vergleicht. Die Dreiteilung der meisten Lemmata in ‚Sprachliches‘, ‚Histori119
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Teresa Dąbrowska, Magdalena Mączyńska, Artikel „Przeworsk-Kultur“. In: RGA 23 (2003), S. 540–567, hier S. 564 (Mączyńska). Magdalena Mączyńska, Artikel „Wielbark-Kultur“. In: RGA 34 (2007), S. 1–20. Wojciech Nowakowski, Artikel „Strichkeramikkultur“. In: RGA 30 (2005), S. 80 f., hier S. 80. Vgl. Abschnitt 3.2, S. 415–419. Vgl. Anm. 1.
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sches‘ und ‚Archäologisches‘124 (sogenannte ‚Komplexartikel‘) bietet eine zweite Vergleichsmöglichkeit, auch wenn die Abstimmung zwischen den Teilbeiträgen inhaltlich und methodisch nicht immer geglückt ist. Die divergierenden Aussagen und Interpretationen der sprachlichen, schriftlichen und materiellen Quellen ermöglichen interdisziplinäre Perspektiven mit komplexen Rekonstruktionen. In dieser Kombination und Integration der Disziplinen liegt die Bedeutung des RGA. Da die einschlägigen Stichworte zusammengenommen einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der – inzwischen wieder intensiven – Diskussion ermöglichen, können daraus auch zukünftige Forschungsstrategien abgeleitet werden. Zwischen verschiedenen Interpretationsansätzen bestehende offenkundige Diskrepanzen lassen sich produktiv nutzen, indem die jeweiligen historischen Verhältnisse aus mehreren Blickwinkeln betrachtet werden. Allerdings setzt eine gewinnbringende Diskussion festen Grund voraus, sowohl begrifflich als auch methodisch, wozu einige knappe Bemerkungen angefügt seien: – Analytisch erfasste kulturelle Kennzeichen sind die eine Seite, Identitäten und subjektive Zuordnungen der Beteiligten die andere. Beides darf daher nicht miteinander verwechselt werden. Worauf einzelne kulturelle Kennzeichen jeweils hinweisen sollten, kann nicht vorausgesetzt, sondern muss sorgfältig aus dem Kontext erschlossen werden (Abb. 5). Kleidung stellt tatsächlich ein entscheidendes Mittel sozialer Zuordnung dar, doch lässt sie sich mit dem ‚Trachtmodell‘ des 19. Jahrhunderts nicht hinreichend erfassen, da sie weniger regionale als soziale Distinktionen betont.125 – ‚Akkulturation‘ wird häufig als Chiffre gebraucht, um kulturelle Veränderungen zu beschreiben. Vorausgesetzt wird fast immer das Aufeinandertreffen nicht nur zweier unterschiedlicher, sondern auch zweier ungleichgewichtiger Kulturen.126 Nur dann lässt sich von der ‚Angleichung‘ einer Seite an die unveränderte andere ausgehen. Unberücksichtigt bleibt dabei, dass beide ‚Parteien‘ (etwa Römer und Germanen) sich 124
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Die Reihenfolge der Sachgebiete in den Stichworten wechselt, ohne dass sich eine systematische Differenz erkennen ließe. Philipp von Rummel, Habitus Barbarus. Kleidung und Repräsentation spätantiker Eliten im 4. und 5. Jahrhundert. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 55 (Berlin, New York 2007); Sebastian Brather, Von der „Tracht“ zur „Kleidung“. Neue Fragestellungen und Konzepte in der Archäologie des Mittelalters. Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 35, 2007, S. 185–206. Ulrich Gotter, „Akkulturation“ als Methodenproblem der historischen Wissenschaften. In: Wir, ihr, sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode, hrsg. von Wolfgang Eßbach. Identitäten und Alteritäten 2 (Würzburg 2000), S. 373–406.
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Abb. 5: Das grundlegende methodische Problem ethnischer Interpretationen in der Archäologie. Nur im Einzelfall lässt sich abwägen, in wieweit und in welcher Situation moderne, ‚objektive‘ wissenschaftliche Rekonstruktionen auf der Basis einiger zur Verfügung stehender kultureller Kennzeichen auf das subjektive Zusammengehörigkeitsgefühl der Zeitgenossen bezogen werden können.
kulturell wandeln – und dabei etwas Neues entwickeln, das mit dem Akkulturations-Konzept nicht mehr erklärt werden kann. – Dass regionale Unterschiede seitens der Archäologie allzu rasch als bewusste ethnische Abgrenzung erklärt werden, spricht nicht gegen eine geographische Perspektive. Sie vermag zur Interpretation von Veränderungen durchaus beizutragen. Denn der regionale Vergleich innerhalb des spätantiken Westeuropa zeigt, dass die Veränderungen dort besonders auffallend und weitreichend ausfielen, wo zuvor – wie am Rhein oder in Nordafrika – die Beziehungen der ‚barbarischen‘ Welt zu Rom besonders intensiv gewesen waren.127 – Mobilität von Personen war in Antike und Mittelalter alltäglich – von exogamen Heiratsbeziehungen über Händlerreisen und Militärstationierungen bis hin zu An- und Umsiedlungen. Allerdings waren Menschen in Bewegung; ‚Völker‘ wanderten nicht.128 Textquellen fassen diese Grup127
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Guy Halsall, Barbarian migrations and the Roman West, 376–568 (Cambridge 2007). Im Deutschen bezeichnet man das 4. bis 6. Jahrhundert misslicherweise als ‚Völkerwanderungszeit‘, während im Englischen (migration period) und Französischen (les grandes migrations) allein die Mobilität hervorgehoben wird. Das Russische greift auf den deutschen Begriff zurück (velikoe pereselenie narodov).
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pen zwar unter einem Namen zusammen, jedoch nicht ohne darauf hinzuweisen, wie heterogen diese Gruppen zusammengesetzt waren. Die Klammer bildeten nicht zahlreiche kulturelle Gemeinsamkeiten, sondern der Name – und das Ziel bzw. die Erwartungen. – Angesichts der Komplexität der seinerzeitigen Verhältnisse dürfen wissenschaftliche Rekonstruktionen nicht zu sehr vereinfachen. Versuche, aufkommende Grabausstattungen im spätantiken Nordgallien entweder mit Laeten oder mit Föderaten in Verbindung zu bringen, müssten beispielsweise erst noch erklären, weshalb Zusammenhänge zwischen Bestattungsritualen und militärisch-politischen Gruppen bestanden haben sollten und Alternativen auszuschließen wären. Die Berücksichtigung aller verfügbaren Quellen führt zu komplexen, in einigen Situationen – wie im Beispiel der Bataver – auch zu ethnischen Interpretationen. – Einen Primat der einen oder der anderen Interpretation darf es nicht geben. Keine Erklärung ist aus sich heraus wahrscheinlicher als eine andere. Deshalb müssen sowohl die eigene Argumentation reflektiert als auch konkurrierende Interpretationen diskutiert werden. Erst eine sorgfältige Abwägung kann zur Entscheidung führen. Diese muss darüber hinaus verschiedene Ebenen unterscheiden, auf denen sich Rekonstruktionen und Interpretationen bewegen, die aber zugleich ‚Rhythmen‘ historischer Veränderungen widerspiegeln.129
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Albert Hafner, Peter J. Suter, Ein neues Chronologieschema zum Neolithikum des schweizerischen Mittellandes. Das Zeit/Raum-Modell. Archäologie im Kanton Bern 4, 1999, S. 7–36, hier S. 28 Tab. 1; Heiko Steuer, Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995. Begründung und Zielsetzung des Arbeitsgesprächs. In: Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995, hrsg. von Heiko Steuer. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 29 (Berlin, New York 2001), S. 1–54, hier S. 24 Abb. 1; Brather, Ethnische Interpretationen (wie Anm. 1) 348 Abb. 49; 522 Abb. 85.
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 429–458 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
Die Entstehung der Angelsachsen Heinrich Härke Zweck dieses Beitrags soll der Entwurf eines archäologischen Modells der angelsächsischen Ethnogenese im nachrömischen Britannien sein. Zeitlich und geographisch bleiben die Betrachtungen auf das 5. bis 7./8. Jahrhundert n.Chr. in England beschränkt (Abb. 1). Aspekte der angelsächsischen Auswanderung vom Kontinent werden hier ebenso ausgeklammert wie die Frage des Beitrags der wikingerzeitlichen Einwanderung aus Skandinavien zur englischen Ethnogenese. Der thematische Schwerpunkt ist die Rolle der einheimischen britonischen Bevölkerung in diesem ethnogenetischen Prozess; methodisch liegt der Schwerpunkt auf einer interdisziplinären Perspektive, besonders den Erkenntnissen, die sich aus der Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden ergeben haben.
Zum Stand der Diskussion Auch wenn die Forschungsgeschichte hier nicht im Vordergrund stehen soll, so müssen doch einige einleitende Bemerkungen zum Stand der Diskussion gemacht werden, um die nachfolgenden Überlegungen in einen Forschungszusammenhang stellen zu können. Bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts beruhten die Vorstellungen zu Ursprung und Herausbildung der Angelsachsen weitgehend auf den wenigen Schriftquellen für das nachrömische England. Demnach wären die Angelsachsen Mitte des 5. Jahrhunderts aus Norddeutschland und Jütland eingewandert, hätten die Einheimischen getötet, vertrieben oder versklavt und sich in einem Vorgang ‚ethnischer Säuberung‘ den Süden und Osten der Insel untertan gemacht.1 Archäologische Erkennt1
Diese Quellen sind in erster Linie das Traktat des keltischen Mönch Gildas, die Kirchengeschichte von Beda Venerabilis sowie die Angelsächsische Chronik. Gildas: De Excidio et Conquestu Britanniae, hrsg. von Michael Winterbottom. Arthurian Period Sources 7 (London, Chichester 1978); Beda: Historia Ecclesiastica Gentis
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Abb. 1: Lage der im Text erwähnten Fundorte und Landschaften.
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nisse und die Ortsnamenforschung dienten im Wesentlichen der Veranschaulichung und Ergänzung des historischen Bildes, was inhaltlich und methodisch kaum über Ansätze der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (oder gar des späten 19. Jahrhunderts) hinausging.2 Der Schwerpunkt lag zumeist auf der Rekonstruktion der Einwanderungs- und Eroberungsgeschichte, wobei die Wanderung als eine direkte Übertragung ethnischer Gruppen und Identitäten vom Festland auf die Insel vorgestellt und die Herausbildung der Engländer als das Zusammenwachsen der eingewanderten Stämme der Angeln, Sachsen und Jüten, mit Einsprengseln anderer Herkunft, aufgefasst wurde.3 Ab dem Ende der 1980er Jahre gab es dann ein Umdenken, dessen Ursprung allerdings eher in theoretischen Strömungen der Vorgeschichtsforschung als in neuen Daten der Frühgeschichte lag, obwohl ein weiterer Anstoß sicher aus der kritischen Neubewertung der Schriftquellen kam.4 Im Einklang mit der Wanderungsfeindlichkeit (‚immobilism‘ in den ironischen Worten von Christopher Hawkes)5 der Processual (New) Archaeology, die mit einiger Verspätung auch die britische Frühgeschichtsforschung erreicht
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Anglorum, hrsg. von Bertam Colgrave, Roger A.B. Mynors. Oxford Medieval Texts (Oxford 1969); Angelsächsische Chronik, hrsg. von Dorothy Whitelock. English historical documents c. 500–1042. 2. Aufl. (London, New York 1979). Siehe besonders die sogenannte ‚Teutonist controversy‘ des späten 19. Jahrhunderts; Michael Biddiss (Hrsg.), Images of race. The Victorian Library (New York 1979); Hugh A. MacDougall, Racial myth in English history: Trojans, Teutons and Anglo-Saxons (Montreal u.a. 1982). Edward Thurlow Leeds, The archaeology of the Anglo-Saxon settlements (Oxford 1913); Robin G. Collingwood, John N.L. Myres, Roman Britain and the English settlements to about 600 A.D. Oxford History of England 1 (Oxford 1936); Frank M. Stenton, Anglo-Saxon England. Oxford History of England 2 (Oxford 1943); Kenneth Cameron, English place-names (London 1961); Hans Kuhn, Artikel „Angelsachsen. I. Sprachliches“. In: RGA 1 (1973), S. 303–306; David M. Wilson, „Angelsachsen. II. History; III. Archaeology“. In: RGA 1 (1973), S. 306–318; Margaret Gelling, Signposts to the past (London 1978); John N. L. Myres, The English settlements (Oxford 1986). David N. Dumville, Sub-Roman Britain: history and legend. History 62, 1977, S. 173–192; Patrick Sims-Williams, The settlement of England in Bede and the Chronicle. Anglo-Saxon England 12, 1983, S. 1–41; Patrick Sims-Williams, Gildas and the Anglo-Saxons. Cambridge Medieval Celtic Studies 6, 1983, S. 1–30; Barbara Yorke, Fact or fiction? The written evidence for the fifth and sixth centuries AD. Anglo-Saxon Studies in Archaeology and History 6, 1993, S. 45–50. Christopher Hawkes, Archaeologists and Indo-Europeanists: Can they mate? Hopes and hindrances. In: Proto-Indo-European: The archaeology of a linguistic problem. Studies in honour of Marija Gimbutas, hrsg. von Susan N. Skomal, Edgar C. Polomé (Washington, D.C.), S. 202–213, hier S. 202; zur Wanderungsfeindlichkeit siehe Heinrich Härke, Wanderungsthematik, Archäologen und politisches
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hatte, wurde in Publikationen dieser Forschungsphase oft versucht, den Umfang der angelsächsischen Einwanderung möglichst (und manchmal auch unmöglich) tief anzusetzen, bis hin zu nur einigen Tausend Einwanderern.6 Die logische Konsequenz dieses Ansatzes war demnach die Vorstellung, dass die Angelsachsen fast ausschließlich von den einheimischen Britonen abstammten, die nach dem Abzug der Römer lediglich die Kulturattribute und Sprache der verschwindend wenigen Einwanderer angenommen hätten.7 Die einzigen neuen Daten, die in dieser Phase einen Einfluss auf die Diskussion hatten, waren paläobotanische Ergebnisse, die eine weitgehende Kontinuität der offenen römerzeitlichen Kulturlandschaft, eventuell sogar in einigen Fällen Flurformen, in die nachrömische Zeit anzeigten.8 Die letzten zehn Jahre waren dann gekennzeichnet vom Einfluss neuer biologischer Daten (DNS und stabile Isotopen) auf die Debatte sowie auf archäologisch-historischer Seite von Versuchen, die Rolle der einheimischen Bevölkerung näher zu präzisieren und ein vorläufiges Fazit aus der laufenden Debatte zu ziehen.9 Die neuen Daten bestätigen ironischerweise angeb-
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Umfeld. Archäologische Informationen 20, Heft 1, 1997, S. 61–71; Heinrich Härke, The debate on migration and identity in Europe. Antiquity 78, 2004, S. 453–456. Christopher J. Arnold, Roman Britain to Saxon England. London. Croom Helm Studies in Archaeology (London 1984); Richard Hodges, The Anglo-Saxon achievement (London 1989), besonders S. 65; Nicholas Higham, Rome, Britain and the Anglo-Saxons (London 1992), besonders S. 165. Zuletzt Francis Pryor, Britain A.D.: A quest for Arthur, England, and the AngloSaxons (London 2004). Martin Bell, Environmental archaeology as an index of continuity and change in the medieval landscape. In: The rural settlements of medieval England. Studies dedicated to Maurice Beresford and John Hurst, hrsg. von Michael Aston, David Austin, Christopher Dyer (Oxford, Cambridge/Mass. 1989), S. 269–286; Susan Petra Day, Woodland origin and ‚ancient woodland indicators‘: a case-study from Sidlings Copse, Oxfordshire, UK. The Holocene 3, Heft 1, 1993, S. 45–53; Susan Dark, Palaeoecological evidence for landscape continuity and change in Britain ca. A.D. 400–800. In: External contacts and the economy of Late Roman and PostRoman Britain, hrsg. von Ken R. Dark (Woodbridge 1996), S. 23–51; Petra Dark, The environment of Britain in the First Millennium AD (London 2000), gegen die frühere Vorstellung einer Rodungskolonisation durch die angelsächsischen Siedler bei William G. Hoskins, The making of the English landscape (London 1955). Zur einheimischen Bevölkerung siehe insbesondere Heinrich Härke, Briten und Angelsachsen im nachrömischen England: Zum Nachweis der einheimischen Bevölkerung in den angelsächsischen Landnahmegebieten. Studien zur Sachsenforschung 11, 1998, S. 87–119; Nicholas Higham (Hrsg.), Britons in Anglo-Saxon England. Publications of the Manchester Centre for Anglo-Saxon Studies 7 (Woodbridge 2007); Zusammenfassungen des Forschungsstandes bei Heinrich Härke, Kings and Warriors: Population and landscape from post-Roman to Norman Britain. In: The peopling of Britain: the shaping of a human landscape. The Linacre
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lich ‚veraltete‘ Vorstellungen: Untersuchungen zur rezenten DNS zeigten eine genetische Verwandtschaft eines großen Teils der englischen Landbevölkerung mit Friesen, Norddeutschen und Dänen,10 und die vorläufigen Ergebnisse der ersten Gräberfeldanalysen mit stabilen Isotopen zeigten einen deutlich größeren Anteil an Eingewanderten in den ersten Generationen als von Wanderungsskeptikern (zu denen auch die Initiatoren der Isotopenprojekte zu rechnen sind) erwartet.11 In diesen Fällen kam es auch zu enger Zusammenarbeit von Naturwissenschaftlern und Archäologen, was sich besonders auf die Interpretation der biologischen Daten auswirkte und zur Arbeit an Modellen führte, welche die Diskrepanz zwischen naturwissenschaftlichen Resultaten und archäologisch-historischen Erwartungen erklären und auflösen sollten. Mit den neuen Daten und dem Aufbau informierter Gegenpositionen zu den wanderungsfeindlichen Modellen der 1990er Jahre schwingt das Pendel im Moment zurück, und aus der Diskussion zwischen unreflektierten konventionellen Vorstellungen und weitgehend datenfreier Kritik ist eine immer noch gelegentlich hitzige, aber deutlich fruchtbarere Debatte über Wanderungs- und Ethnogeneseprozesse der nachrömischen Zeit in England entstanden. Für die nähere Zukunft versprechen besonders interdisziplinäre Ansätze mit gemeinsamer Auswertung biologischer Daten (Anthropologie, DNS, stabile Isotopen) und archäologischen Materials Erfolg, und das im Folgenden vorgestellte Modell der angelsächsischen Einwanderung und Ethnogenese beruht auf solch einem Ansatz. Die bis vor kurzem skeptische, vielfach auch offen ablehnende Einstellung der meisten britischen Frühgeschichtler gegenüber Ansätzen mit der Verwendung biologischer Daten12 ist jetzt langsam im Schwinden, aber dennoch dürfen die
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Lectures 1999, hrsg. von Paul Slack, Ryk Ward (Oxford 2002), S. 145–175; Catherine Hills, Origins of the English (London 2003). Michael E. Weale, Deborah A. Weiss, Rolf F. Jager, Neil Bradman, Mark G. Thomas, Y chromosome evidence for Anglo-Saxon mass migration. Molecular Biology and Evolution 19, Heft 7, 2002, S. 1008–1021; Cristian Capelli, Nicola Redhead, Julia K. Abernethy, Fiona Gratrix, James F. Wilson, Torolf Moen, Tor Hervig, Martin Richards, Michael P.H. Stumpf, Peter A. Underhill, Paul Bradshaw, Alom Shaha, Mark G. Thomas, Neal Bradman, David B. Goldstein, A Y chromosome census of the British Isles. Current Biology 13, 2003, S. 979–984. Paul Budd, Andrew Millard, Carolyn Chenery, Sam Lucy, Charlotte Roberts, Investigating population movement by stable isotope analysis: a report from Britain. Antiquity 78, 2004, S. 127–140; Janet Montgomery, Jane A. Evans, Dominic Powlesland, Charlotte A. Roberts, Continuity or colonization in Anglo-Saxon England? Isotope evidence for mobility, subsistence practice, and status at West Heslerton. American Journal of Physical Anthropology 126, 2005, S. 123–138. Vgl. z.B. M.N. Mirza, D.B. Dungworth, The potential misuse of genetic analyses
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Probleme dieser Arbeitsweise nicht außer acht gelassen werden. Dazu gehören in erster Linie die problematische und weiterhin umstrittene Identifizierung ethnischer Gruppen im archäologischen Fundgut sowie das Verhältnis von biologischer Population zu kultureller Gruppe und ethnischer Identität.13 Die methodischen Probleme der Erkennung von Wanderungen sind im Vergleich dazu schon besser erarbeitet.14
Wanderung und Landnahme Zu den Wanderungsfaktoren, die einen direkten Einfluss auf die nachfolgende Ethnogenese nehmen können und in diesem Fall sicher auch ge-
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and the social construction of ‚race‘ and ‚ethnicity‘. Oxford Journal of Archaeology 14, 1995, S. 345–354; Hills, Origins (wie Anm. 9), S. 71. Zu ethnischer Identifizierung nach archäologischen Funden allgemein Sian Jones, The archaeology of ethnicity (London 1996); Stefan Burmeister, Nils MüllerScheessel (Hrsg.), Soziale Grenzen – kulturelle Grenzen. Die Interpretation sozialer Identitäten in der Prähistorischen Archäologie. Tübinger Archäologische Taschenbücher 5 (Münster 2006); für die Frühgeschichte Sebastian Brather, Ethnische Identitäten als Konstrukte der frühgeschichtlichen Archäologie. Germania 78, 2000, S. 139–177; Sebastian Brather, Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 42 (Berlin, New York 2004); speziell für das nachrömische England John Hines, The becoming of the English: Identity, material culture and language in Early Anglo-Saxon England. Anglo-Saxon Studies in Archaeology and History 7, 1994, S. 49–59; Walter Pohl, Ethnic names and identities in the British Isles: a comparative perspective. In: The Anglo-Saxons from the Migration Period to the eighth century: an ethnographic perspective, hrsg. von John Hines. Studies in Historical Archaeoethnology 2 (Woodbridge 1997), S. 7–40; Heinrich Härke, Sächsische Ethnizität und archäologische Deutung im frühmittelalterlichen England. Studien zur Sachsenforschung 12, 1999, S. 109–122; zusammenfassend zum Verhältnis von biologischer, ethnischer und kultureller Identität Heinrich Härke, Ethnicity, ‚race‘ and migration in mortuary archaeology: An attempt at a short answer. In: Early medieval mortuary practices, hrsg. von Sarah Semple, Howard Williams. Anglo-Saxon Studies in Archaeology and History 14 (Oxford 2007), S. 12–18; vgl. auch die kurzen Bemerkungen dazu bei Heinrich Härke, Ethnogenese über Nacht: Eine Anekdote mit ernsthaftem Hintergrund. In: Zweiundvierzig. Festschrift für Michael Gebühr zum 65. Geburtstag, hrsg. von Stefan Burmeister, Heidrun Derks, Jasper von Richthofen. Internationale Archäologie – Studia honoraria, 25 (Rahden/ Westf. 2007), S. 35–38. Speziell zur angelsächsischen Wanderung siehe Stefan Burmeister, Migration und ihre archäologische Nachweisbarkeit. Archäologische Informationen 19, 1996, S. 13–21; Michael Gebühr, Überlegungen zum archäologischen Nachweis von Wanderungen am Beispiel der angelsächsischen Landnahme in Britannien. Archäologische Informationen 20, 1997, S. 11–24.
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nommen haben, zählen insbesondere der zahlenmäßige Umfang der Einwanderung sowie die konkreten Formen der Landnahme. Die Frage der Einwandererzahlen bildet seit einiger Zeit einen Schwerpunkt kontroverser Diskussionen. Konkrete Zahlen werden in keiner Quelle genannt; die mehrfache Erwähnung der Ankunft von Einwanderergruppen in jeweils drei Schiffen in Bedas Kirchengeschichte und der Angelsächsischen Chronik stellt eindeutig eine Metapher innerhalb eines Eroberungsmythos dar.15 Archäologische Funde wiederum erlauben wegen ihres selektiven und fragmentarischen Charakters prinzipiell kein direktes Ableiten absoluter Zahlen, im Falle des nachrömischen Englands nicht einmal das relativer Einwandererzahlen, da die einheimischen Britonen nach dem Ende der römischen Zeit archäologisch unsichtbar werden und somit als Vergleichsgruppe ausfallen.16 Damit bleibt nur der Ansatz mittels biologischer Daten, aber auch diese können nur relative Zahlen liefern, deren Umsetzung in absolute Zahlen wiederum eine Kenntnis der einheimischen Bevölkerungszahl voraussetzt. Schätzungen der Bevölkerung des römischen Britannien schwanken in der neueren Literatur zwischen 2 und 6 Millionen, wobei die genaueste und sorgfältigste Berechnung, welche die Ergebnisse regionaler Landesaufnahmen extrapoliert, auf eine Zahl von 3,7 Millionen für das späte 3./frühe 4. Jahrhundert kommt.17 In der spätrömischen und subrömischen Zeit könnte es durch Krankheiten und Hungersnot einen Rückgang gegeben haben,18 aber unabhängig von diesen spezifischen Faktoren ist ein vorübergehender Bevölkerungsrückgang eine typische Begleiterscheinung von politischer und 15
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Dazu besonders Sims-Williams, Settlement (wie Anm. 4); Yorke, Fact (wie Anm. 4). A. Simon Esmonde Cleary, The ending of Roman Britain (London 1989); A. Simon Esmonde Cleary, Approaches to the differences between late RomanoBritish and early Anglo-Saxon archaeology. Anglo-Saxon Studies in Archaeology and History 6, 1993, S. 57–63; Heinrich Härke, Invisible Britons, Gallo-Romans and Russians: Perspectives on culture change. In: Britons in Anglo-Saxon England, hrsg. von Nicholas Higham. Publications of the Manchester Centre for AngloSaxon Studies 7 (Woodbridge 2007), S. 57–67. Martin Millett, The Romanization of Britain: an essay in archaeological interpretation (Cambridge 1990), S. 182 Tab. 8.5; eine Übersicht über frühere Schätzungen findet sich ebenda Tab. 8.1; siehe auch die Erörterungen bei Michael E. Jones, The end of Roman Britain (Ithaca, New York 1996), S. 13–17. John Wacher, The towns of Roman Britain (London 1975), S. 415–416; vgl. aber Malcolm Todd, Famosa pestis and Britain in the fifth century. Britannia 8, 1977, S. 319–325. – ‚Subrömisch‘ (sub-Roman) ist die geläufige Bezeichnung für die kurze Phase zwischen dem Abzug der römischen Truppen (407 n.Chr.) und dem Beginn der angelsächsischen Einwanderung (Mitte des 5. Jahrhunderts).
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sozialer Instabilität, was sich ab 1989 auch auffällig in Osteuropa und Ostdeutschland zeigte. Veranschlagt man also für das spätere angelsächsische Siedlungsgebiet im Süden und Osten des römischen Britanniens eine Bevölkerung von etwa 2 Millionen und setzt dann einen Rückgang auf die Hälfte über anderthalb Jahrhunderte an, so wird man für den Beginn der angelsächsischen Landnahme um die Mitte des 5. Jahrhunderts mit einer einheimischen Bevölkerung von gut 1 Million rechnen können. Diese Zahl wird bei weiteren Berechnungen zugrunde gelegt, zumal sie sich auch sehr gut mit den Berechnungen der Bevölkerung Englands im 11. Jahrhundert verträgt.19 Die Ergebnisse einer an frühangelsächsischem Skelettmaterial vorgenommenen Oxforder Pilotstudie von alter Mitochondrien-DNS, die nur in der weiblichen Linie vererbt wird, würden eine weibliche Maximaleinwanderung von 20% bedeuten, aber sie wurden in den 1990er Jahren noch vor der Publikation wegen Bedenken hinsichtlich der Datenqualität zurückgezogen.20 Die in letzter Zeit häufiger angefertigten Analysen von rezenter YChromosom-DNS, das nur in der männlichen Linie vererbt wird, haben den Vorteil, dass sie technisch einfacher und schneller sind, somit auch größere Untersuchungsreihen erlauben; der Einsatz rezenter Analysen für historische Fragestellungen wird durch die im Vergleich zum Mitochondrien-DNS deutlich schnellere Mutationsrate der Mikrosatelliten der Y-Chromosom-DNS ermöglicht, die eine ungefähre Datierung von Populationsereignissen (also Ausbreitung, Einwanderung, katastrophale Bevölkerungsrückgänge etc.) erlaubt. Ausgedehnte Analysenreihen von rezenter Y-Chromosom-DNS in der heutigen Bevölkerung Großbritanniens haben in England eine introgressive DNS identifiziert, die der Nordwesteuropas (also den historischen Auswanderungsgebieten) ähnlicher ist als der des westlichen und nördlichen Britanniens (also den Gebieten außerhalb der angelsächsischen Landnahme). Zunächst führte dies zu einer Schätzung von 50% bis 100% Verdrängung der einheimischen männlichen Bevölkerung.21 Eine breiter angelegte Unter19
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Edward Miller, John Hatcher, Medieval England: Rural society and economic change 1086–1348 (London 1978), S. 28–29. Freundliche Mitteilung von Martin Richards (seinerzeit Oxford). Eine später in Durham angefertigte Dissertation, für die die mt-DNS von Skelettmaterial aus drei spätrömischen bzw. angelsächsischen Gräberfeldern analysiert wurde, hat nichts zur Frage der angelsächsischen Einwanderung beigetragen; siehe Ana L. Töpf, M. Tom P. Gilbert, Jack P. Dumbacher, A. Rus Hoelzel, Tracing the phylogeography of human populations in Britain based on 4th-11th century mtDNA genotypes. Molecular Biology and Evolution 23, Heft 1, 2006, S. 152–161; Ana L. Töpf, M. Tom P. Gilbert, Robert C. Fleischer, A. Rus Hoelzel, Ancient human mtDNA genotypes from England reveal lost variation over the last millennium. Biology Letters 3, 2007, S. 550–553. Weale u.a., Y chromosome (wie Anm. 10).
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suchung zeigte dann regionale Unterschiede dieses genetischen Zustroms auf (Abb. 2), mit Anteilen von 24,4% bis 72,3% und einem Durchschnitt von 54,1% des introgressiven DNS.22 Zwar kann der Zeitpunkt dieses Zustroms nur allgemein auf die späte Eisenzeit bis Wikingerzeit datiert werden, aber innerhalb dieses Zeitraums stellt die angelsächsische Wanderung die offensichtlich grösste und damit wahrscheinlichste Ursache dar. Analysen stabiler Isotopen, welche im gefundenen Knochenmaterial das Isotopenverhältnis bestimmter Elemente (für Herkunftsfragen vornehmlich Sauerstoff und Strontium, für Ernährungsfragen eher Kohlenstoff und Stickstoff) feststellen, ermöglichen im Idealfall die Identifizierung einzelner Einwanderer und ihrer Herkunftsgebiete, liegen bisher aber nur für wenige angelsächsische Gräberfelder vor. Die Untersuchung von West Heslerton hat ein beträchtliches Maß an interner Mobilität innerhalb Britanniens und Einwanderung von außerhalb aufgezeigt, wobei in der ersten Generation der Anteil der Einwanderer aus Skandinavien bzw. Mitteleuropa bei 17% liegt.23 Bisher unpublizierte Analysen aus frühangelsächsischen Gräberfeldern Ostenglands zeigen einen noch höheren Anteil von Einwanderern.24 Die aus Wasperton und Winchester-Lankhills vorgelegten Analysen belegen Einwanderer zumeist aus Mittel- und Südeuropa, vermutlich Föderaten, bereits für die spätrömische Zeit, wobei in Wasperton der Anteil bei 20% der analysierten spätrömischen Individuen liegt.25 Die zahlreicheren anthropologischen Daten aus frühangelsächsischen Gräberfeldern lassen in einer systematischen Kombination mit dem archäologischen Befund Aussagen über das Zahlenverhältnis von Einwanderern zu Einheimischen in angelsächsischen Siedlungen zu. Die Grundlage dafür stellt die Identifizierung der angelsächsischen Waffenbeigabesitte des 5./6. Jahrhunderts als ein soziales und symbolisches Merkmal der Familien mit Migrationshintergrund dar.26 Im Schnitt einer Stichprobe von 47 Gräberfel22 23
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Capelli u.a., Y chromosome (wie Anm. 10). Budd u.a., Population movement (wie Anm. 11); vgl. Montgomery u.a., Continuity (wie Anm. 11). Samantha Lucy, unpubl. Konferenzvortrag beim Internationalen Sachsensymposium, Cambridge 2004. Janet Montgomery, Jane Evans, Carolyn Chenery, Oxygen and strontium isotopes. In: Martin Carver, Catherine Hills, Jonathan Scheschkewitz, Wasperton: A Roman, British and Anglo-Saxon community in central England (Woodbridge 2009), S. 48–49; Jane Evans, Nicholas Stoodley, Carolyn Chenery, A strontium and oxygen isotope assessment of a possible fourth century immigrant population in a Hampshire cemetery, southern England. Journal of Archaeological Science 33, 2006, S. 265–272. Heinrich Härke, „Warrior Graves“? The background of the Anglo-Saxon weapon
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Abb. 2: Heutige Verteilung der introgressiven Y-Chromosom-DNS in Britannien (Karte von Mark G. Thomas auf der Grundlage der Daten von Capelli u.a., Y chromosome, wie Anm. 10).
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dern beträgt der Anteil der Waffengräber 47% aller Männergräber. Wenn die Männer ohne Waffenbeigabe tatsächlich alles einheimische Britonen sein sollten, dann stellen angelsächsische Siedlungen ethnisch gemischte Gemeinschaften dar, mit einem insgesamt nahezu ausgewogenen Zahlenverhältnis von Einwanderern und Einheimischen. Britonische Enklaven auf lokaler und regionaler Ebene27 werden dieses Verhältnis in Richtung von 1:2 oder 1:3 zugunsten der Einheimischen verschieben, und im Norden Englands ist mit insgesamt deutlich weniger Einwanderern zu rechnen, allerdings auch bei geringerer Bevölkerungsdichte. Es ist sehr schwierig, diese zusätzlichen Faktoren angemessen zu berücksichtigen, aber für das gesamte Siedlungsgebiet (Abb. 3) kann man auf dieser Grundlage vermutlich ein ungefähres Zahlenverhältnis von 1:4 ansetzen, d.h. einen Einwandereranteil von etwa 20% der Gesamtbevölkerung.28 Eine Umsetzung der relativen in absolute Einwandererzahlen kann anhand der obigen Schätzung der Bevölkerungsgröße vorgenommen werden. Nach den Analysen des rezenten Y-Chromosoms wäre mit etwa 250.000 bis 500.000 männlichen Einwanderern zu rechnen, nach der unpublizierten Pilotstudie der alten Mitochondrien-DNS mit 100.000 weiblichen Einwanderern. Der Unterschied könnte mit dem für Wanderungen typischen Geschlechterungleichgewicht erklärt werden, aber es spielen sicher auch andere Faktoren hinein, insbesondere soziale Prozesse im Gefolge der Wanderung, welche die genetischen Proportionen zugunsten dominanter Einwanderer verschieben würden (siehe S. 449–450). Wenn das Muster stabiler Isotopen in West Heslerton überall zutreffen sollte, hätte es insgesamt etwa 170.000 Einwanderer gegeben. Das anthropologische Modell setzt eine ursprüngliche Einwanderung von etwa 200.000 voraus, wobei allerdings Faktoren wie die typisch hohe Geburtenrate von Einwanderern und die Akkulturation von Einheimischen zu einer Überrepräsentation der Einwanderer führen dürfte, so dass die tatsächliche Einwanderung wohl näher an 100.000 anzusetzen wäre. Bessere und verlässlichere Ergebnisse sind mit den bisher vorliegenden Daten nicht zu erzielen, aber die sich ergebenden Zahlen aus den verschiedenen Ansätzen decken sich hinreichend gut, und sie geben zumindest eine Vorstellung von der wahrscheinlichen Größenordnung der angelsächsischen Einwanderung. Selbst Kritiker aus den Reihen der Genetiker, welche einige
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burial rite. Past & Present 126, 1990, S. 22–43; Heinrich Härke, Angelsächsische Waffengräber des 5. bis 7. Jahrhunderts. Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters, Beiheft 6 (Köln, Bonn 1992). Härke, Briten (wie Anm. 9). Eine frühere Darstellung dieses Modells findet sich bei Härke, Ethnizität (wie Anm. 13).
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Abb. 3: Verbreitung der frühangelsächsischen Gräberfelder und Hügelgräber des 5. bis 7. Jahrhunderts (nach der Karte in Härke, Waffengräber, wie Anm. 26, Abb. 4).
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Interpretationen der DNS-Resultate bezweifeln, stimmen der Schätzung von 100.000 bis 200.000 Einwanderern explizit zu.29 Eine Wanderung dieses Umfangs wäre für die nachrömische Zeit auch keineswegs ungewöhnlich, weder relativ zur einheimischen Bevölkerung noch in absoluten Zahlen.30 Der Mangel an Seetransportkapazitäten wird in Diskussionen immer wieder als ein Argument gegen eine Masseneinwanderung nach England über den Kanal oder die Nordsee angeführt.31 Abgesehen davon aber, dass es zumindest ein Indiz für eine angelsächsische Auswanderungsflotte gibt,32 spielen zeitlicher Rahmen und geographischer Raum, über den sich die Auswanderung erstreckten, eine entscheidende Rolle. Legt man in diesem Fall einmal die Maximalzahl von 200.000 Auswanderern über den Zeitraum von einem Jahrhundert (siehe S. 442) zugrunde, so bleiben trotzdem nur 2000 Auswanderer, die pro Jahr transportiert werden mussten. Je nach Annahmen über zusätzliche Fracht wären dies zwischen 100 und 200 Bootsladungen für Schiffe vom Nydam-Typ.33 Wenn dazu sehr vorsichtig angenommen wird, dass jedes Boot nur zwei Hin- und Rückfahrten pro Saison machen konnte, dann erfordert der Transport der Auswanderer und ihrer Habe nur etwa 50 bis 100 Boote im Raum zwischen Rheindelta und Südnorwegen. Eine Computersimulation dieser Transportfrage führt zu einem ähnlichen Ergebnis: der Transport von 250.000 Emigranten aus der westlichen Ostsee und Jütland nach East Anglia hätte 38 Jahre gedauert, wenn dabei 20 29
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Stephen Oppenheimer, The origins of the British: A genetic detective story (London 2006); John E. Pattison, Is it necessary to assume an apartheid-like social structure in Early Anglo-Saxon England? Proceedings of the Royal Society B 275, 2008, S. 2412–2418. Zu den Wandalen siehe Guido M. Berndt, Vandal ways, ways of the Vandals. In: Neglected barbarians, hrsg. von Florin Curta (Turnhout, im Druck); zu den Ostgoten siehe Peter J. Heather, Goths and Romans 332–489 (Oxford 1991), S. 302–303; allgemein Lucien Musset, The Germanic invasions (London 1975); Malcolm Todd, Migrants and invaders: The movement of peoples in the ancient world (Stroud 2001); Brian Ward-Perkins, The fall of Rome and the end of civilization (Oxford 2005); Peter Heather, The fall of the Roman Empire: A new history (London 2005). Publiziert ist dieses Argument z.B. bei Michael E. Jones, The logistics of the Anglo-Saxon invasions. In: Papers of the Sixth Naval History Symposium held at the U.S. Naval Academy on 29–30 September 1983, hrsg. von Daniel M. Masterson (Wilmington 1987), S. 62–69. Siehe Torsten Capelle, Eine Auswanderungsflotte der Völkerwanderungszeit. Deutsches Schiffahrtsarchiv 11, 1988, S. 15–19. Ole Crumlin Pedersen, Boats and ships of the Angles and Jutes. In: Maritime Celts, Frisians and Saxons, hrsg. von Sean McGrail. Council of British Archaeology, Research Report 71 (London 1990), S. 98–116, hier S. 105–111.
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Nydam-Boote kontinuierlich jeweils zwischen Mai und August eingesetzt worden wären.34 Die zeitliche Erstreckung der angelsächsischen Einwanderung über ein volles Jahrhundert steht nicht in Frage, auch wenn über diesen Zeitraum mit wechselnden Intensitäten zu rechnen ist. Die unstrittig frühesten germanischen Funde des Föderaten-Horizonts datieren an den Beginn des 5. Jahrhunderts, vielleicht sogar schon in das späte 4. Jahrhundert, gefolgt von einer Intensivierung des Zustroms aus Norddeutschland und Dänemark ab der Mitte des 5. Jahrhunderts und zusätzlicher Einwanderung aus dem fränkischen und skandinavischen Raum ab dem späten 5. Jahrhundert.35 Der Vergleich von Keramik in Brandgräberfeldern an der unteren Elbe mit der von Spong Hill und Caistor-by-Norwich im östlichen England zeigt, dass enge Kontakte zwischen Aus- und Einwanderungsgebieten über zwei bis drei Generationen hinweg bestanden haben müssen.36 Die Einwanderung muss demnach eher als ein lang andauernder Vorgang verstanden werden, nicht als einmaliges oder kurzzeitiges Ereignis. Die zeitliche Dimension wiederum, zusammen mit den in ihrer Intensität wechselnden Auswanderungsgebieten, hat sicher Konsequenzen für geographische Unterschiede des Landnahmevorgangs gehabt. In Sussex hat die erste Ansiedlung offenbar kontrolliert stattgefunden, denn die frühesten sächsischen Funde aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts sind zwischen den Flüssen Ouse und Cuckmere konzentriert und sparen das Gebiet um die große römische Stadt Noviomagus Reginorum (Chichester) aus; erst im 6. Jahrhundert dehnt sich die Fundverbreitung auf den Rest von Sussex aus.37 In Wessex könnte es zwei aufeinander folgende Vorgänge gegeben haben: eine frühe, punktuelle Ansiedlung germanischer Einwanderer, die sich in der Verbreitung früher Gräberfelder (mit Belegungsbeginn in der Mitte und zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts) um Winchester, Salisbury und Dorchester zeigt, gefolgt von einer fortschreitenden Eroberung durch eine ethnisch gemischte Kriegergruppe am Ende des 5. und in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts, 34 35
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Freundliche Mitteilung von Michael Gebühr (Schleswig). Sonia Chadwick Hawkes, Gerald C. Dunning, Krieger und Siedler in Britannien während des 4. und 5. Jahrhunderts. Berichte der Römisch-Germanischen Kommission 43–44, 1962–63, S. 155–228; Horst Wolfgang Böhme, Das Ende der Römerherrschaft in Britannien und die angelsächsische Besiedlung Englands im 5. Jahrhundert. Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums 33, Teil 2, 1986, S. 469–574; Hines, Becoming (wie Anm. 13), S. 52–53. Martin Weber, Das Gräberfeld von Issendorf, Kreis Stade. Phil. Diss. (Universität Hamburg 1996), S. 175–176. Martin G. Welch, Late Romans and Saxons in Sussex. Britannia 2, 1971, S. 232– 237.
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über die in den Schriftquellen berichtet wird.38 In East Anglia spricht die Dichte der Brandgräberfelder für eine massive Einwanderung und Ansiedlung vollständiger Familiengruppen, die lange Zeit an ihrem mitgebrachten Brandritus und ihrer materiellen Kultur festhielten.39 Im Gegensatz zu Wessex und den West Midlands scheinen Kriegergruppen hier kaum eine Rolle gespielt zu haben, trotz der frühen Föderatenansiedlung um Norwich. Für Bernicia, das nördlichste geschlossene Siedlungsgebiet germanischer Einwanderer, gibt es schon seit einiger Zeit die Vorstellung einer handstreichartigen Übernahme des britonischen Königreiches durch eine kleine Gruppe von Angeln, aber ohne darauffolgende breite Bauernansiedlung von Einwanderern, wodurch viele einheimische Züge der lokalen Kultur dort erhalten blieben.40 Allerdings wird diese Vorstellung nach der Entdeckung größerer angelsächsischer Gräberfelder wie Norton und West Heslerton etwas modifiziert werden müssen.41
Ethnogenetische Prozesse Es kann als gesichert gelten, dass die germanischen Einwanderer in das nachrömische Britannien einer Vielzahl von ethnischen Gruppen angehörten.42 Bedas Kirchengeschichte enthält zwei verschiedene Listen von ‚Stäm38
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Martin Biddle, Hampshire and the origins of Wessex. In: Problems in economic and social archaeology, hrsg. von Gale de Giberne Sieveking, Ian H. Longworth, K.E. Wilson (London 1976), S. 323–342; Bruce Eagles, The archaeological evidence for settlement in the fifth to seventh centuries AD. In: The medieval landscape of Wessex, hrsg. von Michael Aston, Carenza Lewis. Oxbow Monograph 46 (Oxford 1994), S. 13–32. Die widersprüchliche Datierung der Einwanderung in Wessex nach den Funden und in der Angelsächsischen Chronik ist bereits Leeds, Archaeology (wie Anm. 3), S. 52–55, aufgefallen; siehe dazu die vergleichende Karte bei Heinrich Härke, Material culture as myth: weapons in Anglo-Saxon graves. In: Burial and society: the chronological and social analysis of archaeological burial data, hrsg. von Claus Kjeld Jensen, Karen Høilund Nielsen (Aarhus u.a. 1997), S. 119–127, hier S. 121 Fig. 1. Böhme, Ende (wie Anm. 35). Leslie Alcock, Quantity or quality: the Anglian graves of Bernicia. In: Angles, Saxons and Jutes, hrsg. von Vera I. Evison (Oxford 1981), S. 168–183. Stephen J. Sherlock, Martin G. Welch, An Anglo-Saxon cemetery at Norton, Cleveland. Council for British Archaeology, Research Report 82 (London 1992); Christine Haughton, Dominic Powlesland, West Heslerton: the Anglian cemetery (Yedingham 1999). Der Begriff ‚Stamm‘ wird hier im Interesse terminologischer Klarheit vermieden, weil er in erster Linie eine Gesellschaftsform bezeichnet und in diesem Sinne auch international benutzt wird (‚tribe‘).
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men‘, die an der Einwanderung beteiligt waren: die allgemein bekannte Liste mit Angeln, Sachsen und Jüten sowie eine zweite Liste mit Friesen, Rugiern, Hunnen, Altsachsen und Brukterern.43 Die ethnische Deutung archäologischer Funde bestätigt Beda im Großen und Ganzen, fügt aber mögliche weitere Gruppen zu den Listen hinzu: Franken im Süden der Insel, mindestens einen Goten im Südwesten sowie Skandinavier aus Südnorwegen im Osten.44 Es gibt eine Reihe archäologischer und onomastischer Indizien, die darauf hin deuten, dass diese Gruppen sich wohl kaum in den ethnischen Blöcken niederließen, von denen Beda berichtet.45 Diese auch aus praktischen Gründen zu erwartende Gemengelage von Einwanderern mit örtlichen und regionalen Schwerpunktbildungen dürfte dann zur Vermischung und Verschmelzung geführt haben, doch für diese Abläufe gibt es keine erhellenden Funde oder Quellen, zumal die Einwanderergruppen ja auch anthropologisch und genetisch nicht voneinander zu unterscheiden sind. Interessant ist aber die Selektion einiger Identitäten (sächsisch, anglisch, jütisch) als ‚Traditionskerne‘ für die Bildung neuer Stammeskönigtümer,46 während andere Identitäten, von denen man das auch hätte erwarten können, es nicht so weit brachten. Zu den letzteren zählt die Gruppe der fränkischen Kriegsführer, die auf der Grundlage charakteristischer Funde in Waffengräbern Südenglands identifiziert worden ist;47 sie ging offenbar ganz in der neuen regionalen Identität der Westsachsen und deren Königreich auf. Die Quellenlage für die einheimischen Britonen ist fast genau entgegengesetzt, aber nicht weniger schwierig: archäologisch sind sie nach dem Ende der römischen Zeit so gut wie unsichtbar, aber biologisch sind sie im Prinzip 43
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Beda, Historia Ecclesiastica (wie Anm. 1), I.15 und V.9; Bedas Erwähnung von Friesen wird bestätigt von Prokop; siehe Wilson, Angelsachsen (wie Anm. 3), S. 307. Zu Franken: Vera I. Evison, The fifth-century invasions south of the Thames (London 1965); zum Goten: Catherine Hills, Henry Hurst, A Goth at Gloucester? Antiquaries Journal 69, 1989, S. 154–158; zur Einwanderung aus Skandinavien: John Hines, The Scandinavian character of Anglian England in the pre-Viking period. British Archaeological Reports 124 (Oxford 1984). Härke, Ethnizität (wie Anm. 13), S. 110. Zu Traditionskernen in der Stammesbildung siehe das grundlegende Werk von Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung (Köln, Graz 1961); zur Bedeutung des ethnischen und genealogischen Ursprungs auf dem Kontinent für die regionale Stammesbildung in England siehe John Hines, Philology, archaeology and the adventus Saxonum vel Anglorum. In: Britain 400–600: language and history, hrsg. von Alfred Bammesberger, Alfred Wollmann (Heidelberg 1990), S. 17–36; Hines, Becoming (wie Anm. 13); Pohl, Names (wie Anm. 13). Evison, Invasions (wie Anm. 44).
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von den Einwanderern unterscheidbar. Die Argumente für das Überleben der einheimischen Bevölkerung in den angelsächsischen Siedlungsgebieten brauchen hier nicht im Einzelnen wiederholt zu werden.48 Zu den wichtigsten Indizien gehören neben Erwähnungen in Schriftquellen, insbesondere den Gesetzen des Königs Ine von Wessex, zum einen die altenglischen Ortsnamen auf walh-, die auf ‚Waliser‘ (Fremde, d.h. Britonen) hinweisen, zum anderen eine kleine Zahl von als keltisch geltenden Artefakttypen aus angelsächsischen Fundzusammenhängen, in erster Linie Ringfibeln mit Nadeldurchbruch und Hängebecken mit emaillierten Attaschen.49 Zusammengenommen belegen diese Indizien ein Überleben von britonischen Handwerkern und Enklaven bis in das 7./8. Jahrhundert, mit einer gestreuten Verbreitung über ganz England (Abb. 4). Britonische Siedlungen oder Gräberfelder, die in die nachrömische Zeit datierbar wären, sind aus den angelsächsischen Landnahmegebieten nicht bekannt.50 Dafür sind die Britonen in der Karte der rezenten Y-Chromosom-DNS erkennbar, wo sie regional unterschiedlich zwischen 27,5% und 75,6% der heutigen männlichen Bevölkerung stellen (Abb. 2). Dieser Anteil spiegelt nur zum Teil das Überleben wider, denn er wurde vermutlich noch durch soziale Prozesse nach der Landnahme abgesenkt (siehe S. 449–450). Stabile Isotopenanalysen in den angelsächsischen Gräberfeldern von West Heslerton und Wasperton haben gezeigt, dass zwischen 60% und 70% der analysierten Individuen vor Ort aufgewachsen sind (siehe S. 437), aber dies würde natürlich auch für die Nachkommen eingewanderter Siedler gelten. Die anthropologischen Daten männlicher Körperbestattungen in frühangelsächsischen Gräberfeldern können im Zusammenhang mit der Waffen48
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Siehe die ausführliche Zusammenstellung bei Härke, Briten (wie Anm. 9), mit den Detailverweisen und der Literatur; zur archäologischen Unsichtbarkeit vgl. Anm. 16. Zu den Gesetzen von Ine siehe Die Gesetze der Angelsachsen, hrsg. von Felix Liebermann (Halle 1903); zu Ortnamen auf walh- Kenneth Cameron, The meaning and significance of Old English walh in English place-names. Journal of the English Place-name Society 12, 1979–1980, S. 1–53; zu den ‚keltischen‘ Fundtypen siehe die Übersicht und die Zusammenstellung der Literatur bei Härke, Briten (wie Anm. 9), S. 96–103. Zum einheimischen Bestattungsritus zuletzt David Petts, Burial, religion and identity in sub-Roman and early medieval Britain: AD 400–800. Unpubl. Phil. Diss. (University of Reading 2001); vgl. auch Elizabeth O’Brien, Post-Roman Britain to Anglo-Saxon England: Burial practices reviewed. British Archaeological Reports 289 (Oxford 1999). Das früher spätrömisch bis nachrömisch datierte Gräberfeld von Queenford Farm an der Oberen Themse ist nach neuen Radiokarbondatierungen ausschließlich spätrömisch; Catherine M. Hills, Tamsin C. O’Connell, New light on the Anglo-Saxon succession: two cemeteries and their dates. Antiquity 83, 2009, S. 1096–1108.
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Abb. 4: Verbreitung der wichtigsten Indizien für britonische Populationen im nachrömischen England ( = walh-Ortsnamen nach Cameron, wie Anm. 49; ■ = Hängebecken und -attaschen nach Härke, Briten, wie Anm. 9, Abb. 4; ▲Ringfibeln mit Nadeldurchbruch, nach Karte ebda., Abb. 6).
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beigabesitte dahingehend interpretiert werden, dass die dahinterstehenden Bestattungsgemeinschaften ethnisch-biologisch gemischt waren und die Männer (und einige der Kinder) der Einwandererfamilien mit Waffen bestattet wurden, die Männer der britonischen Familien dagegen ohne Waffen.51 Wenn die Waffengräber den Einwandereranteil richtig wiedergeben, so lag er im 5./6. Jahrhundert lokal unterschiedlich zwischen 29.5 und 82.4 %, mit einem Durchschnitt von 47%. Für die Frauengräber lässt sich eine ähnliche Analyse nicht durchführen, weil die Beigabensitte dort deutlich vielschichtiger und komplizierter ist.52 Eine eingehende Analyse von Gräberfeldern mit hinreichend detaillierten Daten führt zu zwei Modellen von Gemeinschaften im Süden Englands. Berinsfield (in Wessex, bei Dorchester an der oberen Themse) stellt den klarsten Fall des ersten Typs dar, der wahrscheinlich die Folge einer Einwanderung geschlossener Familiengruppen war.53 Hier liegt der Waffengräberanteil bei 64% der adulten Männer, nicht viel über dem regionalen Schnitt von 53%. Die chronologische Abfolge der Gräber lässt drei parallel belegte Gräberfeldbereiche erkennen, die jeweils das Bestattungsareal einer sozialen Gruppe von etwa 10 bis 15 lebenden Personen darstellten. Gräber von unterschiedlichem Status wie auch Männergräber mit und ohne Waffen finden sich in allen drei Arealen. Im südöstlichen Areal liegen genügend anthropologische Daten vor, um sagen zu können, dass Männer mit und ohne Waffen unterschiedliche epigenetische (nicht-metrische) Merkmale am Skelett aufweisen, wie sie innerhalb von Familien beobachtet werden, ohne dass ihre Heritabilität im einzelnen nachgewiesen werden konnte.54 Diese Situation lässt sich am besten mit der Existenz dreier großer Haushalte erklären, in denen jeweils Sachsen und 51
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Die detaillierte Darstellung der Interpretation, des Argumentationsganges und der zugrunde liegenden Daten findet sich bei Härke, Waffengräber (wie Anm. 26), besonders S. 195–200, eine englische Zusammenfassung bei Härke, Warrior (wie Anm. 26). Siehe Nicholas Stoodley, The Spindle and the Spear: a critical enquiry into the construction and meaning of gender in the early Anglo-Saxon burial rite. British Archaeological Reports 288 (Oxford 1999). Vorlage des Gräberfeldes durch Angela Boyle, Anne Dodd, David Miles, Andrew Mudd, Two Oxfordshire Anglo-Saxon cemeteries: Berinsfield and Didcot. Thames Valley Landscapes Monograph 8 (Oxford 1995), mit der Analyse durch Härke auf S. 67–75. Eine neuere Analyse, welche die Interpretation hier im Großen und Ganzen stützt, wurde von Duncan Sayer, Community, kinship and household: An analysis of patterns in early Anglo-Saxon inhumation cemeteries. Unpubl. Phil. Diss. (University of Reading 2007) durchgeführt. Vgl. allgemein Bernd Herrmann, Gisela Grupe, Susanne Hummel, Hermann Piepenbrink, Holger Schutkowski, Prähistorische Anthropologie. Leitfaden der Feldund Labormethoden (Berlin u.a. 1990).
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Britonen zusammen lebten, aber auf unterschiedlichem sozialen Niveau standen und keine Mischehen eingingen, denn sonst wären die anthropologischen Unterschiede nicht über die Belegungszeit des Gräberfeldes erhalten geblieben. Es gibt hier keine lokale Kontinuität vom spätrömischen Gräberfeld Queenford Farm, in einer Entfernung von nur 1 km, dessen Population andere anthropologische Merkmale aufweist und eine andere Ernährung hatte.55 Das zweite Modell, wahrscheinlich die Folge der örtlichen Landnahme einer Kriegergruppe, ist bei Stretton-on-Fosse (in den West Midlands, im Grenzbereich von Wessex und Mercia) gegeben.56 Hier liegt der Waffengräberanteil unter den adulten Männern bei 82%, deutlich über dem südenglischen Durchschnitt. Unmittelbar neben dem angelsächsischen Gräberfeld fanden sich zwei romano-britische Gräberfelder, und in diesem Fall gibt es sowohl Kontinuität als auch Diskontinuität. So finden sich Spuren derselben textilen Techniken in römerzeitlichen und angelsächsischen Gräbern (eine in England ungewöhnliche Situation), und die epigenetischen Skelettmerkmale laufen ebenfalls durch. Das anthropologische Material des angelsächsischen Gräberfeldes zeigt aber auch das Erscheinen eines neuen Männertypus, der höher und schlanker gewachsen war als die romano-britischen Männer. Die Gesamtsituation lässt sich am ehesten als Ergebnis einer Landnahme durch eine germanische Kriegergruppe deuten, deren Mitglieder sich einheimische Frauen nahmen. Falls dieser Typ der Landnahme in der Regel durch einen auffallend hohen Anteil von Waffengräbern angezeigt wird, dann war er deutlich seltener als der Typ der Landnahme durch Familiengruppen (Modell Berinsfield). Ein drittes Model, das des sogenannten ‚Elitetransfers‘, hat Alcock für die Landnahme in Bernicia angenommen, wo eine vermutlich nur kleine Gruppe von Einwanderern die einheimische Führungsschicht ersetzte.57 55
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Richard A. Chambers, The Late- and Sub-Roman cemetery at Queenford Farm, Dorchester-on-Thames, Oxon. Oxoniensia 52, 1987, S. 35–69; B. T. Fuller, T. I. Molleson, D. A. Harris, L. T. Gilmour, R. E. M. Hedges, Isotopic evidence for breastfeeding and possible adult dietary differences from Late/Sub-Roman Britain. American Journal of Physical Anthropology online, 2005, DOI 10.1002/ ajpa.20244; Hills, O’Connell, New light (wie Anm. 50). Vorlage des Gräberfeldes durch William J. Ford, The Romano-British and AngloSaxon settlement and cemeteries at Stretton-on-Fosse, Warwickshire. Transactions of the Birmingham and Warwickshire Archaeological Society 106, 2002, S. 1–115. Die hier zusammengefasste eigene Analyse der archäologischen und anthropologischen Daten erfolgte auf der Grundlage der seinerzeit noch unpublizierten Grabungsdokumentation und des anthropologischen Gutachtens von Ann Stirland. Alcock, Quantity (wie Anm. 40); ähnlich schon Brian Hope-Taylor, Yeavering: an Anglo-British centre of early Northumbria. Department of Environment Archaeological Reports 7 (London 1977), S. 282; dagegen Rosemary Cramp, Anglo-Saxon settlement. In: Settlement in North Britain 1000 BC – AD 1000, hrsg. von John C.
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Hier im bevölkerungsarmen Nordengland, an der Nordgrenze des angelsächsischen Siedlungsgebietes, wäre demnach der Anteil der Britonen an der Gesamtbevölkerung noch höher als im Süden.58 Der Verbleib der archäologisch unsichtbaren Britonen wird durch diese drei ethnischen Modelle allerdings nur zum Teil erklärt. Angesichts der Größe der einheimischen Bevölkerung ist es schwer vorstellbar, dass alle Britonen in angelsächsischen Siedlungen gelebt haben sollten, denn angesichts der sich aus den Modellen ergebenden Zahlenverhältnisse würde dies eine riesige Einwandererzahl, etwa in derselben Größenordnung wie die der einheimischen Bevölkerung, voraussetzen. Es muss also davon ausgegangen werden, dass eine beträchtliche Zahl von Britonen in eigenen Enklaven lebte, die eben zumeist archäologisch unsichtbar bleiben. Lokale Enklaven werden durch Ortsnamen auf walh- angezeigt (Abb. 4), regionale Enklaven durch Blöcke keltischer Orts- und Flussnamen, so im Heideland von Essex und Suffolk, den Marschen der Fens, den Bergen der Pennines und zwischen den Flüssen Tyne und Tees im Nordosten.59 Ein möglicherweise kontroverses Element des sich ergebenden ethnischen Bildes im 5./6. Jahrhundert (Abb. 5) dürfte der hier vorgeschlagene Mangel an Mischehen zwischen Angelsachsen und Britonen während und kurz nach der Landnahme sein, doch historische, linguistische und genetische Argumente stützen diese Deutung. Die Gesetzessammlung des Königs Ine von Wessex nennt sechs Klassen von ‚Walisern‘ (Britonen), alle auf niedrigerem, zumeist unfreiem Status; zugleich aber geht aus den Gesetzen hervor, dass Sachsen und Britonen eng zusammen lebten, in mehreren Fällen explizit im selben Haushalt.60 Diese Gesetze sind unlängst vom Historiker Woolf als Grundlage seiner Hypothese einer Apartheidgesellschaft benutzt worden.61 Neuere linguistische Studien haben die Existenz eines
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Chapman, Harold C. Mytum. British Archaeological Reports 118 (Oxford 1983), S. 263–297, hier S. 269–271; Rosemary Cramp, Northumbria: the archaeological evidence. In: Power and politics in early medieval Britain and Ireland, hrsg. von Stephen T. Driscoll, Margaret R. Nieke (Edinburgh 1988), S. 69–78, hier S. 74. Vgl. Anm. 40 und Anm. 41. Vgl. Margaret Faull, British survival in Anglo-Saxon Northumbria. In: Studies in Celtic survival, hrsg. von Lloyd Laing. British Archaeological Reports 37 (Oxford 1977), S. 1–55; Nicholas J. Higham, Britons in Northern England in the Early Middle Ages: Through a thick glass darkly. Northern History 38, Heft 1, 2001, S. 5–25. Zu walh-Ortsnamen Cameron, Meaning (wie Anm. 49); zu regionalen Enklaven Kenneth H. Jackson, Language and history in early Britain. Edinburgh University Publications, Language & Literature 4 (Neuaufl. Edinburgh 1956), S. 235–238. Erlassen zwischen 688 und 694 n.Chr.; Paragraphen 23.3, 24.2, 32, 33, 54.2, 74.1; Gesetze der Angelsachsen (wie Anm. 49). Alex Woolf, Apartheid and economics in Anglo-Saxon England. In: Britons in
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Abb. 5: Modell der ethnisch-genetischen Zusammensetzung der Bevölkerung Englands vom 5. bis 9. Jahrhundert (schwarz: angelsächsische Immigranten und ihre genetischen Nachfahren; gepunktet: akkulturierte Britonen mit materieller Kultur angelsächsischen Typs; weiß: nicht akkulturierte Britonen).
keltischen Substratums im Altenglischen aufgezeigt und aus soziolinguistischer Sicht wahrscheinlich gemacht, dass die beiden Sprachguppen eng zusammen gelebt haben müssen, aber Mischehen selten gewesen sein dürften.62 Elemente von Apartheid finden sich auch in anderen ‚Eroberungsgesellschaften‘ des Frühmittelalters.63 Die Annahme vorübergehender Apartheid in England hilft auch bei der Erklärung der Diskrepanz zwischen der rezenten Häufigkeit der introgressiven Y-Chromosom-DNS (54%) und den Einwandereranteilen, die sich aus allen anderen Ansätzen ergeben (zwischen 10% und 20%). Computersimulationen der ethnischen Verhältnisse im Gefolge der angelsächsischen Landnahme haben gezeigt, dass eine Kombination von Statusunterschied und Apartheid auch bei einer proportional geringen Einwanderung vergleichsweise schnell zu einer Überrepräsentation der DNS der dominanten Einwanderer führt. Je nach Variablen wie dem Grad des Fortpflanzungsvorteils (als Folge des Statusunterschiedes, gemessen an den Differenzen im Wergeld) und der Häufigkeit von Mischehen kann der Anteil des introgressiven Y-Chromosom-DNS innerhalb von 15 Generation von 10% auf bis zu 50% steigen.64
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Anglo-Saxon England, hrsg. von Nicholas Higham (Woodbridge 2007), S. 115– 129. Auf der Grundlage der archäologisch-anthropologischen Daten ist diese These bereits von Härke, Briten (wie Anm. 9), S. 113; Härke, Ethnizität (wie Anm. 13), S. 118, vertreten worden. Gary D. German, Étude sociolinguistique de l’Anglais du Pays de Galles. Unpubl. Phil. Diss. (Université du Littoral 1996). So z.B. unter dem westgotischen König Eurich; siehe P. David King, Law and society in the Visigothic kingdom. Cambridge Studies in Medieval Life and Thought 5 (Cambridge 1972). Mark G. Thomas, Michael P. H. Stumpf, Heinrich Härke, Evidence for an apart-
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Die Integration der einheimischen Bevölkerung Das Bild ändert sich im 7./8. Jahrhundert durch eine zunehmende Akkulturation, wodurch früher unsichtbare Britonen archäologisch als ‘Angelsachsen‘ sichtbar werden, sowie eine Assimilierung von einheimischen Populationen bei andauerndem Fortpflanzungsvorteil der von Einwanderern abstammenden Populationen, wodurch der Anteil der introgressiven Y-Chromosom-DNS deutlich vergrößert wird (Abb. 5). Einzelheiten dieser beiden Prozesse sind nicht immer erkennbar, aber die Prozesse werden als solche vom Endergebnis einer spätestens im 9./10. Jahrhundert bestehenden gemeinsamen englischen Kultur und Identität vorausgesetzt. Die Übernahme der angelsächsischen materiellen Kultur durch die einheimischen Britonen heißt noch nicht, dass sie sich nun auch als Angelsachsen fühlten; es fehlen aber die Schriftquellen, die allein diese Frage beantworten könnten. Der Akkulturationsprozess hat in manchen Fällen sicher schon vor dem 7./8. Jahrhundert eingesetzt, wie das Beispiel von Wallingford an der Oberen Themse zeigt. Der altenglische Ortsname (‚die Furt der Leute des Walisers‘) bezeichnet eine einheimische Siedlung in einer Landschaft mit zahlreichen frühen angelsächsischen Gräberfeldern.65 Die einzigen nachrömischen Gräber, die im heutigen Bereich der Kleinstadt gefunden wurden, gehören zu einem kleinen Gräberfeld mit etwa 30 Gräbern, die zwar angelsächsische Funde enthielten, aber keine Waffen.66 Falls dies tatsächlich der Friedhof der
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heid-like social structure in early Anglo-Saxon England. Proceedings of the Royal Society B 273, 2006, S. 2651–2657; Mark G. Thomas, Heinrich Härke, Gary German, Michael P. H. Stumpf, Limited social constraints on interethnic marriage: Unions, differential reproductive success and the spread of ‚continental‘ Y chromosomes in early Anglo-Saxon England. In: Simulation, genetics and human prehistory, hrsg. von Shuichi M. Matsamura, Peter Forster, Colin Renfrew (Cambridge 2008), S. 61–70; zur Diskussion dazu siehe Pattison, Apartheid (wie Anm. 29); Mark G. Thomas, Michael P. H. Stumpf, Heinrich Härke, Integration versus apartheid in post-Roman Britain: a response to Pattison. Proceedings of the Royal Society B 275, 2008, S. 2419–2421. Weitere Arbeit mit einem demischen Modell deutet an, dass für die Zunahme der Einwanderer-DNS das Ausmaß des Statusunterschiedes wahrscheinlich wichtiger ist als das Element der Apartheid (freundliche Mitteilung von Mark Thomas). Zum Ortsnamen siehe Margaret Gelling, The place-names of Berkshire, Part II. English Place-Name Society 50 (Cambridge 1974), S. 535–536; zu den benachbarten frühangelsächsischen Gräberfeldern siehe Tania Dickinson, The Anglo-Saxon burial sites of the Upper Thames region, and their bearing on the history of Wessex, circa AD 400–700. Unpubl. Phil. Diss. (University of Oxford 1976). Edward Thurlow Leeds, An Anglo-Saxon cemetery at Wallingford, Berkshire. Berkshire Archaeological Journal 42, 1938, S. 93–101. Da dies allerdings eine äl-
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einheimischen Siedlung war, dann muss dies eine britonische Enklave gewesen sein, die im 6. Jahrhundert (der Datierung des Gräberfeldes) bereits fast vollständig akkulturiert war, aber noch im 7./8. Jahrhundert (als die Ortsnamen auf walh- und -ingas entstanden) von den Altenglisch sprechenden Nachbarn als ‚walisisch‘, d.h. britonisch, angesehen wurde.67 Am Südrand der Fens in Ostengland, wo Jackson aufgrund onomastischer Indizien eine regionale britonische Enklave vermutet, zeigt die Konzentration emaillierter Fibeln einen etwas anderen Akkulturationsprozess an: hier kombinieren die Einwohner im 6. Jahrhundert eine keltische Verzierungstechnik mit angelsächsischen Fibeltypen, die dann im Zusammenhang eines angelsächsischen Ritus, der bekleideten Körperbestattung, ins Grab gelangten.68 In Siedlungen ist der Akkulturationsprozess noch schwieriger nachzuweisen. In der späteisenzeitlichen und römerzeitlichen Siedlung Coombe Down auf Salisbury Plain, einer dünn besiedelten Kreidehochebene in Wessex, wurden bei Grabungen 1992 auch einige Scherben grasgemagerter Keramik angelsächsischen Typs gefunden, die zugleich der einzige Hinweis auf eine nachrömische Kontinuität dieser ansonsten einheimisch-eisenzeitlich anmutenden Siedlung darstellt.69 Ein vielleicht ähnlicher Fall auf regionaler Ebene liegt in Suffolk vor: die in römischer Zeit dicht besiedelten schweren Lehmböden sind im 5. bis 7. Jahrhundert fast fundleer, haben eine dünne Fundstreuung im 8./9. Jahrhundert und dann wieder eine große Funddichte im 10./11. Jahrhundert. Dies könnte die Folge einer vorübergehenden Aufgabe und späteren Neubesiedlung der schweren Böden sein, die mit nachrömischen Methoden nur schwer zu bearbeiten waren; es ist aber mindestens ebenso wahrscheinlich, dass diese chronologische Abfolge die vorübergehende Unsichtbarkeit der einheimischen Bevölkerung und ihre darauffolgende, langsame Akkulturation widerspiegelt.70
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tere Rettungsgrabung im Stadtbereich war, könnte es sein, dass nicht alle dazugehörigen Gräber gefunden worden sind. Zu Ortsnamen auf walh- siehe Cameron, Meaning (wie Anm. 49); zu Ortnamen auf ‑ingas siehe John MacN. Dodgson, The significance of the distribution of English place-names in ‑ingas, -inga- in south-east England. Medieval Archaeology 10, 1966, S. 1–29. Zur britonischen Enklave in den Fens siehe Jackson, Language (wie Anm. 59), S. 235–238; Thomas Charles Lethbridge, The Anglo-Saxon settlement in Eastern England: a reassessment. In: Dark Age Britain, hrsg. von Donald B. Harden (London 1956), S. 112–122; zu emaillierten Fibeln am Rande der Fens siehe Christopher Scull, Further evidence from East Anglia for enamelling on Early Anglo-Saxon metalwork. Anglo-Saxon Studies in Archaeology and History 4, 1985, S. 117–124. Freundliche Mitteilung von Roy Entwistle und Martin G. Fulford (Reading). Stanley West, West Stow: the Anglo-Saxon village. East Anglian Archaeology, Report 24 (Ipswich 1985), S. 168.
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Diese Akkulturation scheint ein weitestgehend einseitiger Vorgang gewesen zu sein, und die daraus resultierende gemeinsame Kultur war eine angelsächsische, keine hybride Kultur. Dies gilt ebenso für die Sprache: die einheimische Bevölkerung übernahm die altenglische Sprache und gab nach einer Phase der Zweisprachigkeit die eigene auf.71 Es scheint nur wenige Ausnahmen von dieser einseitigen Akkulturation zu geben. So könnte das frühangelsächsische Haus von einem kleinen romano-britischen Bauernhaustyp abstammen, wobei die Steinbauweise durch Holzbau ersetzt wurde. Die Argumente dafür beruhen aber ausschließlich auf statistischen Analysen, und dieser insularen Deutung ist aus kontinentaleuropäischer Sicht widersprochen worden.72 Die Rundhütte eisenzeitlich-römischen Typs in der angelsächsischen Siedlung von Quarrington ist bisher ein Einzelfall ohne Parallelen.73 Eine Ausnahme auf regionaler Ebene stellt Northumbria dar, dessen Kultur deutliche keltische Beiträge zur Kunst und vielleicht auch zur Sozialstruktur und Kampfesweise aufwies.74 Allerdings treten diese Beiträge am deutlichsten nach der Christianisierung im 7. Jahrhundert auf, was nahelegt, dass sie ebenso gut auf Impulse aus dem christlichen Nordwestengland, Schottland und Irland zurückgehen könnten wie auf die einheimische Bevölkerung in Northumbria. Der biologische Prozess der Assimilierung der britonischen Bevölkerung bzw. der Vermischung der beiden Populationen lässt sich mit archäologischem Material kaum belegen, aber anthropologische Daten geben hier einige Hinweise. Im 7./8. Jahrhundert sank die durchschnittliche Körperhöhe männ71
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Jackson, Language (wie Anm. 59), S. 242–246; Hines, Philology (wie Anm. 46); Hines, Becoming (wie Anm. 13); John Hines, Britain after Rome: between multiculturalism and monoculturalism. In: Cultural identity and archaeology: the construction of European communities, hrsg. von Paul Graves-Brown, Sian Jones, Clive Gamble (London, New York 1996), S. 256–270; Thomas Charles-Edwards, Language and society among the insular Celts AD 400–1000. In: The Celtic world, hrsg. von Miranda J. Green (London, New York 1995), S. 703–736. Zusammenfassung der Debatte mit den Literaturverweisen bei Härke, Briten (wie Anm. 9), S. 105. Gary Taylor, An Early to Middle Saxon settlement at Quarrington, Lincolnshire. Antiquaries Journal 83, 2003, S. 231–280. Allgemein zum keltischen Beitrag zur Kultur in Northumbria Nora K. Chadwick, The Celtic background of Early Anglo-Saxon England. In: Celt and Saxon, hrsg. von Nora K. Chadwick (Cambridge 1963), S. 323–352; Leslie Alcock, Roman Britons and Pagan Saxons: an archaeological appraisal. Welsh History Review 3, 1966– 67, S. 228–249; Hope-Taylor, Yeavering (wie Anm. 57); Cramp, Northumbria (wie Anm. 57); zur Sozialstruktur Alcock, Quantity (wie Anm. 40); zur Kavallerie in Northumbria Nicholas Hooper, The Aberlemno stone and cavalry in Anglo-Saxon England. Northern History 29, 1993, S. 188–196.
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Heinrich Härke
licher Individuen in angelsächsischen Gräberfeldern um 1,5 cm, in Wessex gar um 2,4 cm, gegenüber dem Durchschnitt des 5./6. Jahrhunderts.75 Auf Umwelteinflüsse lässt sich diese Entwicklung kaum zurückführen, und Hinweise auf eine Veränderung der Ernährungsweise liegen für diesen Zeitraum nicht vor. Die wahrscheinlichste Deutung bestünde damit in der Akkulturation britonischer Enklaven, die dadurch ihre niedrigere Körperhöhe in den angelsächsischen Durchschnitt einbrachten, in der Assimilierung britonischer Populationen und in einer Zunahme von Mischehen zwischen Angelsachsen und Britonen. Akkulturation und Assimilierung geschahen vor dem Hintergrund von Veränderungen im Grabbrauch, die insgesamt auf eine Konzentration des Reichtums und eine Verschärfung sozialer Unterschiede hinweisen. Im 7. Jahrhundert, parallel zum Auslaufen der Brandgräbersitte, ging auch die Beigabensitte in den Körpergräbern zurück und lief schließlich im frühen 8. Jahrhundert aus. Während aber der Anteil beigabenloser Gräber zunahm, blieb die durchschnittliche Ausstattung beigabenführender Bestattungen, also auch diejenige der schrumpfenden Zahl von Waffengräbern, unverändert.76 Gleichzeitig traten vom Ende des 6. Jahrhunderts an, überwiegend aber im 7. Jahrhundert, sehr reiche Hügelgräber auf, welche die reichsten Gräber des früheren 6. Jahrhunderts deutlich in den Schatten stellten.77 Vor 75
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Härke, Waffengräber (wie Anm. 26), S. 196–199. Die unpublizierte, aber in der Literatur gelegentlich zitierte Untersuchung von romano-britischem und angelsächsischem Skelettmaterial aus Wessex durch Caroline M. Stuckert, Roman to Saxon: population biology and archaeology. Unpubliziertes Vortragsmanuskript, Society for American Archaeology Forty-Fifth Annual Meeting (Philadelphia 1980) besonders S. 4–5, kam zu einem entgegengesetzten Ergebnis; siehe die Verwendung ihres unpublizierten Manuskripts für wanderungsfeindliche Argumente bei Arnold, Britain (wie Anm. 6), S. 129–130, und das sekundäre Zitat nach Arnold bei Hodges, Achievement (wie Anm. 6), S. 32. Stuckert arbeitete aber mit einer sehr viel kleineren Stichprobe, deren Gräber zudem nicht einzeln nach den Grabfunden, sondern nur ganz grob nach der Belegungszeit des jeweiligen Gräberfeldes datiert wurden, was eine zuverlässige Beurteilung der chronologischen Entwicklung natürlich unmöglich macht. Heinrich Härke, Changing symbols in a changing society: the Anglo-Saxon weapon burial rite in the seventh century. In: The age of Sutton Hoo, hrsg. von Martin Carver (Woodbridge 1992), S. 149–165. Christopher J. Arnold, Stress as a stimulus to socio-economic change: AngloSaxon England in the seventh century. In: Ranking, resource and exchange. Aspects of the archaeology of early European society, hrsg. von Colin Renfrew, Stephen Shennan (Cambridge 1982), S. 124–131; Christopher J. Arnold, An archaeology of the early Anglo-Saxon kingdoms (London, New York 1988); Deborah J. Shephard, The social identity of the individual in isolated barrows and barrow cemeteries in Anglo-Saxon England. In: Space, hierarchy and society, hrsg. von Barry
Die Entstehung der Angelsachsen
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diesem Hintergrund ist es signifikant, dass gerade jetzt die Waffenbeigabe nicht mehr mit größerer Körperhöhe korreliert war.78 Es sieht also so aus, als ob nun die Waffenbeigabe eine neue, rein soziale Funktion bekam: der rituelle Ausdruck des Sozialstatus einer offenbar zunehmend gemischten Führungsschicht wurde jetzt, etwa anderthalb bis zwei Jahrhunderte nach der Einwanderung, wichtiger als die rituelle Darstellung der ethnischen Herkunft. Die Hügelgräbersitte und die zunehmende Wiederverwendung älterer Denkmäler, meist vorgeschichtlicher Grabhügel, stellen weitere Indizien dar. Unabhängig von der Deutung der beiden Elemente ist es offensichtlich, dass sie einen starken autochthonen Bezug aufweisen, sei es durch das Nachahmen einer vorgeschichtlichen Grabform, sei es durch das gezielte Einbringen sekundärer angelsächsischer Bestattungen in vorgeschichtliche Grabhügel.79 In England finden sich beide Formen nicht selten nebeneinander am selben Fundort.80 Auf Lowbury Hill, wo das ältere Denkmal eine römische Tempelanlage war, setzt sich der autochthone Bezug bis in die Funde des angelsächsischen Grabhügels fort, der im 7. Jahrhundert mit Material aus der römischen Einfriedung direkt neben dieser angelegt worden war.81 Zwar wurden auch schon im 5./6. Jahrhundert
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81
C. Burnham, John Kingsbury. British Archaeological Reports S 59 (Oxford 1979), S. 47–79; Stephen Pollington, Anglo-Saxon burial mounds: Princely burials in the 6th and 7th centuries (Swaffham 2008). Härke, Waffengräber (wie Anm. 26), S. 197–198. Shephard, Identity (wie Anm. 77) hat angelsächsische Grabhügel als Anspruch auf Landbesitz durch die neue angelsächsische Elite gedeutet; Robert van de Noort, The context of Early Medieval barrows in western Europe. Antiquity 67, 1993, S. 66–73 sieht sie als heidnische Alternative zur Kirchengrablege. – Zur Wiederbenutzung vorgeschichtlicher Denkmäler im angelsächsischen England siehe Eva Thäte, Alte Denkmäler und frühgeschichtliche Bestattungen: Ein sächsisch-angelsächsischer Totenbrauch und seine Kontinuität. Archäologische Informationen 19, 1996, S. 105–116; Howard Williams, Ancient landscapes and the dead: the reuse of prehistoric and Roman monuments as early Anglo-Saxon burial sites. Medieval Archaeology 41, 1997, S. 1–32; Howard Williams, Monuments and the past in early Anglo-Saxon England. World Archaeology 30, Heft 1, 1998, S. 90–108; eine Übersicht über die europäische Diskussion zur frühmittelalterlichen Sitte der Wiederbenutzung älterer Denkmäler findet sich bei Eva S. Thäte, Monuments and Minds. Monument re-use in Scandinavia in the second half of the first millennium AD. Acta Archaeologica Lundensia, series in 4°, No 27 (Lund 2007), S. 29–49, 75–97. So bei Ford and Swallowcliffe Down, beide in Wessex, beide mit auffallend reichen Gräbern; John Musty, The excavation of two barrows, one of Saxon date, at Ford, Laverstock, near Salisbury, Wiltshire. Antiquaries Journal 49, 1969, S. 98– 117; George Speake, A Saxon bed burial on Swallowcliffe Down. English Heritage, Archaeological Report 10 (London 1989). Das Hängebecken und die Lanzenspitze, letzteres ein Unikat, hatten ‚keltische‘
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Heinrich Härke
ältere Denkmäler bei der Anlage angelsächsischer Friedhöfe wiederbenutzt, aber mit der Anlage von Grabhügeln stieg im 7. Jahrhundert der Anteil dieses Lagetyps um die Hälfte.82 Im Zusammenhang mit der Akkulturation und Assimilierung einer zunehmenden Zahl von Britonen im 7./8. Jahrhundert macht die zunehmende Betonung der einheimischen Vergangenheit durchaus Sinn. Zum einen könnte sie ein britonischer Ausdruck einheimischer Wurzeln sein, zum anderen könnte sie aber auch eine Verschiebung der Herrschaftslegitimation der angelsächsischen Führungsschicht von Eroberung (ausgedrückt in der Waffenbeigabesitte) auf Status und einheimische Bezüge andeuten. Die Christianisierung im 7. Jahrhundert machte solche neuen Bezüge auch notwendig, und die Wiederaufnahme der einheimischen Grabhügelsitte und die ‚einheimische‘ Platzierung solcher Grabhügel genau zu dieser Zeit stellen eine interessante Parallele zum Umschreiben der angelsächsischen Herrschergenealogien nach der Christianisierung dar.83 Allerdings scheinen andere Aspekte der Schriftquellen dieser Deutung der Wiederbenutzung früherer Denkmäler zu widersprechen. Die klaren ethnischen Unterscheidungen in den Gesetzen von Ine sowie die ethnische Rhetorik in Bedas Kirchengeschichte und in der Angelsächsischen Chronik zeigen, dass es zumindest auf der ideologischen Ebene keine größere Durchlässigkeit der ethnischen Grenzen ab dem 7./8. Jahrhundert gab. Vielleicht aber wurden in den Schriftquellen die ethnischen Grenzen gerade deswegen neu betont, weil sie in der Realität bereits zu verschwimmen drohten. Namen von Königen des 7. Jahrhunderts legen jedenfalls den Gedanken an germanisch-britonische Mischehen zumindest auf höchstem Niveau nahe. So ist der Name des westsächsischen Königs Cædwalla sicher keltisch, der des Königs Penda von Mercia möglicherweise.84 Aber solche Hei-
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Emailleverzierung; zu den Funden allgemein siehe Donald Atkinson, The RomanoBritish site on Lowbury Hill in Berkshire (Reading 1916), S. 19–23; die Neuvorlage der Lanzenspitze sowie generell zur Deutung von Lage und Funden des Grabhügels siehe Heinrich Härke, Lowbury Hill, Oxon: A context for the Saxon barrow. Archaeological Journal 151, 1994, S. 202–206. Unter den seit 1945 ausgegrabenen und somit hinreichend gut dokumentierten angelsächsischen Gräberfeldern und Grabhügeln steigt der Anteil von 47% im 5./6. Jahrhundert auf 71% im 7./8. Jahrhundert; Williams, Landscapes (wie Anm. 79); Heinrich Härke, Howard Williams, Angelsächsische Bestattungsplätze und ältere Denkmäler: Bemerkungen zur zeitlichen Entwicklung und Deutung des Phänomens. Archäologische Informationen 20, 1997, S. 25–27. Zum Umschreiben der Genealogien siehe Charles R. Davis, Cultural assimilation in the Anglo-Saxon royal genealogies. Anglo-Saxon England 21, 1992, S. 23–36. Zu Cædwalla siehe Jackson, Language (wie Anm. 59), S. 244; zu Penda siehe Chadwick, Background (wie Anm. 74), S. 336. Die alte Vorstellung, dass Cerdic,
Die Entstehung der Angelsachsen
457
raten, in denen britonische Frauen ihren Kindern dann offenbar keltische Namen gaben, waren sicher eher eine Frage der Staatsraison und die Folge von politischen Verträgen zwischen benachbarten Herrscherhäusern, und sie können kaum als Beleg für zunehmende ethnische Vermischung in den unteren sozialen Schichten dienen.
Schlussfolgerungen Die insularen Angelsachsen waren unzweifelhaft das Ergebnis eines ethnogenetischen Prozesses, in dem die Integration der einheimischen britonischen Mehrheitsbevölkerung in die eingewanderten ethnischen Gruppen vom europäischen Festland eine ganz wesentliche Rolle spielte. Die Einwanderung selber muss man sich als eine über einen langen Zeitraum erstreckende Serie von Landnahmen vorstellen, in der im Verlaufe eines Jahrhunderts zwischen 100.000 und 200.000 Einwanderer auf die Insel kamen, die aber wahrscheinlich nicht mehr als höchstens 20% der Gesamtbevölkerung stellten. Einwandererzahlen, geographische Zersplitterung und Zeitrahmen bedeuten, dass es eine Reihe unterschiedlicher Siedlungs- und Ethnogeneseabläufe gegeben haben dürfte. Innerhalb dieser Abläufe lassen sich zwei oder drei Phasen unterscheiden. In der Einwanderungsphase (5./6. Jahrhundert) kam es zur Bildung ethnisch gemischter Gemeinschaften, allerdings zunächst mit nur begrenzter genetischer Vermischung von eingewanderten und einheimischen Populationen. Erst in einer zweiten Phase (überwiegend im 7./8. Jahrhundert) kam es dann zunehmend zur Integration der Einheimischen in die Gesellschaft der sozial und kulturell dominanten Einwanderer durch Akkulturation und Assimilierung (Abb. 5). Noch vor Beginn der breiteren Einwanderung könnte es eine Phase gegeben habe, in der kleine Gruppen von Föderaten, z.T. aus den späteren Auswanderungsgebieten, im spät- und subrömischen Britannien angesiedelt wurden und dort ihre eigenen Identitäten weiterführten oder entwickelten, aber die Quellenlage dazu ist deutlich problematischer als die für die spätere Ethnogenese der Angelsachsen. Es kann kaum ein Zufall sein, dass die Schaffung einer gemeinsamen englischen Identität aus der Verschmelzung regionaler angelsächsischer und separater britonischer Identitäten zusammenfällt mit den ersten Anzeichen für Staatsbildungen in England.85 Die im gleichen Zeitrahmen ablaufende
85
der Gründer des westsächsischen Königreiches, einen keltischen Namen trug, geht auf Jackson, Language (wie Anm. 59), S. 613–614 zurück, gilt aber nicht mehr als sicher (freundliche Mitteilung von David Dumville, Aberdeen). Zu früher Staatenbildung im angelsächsischen England siehe Arnold, Archaeology
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Christianisierung (ab dem Ende des 6. Jahrhunderts) schaffte eine einheitliche ideologische Grundlage für beide Prozesse, die dann im 9. Jahrhundert abgeschlossen sein dürften. Britonen sind nämlich in der Gesetzessammlung von König Alfred nicht mehr erwähnt, obwohl sie in Ines Gesetzen, die Alfreds Sammlung angefügt waren, mehrfach auftreten.86 Die besten Analogien für Schlüsselaspekte des oben vorgestellten Modells finden sich im normannischen England, wo die einheimische Bevölkerung einen niedrigeren sozialen und auch geringeren rechtlichen Status besaß als die normannische Minderheit und wo Mischehen zunächst selten waren,87 und besonders im Bereich der deutschen Ostsiedlung des Mittelalters, wo aus der Vermischung deutscher Siedler mit einheimischen Populationen die ‚neuen Stämme‘ der Schlesier, Pommern und Preußen entstanden, die sich als Deutsche verstanden, aber genetisch natürlich gemischt waren.88 In Ostpreußen hatten die vom Deutschen Orden ins Land gebrachten deutschen und holländischen Siedler anfangs einen besseren rechtlichen Status, der sich an ihrer größeren Produktivität orientierte, bis dann über einen Prozess der rechtlichen und wirtschaftlichen Angleichung der einheimischen Bevölkerung ein kultureller und linguistischer Prozess in Gang kam, an dessen Ende aus den dortigen Balten und Slawen ‚ethnische‘ Deutsche geworden waren.89 Solche historischen Parallelen sollten bei zukünftigen Forschungen zu diesem Beispiel und vielleicht auch anderen Vorgängen frühmittelalterlicher Ethnogenese stärker berücksichtigt werden, ohne dabei aus den Augen zu verlieren, dass jeder Fall seine Eigenheiten aufweist und aus seinem eigenen Kontext und auf der Grundlage seiner eigenen Quellen und Daten verstanden werden muss.
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(wie Anm. 77); Hodges, Achievement (wie Anm. 6); Steven Bassett (Hrsg.), The origins of Anglo-Saxon kingdoms (Leicester 1989); Barbara Yorke, Kings and kingdoms of early Anglo-Saxon England (London 1990), besonders Kap. 8; Christopher Scull, Archaeology, early Anglo-Saxon society and the origins of AngloSaxon kingdoms. Anglo-Saxon Studies in Archaeology and History 6, 1993, S. 65–82; Nicholas J. Higham, The convert kings: power and religious affiliation in early Anglo-Saxon England (Manchester 1997). Gesetze der Angelsachsen (wie Anm. 49). George Garnett, Franci et Angli: the legal distinctions between peoples after the conquest. Anglo-Norman Studies 8, 1985, S. 109–137. Allgemein dazu Peter Erlen, Europäischer Landesausbau und mittelalterliche deutsche Ostsiedlung. Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 9 (Marburg 1992). Hauptseminar über ‚Sozialgeschichtliche Aspekte der Eroberung Preußens durch den Deutschen Orden‘, Prof. Reinhard Wenskus, Universität Göttingen, Sommersemester 1973. Ich bin Prof. Wenskus sehr dankbar für die Gedankenanstöße, die ich in seinem Hauptseminar erhalten habe; meines Wissens sind die dort behandelten ethnogenetischen Aspekte von ihm nie veröffentlicht worden.
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 459–513 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
Das Altenglische – Genese und Struktur Karl Reichl
1 Einleitung Die englische Sprache wird heute von über 350 Millionen Menschen als Muttersprache gesprochen.* Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Englisch eine Weltsprache ist, nach der Einschätzung vieler sogar die Weltsprache. Albert C. Baugh nennt in seiner englischen Sprachgeschichte drei strukturelle Gründe, die das Englische für seine Rolle als Weltsprache besonders geeignet machen: den kosmopolitischen Wortschatz, die einfache Morphologie und den Verlust des grammatischen Geschlechts.1 Ähnlich hatte schon Otto Jespersen in seinem kleinen Buch über Genese und Struktur der englischen Sprache argumentiert. Er ist voll des Lobes für die Qualitäten der englischen Sprachstruktur, die er folgendermaßen zusammenfasst: The English language is a methodical, energetic, business-like and sober language, that does not care much for finery and elegance, but does care for logical consistency and is opposed to any attempt to narrow-in life by police regulations and strict rules either of grammar or of lexicon.2 * Für zahlreiche Verbesserungsvorschläge danke ich Anna Helene Feulner (Berlin). Forschungsliteratur, die nach dem Abgabetermin 2009 erschienen ist, konnte nicht mehr berücksichtigt werden. 1 Baughs Buch ist in der ersten Auflage 1935 erschienen; seine Charakterisierung des Englischen findet sich auch in späteren Auflagen; siehe Albert C. Baugh, Thomas Cable, A History of the English Language, 5. Auflage (London 2002), S. 8– 12. Er verschweigt allerdings nicht, dass das Englische auch Schwierigkeiten bereitet, insbesondere durch den chaotischen Charakter der Orthographie sowie das häufige Fehlen einer Korrelation zwischen Schreibung und Aussprache (S. 12–13). Zu einer neueren Übersicht über die englische Sprachgeschichte siehe A Companion to the History of the English Language, hrsg. von Haruko Momma, Michael Matto (Oxford 2008). 2 Otto Jespersen, Growth and Structure of the English Language, 10. Auflage (Oxford 1982), S. 16. Das Buch ist in der ersten Auflage 1905 erschienen.
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Sprachgeschichten mit solch eindeutigen Qualitätsurteilen können sich meist einer teleologischen Betrachtungsweise nicht entziehen. Die Merkmale, die zum „Triumph der englischen Sprache“ (um den Titel eines anderen Buches zu zitieren) geführt haben,3 werden als schon im Altenglischen angelegt gesehen und als Keimzellen einer Entwicklung interpretiert, die zum Teil durch äußere Einflüsse wie die Wirkung des Französischen in der mittelenglischen Sprachperiode, zum Teil aber auch aufgrund einer dem Sprachsystem innewohnenden Dynamik schließlich zur Sprachform der Weltsprache Englisch geführt hat. Man wird dem Altenglischen allerdings kaum gerecht, wenn man es allein vom Standpunkt des Neuenglischen aus betrachtet, als eine gewissermaßen noch verbesserungswürdige Vorform des heutigen Englisch. Die besondere Struktur des Altenglischen wird so immer an der späteren Entwicklung gemessen, was zwar im Rahmen einer Gesamtschau der Sprachentwicklung verständlich ist, für die Analyse einer bestimmten historischen Stufe aber störend wirkt. Die Tatsache, dass es im Altenglischen ein grammatisches Geschlecht gibt, wird so beispielsweise als ein Fossil gesehen, dessen sich die Sprache dann im Mittelenglischen entledigt hat; umgekehrt erscheint der Einfluss des Lateinischen auf das altenglische Lexikon als ein erster Schritt in Richtung auf einen kosmopolitischen Wortschatz, auch dies eine anachronistische Sichtweise, denn gerade das, was die Stärken der Aufnahme neuer Begriffe in die Sprache der Angelsachsen ausmachte, nämlich die Lehnbildung (siehe unten), geht im Mittelenglischen wieder verloren. Es soll so im Folgenden das Altenglische nicht mit Blick auf das Neuenglische, sondern als eigenständige Sprache betrachtet werden. Diese Sprache wird heute ‚Altenglisch‘ beziehungsweise im englischen Sprachraum Old English genannt; in der älteren Forschung war auch die Bezeichnung ‚Angelsächsisch‘ (Anglo-Saxon) gebräuchlich. Inwieweit das Altenglische tatsächlich als eine Sprache angesehen werden kann, hängt von den Definitionsmerkmalen des Begriffs ‚Sprache‘ und dem Maße, wie diese auf das Altenglische zutreffen, ab. Für eine Unterscheidung zwischen Sprache und Varietät – beziehungsweise spezifischer: zwischen Sprache und Dialekt – bietet sich ein soziolinguistisch orientierter Sprachbegriff an. William Stewart hatte 1968 vorgeschlagen, die Begriffe ‚Standardsprache‘, ‚Volkssprache‘, ‚Dialekt‘, ‚Kreolsprache‘, ‚Pidgin‘, ‚Klassische Sprache‘ und ‚Kunstsprache‘ mit Hilfe der Merkmale ‚Standardisierung‘, ‚Autonomie‘, ‚Historizität‘ und ‚Vitalität‘ folgendermaßen zu differenzieren:4 3
4
Richard Foster Jones, The Triumph of the English Language. A Survey of Opinions Concerning the Vernacular from the Introduction of Printing to the Restoration (Stanford 1953). William A. Stewart, A Sociolinguistic Typology for Describing National Multilin-
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Standardization Autonomy
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Diese Klassifikation hat sich insgesamt als hilfreich erwiesen, auch wenn sie im Einzelnen korrekturbedürftig ist.5 Im gegebenen Kontext lässt sich festhalten, dass Standard, ‚Volkssprache‘ und Dialekt (Varietäten) gemeinsam die Merkmale ‚Vitalität‘ und ‚Historizität‘ haben; auf eine Volkssprache trifft weiterhin das Merkmal ‚Autonomie‘ zu und auf eine Standardsprache auch noch das Merkmal ‚Standardisierung‘. Für das Altenglische gelten alle drei von Stewart vorgeschlagenen Merkmale einer Volkssprache. In der spätaltenglischen Periode kommt noch das Merkmal der Standardisierung hinzu. Durch die Standardisierung des Westsächsischen wird eine Norm, in diesem Fall eine schriftsprachliche Norm, gesetzt, die auch über das westsächsische Dialektgebiet hinaus akzeptiert wird. Mit Autonomie ist gemeint, dass eine Sprache als von anderen Sprachen unabhängig und für sich stehend gesehen wird. Es geht hier vor allem um das Verhältnis zu anderen in Britannien gesprochen Sprachen. Nach einem von Heinz Kloss in die Sprachwissenschaft eingeführten Begriffspaar lässt sich dieses Verhältnis mit den Begriffen Abstand und Ausbau näher beschreiben.6 Zur Historizität schreibt der Soziolinguist Joshua Fishman:
5
6
gualism, in: Readings in the Sociology of Language, hrsg. von Joshua A. Fishman (Den Haag 1968), S. 531–545. Der Begriff vernacular bezeichnet eine lebende gesprochene Sprache; der Begriff des Dialekts meint die Varietäten einer solchen Sprache, insbesondere die geographischen Varietäten. Heinz Kloss, Die Entwicklung neuer germanischer Kultursprachen seit 1800. Sprache der Gegenwart 37. 2. erweiterte Auflage (Düsseldorf 1978), S. 23–37; vgl. auch Heinz Kloss, ‚Abstand languages‘ and ‚Ausbau languages‘. Anthropological Linguistics 9, 1967, S. 29–41.
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It is a characteristic of the newly rich to supply their own ancestors. In a similar vein those speech communities, the autonomy of whose standard variety is based most completely on ausbau activity, are also most likely to be concerned with its historicity, that is, with its “respectable” ancestry in times long past. As a result, many speech communities create and cultivate myths and genealogies concerning the origin and development of their standard varieties … .7
Was endlich die Vitalität angeht, so war das Altenglische als lebende Sprache nicht nur eine Sprache, die der mündlichen Kommunikation diente, sondern auch eine Sprache, die nach ihrer Verschriftlichung mit Hilfe eines kontinuierlichen Bereicherungsprozesses allen Zwecken der schriftlichen Kommunikation Genüge tat. Beschäftigt man sich mit der Entstehung und Struktur des Altenglischen, so kann man in Bezug auf die Kriterien Autonomie, Historizität, Vitalität und Standardisierung vier Problemfelder benennen: (1) Was die Autonomie betrifft, so geht es hier um das Verhältnis des Altenglischen und seiner Varietäten zu den kontinentalgermanischen Sprachen auf der einen Seite und zu den in Britannien gesprochenen Sprachen auf der anderen. (2) Bezüglich der Historizität kann man sowohl nach den Abstammungslegenden als auch nach den Bezügen zum germanischen Erbe (oder zumindest zu dem, was man als germanisches Erbe erschließen kann) im Eigenverständnis der Angelsachsen, wie es sich in ihren Dichtungstraditionen und ihrem Schrifttum darstellt, fragen. (3) Im Zusammenhang mit der Vitalität des Altenglischen stellt sich die Frage nach dem Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit sowie die Frage nach der Rolle der Christianisierung für die Gestaltung der sprachlichen Mittel. (4) Schließlich bleibt noch die Frage nach der Standardisierung und dem Verhältnis zwischen regionalen Varietäten und Standard, auch die Frage nach einer überregionalen Dichtersprache, wie sie gelegentlich für die angelsächsische Zeit postuliert wurde. Diese Fragen und Probleme stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern sind mehrfach miteinander verknüpft. Ihrer Interdependenz und ihren Verzweigungen kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden. Auch kann es sich hier nicht um einen neuen Entwurf für eine sprachgeschichtliche Darstellung des Altenglischen von ca. 400 bis ca. 1100 handeln. Es können hier die genannten Problemfelder lediglich exemplarisch diskutiert werden, als ein Versuch, die Physiognomie des Altenglischen wenigstens in Umrissen deutlich zu machen.
7
Joshua A. Fishman, Sociolinguistics. A Brief Introduction (Rowley/Massachusetts 1970), S. 26.
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2 Autonomie 2.1 Altenglisch und die kontinentalgermanischen Sprachen Obwohl die Anfänge der englischen Sprache in das helle Licht der Geschichte getaucht sind, so will es zumindest scheinen, ist fast jedes Detail, das Beda im 15. Kapitel des ersten Buches seiner Historia Ecclesiastica Gentis Anglorum bringt, fraglich: Zeit, Anlass, Verlauf und Beteiligte der germanischen Eroberung und Besiedlung Britanniens sind in der Forschung vielfach diskutiert und nicht einheitlich bewertet worden.8 Das Jahr 449 markiert sicherlich nicht den Beginn einer germanischen Präsenz in Britannien. Noch vor dem Abzug der Römer musste die Ostküste Britanniens gegen germanische Raubzüge (im 3. und 4. Jahrhundert) geschützt werden, wie die römischen Verteidigungsanlagen am litus saxonicum bezeugen. Auch waren Germanen bereits unter den Truppen der römischen Besatzer. Dennoch wird man mit einer intensiveren germanischen Besiedlung Britanniens erst seit dem 5. Jh. rechnen können.9 Wichtiger als das Wann und Wie ist für die Sprachgeschichte das Wer. Beda spricht von drei germanischen Völkern, den Sachsen, Angeln und Jüten, genauer den Saxones, Angli und Iutae. Colgrave und Mynors bringen die communis opinio zum Ausdruck, wenn sie in ihrer Beda-Ausgabe schreiben: „This much-discussed distinction [Sachsen, Angeln und Jüten] stands up fairly well to modern archaeological evidence, even when we include parties of Frisians, Franks, and others among the earliest settlers.“10 Für die Entwicklung des Altengli8
9
10
Bede’s Ecclesiastical History of the English People, hrsg. von Bertram Colgrave, R. A. B. Mynors (Oxford 1969), S. 48/49–52/53. Bedas Text ist neu kritisch herausgegeben in Bède le Vénérable, Histoire ecclésiastique du peuple anglais, hrsg. von Michael Lapidge, kommentiert von André Crépin und übersetzt von Pierre Monat, Philippe Robin. 3 Bände. Sources chrétiennes 489–491 (Paris 2005). Siehe auch Henry Royston Loyn, Artikel „Beda Venerabilis“. In: RGA 2 (1976), S. 129– 132. Zu Bedas Darstellung und seinen Quellen siehe auch Patrick Sims-Williams, The Settlement of England in Bede and the Chronicles. Anglo-Saxon England 12, 1983, S. 1–41. Siehe dazu Charles Thomas, Britain and Ireland in Early Christian Times AD 400– 800 (London 1971), S. 13–30. Zur germanischen Präsenz vor der Mitte des 5. Jahrhunderts siehe auch J. N. L. Myres, Anglo-Saxon Pottery and the Settlement of England (Oxford 1969), S. 62–83; zu sogenannten Grubenhäusern in Essex aus der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts siehe Paul J. Drury, Nicholas P. Wickenden, An Early Saxon Settlement within the Romano-British Small Town at Heybridge, Essex. Medieval Archaeology 26, 1982, S. 1–40. Colgrave, Mynors, Ecclesiastical History (wie Anm. 8), S. 22. Aus den Darstellungen der angelsächsischen Geschichte seien hier die einschlägigen Bände in der ‚Oxford History of England‘ von J. N. L. Myres, The English Settlements, Neuaufl.
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schen bleiben hier aber wichtige Fragen unbeantwortet: Welche germanischen Dialekte brachten die Eroberer mit? Wie ordnen sich diese Dialekte in die germanische Sprachwelt ein? Was ist die Rolle dieser Dialekte bei der Ausbildung der englischen Dialekte? Und wie steht es mit von Beda nicht genannten Gruppen, insbesondere mit den Friesen und ihrer Sprache? Linguistische Darstellungen des Altenglischen sind merkwürdig einsilbig in Bezug auf diese Fragen. In der als maßgeblich geltenden mehrbändigen Cambridge History of the English Language heißt es im ersten Band zum Altenglischen im einschlägigen Kapitel über die Stellung des Englischen innerhalb der germanischen und indogermanischen Sprachen lakonisch: „English is often grouped together with Frisian as Ingvaeonic on the assumption that both represent a special linguistic group within West Germanic.“11 Auch in neueren Handbüchern wird diesen Fragen wenig Raum gewidmet. Zwar wird in der Phonologie die ‚anglo-friesische Aufhellung‘ behandelt, doch ohne Diskussion der Gliederungs- und Ausgliederungsproblematik.12 Die Diskussion um die Vorgeschichte des Altenglischen bzw. um die Stellung des Altenglischen in den germanischen Sprachen findet fast ausschließ-
11
12
(Oxford 1989) und von F. M. Stenton, Anglo-Saxon England. 3. Auflage (Oxford 1971) genannt. Vgl. auch Peter Hunter Blair, An Introduction to Anglo-Saxon England (Cambridge 1956); James Campbell, Eric John, Patrick Wormald, The Anglo-Saxons (Oxford 1982) und The Blackwell Encyclopaedia of Anglo-Saxon England, hrsg. von Michael Lapidge, John Blair, Simon Keynes und Donald Scragg (Oxford, 1999). Vgl. auch Henry Royston Loyn, David M. Wilson, Artikel „England“. In: RGA 7 (1989), S. 289–302. Alfred Bammesberger, The Place of English in Germanic and Indo-European, In: The Cambridge History of the English Language. I. The Beginnings to 1066, hrsg. von Richard M. Hogg (Cambridge 1992), S. 26–66, hier S. 30. Unter der anglo-friesischen Aufhellung wird die Entwicklung von urgermanisch kurzem a zu æ oder e und von westgermanisch langem a zu æˉ oder ē im Altenglischen und Altfriesischen in Wörtern wie altenglisch dæg, altfriesisch dei ‘Tag’ oder altenglisch dæˉ d (westsächsisch), dēd (anglisch und kentisch), altfriesisch dēd ‘Tat’ bezeichnet. Zur traditionellen Darstellung der anglo-friesischen Aufhellung siehe Karl Luick, Historische Grammatik der englischen Sprache, hrsg. von Friedrich Wild, Herbert Koziol, Erster Band, I. Abteilung (Stuttgart 1914–1921), S. 127– 130. Charles Jones schreibt in A History of English Phonology (London 1989), S. 85: „This independent [a] → [æ] fronting was a characteristic not only of the precursor of Old English, but also of Old Frisian and is often because of that given the rather poetic title of Anglo-Frisian Brightening.“ Zu einer Darstellung im Rahmen der Generativen Phonologie siehe Roger Lass, John M. Anderson, Old English Phonology. Cambridge Studies in Linguistics 14 (Cambridge, 1975), S. 62–69. In seiner sprachgeschichtlichen Darstellung des Altenglischen nimmt Lass als Vorstufe für die anglo-friesische Aufhellung eine ingwäonische Gruppe an, die sich ihrerseits aus dem Westgermanischen ausgliedert; siehe Roger Lass, Old English. A Historical Linguistic Companion (Cambridge 1994), S. 41–44.
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lich außerhalb der Anglistik, oder zumindest außerhalb der anglistischen Handbücher, statt. Die neuere Forschung stellt das in den anglistischen Handbüchern als gesichert dargestellte Wissen um die Vorgeschichte des Altenglischen stark in Frage. Die anglo-friesische Sprachverwandtschaft wird in der Regel nicht mehr separat, sondern als Teil einer nordseegermanischen (ingwäonischen) Gruppierung der germanischen Sprachen gesehen. Trotz der Diskussion um die Binnengliederung der nordseegermanischen Sprachen kann doch die Zugehörigkeit des Altenglischen wie auch des Friesischen zu dieser Gruppe nicht bezweifelt werden.13 Das Verhältnis des Altenglischen zu den kontinentalen germanischen Sprachen innerhalb und außerhalb einer ingwäonischen Untergruppe wurde in der sprachhistorischen Forschung hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Gliederungsproblem der germanischen Sprachen allgemein dargestellt.14 Man nimmt aufgrund der relativen Lautchronologie an, dass die meisten Übereinstimmungen zwischen dem Altenglischen und dem Altfriesischen kontinentalen Ursprungs sind. Ob auch spätere Sprachkontakte zu Konvergenzen zwischen dem Altenglischen und Friesischen geführt haben, muss fraglich bleiben.15 Dass Friesen an der germanischen Eroberung Britanniens beteiligt waren, wird allgemein angenommen, doch sind berechtigte Zweifel an einer größeren Beteiligung von Friesen vorgebracht worden.16 Die Rolle der Jüten bei der Ausbildung der Dialekte in den von Beda als jütische Siedlungsgebiete genannten Regionen – Kent, die Insel Wight und die Küstenregion von Hampshire – ist ebenfalls problematisch und im 13
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Siehe B. Sjölin, Artikel „Anglofriesisch“. In: RGA 1 (1973), S. 329–331; H. F. Nielsen, Artikel „Ingwäonisch“. In: RGA 15 (2000), S. 432–439. Insbesondere von Hans Frede Nielsen; siehe Hans Frede Nielsen, Old English and the Continental Germanic Languages. A Survey of Morphological and Phonological Interrelations. Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft (Innsbruck 1981); Hans Frede Nielsen, The Germanic Languages. Origins and Early Dialectal Interrelations (Tuscaloosa, London 1989), insbesondere S. 53–63; Hans Frede Nielsen, The Continental Background of English and its Insular Development until 1154 (Odense 1998). Vgl. auch Orrin W. Robinson, Old English and its Closest Relatives: A Survey of the Earliest Germanic Languages (London 1992) und Elmar Seebold, Artikel „Westgermanische Sprachen“. In: RGA 33 (2006), S. 530–536. Zu den anglo-friesischen Beziehungen vgl. auch Rolf H. Bremmer Jr., An Introduction to Old Frisian. History, Grammar, Reader, Glossary (Amsterdam 2009), S. 125–128. David DeCamp, The Genesis of the Old English Dialects: A New Hypothesis. Language 34, 1958, S. 232–244, hat die These von einem späteren friesischen Einfluss insbesondere auf das Kentische vertreten. Siehe Rolf H. Bremmer Jr., The Nature of the Evidence for a Frisian Participation in the Adventus Saxonum. In: Britain 400–600. Language and History, hrsg. von Alfred Bammesberger, Alfred Wollmann (Heidelberg 1990), S. 353–371.
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Einzelnen schwer zu spezifizieren.17 Obwohl es unbestreitbar ist, dass die germanischen Stämme, die an der Eroberung und Besiedlung Britanniens im 5. Jahrhundert beteiligt waren, ihr jeweiliges Idiom mitbrachten und dass diese Idiome an der Ausbildung der verschiedenen altenglischen Dialekte beteiligt waren, muss doch die Zuordnung altenglischer Sprach- und Dialektmerkmale zu bestimmten kontinentalgermanischen Dialekten des Germanischen hypothetisch bleiben. Nielsen diskutiert ca. 40 Merkmale altenglischer Dialekte, die diese mit verschiedenen kontinentalgermanischen Sprachen teilen. Davon sind zwei Drittel ohne Beweiskraft, sei es, dass sie erst in der Zeit nach der Landnahme der Germanen in Britannien entstanden sind, sei es, dass sie sich bei näherer Betrachtung als Entsprechungen ohne Aussagekraft entpuppen. Ein Bespiel für Veränderungen, die erst nach der Besiedlung Englands durch die Germanen eingetreten sind, ist die Weiterentwicklung von durch i-Umlaut aus ū˘ entstandenem y˘ˉ zu ē˘ im Kentischen und Altfriesischen; ein Beispiel für unabhängige Parallelentwicklungen ist die Hebung von germanisch ă zu ĕ im Kentischen, Merzischen und Altfriesischen.18 Es bleiben ein Dutzend Parallelen aus der Zeit vor der Invasion, wovon lediglich die Übereinstimmungen des anglischen Dialekts mit verschiedenen germanischen Sprachen eindeutig sind; so zum Beispiel die dem Anglischen und Altsächsischen gemeinsame Form der ersten Person Singular Indikativ des Verbums ‚sein‘, angl. bēom, bīom, altsächsisch bium.19 Allerdings bestehen diese Beziehungen zu allen nord- und westgermanischen Sprachen und lassen nach Meinung von Nielsen keine Rückschlüsse auf eine besondere Verbindung zu bestimmten Sprachen zu. Weiterhin lassen sich keine Beziehungen zwischen dem Westsächsischen und dem Altsächsischen und zwischen dem Kentischen und dem Altfriesischen vor der Landnahme feststellen, so dass Nielsens Fazit ist: „The links of Kt. [Kentish] and WS [West Saxon] to the continental languages are thus too few and too diverse to allow inferences in respect of the continental origins of these dialects.“20 Die unzureichende Aussagekraft sprachlich-struktureller Daten über die Anteile der kontinentalgermanischen Sprachen bei der Herausbildung des 17
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Siehe M. Eggers im Artikel „Jüten“. In: RGA 16 (2000), S. 94–96; Elmar Seebold, Was ist jütisch? Was ist kentisch? In: Britain 400–600 (wie Anm. 16), S. 335–352. Nielsen, Old English and the Continental Germanic Languages (wie Anm. 14), S. 223–252; zu den beiden Beispielen siehe S. 238–239 und 235. Ebenda S. 231 u. 251. Beziehungen zwischen dem Altsächsischen und dem anglischen Dialekt des Altenglischen wurden auch im Bereich des Wortschatzes nachgewiesen; siehe Michael Korhammer, Altenglische Dialekte und der Heliand. Anglia 98, 1980, S. 85–94. Nielsen, Old English and the Continental Germanic Languages (wie Anm. 14), S. 252.
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Altenglischen und seiner Dialekte hat die Forschung dazu geführt, zusätzliche Kriterien zu berücksichtigen. Eine wichtige Quelle sind Ortsnamen. Auch hier gibt es allerdings unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten des onomastischen Materials, zumal nicht alle Ortsnamen und Ortsnamenselemente eindeutig etymologisiert und chronologisch eingeordnet werden können. In der Ortsnamensforschung hat Jürgen Udolph darauf hingewiesen, dass sich bei einer Reihe von onomastischen Elementen (unter ihnen ‑ithi wie in dtsch. Lengede, engl. Frant und hor- wie in dtsch. Horbach, engl. Horton) ähnliche Bildungstypen in einem breiten Gürtel von Mittelund Norddeutschland über die nordwestliche Küstenregion des Kontinents bis nach Kent und weiter in England finden.21 Wenn man von der plausiblen Annahme ausgeht, dass die Einwanderer nicht nur ihre Sprache, sondern auch ihr Namengut mitbrachten, kann die Ortsnamenkunde einen wichtigen Beitrag zur Siedlungsgeschichte liefern. Die kontinentalgermanische Provenienz der Eroberer und Besiedler Britanniens wird prinzipiell bestätigt, auch wenn nähere Zuordnungen zu bestimmten sprachlichen oder ethnischen Gruppierungen schwierig sind.22 Eine besondere Rolle bei der Bestimmung der verschiedenen an der germanischen Eroberung Britanniens beteiligten Gruppen kommt weiterhin der Archäologie zu. In der archäologischen Forschung hat man versucht, in den Funden in England Beziehungen zu den von Beda genannten germanischen gentes auf dem Kontinent nachzuweisen, auch zu den Franken und Friesen, sowie zu den Skandinaviern aus dem südlichen und westlichen Norwegen an der Ostküste am Ende des 5. Jahrhunderts.23 Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass archäologische Untersu21
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Siehe Jürgen Udolph, Die Ortsnamen auf ‑ithi. In: Probleme der älteren Namenschichten. Leipziger Symposion, 21. bis 22. November 1989, hrsg. von Ernst Eichler. Beiträge zur Namenforschung, NF Beiheft 32 (Heidelberg 1991), S. 85–145; Jürgen Udolph, Namenkundliche Studien zum Germanenproblem. Ergänzungsbände zum RGA 9 (1994), insbesondere S. 765–829; Jürgen Udolph, Die Landnahme Englands durch germanische Stämme im Lichte der Ortsnamen. In: Nordwestgermanisch, hrsg. von Edith Marold, Christiane Zimmermann. Ergänzungsbände zum RGA 13 (1995), S. 223–270. Nielsen, The Continental Background (wie Anm. 14), S. 68–79, äußert sich allerdings zurückhaltend zu den Ergebnissen der Forschungen Udolphs; vgl. auch Wilhelm Nicolaisen, Is There a Northwest Germanic Toponomy? Some Thoughts and a Proposal. In: Nordwestgermanisch (wie Anm. 21), S. 103–114. Siehe dazu Vera I. Evison, Distribution Maps and England in the First Two Phases. In: Angles, Saxon, and Jutes. Essays Presented to J. N. L. Myres, hrsg. von Vera I. Evison (Oxford 1981), S. 126–167. Einen knappen Überblick gibt Nielsen, The Continental Background (wie Anm. 14), S. 65–66; vgl. auch John Hines, Philology, Archaeology and the adventus Saxonum vel Anglorum. In: Britain 400–600 (wie Anm. 16), S. 17–36; Hines favorisiert die Annahme von skandinavischen Siedlun-
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chungen unsere Kenntnis von der Germanisierung Britanniens zwischen 400 und 600 bereichert haben. Allerdings kann die sprachliche Zuordnung dieser verschiedenen germanischen Gruppen durch die Archäologie nicht geklärt werden. Es kann zwar die Beteiligung der Angeln, Sachsen, Jüten, Friesen und Franken (in unterschiedlichem Maße) an der Besiedlung Britanniens im 5. Jahrhundert nachgewiesen werden, doch lassen sich konkrete Hinweise über die sprachlichen Beziehungen des Altenglischen und seiner Dialekte zu den kontinentalgermanischen Sprachen letztlich doch nur mit Hilfe der Methoden der Sprachwissenschaft gewinnen.
2.2 Das Altenglische und seine Dialekte Obwohl man vom historischen Standpunkt aus den Beginn des Altenglischen in das 5. Jahrhundert datieren kann, wird die Sprache doch erst mit dem Beginn der schriftlichen Überlieferung ab ca. 700 fassbar. Dabei ist zwischen der Landnahme und dem 7./8. Jahrhundert bereits ein Prozess der Konsolidierung der verschiedenen nach Britannien gebrachten germanischen Idiome eingetreten, der die ursprünglichen sprachlichen Verhältnisse nur mehr undeutlich erkennen lässt. Ähnlich unscharfe Grenzen wie der Beginn hat auch das Ende der altenglischen Sprachperiode. Zwar beginnt mit 1066 eine neue Epoche in der englischen Sprachgeschichte schon allein deshalb, weil die language of power jetzt Französisch ist, aber es wird nicht nur Englisch weiterhin gesprochen, es wird auch zunächst noch in seiner spätaltenglischen Form geschrieben und abgeschrieben. David Crystal bemerkt zum Übergang vom Alt- zum Mittelenglischen: The overlap is not difficult to identify. A copy of the Old English Gospels (Bodleian MS Hatton 38), made in Christ Church, Canterbury, probably in the 1190s, has been called ‘the last Old English text’. That is very much later than a manuscript which has been called ‘the earliest Middle English text’: the Sermo in festis Sancti Marie uirginis (‘Homily for Feasts of the Blessed Virgin Mary’), a translation of a Latin sermon by Ralph d’Escures who was Archbishop of Canterbury between 1114 and 1122. It forms one of the Kentish Homilies, compiled c. 1150 or somewhat earlier, most of which are copied straight from Ælfric’s Catholic Homilies.24
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gen im letzten Viertel des 5. Jahrhunderts. Vgl. auch David M. Wilson, Abschnitt „Archaeology“ im Artikel „Angelsachsen“, In: RGA 1 (1973), S. 310–318. David Crystal, The End of Old English? In: Beowulf & Other Stories: A New Introduction to Old English, Old Icelandic and Anglo-Norman Literature, hrsg. von Richard North, Joe Allard (Harlow 2007), S. 489–498 (hier S. 498).
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‚Englisch‘ war die Eigenbezeichnung der Angelsachsen für ihre Sprache, unabhängig von ihrer Stammeszugehörigkeit oder ihrer dialektalen Herkunft.25 Nicht nur die Sprache der Angeln, der Engle, wurde also Englisc genannt.26 Zwei Stellen sind aufschlussreich für den Gebrauch dieser Bezeichnung für die Gesamtheit der Sprache, die somit von den anderen in Britannien gesprochenen Sprachen abgesetzt wird. Bei Beda heißt es in der Historia Ecclesiastica (I, 1): Haec in praesenti iuxta numerum librorum quibus lex diuina scripta est, quinque gentium linguis unam eandemque summae ueritatis et uerae sublimitatis scientiam scrutatur et confitetur, Anglorum uidelicet Brettonum Scottorum Pictorum et Latinorum, quae meditatione scripturarum ceteris omnibus est facta communis. Gegenwärtig wird nach der Zahl der Bücher, in denen das göttliche Gesetz aufgeschrieben ist, in den Sprachen von fünf Völkern ein und dieselbe Kenntnis der höchsten Wahrheit und wahren Erhabenheit erforscht und verkündet, nämlich in der Sprache der Engländer, Briten, Iren, Pikten und derjenigen der Lateiner, die durch das Studium der Schriften auch allen anderen zuteil wurde.27
In der von König Alfred veranlassten altenglischen Übersetzung der Historia Ecclesiastica heißt es dementsprechend: Đis ealond nu on andweardnysse æfter ríme fif Moyses boca, ðam seo godcunde ǽ awriten is, fif ðeoda gereordum ænne wisdom þære hean soþfæstnysse 7 þære soðan heanesse smeað 7 andetteaþ; þæt is on Angolcynnes gereorde 7 Brytta 7 Scotta 7 Peohta 7 Ledenwara: þæt an is, þæt Leden, on smeaunge gewrita eallum þam oðrum gemæne. Diese Insel studiert und bekennt zur gegenwärtigen Zeit die eine Weisheit der erhabenen Wahrheit und der wahren Erhabenheit entsprechend der Zahl der fünf Bücher Moses, in denen das göttliche Gesetz geschrieben steht, in den Sprachen von fünf Völkern; das heißt in der Sprache der Engländer und der Briten und der Schotten und der Pikten und der Lateiner: letzteres, das Lateinische, ist allen anderen gemein beim Studium der Schriften.28 25
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Zu den angelsächsischen Stämmen siehe Hans Kuhn, Reinhard Wenskus, Artikel „Angelsächsische Stämme“. In: RGA 1 (1973), S. 323–329. Siehe Karl Brunner, Altenglische Grammatik, nach der Angelsächsischen Grammatik von Eduard Sievers neu bearbeitet. 3. Auflage (Tübingen 1965), S. 1 (§ 1, Anm. 1): „Die ae. Schriftsteller nennen ihre Sprache stets englisc; lateinisch schreibende bezeichnen sie als lingua anglica oder auch als lingua saxonica.“ Colgrave and Mynors, Ecclesiastical History (wie Anm. 8), S. 16; deutsche Übersetzung nach: Beda der Ehrwürdige. Kirchengeschichte des englischen Volkes, übersetzt von Günter Spitzbart. Texte zur Forschung 34 (Darmstadt 1982), S. 29. The Old English Version of Bede’s Ecclesiastical History of the English People, hrsg. und übersetzt von Thomas Miller. 4 Bände, Early English Text Society os 95,
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Auch in der Einleitung zur Angelsächsischen Chronik (Laud-Handschrift) heißt es, dass es auf der Insel fünf Sprachen gebe: Englisc, Britisch, Schottisch (das heißt: Irisch), Piktisch und ‚Buch-Latein‘.29 Trotz dialektaler Aufspaltung begriffen sich offensichtlich die Sprecher der altenglischen Varietäten als Sprecher eines gemeinsamen Idioms. Die Unterschiede zwischen den altenglischen Dialekten sind zwar auf allen sprachlichen Ebenen zu finden – Phonologie, Morphologie, Syntax, Lexikon – , bleiben aber insgesamt in einem so engen Rahmen, dass eine Beeinträchtigung der Verständigung zwischen Sprechern verschiedener Dialekte kaum vorstellbar ist. Die Divergenzen und die daraus resultierenden Verständnisschwierigkeiten, die später bei den mittelenglischen Dialekten festzustellen sind, gelten für das Altenglische nicht. Wir haben Texte im nordhumbrischen, im merzischen, im kentischen und im westsächsischen Dialekt; Nordhumbrisch und Merzisch werden als anglische Dialekte zusammengefasst. Die Dialekte sind nicht deckungsgleich mit den gleichnamigen Königreichen, deren Grenzen sich im Laufe der angelsächsischen Geschichte allemal häufig verändert haben. Dennoch spielen auch die politischen Verhältnisse eine wichtige Rolle bei der Abgrenzung verschiedener Dialektgebiete, ebenso wie die Besiedlungsgeschichte oder die Diözesangliederung.30 Am besten erforscht sind die phonologischen Unterschiede
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96, 110, 111 (London 1890–1898), S. 26, 28. Zur altenglischen Übersetzung, lange Alfred selbst zugeschrieben, siehe Dorothy Whitelock, The Old English Bede. Proceedings of the British Academy 48, 1962, S. 57–90. – Bei der Wiedergabe des Altenglischen (Einzelwörter und Zitate) habe ich die Wyn-Rune durch und das insulare Yogh durch ersetzt. Längen habe ich bei Zitaten nur bezeichnet, wenn sie in der benutzten Ausgabe zu finden sind; bei Einzelwörtern sind sie immer angegeben. Aussprachehilfen wie ein Punkt über einem c für die Aussprache [tʃ] habe ich nicht übernommen. Die tironische Nota für and wurde gelassen. Genau genommen spricht die E-Version der Angelsächsischen Chronik (Laud-Hs.) von sechs Sprachen, indem zum Britischen noch das Walisische (Wilsc) hinzufügt wird. Siehe Two of the Saxon Chronicles Parallel with Supplementary Extracts from the Others, hrsg. von Charles Plummer, John Earle. 2 Bde. (Oxford 1892– 1899), I, 3. Plummer (II, 6) erklärt die sechs Sprachen in der E-Version als eine Aufspaltung von BrytWylsc in D (Worcester Chronicle). Garmonsway übersetzt: „and here in this island are five languages: English, British or Welsh, Irish, Pictish, and Latin.“ The Anglo-Saxon Chronicle, übersetzt von G. N. Garmonsway (London 1972), S. 3. Siehe auch Reinhard Wenskus, Hans Kuhn, Artikel „Angelsächsische Chronik“. In: RGA 1 (Berlin, New York 1973), S. 319–321. Siehe dazu Thomas E. Toon, Old English Dialects. In: Cambridge History of the English Language. I (wie Anm. 11), S. 409–451. Auch die Handbücher des Altenglischen gehen auf die dialektalen Unterscheidungen innerhalb des Altenglischen ein; eine gute Übersicht bringt Alistair Campbell, Old English Grammar (Oxford 1959), S. 4–11. Siehe auch die knappe Übersicht von Lucia Kornexl, Topics in Old
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zwischen den verschiedenen regionalen Varietäten des Altenglischen. Als Beispiel für die dialektale Variation im Altenglischen sei hier kurz der ‚Hymnus Caedmons‘ betrachtet. Beda berichtet im 4. Buch der Historia Ecclesiastica von einem Kuhhirten und späterem Bruder im Kloster der Äbtissin Hild, dem durch göttliche Inspiration die Gabe des Dichtens verliehen wurde.31 Sein Hymnus auf die Schöpfung wird von Beda in lateinischer Paraphrase mitgeteilt, doch steht er in einer Reihe von Handschriften auch in Altenglisch, meist am Rand; auch ist er in der Originalsprache in der altenglischen Übersetzung von Bedas Kirchengeschichte zu finden.32 Im Folgenden sei der Text in einer nordhumbrischen Version aus der so genannten Moore-Hs. (Cambridge University Library Kk.5.16) mitgeteilt und mit einer westsächsischen aus der Oxforder Hs. Bodleian Library, Hatton 43, verglichen.33
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Nu scylun hergan hefænricæs uard metudæs mæcti endi his modgidanc, uerc uuldurfadur sue he uundra gihuæs, eci dryctin, or astelidæ; he ærist scop ælda barnum heben til hrofe, haleg scepen; tha middungeard moncynnæs uard, eci dryctin, æfter tiadæ firum foldu, frea allmectig.
Nun sollen wir preisen den Wart des Himmelreiches,/ des Herren Macht und seine Weisheit,/ das Werk des Vaters der Herrlichkeit, wie er von einem jeden
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English Dialects. In: Companion to the History of the English Language (wie Anm. 1), S. 172–179. Siehe Geoffrey I. Needham, Artikel „Caedmon“. In: RGA 4 (Berlin, New York 1981), S. 305–308. Zur handschriftlichen Überlieferung siehe Three Northumbrian Poems. Cædmon’s Hymn, Bede’s Death Song and The Leiden Riddle, hrsg. von Albert Hugh Smith, 3. Auflage (London 1968), S. 1–4. Zum Hymnus siehe auch Cædmon’s Hymn and Material Culture in the World of Bede. Six Essays, hrsg. von Allen J. Frantzen, John Hines. Medieval European Studies 7 (Morgantown, West Virginia, 2007); Daniel P. O’Donnell, Cædmon’s Hymn. A Multimedia Study, Edition and Archive (Woodbridge, 2005). Es sind 21 Versionen des altenglischen Texts bekannt, davon vier im nordhumbrischen Dialekt. Der Text ist aus Three Northumbrian Poems (wie Anm. 32), S. 38–41, genommen. Die Interpunktierung in V. 7 und 8 ist leicht verändert (nach Donald K. Fry, Cædmon (fl. 657–80). In: Medieval England. An Encyclopedia, hrsg. von Paul E. Szarmach (New York 1998), S. 152.) Zur Datierung der Moore-Version des Texts auf 737 siehe Three Northumbrian Poems (wie Anm. 32), S. 20–23. Die Hatton-Handschrift enthält Bedas Historia Ecclesiastica in Latein und stammt aus dem Beginn des 11. Jahrhunderts. Smith unterscheidet die Graphien und nach der Schreibweise der Handschrift; sie sind hier vereinheitlicht als wiedergegeben.
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der Wunder,/ der ewige Herr, den Anfang setzte;/ er schuf zuerst den Kindern der Menschen/ den Himmel als Dach, der heilige Schöpfer;/ dann schuf die Welt der Wart des Menschengeschlechts,/ der ewige Herr, danach/ den Menschen die Erde, der allmächtige Herr.
Vergleicht man diesen nordhumbrischen Text mit der westsächsischen Version, so kann man drei Typen von Varianten unterscheiden: textliche Varianten, graphische Varianten und dialektale Varianten. Eine textliche Variante ist zum Beispiel im westsächsischen Text in Zeile 9 on foldum ‘auf der Erde’ statt foldu; eine graphische Variante ist der Gebrauch des von der Wyn-Rune abgeleiteten Schriftzeichens für /w/ im westsächsischen Text, wo der nordhumbrische Text hat.34 Der auffälligste dialektale Unterschied zwischen dem nordhumbrischen und westsächsischen Text betrifft den Kontrast zwischen einem Monophthong und einem Diphthong in den folgenden Fällen: A. 1 hefænricæs = westsächsisch heofonrices, ebenso Zeile 6 heben = westsächsisch heofon B. 1, 7 uard = westsächisch weard C. 4 astelidæ = westsächisch astealde D. 5 scop = westsächisch gesceop E. 5 barnum = westsächisch bearnum Die Diphthongierung in den westsächsischen Wörtern ist jeweils unterschiedlich motiviert. Bei heofon haben wir es mit einem Velarumlaut (u-Umlaut) zu tun; dieser ist unterschiedlich in den verschiedenen Dialektgebieten eingetreten, im gegebenen Fall unterbleibt er im nordhumbrischen Wort wegen des unterschiedlichen Vokals in der zweiten Silbe (æ statt velarem Vokal). In der Inschrift auf dem Ruthwell Cross, die ebenfalls nordhumbrisch ist, findet sich wie im Westsächsischen die umgelautete Form heafunæs.35 In weard und bearnum liegt Brechung vor. Die Tatsache, dass die nordhumbrischen Formen uard und barnum keine Brechung zeigen, dürfte jedoch nicht so sehr ein Zeichen des Dialekts als vielmehr der frühen Überlieferung sein. In Zeile 7 hat der Text der Moore-Handschrift zum Beispiel die gebrochene Form -geard, wo die ungefähr zeitgleiche St. Petersburger Hs. -gard hat.36 34
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Zum Teil sind Varianten auch durch die zeitliche Distanz der beiden Versionen bedingt, zum Beispiel die Schreibung für den Genitiv Singular von metudæs (Zeile 2) im nordhumbrischen Text (metudes im westsächsischen Text). Siehe dazu Campbell, Old English Grammar (wie Anm. 30), S. 88–90 (§ 210). Zum Ruthwell Cross siehe J. Hawkes, J. McKinell, Artikel „Ruthwell Cross“. In: RGA 25 (Berlin,New York 2003), S. 622–629 (hier S. 628). Vgl. dazu Brunner, Altenglische Grammatik (wie Anm. 26), S. 56 (§ 84, Anm. 1).
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Auch der Diphthong in westsächisch astealde ist durch Brechung verursacht, aus voraltenglisch a vor l + Konsonant, eine Entwicklung, die nur im westsächsischen und im kentischen Dialekt eingetreten ist. Die nordhumbrische Form astelidæ ist allerdings kein Beispiel für unterbliebene Brechung, denn hier hat das Präteritum den gleichen Vokal wie das Präsens (e durch i-Umlaut aus voraltenglisch a), außerdem bleibt zwischen dem Verbalstamm und dem Dentalsuffix des Präteritums der Bindevokal erhalten.37 Schließlich ist der Diphthong in westsächisch gesceop reine Graphie; das e von eo ist zum vorausgehenden zu ziehen und bezeichnet die Aussprache [ʃ] von ; die Verbform ist als gesc(e)ōp aufzufassen, ist also (mit Ausnahme des zusätzlichen Präfixes) identisch mit der nordhumbrischen Form. Lediglich im Infinitiv dieses Verbums der 6. starken Klasse wäre ein dialektaler Unterschied zwischen dem Westsächsischen (scieppan) und dem Anglischen (sceppan) festzustellen gewesen.38 Der nordhumbrische Text weist noch weitere Eigenheiten auf, die mit dem Phänomen der Brechung zusammenhängen, zum Beispiel die Form mæcti in Zeile 2 und almectig in Zeile 9. Hier hat der westsächsische Text myhte und ælmyhtig. Die westsächsischen Formen erklären sich durch die Brechung von voraltenglisch a vor h zu ea, das sich durch i-Umlaut zu ie und dann spät-westsächisch zu y weiterentwickelt. Der nordhumbrische Text zeigt keine Brechung; hier wurde zu æ ‚geebnet‘ bzw. bei i-Umlaut zu e weiterverschoben.39 Die linguistische Analyse ließe sich fortsetzen, doch zeigen die wenigen Beispiele schon, in welchem Rahmen sich dialektale phonologische Variation bewegt, auch wie komplex im Einzelnen die Erklärung für die Unterschiede ist. Einige dieser Dialektmerkmale sind früh und könnten bereits auf Unterschiede in den Dialekten der Eroberer zurückgehen. Dies trifft auf die Opposition von westsächisch dæˉ d ‚Tat‘ (mit langem offenen æ) und anglisch und kentisch dēd (mit langem geschlossenen e) zu. Die beiden Vokale werden in der historischen Grammatik des Englischen auf ein westgermanisches *ā zurückgeführt. Die Hebung eines westgermanischen ā zu westsächsisch æˉ und anglisch, kentisch ē hat das Altenglische mit dem Friesischen gemeinsam; sie gehört zu dem oben beschriebenen Phänomen der anglo-friesischen Aufhellung.40 Da westgermanisch *ā seinerseits auf (spät) 37
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Für die Details siehe Brunner, Altenglische Grammatik (wie Anm. 26), S. 57–59 (§ 85); vgl. auch Campbell, Old English Grammar (wie Anm. 30), S. 330 (§ 753). Siehe dazu Brunner, Altenglische Grammatik (wie Anm. 26), S. 335 (§ 392, 4). Zu Einzelheiten siehe Brunner, Altenglische Grammatik (wie Anm. 26), S. 59 (§ 86), 101–102 (§ 119); vgl. dazu auch Campbell, Old English Grammar (wie Anm. 30), S. 56–57 (§ 145). Zur traditionellen Darstellung dieser Entwicklung siehe Brunner, Altenglische
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uridg. *ē zurückzuführen ist, ist auch der Vorschlag gemacht worden, dass das anglische ē den ererbten Ausgangsvokal ohne zwischenzeitliche Entwicklung zu *ā direkt fortsetzt. Argumente für und gegen diese Hypothese sind eng mit der Problematik der Gliederung und Ausgliederung der germanischen Sprachen verbunden und können hier nicht weiter diskutiert werden.41 Im Wesentlichen haben sich die Dialektmerkmale aber erst nach der Besiedlung entwickelt, wie zum Beispiel der i-Umlaut oder die sogenannte anglische Ebnung; sie liegen zeitlich zum guten Teil vor der Verschriftung der Dialekte, also vor 700.42 Obwohl alle Dialekte so gut belegt sind, dass ihre sprachlichen Eigenheiten erkennbar sind, ist doch eine eigenartige Ungleichheit in der Belegdichte festzustellen.43 Der am besten überlieferte Dialekt ist das Westsächsische. Diese Dominanz des erhaltenen Schrifttums ist natürlich nicht getrennt zu sehen von der wachsenden politischen Bedeutung des Königreichs Wessex. Es wird darauf im Zusammenhang mit der Entwicklung eines Standard-Altenglischen noch einzugehen sein. Was das Nordhumbrische angeht, so ist einer der frühesten Texte der oben besprochene Hymnus Caedmons in der Moore-Handschrift und in der St. Petersburger Handschrift der Historia Ecclesiastica; aus der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts stammt auch die bereits erwähnte Runeninschrift auf dem Ruthwell Cross. Neben einigen weiteren frühen Textzeugnissen des Nordhumbrischen (darunter die Inschriften auf dem Franks Casket) sind vor allem die Interlinearglossen zu den Lindisfarne Gospels aus dem 10. Jahr-
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Grammatik (wie Anm. 26), S. 44–45 (§ 62). Vgl. dazu die kritische Darstellung in Campbell, Old English Grammar (wie Anm. 30), S. 10–53 (§ 126–133). Zur Darstellung im Rahmen der generativen Phonologie siehe Anm. 12 (Lass, Anderson, Old English Phonology, und Lass, Old English). Zur Frage einer direkten Zurückführung des altenglischen æˉ /ē auf das Uridg. siehe William H. Bennett, The Germanic Development of Indo-European ē. Language 26, 1950, S. 232–235. Siehe auch die Überblicksdarstellung von Herbert L. Kufner, The Grouping and Separation of the Germanic Languages. In: Toward a Grammar of Proto-Germanic, hrsg. von Frans van Coetsem, Herbert L. Kufner (Tübingen 1972), S. 71–97. Vgl. auch den Abschnitt „Sprache“ von Elmar Seebold im Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“. In: RGA 11 (1998), S. 275–305; vgl. auch die in Anm. 13 genannten RGA-Artikel „Anglofriesisch“ und „Ingwäonisch“ und den in Anm. 14 genannten RGA-Artikel „Westgermanische Sprachen“. Campbell, Old English Grammar (wie Anm. 30), unterteilt die Entwicklung der altenglischen betonten Vokale in ‚prehistoric Old English changes‘ und in ‚changes of accented vowels from about 700 to 1000‘. Einen Überblick über die altenglischen Dialektdenkmäler geben Brunner, Altenglische Grammatik (wie Anm. 26), S. 2–8 (§ 2) und Campbell, Old English Grammar (wie Anm. 30), S. 4–9 (§ 6–16).
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hundert wichtige Quellen für diesen Dialekt.44 Das Merzische ist seit der Mitte des 8. Jahrhunderts in einer Reihe von Urkunden der merzischen Könige bezeugt.45 Wichtige Texte für die Kenntnis des Merzischen sind weiterhin die Interlinearglossen zum Vespasian Psalter aus der Mitte des 9. Jahrhunderts.46 Das Kentische ist zunächst im 8. Jahrhundert nur aus Namen in Urkunden bekannt; wichtigste Zeugnisse für diesen Dialekt sind die Übersetzung von Psalm 50 (Kentish Psalm) und der Kentish Hymn (in einer Handschrift aus dem späten 10. Jahrhundert).47 Was das Westsächsische angeht, so ist es erst relativ spät überliefert, und zwar von wenigen Textzeugnissen abgesehen erst seit der Übersetzertätigkeit König Alfreds im späten 9. Jahrhundert. Nach Alistair Campbell ist zwischen einem ‚Early West-Saxon‘, das in der Angelsächsischen Chronik (Parker Chronicle, bis 924), in Alfreds Übersetzung von Gregors Cura Pastoralis und in der von ihm veranlassten Übersetzung der Weltgeschichte des Orosius vorliegt, und einem ‚Late West-Saxon‘, das vor allem in den Werken Ælfrics (von Eynsham, ca. 950 – ca. 1010) greifbar wird, zu unterscheiden.48
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Dazu die Glossen Owuns zu den Rushworth Gospels (Ru.2) und die Glossen zum Durham Ritual, ebenfalls aus dem 10. Jh. Siehe auch den Abschnitt zu den altenglischen Glossen und Glossaren von G. Kreutzer im Artikel „Glossen und Glossare“. In: RGA 12 (1998), S. 226–231; vgl. auch Karl Hauck, Wolfgang Krause, Heinrich Beck, Artikel „Auzon, das Bilder- und Runenkästchen“. In: RGA 1 (1973), S. 514–523 und die Tafeln 41–45; zu den Lindisfarne Gospels siehe David M. Wilson, Artikel „Lindisfarne Gospels“. In: RGA 18 (2001), S. 466–468, und Michelle P. Brown, The Lindisfarne Gospels. Society, Spirituality and the Scribe (London 2003). Nach Campbell, Old English Grammar (wie Anm. 30), S. 6, die Nummern 9, 10, 11, 12, 13, 14, 47, 48 in The Oldest English Texts, hrsg. von Henry Sweet. Early English Text Society os 83 (London 1885), wobei in den frühen Urkunden (9–14) allerdings nur Orts- und Eigennamen vorkommen. Hs. British Library, Cotton Vespasian A.i; siehe The Vespasian Psalter, hrsg. von David H. Wright. Early English Manuscripts in Facsimile 14 (Kopenhagen 1967). Merzisch sind auch die Glossen Farmans zu den Rushworth Gospels (Ru.1). Hs. British Library, Cotton Vespasian D.vi; die beiden Texte sind ediert in The Anglo-Saxon Minor Poems, hrsg. von Elliott Van Kirk Dobbie. The Anglo-Saxon Poetic Records 6 (New York, London 1942), S. 87–94. Campbell, Old English Grammar (wie Anm. 30), S. 8–9. Zu den genannten Texten siehe Stanley B. Greenfield, Daniel G. Calder, A New Critical History of Old English Literature, with a Survey of the Anglo-Latin Background by Michael Lapidge (New York, 1986), S. 38–67 (Alfred und sein Übersetzerkreis), 68–106 (Ælfric und andere späte Prosa).
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2.3 Die altenglische Sprachstruktur Trotz der dialektalen Unterschiede zeigt das Altenglische, wie es sich in den schriftlich überlieferten Dokumenten erschließt, eine bemerkenswerte Homogenität. Bei aller geographischen und chronologischen Variation lassen sich die strukturellen Merkmale des Altenglischen vom synchronen Standpunkt aus als ein klar umrissenes System darstellen.49 Was die Morphologie und Syntax angeht, so stimmt das Altenglische als germanische Sprache in wesentlichen Zügen mit den verwandten altgermanischen Sprachen überein.50 Beim Substantiv sind die für das Urgermanische anzusetzenden Deklinationsklassen prinzipiell erhalten, ebenso wie die Unterscheidung in Maskulina, Feminina und Neutra. Das Altenglische hat dementsprechend eine a-, ō-, i-, u- und n-Deklination sowie als kleinere konsonantische Deklinationsklassen Verwandtschaftsnamen auf -r, substantivierte Partizipia auf -nd-, Reste von indogermanischen Dental- und -s-Stämmen sowie sog. Wurzelnomina. Die umfangreichsten Deklinationsklassen sind die maskulinen und neutralen a-Stämme, die femininen ō-Stämme und die n-Stämme. Wie auch in anderen germanischen Sprachen schließen sich Substantive aus kleineren Deklinationsklassen häufig dem Muster ‚dominanter‘ Deklinationsklassen an. So werden beispielsweise fast alle langsilbigen Maskulina der iDeklination (z. B. wyrm ‘Wurm’) wie die Maskulina der a-Deklination gebeugt, oder alle Feminina der kurzsilbigen i-Stämme (zum Beispiel fremu ‘Nutzen’) wie die Feminina der ō-Deklination. Was die Kategorie des Kasus 49
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Zum Versuch einer synchronen Grammatik des Altenglischen siehe Herbert Pilch, Altenglische Grammatik. Commentationes Societatis Linguisticae Europaeae I,1 (München 1970); vgl. auch Herbert Pilch, Altenglisch. In: Kurzer Grundriß der germanischen Philologie bis 1500. 1. Sprachgeschichte, hrsg. von Ludwig Erich Schmitt (Berlin 1970), S. 144–189. Zum Folgenden siehe die ausführlichen Darstellungen in den altenglischen Grammatiken von Brunner (wie Anm. 26) und Campbell (wie Anm. 30); siehe auch Lass, Old English (wie Anm. 12). Einen knappen, informativen Überblick gibt Helmut Gneuss, The Old English Language. In: The Cambridge Companion to Old English Literature, hrsg. von Malcolm Godden, Michael Lapidge (Cambridge, 1991), S. 23–54. Vgl. auch die zusammenfassende Darstellung von Richard M. Hogg, Phonology and Morphology. In: The Cambridge History (wie Anm. 11), S. 67–167. Zum Vergleich des Altenglischen mit den anderen germanischen Sprachen siehe Hans Krahe, Germanische Sprachwissenschaft. I. Einleitung und Lautlehre. 7. Auflage bearbeitet von Wolfgang Meid. Sammlung Göschen 238 (Berlin 1969); Hans Krahe, II. Formenlehre. 7. überarbeitete Auflage Sammlung Göschen 780 (Berlin 1969); Wolfgang Meid, III. Wortbildungslehre. Sammlung Göschen 1218/1218a/1218b (Berlin 1967). Vgl. auch die ältere, aber noch immer nützliche Darstellung von Eduard Prokosch, A Comparative Germanic Grammar (Baltimore 1938).
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angeht, so wurden wie in anderen germanischen Sprachen auch im Altenglischen die acht Kasus des Urindogermanischen auf die fünf Kasus Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ und Vokativ reduziert. In der Flexion der Substantive fällt der Instrumentalis mit dem Dativ zusammen; lediglich bei den Demonstrativpronomina und beim Interrogativum ist der Instrumental im Singular m. und n. formal und funktional noch fassbar; man vergleiche þæˉ m stāne ‘dem Stein’ mit þyˉ stāne ‘mit dem/ durch den Stein’. Typisch für das Altenglische ist, dass in allen Flexionsmustern, nicht nur bei den schwachen Substantiven (der n-Deklination) ein Zusammenfall der Endungen zu verzeichnen ist. Bei den femininen ō-Stämmen beispielsweise kann die Endung -e den Genitiv, Dativ und Akkusativ Singular sowie den Nominativ und Akkusativ Plural bezeichnen. Allen Nominalflexionen ist eigen, dass die Endungen von Nominativ und Akkusativ im Plural übereinstimmen, nicht nur bei den Neutra, für die dies bereits urindogermanisch zutraf. Auffällig im Bereich der Morphologie des Substantivs ist, dass sich bereits in den nordhumbrischen Interlinearglossen des 10. Jahrhunderts und im Durham Ritual Unsicherheiten beim Gebrauch des grammatischen Geschlechts abzeichnen, eine Tendenz, die sich in frühmittelenglischen Texten fortsetzt und die als Ausgangspunkt für die Aufgabe des grammatischen Geschlechts im Mittelenglischen angesehen wird.51 Beim Adjektiv ist im Altenglischen die starke und schwache Flexion noch intakt. Die schwache Flexion ist bekanntlich eine germanische Neuerung; im Unterschied zum Neuenglischen ist die Unterscheidung in eine starke und schwache Flexion des attributiven Adjektivs im heutigen Deutschen noch lebendig. Die Regeln des Gebrauchs im Altenglischen entsprechen denen des modernen Deutschen; das Adjektiv wird schwach flektiert, wenn das Substantiv durch ein Demonstrativ- oder Possessivpronomen determiniert ist, und stark, wenn es nicht entsprechend determiniert ist. Auffällig ist, dass im Beowulf ca. 75mal das schwach flektierte Adjektiv anstatt des stark flektierten steht. So heißt es zum Beispiel in Vers 978: ðæˉ r ābīdan sceal/ maga māne fāh miclan dōmes, ‘dort muss der durch Frevel ausgestoßene Mann ein gewaltiges Urteil erwarten’.52 Altenglisch ābīdan wird mit 51
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Siehe dazu A. S. C. Ross, Sex and Gender in the Lindisfarne Gospels. Journal of English and Germanic Philology 35, 1936, S. 321–330; Charles Jones, The Grammatical Category of Gender in Early Middle English. English Studies 48, 1967, S. 289–309. Dieter Kastovsky, Inflectional Classes, Morphological Restructuring, and the Dissolution of Old English Grammatical Gender. In: Gender in Grammar and Cognition. I. Approaches to Gender. II. Manifestations of Gender, hrsg. von Barbara Unterbeck, Matti Rissanen. Trends in Linguistics, Studies and Monographs 128 (Berlin 2000), S. 709–728. V. 977b-978b; gemeint ist Grendel. Beowulf-Zitate (auch im Folgenden) aus: Klae-
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dem Genitiv konstruiert; dōm ist maskuliner a-Stamm; das attributive Adjektiv müsste, da das Substantiv nicht determiniert ist, in der starken Form stehen, die im Genitiv Singular des Maskulins micles lautet; miclan ist die schwache Form. Man vergleiche zum Beispiel in der altenglischen Übersetzung von Gregors Cura Pastoralis: butan [ðæm] demme stranges domes, ‘ohne den Schaden einer strengen Verurteilung’, wo stranges die stark flektierte Form ist.53 Obwohl die schwache anstatt der starken Adjektivform beim Nomen auch sonst im Altenglischen, speziell in der Dichtung, vorkommt, ist dieser Gebrauch im Beowulf häufiger als in irgendeinem anderen Text. Man hat Kollokationen wie miclan dōmes als archaisch interpretiert; obwohl sich diese Eigentümlichkeit im Gebrauch des schwachen Adjektivs nicht als Kriterium für die Datierung altenglischer Texte eignet, kann man doch sagen, dass sich spätere Dichtungen weitgehend an den Gebrauch der Adjektivflexion in der Prosa halten, also den Gebrauch des schwachen Adjektivs beim nicht determinierten Substantiv vermeiden.54 Auch die Flexion und die Verwendungsweise der anderen Wortarten entsprechen weitgehend den Verhältnissen in den anderen altgermanischen Sprachen. Beim Personalpronomen wird noch der aus dem Urindogermanischen ererbte Dual bei der ersten und zweiten Person unterschieden; diese Unterscheidung geht im Mittelenglischen verloren, allerdings finden sich vereinzelte Vorkommen des Duals, so etwa die Form wit ‘wir beide’, noch zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Beim altenglischen Verbum findet sich die für alle germanischen Sprachen charakteristische Einteilung in starke und schwache Verben, wobei die Präteritalbildung bei ersteren auf den ererbten Prinzipien von Ablaut und Reduplikation aufbaut, bei letzteren hingegen mithilfe eines Dentalsuffixes ungeklärter Herkunft erfolgt. Bei den schwachen Verbklassen ist die dritte nur noch mit wenigen Verben, wie etwa habban ‘haben’, vertreten, die vierte ist nicht als eigene Flexionsklasse erkennbar. Die starken Verbklassen I–VI korrespondieren mit den entsprechenden starken Verbklassen im Gotischen, Althochdeutschen, Altnordischen usw.
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ber’s Beowulf and the Fight at Finnsburg, hrsg. von Robert Dennis Fulk, Robert E. Bjork, John D. Niles. 4. Auflage (Toronto 2008). Zitiert nach King Alfred’s West-Saxon Version of Gregory’s Pastoral Care, hrsg. von Henry Sweet. 2 Bände. Early English Text Society os 45, 50 (London 1871), S. 401. Siehe dazu die Darstellung des auf Adolf Lichtenheld zurückgehenden Datierungskriteriums in Ashley Crandell Amos, Linguistic Means of Determining the Dates of Old English Literary Texts. Medieval Academy Books 90 (Cambridge/Massachusetts 1980), S. 110–124. Zu diesem Gebrauch der schwachen Adjektivflexion im Altenglischen siehe Bruce Mitchell, An Old English Syntax. 2 Bände (Oxford 1985), I, 56–58 (§ 114–117).
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Bemerkenswert ist bei der siebten Klasse, den ehemals reduplizierenden Verben, dass es im Anglischen noch Spuren der im West- und Nordgermanischen ansonsten aufgegebenen Reduplikation gibt. Es sind dies die Formen heht statt hēt von hātan ‘heißen’, reord statt rēd von ræˉ dan/ rēdan ‘raten, lesen’, leolc statt lēc von lācan ‘springen’, ondreord statt ondrēd von ondræˉ dan/ ondrēdan ‘fürchten’ und leort statt læˉ tan/ lētan ‘lassen’. Diese Formen sind vor allem in der Poesie verbreitet; im Beowulf kommt neben hēt auch heht vor, in der Juliana erscheint leolc (Vers 674), in Cynewulfs Elene kommen reord (Vers 1022) und leort (Vers 1104) vor.55 Was die Flexion des Verbums angeht, so hat das Altenglische wie das Altsächsische und das Altfriesische im Plural des Indikativs und Konjunktivs Präsens und Präteritum für die drei Personen nur eine Endung (wrītaþ ‘wir, sie schreiben’‚ ‘ihr schreibt’). Die Endung -þ der dritten Person Singular des Indikativs Präsens (wie in wrīteþ, ‚er, sie, es schreibt‘) geht etymologisch auf uridg. *-ti zurück. Im Westsächsischen und Kentischen kommt es in der zweiten und dritten Person Singular zu synkopierten Formen (Elision des Bindevokals und z.T. Assimilation der Endkonsonanten wie zum Beispiel in bint statt anglisch bindeþ). In den nordhumbrischen Glossen zu den Lindisfarne Gospels, insbesondere im Matthäus-Evangelium, findet sich statt -þ häufig die Endung -s für die dritte Person Singular Präsens Indikativ. So heißt es beispielsweise in der Glosse zu Matthäus 6.6 et pater tuus qui videt in abscondito reddet tibi (‘und dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird es dir vergelten’): „7 fader ðin se ðe gesiið vel locas [sieht oder schaut] in degelnisse forgeldes ðe“. Die Form videt wird sowohl durch gesiið mit -þ-Endung als auch durch locas mit -sEndung glossiert. Die entsprechende Stelle in der westsächsischen Übersetzung des Neuen Testaments hat für videt die Form gesyhð und für reddet statt nordhumbrisch forgeldes mit -s die synkopierte Form agylt (aus agyldeþ). Die -s-Endung findet sich in den nordhumbrischen Texten nicht nur für den Singular, sondern auch für den Plural Indikativ Präsens. So heißt es im nächsten Vers (Matthäus 6.7) für lat. putant (‘sie meinen’, sc. die Heiden) in den Lindisfarner Interlinearglossen woenas, in der westsächsischen Evangelienübersetzung dagegen wenað (sie wähnen).56 Da in den nördli55
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Siehe Elżbieta Adamczyk, Reduplication and the Old English Strong Verbs Class VII. Studia Anglica Posnaniensia 38, 2002, S. 23–34. Siehe auch in der vergleichenden Darstellung der starken Verben in den germanischen Sprachen von Elmar Seebold, Vergleichendes und etymologisches Wörterbuch der germanischen starken Verben. Janua Linguarum, Series Practica 85 (Den Haag, Paris, 1970), S. 162 (-)dræˉ d-a-, 246–248 hait-a-, 321–322 laik-a-, 365–367 ræˉ d-a-. Siehe A Second Anglo-Saxon Reader, Archaic and Dialectal, hrsg. von Henry
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chen Dialekten in der zweiten Person Singular Indikativ Präsens in der Regel kein -t angefügt wird wie im westsächsischen Dialekt (nordhumbrisch bindes vs. westsächsisch bindest ‘du bindest’), sind hier die zweite und dritte Person Singular im Indikativ Präsens gleichlautend. Man hat dies als skandinavischen Einfluss gedeutet, als Übertragung der Endung der zweiten Person auf die dritte Person Singular analog zum Altnordischen.57 Dialektabhängigkeit findet man auch bei den Formen des Verbums ‚sein‘, dessen Flexionsformen auf verschiedene urindogermanische Wurzeln zurückzuführen sind. Im Westsächsischen lautet der Indikativ Präsens eom (1. Pers. Sg., spätwestsächisch bēo), eart/ bist (2. Sg.), is/ bið (3. Sg.) und sindon/ sint/ bēoð (Pl.). Diese Formen (in entsprechender dialektaler Variation) finden sich auch im Merzischen und Nordhumbrischen. Dort ist allerdings für die Pluralform auch die Form aron (earun) gebräuchlich. Vom neuenglischen Standpunkt aus kann man feststellen, dass sich nördliche Varianten durchgesetzt haben, sowohl was die Endung -s für die dritte Person Singular im Indikativ Präsens als auch was die Form are betrifft. Die b-Formen des Verbums ‚sein‘ sind im Neuenglischen nur im Infinitiv und Partizip Präsens erhalten. Im Altenglischen lässt sich bei den b-Formen häufig eine futurische Bedeutung feststellen. Dies wird auch von Ælfric (ca. 950 – ca. 1010), der auf der Basis von Priscianexzerpten eine lateinische Grammatik in altenglischer Sprache verfasste, bestätigt. Er schreibt beim verbum substantivum für den Indikativ Präsens „sum ic eom, es ðū eart, est hē is; et plvraliter sumus wē synd, estis gē synd, sunt hī synd“ und für das Futur „ero ic bēo“.58 Die Syntax ist in den altenglischen Grammatiken lange vernachlässigt worden, auch wenn einzelnen syntaktischen Erscheinungen – wie etwa dem Gebrauch des Infinitivs oder des Konjunktivs – schon früh Monographien
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Sweet, 2. Auflage von T. F. Hoad (Oxford 1978), S. 144; The Old English Versions of the Gospels. I. Text and Introduction, hrsg. von R. M. Liuzza. Early English Text Society os 304 (Oxford 1994), S. 12. Vgl. Brunner, Altenglische Grammatik (wie Anm. 26), S. 298–299 (§ 357). Diese Erklärung ist allerdings umstritten. Siehe Eric Holmqvist, On the History of the English Present Inflections, Particularly -th and -s (Heidelberg 1922), S. 1–20; D. Gary Miller, The Origin and Diffusion of English 3Sg -s. Studia Anglica Posnaniensia 38, 2002, S. 353–361. Siehe Ælfrics Grammatik und Glossar. Text und Varianten, hrsg. von Julius Zupitza, 2. unveränderte Auflage mit einem Vorwort von Helmut Gneuss (Berlin u.a. 1966), S. 101–102. Zu Ælfric und seiner Grammatik: siehe unten 4.2. – Die Herleitung der verschiedenen Formen des Verbums ‚sein‘ aus dem Urindogermanischen ist im Einzelnen umstritten; siehe Rosemarie Lühr, Reste der athematischen Konjugation in den germanischen Sprachen. In: Das Germanische und die Rekonstruktion der indogermanischen Grundsprache, hrsg. von Jürgen Untermann, Bela Brogyanyi (Amsterdam, Philadelphia 1984), S. 25–90.
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gewidmet worden sind. Relativ ausführlich für eine altenglische Grammatik wird die Syntax zuerst von Randolph Quirk und C. L. Wrenn 1955 behandelt; eine eingehende Beschäftigung mit der Syntax wurde zum Teil von der strukturalistischen und post-strukturalistischen Linguistik angeregt, zum Teil auch in bewusstem Gegensatz zu neueren Syntaxtheorien durchgeführt.59 Allgemein kann man von der altenglischen Syntax sagen, dass sie vom gleichen Typ wie die der anderen altgermanischen Sprachen ist.60 Dies betrifft insbesondere die Wortstellung, die noch nicht die rigorose SVOStellung des Neuenglischen kennt, auch wenn, vor allem in der Prosa, die SVO-Stellung im unmarkierten Hauptsatz überwiegt. Das Altenglische verlangt noch ähnlich dem Deutschen die obligatorische Verbendstellung in bestimmten Nebensatztypen (zum Beispiel in temporalen oder kausalen Nebensätzen). So haben in dem oben zitierten Hymnus des Caedmon alle Hauptsätze die SVO-Stellung, mit Ausnahme von Zeilen 7–8, in denen wir die Stellung þa + O + S + V finden. Die Analyse von Zeilen 7–8 ist allerdings, wie häufig im Altenglischen, von der Interpunktion der Herausgeber abhängig.61 Der mit sue ‘so wie’ eingeleitete Nebensatz hat ebenfalls Verbendstellung (sue he … or astelidæ, ‘so wie er den Anfang setzte’).62 Das altenglische Lexikon ist stark von Lehnwörtern und Lehnbildungen durchsetzt; darauf wird im Zusammenhang mit dem Verhältnis des Altenglischen zu den in Britannien gesprochenen Sprachen und zum Lateinischen einzugehen sein. Der ererbte Wortschatz des Altenglischen wurde von Ernst 59
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Siehe Randolph Quirk, C. L. Wrenn, An Old English Grammar (London 1955), S. 59–103. Einen Überblick in einer gemäßigt modernen Betrachtungsweise gibt Elizabeth Closs Traugott, Syntax. In: Cambridge History of the English Language. I (wie Anm. 11), S. 168–289. Betont traditionell ist das umfassende Handbuch zur altenglischen Syntax von Bruce Mitchell, Old English Syntax (wie Anm. 54). Das Altenglische wird auch in Untersuchungen zur vergleichenden Syntax der altgermanischen Sprachen bzw. des Urgermanischen berücksichtigt, so etwa in Hermann Hirt, Handbuch des Urgermanischen III. Abriss der Syntax (Heidelberg 1934). Zu jüngeren Untersuchungen vgl. die Gegenüberstellung des Altenglischen mit dem Altisländischen und mit dem Althochdeutschen in Graeme Davis, Karl A. Bernhardt, The Syntax of Old English and Old High German. Göppinger Arbeiten zur Germanistik 697 (Göppingen, 2002); Graeme Davis, Comparative Syntax of Old English and Old Icelandic. Studies in Historical Linguistics 1 (Frankfurt/Main u.a. 2006). Die Abhängigkeit der syntaktischen Analyse von der Interpunktion hat vor allem Bruce Mitchell betont; siehe Bruce Mitchell, Linguistic Facts and the Interpretation of Old English Poetry. Anglo-Saxon England 4 (1975), S. 11–28. Zur Wortstellung im Altenglischen siehe Mitchell, Old English Syntax (wie Anm. 54), II, 957–986 (§ 3887–3951); Lass, Old English (wie Anm. 12), S. 216–228; Marian C. Bean, The Development of Word Order Patterns in Old English (London u. a. 1983). Zur Lehnsyntax siehe unten.
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Schwarz im Zusammenhang mit der Frage der Ausgliederung der germanischen Sprachen einer näheren Betrachtung unterzogen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass 49% der altenglischen Erbwörter in allen altgermanischen Sprachen belegt beziehungsweise nachweisbar sind, 16% nur im Altenglischen belegt sind und die restlichen 35% auf unterschiedliche Gruppierungen des Altenglischen mit anderen germanischen Sprachen verteilt sind. Bei diesen Gruppierungen gibt es sowohl Bezüge zum Norden als auch zum Süden der Germania; allerdings stellt Schwarz fest, dass die Bezüge zum Süden (Altsächsisch, Altfriesisch, Althochdeutsch) fast doppelt so stark sind.63 Die Einbettung des altenglischen Lexikons in einen gemeingermanischen Kontext macht es zu einer wichtigen Quelle für die Interpretation germanischer Institutionen. Ähnlich wie dies Émile Benveniste für die indogermanische Welt versucht hat, hat D. H. Green auf der Basis des germanischen Wortschatzes eine Rekonstruktion gesellschaftlicher Verhältnisse und kultureller Vorstellungen vorgenommen.64 Die altenglischen Lexeme für das von Green auch monographisch untersuchte Wortfeld ‚Herr‘ zeigen Übereinstimmungen wie Abweichungen im Vergleich mit den kontinentalen germanischen Sprachen.65 Die vier althochdeutschen Wörter, denen Greens Untersuchung gewidmet ist, balder, frô, truhtin, hêrro, kommen auch im Altenglischen in ähnlicher Bedeutung vor. Dabei ist in beiden Sprachen zwischen einer ursprünglichen Bedeutung der Wörter und einer späteren Übertragung des Begriffs des ‚Herrn‘ auf Gott bzw. Christus zu unterscheiden; es geht hier um die säkulare Bedeutung dieser Wörter. Althochdeutsch balder entspricht altenglisch bealdor, althochdeutsch frô, altenglisch frēa und althochdeutsch truhtin altenglisch dryhten. Altenglisch bealdor kommt ausschließlich in der Dichtung vor, wo es nur zehnmal belegt ist, davon neunmal im weltlichen Sinn als ‚Herr, Herrscher‘ wie in Beowulf V. 2567 winia bealdor ‘der Herr der lieben Gefährten’, bezogen auf Beowulf.66 Das Wort 63
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Siehe im Einzelnen Ernst Schwarz, Goten, Nordgermanen, Angelsachsen. Studien zur Ausgliederung der germanischen Sprachen (Bern 1951), S. 201–214. Die Arbeit fußt allerdings notgedrungen auf einem völlig unzureichenden Stand der altenglischen Lexikographie. Siehe Émile Benveniste, Le vocabulaire des institutions indo-européennes. 1. Économie, parenté, société. 2. Pouvoir, droit, religion. 2 Bände (Paris 1969); D. H. Green, Language and History in the Early Germanic World (Cambridge 1998). Vgl. auch Ruth Schmidt-Wiegand, Artikel „Wörter und Sachen“. In: RGA 34 (2007), S. 181–189. Siehe D. H. Green, The Carolingian Lord. Semantic Studies on Four Old High German Words: Balder, Frô, Truhtin, Hêrro (Cambridge 1965). Vgl. auch John Insley, Artikel „Lord“. In: RGA 18 (2001), S. 602–608. Von den zehn Belegen bezieht sich nur einer auf Gott; einer bezieht sich auf Juliana
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frēa ist im Altenglischen häufig belegt, kommt allerdings (mit ca. 180 Belegen) nur in der Dichtung vor. Neben der Bedeutung ‘Gott’ wie oben in Caedmons Hymnus (Vers 9) überwiegen die Bedeutungen ‘Herr, Herrscher, König’. Allein im Beowulf kommt das Wort als Simplex 15mal in einer nicht-religiösen Bedeutung vor.67 Altenglisch dryhten ist sowohl in der Dichtung als auch in der Prosa gebräuchlich; das Dictionary of Old English gibt als Belegzahl ca. 15.500 an. Neben einer religiösen Bedeutung wie in Vers 4 und 8 im Hymnus des Caedmon hat auch dieses Wort die Bedeutung ‘Herr, Herrscher’; im Beowulf kommt es in dieser Bedeutung als Simplex 15mal vor. In den Gesetzestexten wird dryhten im Zusammenhang mit dem Verhältnis zwischen Herrn und Gefolgsmann oder Untertan benutzt.68 Altenglisch hearra, das althochdeutsch hêrro entspricht, ist ein besonderer Fall. Es findet sich 23mal in der Genesis B (Vers 235–851 der altenglischen Genesis), der Jüngeren Genesis, die, wie Eduard Sievers bereits 1875 gezeigt hat, im 9. Jh. aus der altsächsischen Genesis übersetzt wurde. Das Wort ist offensichtlich eine englische Nachbildung des altsächsischen hērro; außerhalb der Jüngeren Genesis ist es nur viermal im Altenglischen belegt. Von all diesen Wörtern ist im Neuenglischen keines erhalten; das entsprechende neuenglische Wort (lord) geht auf altenglisch hlāford zurück, das sowohl in der Prosa als auch in der Dichtung verbreitet ist. Wie seine Synonyme wird das Wort hlāford in einem religiösen und nicht-religiösen Sinn verwendet. Im Beowulf kommt das Simplex sechsmal in der Bedeutung ‘Herr, Herrscher’ vor. So steht es beispielsweise in Variation zu mæˉ rne þēoden, ‘den berühmten Herrscher’ (gemeint ist Beowulf): ālegdon ðā tōmiddes mæˉ rne þēoden hæleð hīofende, hlāford lēofne. (V. 3141–3142) es legten dann in die Mitte [sc. des Scheiterhaufens] den berühmten Herrscher die klagenden Krieger, den lieben Herrn.
Für dieses Wort gibt es keine Parallelen in anderen germanischen Sprachen; es ist eine Neubildung des Altenglischen, abgeleitet aus hlāf ‘Laib’ und weard ‘Wart’.69
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(‘Herrin’). Siehe The Dictionary of Old English, hrsg. von Antonette diPaulo Healey u. a. (Toronto 1994 –) (Microfiche-Edition); online: http://tapor.library. utoronto.ca/doe/; s.v. bealdor. Siehe Dictionary of Old English (wie Anm. 66), s.v. frēa. Siehe Dictionary of Old English (wie Anm. 66), s.v. dryhten. Die Wörter hearra und hlāford sind noch nicht im Dictionary of Old English zugänglich; siehe An Anglo-Saxon Dictionary Based on the Manuscript Collections
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Die Wörter kommen auch als Komposita (zum Teil in religiöser Bedeutung) vor. Allein im Beowulf gibt es zu frēa die Komposita: āgend-frēa ‘Besitzer’, līf-frēa, ‘Herr des Lebens’ sin-frēa ‘großer Herr’, frēa-wine ‘Herr und Freund’, frēa-wrāsn ‘herrliche Kette’; neben dryhten die Komposita: frēa-dryhten ‘Herr’, frēo-dryhten ‘edler Herr’, gum-dryhten und mon-dryhten ‘Herr der Männer’, sige-dryhten ‘siegreicher Herr’ und wine-dryhten ‘freundlicher Herr’; neben hlāford auch eald-hlāford ‘alter Herr’. Dazu kommen Ableitungen wie etwa hlāford-lēas ‘herrenlos’. Von den reichen Möglichkeiten, Komposita zu bilden, wird vor allem in der Dichtung ausgiebiger Gebrauch gemacht.70 Daneben gibt es in der altenglischen derivationalen Morphologie zahlreiche ererbte produktive Wortbildungsmuster mit Hilfe von Prä- und Suffixbildungen, ähnlich den Verhältnissen in anderen germanischen Sprachen.71 Dazu kommt als ein wichtiges Verfahren der Wortschatzbereicherung die Lehnbildung, auf die in Abschnitt 4.2, S. 500– 507 einzugehen sein wird. 2.4 Altenglisch und die in Britannien gesprochenen Sprachen Die Autonomie des Altenglischen wird auch gegenüber den in Britannien gesprochenen Sprachen aufrechterhalten. Es handelt sich hier um inselkeltische Sprachen und um die Sprache der skandinavischen Wikinger, die ab dem 9. Jh. im Gebiet des Danelag (Danelaw) sesshaft werden. Zum Keltischen ist aufgrund der unterschiedlichen Sprachstruktur von vorneherein ein ‚Abstand‘ gegeben, auch wenn sowohl die germanischen als auch die keltischen Sprachen zur indogermanischen Sprachfamilie gehören, zum Teil wohl auch, wie man aus gemeinsamen Lexemen geschlossen hat, in ihrer vorgeschichtlichen Periode in näherem Kontakt gestanden sind.72 Die in
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of the Late Joseph Bosworth, ed. and enl. by T. Northcote Toller. Supplement and Addenda by Alistair Campbell. 2 Bände (Oxford 1972–1976), s.v. hearra und hlāford. Zur Kompositabildung in der altenglischen Dichtung siehe Arthur Gilchrist Brodeur, The Art of Beowulf (Berkeley, Los Angeles 1959), S. 254–271; Hertha Marquardt, Die altenglischen Kenningar. Ein Beitrag zur Stilkunde altgermanischer Dichtung. Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Geisteswissenschaftliche Klasse 14.3 (Halle 1938). Zur altenglischen Wortbildung siehe Dieter Kastovsky, Semantics and Vocabulary. In: The Cambridge History (wie Anm. 11), S. 290–408, insbesondere S. 355–400; Lass, Old English (wie Anm. 12), S. 178–215. Zum Altenglischen im Rahmen der germanischen Sprache siehe Meid, Germanische Wortbildung (wie Anm. 50). Siehe Edgar C. Polomé, Germanic and the Other Indo-European Languages. In: Toward a Grammar of Proto-Germanic (wie Anm. 41), S. 43–69, hier S. 64–69. Siehe
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Britannien einfallenden Germanen treffen zunächst auf inselkeltische Sprachen der (p-keltischen) britannischen Gruppe. Bis heute werden aus dieser Gruppe das Walisische oder Kymrische sowie, auf dem Kontinent, das Bretonische gesprochen; das Kornische ist im 18. Jh. ausgestorben. Zur Zeit der Landnahme wurde auch noch das Kumbrische im Norden Britanniens gesprochen. Cumbria umfasste im frühen 7. Jh. das Gebiet westlich der Pennines bis zum Firth of Clyde; nachdem die anglischen Nordhumbrer Cumbria im 7. Jh. weitgehend erobert hatten, blieb nur Strathclyde keltisch. Kenneth Jackson vermutet, dass dort Kumbrisch (Cumbric) vielleicht bis zum Ende der politischen Unabhängigkeit Strathclydes im 11. Jh. gesprochen wurde.73 Beda (und nach ihm die Angelsächsische Chronik) erwähnt neben den Briten, den Vertretern der britannischen Sprachen Walisisch, Kornisch und Kumbrisch, auch die Pikten und die Schotten. Die Sprache der Pikten, des Volks, zu dessen Bekämpfung die Germanen ins Land gerufen wurden, ist weitgehend unbekannt. Die wenigen Anhaltspunkte für ‚Piktisch‘ (etwa in Ortsnamen oder Ogam-Inschriften) reichen nicht aus, um eine eindeutige Zuordnung zu ermöglichen. In der Sprachwissenschaft wird sowohl die Meinung vertreten, die Pikten hätten keine keltische, nicht einmal eine indogermanische Sprache gesprochen, als auch die Meinung, die Sprache der Pikten sei ein keltisches Idiom gewesen.74 Sicherlich keltisch sind die Schotten. Mit den Scotti Bedas sind die Iren gemeint, die seit dem 4. Jh. Raubzüge in den Norden Britanniens unternahmen und im 5. Jh. in Argyll ein Königreich gründeten. Irisch wie Schottisch-Gälisch gehören zur (q-keltischen) goidelischen Gruppe der inselkeltischen Sprachen; das ebenfalls dazu gehörige Manx ist im 20. Jh. ausgestorben. Im frühen Mittelalter ist von einer weitgehenden Einheitlichkeit der goidelischen Sprachen auszugehen.75
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auch Olivier Büchsenschütz, Thomas Grünewald, Bernhardt Maier, Karl Horst Schmidt, Artikel „Kelten“. In: RGA 16 (2000), S. 364–392. Siehe Kenneth Jackson, Language and History in Early Britain. A Chronological Survey of the Brittonic Languages, First to Twelfth Century a.d. (Edinburg 1953), S. 9. Vgl. auch Glanville Price, Cumbric. In: Languages in Britain and Ireland, hrsg. von Glanville Price (Oxford, 2000), S. 120–126. Zum Verhältnis der britannischen Sprachen zueinander siehe Paul Russell, An Introduction to the Celtic Languages (London 1995), S. 127–134. Zu den keltischen Sprachen allgemein vgl. die Übersicht von Stefan Zimmer, Die keltischen Sprachen. In: Die Kelten. Mythos und Wirklichkeit, hrsg. von Stefan Zimmer (Stuttgart 2004), S. 83–121. Vgl. auch Henry Royston Loyn, Artikel „Briten“. In: RGA 3 (1978), S. 465–466. Siehe Glanville Price, Pictish. In: Languages in Britain and Ireland (wie Anm. 73), S. 127–131. Siehe Russell, Introduction (wie Anm. 73), S. 25–28. Daneben waren im frühen Mittelalter nicht nur die goidelischen, sondern auch die britannischen Sprachen noch wenig voneinander verschieden.
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Der Sprachkontakt zwischen den Kelten und Germanen in Britannien fand im Laufe der Jahrhunderte auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Bereichen mit wechselnder Intensität statt. Was die Ortsnamen und vor allem die Flussnamen angeht, so haben die Germanen zum Teil die keltischen Namen übernommen, so dass sich auch im germanischen Siedlungsgebiet eine ältere toponymische Schicht feststellen lässt. Kenneth Jackson hat anhand der Flussnamen gezeigt, wie die zunehmende Dichte von keltischen Namen von Osten nach Westen die angelsächsische Besiedlung und das Zurückdrängen der keltischsprachigen Bevölkerung widerspiegelt.76 Max Förster hat dem keltischen Flussnamen ‚Themse‘ eine umfangreiche Monographie gewidmet.77 Neben den Namen gibt es auch im Lexikon Beeinflussungen des Englischen durch das Keltische.78 Insgesamt ist die Zahl keltischer Lehnwörter im Altenglischen allerdings gering. Zwei Beispiele mögen die Art der Vermittlung illustrieren. Neben bereits vom Kontinent mitgebrachten keltischen Entlehnungen wie altenglisch ambiht ‘Dienst, Amt’ (althochdeutsch ambahti, erhalten in deutsch Amt) finden sich im Altenglischen als jüngere Schicht im Lehnwortschatz Entlehnungen aus dem Britanischen, die sich auf Erscheinungen der Natur, der Flora und Fauna, auch der Landschaft beziehen. Eines dieser Wörter ist altenglisch cumb ‘Tal’, das ausschließlich in Urkunden vorkommt. Dieses Wort ist sowohl als geographischer Begriff (ne. coomb ‘Tal’) als auch als Ortsnamenselement (z.B. Eastcomb) noch heute erhalten. Es wird zu kymrisch cwm (aus *kumbos) gestellt.79 Als eine dritte Schicht keltischer 76
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Siehe die Karte in Jackson, Language and History (wie Anm. 73), S. 220, und die Diskussion auf S. 221 ff. Max Förster, Der Flußname Themse und seine Sippe. Studien zur Anglisierung keltischer Eigennamen und zur Lautchronologie des Altbritischen. Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-historische Abteilung, Jahrgang 1941, Band 1 (München 1941). Zu den keltischen Ortsnamen allgemein in der Germania siehe Patrizia de Bernardo Stempel, Artikel „Keltische Ortsnamen“. In: RGA 16 (2000), S. 364–392. Zu den keltischen Einflüssen auf die germanischen Sprachen auf dem Kontinent siehe den Abschnitt „Keltische Einflüsse“ von Piergiuseppe Scardigli im Artikel „Fremde Einflüsse im Germanischen“. In: RGA 9 (1995), S. 599–560. Zu den keltischen Einflüssen auf das Altenglische siehe den Abschnitt „Das Beispiel des Altenglischen“ von Karl Toth im Artikel „Fremde Einflüsse im Germanischen“. In: RGA 9 (1995), S. 563–570, hier S. 568–569; dazu A. Lutz, Celtic Influence on Old English and West Germanic. English Language and Linguistics 13, 2009, S. 227– 249. Zu den keltischen Lehnwörtern im Altenglischen siehe auch Max Förster, Keltisches Wortgut im Englischen. Eine sprachliche Untersuchung. In: Texte und Forschungen zur englischen Kulturgeschichte. Festgabe für Felix Liebermann, hrsg. von Max Förster, Karl Wildhagen (Halle 1921), S. 119–242. Vgl. auch Campbell, Old English Grammar (wie Anm. 30), S. 221–222 (§ 565). Siehe dazu das Dictionary of Old English (wie Anm. 66), s.v. cumb1, und das Ox-
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Lehnwörter im Altenglischen können lateinische Wörter, die über keltische Vermittlung ins Englische kamen, angesehen werden. Zu diesen gehört altenglisch stæˉ r ‘Geschichte’. Das Wort kommt mehrfach in der altenglischen Übersetzung von Bedas Historia Ecclesiastica vor, u.a. im Bericht über den des Lesens und Schreibens unkundigen Dichter Caedmon, der, nachdem man ihm aus der Bibel vorgelesen hatte, ganz im Stil eines mündlichen Dichters epische Gesänge dichtete. Beda schreibt: Canebat autem de creatione mundi et origine humani generis et tota Genesis historia … . Er sang von der Schöpfung der Welt und vom Ursprung des Menschengeschlechts und von der ganzen Geschichte der Genesis … .80
In der altenglischen Übersetzung erscheint für historia das Wort stær: Song he ærest be middangeardes gesceape 7 bi fruman moncynnes stær Genesis, þæt is seo æreste Moyses booc … .81
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Er sang zuerst von der Schöpfung der Welt und vom Beginn des Menschengeschlechts und die ganze Geschichte der Genesis, das ist das erste Buch Moses … .
Hier ist nach Förster das altenglische Wort zu altirisch stoir/ stair ‘Geschichte’ (aus lat. historia) zu stellen. Dass hier die Entlehnung über das Altirische erfolgte, hängt mit der Rolle der irischen Mission in Britannien zusammen. Auch Einflüsse des Keltischen auf die altenglische Sprachstruktur wurden verschiedentlich postuliert, wie etwa der Gebrauch von so genannten contact clauses, Relativsätzen ohne Relativpronomen; diese Vermutungen lassen sich im Einzelnen nicht bestätigen; gerade im Bereich der Syntax muss mit unabhängigen parallelen Entwicklungen in den verschiedenen Sprachen gerechnet werden.82 Die Skandinavier sind seit dem späten 8. Jahrhundert durch ihre Raubzüge eine ständige Bedrohung der Bevölkerung Britanniens. Die Angelsächsische Chronik bringt unter dem Jahr 793 den bekannten Eintrag:
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ford English Dictionary. 2. Auflage, bearbeitet von John A. Simpson, Edmund S. C. Weiner. 20 Bände (Oxford 1988), s.v. coomb2. Text aus Colgrave, Mynors, Ecclesiastical History (wie Anm. 8), S. 418, Übersetzung aus Spitzbart, Kirchengeschichte (wie Anm. 27), S. 401. Miller, Ecclesiastical History (wie Anm. 28), S. 346. Problematisch ist die Darstellung von Walther Preusler, Keltischer Einfluß im Englischen, Anglia 66, 1942, S. 121–128. Siehe dazu jetzt Markku Filppula, Juhani Klemola, Heli Paulasto, English and Celtic in Contact. Routledge Studies in Germanic Linguistics 13 (London 2008); zur contact clause S. 84–94.
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Her wæron reðe forebecna cumene ofer Norðanhymbra land 7 þæt folc earmlice bregdon; þæt wæron ormete ligræscas, 7 wæron geseowene fyrene dracan on þam lyfte fleogende. Þam tacnum sona fyligde mycel hunger, 7 litel æfter þam þæs ilcan geares on vi Idus Ianuarias earmlice heðenra manna hergung adiligode Godes cyrican in Lindisfarena ee þurh reaflac 7 mansleht.83 In diesem Jahr kamen gräßliche Vorzeichen über Nordhumbrien und versetzten das Volk in große Schrecken; es waren dies riesige Blitzschläge, und es wurden feurige Drachen in der Luft fliegen gesehen. Diesen Zeichen folgte alsbald eine große Hungersnot, und kurz danach im gleichen Jahr, am achten Januar, verwüstete ein Raubzug der Heiden auf erbärmliche Weise die Kirche Gottes auf Lindisfarne mit Raub und Totschlag.
In der Folge werden zahlreichen Einträge in der Angelsächsischen Chronik von Verwüstungen, Plünderungen, Tributzahlungen und Kämpfen zu berichten haben. Ab der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts kommt es zu skandinavischen Siedlungen in Nordhumbrien, Merzien und Ostanglien. Nach dem Sieg König Alfreds über den Wikinger Guthrum im Jahr 878 kommt es zu einer Einigung über die Grenzziehung zwischen dem skandinavischen Siedlungsgebiet, dem Danelag, und dem westsächsischen Herrschaftsbereich. Dennoch kommt es auch in der Folgezeit weiterhin zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Skandinaviern und zu Wikingerüberfällen. Auch in der altenglischen Dichtung haben die Kämpfe gegen die Wikinger ihren Niederschlag gefunden. Das unter dem Titel The Battle of Maldon bekannte Gedicht besingt ganz im Stil der altgermanischen Heldendichtung den Kampf des ealdorman Byrhtnoth und seiner Gefolgschaft gegen die Wikinger in der Nähe von Maldon in Essex im Jahr 991.84 Schließlich wird unter Knut und seinen Nachfolgern am Ende der angelsächsischen Periode England Teil des dänischen Reichs.85 Die skandinavischen Sprachen, mit denen das Altenglische in Berührung kam, waren hauptsächlich das Altdänische sowie im nordwestlichen Mittel83
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Zitiert nach Two of the Saxon Chronicles (wie Anm. 29), S. 55, 57 (Laud-Hs.). Abkürzungen wurden aufgelöst und die Schreibung und Interpunktion vereinheitlicht. Januar ist ein Versehen, es muss Juni lauten. Siehe Peter H. Sawyer, Artikel „Lindisfarne“. In: RGA 18 (2001), S. 464–466. Zur Dichtung siehe The Battle of Maldon ad 991, hrsg. von Donald Scragg (Oxford 1991), und Katrin Weimann, Artikel „Battle of Maldon“. In: RGA 2 (1976), S. 93–95. Das Gedicht wurde vermutlich kurz nach dem historischen Ereignis gedichtet. Zur Funktion des ealdorman siehe Dorothy Whitelock, The Beginnings of English Society. The Pelican History of England 2 (Harmondsworth, Middlesex, 1952), S. 77–80, und Henry Royston Loyn, Artikel „Ealdorman“. In: RGA 6 (1986), S. 321–322. Heinrich Beck, Henry Royston Loyn, Artikel „Danelag“. In: RGA 5 (1984), S. 227–236.
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land und in Yorkshire auch das Altnorwegische. Die beiden Idiome waren einander sehr ähnlich; nur gelegentlich kann in altenglischen Lehnwörtern ein dänischer oder norwegischer Ursprung ermittelt werden.86 Zu den skandinavischen Sprachen ist der Abstand des Altenglischen sehr viel geringer als zu den keltischen Sprachen. Am Ende der mittelenglischen Periode erzählt Caxton eine amüsante Geschichte von einer ostanglischen Bauersfrau, die den Wunsch von Nordengländern nach egges (Eiern) nicht versteht, denn, so sagt sie, sie verstehe kein Französisch! Erst als jemand auf die Idee kommt, dass es sich bei egges um südenglisch eyren handeln könnte, wird ihr klar, was das Wort bedeutet.87 Skandinavisches egg hätte auch einem Angelsachsen, der stattdessen æˉ g [εi] sagte, Schwierigkeiten bereiten können, doch wird im Allgemeinen davon ausgegangen, dass eine Verständigung zwischen Altenglisch- und Altnordisch-Sprechern möglich war. Bei den intensiven Kontakten mit den Skandinaviern erwartet man einen nennenswerten sprachlichen Einfluss auf das Altenglische. Die Zahl der im Altenglischen belegten skandinavischen Lehnwörter ist allerdings verhältnismäßig gering, insbesondere vor der Jahrtausendwende. Die meisten von ihnen erscheinen in der Angelsächsischen Chronik und sind in der Regel aus Bereichen, die die Wikinger bzw. Skandinavier betreffen, genommen.88 Typisch ist das Vorkommen von altenglisch cnear (aus altdänisch knar bzw. altnordisch kno˛ rr); es bezeichnet einen Schiffstyp der Skandinavier in dem in der Chronik überlieferten Gedicht The Battle of Brunanburh, einem Preislied auf den Sieg des westsächsischen Königs Æthelstan über eine Konföderation von Wikingern, Schotten und Strathclyde-Briten im Jahr 937. In V. 35 heißt es cread cnear on flot ‘es trieb das Schiff auf der Flut’, wobei vom Schiff des Fürsten der Nordleute (Norðmanna bregu V. 33) die Rede ist, und in V. 53 heißt es von den besiegten Skandinaviern: Gewitan him þa 86
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Siehe dazu Eric V. Gordon, An Introduction to Old Norse, 2. Auflage rev. von Arnold R. Taylor (Oxford 1957), S. 326–329. Diese Stelle aus dem Vorwort zu Caxtons Eneydos wird zitiert in Baugh, Cable, History (wie Anm. 1), S. 195–196. Zum skandinavischen Sprachkontakt siehe Mary S. Serjeantson, A History of Foreign Words in English (London 1935), S. 61–103; Dietrich Hofmann, Nordischenglische Lehnbeziehungen der Wikingerzeit. Bibliotheca Arnamagnæana 14 (Kopenhagen 1955); Karl Brunner, Die englische Sprache. 2 Bände (Tübingen 1960), I, 85–112; John Geipel, The Viking Legacy. The Scandinavian Influence on the English and Gaelic Languages (Newton Abbot 1971); Hans Peters, Zum skandinavischen Lehngut im Altenglischen. Sprachwissenschaft 6, 1981, S. 85–124; Hans Peters, Onomasiologische Untersuchungen zum skandinavischen Lehngut im Altenglischen. Sprachwissenschaft 6, 1981, S. 169–185; Sara M. Pons-Sanz, NorseDerived Vocabulary in Late Old English Texts. Wulfstan’s Works, a Case Study. North-Western European Language Evolution, Suppl. 22 (Odense 2007).
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Norþmen nægledcnearrum ‘es fuhren dann die Nordleute auf den genagelten Schiffen weg’.89 Erst in der spätaltenglischen Zeit nimmt die Zahl der skandinavischen Lehnwörter zu; in großer Zahl sind skandinavische Lehnwörter dann im Mittelenglischen belegt, insbesondere in den Dialekten im ehemaligen Danelag-Gebiet, also im östlichen und nördlichen Mittelland und im Norden. Viele dieser Wörter sind auch im Neuenglischen noch erhalten und häufig als skandinavisch in ihrem Ursprung erkennbar: /sk/ statt /ʃ/ wie in sky oder skirt (vs. shirt aus altenglisch scyrte); Verschärfung westgermanischer Vokalisierung von urgermanisch geminiertem /j/ und /w/ wie in egg (vs. altenglisch æˉ g [εi]) oder ugly zu an. uggr (vs. altenglisch ege, mit ablautendem und umgelautetem Stamm),90 /ei/ statt /a:/ aus urgermanisch /ai/ wie in hail (vs. altenglisch hāl wie in neuenglisch whole) und anderes. Daneben haben sich im Mittelenglischen auch Funktionswörter skandinavischen Ursprungs von den nördlichen Dialekten aus in den Süden verbreitet und sind dann in die spätere Schriftsprache eingegangen. Beispiele sind die Personalpronomina ne. they und them, das Possessivpronomen their, oder auch ein so häufiges Verbum wie take, das altenglisch niman verdrängt hat (heute nur noch in numb ‘benommen’ im Sinne von ‘erstarrt, des Gefühls beraubt’).91 Auch im Bereich der Morphologie und Syntax ist skandinavischer Einfluss in einer Reihe von Fällen plausibel gemacht worden. Die Verb-Endung -s ist bereits oben kurz diskutiert worden; auch die Relativsätze ohne Relativpronomen (contact clauses) sind nicht nur als Nachbildungen keltischer, sondern auch skandinavischer Strukturen erklärt worden.92 Darüber hinaus ist die skandinavische Präsenz in England auch durch zahlreiche Toponyme nachzuweisen.93 Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass ein englisch-skandinavischer Bilinguismus in der spätaltenglischen und frühmittelenglischen Periode die 89
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Zitiert nach The Anglo-Saxon Minor Poems (wie Anm. 47), S. 16–20. Siehe Katrin Weimann, Artikel „Battle of Brunanburh“. In: RGA 2 (1976), S. 92–93, und Henry Royston Loyn, Artikel „Brunanburh“. In: RGA 2 (1976), S. 587–588. Vgl. auch Karl Reichl, Singing the Past. Turkic and Medieval Heroic Poetry (Ithaca, New York, 2000), S. 45–60. Zu cnear siehe auch Dictionary of Old English (wie Anm. 66), s.v. cnear. Neuenglisch awe ist ebenfalls skandinavisches Lehnwort (zu an. agi). Zu Beispielen siehe englische Sprachgeschichten wie die von Baugh und Cable (wie Anm. 1) und die in Anm. 88 genannte Literatur. Speziell zur Geschichte von take siehe Alaric Rynell, The Rivalry of Scandinavian Native Synonyms in Middle English, Especially taken and nimen (Lund 1948). Vgl. dazu auch Sarah Gray Thomason, Terrence Kaufman, Language Contact, Creolization, and Genetic Linguistics (Berkeley 1988), S. 275–304. Zu den skandinavischen Orts- und Personennamen siehe den Überblick in Geipel, Viking Legacy (wie Anm. 88), S. 110–181.
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Basis für den bedeutenden skandinavischen Einfluss vor allem dann auf das Mittelenglische ist. Wie lange in England Skandinavisch gesprochen wurde, ist unsicher. Eilert Ekwall hat angenommen, dass das Skandinavische bis in das 12. Jh. gesprochen bzw. verstanden wurde, doch sind die Indizien nur begrenzt aussagekräftig.94 Man wird vor 1066 keine französischen Lehnwörter im Englischen erwarten. Einige wenige Entlehnungen sind dennoch zu verzeichnen.95 Erzbischof Wulfstan (gest. 1023) vergleicht in seinem Sermo ad Anglos die Sünder, die ihre Missetaten nicht bereuen wollen, mit den Dummköpfen þe for heora prytan lewe nellað beorgan (‘die sich wegen ihres Stolzes nicht vor Schaden schützen wollen’).96 Das Substantiv pryˉ to ist aus prūd ‘stolz‘ abgeleitet, das seinerseits aus altfranzösisch prut, prud stammt, einer Fortbildung von vulgärlateinisch prōdis ‘tüchtig’ (neufranzösisch preux).97 Den stärksten Einfluss von allen Sprachen, die in Britannien Verwendung fanden, übte auf das Altenglische das Lateinische aus. Das Lateinische führt insbesondere zur Bereicherung des Wortschatzes, doch wird auch die Syntax von lateinischen Strukturen tangiert. Der Kontakt mit dem Lateinischen führt das Altenglische zu einer sprachlich-begrifflichen Rezeption der lateinischchristlichen Kultur. Auf den lateinischen Beitrag zur altenglischen Sprache soll im Abschnitt zur Vitalität (4) näher eingegangen werden.
3 Historizität In seinen Erläuterungen zum Begriff der Historizität erwähnt der Soziolinguist Fishman das Bemühen von Sprechern einer Sprachgemeinschaft, ihrer Sprache durch Ursprungsmythen und Abstammungsgenealogien Ansehen zu verleihen. Bedas Bericht von den tribus Germaniae populis fortioribus, 94
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Siehe Eilert Ekwall, How Long Did the Scandinavian Language Survive in England? In: A Grammatical Miscellany Offered to Otto Jespersen on his Seventieth Birthday (Kopenhagen, London 1930), S. 17–30. Vgl. auch die eher skeptische Einschätzung von R.-I. Page, How Long Did the Scandinavian Language Survive in England? The Epigraphical Evidence. In: England before the Conquest. Studies in Primary Sources Presented to Dorothy Whitelock, hrsg. von Peter Clemoes, Kathleen Hughes (Cambridge 1971), S. 165–181. Zu den französischen Lehnwörtern im Altenglischen siehe Campbell, Old English Grammar (wie Anm. 30), S. 221 (§ 567). The Homilies of Wulfstan, hrsg. von Dorothy Bethurum (Oxford 1957), S. 273. Zur Etymologie siehe Oxford English Dictionary (wie Anm. 79), s.v. proud adj. & adv. und pride1. Die frühesten Belege für altenglisch pryte stammen aus dem 10. Jahrhundert; vgl. Walter Hofstetter, Der Erstbeleg von altenglisch pryte/pryde. Anglia 97, 1979, S. 172–175.
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so sehr er auf einer historischen Grundlage beruhen dürfte, kann sicherlich auch im Kontext der Schaffung von Historizität gesehen werden. Beda erwähnt im gleichen Kapitel die Brüder Hengest und Horsa, deren Genealogie zurück zu Wotan (Uoten) führe, de cuius stirpe multarum prouinciarum regium genus originem duxit. In der altenglischen Übersetzung lautet diese Stelle: Wæron ða ærest heora latteowas 7 heretogan twegen gebroðra Hengest 7 Horsa. Hi wæron Wihtgylses suna, þæs fæder wæs Witta haten, þæs fæder wæs Wihta haten 7 þæs Wihta fæder wæs Woden nemned, of ðæs strynde monigra mægða cyningcynn fruman lædde.98 Es waren zuerst ihre Führer und Heerführer zwei Brüder, Hengest und Horsa. Sie waren die Söhne des Wihtgyls; dessen Vater hieß Witta und dessen Vater Wihta und der Vater des Wihta wurde Woden genannt. Von dessen Geschlecht leitete die Königssippe vieler Völker ihre Abstammung her.
Nach den altenglischen Genealogien ist Wotan (Woden) der Stammvater aller angelsächsischen Königshäuser mit Ausnahme von Essex.99 Ein Hengest erscheint auch in der altenglischen Dichtung, und zwar im Finnsburglied, das sowohl als Fragment als auch als eine Episode im Beowulf erhalten ist. Es ist möglich, dass der Held des Liedes, der dort allerdings ein Anführer der Dänen ist, mit dem legendären Vorfahren der Kenter, die nach Beda Abkömmlinge der Jüten sind, identisch zu denken ist.100 Die Identifizierung wird dadurch erschwert, dass in der altenglischen Dichtung die germanischen Stammes- und Heldennamen, die in den Eroberungs- und Besiedlungsgeschichten eine Rolle spielen, eine im Einzelnen oft schwer deutbare Gestaltung erfahren. 98
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Miller, Ecclesiastical History (wie Anm. 28), S. 52; Colgrave, Mynors, Ecclesiastical History (wie Anm. 8), S. 50. Siehe dazu Kenneth Sisam, Anglo-Saxon Royal Genealogies. In: Proceedings of the British Academy 39 (London 1953), S. 287–348. Vgl. auch Alheydis Plassmann, Origo gentis. Identitäts- und Legitimitätsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen. Orbis mediaevalis 7 (Berlin 2006), S. 51–85. Siehe auch Kurt Ranke, Artikel „Abstammungstraditionen.“ In: RGA 1 (1973), S. 18–29; Georg Scheibelreiter, Hans Sauer, Heinrich Beck, Artikel „Genealogie“. In: RGA 11 (1998), S. 35–56 (insbesondere S. 45–53); Hans Hubert Anton, Matthias Becher, Walter Pohl, Herwig Wolfram, Ian N. Wood, Artikel „Origo Gentis“. In: RGA 22 (2003), S. 174–210 (insbesondere S. 199–203). Siehe in Beda II.5: Erat autem idem Aedilberct filius Irminrici, cuius pater Octa, cuius pater Oeric cognomento Oisc, a quo reges Cantuariorum solent Oiscingas cognominare, cuius pater Hengist, qui cum filio suo Oisc inuitatus a Uurtigerno Brittaniam primus intrauit, ut supra retulimus. Colgrave, Mynors, Ecclesiastical History (wie Anm. 8), S. 150. Vgl. John Insley, Artikel „Oiscingas.“ In: RGA 22 (2003), S. 33–38.
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Im Finnsburglied treten als Hauptprotagonisten auf: Hnæf, der seine Schwester Hildeburh bei den Friesen besucht, Finn, mit dem Hildeburh verheiratet ist, und Hengest aus der Gefolgschaft Hnæfs. Während des Besuchs bricht ein Kampf zwischen Finn und seinen Leuten und Hnæf und seinen Leuten aus, in dessen Verlauf Hnæf getötet wird. Hengest, Hnæfs Nachfolger, schließt ein Abkommen mit Finn, dass beide Seiten friedlich die Halle miteinander teilen sollten. Hengest bleibt über den Winter bei Finn, aber im Frühjahr brechen die Feindseligkeiten erneut aus. Finn wird getötet und Hengest und seine Leute kehren zusammen mit Hildeburh und einer reichen Beute in die Heimat zurück. Obwohl die Handlungslinie des Finnsburglieds im Groben klar ist, sind die Details auch dreihundert Jahre, nachdem George Hickes das Fragment in seinem Linguarum Veterum Septentrionalium Thesaurus (1705) herausgegeben hatte, schwierig zu interpretieren. Ein Problem ist die Bezeichnung der involvierten Stämme; ein anderes die rechtliche Seite (der Konflikt zwischen der Einhaltung des Friedensvertrags mit Finn und der Pflicht zur Rache von Hnæfs Tod) und im Zusammenhang damit die Gesamtinterpretation des Lieds.101 Was die ethnische Bestimmung der Konfliktparteien angeht, so wird im Fragment des Finnsburglieds von Hengest nur gesagt, dass er zusammen mit Ordlāf und Gūþlāf eine der Türen der Halle gegen die Angreifer verteidigt; ein Stamm oder Volk wird nicht genannt, mit einer Ausnahme: einer der Hallenverteidiger nennt sich Sigeferþ, Fürst der Secgan (Secgena lēod) (V. 24). In der Beowulf-Episode wird Hengest nach Hnæfs Tod der Führer der Dene (auch Healf-Dene) oder der Scyldinge (auch Here-Scyldinge). Es handelt sich offensichtlich um Dänen; allerdings ist unsicher, was ‚Halb-Dänen‘ zu bedeuten hat.102 Finn wird in der Episode als Führer der Friesen (Frēsena cyn, Fryˉ sna) bezeichnet; es ist auch die Rede von der ‘Friesen-Wallstatt’ (Frēswæl V. 1070). Wie Hengest erscheint Finn in den Genealogien der altenglischen Königshäuser, und zwar in der Ahnenreihe zwischen Woden und Geat.103 In der Finnsburg-Episode des Beowulf werden die Feinde der Dänen (oder Halb-Dänen) nicht nur Friesen, sondern auch Ēote ‘Jüten’ bzw. bearn Ēotena ‘Söhne der Jüten’ genannt.104 Ist die Bezeichnung der Friesen als 101
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Zum Finnsburglied siehe die Diskussion und Neuausgabe des Fragments in Klaeber’s Beowulf (wie Anm. 52), S. 273–290. Vgl. auch J. R. R. Tolkien, Finn and Hengest. The Fragment and the Episode, hrsg. von Alan Bliss (London 1982); Karl Reichl, Artikel „Finnsburglied“. In: RGA 9 (1995), S. 109–112; Thomas Honegger, Artikel „Hengest und Finn, Horsa“. In: RGA 14 (1999), S. 386–391. Vgl. auch die Interpretation in Reichl, Singing the Past (wie Anm. 89), S. 86–100. Siehe dazu Tolkien, Finn und Hengest (wie Anm. 101), S. 37–45. Siehe dazu Sisam, Genealogies (wie Anm. 99), S. 307–314. Für bearn Ēotena wurde auch die Lesung bearn eotena ‘Söhne der Riesen’ (zu
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Jüten ein Irrtum? Waren Friesen und Jüten miteinander verbündet? Gab es sowohl auf der friesischen wie auf der dänischen Seite Jüten, wie Tolkien vermutet hatte? Auch die von Richard North vorgelegte Interpretation des Finnsburgliedes geht von der Annahme aus, dass es auf beiden Seiten Jüten gab. Nach North sind die ‚Halb-Dänen‘ unter Hnæf die Leibgarde des Friesenkönigs Finn. Sie heißen deshalb Halb-Dänen, weil es sowohl dänische Scyldinge als auch Jüten unter ihnen gibt. Finn greift aus Despotenwahn seine eigene Leibgarde an; zugleich will er die Loyalität der Jüten auf der Seite der Friesen erproben. Während Hnæf ein Scylding ist, ist Hengest, der nach seinem Tod Anführer wird, ein Jüte. Er übergibt den Oberbefehl an den Scylding Hunlafing (in einem symbolischen Akt, der ein Schwert involviert) und kann so Finn ohne Verletzung des mit ihm geschlossenen Friedensvertrags beim Festmahl ermorden.105 Norths Interpretation zeigt, wie schon vorher die von Tolkien, dass der schillernde Gebrauch von Stammesnamen in der altenglischen Dichtung geradezu dazu verführt, spekulative Hypothesen zur Erklärung zu entwickeln. Dabei wird die verwirrende Inbezugsetzung von Friesen und Jüten in der Finnsburg-Episode noch dadurch kompliziert, dass der Stammesname der Jüten im Altenglischen unterschiedlich wiedergegeben wird. In der von König Alfred im 9. Jh. veranlassten Übersetzung von Bedas Kirchengeschichte heißt es in Buch IV, Kapitel 16, für lat. Iutarum (Iutorum) altenglisch Ytena bzw. Eota; ähnlich finden wir im Widsiþ den Stammesnamen Yte.106 In Bedas Buch I, Kapitel 15, dagegen werden die Jüten mit Geatas übersetzt: „Comon hi of þrim folcum ðam strangestan Germanie, þæt of Seaxum 7 of Angle 7 of Geatum.“107 Der Stammesname Geatas kommt in der altenglischen Dichtung ansonsten im Widsith und im Beowulf vor und wird in der Regel mit den südschwedischen Gauten (Gøtar) identifiziert. Es
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eoten ‘Riese’) vorgeschlagen; siehe Robert E. Kaske, The Eotenas in Beowulf. In: Old English Poetry. Fifteen Essays, hrsg. von Robert P. Creed (Providence, Rhode Island 1967), S. 285–310. Siehe Richard North, Tribal Loyalties in the Finnsburh Fragment and Episode. Leeds Studies in English 21, 1990, S. 13–43; Richard North. Is There More Like Beowulf ? Old English Minor Heroic Poems. In: Beowulf & Other Stories (wie Anm. 24), S. 95–129. Siehe Colgrave, Mynors, Ecclesiastical History (wie Anm. 8), S. 382, 384; Miller, Ecclesiastical History (wie Anm. 28), S. 308 (Eota lond). Die Form Yte ist westsächsisch, die Form Eote anglisch. Zu Yte im Widsith (ond Ytum Gefwulf, ‚und über die Jüten [herrschte] Gefwulf‘, V. 26b) siehe R. W. Chambers, Widsith. A Study in Old English Heroic Legend (Cambridge 1912), S. 237–241; Widsith, hrsg. von Kemp Malone (Kopenhagen 1962), S. 215–216. „Sie kamen von den drei stärksten Völkern Germanias, nämlich von den Sachsen, den Angeln und den Jüten.“ Miller, Ecclesiastical History (wie Anm. 28), S. 52.
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ist unbezweifelbar, dass Geatas im altenglisch Beda ‚Jüten‘ bedeutet. Soll das heißen, dass auch die Geatas des Beowulf Jüten sind? Diese Meinung wurde zwar vertreten, findet in der heutigen Forschung jedoch keine Anhänger mehr. Dennoch wird auch heute noch die Diskussion um die Identität der Geatas im Beowulf kontrovers geführt. Bei dieser Diskussion darf sicherlich nicht außer Acht gelassen werden, dass die historische Überlieferung zum guten Teil mündlich verlaufen ist (man denke an Merkdichtungen wie den Widsith), was unweigerlich zu Veränderungen im Gebrauch von Völker- und Stammesnamen geführt hat, die nicht immer eine restlose Klärung ermöglichen.108 Mit der komplexen Frage der Stammesbezeichnungen in der angelsächsischen Historiographie und insbesondere in der Dichtung ist ein Problem gegeben, das offensichtlich mit dem Eigenverständnis der Angelsachsen als Ethnie und als Sprachgemeinschaft eng verbunden ist. Es ist vor allem die heroische Dichtung der Angelsachsen, in der ein deutlicher Bezug zum ‚germanischen Erbe‘ hergestellt wird. Dieses Erbe wird allerdings zum Teil aus christlicher Perspektive präsentiert. Dies gilt vor allem für das Heldenepos Beowulf, aber auch für die anderen Zeugnisse für das Fortleben der altgermanischen Dichtungstradition bei den Angelsachsen. Die altgermanische Tradition scheint aber am Ende der altenglischen Zeit bereits in Vergessenheit zu geraten; in der mittelenglischen Dichtung hat sie keine Nachblüte wie etwa im deutschen Sprachraum gefunden.109 Auf die altenglische Dichtung und ihr germanisches Erbe kann im gegebenen Kontext nicht weiter eingegangen werden; es sollte hier nur kurz der Aspekt der Historizität im soziolinguistischen Sinn am Altenglischen illustriert werden.110
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Die Untersuchung von Jane Acomb Leake, The Geats of Beowulf. A Study in the Geographical Mythology of the Middle Ages (Madison/Wisconsin 1967), wurde in der Forschung viel kritisiert. Siehe George V. Smithers, The Geats in Beowulf. The Durham University Journal 63 (NS 32), 1971, S. 87–103. Vgl. auch Robert Nedoma, Artikel „Gauten- und Schwedensagen“. In: RGA 10 (1998), S. 487–495. Siehe auch Thorsten Andersson, Artikel „Gøtar“. In: RGA 12 (1998), S. 278–283. Chambers schreibt in seiner Widsith-Ausgabe (wie Anm. 106): „In England there is evidence that even before the Norman conquest the heathen heroes were being forgotten … .“ (S. 57). Vgl. auch die Artikel im RGA: Th. Finkenstaedt, Robert T. Farrell, Rosemary J. Cramp, „Beowulf“, RGA 2 (1976), S. 337–344; Klaus R. Grinda, „Deor“, RGA 5 (1984), S. 315–319; Karl Reichl, Gert Kreutzer, „Elegie“, RGA 7 (1989), S. 130– 136; Christoph Landolt, „Ingeld“, Band 15 (2000), S. 418–420; Heinrich Beck, „Walther und Hildegund“, RGA 35 (2007) S. 612–614; Klaus Dietz, „Widsith“, RGA 33 (2006), S. 573–577.
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4 Vitalität Das Altenglische ist ‚vital‘ im Sinne der Soziolinguistik nicht nur, weil es eine lebende, gesprochene Sprache war, sondern vor allem auch deshalb, weil es die vielfältigen Funktionen einer Sprache sowohl im mündlichen wie auch schriftlichen Gebrauch erfüllte. Der Übergang von der Oralität zur Schriftlichkeit wird im Bezug auf das Altenglische häufig im Rahmen der Dichtung diskutiert. Hier stellt sich die Frage, inwieweit nur in schriftlicher Form erhaltene Dichtungen wie der Beowulf auf einer mündlichen Tradition basieren, wie diese mündliche Tradition im Einzelnen zu verstehen ist und welche Auswirkungen eine Kenntnis dieses mündlichen Milieus auf die Interpretation dieser Werke hat. Die Tatsache, dass alle Spuren einer mündlichen Dichtung, wenn sie erhalten sind, nur durch ihre schriftliche Fixierung bewahrt wurden, ermöglicht nur einen indirekten Zugang zur angelsächsischen Oralität. Dies bedeutet zugleich, dass Mündlichkeit immer ein Konstrukt ist, dessen Gültigkeit in jedem Einzelfall nachzuweisen ist und auch immer wieder bezweifelt werden kann. Bei der schriftlichen Fixierung mündlich vorgetragener, tradierter und gedichteter Werke ist zwischen einem transkriptartigen Niederschreiben und einer Adaptation an das Medium der Schrift zu unterscheiden. Im ersteren Fall wird häufig von Verschriftung, im letzteren von Verschriftlichung gesprochen.111 Ein in einer mündlichen Tradition stehender Dichter ist ganz sicherlich Caedmon; der Bericht Bedas über das Dichten des illiteraten Caedmon, dem man die biblischen Geschichten erzählte und der sie dann in „ein überaus wohlklingendes Lied verwandelte“ (in carmen dulcissimum convertebat, in þæt sweteste leoþ gehwerfde), lässt keinen Zweifel daran.112 Allerdings sind die erhaltenen altenglischen Bibelepen kaum als Transkripte der Worte Caedmons aufzufassen; sie werden von der heutigen Forschung auch nicht mehr mit Caed111
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Siehe Wulf Oesterreicher, Verschriftung und Verschriftlichung im Kontext medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit. In: Schriftlichkeit im frühen Mittelalter, hrsg. von Ursula Schaefer. ScriptOralia, 53 (Tübingen 1993), S. 267–292. Vgl. auch Wolfgang Raible, Heinrich Beck, Artikel „Mündlichkeit und Schriftlichkeit“. In: RGA 20 (2002), S. 308–314. Colgrave, Mynors, Ecclesiastical History (wie Anm. 8), S. 416; Miller, Ecclesiastical History (wie Anm. 28), S. 346. Zur Interpretation dieser Geschichte siehe Francis P. Magoun, Jr., Bede’s Story of Cædman: the Case History of an Anglo-Saxon Oral Singer. Speculum 30, 1955, S. 49–63; G. A. Lester, The Cædmon Story and its Analogues. Neophilologus 58, 1974, S. 225–237; Donald K. Fry, The Memory of Cædmon. In: Oral Traditional Literature: A Festschrift for Albert Bates Lord, hrsg. von John Miles Foley (Columbus, OH, 1981), S. 282–293. Vgl. auch den RGA-Artikel „Caedmon“ (wie Anm. 31).
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mon in Verbindung gebracht. Sie greifen zwar auf die traditionellen und ursprünglich sicherlich in der Mündlichkeit verankerten Formen des angelsächsischen Dichtens zurück (formelhafte Diktion, typische Szenen, Variation, Metaphorik, metrische Strukturen u.a.), sind aber auch von der Schriftlichkeit, nicht zuletzt in ihrem gelehrten Beiwerk, geprägt.113 Dies trifft auch auf den Beowulf zu, der stoffmäßig auf die altgermanische Welt des 6. Jahrhunderts zurückblickt, dessen Genese wohl in einer mündlichen Dichtungstradition liegt, der aber in der uns erhaltenen Gestalt, mit seinen zahlreichen christlichen Elementen, auf einen Prozess der Verschriftlichung deutet. Wie das Verhältnis zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit beim Beowulf im Einzelnen zu denken ist, ist wie vieles andere bei diesem Epos (wie z.B. die Datierung) ein wohl kaum lösbarer Streitpunkt.114 Die angelsächsische Forschung hat darauf hingewiesen, dass die altenglische Dichtung weitgehend für den mündlichen Vortrag bestimmt war, was sich zum Teil aus den handschriftlichen Texten erkennen lässt.115 Werke, die zwar in schriftlicher Form vorliegen, aber in einem oralen Milieu zu platzieren sind, haben eine eigenartige Zwischenstellung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit; man spricht in der Forschung auch von inscribed texts, von Texten, in die ihre ursprüngliche Vokalität ‚eingeschrieben‘ ist.116 4.1 Schrift Was den schriftlichen Sprachgebrauch als solchen angeht, so hat der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit streng genommen schon vor der germanischen Landnahme stattgefunden, denn, wie R. W. Burchfield, der langjährige Herausgeber des Oxford English Dictionary, schreibt: „Most of the newcomers were illiterate but their rune-masters brought with them an alphabet, widely distributed throughout Europe, called the runic alphabet […], which they scratched or carved on many objects as indications of ownership or of fabrication, or for some other purpose.“117 Die altenglischen 113
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Zu den altenglischen Bibelepen und religiösen Epen siehe Dieter Kartschoke, Karl Reichl, Jürg Glauser, Artikel „Frühchristliche Dichtung“. In: RGA 10 (1998), S. 138–160, insbesondere S. 148–152; I. B. Milfull, Ásdís Egilsdóttir, Artikel „Religiöse Dichtung“. In: RGA 24 (2003), S. 418–429, insbesondere 418–424. Zu einem Überblick über die Forschung siehe A Beowulf Handbook, hrsg. von Robert E. Bjork, John D. Niles (Lincoln, NE, 1996; Exeter 1997). Siehe Katherine O’Brien O’Keeffe, Visible Song: Transitional Literacy in Old English Verse. Cambridge Studies in Anglo-Saxon England 4 (Cambridge 1990). Siehe Carol Braun Pasternack, The Textuality of Old English Poetry (Cambridge 1995); Ursula Schaefer, Vokalität. Altenglische Dichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. ScriptOralia 39 (Tübingen 1992). The English Language (Oxford 1985), S. 7. Zu den rune-masters siehe François-
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Runen können sowohl nach Skandinavien als auch auf den Kontinent zurückverfolgt werden; Ray I. Page stellt fest, dass es zwei Linien gibt, „one from North Germanic territories, and one from West Germanic and probably direct from Frisia. It was the second of these that was to be fruitful.“118 Unter den wichtigsten Runendenkmälern aus dem angelsächsischen England sind vor allem zu nennen die Runeninschrift auf dem Ruthwell Cross in Dumfriesshire, ein früher Textzeuge des altenglischen Dream of the Rood,119 und die Inschriften auf dem Franks Casket oder Runenkästchen von Auzon. Speziell das Runenkästchen gibt der Forschung noch viele Rätsel auf, nicht so sehr was die Runeninschriften als vielmehr was die Interpretation der bildlichen Darstellungen, insbesondere auf der rechten Seite (‚Florentiner Herhos-Platte‘), betrifft.120 Auch ein Gedicht mit den Runenzeichen bzw. ihrem Namen ist aus der angelsächsischen Zeit überliefert.121 Für die Genese der englischen Sprache sind drei Aspekte der Runenschrift von Bedeutung:122 (1) Die Runen bieten eine erste Möglichkeit der Verschriftlichung des Altenglischen auf der Basis einer alphabetischen Schrift (die ihrerseits wohl aus einer nord-italischen Schrift abzuleiten ist).123 (2) Die Runenschrift spiegelt dabei die altenglischen phonologischen
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Xavier Dillmann, Artikel „Runenmeister“. In: RGA 25 (2003), S. 537–546. Natürlich kann hier von Schriftlichkeit nur im engen Sinn von „über eine Schrift verfügen“ die Rede sein. Ray I. Page, An Introduction to English Runes (London 1973), S. 21. Das ‚Traumgedicht vom Kreuz‘ ist im Vercelli-Buch überliefert; fragmentarisch ist es auch auf dem Brussels Cross zu finden, allerdings in lateinischen Buchstaben. Siehe Hawkes, McKinnell, Artikel „Ruthwell Cross“ (wie Anm. 35); Rosemary J. Cramp, Artikel „Bewcastle Cross“. In: RGA 2 (1976), S. 482–483. Vgl. auch Fred Orton, Ian Wood, Clare A. Lees, Fragments of History. Rethinking the Ruthwell and Bewcastle Monuments (Manchester 2007). Siehe dazu Hauck, Krause, Beck, Artikel „Auzon, das Bilder- und Runenkästchen“ (wie Anm. 44). Zu weiteren Interpretationen siehe unter anderem Alfred Becker, Franks Casket. Zu den Bildern und Inschriften des Runenkästchens von Auzon. Sprache und Literatur 5 (Regensburg 1973); Ute Schwab, Franks Casket. Fünf Studien zum Runenkästchen von Auzon, hrsg. von Hasso C. Heiland (Wien 2008). Das Rune Poem ist ediert in Anglo-Saxon Minor Poems (wie Anm. 47), S. 28–30. Vgl. auch Alessia Bauer, Artikel „Runengedichte“. In: RGA 25 (2003), S. 519– 524, insbesondere S. 521–522; siehe auch Hans-Peter Naumann, „Runendichtung“. In: RGA 25 (2003), S. 512–518. Zu den Runen vgl. die RGA-Artikel von Klaus Düwel „Runen und Runendenkmäler“. In: RGA 25 (2003), S. 499–512; Klaus Düwel, „Runeninschriften“, ebd. S. 525–537; Klaus Düwel, „Runenschrift“, ebd. S. 571–587; vgl. auch den Abschnitt „History of the Anglo-Saxon and Frisian fuþorc“ von Alfred Bammesberger, David Parsons im Artikel „Runenreihen“. In: RGA 25 (2003), S. 562–571, hier S. 564–567. „Only three main theories concerning the origin of the fuþark have ever merited se-
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Verhältnisse (durch die Einführung von neuen Zeichen für altenglische Laute) wider.124 In der Runenschrift lassen sich auch dialektale Eigenheiten darstellen (Ruthwell Cross, Franks Casket im nordhumbrischen Dialekt, Chessel Down Schwert im kentischen Dialekt).125 (3) Aus dem Runenalphabet wurden zwei Schriftzeichen in die angelsächsische Lateinschrift übernommen, die Thorn- ( ) und die Wyn-Rune ( ), von denen sich das Thorn (Þ, þ) bis in das Frühneuenglische gehalten hat (in der Abkürzung þt für þat = that), das Wyn bis in das Frühmittelenglische (es ist noch in Texten des 13. Jahrhunderts zu finden). Die Lateinschrift fanden die Germanen auf den britischen Inseln bereits vor; sie übernahmen sie im Zuge ihrer Bekehrung zum Christentum. In der Paläographie werden verschiedene Schriften unterschieden, von der durch keltische Vermittlung verbreiteten insularen Halbunziale und Minuskel im 7. Jh. bis zur angelsächsischen Minuskel des 10. und 11. Jahrhunderts. In der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts wurde die karolingische Minuskel in England eingeführt, doch nur begrenzt benutzt: „Even then the English were reluctant to relinquish their own scriptual identity and used Caroline for texts in Latin and their own minuscule for Old English, often side by side in bilingual translations – the ultimate English solution to ‚Europeanism‘.“126 Wie bereits erwähnt, werden in der angelsächsischen Schrift für volkssprachliche Texte zusätzlich zu den Buchstaben des Lateinischen die beiden Runen Thorn und Wyn benutzt; daneben wird für den interdentalen Reibelaut neben Thorn auch benutzt, wobei es zwischen beiden Zeichen keinen Unterschied im Bezug auf die Lautung gibt. Monophthonge werden durch einzelne Buchstaben oder auch durch Ligaturen wie bei bzw. Buchstabenkombinationen wie bei bezeichnet, Diphthonge in der Regel durch zwei Vokale. Längen werden nur gelegentlich in den Handschriften angegeben und durch einen Akzent über dem Vokal bezeichnet.
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rious consideration: those suggesting respectively Latin, Greek, and Northern Italic origin. It is probably correct to say that the last today commands most adherents….“ Ralph W. V. Elliott, Runes. An Introduction (Manchester 1959), S. 3. Vgl. auch Old English Runes and their Continental Background, hrsg. von Alfred Bammesberger. Anglistische Forschungen 217 (Heidelberg 1991). Siehe Elliot, Runes (wie Anm. 123), S. 39; Page, Introduction to English Runes (wie Anm. 118), S. 44. Siehe dazu Elliott, Runes (wie Anm. 123), S. 88–89. Michelle P. Brown, The British Library Guide to Writing and Scripts. History and Techniques (London 1998), S. 83. Zur angelsächsischen Schrift vgl. auch dies., A Guide to Western Historical Scripts from Antiquity to 1600 (London 1990), S. 48– 65, sowie dies., The Lindisfarne Gospels (wie Anm. 44). Vgl. auch Bernhard Bischoff, Paläographie des römischen Altertums und des europäischen MittelalterS. 2. Auflage (Berlin 1986), S. 122–129.
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4.2 Altenglisch und Latein Die Übernahme der Lateinschrift ist eng mit der Christianisierung der Angelsachsen verbunden. Der Prozess der Bekehrung mit seinen weitreichenden religiösen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Folgen braucht hier nicht nachgezeichnet zu werden.127 Sprachlich bedeutet der Kontakt mit der römischen und der lateinisch-christlichen Welt eine Bereicherung vor allem des Wortschatzes. Dieser Kontakt setzt bereits auf dem Kontinent ein und ist in einer ältesten Schicht lateinischer Lehnwörter im Altenglischen nachzuweisen. Zu den Entlehnungen, die bereits auf die Zeit vor der Eroberung und Besiedlung Britanniens durch die Germanen zurückgehen, gehören auch griechische Lehnwörter, die möglicherweise direkt an das Gotische und von dort an andere germanische Völker vermittelt wurden oder über das Lateinische in die germanischen Sprache kamen. Die direkte Entlehnung aus dem Griechischen ist allerdings umstritten; zum Kreis dieser frühen griechischen Lehnwörter gehören altenglisch cyrice ‘Kirche’ (zu griech. τò κυριακόν ‘das [Haus] des Herrn’) und altenglisch dēofol ‘Teufel, Dämon’ (zu griech. διάβολος).128 In den Handbüchern werden in der Regel zwei weitere Schichten lateinischer Lehnwörter im Altenglischen unterschieden: frühe Lehnwörter, von denen einige, wie bereits erwähnt, über keltische Vermittlung ins Altenglische kamen (wie z.B. altenglisch stæˉ r ‘Geschichte’) und späte Lehnwörter, die vor allem im Zusammenhang mit der Benediktinerreform im 10. Jh. Aufnahme in die englische Sprache fanden.129 Die Notwendigkeit, den Wortschatz für neue mit dem Christentum und auch der Bekanntschaft mit dem antiken Erbe verbundene Begriffe und Vorstellungen zu öffnen, führte nicht nur zur Adoption lateinischer Lehnwörter, sondern auch zur Schaffung von Lehnbildungen, Übersetzungen und Nachahmungen lateinischer Wörter mit Hilfe einheimischer sprachlicher Mittel. 127
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Siehe dazu insbesondere den Abschnitt „III. England und Schottland“ von Knut Schäferdiek im Artikel „Bekehrung und Bekehrungsgeschichte“. In: RGA 2 (Berlin/ New York 1976), S. 175–205, hier S. 188–193, und den Abschnitt „Gebrauch der Volkssprachen in der christlichen Bekehrung“ von Heinrich Beck im Artikel „Christentum und Bekehrungszeit“. In: RGA 4 (1981), S. 501–599, hier S. 577–585. Siehe dazu die umfassende Diskussion in Anna Helene Feulner, Die griechischen Lehnwörter im Altenglischen. Texte und Untersuchungen zur Englischen Philologie 21 (Frankfurt am Main 2000), S. 17–34, 185–188 (cyrice), 192–195 (dēofol, dīofol). Zu den lateinischen Lehnwörtern im Altenglischen siehe Campbell, Old English Grammar (wie Anm. 30), S. 199–220 (§ 491–565); Baugh, Cable, History (wie Anm. 1), S. 77–92; Kastovsky, Semantics and Vocabulary (wie Anm. 71), S. 301– 317. Vgl. auch den Abschnitt „Das Beispiel des Altenglischen“ im RGA-Artikel „Fremde Einflüsse im Germanischen“ (wie Anm. 78).
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Nach Werner Betz kann man beim Lehngut zwischen dem Lehnwort und der Lehnprägung unterscheiden; letztere lässt sich in die Lehnbildung und die drei Kategorien Lehnwendung, Lehnbedeutung und Lehnsyntax unterteilen.130 Unter einer Lehnwendung ist die Nachbildung eines Phraseologismus der Fremdsprache in der eigenen Sprache zu verstehen.131 Betz gibt als Beispiel deutsch ‘jemandem den Hof machen’ nach französisch faire la cour à quelqu’un. Für das Altenglische könnte man an die Kollokation on scead(uw)e dēaðes ‘im Schatten des Todes’ denken, wie in der altenglischen Übersetzung von Lukas 1.79: Onlihtan þam þe on ðystrum and on deaðes sceade sittað, ‘denen zu leuchten, die im Dunkeln und im Schatten des Todes sitzen’. Die Vulgata hat: Illuminare his qui in tenebris et in umbra mortis sedent, zweifelsohne eine Anspielung auf Psalm 106.10 (VulgataZählung, hebr. 107.10), sedentes in tenebris et umbra mortis, wobei umbra mortis das hebräische Kompositum tsalmaveth ( ), ‘Todesschatten’ 132 nachahmt. Im Altenglischen kommt die Kollokation in den Übersetzungen oder Glossierungen verschiedener Bibelstellen mit umbra mortis vor, allerdings auch in der homiletischen Literatur und in der Dichtung Christ, wo es in V. 115–118 in biblischer Paraphrase heißt: þæt ðu inleohte þa þe … in þeostrum her, sæton sinneahtes … deorc deaþes sceadu dreogan sceoldan (‘dass du diejenigen erleuchten mögest, die … hier im Dunkeln, in ewiger Nacht saßen, … den dunklen Schatten des Todes ertragen mussten’).133 Unter der Lehnbedeutung ist die Beeinflussung der semantischen Komponenten eines Wortes durch die eines Fremdwortes gemeint. Haben die beiden Wörter Ähnlichkeiten in ihrer Bedeutung, so spricht Helmut Gneuss von analoger Lehnbedeutung; ist eine Ähnlichkeit nicht gegeben, so spricht 130
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Siehe Werner Betz, Der Einfluß des Lateinischen auf den althochdeutschen Sprachschatz. I. Der Abrogans (Heidelberg 1936). Andere Gliederungen wurden vorgeschlagen, so etwa von Einar Haugen, The Analysis of Linguistic Borrowing. Language 26, 1950, S. 210–231; vgl. Els Oksaar, Terminologie und Gegenstand der Sprachkontaktforschung. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur deutschen Sprachgeschichte und ihrer Erforschung, hrsg. von Werner Besch, Anne Betten, Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger. 2. Auflage, 4 Bände (Berlin2004), S. 3160–3171. Zum Begriff der Lehnwendung vgl. Czaba Földes, Phraseologismen und Sprichwörter im Kontext von Mehrsprachigkeit und Transkulturalität: eine empirische Studie. Proverbium 24, 2007, S. 119–152. Die altenglische Evangelienübersetzung ist zitiert aus The Old English Versions of the Gospels (wie Anm. 56), S. 101. Zum hebräischen Wort siehe Wilhelm Gesenius’ hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, bearbeitet von Frants Buhl. 17. Auflage (Berlin 1915; Nachdr. 1962), S. 684. Zitiert aus The Exeter Book, hrsg. von George Philip Krapp, Elliott Van Kirk Dobbie. Anglo-Saxon Poetic Records 3 (New York 1936), S. 6. Zu dieser Kollokation siehe auch Dictionary of Old English (wie Anm. 66), s.v. dēað, Bedeutung 7.c.i.
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er von substituierender Lehnbedeutung. Ein Beispiel für die analoge Lehnbedeutung ist altenglisch synn, das durch die Übernahme des christlichen Sündenbegriffs aus lat. peccatum die Bedeutungskomponente ‘Sünde (im christlichen Verständnis)’ annahm, wobei jedoch, wie Gneuss betont, aus den altenglischen Texten nicht immer eindeutig zu erschließen ist, wann ursprüngliche Bedeutungskomponenten wie ‘Beleidigung, Feindseligkeit’ noch weiterwirken. Substituierende Lehnbedeutung liegt bei der Bedeutung ‘Jünger’ nach lat. discipulus in altenglisch cniht ‘junger Mann, Krieger’ vor.134 Auch syntaktisch hat das Lateinische auf das Altenglische gewirkt, vor allem durch die ausgiebige Übersetzertätigkeit zuerst durch König Alfred und seinen Kreis, dann durch Dunstan, Æthelwold und Oswald im 10. Jh.135 Auf lateinischen Einfluss geht die Konstruktion mit dem absoluten Partizip zurück, auf jeden Fall dann, wenn im Altenglischen das Subjekt der Konstruktion im Dativ (bzw. Instrumentalis) als Entsprechung zum Ablativ des lat. ablativus absolutus steht. Als Beispiel möge eine Passage aus Lukas (3.15–16) in der westsächsischen Evangelienübersetzung dienen: Soðlice þam folce wenendum and eallum on hyra heortan þencendum be Iohanne hwæþer he Crist wære, ða andswarude Iohannes him, eallum secgende: Witodlice ic eow on wætere fullige ….136 Wahrlich als das Volk glaubte und alle in ihrem Herzen dachten über Johannes, ob er Christus sei, da antwortete ihnen Johannes und sagte allen: Sicherlich taufe ich euch mit Wasser….
Hier übersetzt die altenglisch Partizipial-Konstruktion þam folce wenendum and eallum … þencendum die lat. absoluten Ablative: existimante autem populo et cogitantibus omnibus.137 Im folgenden Kapitel heißt es in V. 20:138 … and ealra heora eagan on þære gesamnunge wæron on hyne behealdende. … und aller Augen in dieser Versammlung blickten auf ihn. 134
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Siehe Helmut Gneuss, Lehnbildungen und Lehnbedeutungen im Altenglischen (Berlin 1955), S. 20–31. Vgl. oben Anm. 48. The Old English Versions of the Gospels (wie Anm. 56), S. 105 (Großschreibung und Interpunktion leicht verändert). Zum absoluten Partizip im Altenglischen siehe Brunner, Die englische Sprache (wie Anm. 88), II, 381; Manfred Scheler, Altenglische Lehnsyntax. Die syntaktischen Latinismen im Altenglischen (Diss. Berlin 1961), S. 68–88; Mitchell, Old English Syntax (wie Anm. 54), II, 914–940 (§ 3803–3846). The Old English Versions of the Gospels (wie Anm. 56), S. 106.
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Die Konstruktion wæron behealdende mit dem Verbum ‚sein‘ und dem Präsenspartizip des Verbum behealdan übersetzt lat. erant intendentes (Et omnium in synagoga oculi erant intendentes in eum). Hier liegt ein frühes Vorkommen der englischen Verlaufsform vor, die im Altenglischen vor allem in der Prosa und hier häufig in der Übersetzungsliteratur anzutreffen ist. Die Form ist deutlich aus dem Lateinischen (wo sie ihrerseits auf das neutestamentliche Griechisch zurückgeht)139 entlehnt. Diese Verwendungsweise geht allerdings im Mittelenglischen wieder verloren; die moderne continuous form entwickelt sich erst in der mittelenglischen Zeit.140 Die Lehnbildung hat ihrerseits drei Unterkategorien, nämlich Lehnübersetzung, Lehnübertragung und Lehnschöpfung. Es handelt sich hier um Grade der Genauigkeit, mit der ein fremdes Wort mit den Mitteln der eigenen Sprache nachgebildet wird. Die Lehnübersetzung ist eine möglichst exakte Nachahmung des Modells, die Lehnschöpfung eine freie Nachbildung, die Lehnübertragung steht in der Mitte. In vielen Fällen ist es schwierig, die Lehnbildung in die eine oder andere Kategorie eindeutig einzuordnen.141 Ein Beispiel für eine Lehnübersetzung ist altenglisch mildheortnes für lat. misericordia. Hier entspricht dem Morphem -cord- (zu cor, cordis ‘Herz’) englisch heort ‘Herz’ und dem Abstrakta bildenden Suffix -ia im Altenglischen das Suffix -nes. Freier ist dagegen die Umsetzung von miser ‘elend’ als mild; das Wort könnte auch als Lehnübertragung angesehen werden.142 Neben mildheortnes gab es im Altenglischen auch die Substantive milts und miltsung, Ableitungen von milde und gleichbedeutend mit mildheortnes. Im Rahmen der angelsächsischen Mission gelangten manche dieser Bildungen auch auf den Kontinent. „Für die Sippe misericors, misericordia, misereri findet sich im althochdeutschen ‚Tatian‘ miltherzî, miltida und milten, ganz im Einklang mit dem angelsächsischen Sprachgebrauch,“ schreibt Hans Eggers.143 Allerdings wurden diese Wörter später durch Lehnbildungen aus dem Süddeutschen (irbarmida, barmherzî) verdrängt. Letztere Bildungen 139 140
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Es heißt dort ἦσαν ἀτενίζοντες ‘sie waren fest anschauend’. Siehe dazu Quirk, Wrenn, Old English Grammar (wie Anm. 59), S. 80; Brunner, Die englische Sprache (wie Anm. 88) II, 364–379 (Überblick über die Gesamtentwicklung); Scheler, Altenglische Lehnsyntax (wie Anm. 137), S. 40–68; Mitchell, Old English Syntax (wie Anm. 54), I, 272–280 (§ 682–701). Zu einer ausführlichen Untersuchung des Lehnguts im altenglischen VespasianPsalter siehe Gneuss, Lehnbildungen und Lehnbedeutungen (wie Anm. 134). Wie Helmut Gneuss feststellt: „OE mildheortness is a skilful rendering of Latin misericordia (‚mercy‘), but mild is not precisely equivalent to Latin miser ‚miserable‘.“ Gneuss, The Old English Language (wie Anm. 50), S. 43. Siehe auch Gneuss, Lehnbildungen und Lehnbedeutungen (wie Anm. 134), S. 67. Hans Eggers, Deutsche Sprachgeschichte. I. Das Althochdeutsche (Reinbek, 1963), 166.
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sind im Deutschen erhalten geblieben, im Englischen jedoch verloren gegangen; bereits im Frühmittelenglischen werden entsprechende Begriffe durch französische Lehnwörter – in diesem Fall durch mercy – verdrängt.144 Ein typischer Fall ist aus der frühmittelenglischen Juliana die Kollokation Milce ant merci, bei der das neue Wort durch das alte eingeführt wird.145 V. 6 von Psalm 25 (Vulgata 24) mag den Kontrast zwischen Altenglisch und Neuenglisch kurz illustrieren. Die Vulgata hat Reminiscere miserationum tuarum domine et misericordiarum tuarum quae a saeculo sunt, was im Vespasian-Psalter übersetzt wird als: Gemyne mildsa ðinra dryhten 7 mildheortnis ðin ða from werulde sind.146 Milts (G miltsa, mildsa) übersetzt mi) und mildheortnis misericordia seratio (im Hebräischen rechamim ). Die King James Bible hat (nach Coverdale (im Hebräischen chesed 1535): Call to remembraunce, O Lorde, thy tender mercyes & thy louinge kyndenesses, which haue bene euer of olde.147 In Coverdales Übersetzung findet sich der Erstbeleg für loving-kindness, das misericordia (chesed) übersetzt, zugleich hat sich mercy für den synonymen Begriff miseratio (rechamim) durchgesetzt. Dagegen heißt es in der Lutherbibel mit aus dem Althochdeutschen ererbtem Wortbestand: Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von der Welt her gewesen ist.148 Auf lateinischen Einfluss ist auch die erste Grammatik in einer germanischen Sprache zurückzuführen, Ælfrics in Altenglisch verfasste Lateingrammatik. Von Ælfric von Eynsham sind zahlreiche Homilien erhalten, daneben Übersetzungen aus dem Lateinischen, Hirtenbriefe, die erwähnte Grammatik, dazu ein Glossar und ein Gesprächsbuch. Ælfric studierte in der Klosterschule von Winchester unter Bischof Æthelwold und ist einer der wichtigsten Repräsentanten der Benediktinerreform im angelsächsischen England 144
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Siehe dazu Hans Käsmann, Studien zum kirchlichen Wortschatz des Mittelenglischen 1100–1350. Ein Beitrag zum Problem der Sprachmischung. Buchreihe der Anglia 9 (Tübingen 1961), S. 133–150. Siehe das Oxford English Dictionary (wie Anm. 79), s.v. mercy. The Vespasian Psalter, hrsg. von Sherman M. Kuhn (Ann Arbor/Michigan 1965) S. 20. Siehe Oxford English Dictionary (wie Anm. 79), s.v. loving-kindness. Das anlautende b in barmherzig stammt aus erbarmen (ir-b-armen 3
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2 (Illerup)
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Eisen
Bronze
Eisen
Schilde
Schwertgurte
Pferdegeschirr
Ausrüstung gesamt
Material
Objektgruppen
Tab. 1. fortgesetzt
Ca. 400
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Illerup Platz A
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Nydam Opferung 2
Ca. 220
Ejsbøl Nord und Ejsbølgård Stufe C2b/ C3a
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Ausstattungsniveau
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Die kaiserzeitlichen Heeresausrüstungsopfer Südskandinaviens
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berbleche oder umfangreicher Beschlagsätze, aber auch bei der Instrumentalisierung importierter Materialien (z. B. römisches Elfenbein) eindeutige, sich in den jeweiligen Mooropfern wiederholende Muster ab, die entsprechend interpretiert werden können. In einigen Fällen können in den jüngerkaiserzeitlichen Heeresausrüstungsopfern auch Vorläufer spätantiker und frühmerowingischer Symbolzeichen erkannt werden.26 Grundsätzlich besteht zudem ein Konsens darüber, dass die Kriegergruppen, die durch das Material in den Opferplätzen repräsentiert werden, eine Größe und Organisationsform einnehmen, die kaum als Ausdruck von so bezeichneten raids mit dem Ziel von Beute in Form von transportablen Wertobjekten, Vieh oder Menschen gedeutet werden können.27 Ebenso kann der Hauptgrund und -motor der Kriegshandlungen nicht in der Beschaffung von Beute für einen Distributionsmechanismus von Geschenken und Bezahlungen im Rahmen von Gefolgschaftsverhältnissen gesehen werden.28 Sicherlich ist eine deutliche Differenz etwa zu den Einfällen von Germanengruppen in das provinzialrömische Gebiet, die literarisch und epigraphisch, durch Hortfundhorizonte und Massenfunde wie z. B. Neupotz belegt sind, und innergermanischen Auseinandersetzungen im Ostseeraum zu erwarten. Keinesfalls handelt es sich bei den Konfliktsituationen, die zu den Deponierungen von Heeresausrüstungen in den Seen Südskandinaviens geführt haben, um sogenannte rituelle oder endemische Kriege,29 deren primäres Ziel der inner- oder intergesellschaftliche Abbau von Stresssituationen ist. Vielmehr bezeugen die Opferungen von Heeresausrüstungen – und das legen Dimensionen und Kampfestechniken30 zwingend nahe – finale Stadien machtpolitischer Auseinandersetzungen. 26
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Claus von Carnap-Bornheim, Kaiserzeitliche germanische Traditionen im Fundgut des Grabes des „Chef militaire“ in Vermand und im Childerich-Grab in Tournai. In: Germanen beiderseits des spätantiken Limes. Materialien des X. Internationalen Symposiums „Grundprobleme der frühgeschichtlichen Entwicklung im nördlichen Mitteldonaugebiet“, Xanten vom 2.–6. Dezember 1997, hrsg. von Thomas Fischer, Gundolf Precht, Jaroslav Tejral, Spisy archeologického ustavu AV ČR Brno 14 (Köln, Brno 1999), S. 47–61. Ilkjær, Iversen, Untergegangen (wie Anm. 24), S. 140–141; Vgl. Guy Halsall, Anthropology and the Study of Pre-Conquest Warfare and Society: The Ritual War in Anglo-Saxon England. In: Weapons and warfare in Anglo-Saxon England, hrsg. von S. Chadwick Hawkes. Oxford University Committee for Archaeology Monograph 21 (Oxford 1989), S. 155–177. Vgl. auch Brigitte Bulitta, Matthias Springer, Martin Eggers, Else Ebel, Heiko Steuer, Artikel „Kriegswesen“. In: RGA 17 (2001), S. 333–373. So z. B. Bemmann, Bemmann, Nydam (wie Anm. 12), S. 363. Halsall, Anthropology (wie Anm. 27), S. 156–157. Vgl. Johan Engström, Skandinaviskt krigsväsen under mellerste järnåldern. Kgl.
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Andreas Rau und Claus von Carnap-Bornheim
Allerdings bedeutet diese Annahme keinesfalls, dass die Konflikte nicht durch ritualisierte Abläufe gekennzeichnet waren, begründet vor allem in der vorausgehenden und anschließenden rechtlichen Legitimation der Handlungen.31 So bildete in der Merowingerzeit die Schlacht jenen Rechtsakt, der eine öffentliche Entscheidung vermittelt und einen Anspruch gleichsam offiziell bestätigt. Jeder andere Kampf, ein Erfolg durch Überfall oder in einem plötzlich vom Zaun gebrochenen Gemetzel, würde zwar zunächst eine neue Wirklichkeit herstellen, deren wahrhaft rechtliche Fundierung aber fragwürdig erscheinen lassen.32
Um rechtlich für beide(!) Kriegsparteien akzeptabel zu sein, sind in der Merowingerzeit und auch in der römischen Antike bei der Auseinandersetzung standardisierte Abläufe der bewaffneten Auseinandersetzung beachtet worden. Hierunter fallen etwa ein getroffener Konsens über Zeit und Ort der Kampfhandlungen, das Zurschaustellen der beiden Aufgebote oder Verhandlungen über die Konsequenzen beim Schlachtausgang.33 Zahlreiche Beispiele für die anschließenden Schlachtenabläufe lassen sich beibringen, etwa Nachgiebigkeit des einsichtigen schwächeren Gegners, Pattsituationen bei der Verweigerung einer Feldschlacht, das Herausfordern von Anführern zum Zweikampf oder die Verständigung auf eine repräsentative Kampfhandlung zwischen elitären Kriegern.34 Aus den antiken und frühmittelalterlichen Quellen ist eine inhaltliche Gleichsetzung von siegreicher Schlacht und behauptetem Schlachtfeld zu erschließen.35 Dies bedeutet zum einen, dass der Kampfplatz von beiden Seiten akzeptiert und als Raum begrenzt gedacht werden musste. Zum anderen kommt nach dieser Gleichsetzung der Verbindung zwischen dem behaupteten Schlachtfeld und der von ihm aufgesammelten Beute eine konventionalisierte Bedeutung zu. Bei einer Übertragung dieser Beobachtungen auf die Auseinandersetzungen, die zu den Deponierungen der Heeresausrüstungen in Südskandinavien geführt haben, bleibt nur wenig Raum für die Annahme von spontanen Überfällen oder weitreichenden Beutezügen. Vielmehr könnten wir in die-
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Armémuseum Meddelande 52, 1992, S. 14–72; Ilkjær, Iversen, Untergegangen (wie Anm. 24). So schon Wilhelm Erben, Kriegsgeschichte des Mittelalters (München 1929), S. 68. Georg Scheibelreiter, Die barbarische Gesellschaft. Mentalitätsgeschichte der europäischen Achsenzeit 5.–8. Jahrhundert (Darmstadt 1999), S. 328. Vgl. die Zusammenstellungen bei Margarete Weidemann, Kulturgeschichte der Merowingerzeit nach den Werken Gregors von Tours. Teil 2. Römisch-Germanisches Zentralmuseums – Monographien Band 3,2 (Mainz 1982), S. 278. So bei Scheibelreiter, Gesellschaft (wie Anm. 32), S. 328–339. Matthias Springer, Artikel „Schlacht.“ In: RGA 27 (2004), S. 117–122, hier S. 118.
Die kaiserzeitlichen Heeresausrüstungsopfer Südskandinaviens
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sen Modellen und für die Archäologie der skandinavischen Heeresausrüstungsopfer Mechanismen eine standardisierte Kampf- und Kriegsphilosophie erkennen, die möglicherweise zu den Wurzeln der frühmittelalterlichen Militär- und Konfliktkultur zählen. Sehr viel deutlicher als in den letzten Jahren zeichnet sich heute ein erheblicher quantitativer Unterschied zwischen den einzelnen Niederlegungen in den Seen oder Mooren ab. So spannt sich der Bogen von kleinen Deponierungen von kaum mehr als 10 Stücken etwa in Illerup Platz D (ca. 450 n. Chr.) über mittelgroße Opferungen von einigen Hundert Stücken (Illerup Platz B, ca. 225 n. Chr.) bis hin zu den ganz großen Komplexen, die einige Tausend Stücke enthalten. Dazu gehört Illerup Platz A (ca. 210 n. Chr.) oder Vimose 3 und Thorsberg C1b aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr. Selbst unter Berücksichtigung der jeweiligen moorgeologischen Situationen, das heißt basisches oder saures Milieu, und den daraus resultierenden Überlieferungsbedingungen etwa für Eisen- oder Knochenartefakte muss hier eine deutliche Grenze gezogen werden.36 Es steht außer Zweifel, dass sich insbesondere die kleinen Niederlegungen nur sehr schwer in ein chronologisches und chorologisches System einpassen lassen können; sie sind von ihrer Aussagepotenz kaum stärker als isolierte Einzelbestattungen.37 Klarer wird das Bild erst bei den mittelgroßen und großen Deponierungen, die – so wie in Ejsbøl, Nydam oder Illerup Ådal – aufgrund einer modernen Grabungsdokumentation zudem eine Bewertung der Fundumstände erlauben. Schon Klaus Raddatz dokumentierte in seinem Katalog zum Thorsberger Moorfund, dass der Frage nach der rituellen Zerstörung des Materials größeres Gewicht beigemessen werden müsste – dies lässt sich den detaillierten Beschreibungen der von ihm als intentionell zerstörten Objekte entnehmen.38 Waren Gebühr und Gundelwein davon ausgegangen, entsprechende Merkmale anhand der Spuren an Lanzen, Schwertern und Speeren von direkten Kampfmarken unterscheiden zu können,39 so deutet sich heute an, 36
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Eine Übersicht bei Jørgen Ilkjær, Illerup – mellem Nordkap og Nilen. Kuml 2001, S. 187–204, hier S. 201 Abb. 12. Vgl. die Überlegungen von Iversen, Kragehul (wie Anm. 13), S. 187–190. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Anne Nørgård Jørgensen, Porskjær Mosefund. Jernalderen i Nordeuropa (Århus 2008), S. 117–120. Raddatz, Katalog Waffen (wie Anm. 11). Michael Gebühr, Kampfspuren an Schwertern des Nydam-Fundes. Die Heimat 84, 1977, S. 117–122; Michael Gebühr, Kampfspuren an Waffen des Nydam-Fundes. In: Beiträge zur Archäologie Nordwestdeutschlands und Mitteleuropas, hrsg. von Thomas Krüger, Hans-Georg Stephan. Klaus Raddatz zum 65. Geburtstag am 19. November 1979. Materialhefte zur Ur- und Frühgeschichte in Niedersachsen 16
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Andreas Rau und Claus von Carnap-Bornheim
dass auch ganz andere Fundgruppen in den Fokus genommen werden müssen. So konnte Nina Lau anhand der Pferdegeschirre von Thorsberg und auch weiterer Fundplätze zeigen, dass diese nach uniformen Mustern vor der Opferung fragmentiert wurden.40 Damit gelingt heute der Schritt hin zur Analyse eines offensichtlich hoch differenzierten Opferungsrituals, das sowohl das Verbrennen als auch die mechanische Zerstörung des Materials umfassen kann. Dazu gehört aber auch das Sortieren des Materials nach bestimmten, heute nur schemenhaft erkennbaren Konventionen, die sowohl persönliche Ausrüstungen als auch Waffen umfassen, die in sehr unterschiedlicher Form niedergelegt werden. So wurden die Materialien in Illerup sowohl vom Ufer in den See geworfen, als auch in Säcken verpackt niedergelegt (Abb. 3). Die Opferung Nydam IV wurde hingegen in höchst komprimierter Form (ca. 900 Gegenstände auf 2 m²) niedergelegt, wobei die Schichten älterer Deponierungen durchstoßen wurden.41 Auffällig ist zudem die Beobachtung, dass besonders reiche und mit der militärischen Elite zu verknüpfende Schildgarnituren aus Silber und vergoldetem Pressblech, die zum Teil mit Schmucksteineinlagen und Runen verziert sind, in weitaus höherem Maße zerstört sind als eher durchschnittliche Garnituren.42 Selbst wenn die Diskussion dieser Phänomen erstaunlicherweise noch ganz am Anfang steht, so könnte eine Erklärung sein, dass die germanischen Opferriten der
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(Hildesheim 1980), S. 69–84; Andreas Gundelwein, Kampfspuren an Lanzen und Speeren kaiserzeitlicher Moorfunde. In: Beiträge zu römischer und barbarischer Bewaffnung in den ersten vier nachchristlichen Jahrhunderten, hrsg. von Claus von Carnap-Bornheim. Akten des 2. Internationalen Kolloquiums in Marburg an der Lahn, 20. bis 24. Februar 1994 (Lublin, Marburg 1994), S. 321–333; Andreas Gundelwein, Neue Untersuchungen zur Entstehung der Beschädigung an Waffen kaiserzeitlicher Moorfunde. Zeitschrift für Archäologie 28, 1994, S. 247–259; vgl. auch die Beobachtungen bei Bemmann, Bemmann, Nydam (wie Anm. 12), S. 312–317 und bei Biborski, Ilkjær, Illerup 11 (wie Anm. 2), S. 343–348. N. Lau, Spuren ritueller Zerstörungen an Pferdegeschirren aus dem Thorsberger Moorfund. Germania-Sarmatia 2008, S. 210–219. Vgl. Peter Vang Petersen, Der Nydam-III- und Nydam-IV-Fund. Ausgrabungen völkerwanderungszeitlicher Waffenopfer durch das Nationalmuseum Kopenhagen in den Jahren 1984, 1989 bis 1992. Ein Vorbericht. In: Bemmann/Bemmann, Nydam (Anm. 12), S. 241–265. Vgl. jetzt auch Claus von Carnap-Bornheim, Andreas Rau, Zwischen religiöser Zeremonie und politischer Demonstration – Überlegungen zu den südskandinavischen Kriegsbeuteopfern. In: Glaube, Kult und Herrschaft. Phänomene des Religiösen im 1. Jahrtausend n. Chr. in Mittel- und Nordeuropa. Akten des 59. Internationalen Sachsensymposiums und der Grundprobleme der frühgeschichtlichen Entwicklung im Mitteldonauraum, hrsg. von Uta von Freeden, Herwig Friesinger, Egon Wamers. Kolloquien zur Vor- und Frühgeschichte Band 12 (Bonn 2009), S. 25–36.
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Abb. 3: Illerup Platz A: Ein Beispiel für die Komplexität der Niederlegungsprozesse in einem Heeresausrüstungsopfer. Die Artefaktansammlung 41/73 weitab vom Seeufer bezeugt, dass zusammengebündelte Einzelteile bestimmter Größen im Paket versenkt wurden. Die postdepositional fragmentierten Schnurreste bezeugen dies. Während vom Schaft gewaltsam abgebrochene Lanzen- und Speerspitzen sowie Schildbuckel sich innerhalb der dichten Pakete befinden, wurden am Schaft sitzende Waffen und komplette Schilde erst einzeln wohl direkt nach der Versenkung hier deponiert. Die Fragen nach dem Gründen und Diversitäten für die komplexen Opferprozesse bildet einen der zukünftigen Forschungsschwerpunkte der Archäologie der Heeresausrüstungsopfer (Abb. Verf. und K. Göbel, Schleswig).
Vernichtung der Waffen und Ausrüstungen der Krieger eine zentrale Bedeutung beimessen. Es galt also mit der Opferung die Waffen zu töten und nicht deren Besitzer; primäres Ziel dürfte die Zerstörung der Identität der besiegten Krieger gewesen sein. Werden den Gefolgschaftsherren die reichen Ausrüstungen zugeordnet, so wird vor diesem Hintergrund erklärbar, warum genau diese Waffen in so hohem Maße demoliert wurden. Die öffentliche rituelle Zerstörung dieser Materialien könnte dann sowohl Freund als auch Feind die offizielle Manifestierung des Sieges der einen und der Niederlage der anderen sein. Es erstaunt vor diesem Hintergrund nicht, dass die Krieger selbst nicht geopfert werden mussten.43 Aus dieser Zurschaustellung eige43
Die kürzlich im Tal der Illerup Å bei Vædebro entdeckten zahlreichen Skelettfunde männlicher Individuen in räumlicher Nähe zu den Waffendeponierungen von Il-
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nen Erfolgs im Rahmen einer kollektiven Opferhandlung, die immense Personen- und Materialkontingente umfasste, ist aber auch auf das Bestreben nach einer allgemein akzeptierten Machtausübung durch ein ebenso allgemein anerkanntes Herrschercharisma im Sinne Max Webers zu schließen.44 Dem rituellen Aspekt der Heeresausrüstungsopfer Südskandinaviens wohnt damit ein bedeutender Aspekt charismatischer Herrschaftslegitimation inne. Dem Opfer kommt hierbei eine zentrale Funktion in der Umwandlung eines militärischen zu einem politischen Erfolg zu und dies in einem gefolgschaftlichen System, das instabil ist und gerade dieser Manifestationen bedurfte. In diesem Sinne entspricht die Sitte der irreversiblen Deponierung von Heeresausrüstungen dem römischen Triumphzug, der – trotz in großen Teilen abweichender Inszenierung – aus den wesentlichen Elementen ‚Siegreiche Heimkehr‘, ‚Zurschaustellung der Beute des Feldherrn‘ und ‚Dankesgabe den Göttern‘ besteht.45 Es muss aber außerdem ein Aspekt rechtlicher sowie soziologischer Natur angeführt werden, der für die jüngere kontinentale Merowingerzeit in den Schriftquellen deutlich hervortritt, dessen Bedeutung aber auch für die kaiserzeitliche und völkerwanderungszeitliche Gesellschaft Mittel- und Nordeuropas nicht vernachlässigt werden darf. Bei der gesamten Betrachtung aller südskandinavischen Heeresausrüstungsopferplätze mit mehr als 50 Deponierungen im Zeitraum zwischen 200–500 n. Chr. entsteht zunächst als erstes der Eindruck einer durch Aggression und politische Instabilität geprägten Epoche. Großräumige Hinweise auf Brandhorizonte oder auf Massengräber fehlen aber im untersuchten Gebiet bislang. Mit Ausnahme der Seesperrwerke46 und der nach jüngsten Analysen wohl in die ältere römische Kaiserzeit datierenden Langwälle des Typs Olgerdi-
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lerup sind derzeit nur vorläufig in das 1. Jahrhundert n. Chr. datiert. Sie wären damit ein sicheres Indiz für eine lange, über ca. 400 Jahre reichende Opferungskontinuität im Bereich der Illerup Å, nicht aber Indiz für die Opferung feindlicher Krieger im Zuge der Niederlegungen Illerup A-D. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie (Tübingen 1922). Vgl. Ernst Künzl, Der römische Triumph. Siegesfeiern im antiken Rom (München 1988) besonders S. 85–108; vgl. auch Hendrik S. Versnel, Triumphus. An Inquiry into the Origin, Development and Meaning of the Roman Triumph (Leiden 1970). Zur Bedeutung der Waffenbeute im Römischen vgl. besonders Coulston, Victory (wie Anm. 20), S. 316–323. Anne Nørgård Jørgensen, Sea defence in the Roman Iron Age. In: Military Aspects of the Aristocracy in Barbaricum in the Roman and Early Migration Periods, hrsg. von Birger Storgaard. Publications from the Nationalmuseum. Studies in Archaeology & History 5 (Copenhagen 2001), S. 67–82. Übergreifend hier Heiko Steuer, Artikel „Sperre“. In: RGA 29 (2005), S. 340–344.
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get47 ist für Südskandinavien kein Burgenbau oder zumindest die Anlage stark befestigter Siedlungsplätze im 3.-5. Jahrhundert n. Chr. zu verzeichnen. Inwieweit Siedlungsverlagerungen und -konzentration Schutzbedürfnisse vor spontanen Angriffen von außen widerspiegeln, lässt sich bislang nicht abschließend beurteilen.48 Die mit dem Beginn der jüngeren römischen Kaiserzeit einsetzenden Zentralorte oder Multifunktionssiedlungen wie Uppåkra49, Hørup50, Sorte Muld51, Gudme/Lundeborg52 oder Dankirke53 zeigen keine auffallenden Diskontinuitäten. Vielmehr entwickeln sich diese Plätze während des Zeitraums vom 3.-5. Jahrhundert n. Chr. innerhalb der vermeintlichen Kampfzone Südskandinaviens kontinuierlich weiter. Gleiches gilt für die untersuchten Siedlungsplätze agrarischer Prägung, die meist durchgängig von der jüngeren römischen Kaiserzeit bis in die germanische Eisenzeit belegt sind.54 47
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Hans Neumann, Olgerdiget – et bidrag til Danmarks tidligste historie (Haderslev 1982); Per Ethelberg, Verteidigungsanlagen und Haustypen der älteren römischen Kaiserzeit im ehemaligen Herzogtum Schleswig-Holstein. In: Innere Strukturen von Siedlungen und Gräberfeldern als Spiegel gesellschaftlicher Wirklichkeit? Akten des 57. Internationalen Sachsensymposions vom 26. bis 30. August in Münster, hrsg. von Christoph Grünewald, Torsten Capelle (Münster 2007), S. 145– 153, hier S. 147–149; Lisbeth Christensen, Artikel „Olgerdiget“. In: RGA 22 (2003), S. 91–92. Vgl. Michael Gebühr, Angulus desertus? In: 46. Internationales Sachsenymposion „Die Wanderung der Angeln nach England“ im Archäologischen Landesmuseum der Christian-Albrechts-Universität Schloß Gottorf, Schleswig 3. bis 5. September 1995. Studien zur Sachsenforschung 11, 1998, S. 43–87, hier S. 56–57 Abb. 5a– 5b. Zusammenfassend Berta Stjernquist, Uppåkra, ett bebyggelsecentrum i Skåne under järnåldern. Fynske Minder 1994, S. 67–83; Birgitta Hårdh, Lars Larsson, Uppåkra – Lund före Lund (Lund 2007); Birgitta Hårdh, Artikel „Uppåkra“. In: RGA 31 (2006), S. 516–520. Søren A. Sørensen, Hørup – en sjællandsk værkstedplads fra romersk jernalder (Færgegaarden 2000). Zusammenfassend Sorte Muld, hrsg. von Bornholms Museum (Rønne 2008); Margrethe Watt, Artikel „Sorte Muld“. In: RGA 29 (2005), S. 249–252. Zusammenfassend Henrik Thrane, Guld, guder og godtfolk – et magtcentrum fra jernalderen ved Gudme og Lundeborg (Odense 1993); Per Ole Thomsen, Benno Blæsild, Nis Hardt, Karsten Kjer Michaelsen, Lundeborg – en handelsplads fra jernalderen. Skrifter fra Svendborg & Omegns Museum 32 (Svendborg 1993); Henrik Thrane, Marie Stoklund, Artikel „Gudme“. In: RGA 13 (1999), S. 142–149. Henrik Jarl Hansen, Dankirke. Jernalderboplads og rigdomscenter. Oversigt over udgravningerne 1965–1970. Kuml 1988–1989 (1990), S. 201–247. Vgl. z. B. Vorbasse: Sten Hvass, Vorbasse – Eine Dorfsiedlung während des 1. Jahrtausends n. Chr. in Mitteljütland, Dänemark. Bericht der Römisch-Germanischen Kommission 67, 1986, S. 529–542.
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Dieser vermeintliche Widerspruch wurde durch eine militärische, stets defensiv eingesetzte Überlegenheit eines kulturell stabilen südskandinavischen Raumes von der vorrömischen Eisenzeit bis in die Völkerwanderungszeit gegenüber aggressiven Eindringlichen von der skandinavischen Halbinsel oder dem südlich der Ostsee gelegen Raum erklärt.55 Er lässt sich aber auch anders und nach den hier referierten Überlegungen vielleicht überzeugender auflösen, wenn die in den Heeresausrüstungsopfern repräsentierten Kämpfe neben den schon erwähnten rechtlichen Implikationen von einer kulturanthropologischen Perspektive betrachtet werden. So können die nachweisbaren Kampfhandlungen als nahezu klassisches Beispiel für die normierte Interaktion so genannter peer polities nach Renfrew gelten.56 In diesem Sinne spiegeln die Heeresausrüstungsopfer keine dauerhaften Kriegszustände zwischen einzelnen gesellschaftlichen Entitäten, sondern die punktuellen machtpolitischen Auseinandersetzungen um personale Verbindungen zwischen den Kriegereliten bzw. dem militarisierten Teil der Gesellschaft wider.57 Doch ergibt sich für uns noch eine zweite, nicht unwichtige Parallele, die zeitlich zurückweist und uns auf das Feld der clades variana und damit nach Kalkriese führt.58 Archäologen, Historiker und Numismatiker werden sowohl durch die schriftliche Überlieferung als auch durch die archäologischen Ausgrabungen in und um die clades variana und Kalkriese mit komplexen Abläufen und Befunden konfrontiert, die für die Diskussion und Weiterentwicklung der Interpretationsmodelle dieser Disziplinen von grundlegender Bedeutung sind. Eine Betrachtung dieses historischen Ereignisses vor der hier abgeleiteten Argumentation zu den jüngerkaiserzeitlichen Moorfunden ist jedoch aufschlussreich, selbst wenn die historische Situation 55 56
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Randsborg, Hjortspring (wie Anm. 14), S. 73. Colin A. Renfrew, Introduction: Peer Polity Interactions and Socio-political Change. In: Peer Polity Interactions and Socio-political Change. New Directions in Archaeology, hrsg. von Colin A. Renfrew, John F. Cherry (Cambridge 1986), S. 1– 18. Hierzu vgl. Edward James, The militarisation of Roman society, 400–700. In: Military aspects of Scandinavian Society in a European Perspective, AD 1–1300. Papers from an International Research Seminar at the Danish National Museum, Copenhagen, 2–4 May 1996, hrsg. von Anne Nørgård Jørgensen, Birthe L. Clausen. Publications from the Nationalmuseum. Studies in Archaeology & History 2 (København 1997), S. 19–24; Anne Nørgård Jørgensen, The Martial Society? In: Kingdoms and Regionality. Transactions from the 49th Sachsensymposium 1998 in Uppsala, hrsg. von Birgit Arrhenius. Theses and Papers in Archaeology B:6 (Stockholm 2001), S. 103–113. Zusammenfassend Wolfgang Schlüter, Rainer Wiegels, Artikel „Kalkriese“. In: RGA 16 (2000), S. 180–199.
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hier nur ausschnitthaft für unsere Zwecke aufgegriffen und interpretiert werden kann. Zweifellos festigte der Sieg des Arminius dessen Position innerhalb der beteiligten westgermanischen gentes und ermöglichte ihm so erweiterte politische und militärische Spielräume. Grundlage hierfür war zunächst sicherlich der große militärische Erfolg. Doch scheint hierzu auch ein umfassendes Opferzeremoniell notwendig gewesen zu sein, über das uns Tacitus (Ann. I,61) anlässlich des ersten Besuches des Germanicus von 15 n. Chr. auf dem Feld der clades variana indirekt berichtet.59 Können wir die fragmina telorum equorumque artus (zerbrochene Waffen und Pferdegerippe) dieser Überlieferung nur noch mit größter Zurückhaltung als Überbleibsel der sieben Jahre zuvor geschlagenen Schlacht auffassen, so besteht aufgrund der Formulierung barbarae arae, apud quas tribunos ac primorum ordinum centuriones mactaverant (Altäre der Barbaren, an denen sie die Tribunen und die Zenturionen ersten Ranges geschlachtet hatten) und simul truncis arborum antefixa ora (an den Baumstämmen waren Schädel befestigt) kaum ein Zweifel daran, dass vermutlich noch im Spätsommer/Frühherbst des Jahres 9 n. Chr. umfangreiche Siegesfeiern und -rituale im Bereich der clades variana stattgefunden haben müssen.60 Hier gibt zwar die schriftliche Überlieferung die entscheidenden Hinweise, aber auch der archäologische Befund könnte entsprechend interpretiert werden, wenn wir einzelne Gegenstände aus dem Kalkrieser Fundbestand in diese Überlegungen mit einbeziehen wollen.61 So verwundert einerseits die Deponierung der wert59
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Vgl. auch Claus von Carnap-Bornheim, Archäologisch-historische Überlegungen zum Fundplatz Kalkrieser-Niewedder Senke in den Jahren 9 n. Chr. und 15 n. Chr. In: Rom, Germanien und die Ausgrabungen von Kalkriese, hrsg. von Wolfgang Schlüter, Rainer Wiegels (Osnabrück 1999), S. 495–508. Die Übersetzungen der Annales-Stellen nach: Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas bis zur Mitte des 1. Jahrtausends u. Z. Dritter Teil. Von Tacitus bis Ausonius (2. bis 4. Jh. u. Z.), hrsg. von Joachim Herrmann (Berlin 1991) (Übersetzung Klaus-Peter Johne). Allein die weiterführenden Anmerkungen bei Tacitus ann. I,61, dass die Stelle bekannt sei, an der Arminius nach(!) dem Sieg direkt vor dem versammelten Heer gesprochen habe und wie er die Kreuzbalken für die Gefangenen angeordnet und die Feldzeichen und Adler mit Schmähreden beleidigt habe, bezeugt die unmittelbare Inszenierung des politischen Triumphes im Anschluss an den militärischen. Gegen eine entsprechende Deutung aus archäologischer Perspektive jüngst Achim Rost, Das Schlachtfeld von Kalkriese. Eine archäologische Quelle für die Konfliktforschung. In: 2000 Jahre Varusschlacht – Konflikt, hrsg. von Varusschlacht im Osnabrücker Land GmbH – Museum und Park Kalkriese (Stuttgart 2009), S. 68–76, hier S. 73–76; vgl. Achim Rost, Plünderungsprozesse auf Schlachtfeldern – Neue Aspekte auch für Kriegsbeuteopfer? In: Aktuelle Forschungen zu Kriegsbeuteop-
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vollen, möglicherweise rituell zerstörten Gesichtsmaske im Bereich der germanischen Rasensodenmauer,62 andererseits der Fund eines wertvollen Schwertbeschlages.63 Während letzterer auch als Verlustfund angesprochen werden könnte, so scheint dies für die Gesichtsmaske ausgeschlossen. Vielmehr deuten die Fundumstände darauf hin, dass die Maske längere Zeit offen im Bereich vor der Rasensodenmauer abgelegt war und nicht eingesammelt oder mitgenommen, somit intentionell deponiert wurde. Zu berücksichtigen ist aber auch der Zerstörungsgrad dieser Gegenstände. Dass die eiserne Gesichtsmaske ihres silbernen Überzuges beraubt wurde, kann überzeugend als rituelle Zerstörung aufgefasst werden; in dieses Muster passen der wertvolle Schwertscheidenbeschlag wie auch die zahlreichen Kleinfunde, die deutliche Zerstörungsspuren aufweisen. Nicht alles, was in Kalkriese entdeckt wurde, darf also nur in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Kampfgeschehen des Jahres 9 n. Chr. und einem angenommenen unkontrollierten Plünderungsprozess gesehen werden. Vielmehr verpflichtet uns die taciteische Überlieferung zu weiterführenden Überlegungen auch in Richtung ritueller Deponierung von römischen Gegenständen auf dem Schlachtfeld sowie römischer Personen in der unmittelbaren Umgebung.64 Vor dem Hin-
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fern und Fürstengräbern im Barbaricum, hrsg. von Angelika Abegg-Wigg, Andreas Rau. Schriften des Archäologischen Landesmuseums (Schloss Gottorf), Ergänzungsreihe Bd. 4 (Neumünster 2008), S. 355–362. Rost erklärt die Befundsituation und die Zustände der Fundobjekte auf dem Schlachtfeld ausschließlich mit Plünderungen, die auf eine Materialgewinnung seitens der siegreichen Germanen zurückzuführen seien. Hingegen hat jüngst Allan A. Lund, Zur Deutung der Taciteischen Darstellung des Orts der Varus-Schlacht. Gymnasium 116, 2009, S. 275–283, hier S. 279–283, die entsprechende taciteische Überlieferung zur Varuskatastrophe im Sinne von umfassenden rituellen Handlungen seitens der Gemanen interpretiert. Lund interpretiert insbesondere die bei Tacitus ann. I,61,3 deutlich beschriebene Abtrennung und Befestigung der menschlichen Schädel im Sinne der für die keltisch-latènoiden Welt zahlreich mit militärischen Siegesritualen belegten têtes coupées; vgl. zusammenfassend Petra Härtl, Zur besonderen Bedeutung und Behandlung des menschlichen Kopfes innerhalb der Latènekultur Mittel- und Westeuropa. Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie 122 (Bonn 2005). Zu den Fundumständen zuletzt Susanne Wilbers-Rost, Die archäologischen Befunde. In: Kalkriese 3. Interdisziplinäre Untersuchungen auf dem „Oberesch“ in Kalkriese. Archäologische Befunde und naturwissenschaftliche Begleituntersuchungen, hrsg. von Susanne Wilbers-Rost, Hans-Peter Uerpmann, Margarethe Uerpmann, Birgit Großkopf, Eva Tolksdorf-Lienemann. Römisch-Germanische Forschungen 65 (Mainz 2007), S. 82–83 mit Fußnote 214. Georgia Franzius, Beschläge einer Gladiusscheide und Teile eines cingulum aus Kalkriese, Lkr. Osnabrück. Germania 77, 1999, S. 567–608. Für eine Langzeitperspektive auf die Transformation von Schlachtfeld, Siegesritualen, Siegesdenkmälern, sakrosanktem Bereich, Gedenkstätte und Heiligtum vgl.
Die kaiserzeitlichen Heeresausrüstungsopfer Südskandinaviens
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tergrund der Archäologie der kaiserzeitlichen Heeresausrüstungsopfer und der hier vorgeschlagenen Interpretationsstränge wird offensichtlich, dass die inhaltliche Verknüpfung dieser Phänomene an die militärischen bzw. herrschenden und religiösen Eliten gebunden ist, die so den militärischen Sieg durch Rituale auch in einen politischen Erfolg konvertierten. Das führt uns nun zu einem weiteren Gedanken, der mit dem Fundmaterial von Kalkriese verbunden werden sollte. Grundsätzlich müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, die beteiligten Germanen hätten in einem furor teutonicus65 die Toten unkontrolliert geplündert sowie Waffen und Ausrüstungen mehr oder weniger chaotisch eingesammelt. Reinhard Wenskus wies in seinem Beitrag „Beute“ im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde darauf hin, dass Beute und Trophäen – auch aus der VarusSchlacht – zunächst jenen zustanden, die den größten militärischen Verdienst errungen und die damit wohl das größte politische Risiko eingegangen waren.66 So dürfte die Teilung der Beute wohl auch schon 9 n. Chr. festen Regeln unterlegen haben, die gerade diese Aspekte und Notwendigkeiten berücksichtigten. Das Schicksal der beiden erbeuteten Feldzeichen deutet an,67 dass die Verteilung der Beute kaum ausschließlich unter rein materiellen Gesichtspunkten erfolgte, sondern vielmehr Teil eines komplexen Systems von Allianzen war, die so durch Trophäen belohnt und stabilisiert wurden: Sie befanden sich nach der Schlacht im Besitz der Brukterer und Marser, den Verbündeten des Arminius, und wurden auf Befehl des Germanicus in wohl nicht ganz risikolosen Unternehmungen geborgen und in römischen Besitz zurückgeführt (Tacitus, ann. I, 60, 3; II, 25, 1–2 und II, 41, 1).68 Schemen-
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Jean-Louis Bruneaux, Das Tropaion und Denkmal von Ribemont-sur-Ancre – Von der keltischen Schlacht bis in die Kaiserzeit. In: Aktuelle Forschungen zu Kriegsbeuteopfern und Fürstengräbern im Barbaricum, hrsg. von Angelika Abegg-Wigg, Andreas Rau. Schriften des Archäologischen Landesmuseums (Schloss Gottorf), Ergänzungsreihe Bd. 4 (Neumünster 2008), S. 331–344. Zur antiken Konstruktion dieses Begriffs vgl. Christine Trzaska-Richter, Furor teutonicus. Das römische Germanenbild in Politik und Propaganda von den Anfängen bis zum 2. Jahrhundert n. Chr. Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 8 (Trier 1991). Reinhard Wenskus, Artikel „Beute“. In: RGA 2 (1976), S. 323–330. Gustav Adolf Lehmann, Zur historisch-literarischen Überlieferung der Varus-Katastrophe 9 n. Chr. Boreas 13, 1990, S. 143–164. Dieser Aspekt der Beuteteilung scheint für die Deponierungen von Heeresausrüstungen in Südskandinavien nicht unerheblich und wurde jüngst diskutiert bei Iversen, Kragehul (wie Anm. 13), S. 190. Ähnlich schon Susanne Wilbers-Rost, Pferdegeschirr der römischen Kaiserzeit in der Germania libera. Zur Entstehung, Entwicklung und Ausbreitung des „Zaumzeugs mit Zügelketten“ (Oldenburg 1994), S. 116–118.
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Andreas Rau und Claus von Carnap-Bornheim
haft können wir somit erkennen, dass ähnlich wie bei der rituellen Deponierung der Waffen auf dem Schlachtfeld selbst auch die Verteilung der Beute bestimmten Konventionen unterlegen haben dürfte, die sich sowohl aus der schriftlichen Überlieferung, als auch aus dem archäologischen Befund erschließen lassen. Die römische Überlieferung nimmt selbstverständlich auch Bezug auf die Tragik des Geschehens selbst, waren doch zahlreiche Tote zu beklagen. Besonders große emotionale Betroffenheit löste 15 n. Chr. verständlicherweise der Anblick des Schlachtfeldes der clades variana aus, fanden die römischen Besucher doch auf dem Platz menschliche Knochen, die sie weder Freund noch Feind sicher zuordnen konnten (Igitur Romanus qui aderat exercitus sextum post cladis annum trium legionum ossa, nullo noscente alienas reliquias an suorum humo tegeret; Tacitus, ann. I, 62). Die sterblichen Überreste der geopferten Offiziere und Centurionen und die an die Bäume genagelten Schädel müssen diesen Eindruck zusätzlich gesteigert haben. Die Römer begruben ihre Toten, und Germanicus ließ einen Tumulus als Monument der Erinnerung errichten. Die Diskussion der letzten Jahre hat die in Kalkriese entdeckten Knochengruben eng mit der Überlieferung zum Jahre 15 n. Chr. korreliert und ausgedeutet.69 Letztendlich wurde so aus einem germanischen Opferplatz oder weiter gefasst: aus einem germanischen sakrosankten Ort, der sicherlich römische Tote und Ausrüstungen umfasste, ein römischer Friedhof mit einem Memorialmonument. Es kann aber auch kaum verwundern, dass die Germanen nach dem Abzug der Römer das römische Grabmonument zerstörten, um so – möglicherweise – den sakralen Charakter des germanischen Opferplatzes zu restituieren.70 Die hier vorgelegte Skizze einer militärischen Ritualgeschichte erstreckt sich über einen weit gespannten chronologischen Rahmen und geographischen Raum. Sie sollte aber den Blick auf zunächst kaum verwandte Phänomene schärfen und zudem für den erneuten Abgleich der schriftlichen Überlieferung mit dem archäologischen Befund plädieren. Dabei müssen selbstverständlich die jeweils unterschiedlichen methodischen Zugänge beachtet und das letztlich hypothetische Moment jeder Interpretation berücksichtigt werden. Andererseits ist die Forschung zu übergreifenden Szenarien verpflichtet und dies umso mehr, wenn das Quellenmaterial weit über das Durchschnittliche hinweg greift. 69
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Zuletzt Günther Moosbauer, Susanne Wilbers-Rost, Kalkriese und die Varusschlacht. Multidisziplinäre Forschungen zu einem militärischen Konflikt. In: 2000 Jahre Varusschlacht – Konflikt, hrsg. von Varusschlacht im Osnabrücker Land GmbH – Museum und Park Kalkriese (Stuttgart 2009), S. 56–67, hier S. 62–63. So auch Lund, Deutung (wie Anm. 60), S. 281–283.
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 541–553 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
Überlegungen zu Altstücken in kaiserzeitlichen Grabund Schatzfunden im mitteleuropäischen Barbaricum* Michael Erdrich Bei der Betrachtung der Inventare reich ausgestatteter kaiserzeitlicher Grabund Schatzfunde aus dem mitteleuropäischen Barbaricum zwischen Rhein, Donau und dem südlichen Skandinavien fallen Altsachen auf, die älter sind als die jüngsten Bestandteile des Fundensembles. Dabei handelt es sich zumeist um sogenannte römische Importe,1 also um Gegenstände, überwiegend Gold- und Silbermünzen sowie aus germanischer Perspektive qualitätsvolle Buntmetall- und Glasgefäße, die in keltischen und römischen Werkstätten der ausgehenden vorrömischen Eisenzeit und der Kaiserzeit hergestellt worden sind und aus ihrem üblichen Herstellungs- und Verbreitungsgebiet heraus in das europäische Barbaricum gelangt sind. Der chronologische Abstand zwischen der Erzeugung eines dieser Gegenstände und seiner endgültigen Niederlegung im Barbaricum kann einige Generationen oder sogar zwei bis drei Jahrhunderte betragen. Da dieses Phänomen der Altsachen nicht selten ist und vor allem aufgrund ihrer Funktion oder ihres Materialwertes wertvolle Gegenstände betrifft, stellt sich die Frage, wo und warum diese keltischen oder römischen Erzeugnisse aufbewahrt wurden, bevor sie lange nach ihrer üblichen Umlaufzeit in den Boden gelangten. * Die hier beschriebenen Phänomene sind sicherlich nicht abschließend behandelt und bedürfen weiterer Überlegungen. Manches wurde bewusst pointiert dargestellt, um eine Diskussion herauszufordern. Daher beschränkt sich der Notenapparat auf das strikt Notwendige. – Der Beitrag ist an entlegener Stelle früher schon veröffentlicht worden: Michael Erdrich, Überlegungen zu Altstücken in kaiserzeitlichen Grab- und Schatzfunden im mitteleuropäischen Barbaricum. In: Roman Coins outside the Empire. Ways and Phases, Contexts and Functions. Proceedings of the ESF/SCH Exploratory Workshop Radziwill Palace, Nieborów (Poland) 3–6 September 2005. Collection Moneta 82 (Wetteren 2008), S. 379–388. 1 Zum Begriff „Römischer Import“ siehe Hans-Jürgen Eggers, Der römische Import im freien Germanien. Atlas der Urgeschichte 1 (Hamburg 1951).
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Michael Erdrich
Das Phänomen wird zunächst mit Hilfe einiger mehr oder weniger willkürlich ausgewählter Beispiele dargestellt.
Beispiel 1: Das Königsgrab von Mušov Zu den überlieferten Beigaben aus dem Königsgrab von Mušov, das in die 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts datiert,2 zählen ein vollständig erhaltener eiserner Feuerbock sowie die Fragmente eines zweiten Exemplars. In seiner Bearbeitung dieser Funde kommt Michel Feugère zu dem Ergebnis, dass die beiden Feuerböcke sicherlich vor der Mitte des 1. Jahrhunderts in einem keltischen Milieu hergestellt worden sind. Einer der beiden Feuerböcke besitzt Hörner mit Kugelenden, eine Form, die aufgrund guter Parallelbefunde in die Spätphase der Stufe Latène D oder gegebenenfalls den Beginn der römischen Kaiserzeit datiert werden kann (Abb. 1).3 Auch bei zwei Trinkhornbeschlägen zeigt sich ein deutlicher chronologischer Abstand zwischen der Zeitstellung ihrer Herstellung in einer elbgermanischen Werkstatt in der Stufe B 1 oder dem frühen B 2, also etwa der Zeit zwischen 1 und 70 AD und ihrer Niederlegung im Grab.4 Der Fürst von Mušov wurde also mit keltischen Feuerböcken und elbgermanischen Trinkhörnern bestattet, die zum Zeitpunkt seines Todes schon über 100 Jahre alt waren. Auch bei dem aufgefundenen Silbergeschirr zeigen sich markante chronologische Differenzen zwischen Herstellung und Niederlegung. Susanna Künzl datiert die Herstellung eines silbernen Bechers in die augusteische Zeit. Bei ihrer Untersuchung aller älterkaiserzeitlichen Silberbecher aus germanischen Fürstengräbern gelangt sie zu der Erkenntnis, dass ein größerer zeitlicher Abstand zwischen ihrer Herstellung in einer römischen Werkstatt und dem Zeitpunkt ihrer Niederlegung als Beigabe in einem germanischen 2
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Die absolut-chronologische Datierung des Grabes von Mušov ist noch nicht endgültig geklärt. Mit guten Argumenten werden Datierungen für die Grablege in die Zeit unmittelbar vor Ausbruch des Markomannenkrieges (166–180 AD), während des Krieges oder sogar nach seinem Ende vorgetragen. Für das hier angezeigte Phänomen der Altsachen in germanischen Grab- und Schatzfunden ist diese Diskussion zunächst ohne Belang. Michel Feugère, Das frühe Eisengerät. In: Jaroslav Peška, Jaroslav Tejral, Das germanische Königsgrab von Mušov in Mähren. Monographien RGZM 55,2 (Mainz 2002), S. 421–451, besonders S. 433. Jacek Andrzejowski, Die Trinkhornbeschläge. In: Jarsolav Peška, Jaroslav Tejral, Das germanische Königsgrab von Mušov in Mähren. Monographien RGZM 55,2 (Mainz 2002), S. 311–328, besonders S. 317–318.
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Abb. 1: Eiserner Feuerbock mit Kugelenden aus dem Königsgrab von Mušov.
Fürstengrab nicht ungewöhnlich ist.5 Darüber hinaus gibt es noch weitere Beigaben römischer Provenienz aus dem Grab von Mušov, die als Altstücke zu bezeichnen sind: eine bronzene Lampe und der Klapptisch datieren wie auch die Silberbecher in die Zeit der späten Republik oder in die augusteische Phase. Das restliche, nur fragmentarisch erhaltene Silbergeschirr aus diesem Grab – Schälchen und Schalengriffe, Gefäßfüßchen und Löffel – kann nur rahmenhaft in das 1. Jahrhundert datiert werden, es war also mindestens drei Generationen alt, bevor es unter die Erde gelangte.6
Beispiel 2: Die Schatzfunde von Lengerich Auf einer kleinen Anhöhe in der Nähe von Lengerich7 wurde bereits 1847 unter drei großen Feldsteinen verborgen jeweils ein Münz- oder Schmuck5
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Susanna Künzl, Römische Silberbecher bei den Germanen: Der Schalengriff. In: Jaroslav Peška, Jaroslav Tejral, Das germanische Königsgrab von Mušov in Mähren. Monographien RGZM 55,2 (Mainz 2002), S. 329–349. Susanna Künzl, Das übrige Silbergeschirr: Schälchen und Schalengriff, Gefäßfüßchen und Löffel. In: Jaroslav Peška, Jaroslav Tejral, Das germanische Königsgrab von Mušov in Mähren. Monographien RGZM 55,2 (Mainz 2002), S. 351–356. Fritz Hahn, Der Fund von Lengerich im Königreiche Hannover. Goldschmuck und römische Münzen (Hannover 1854); Corpus der römischen Funde im europäischen
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hort entdeckt. Bei Hortfund 1 handelt es sich um einen Denarhort (CRFB XIX-09–6/1.2 = FMRD VII, 1033), von dem 1147 Denare überliefert sind, eine nicht näher bezifferbare Anzahl Silbermünzen ist unbekannt verschollen. Angeblich waren die Münzen mit einer nicht erhaltenen und daher nicht näher bestimmbaren „kleinen Bronzeschale“ abgedeckt. Obwohl der Hort nur unvollständig überliefert ist, dürfen wir davon ausgehen, dass die heute fehlenden Münzen sich nahtlos in das vorliegende Spektrum einfügen. Damit entspricht der Lengericher Denarhort einem in weiten Bereichen des mitteleuropäischen Barbaricums verbreiteten Schatzfundhorizont, dessen Schlussmünze jeweils ein um 193/4 AD geprägter Denar des Commodus, Pertinax oder Septimius Severus ist.8 Jüngere Silbermünzen erscheinen praktisch nie. Angesichts der weiten Verbreitung dieser Silberhorte des ausgehenden 2. Jahrhunderts im außerrömischen Barbaricum ist es sehr wahrscheinlich, dass die Niederlegung der einzelnen Horte regionalen oder lokalen Anlässen folgte und über einen längeren Zeitraum streute. Im Falle des Lengericher Denarschatzes liegt die Vermutung nahe, dass er zusammen mit den beiden spätkaiserzeitlichen Horten (siehe S. 545) in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts vergraben wurde. Die Schlussmünzen dieser Münzschätze, die ja außerhalb des Bereichs der Monetarwirtschaft des römischen Reiches aufgefunden wurden, umschreiben den Zufluss von Denaren nach Nordwestdeutschland und die angrenzenden Niederlande,9 der wie der der glatten und reliefverzierten Sigillaten vor dem Ende des 2. Jahrhunderts versiegte.10 – Die Anzahl der heute noch vorliegenden Denare aus Lengerich entspricht mehr als dem Vierfachen eines Jahressoldes eines einfachen Legionssoldaten. Hortfund 2 aus Lengerich ist ein ebenfalls nur unvollständig überlieferter Goldschmuckhort (CRFB XIX-09–6/1.3–9). Eine Zwiebelknopffibel der Form Keller 5, die aufgrund einer auf einem der beiden Querarme eingepunzten Inschrift nach der Mitte des 4. Jahrhunderts in Reims hergestellt
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Barbaricum, Deutschland. Band 4, Hansestadt Bremen und Bundesland Niedersachsen, XIX-09–6/1.1–11. Frank Berger, Untersuchungen zu römerzeitlichen Münzfunden in Nordwestdeutschland. Studien zu Fundmünzen der Antike 9 (Berlin 1992), S. 133–146; Lennart Lind, Roman Denarii found in Sweden, Teil 2 (Stockholm 1981). Anlässlich seiner Bearbeitung der Denarhorte aus Nordwestdeutschland weist Berger auf die gut vergleichbare Struktur weit von einander entfernt aufgefundener Denarschätze hin; Berger (wie Anm. 8), S. 145. Michael Erdrich, Rom und die Barbaren. Das Verhältnis zwischen dem Imperium Romanum und den germanischen Stämmen vor seiner Nordwestgrenze von der späten römischen Republik bis um gallischen Sonderreich. Römisch-germanische Forschungen 58 (Mainz 2001), S. 50–59, 104–109.
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worden war, datiert das Ensemble in die 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts.11 Noch schlechter ist es um unsere Kenntnis des 3. Lengericher Schatzfundes gestellt (CRFB XIX-09–6/1.10–11). Hier wissen wir nur, dass unter einem dritten Feldstein das Fragment eines gestempelten Silbergefäßes gefunden wurde, das Hahn als „patera“ bezeichnete. Ohne neue Informationen sind alle Überlegungen zu Form und Datierung dieses Metallgefäßes reine Spekulation. Diese Schale diente – wie bereits im Falle von Hortfund 1 – zur Abdeckung eines Münzschatzes, von dem gerade einmal 70 Silbermünzen des Magnentius erhalten sind (FMRD VII, 1032). Die Schlussmünze dieses Hortes wurde im Jahre 350 geprägt, womit auch dieser Lengericher Münzschatz gut in einen über Nordwestdeutschland und die angrenzenden Landschaften der Niederlande und Westfalens verbreiteten Horizont passt. In beiden Fällen handelt es sich also nicht um isolierte Phänomene.
Beispiel 3: Der Grabfund von Bialęcino (Balenthin) Aus der wohl als Einzelgrab angelegen Körperbestattung einer Frau bei Bialęcino (Balenthin) in Pommern,12 das hinsichtlich seiner Beigaben und Datierung in den Horizont der reich ausgestatteten (Körper)gräber der HasslebenLeuna-Sackrau-Gruppe gehört, fanden sich neben weiteren Beigaben germanischer und römischer Provenienz auch vier gelochte Silbermünzen des 2. Jahrhunderts (Abb. 2), von denen eine heute verschollen ist. Es handelt sich dabei um zwei Denare des Antoninus Pius aus dem Jahr 141 AD und einen des Septimius Severus, der in den Jahren 198 bis 200 AD geprägt wurde. Verschollen ist ein Denar des Marcus Aurelius aus dem Jahr 174/5 AD. Von den Münzen abgesehen stammen die übrigen römischen Funde aus diesem Grab aus Werkstätten in Gallien und dem römischen Rheinland.13 Zumindest drei der vier geösten Denare würden in einem der oben erwähnten Denarhorte, deren Schlussmünze in den Jahren 193/4 AD geschlagen wurde, nicht auffallen.14 11
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Michael Schmauder, Der Verwahrfund von Lengerich, Landkreis Emsland: Spiegel innerrömischer Kämpfe? Die Kunde N.F. 50, 1999, S. 91–118. Krystyna Hahuła, Ein Fürstengrab der jüngeren römischen Kaiserzeit aus Bialęcino (Balenthin). Studia Gothica 1 (Lublin 1996), S. 129–151; Aleksander Bursche, Krystyna Hahuła, Roman coins from the princely burial at Bialęcino (Balenhin) in Pomoria. In: C. von Carnap, J. Ilkjaer, A. Kokowski (Red.), Europa Barbarica. Monumenta Studia Gothica 4 (Lublin 2005), S. 141–148. Hahuła (wie Anm. 12), S. 149. Bursche (wie Anm. 12), S. 147–148 bemerkt im Zusammenhang seiner Bearbeitung dieser Münzen, dass das Vorkommen eines Denars des Septimius Severus
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Abb. 2: Geöste Denare aus Bialęcino (Balenthin), nach K. Hahuła, A. Bursche, Roman coins from the princely burial at Bialęcino (Balenthin). In: Claus von CarnapBornheim, Jørgen Ilkjær, A. Kokowski (Hrsg.), Europa Barbarica (Lublin 2005). S. 143 f., fig. 4–7.
Beispiel 4: Das Grab des Childerich Zur persönlichen Ausstattung des im Jahre 482 verstorbenen und in Tournai bestatteten fränkischen Königs Childerich gehörten neben zahlreichen Goldmünzen der oströmischen Kaiser Leo (457–474) und Zeno (474 und 476– 491) mehr als 200 Silbermünzen, von denen jedoch nur 42 nachgewiesen sind. Wenn man von einer jüngeren Silbermünze des Constantius II (337– 361) einmal absieht, waren alle anderen Gepräge des 2. Jahrhunderts.15 In ihrer Zusammensetzung entspricht die Münzserie aus Tournai grundsätzlich dem Bild des Denarhortes aus Lengerich oder anderer Denarschätze aus Nordwestdeutschland, den angrenzenden Niederlanden oder anderen Landschaften des germanischen Barbaricums. Max Martin äußerte die Vermutung, dass die Denare des Childerich Bestandteil eines Thesaurus seien, der im ausgehenden 2. oder frühen 3. Jahrhundert jenseits der römischen Reichsgrenze zusammengestellt und mit dem fränkischen König auf ehemaliges
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überrascht, da diese Münzen in den Denarhorten des ausgehenden 2. Jahrhunderts im europäischen Barbaricum äußerst selten sind. Auch diese Münze ließe sich einem in Nordwestdeutschland, Westfalen und den angrenzenden Niederlanden verbreiteten Hortfundhorizont zuordnen, wenn sie nicht innerhalb des nur ausschnittsweise überlieferten Münzbestandes aus dem Childerichgrab isoliert stehen würde.
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Reichsgebiet zurückgekehrt seien.16 Die im Childerichgrab enthaltenen späten Denare des Septimius Severus und Caracalla können als spätere Hinzufügungen betrachtet werden.
Thesaurierung Neben äußerlichen, für jedermann sichtbaren mobilen Herrschaftszeichen wie Standarten, Diademe, goldene Armgelenkreifen oder dem langen Haupthaar der merowingischen und karolingischen Könige, das übrigens bereits die germanischen Leibwachen spätantiker römischer oder byzantinischer Kaiser zierte, zählten (Königs)schätze oder allgemein Thesauri zu den unverzichtbaren Herrschaftsinstrumenten völkerwanderungszeitlicher oder frühmittelalterlicher Eliten.17 Der Thesaurus, der direkt mit der Person des Königs verbunden war, bildete für den Herrschenden den Gold- und Edelmetallvorrat, aus dem er persönlich Geschenke an seine Gefolgschaftsleute austeilen konnte. Neben gemünzten und ungemünzten Gold und anderen Edelmetallen zählten Schmuckstücke, Prunkwaffen und kostbares Metallgeschirr zum festen Bestandteil königlicher Thesauri. Der Besitz von Gegenständen aus den Schätzen mythologisch überhöhter Vorfahren oder im Kampf unterlegener Gegner unterstrich in den Augen der Zeitgenossen die Bedeutung des aktuellen Herrschers. Hierzu zählen vor allem Waffen, aber auch andere „profane“ Gegenstände, die mit einem konkreten oder mythologischen Ereignis in der Vergangenheit verbunden werden. Völkerwanderungszeitliche und frühmittelalterliche Königsschätze enthielten neben zeitgenössischen Gegenständen immer wieder Kostbarkeiten aus der römischen Kaiserzeit. Es ist sogar gut vorstellbar, dass ein Herrscher besonderes Interesse an mythologisch überhöhten „Altsachen“ hatte und diese gezielt in seinen Schatz aufnehmen wollte, um seinen Status zu unterstreichen. 16
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Max Martin, Childerichs Denare – Zum Rückstrom römischer Silbermünzen ins Merowingerreich. In: H. Friesinger, A. Stuppner (Hrsg.), Zentrum und Peripherie. Gesellschaftliche Probleme in der Frühgeschichte. Mitteilungen der Prähistorischen Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Philosophischhistorische Klasse, Band 57 (Wien 2004), S. 241–278. Vgl. Matthias Hardt, Artikel „Herrschaftszeichen“. In: RGA 14 (1999), S. 457– 467; Matthias Hardt, Artikel „Königsschatz“. In: RGA 17 (2001), S. 134–136; Matthias Hardt, Artikel „Schatz“. In: RGA 26 (2004), S. 596–598. – Matthias Hardt, Royal Treasures and Representation in the Early Middle Ages. In: W. Pohl, H. Reimitz (Hrsg.), Strategies of Distinction. The Construction of Ethnic Communities, 300–800 (Wien 1998), S. 255–280; Matthias Hardt, Silverware in Early Medieval Gift Exchange: Imitatio Imperii and Objects of Memory. In: I. Wood (Hrsg.), Franks and Alamanni in the Merovingian Period. An Ethnographic Perspective (Woodbridge 1998), S. 255–280.
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Neben ihrer Funktion als frei verfügbarer Vorrat von Geschenken für hohe, einem Herrscher direkt unterstellten Würdenträgern, ein bekanntes Beispiel sind die ein Vielfaches des Gewichtes eines Solidus wiegenden goldenen Handgelenkreifen18 spätkaiserzeitlicher Kriegereliten, spielten Thesauri eine unverzichtbare Rolle bei der Zusammenstellung der Mitgift von Königstöchtern. Nicht zu unterschätzen ist auch ihre Bedeutung für die Sicherung von Frieden und die Zahlung von gezielten Subventionen oder Tributen. Diese Funktionen reflektieren gleichzeitig wichtige Mechanismen, die zum Entstehen eines Thesaurus beitragen: die (teilweise) Übernahme des persönlichen Thesaurus eines im Zweikampf oder Krieg unterlegenen Gegners. Verschiedenartige Erzeugnisse römischer Werkstätten werden in beträchtlichen Umfang – sei es mit chronologischen und regionalen Schwerpunkten – in zahlreichen Gebieten des europäischen Barbaricums gefunden. Diese Funde, unter anderem Gold-, Silber- und Kupfermünzen, Buntmetallund Glasgefäße, Fibeln und andere Schmuckgegenstände, aber auch die vor allem westlich der Elbe stark verbreiteten Mühlsteine aus Basaltlava repräsentieren die in Art und Intensität unterschiedlichen Beziehungen zwischen dem römischen Reich und germanischen Gesellschaften außerhalb der Grenzen des Imperiums.19 Wesentlich schlechter erforscht ist jedoch die Frage, welche Rolle römische Bronzegefäße oder Edelmetallmünzen innerhalb des innergermanischen Warenaustauschs gespielt haben. Neue Untersuchungen zu den germanischen Beigaben aus den besonders reich mit Beigaben versehenen Bestattungen von Hagenow20 oder dem Königsgrab von 18
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Joachim Werner, Der goldene Armring des Frankenkönigs Childerich und die germanischen Handgelenkringe der jüngeren Kaiserzeit. Frühmittelalterliche Studien 14, 1980, S. 1–41. Eggers (wie Anm. 1); Jürgen Kunow, Der römische Import in der Germania libera bis zu den Markomannenkriegen. Studien zu den Bronze- und Glasgefäßen. Göttinger Schriften zur Vor- und Frühgeschichte 21 (Neumünster 1983); Ulla Lund Hansen, Römischer Import im Norden. Warenaustausch zwischen dem römischen Reich und dem freien Germanien unter besonderer Berücksichtigung Nordeuropas. Nordiske Fortidsminder Serie B Bd. 10 (Kopenhagen 1987); Stephan Berke, Römische Bronzegefäße und Terra Sigillata in der Germania libera. Boreas. Münstersche Beiträge zur Archäologie Beiheft 7 (Münster 1990); Erdrich (wie Anm. 10). Hans-Ulrich Voß, Hagenow in Mecklenburg – ein frühkaiserzeitlicher Bestattungsplatz und Aspekte der römisch-germanischen Beziehungen. Berichte der RGK 86, 2005, S. 19–59; Hans-Ulrich Voß (in Vorbereitung), Die „Römergräber“ von Hagenow – frühkaiserzeitliche Grabfunde germanischer Eliten. Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mecklenburg-Vorpommern; Hans-Ulrich Voß, Römische Funde im Land Mecklenburg-Vorpommern. In: Corpus der römischen Funde im europäischen Barbaricum Deutschland 3. Bundesland Mecklenburg-Vorpommern (Bonn 1998), S. 810.
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Mušov, aber auch die vergleichende Analyse jüngerkaiserzeitlicher Fundkomplexe wie der Kriegsbeuteopfer von Thorsberg oder Illerup mit diesen reich ausgestatteter Gräbern zeugen von der Existenz germanischer Elitenetzwerke und der intensiven Kommunikation hochgestellter germanischer Würdenträger untereinander.21 Als materiellen Niederschlag dieser offenbar quer durch das mitteleuropäische Barbaricum unterhaltenen Kontakte dürfen wir die innerhalb dieser gesellschaftlichen Spitzengruppe gut vergleichbaren Ausstattungsniveaus der Grablegen und die weite Verbreitung gut vergleichbarer oder sogar werkstattgleicher statusumschreibender Ausrüstungsstücke wie aufwändig verziertes Zaumzeug, Reitersporen oder Leib- und Waffengürtel sehen. Wenn wir die oben skizzierten allgemeinen Aspekte völkerwanderungszeitlicher und frühmittelalterlicher Thesauri, ihrer Zusammenstellung und ihrer Bedeutung als unverzichtbares Instrumentariums der Herrschergewalt königlicher Eliten auf die gesellschaftlich stark unterschiedlichen Verhältnisse des kaiserzeitlichen europäischen Barbaricums zwischen Rhein, Donau und dem südlichen Skandinavien übertragen,22 öffnet sich im Zusammenhang mit dem sog. „römischen Import“ ein interessantes und bisher kaum näher untersuchtes vielschichtiges Problemfeld.23 Konkret wird die Frage gestellt, ob es sich bei den zunächst neutral als „Altsachen“ bezeichneten Gold- und Silbermünzen, aber auch Buntmetallgefäßen oder anderen Gegenständen des täglichen Gebrauchs um Bestandteile von persönlichen Schätzen von Mitgliedern einer germanischen Führungsschicht handeln kann, die bei der Bestattung aus seinem eigenen – oder dem Schatz eines
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22
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Claus von Carnap-Bornheim, Zwischen Anpassung und Widerstand? Überlegungen zu Fürstengräbern der römischen Kaiserzeit im Barbaricum. In: C. von CarnapBornheim, D. Krausse, A. Wesse (Hrsg.), Herrschaft – Tod – Bestattung. Zu den vor- und frühgeschichtlichen Prunkgräbern als archäologisch-historische Quelle. Universitätsforschungen zur Prähistorischen Archäologie Bd. 139 (Bonn 2006), S. 111–126. So hat der Mediävist Patrick Geary explizit auf die kaiserzeitlich-germanischen Wurzeln und Traditionen des Merowingerreiches hingewiesen; Patrick J. Geary, Die Merowinger. Europa vor Karl dem Grossen (München 1996), S. 13–17. – Claus von Carnap-Bornheim, Kaiserzeitliche germanische Traditionen im Fundgut des Grabes des „Chef militaire“ in Vermand und im Childerich-Grab in Tournai. In: Th. Fischer, G. Precht, J. Tejral (Hrsg.), Germanen beiderseits des spätantiken Limes. Materialien des 10. Internationalen Symposiums „Grundprobleme der frühgeschichtlichen Entwicklung im nördlichen Donauraum“, Xanten 1997 (Köln, Brno 1999), S. 47–61. Ein solcher Schritt ist meines Erachtens gestattet, da die frühen Könige der germanischen Reiche der Völkerwanderungszeit und des frühen Mittelalters germanische wie auch römische Traditionen kreativ fortsetzen, vgl. Anm. 22.
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seiner Gefolgsleute – entnommen und als statusumschreibende Beigabe ins Grab gelegt wurden. Bei den Silber- und Goldmünzen wurde diese Möglichkeit in jüngster Zeit erwogen.24 Weitaus schwieriger, vielleicht weil für den Archäologen ungewohnt, gestaltet sich das Problem bei anderen Fundkategorien oder auf den ersten Blick weniger herausgehobener sozialer Milieus. Auch wenn wir uns mit den oben aufgeführten Bestattungen von Mušov und dem Grab des Childerich in einem königlichen Niveau bewegen, zeigt die Bestattung von Bialecino, dass das Phänomen der Anwesenheit von Altsachen in Grab- und Schatzfunden viel weiter verbreitet ist und sich nicht nur auf die gesellschaftlichen Spitzen beschränkt. Auch wenn bisher eine systematische Erfassung und Analyse der Datierung dieser Altsachen römischer Provenienz fehlt, zeichnet sich meines Erachtens eine überraschende Parallelität mit den für das westliche und weite Teile des mitteleuropäischen Barbaricums nachgewiesenen „Importschüben“ ab: die ausgehende Republik, die augusteischtiberische Periode, die flavische Periode, die spätantoninische bis frühestseverische Periode.25 In diesem Zusammenhang fällt eine weitere Beobachtung auf, für deren Bestätigung ebenfalls eine systematische Analyse des Gesamtphänomens erforderlich wäre. Mir sind derzeit keine Beispiele reich ausgestatteter jüngerkaiserzeitlicher oder frühvölkerwanderungszeitlicher Grab- und Schatzfunde bekannt, in denen spätkeltische oder älterkaiserzeitliche Altstücke vorkommen. Wenn wir von den frühmittelalterlichen Quellen zur Funktion königlicher Thesauri ausgehen, wurden sie unter anderem zur Beilegung von möglichen und realen Konflikten eingesetzt, auch spielten sie eine wichtige Rolle bei der Sicherung friedlicher Beziehungen. Hier drängt sich beinahe zwangsläufig die Frage nach den Kriegsbeuteopfern im südlichen Skandinavien auf. Es ist allgemein anerkannt, dass in Illerup, Thorsberg oder vergleichbaren Fundstellen die Waffen einer im Kampf unterlegenen Kriegerschar in fließenden oder stehenden Gewässern versenkt wurden. Wenn wir das frühmittelalterliche Modell der Thesauri auf die jüngere Kaiserzeit im südlichen Skandinavien übertragen dürfen, dann stellt sich auch die Frage nach den persönlichen Schätzen der Anführer dieser Kriegerverbände, die ja innerhalb ihrer Gesellschaft zu den dominanten Gruppen gerechnet werden müssen. Haben sie möglicherweise Teile ihres Thesaurus auf den Feldzug mitgenommen, und wo ist er dann nach der Niederlage geblieben? Ist es denkbar, dass im Rahmen der Beilegung der zunächst mit militärischen Mitteln ausgetragenen Konflikte (Teile der) persönliche(n) Schätze der unterle24 25
Martin (wie Anm. 16); Bursche (wie Anm. 12). Vgl. Erdrich (wie Anm. 10).
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genen Anführer, in denen sich neben einheimisch-germanischen Gegenständen auch römische Erzeugnisse befinden konnten, in die Hände der Sieger gelangten. Diese Gegenstände können gut in die Schätze der Sieger eingeflossen und damit anderen Deponierungsmechanismen unterworfen sein als die Waffen und persönliche Ausrüstung der unterlegenen Krieger. Wenn man die Möglichkeit einer innergermanischen Übertragung von Gegenständen aus den persönlichen Schätzen jüngerkaiserzeitlicher Eliten im Rahmen einer Konfliktbeilegung, Sühneleistung oder weniger dramatisch einer Mitgift nicht grundsätzlich von der Hand weist, öffnet sich ein weiteres attraktives Problemfeld. Bei einer großflächigen Kartierung einzelner römischer „Importkategorien“ wie beispielsweise den mittelkaiserzeitlichen Reliefsigillaten, den Hemmoorer Eimern, Einzeldenaren oder Denarhorten zeigen sich regional scharf abgegrenzte Verbreitungsgebiete. Wenn man sich die Verbreitung der Einzeldenare und Denarhorte innerhalb des europäischen Barbaricums näher betrachtet, zeigt das Kartenbild zur Verbreitung der römischen Silbermünzen in der Niederländischen und Norddeutschen Tiefebene einen scharfen Bruch.26 Westlich der etwa bei Cuxhaven in die Nordsee einmündenden Oste finden wir zahlreiche Einzeldenare und Denarhorte mit einer Schlussmünze von 193/194, in den östlich und nördlich anschließenden Landschaften fehlen sie weitgehend (Abb. 3). Ein vergleichbares Bild bieten die zeitgleichen Sigillaten, die im südlichen Skandinavien, Schleswig-Holstein oder weiten Teilen Mitteldeutschlands wesentlich seltener vorkommen als westlich der Elbe (Abb. 4). Dieses Kartenbild wurde mit besonderen diplomatischen oder politischen Beziehungen Roms zu bestimmten Rhein-Weser-germanischen Stämmen während der Markomannenkriege erklärt. Rom wirkte durch gezielte diplomatische Initiativen auf innergermanische Entscheidungsprozesse ausgesuchter germanischer Stämme wie etwa der Friesen oder Chauken ein, um so ein militärisches Wohlverhalten gegenüber dem Imperium und seiner Nordwestgrenze zu erzwingen. Gleichzeitig sollten elbgermanische Stämme, die während der Markomannenkriege die römische Grenze im mittleren Donauraum massiv bedrängten und wiederholt tiefe Vorstöße auf Reichsgebiet machten, innerhalb der germanischen Stammeswelt isoliert oder möglicherweise sogar militärisch unter Druck gesetzt werden. Das Abbrechen des Zuflusses von Denaren und Sigillaten vor dem Ende des 2. Jahrhunderts markiert das Ende 26
Die Niederländischen Provinzen Nord- und Südholland sowie die nördlich des Rheins gelegenen Teile der Provinz Gelderland sind nicht kartiert. Aus diesen Bereichen sind jedoch zahlreiche Denarfunde bekannt. Hier wie auch in übrigen Barbaricum erscheinen severische Silbermünzen als Einzelfunde oder Bestandteil von Denarschätzen nur in homöopathischen Mengen.
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Abb. 3: Gesamtkartierung römischer Fundmünzen der spätantoninischen bis frühseverischen Zeit (nach Erdrich, Rom und die Barbaren, wie Anm. 10, Abb. 9).
dieser Politik unter Commodus oder den ersten Regierungsjahren des Septimius Severus. Es ist gut denkbar, dass in dieser Zeit römische Silbermünzen oder Gebrauchsgegenstände wie Metallgefäße in die persönlichen Schätze (Rhein-Weser‑)germanischer Eliten aufgenommen wurden und nach innergermanischen Konflikten in den Besitz von Stammesgruppen gelangten, die ursprünglich nicht zu den Verbündeten Roms, möglicherweise sogar zu den Gegnern Roms zählen. In diesem Falle reflektiert das Verbreitungsbild nicht das primäre Ziel- oder Interessengebiet römischer Außenpolitik, sondern die Folge innergermanischer Konflikte, bei deren Beilegung römische Gegenstände ausgetauscht wurden.
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Abb. 4: Gesamtkartierung der übrigen römischen Funde (ohne Fundmünzen) der spätantoninischen bis frühseverischen Zeit (nach Erdrich, Rom und die Barbaren, wie Anm. 10, Abb. 8).
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 555–571 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
Landschaftsarchäologie – Siedlungsarchäologie: Gedanken zu neuen Entwicklungen in den Niederlanden Frans Theuws Siedlungsarchäologie und Landschaftsarchäologie sind bekannte Begriffe, und ihre Zielsetzungen scheinen fast selbstverständlich zu sein.1 Das sind pauschal die Rekonstruktion vergangener Landschaften und die Entwicklung der Besiedlung. Jahrzehnte hat die Forschung diese Fragestellungen aber verfeinert und auch verkompliziert. Diejenigen in den Niederlanden, die sich intensiv mit Siedlungen und Landschaften beschäftigen und die ein umfangreiches Material ausgegraben haben, kommen zu dem Schluss, dass eine Erneuerung der Fragestellungen unumgänglich ist.2 Ich will versuchen, einen von den verschiedenen neuen Wegen vorzustellen. Man kann diesen Weg als eine Erweiterung der volkskundlichen oder besser der europäisch ethnographischen Betrachtungsweise sehen. Er hat auch Verbindungen mit der Historischen Anthropologie.3 Es ist aber nicht unbedingt eine dieser beiden Disziplinen, die ausgewählt wird, weil ich
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Dieser Beitrag ist ein leicht überarbeiteter Vortrag der RGA-Tagung „Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft. Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanische Altertumskunde“ in Göttingen. Ich möchte Prof. Dr. Heiko Steuer herzlich danken für die Einladung nach Göttingen. Dieser Beitrag trägt jedoch noch die Spuren eines Vortrags. Der große Erfolg der Siedlungsarchäologie mit ihren zahlreichen Ausgrabungen in den Niederlanden hat zum Nachteil, dass viele dieser Ausgrabungen entweder nicht oder nicht genügend publiziert sind. Außerdem findet diese Erneuerung der Fragestellungen statt vor dem Hintergrund eines Aufwandes an neuen Ausgrabungen, und zwar als Folge des neuen Denkmalgesetzes, verbunden mit dem Verursacherprinzip (wodurch die Finanzierung der Geländeforschungen durch den „Bauherrn“ erfolgt.). Die Gefahr einer Ausgrabungsexplosion ohne inneren Zusammenhang und weiterführender Fragestellungen droht. Gurevich 1992; Dressel 1996; Goetz 1999, S. 262–370.
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meine Vorbilder und Konzepte auch direkt der Kulturellen Anthropologie und der Ethnografie entlehne.4 Die Weiterentwicklung der Siedlungs- und Landschaftsarchäologie kann man entlang verschiedener neuer Wege erreichen. Der erste Weg ist die Verfeinerung und Verbesserung der Ausgrabungsmethoden. Der zweite Weg ist der intensive Einsatz von naturwissenschaftlichen Methoden. Der dritte Weg umfasst die Erneuerung der theoretischen Ansätze. Ich werde mich in diesem Beitrag mit diesem dritten Weg beschäftigen. Dabei werde ich in Ansätzen schildern, welche Entwicklungen in den Niederlanden auf diesem Gebiet erkennbar sind. Weiterhin möchte ich anhand einiger Beispiele die Entwicklungen in der Siedlungsarchäologie des Mittelalters vorführen. Als erstes sieht man in der Siedlungs- und Landschaftsforschung einen Unterschied zwischen denjenigen Forschern, die langfristige (diachrone) Entwicklungen in den Vordergrund stellen, und denjenigen, die sich mit (synchronen) Strukturen beschäftigen. Der Unterschied ist letztendlich nicht absolut, weil keine der beiden Betrachtungsweisen ohne Berücksichtigung der anderen ausreichende Einsichten bieten kann. Die diachronen Entwicklungen werden über längere Zeitabschnitte in einem Raum verfolgt, das heißt von der Bronzezeit bis ins Spätmittelalter.5 Ausgangspunkt ist der Begriff ‚(kulturelle) Biographie der Landschaft‘.6 Diese Betrachtungsweise unterscheidet sich unter anderem von der herkömmlichen ‚Siedlungsgeschichte‘ in dem Sinne, dass es sich nicht um eine Aneinanderreihung von Strukturen in genau festgelegten Perioden handelt, sondern indem man davon ausgeht, dass Siedlungslandschaften keinen definierten Anfang und kein klares Ende haben, sondern dass sie ineinander fließen, wobei Elemente vergangener Landschaften aufgegriffen werden (speziell im geistigen Sinne), um Anteil an den neuen Werten zu haben, die das Leben in einer bestimmten Landschaft mit sich bringt. Zum Beispiel spricht man lieber nicht von einer ‚spätrömischen Landschaft‘ und einer ‚merowingerzeitlichen Landschaft‘, weil man während der Merowingerzeit in vielen Räumen des Römischen Reiches fast in einer (sei es teils ruinierten) aus der Römerzeit geerbten Landschaft gelebt haben muss. Die frühen Franken lebten nicht unbedingt in einer ‚fränkischen Landschaft‘, aber in einer von ihnen integrierten, aus der Römerzeit ererbten Landschaft. Für eine spätere Zeit könnte man von einer ‚fränkischen Landschaft‘ sprechen, die wieder weitergegeben wurde. Diese selbstverständlichen Gedanken findet man aber kaum widergespiegelt in den Kartenbilder 4
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In den Niederlanden spricht man öfter von einer historisch-anthropologischen Betrachtungsweise in der Archäologie. Zum Beispiel Roymans 1995; Roymans/Theuws 1999; Roymans/Gerritsen 2002. Samuels 1979; Kopytoff 1988; Kolen 2005.
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der Archäologen zur Merowingerzeit, auf denen meist Gräberfelder und Siedlungen markiert sind, öfter gegen einen ‚natürlichen‘ Hintergrund, aber meist nicht oder nur sparsam gegen den Hintergrund der spätrömischen Landschaft (zum Beispiel gegen die Plätze mit Ruinen von Villen) als Teil der zeitgenössischen Landschaft. Bei dieser Betrachtungsweise wird die Landschaft als vielschichtiges Gebilde vorgestellt, aber nicht in dem Sinne, dass eine Schicht eine andere abdeckt und unsichtbar macht, sondern eher als ein Gefüge, worin die Schichten zeitgleich gegenwärtig sind und erfahren wurden, so wie auch heute die Landschaft einerseits als ein zeitgenössisches Ganzes betrachtet wird, als auch chronologisch differenziert wird. Der Grabhügel der Bronzezeit ist sowohl ein Teil unserer Landschaft als auch der Landschaft der Bronzezeit und, das sollte man nicht vergessen, der Landschaft der Römer, der Merowinger, der Karolinger und so weiter. Jede Gesellschaft hat ihren eigenen Umgang mit diesen Grabhügeln definiert, weshalb vielleicht die einfachen Hügel aus Sand die Jahrhunderte überlebt haben.7 Eine Metapher, die öfter in diesem Kontext benutzt wird, ist die des Palimpsests, ein ausgelöschtes und neubeschriebenes Manuskriptblatt, wobei man den alten Text noch lesen kann und benutzt. Themen, die in dieses Forschungsfeld gehören, sind die ‚Past in the Past‘, die Erinnerungskultur als wichtiges Element der Identitätsbildung und die Archäologie ‚natürlicher‘ Stellen, dass heißt von Stellen, die nicht in physischem Sinne von Menschen geschaffen sind (zum Beispiel Bäume, Quellen, Gesteine).8 Hier wird ein Problem der modernen Landschaftsarchäologie sichtbar. Die Landschaft ist nicht nur anwesend in physischem Sinne, sondern auch als mentales Konstrukt. Genau betrachtet ist die ‚natürliche‘ Stelle keine ‚natürliche‘ Stelle in unserem Naturbegriff, eben weil sie im geistigem Sinne ‚vermenschlicht‘ ist und für die Zeitgenossen ein Teil der Kulturlandschaft war. In dem Sinne bildet unsere Unterscheidung zwischen Natur- und Kulturlandschaft ein kompliziertes und problematisches Begriffpaar, das nicht unbedingt übereinstimmt mit einem Naturbegriff vergangener Gesellschaften.9 Die Forschung zur Verbindung zwischen Identitätsbildung und Landschaft verknüpft diese Betrachtungsweise mit der Forschung, die sich mit gesellschaftlichen Strukturen auseinandersetzt. 7
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Bis jetzt aber scheint mir der Umgang mit den Grabhügeln im Mittelalter (abgesehen von der Benutzung von einigen als Grabstellen im frühen Mittelalter) durch die archäologische Forschung unzureichend, um sich Gedanken zu machen über den Umgang mit Grabhügeln im Mittelalter. Unbewusste Vernachlässigung zu sehen, wäre auch möglich. Siehe zum Beispiel Williams 1998 oder Bradley 2002. Zum Beispiel: Descola 1996.
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Die zweite Betrachtungsweise beschäftigt sich mit synchronen Strukturen innerhalb eines kulturellen Gefüges oder besser innerhalb eines bestimmten Raums in einer bestimmten Zeit. Das Abgrenzen eines kulturellen Gefüges ist natürlich immer problematisch, sowohl räumlich als auch zeitlich. Diese Betrachtungsweise bevorzugt die Erforschung von Mentalitäten, Weltvorstellungen, Anschauungen oder unbewussten Wahrnehmungen und zusammenhängenden Perzeptionen in Verbindung mit speziellen Praktiken.10 Das heißt nicht, dass die soeben besprochene Betrachtungsweise nicht an diesen Themen interessiert wäre, aber die tiefer reichende Erforschung dieser Themen gelingt sicher besser in einem synchronen strukturellen Rahmen. Aus dieser Perspektive ist die Landschaft auch nicht unbedingt ein zentrales Thema oder ein Ausgangspunkt für Forschungen. Wenn die Landschaft mit einbezogen wird, ist entscheidend der Ausgangspunkt, dass der Umgang mit der Landschaft nicht einseitig geschieht, sondern wechselseitig, wobei, jedenfalls in der Auffassung vieler Gesellschaften, der Mensch nicht nur die Umgebung formt (durch praktisches Handeln), sondern auch selbst von ihr geformt wird. Öfter ist in der Vorstellungswelt der vor-modernen Gesellschaften nicht der Mensch selbst der Schöpfer und Besitzer von dem, was er realisiert hat, sondern ein übernatürliches Wesen (so auch im europäischen Mittelalter) oder die Vorfahren. Dazu gehört der Gedanke, dass die von ihm selbst geordnete materielle Welt eine von Gott oder einem anderen Wesen gegebene Ordnung ist, die eine Aneignung auf individueller Ebene nicht gestattet.11 Es ist nicht unmöglich, dass es solche transzendenten Auffassungen sind, die die Grabhügel der Bronzezeit so lange geschützt haben.12 Selbstverständlich ist es nicht möglich, die Forschung zu Vorstellungen und unbewußten Wahrnehmungen (Perzeptionen) zu trennen von praktischen Handlungen und vom sozialen und ökonomischen Verhalten. Viele Handlungen haben mehrere Bedeutungsschichten. Zum Beispiel haben Rituale nicht nur eine geistliche Bedeutung, sie sind ebenso praktisch, sozial und ökonomisch. In der Forschung ist es aber unumgänglich, die verschiedenen Bedeutungsschichten erst von einander zu trennen, um sie beschreiben zu können. Um dieses zu erreichen, kann man die Landschaftsund Siedlungsarchäologie in drei Themenfelder aufteilen. Als erstes ist da die ‚Landschaft des praktischen Handelns‘, das heißt das, was man hätte wahrnehmen können, wenn man dabei gewesen wäre. 10 11 12
Huijbers 2007. Godelier 1999, S. 172. Der moderne profanisierte Denkmalschutz, durch den Denkmäler ökonomisch betrachtet (Touristik) und dabei aus der Welt der Vorstellungen in das Alltägliche geholt werden, ist wahrscheinlich eine große Bedrohung für ihren langfristigen Schutz.
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Solche Praktiken sind auch der Ausgangspunkt vieler Analysen der gesellschaftlichen Strukturen.13 Als zweites gibt es die ‚soziale Landschaft‘, das heißt die Art und Weise, wie soziale Aspekte und die Landschaft auf einander einwirken. Es ist nicht so, dass die Landschaft nur eingerichtet wird auf der Basis von sozialen Organisationen, zum Beispiel der sozialen Organisation der agrarischen Produktion. Es ist auch umgekehrt so, dass das Aussehen der Landschaft die soziale Organisation mit bestimmt und die Weise, wie sie empfunden wird. Zum Beispiel wird der Bau einer Mansus indominicatus im 8. oder 9. Jahrhundert für die erste Generation der Bewohner in der Umgebung eine Neuigkeit sein, für die späteren Generationen aber ist es das spürbare Element sozialer Unterschiede und Ungleichheit, das – weil es eben ein Element der Landschaft war – als ‚natürlich‘ empfunden werden konnte und auf diese Weise mitgeholfen hat, den sozialen Unterschied als natürlich zu betrachten, also als etwas, was nicht zur Debatte stand, als ein Teil der Schöpfung und von Gott gegeben. Solche Gedanken können durch die Kraft landschaftlicher Elemente ausgelöst worden sein. Aus dieser Sicht spielt die Landschaft eine wichtige Rolle bei der Empfindung, Akzeptierung und Strukturierung des sozialen Gefüges. Als drittes gibt es die ‚imaginäre Landschaft‘, die Landschaft verbunden mit den Weltvorstellungen, Normen und Werten einer Gesellschaft. Das kommt zum Beispiel zum Ausdruck in der Benutzung der Landschaft oder von Landschaftsteilen als Metaphern für Teile der gesellschaftlichen Organisation oder der Art und Weise, wie Ansprüche (sowohl abstrakte als greifbare) auf die Landschaft repräsentiert werden.14 Wie gesagt, die drei Themenfelder bilden natürlich nicht drei unterschiedliche, nebeneinander stehende Elemente der Landschaft. Das eine Element ist nicht nur real, das andere nicht nur imaginär. Ein Brunnen auf einem Hofgelände kann neben der Wasserversorgung eine wichtige Rolle in den Weltvorstellungen von Bauern spielen.15 Obwohl ich zwei verschiedene Betrachtungsweisen in der Entwicklung der Theorie zur Siedlungs- und Landschaftsarchäologie grob vorgestellt habe (diachron – synchron), sollte man diese nicht als sich einander ausschließende Vorgehensweisen sehen.16 Letztendlich sollten die beiden 13
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Ideen von P. Bourdieu haben die archäologische Forschung und die der vergleichbaren anthropologischen Forschung einschneidend beeinflusst: Moore 1996, Austin/ Thomas 1990; Waterson 1997. Godelier 1999. Bauschatz 1982. Darüber hinaus findet man innerhalb dieser Richtungen unterschiedliche Positio-
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miteinander verknüpft werden. Natürlich sind Elemente vergangener Landschaften Teile der Strukturen der Vorstellungswelt in einer bestimmten Zeit, und diachrone Entwicklungen werden von strukturellen Elementen mitbestimmt. Die Frage ist, inwiefern man beide zeitgleich erforschen und verstehen kann, und ob nicht zuerst die strukturellen Kennzeichen einer Gesellschaft erforscht werden sollen, ehe man sie in ein diachrones Bild einfügt. Dabei stellt sich die Frage, auf welcher Ebene die diachrone Analyse stattfinden soll, auf der Ebene der einzelnen Kennzeichen oder auf der Ebene der Modelle für gesellschaftliche Strukturen. Damit stoßen wir auf alte Probleme der evolutionistischen Anthropologie: dem interkulturellen Vergleich und der Analogie. Ein Beispiel genügt, um das Problem näher zu erläutern. Für verschiedene Gesellschaften in den südlichen Niederlanden (Bronzezeit, Eisenzeit, Frühes Mittelalter, Hohes Mittelalter) wird jetzt besondern beachtet, dass platzkonstante Gräberfelder, die über mehrere Generationen lang benutzt wurden (Grabhügelgruppen, Urnenfelder, merowingerzeitliche Gräberfelder, Friedhöfe), eine wichtige Rolle in der Entwicklung von lokalen Identitäten und Gruppenverbindungen spielten, und zwar besonders auch in den Fällen, in denen zeitgleich Wandersiedlungen und isoliert in der Landschaft liegende Gehöfte das Siedlungsbild bestimmten. Dieses diachron immer wieder aufs neue auftretende Element hat aber in jeder Periode eigene kulturelle Erscheinungsformen (Urnenfelder sehen nicht aus wie merowingerzeitliche Gräberfelder), die sicher von Bedeutung sind, die aber meines Erachtens unzureichend studiert werden, bevor sie in ein diachrones Modell von lokalen Gruppenidentitäten einfließen. Obwohl man die beiden Betrachtungsweisen nicht als zwei unterschiedliche Forschungsvorhaben sehen möchte, bemerkt man in den Niederlanden einen Unterschied, wobei die erste Betrachtungsweise vor allem unter Vorgeschichtlern ihre Anhänger hat und die zweite vor allem unter Mittelalterarchäologen. Ob das mit der Quellensituation zusammenhängt, ob das Vorhandensein von schriftlichen Quellen die Erforschung von Strukturen auf der Basis der materiellen Kultur unterstützt und ob die Kombination von Quellen eine Vertiefung in der Erforschung von Strukturen mit sich bringt, kann man jetzt noch nicht sagen. Ich möchte versuchen, an Hand von Beispielen die Idee zu erläutern, wie man Strukturen, Weltvorstellungen und die imaginäre Landschaft erforschen kann. Diese Beispiele entstammen dem Mittelalter. Dabei möchte ich auch noch etwas zur allgemeinen Perspektive der Forscher sagen. Eigentlich sollte man kein Archäologe sein, eher ein Ethnonen, abhängig von den theoretischen Ausgangspunkten und der Herkunft von Inspirationen.
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graph oder Anthropologe der Vergangenheit. Das ist schwierig, weil die Gesellschaft, die studiert werden soll, schon längst verschwunden ist. Was aber hätte man wahrgenommen, wenn man hätte dabei sein können? Es würde sich schnell herausstellen, dass man nicht nur praktische Handlungsweisen erkennen würde, sondern auch erste Einsichten in die Vorstellungen über diese bekommen hätte, die dabei eine Rolle spielten. Man würde genau erkennen, wer sich wo auf dem Hof bewegte, zu welcher Zeit am Tag, auf welche Weise die Besucher den Hof betraten, wer das Wasser holte, auf welche Weise wer entschied, wo neue Gebäuden errichtet werden sollten, und so weiter.17 Das heißt, man würde Einblicke in die Verteilung von den Aufgaben der Männer und Frauen bekommen, von alten und von jungen Männern oder Frauen, und so weiter, und man würde Einsichten bekommen, wie diese verschiedenen Rollen räumlich und zeitlich, das heißt in verschiedenen Zeitgefügen, verteilt waren und wie umgekehrt die Bewegung auf dem Hofgelände diese Rollenverteilung und das soziale Gefüge stützte oder transformierte. Man kann das aber nicht erreichen, weil die Höfe nicht mehr existieren und arbeiten und weil die Bewohner schon längst gestorben sind. Heißt das aber, dass wir in intellektuellem Sinne eine unbefriedigende Position einnehmen müssen, weil wir glauben, dass solche Forschungen anhand archäologischer Quellen nicht möglich sind, oder sollten wir dennoch versuchen, Anthropologen der Vergangenheit zu sein? Ich bevorzuge die letzte Position und ziehe auch Forschungen heran, die von einer fast archäologischethnografischen Perspektive aus in anderen Ländern ausgeführt worden sind, nehme zum Beispiel die Studie von Henrietta Moore von den Marakwet in Kenia als einen Ausgangspunkt. Ihr Buch Space, Text and Gender ist für diejenigen, die ‚archäologische Höfe‘ studieren, besonders interessant. Sie analysierte die Verbindung zwischen Raumnutzung, sozialer Organisation und Weltvorstellungen in einem Dorf dieses Stammes. Interessant ist für uns unter anderem ihre Analyse des Gehöftes (compound), des Netzwerks oder der Komposition des Hofes als Gesamtheit, der um eine Anzahl von konzeptuellen Schemata strukturiert war, zum Beispiel in Verbindung mit den Rollen von Männern und Frauen, wichtige Elemente in der sozialen Organisation von fast allen Gesellschaften, aber vielleicht mehr noch in vorindustriellen und agrarischen Gemeinschaften. Die Raumverteilung dieser verschiedenen Teile des Gehöftes (compound) und das Haus sind aber nicht nur eine Gegebenheit, in die man sich fügt, sie ist ständig Gegenstand von Interpretationen und Handlungen von und durch diejenigen, die diese Räume benutzen. Auf diese Weise wird auch ständig die offensichtlich fest17
Bourdieu 1973; Moore 1996; Waterson 1997.
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liegende soziale Organisation ‚diskutiert‘ und sie ist Gegenstand der Verhandlung zwischen verschiedenen Gruppen, ohne dass die dominanten Gedanken sofort überstürzt durchgesetzt werden. Interessant ist auch ihre Feststellung, dass es eine Parallele gibt zwischen dem Lebenszyklus einer Familie und die der Verbindung der einzelnen Elemente des Hofes (compound). Man könnte also von dem Lebenszyklus eines Hofes sprechen. Einleuchtend ist auch ihre Analyse des Umgangs mit den Abfällen der Haushaltung, die nicht einfach weggeworfen werden. Die Marakwet kennen drei Arten von Abfällen, die räumlich und semantisch unterschieden werden. Es geht um Asche, Dünger von Tieren und Spreu von Millet und Sorghum (Hirsegattungen). Sie mischen diese Abfälle niemals, weil sie die Entsorgung von Abfällen mit der Beerdigung von Toten verbinden. Man kann die Abfälle nämlich deshalb nicht mischen, weil Frauen dort begraben werden sollen, wo die Reste ihrer Arbeit, die Spreu, liegen, und die Männer gehören dorthin, wo der Dünger der Ziege liegt. So sind die Vorstellungen über Abfälle und Beerdigungen verbunden mit den Vorstellungen über die Frauen und ihre Arbeit und über die Männer mit ihren Tieren. Es wird an anderen Stellen in der Welt, zum Beispiel im frühmittelalterlichen Europa, sicher anders gewesen sein. Aber nachdem man von solchem Verhalten Kenntnis genommen hat, ist man davor gewarnt, dass alles, was man an Spuren von Handlungen auf einem Siedlungsgelände und in seiner unmittelbaren und mittelbaren Umgebung archäologisch sehen kann, nicht als selbstverständlich betrachtet werden sollte, zum Beispiel aus dem Blickwinkel unserer modernen Einsichten über Hygiene und Abfälle. Solche Analysen zeigen jedoch vor allem auch, dass wir viel differenzierter die Raumbenutzung auf einem Siedlungsgelände betrachten müssen. Solche Analysen warnen auch davor, einen klaren Unterschied zu machen zwischen der Deponierung von Abfällen, rituellen Depositionen, Schatzfunden und Gräbern. Stattdessen sollte man sich Gedanken machen über das, was die verbindenden Elemente zwischen diesen Deponierungen gewesen sein können. Kann man etwas mit solchen Überlegungen anfangen, wenn man frühund hochmittelalterliche Siedlungsplätze und ihre Umgebung betrachtet? Wir versuchen das bei unseren Erforschungen von mittelalterlichen Siedlungen in den südlichen Niederlanden. Ein erstes Beispiel entnehme ich der Dissertation von Antoinette Huijbers aus dem Jahr 2007: Metaforiseringen in beweging.18 Sie analysiert die Zusammenstellung von Bauernhöfen aus dem hohen Mittelalter und die 18
Huijbers 2007.
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räumliche Organisation dieser Höfe. Nach einer detaillierten Analyse fast aller verfügbaren Haus- und Gebäudegrundrisse und komplett ausgegrabener Gehöfte stellte sich heraus, dass es eine Anzahl von wiederkehrenden Ordnungen gab. Reiner Zufall wird nicht die Ursache dafür gewesen sein. Welche Entscheidungen liegen diesen Ordnungen zu Grunde? Als nächstes untersucht sie drei Aspekte der Weltvorstellungen von Bauern, wobei auch Schriftquellen benutzt werden. Als erstes ist das die Dreiecksrelation zwischen Mensch – Tier/Pflanze/Boden – Überwelt. Als zweites sind das die Rollen der verschiedenen Geschlechter. Als drittes Element folgt die Erfahrung der verschiedenen Lebensphasen. Danach definiert sie Perzeptionsschemata (Schemata der unbewussten Wahrnehmung), die in die räumliche Struktur des Hofes gespiegelt werden. Dabei sind zwei Hauptprinzipien zu unterscheiden. Als erstes ein konzentrisches Prinzip, ausgehend vom zentralen Element in der Haushaltung, dem Herd, und von diesem aus immer weiter nach außen blickend. Ausgangsthese ist, dass es eine Verbindung gibt zwischen dem Abstand dieser Linien und der Wertung. Als zweites werden zwei zueinander rechtwinklige Achsen über das Hofgelände gelegt, ausgehend vom Zentrum des Hauses, und registriert, wo sich die Elemente der Hofstruktur befinden, sowohl auf den Achsen, als auch in den durch die Achsen gebildeten Hälften und Vierteln des Gehöfts. Ausgangspunkt für die Bewertung sind die entweder einander gegenüberstehenden Elemente des Hofes oder ihre Verbindung untereinander, indem sie zusammen ein Ganzes bilden. Man soll erkennen, welche Elemente des Hofes die einander gegenüber stehen und zusammen ein Ganzes bilden. Das Endergebnis der Untersuchung zeigt, dass bestimmte Teile des Mensch-Umgebung-Perzeptionsschemas konzentrisch und andere Teile mittels Gegenüberstellungen (eine vertikale Achse) ausgedrückt werden, ebenso bestimmte Teile des GenderPerzeptionsschemas konzentrisch und andere Teile mittels Gegenüberstellungen (vertikale Achse) und schließlich das Lebensalter-Perzeptionsschema entlang der horizontalen Achse des Hofes (Abb. 1). Die Analysen wurden noch weiter dadurch kompliziert, dass Zeitelemente hinzugefügt wurden, und durch sich verändernde Positionen der Bewohner auf dem Hof, was als Folge die Perspektive auf die räumliche Struktur des Gehöfts ändern kann. So wird gezeigt, worum es dabei geht, dass es tatsächlich Ansätze und Möglichkeiten gibt, anhand von Siedlungsausgrabungen die Weltvorstellungen von Bauern erforschen zu können. Das zweite Beispiel entnehme ich den Ausgrabungen von Siedlungen in Geldrop. Eine detaillierte Auswertung der Gebäude, Brunnen und Gräber hat zu dem Ergebnis geführt, dass es in der Mitte des 7. Jahrhunderts eine
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Stall
Speicher
Asche
Haus
Brunnen
Scheune
Abb. 1: Das Analysemodell von Huijbers (2007), nach dem das Gehöft auf zwei Arten gegliedert ist: eine konzentrische Verteilung, die sich, ausgehend vom Herd, über das Hofgelände ausweitet, und eine Gegenüberstellung aufgrund von zwei Achsen, die vom Zentrum des Hauses ausgehen. Die verschiedenen Ordnungen des Gehöftes ermöglichen die Operationalisierung (von Teilen) der Vorstellungen und der Wertung von den Mensch-Umgebung-Beziehungen, den Genderverteilungen und der Lebensphasen.
Siedlungsphase gab mit ungefähr sechs Gehöften,19 was auch auf Grund der dendrochronologischen Daten der Brunnen festgestellt werden kann. Auf jedem Gehöft gab es ein Haus, einen Brunnen und ein oder mehrere Nebengebäude (Abb. 2). Bei mehreren Gehöften liegen außerdem Gräber in unmittelbarer Nähe. Für diese Periode ist es sehr viel schwieriger, Regelmäßigkeiten in der räumlichen Organisation des Gehöftes festzustellen als in demselben Raum für das hohe Mittelalter. Das liegt unter anderen daran, dass es so wenig komplett ausgegrabene Hofstellen gibt. Es sieht aber so aus, dass Brunnen oder die Stellen, wo sie angelegt sind, eine wichtige Rolle spielen. Öfter findet man Brunnen aus aufeinander folgenden Perioden mehr oder weniger an der gleichen Stelle, als wäre das Gehöft rund um den Brunnen organisiert. In einem Fall, für den wir gute dendrochronologische Daten haben, scheint sich das Gehöft in den aufeinander folgenden Phasen um die Stelle des 19
Theuws 2008.
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Abb. 2: Die Siedlung Geldrop (c. 640–670/80). Mit Buchstaben und offenen Kreisen sind die möglichen Gehöfte markiert. Die Zusammenstellung des Hofes F ist unsicher. Mit einer gestrichelten Linie sind die Hofgrabgruppen verbunden. Die Datierung des Gebäudes im Zentrum der Siedlung ist leider unbekannt. Es gehört vielleicht nicht zu dieser Phase.
Brunnens herum weiter zu entwickeln. Wenn das so ist, was bedeutet die zentrale Stelle eines Brunnens? Genau wie im hohen Mittelalter sollte man sich fragen, was die praktische, soziale und weltanschauliche Bedeutung dieser Ordnung von Haus und Brunnen einschließlich der vorausgehenden Bauphase auf diesem Hofgelände gewesen ist. Als Mittelalterarchäologe hat man den Vorteil, dass wenigstens einige Vorstellungen, die mit solchen Elementen verbunden waren, bekannt sind, so zum Beispiel die Verknüpfung von Konzepten wie Weisheit, Reinheit und Fruchtbarkeit mit dem Brunnen.20 Man könnte das Haus mit der Gegenwart, den Lebenden, und die Gräber mit der Vergangenheit, den Vorfahren, und so ein konzeptuelles Schema mit der Raumordnung des Gehöftes verbinden. Das würde natürlich einfacher sein, wenn man auch als Anthropologe die Bewegungen von verschiedenen Bewohnern und Besuchern auf dem Hof hätte wahrnehmen kön20
Bauschatz 1982.
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nen. Darüber hinaus funktioniert eine solche Betrachtungsweise auch umgekehrt, eine Idee von P. Bourdieu.21 Mittels Handlungen und Bewegungen der Bewohner werden, in einer mit Weltvorstellungen überdeckten materiellen Umgebung, zum Teil unbewusst, Elemente aus dem Ganzen von Weltvorstellungen, Normen und Werte internalisiert, also zu Eigen gemacht, aber auch diskutiert. Die Gräber bei den Gehöften sind indessen von besonderem Interesse. Ich habe vorher schon die Ansicht vertreten, dass diese Gräber angelegt worden sind von neuen Bewohnern in einer neuen Siedlung, die durch das Begräbnis von reich ausgestatteten Männern, offensichtlich die ältesten Gräber, einen Anspruch auf das neue Gehöft und was von ihm abhängt formulieren.22 Das Bestatten von Vorfahren oder wahrscheinlich des Gründers des Hofes selbst und von einigen, nicht notwendigerweise allen, Mitgliedern der Familie auf dem Hofgelände ist ein wichtiges Element bei der Konsolidierung des neuen Hofes, ihrer Besitzer oder Inhaber und zugleich die Bestätigung von Ansprüchen auf Teile der Landschaft. Der Grabplatz auf dem Hof symbolisiert meines Erachtens die Bedeutung der individuellen Hofgruppe in der Siedlung. Sie symbolisiert aber noch mehr. Wenn wir uns den Siedlungsplan genauer anschauen, stellt man fest, das fast alle Grabgruppen zum Inneren der Siedlung hin orientiert sind, das heißt, sie liegen nicht am äußeren Rand der Siedlung. Sie scheinen mir auf die anderen Gehöfte hin orientiert zu sein. Die Interpretation kann wahrscheinlich noch weiter geführt werden. Wenn man die Gräbergruppen mit einer Linie verbindet, bekommt man die Umrisse eines Raumes, den ich als einen zentralen Platz deute. Diesen zentralen Platz kann man den individuellen Hofplätzen gegenüberstellen, in dem Sinne, dass der Platz das Symbol für die zusammen wohnende Gruppe ist. So haben die Grabgruppen eine wichtige soziale Funktion, weil sie individuell die Hofgruppe, aber alle zusammen über den zentralen Platz die Gruppe als Ganzes definieren. Dass heißt, dass der Umgang mit den Vorfahren und die Raumordnung von Hof und Siedlung wichtige Elemente sind bei der Gruppenbildung in diesem frühmittelalterlichen Raum. In einer anderen von uns vollständig ausgegrabenen Siedlung, in Dommelen, kann man Vergleichbares feststellen. Ein drittes Ergebnis aus unseren Forschungen nach strukturellen Verbindungen zwischen Landschaft, Siedlungen, Raumordnung, sozialer Ordnung und Weltvorstellungen lehnt sich an das letzte Thema an: die Gruppenbildung, nachdem die Kolonisation der Sandgebiete der südlichen Niederlanden begonnen hatte. Ich habe diese Linie verfolgt, nachdem mir deutlich ge21 22
Bourdieu 1973; Moore 1996; Waterson 1997. Theuws 1999.
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worden war, dass Brunnen in der Raumordnung des Gehöftes vielleicht eine wichtige Rolle spielen. In dieser Gegend hat bis in das 13. Jahrhundert jedes Gehöft einen eigenen Brunnen, der fast ausnahmslos aus einem ausgehöhlten Eichenstamm hergestellt worden ist. In Siedlungen in den nördlichen Niederlanden gibt es das zum Beispiel nicht. Das Habenwollen eines eigenen Brunnens deutet vielleicht auf mehr als eine Zweckfunktion dieses Elements auf dem Hof hin. Man hat dafür große Eichen benutzt, die wahrscheinlich speziell für diesen Zweck gefällt worden sind. Diese Brunnen verbinden den Hof und ihre Bewohner mit dem Wald. In diesem Rahmen ist die Zusammenstellung der Siedlungsnamen lehrreich. Eine Eigenart dieses Namenbestandes ist nämlich, dass er fast ausschließlich aus Naturnamen besteht. Namen auf -heim, -hoven oder andere richtige Siedlungsnamen wie Weiler und Dorfnamen kommen in diesem Gebiet kaum vor, nur am Rande, wo es andere Namenlandschaften (das Scheldetal, das Maastal, das südlich anschließende Lössgebiet und das nördlich anschließende Flussgebiet) gibt. Häufig dagegen sind Namen, die Wald oder Gebüsch andeuten, zum Beispiel Namen auf -lo von -lauha, wie zum Beispiel Bladel, das Blätterwald bedeuten soll, oder Hulsel (Hulislaum im frühen 8. Jahrhundert), das Stechpalmenwald bedeutet. Diese Namen scheinen mir als Siedlungsnamen sekundär. Zuerst hat man den Wald gemeint, den man kolonisierte oder beanspruchte. Erst später wurde der Waldname zum Siedlungsnamen. Die frühen Bewohner identifizierten sich also eher als Waldbenutzer, denn als Siedlungsbewohner. Das stimmt wahrscheinlich mit dem Bild von verstreuten kleinen Siedlungen überein, die sich auch ständig verlagerten, und mit dem noch immer dynamischen Siedlungsgefüge des frühen Mittelalters. Aber es ist zu fragen, warum man in der Mitte des 7. Jahrhunderts, als viele neue Siedlungen gegründet wurden wie Geldrop und Dommelen, die bis ins 13. Jahrhundert bestanden und die zentralen kontinuierlich weiter existierenden Siedlungen bildeten, nicht diesen neuen Siedlungen neue Namen gegeben hat, umso mehr, weil diese Siedlungen mit der Entwicklung von Domänen verbunden sind.23 Man würde zum Beispiel eine größere Anzahl von ‑heim-Namen erwarten. Man behielt aber die Waldnamen. Für mich ist das ein Indiz dafür, dass die Waldnamen und darüber hinaus der Wald von großer Bedeutung waren für die lokalen Gruppen. Nun ist das nichts Neues. Wir wissen schon längst, dass der Wald im ökonomischen und religiösen Sinne im Mittelalter sehr wichtig war.24 Aber hier geht es um etwas Besonderes, hier wird der Name beibehalten bis heute, 23 24
Theuws 2008. Pastoureau 1993; Demandt 2002; Jones/Cloke 2002.
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was darauf hindeutet, dass diese Namen und der Wald nicht nur in diesem ökonomischen oder religiösen Sinne eine Rolle spielte, was sicher der Fall gewesen sein wird, sondern auch von entscheidender Bedeutung für die Identität der lokalen Gruppe. Dazu kommt noch eine andere Beobachtung. In dem Namenbestand gibt es fast keine Namen verbunden mit Personen. Vielleicht gibt es eine Ausnahme: Eersel, Eresloch, im frühen 8. Jahrhundert, was etwas wie der ‘Wald von Ero’ bedeuten könnte; aber diese Deutung ist umstritten. Dies deutet meines Erachtens darauf hin, dass individuelle Ansprüche auf den Wald überhaupt nicht im Namenbestand wiedergegeben sind und wahrscheinlich auch eher die Ausnahme waren. Ich meine, dass die große Gruppe der Siedlungsnamen, die auf Wald und Gebüsch verweisen, darauf hindeuten, dass der Wald gemeinsam beansprucht wurde und dass das Gruppenbewusstsein gerade darauf aufgebaut ist. Man könnte sagen, dass der Wald ein Symbol oder besser: eine Metapher für die Gruppe war. Stärker gesagt: Der Wald ist die Gruppe. Die Bäume sind Mitglieder der Gruppe. Der Wald war so eingedrungen in das soziale Gefüge und in das Gruppenbewusstsein, dass man den Namen des Waldes immer beibehalten hat, unabhängig davon, was mit dem Siedlungsgefüge oder mit der Landschaft geschah. Der Wald war aber im Laufe des Mittelalters völlig verschwunden. Er überlebte nur als Name und gedankliche Konstruktion. Vielleicht hängt damit auch die Bedeutung der Brunnen auf den Gehöften zusammen. Sie verweisen auf die doppelte Bedeutung der Eiche: ein mächtiger eigenständiger Baum, der aber Teil des Waldes war. Möglicherweise hat man in den südlichen Niederlanden deshalb solch einen Brunnen auf jedem Gehöft. Der Brunnen, gefertigt aus einem einzelnen Baum aus dem Wald, ist eine Metapher für die Mitgliedschaft der lokalen Gemeinschaft. Es verbindet den Einzelnen mit der Gruppe. Zum Schluss muss ich erläutern, dass es nicht mein wichtigstes Ziel ist, den Leser von der Richtigkeit der Interpretationen dieser Beispiele, die ich gegeben habe, zu überzeugen. Mein Ziel ist, die Möglichkeiten neuer theoretischer Ansätze für die Erforschung von Siedlungen und Landschaft, von Handlungen, sozialer Organisation und Weltvorstellungen mittelalterlicher Bewohner verschiedenster Räume vorzustellen. Wir werden entdecken, wie kompliziert und reich die Weltvorstellungen dieser Bewohner sein können. Damit entsteht auch eine Art (später) Emanzipation des mittelalterlichen Bauern, der von der modernen Forschung ständig neue Identitäten auferlegt bekommt. Die Erforschung von Identitäten war immer wichtig für die Archäologie des Mittelalters, speziell die des frühen Mittelalters. Es handelte sich aber meistens um übergreifende ethnische Identitäten, den Schriftquellen entnommen, so der Franken, Alamannen, Thüringer, Goten und so wei-
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ter.25 In der modernen Forschung bekamen die Bauern eine Identität, sie bildeten aber selbst keine. Identitätsbildung ist aber ein vielschichtiger Prozess, wobei neben übergreifenden Identitäten lokale und regionale Identitäten wirksam sind.26 Man könnte sogar unterstellen, dass für die Masse der frühmittelalterlichen Bevölkerung die lokalen Identitäten im täglichen Umgang miteinander wichtiger waren als die regionalen oder übergreifenden. Man könnte sich zum Beispiel fragen, wie wichtig diese verschiedenen Schichten von Identitäten gewesen sind, bei einer Bestattung von verstorbenen Mitgliedern der lokalen Gemeinschaft. Es würde mich nicht erstaunen, dass als erstes die eigens aufgebauten Identitäten am Ort wichtig waren. Natürlich findet diese Identitätsbildung statt gegenüber dem Hintergrund von Auffassungen, die über größere Horizonte hinweg reichten, Auffassungen von der Rolle von Frauen und Männern, von Altersgruppen, Abhängigen und Unabhängigen, Getreuen und Verwandten und so weiter. Die Reichweite der kulturellen Horizonte sollte aber erst erforscht, nicht einfach nur angenommen werden. Die strukturelle Siedlungs- und Landschaftsarchäologie bietet die Möglichkeit, die Bildung von lokalen Identitäten und Wertvorstellungen zu untersuchen und diese an die Seite der übergreifenden Identitäten anhand der Schriftquellen zu stellen.
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Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 573–587 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
Transformation oder Bruch? Beobachtungen zur Rolle der Barbaren beim ‚Fall Roms‘ Walter Pohl1 Achtundvierzig Jahre Arbeit am Reallexikon der Germanischen Altertumskunde – eine Zeit, in der sich vieles verändert hat. Am sichtbarsten wird das daran, dass im Titel dieses Bandes die Germanen nicht mehr erwähnt werden: Hier ist nur mehr von Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft die Rede. Zugespitzt könnte man sagen, dass sich „Germanische Altertumskunde“ als traditionsreiches Forschungsprogramm in dieser Zeit aufgelöst hat. Geblieben ist freilich der Gegenstand, der in bleibender Systematik und Präzision 35 Bände füllt. Es ist nur schwieriger geworden, ihn zu charakterisieren. Dieser Entwicklung haben sich die Herausgeber gestellt und unter dem Stichwort „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“, das auch als selbstständige Publikation erschienen ist, selbst Wesentliches dazu beigetragen.2 Sicher ist es kein Zufall, dass diese kritische Selbstvergewisserung in der Geschichte des Lexikons zugleich die Wende aus einer jahrelangen Stagnation und einen neuen Aufbruch markierte. Weiterhin hat das Reallexikon pragmatisch einen weiten Komplementärbereich zur ‚klassischen Altertumskunde‘ und ihrer Realencyclopädie 1
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Diese Arbeit entstand im Zusammenhang des Projektes, das durch die Verleihung des Wittgenstein-Preises des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) ermöglicht wurde und am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sowie am Institut für Österreichische Geschichtsforschung an der Universität Wien durchgeführt wurde. Siehe Reinhard Wenskus, Über die Möglichkeit eines allgemeinen interdisziplinären Germanenbegriffs. In: Germanenprobleme aus heutiger Sicht, hrsg. von Heinrich Beck (1986), S. 1–21; Thorsten Andersson, Heinrich Beck, Louis Carlen, Karl Kroeschell, Bernhard Maier, Rosemarie Müller, Günter Neumann, Helmut Roth, Barbara Scardigli, Knut Schäferdiek, Elmar Seebold, Heiko Steuer, Dieter Timpe, Jürgen Udolph, Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“. In: RGA 11 (1998), S. 181–483.
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abgedeckt, auch wenn der Titel einen Begriff enthielt, von dessen universeller Gültigkeit nicht mehr alle Autoren überzeugt waren. Ob man den Germanenbegriff ganz aus der Wissenschaftssprache verdammen will oder ihn nur mit zunehmender Vorsicht und in vielen Bereichen unter Anführungszeichen verwendet, sollte weiter diskutiert werden.3 Dazu finden die Benutzer im Lexikon selbst allerlei wesentliche Hinweise.4 Selbstverständlich beschränkten sich die Fortschritte der beteiligten Disziplinen nicht auf terminologische Diskussionen. Die internationale Forschung zur Spätantike und zum Frühmittelalter hat sich in den letzten Jahrzehnten vor allem in drei Bereichen weiterentwickelt. Der erste ist die Archäologie, die durch neue Funde und Befunde einen ungeheuren Wissenszuwachs bewirkt hat. Das Interesse an der Frühgeschichtsforschung ist insgesamt gewachsen, was vor allem für die nachrömische Entwicklung auf dem Boden des Imperiums neue Erkenntnismöglichkeiten bewirkt (früher hatten ja leider von Rom bis Ephesos die nachklassischen Grabungsbefunde kaum Interesse gefunden). Die Germanische Altertumskunde hat immer schon einen umfassend interdisziplinären Ansatz vertreten, das Lexikon war daher auf die dynamische Entwicklung der Frühgeschichtsforschung gut vorbereitet. Auch auf die notwendigen methodischen Debatten in und zwischen den Disziplinen hat das Lexikon im Rahmen seiner Möglichkeiten flexibel reagiert. Die zweite Entwicklung, die eine Herausforderung für das Lexikon darstellte, war die gewachsene methodische Strenge beim Umgang mit den Schriftquellen, vor allem mit der Historiographie, ob man das nun mit dem ‚literary turn‘ in Zusammenhang bringen will oder nicht.5 Die Generation Otto Höflers oder Otto Brunners hatte auf kleinen Hinweisen in den Quellen kühne und faszinierende Interpretationsgebäude errichtet und dabei unbekümmert viele Jahrhunderte, ja über ein Jahrtausend von den erhaltenen Quellen in die Vergangenheit extrapoliert. Heute vermeint man an vielen Texten, von Caesar und Tacitus bis zu den Annales regni Francorum oder der Snorra Edda, eher Gestaltungswillen der Autoren und Zeitumstände ablesen zu können und achtet zudem verstärkt auf die handschriftliche Überlieferung und ihren Kontext. Freilich haben sich radikale Ansätze der Textkritik in der Geschichtsforschung nicht durchgesetzt, sonst müsste sie streng 3 4
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Siehe Anm. 22. Siehe zum Beispiel Matthias Springer, Artikel „Völkerwanderung“. In: RGA 32 (2006), S. 509–517; Sebastian Brather, Artikel „Völkerwanderungszeit“. In: RGA 32 (2006), S. 517–523. Grundlegend für den ‚literary turn‘ in der Mediävistik: Gabrielle M. Spiegel, History, Historicism and the Social Logic of the Text in the Middle Ages. Speculum 65, 1990, S. 59–86.
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genommen Literaturwissenschaft werden. Auch Johannes Frieds Entwurf einer „Memorik“ führt teils zu eher schematischen Unterscheidungen zwischen brauchbaren und unbrauchbaren Quellen.6 Die traditionelle Quellenkritik bietet immer noch ein wertvolles Instrumentarium, wenn man die oft oberlehrerhaften Werturteile der älteren Forschung beiseite lässt. Doch muss sie um neue textkritische Gesichtspunkte ergänzt werden, nicht zuletzt mit Blick auf die handschriftliche Überlieferung.7 Zu Quellenfragen bietet das Reallexikon Informationen sehr unterschiedlicher Güte; vielen ausführlichen Artikeln über einzelne Historiographen oder Texte8 stehen wichtige Quellen gegenüber, die unzulänglich behandelt werden. Zu ‚Annalen‘ etwa wird man nur auf das allgemeine Stichwort ‚Geschichtsschreibung‘ verwiesen. Dieses Lemma wiederum bietet zwar einen ausgezeichneten und kritischen allgemeinen Überblick, ist aber sehr knapp geraten; zur antiken Geschichtsschreibung findet sich nur eine Spalte, und zu den Annalen wenige Zeilen.9 Die dritte und größte Herausforderung für das Lexikon stellte aber die Zunahme der methodischen Selbstreflexion sowie des wissenschaftsgeschichtlichen Interesses und die kontroverse Diskussion der Paradigmen dar, die in den letzten Jahrzehnten in der internationalen Forschung stattgefunden haben. Am Beispiel des Germanenbegriffes wurde das ja schon kurz angesprochen. Es genügt, die Stichwörter „Abstammungstraditionen“, noch von Otto Höfler verfasst, und „Origo gentis“, etwa dreißig Jahre später von einer Autorengruppe unter der Leitung von Herwig Wolfram geschrieben, zu vergleichen, um diesen Wandel deutlich zu machen.10 Höfler unterschied noch zwischen authentischen, nämlich germanischen Mythen (vor allem Sagen über skandinavische Herkunft) und gelehrten Fabrikationen (etwa dem fränkischen Trojamythos). Wolfram differenzierte viel quellenadäquater zwischen ethnographischen Fakten (aus literarischer Überlieferung, wozu nicht nur die Origines aus Troja, sondern auch aus der officina gentium 6
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Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik (München 2004); siehe z. B. Johannes Fried, Der Pakt von Canossa. Schritte zur Wirklichkeit durch Erinnerungsanalyse. In: Die Faszination der Papstgeschichte. Neue Zugänge zum frühen und hohen Mittelalter, hrsg. von Wilfried Hartmann, Klaus Herbers (Köln u.a. 2008), S. 133–197. Walter Pohl, History in fragments. Montecassino’s politics of memory. In: Early Medieval Europe 10/3, 2001, S. 343–374. Siehe zum Beispiel Clemens M. M. Bayer, Artikel „Vita Eligii“. In: RGA 35 (2007), S. 460–524. Hans-Henning Kortüm, Artikel „Geschichtsschreibung“. In: RGA 11 (1998), S. 476–488. Otto Höfler, Artikel „Abstammungstraditionen“. In: RGA 1 (1973), S. 18–28; Herwig Wolfram, Hans-Hubert Anton, Ian Wood, Walter Pohl, Artikel „Origo gentis“. In: RGA 22 (2003), S. 174–210.
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Skandinavien gehören) und den nur in Spuren erhaltenen nichtethnographischen Daten (in der antiken Literatur nicht zu belegenden Namen und Informationen wie Haliurunnen, Scoringa, Hengist und Horsa), die zusammen in der lateinischen literarischen Form der Origines überliefert waren. In vielen der späteren Stichworte des Lexikons werden ebenfalls aktuelle Forschungsprobleme erörtert; manche sind dadurch auch sehr lang geworden, etwa das ‚Sakralkönigtum‘.11 Ein grundlegendes methodisches Problem konnte allerdings das Lexikon durch seine enzyklopädische Form höchstens andeuten, nicht aber produktiv aufnehmen. Das ist das schematisierende Denken in Gegensatzpaaren, das lange die Forschung zum Übergang von der Antike zum Mittelalter bestimmt hat: also etwa Imperium und Barbaricum, Christen und Heiden, Kontinuität oder Bruch, oder eben Antike und Mittelalter.12 Vor allem betrifft es im Bereich des Lexikons die globale Gegenüberstellung von Römern und Germanen und damit das komplexe Problem der Konstruktion einer ‚Germanischen‘ zum Unterschied von einer ‚Klassischen‘ Altertumskunde.13 Die Gegenüberstellung macht nur so lange Sinn, als die beiden Gegenstände klar auseinanderzuhalten sind. Sie verdeckt leicht die vielfältigen Beziehungen zwischen Rom und den Barbaren. Eine der methodischen Beschränkungen in Wenskus’ bahnbrechendem Werk ‚Stammesbildung und Verfassung‘ ist es ja, dass Rom darin kaum eine Rolle spielt; das Werk war eben noch aus dem Horizont einer ‚Germanischen Altertumskunde‘ entstanden.14 Sicherlich kann man sich im neuen Hoops über römische Einflüsse 11
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Hans-Hubert Anton, Heinrich Beck, Alexander Pierre Bronisch, Maximilian Diesenberger, Franz-Reiner Erkens, Andreas Goltz, Ulrich Köhler, Ludger Körntgen, Lutz E. von Padberg, Alexandra Pesch, Walter Pohl, Heiko Steuer, Olof Sundqvist, Artikel „Sakralkönigtum“. In: RGA 26 (2004), S. 178–320. Walter Pohl, Die Anfänge des Mittelalters – alte Probleme, neue Perspektiven. In: Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung, hrsg. von Hans-Werner Goetz, Jörg Jarnut (München 2003), S. 361–78. Darauf haben etwa Matthias Springer, Völkerwanderung (wie Anm. 4), S. 509– 517, und Sebastian Brather, Völkerwanderungszeit (wie Anm. 4), S. 517–522, verwiesen. Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes. 2. Auflage (Köln, Wien 1977). Erst Herwig Wolfram hat dieses Defizit ausgeglichen, siehe zum Beispiel sein: Das Reich und die Germanen. Zwischen Antike und Mittelalter, 2. Auflage (Berlin 1992). Siehe dazu Walter Pohl, Tradition, Ethnogenese und literarische Gestaltung: eine Zwischenbilanz. In: Ethnogenese und Überlieferung. Angewandte Methoden der Frühmittelalterforschung, hrsg. von Karl Brunner, Brigitte Merta. Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 31 (Wien, München 1994), S. 9–26.
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auf germanische Kunst, romanisch-germanische Sprachbeziehungen, Romanisierung und Ähnliches informieren.15 Doch enthalten wesentliche Lemmata wie ‚Rom‘ oder ‚Spätantike‘ wenig über die Wechselbeziehungen zwischen Römern und Barbaren.16 Dieser Beitrag soll sich daher vertiefend mit Problemen der gemeinsamen Geschichte von Römern und Barbaren beschäftigen, gerade weil sie in letzter Zeit viel diskutiert wurden. Es handelt sich um drei miteinander verknüpfte, aber verschiedene Fragen: Erstens, was ist im jeweiligen Zusammenhang der heuristische Wert der Unterscheidung zwischen Römern und Barbaren? Zweitens, wann und wo ist die Konkretisierung der letzteren durch den Germanenbegriff methodisch sinnvoll? Und drittens, was war die Rolle dieser Barbaren beziehungsweise Germanen beim ‚Fall Roms‘ und der Umwandlung der Römischen Welt? Zur ersten Frage lässt sich feststellen, dass der Gebrauch des Barbarenbegriffes in der Forschung in letzter Zeit zugenommen hat; oft geschah das, um die ideologischen Obertöne des Germanenbegriffes zu umgehen. Das ist vermutlich unvermeidlich, sollte aber reflektiert werden. Der Begriff ist aus demselben Grund praktisch, wie er problematisch ist: Er wurde schon von den Zeitgenossen viel verwendet. Über den zeitgenössischen Gebrauch des Barbarenbegriffes informiert im RGA ebenso übersichtlich wie knapp auf zwei Spalten das Lemma ‚barbarus‘.17 Die Verbreitung des Quellenbegriffes enthebt den modernen Autor zunächst einmal der Verpflichtung, seine Angemessenheit für die Epoche zu überprüfen; man gibt ja zumindest die Vorstellungen der zeitgenössischen Römer wieder. Freilich verstrickt es zugleich in komplexe ideologische Muster. Der Barbarentopos sollte ja, ebenso wie in der Landschaft der römische Limes, eine klare kognitive und affektive Abgrenzung leisten und politisch legitimieren, wo es in der Realität vielfältige Schattierungen gab.18 Cassius Dio hielt etwa noch im 15
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Siehe RGA Registerband 1 (2008), S. 131. Zur Frage der Akkulturation siehe den Ergänzungsband zum RGA 41: Akkulturation. Probleme einer germanischromanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter, hrsg. von Dieter Hägermann, Wolfgang Haubrichs, Jörg Jarnut (Berlin, New York 2004). Mirella Serlorenzi, Artikel „Rom“. In: RGA 25 (2003), S. 206-210; Stefan Krautschick, Artikel „Spätantike“. In: RGA 29 (2005), S. 277–280. Paul Gerhard Schmidt, Artikel „Barbarus“. In: RGA 2 (1976), S. 49–50. Siehe auch Yves Albert Dauge, Le Barbare: recherches sur la conception romaine de la barbarie et de la civilisation, Coll. Latomus 176 (Brüssel 1981); A. D. Lee, Information and Frontiers: Roman Foreign Relations in Late Antiquity (Cambridge 1993); Charles R. Whittaker, Frontiers of the Roman Empire. A Social and Economic Study (Baltimore, London 1994); Hugh Elton, Defining Romans, barbarians and the Roman frontier. In: Shifting Frontiers in Late Antiquity, hrsg. von Ralph W. Mathisen, Hagith S. Sivan (London 1996), S. 126–135; Transformation of Frontiers – from Late Antiquity to the Carolingians, hrsg. von Walter Pohl, Ian
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3. Jahrhundert als Statthalter die Bewohner Pannoniens für elende Barbaren.19 Gerade dort, wo die antibarbarische Rhetorik besonders lautstark wird, lässt sich annehmen, dass in einer verschwimmenden Realität solche Abgrenzungen eingeschärft werden sollten. Waren Civilis, Arbogast, Stilicho, Gainas, Theoderich ‚Barbaren‘? Immerhin waren fast alle von ihnen römische Bürger. Spätantike Quellen konnten hier durchaus differenzieren. Orosius etwa unterscheidet zwischen Alarich, Christianus propiorque Romano und Radagaisus, paganus barbarus et vere Scytha.20 ‚Barbar‘ verwies jedenfalls auf außerrömische Herkunft, oft auch nach Generationen. Die Leges differenzieren innerhalb der frühen Regna zunächst zwischen den ‚barbarischen‘ Immigranten und den Römern. Doch bald geht das Etikett barbarus auf die exterae gentes über (und meint dann etwa im Westgotengesetz vor allem die Franken).21 Die Trennschärfe des Barbarenbegriffes innerhalb der Regna verliert sich also bald. Ganz ohne das Gegensatzpaar Römer-Barbaren ist eine wissenschaftliche ‚Ordnung der Dinge‘ schwer herzustellen, und es findet sich daher auch im Titel meines Beitrages. Man muss allerdings mitdenken, dass sich dahinter ein Kontinuum individueller Lebenswirklichkeiten versteckt. Wir müssen vermeiden, mit der römischen Kategorie zugleich die römischen Barbarenbilder in unsere Darstellungen zu übernehmen. Wer von einer lateinischen Quelle als ‚Barbar‘ bezeichnet wird, kann auch Latein gesprochen haben, profunder klassisch gebildet als die meisten Zeitgenossen und orthodoxer Christ gewesen sein und wurde möglicherweise ohne Beigaben in einem Sarkophag bestattet, während auf viele ‚römische‘ Provinzialen vielleicht nichts davon zutraf. Noch problematischer ist zweitens, wie schon erwähnt, der Germanenbegriff.22 Er ist nicht nur (wie der Barbarenbegriff) hochaufgeladen mit römi-
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Wood, Helmut Reimitz. The Transformation of the Roman World 10 (Leiden, Boston 2000); Edward James, Europe’s Barbarians, AD 200–600 (Harlow 2009), besonders S. 1–30. Cassius Dio XXXXIX, 36. Orosius VII, 37, 9. Hagith Sivan, The appropriation of Roman law in barbarian hands: „Romanbarbarian“ marriage in Visigothic Gaul and Spain. In: Strategies of Distinction: The Construction of Ethnic Communities, 300–800, hrsg. von Walter Pohl, Helmut Reimitz (Leiden u.a. 1998), S. 189–203. Siehe den Beitrag von Jörg Jarnut, Zum „Germanen“-Begriff der Historiker, in diesem Band, sowie Wenskus, Über die Möglichkeit (wie Anm. 2); Walter Pohl, Der Germanenbegriff vom 3. bis 8. Jahrhundert – Identifikationen und Abgrenzungen. In: Zur Geschichte der Gleichung ‚germanisch – deutsch‘, hrsg. von Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer, Dietrich Hakelberg. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 34 (Berlin, New York 2004), S. 163–183; Walter Pohl, Vom Nutzen des Germanenbegriffes zwischen Antike und Mittelalter: eine forschungsgeschichtliche
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schen Stereotypen, sondern noch zusätzlich mit der emphatischen Germanenidentifikation der Deutschen seit dem Humanismus.23 Hier ist noch mehr darauf zu achten, dass keine Germanenbilder explizit oder unterschwellig aktiviert werden, wo sie in den Quellen keine Stütze haben. Philologisch ist es sicher sinnvoll, weiter von ‚Germanen‘ zu sprechen. Archäologisch ist das oft schwieriger; es gibt kaum Funde oder Befunde, die allen Germanen gemeinsam sind und sie zugleich von ihren Nachbarn zu unterscheiden helfen: im 4. oder 5. Jahrhundert noch weniger als im 1. oder 2. Jahrhundert. In den Schriftquellen hat für die Zeitgenossen seit Beginn der Völkerwanderungszeit der Germanenbegriff überhaupt seine Evidenz verloren; zu unterschiedlich waren alle diejenigen, die wir als Germanen klassifizieren, von den ‚skythischen‘ Ostgoten und den weitgehend romanisierten Offizieren der römischen Armee bis zu denen, die neu aus den Wäldern der Germania ankamen. Viele dieser Barbaren mögen neben der für uns als germanisch zu klassifizierenden Sprache manches andere, in den Quellen weniger Fassbare gemeinsam gehabt haben. Das sollte keineswegs a priori ausgeschlossen werden.24 Aber vorauszusetzen ist das nicht, wo die Quellen es nicht bezeugen. Das betrifft viele liebgewordene Vorstellungen, etwa von der germanischen ‚Verfassung‘ der Regna.25 Wer das weiträumige Königtum
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Perspektive. In: Akkulturation (wie Anm. 15), S. 1–17; Jörg Jarnut, Germanisch. Plädoyer zur Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung. In: Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters, hrsg. von Walter Pohl. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 8 (Wien 2004), S. 107–113. Andersson, Germanen (wie Anm. 2); Klaus von See, Deutsche Germanenideologie vom Humanismus bis zur Gegenwart (Frankfurt/Main 1970); Klaus von See, Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen (Heidelberg 1994); Walter Pohl, Die Germanen. Oldenbourgs Enzyklopädie der deutschen Geschichte 57. 2. Auflage (München 2000). Das versucht Walter Goffart, der alles Germanische in der Völkerwanderungszeit mit polemischer Schärfe ausschließen möchte; siehe zum Beispiel Walter Goffart, Two notes on Germanic Antiquity today. In: Traditio 50, 1995, S. 9–30; Walter Goffart, Barbarian Tides. The Migration Age and the Later Roman Empire (Philadelphia 2006); siehe auch den von seinem Schüler herausgegebenen Sammelband On Barbarian Identity – Critical Approaches to Ethnogenesis Theory, hrsg. von Andrew Gillett (Turnhout 2002), mit der Kritik von Walter Pohl, Ethnicity, theory and tradition: a response, ebd. S. 221–240, sowie Walter Pohl, Rome and the Barbarians in the Fifth Century. Antiquité Tardive 16, 2008, S. 93–101. Stefanie Dick, Der Mythos vom ‚germanischen‘ Königtum. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 60 (Berlin, New York 2008); Herwig Wolfram, Das römische Königtum der Germanen. Ein Überblick. In: Der frühmittelalterliche Staat – Europäische Perspektiven, hrsg. von Walter Pohl, Veronika Wieser. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 19 (Wien 2009), S. 3–10; Walter Pohl, Fazit: Niemand vermag zu
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der Goten oder Franken aus germanischer Wurzel ableiten will, muss auch erklären, warum es zuvor Jahrhunderte lang in der Germania keines gegeben hatte. Wer hätte denn das Vorbild für Chlodwigs Königtum sein können, Ariovist? Arminius? Marbod? Offensichtlich unsinnig ist schließlich, wie Matthias Springer im Lemma ‚Völkerwanderung‘ betont, die Vorstellung von einem welthistorischen Ringen zwischen Rom und den Germanen.26 Die meisten Schlachten der Völkerwanderungszeit fanden nicht zwischen Römern und Germanen, sondern zwischen römischen und/oder barbarischen Rivalen statt, vom Frigidus bis zu den Katalaunischen Feldern und Vouillé, und bei den anderen, von Adrianopel bis Faesulae und den Busta Gallorum, fochten ‚Germanen‘ auf beiden Seiten.27 Das bringt mich zum dritten Punkt, der Frage nach dem ‚Fall Roms‘ und der Rolle der Barbaren darin. Um dieses Problem ist nach den 2005 erschienenen Büchern von Peter Heather und Bryan Ward-Perkins eine heftige Debatte entbrannt.28 Sie hängt mit der alten Streitfrage zusammen: Did the Roman Empire fall, or was it pushed? – um eine häufig gebrauchte Formulierung zu verwenden. Über die vielfältigen Deutungen dieser fast paradigmatischen Frage der modernen Geschichtswissenschaft informiert immer noch am besten Alexander Demandts 1984 erschienener Band „Der Fall Roms“, am Schluss ironisch zugespitzt in einer alphabetischen Liste sämtlicher je vorgeschlagenen Erklärungen von Aberglaube, Absolutismus und Ackersklaverei bis Zentralismus, Zölibat und Zweifrontenkrieg.29 Unstrittig dürfte sein, dass im Laufe des 5. Jahrhunderts tatsächlich das Weströmische Reich in einer Serie politischer und militärischer Auseinandersetzungen zerfiel, und parallel dazu eine Reihe politischer, wirtschaftlicher und kultureller Umwälzungen festzustellen sind.30 Diese Geschichte ist im Wesentlichen
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herrschen… Grenzen germanischer Machtentfaltung bis zum 6. Jahrhundert. In: 2000 Jahre Varusschlacht: Konflikt, Katalog Ausstellung Kalkriese (Stuttgart 2009), S. 386–391. Springer, Völkerwanderung (wie Anm. 4), besonders S. 513–515. Walter Pohl, Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration. 2. Auflage (Stuttgart u.a. 2005). Peter J. Heather, The Fall of the Roman Empire: A New History (London 2005); Bryan Ward-Perkins, The Fall of Rome: And the End of Civilization (Oxford 2005); zur Diskussion: Pohl, Rome and the Barbarians in the Fifth Century (wie Anm. 24); Walter Pohl, Übergänge von der Antike zum Mittelalter: eine unendliche Debatte?. In: Römische Legionslager in den Rhein- und Donauprovinzen – Nuclei spätantik-frühmittelalterlichen Lebens?, hrsg. von Michaela Konrad, Christian Witschel, im Druck. Alexander Demandt, Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt (München 1984). Siehe dazu auch die jüngst erschienenen Synthesen: Guy Halsall, Barbarian Migra-
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gut bekannt, und Peter Heather hat sie in seinem Buch „The Fall of the Roman Empire“ (2005) noch einmal sehr detailreich, elegant und zuverlässig nacherzählt. Die Frage ist freilich, ob die Dramaturgie der barbarischen Invasionen und Machtergreifungen ausreicht, um die Erklärungslast für die weitgehenden Veränderungen zu tragen, die damals stattfanden. Heather ebenso wie Bryan Ward-Perkins (in seinem ebenfalls 2005 erschienenen „The Fall of Rome and the End of Civilization“) gehen davon aus: Die Barbareneinfälle haben nicht nur den Fall des Imperiums, sondern auch das Ende einer Zivilisation ausgelöst. Diese Deutung war lange Zeit, zumindest bis Dopsch und Pirenne,31 in der Forschung vorherrschend und ist es in Deutschland teilweise immer noch. In den letzten Jahrzehnten hat die ‚Katastrophen-Theorie‘ aber zunehmend an Boden verloren. Der Benützer des RGA kann sich unter dem Stichwort ‚Transformation of the Roman World‘ darüber informieren; ein Programm der European Science Foundation unter diesem Titel hat in den neunziger Jahren die Vorstellung von einer allmählichen Umwandlung der römischen Welt diskutiert und weiterentwickelt.32 Genau dagegen wendet sich die Polemik von Heather und Ward-Perkins, die übrigens beide an diesem Programm mitgewirkt haben. Dennoch ist bei Ward-Perkins das Missverständnis entstanden, dass die Vorstellung einer allmählichen ‚Transformation of the Roman World‘ eine friedliche Umwandlung voraussetze, „implying a seamless and
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tions and the Roman West, 376–568 (Cambridge 2007); Stephen Mitchell, A History of the Later Roman Empire, AD 284–641 (Malden, Oxford 2007); James, Europe’s Barbarians (wie Anm. 18). Alphons Dopsch, Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung aus der Zeit von Caesar bis auf Karl den Großen, 2 Bände (Wien 1924, Nachdruck Aalen 1968); Henri Pirenne, Mahomet et Charlemagne (Paris, Brüssel 1937). Ian N. Wood, Artikel „Transformation of the Roman World“. In: RGA 31 (2006), S. 132–134; Ian N. Wood, Report: the European Science Foundation’s programme on the Transformation of the Roman World and emergence of Early Medieval Europe. In: Early Medieval Europe 6 (1997), S. 217–227. Siehe u. a. Kingdoms of the Empire. The Integration of Barbarians in Late Antiquity, hrsg. von Walter Pohl. The Transformation of the Roman World 1 (Leiden u.a. 1997); Strategies of Distinction. The Construction of Ethnic Communities, 300–800, hrsg. von Walter Pohl, Helmut Reimitz. The Transformation of the Roman World 2 (Leiden u.a. 1998); Evangelos Chrysos, Ian Wood (Hrsg.), East and West: Modes of Communication. The Transformation of the Roman World 5 (Leiden u.a. 1999); Hans-Werner Goetz, Jörg Jarnut, Walter Pohl (Hrsg.), Regna and Gentes. The Relationship between Late Antique and Early Medieval Peoples and Kingdoms in the Transformation of the Roman World. The Transformation of the Roman World 13 (Leiden u.a. 2003).
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peaceful transition from Roman times to the ‚Middle Ages‘ and beyond“.33 Friedlich waren die Verhältnisse im 5. Jahrhundert sicher nicht, und die kriegsbedingten Verluste an Menschen und Sachwerten müssen in vielen Gegenden hoch gewesen sein. Die Frage ist nur, ob es die Barbareneinfälle waren, die den ‚Fall Roms‘ bewirkten, und ob beides ein ‚Ende der Zivilisation‘ herbeiführte. Oder waren die barbarischen Wanderungen eher, wie Guy Halsall pointiert meinte, „the product of the „end of the Roman Empire“, and not vice versa“?34 Soweit wir das aus Texten und archäologischen Befunden feststellen können, ist der gesellschaftliche und kulturelle Wandel nicht leicht mit den dramatischen Kämpfen des 5. Jahrhunderts zu synchronisieren. Er begann schon bevor die Hunnen kamen und setzte sich nach dem Ende des Westreiches noch lange fort. 476 bedeutete keineswegs einen Kulturbruch. Unterschiedliche Regionen des Reiches waren in ganz unterschiedlicher Weise und zu unterschiedlichen Zeiten von Brüchen und Veränderungen betroffen, was nicht immer mit den machtpolitischen Zäsuren zusammenhängt (außer dort, wo wie in Britannien oder Ufernoricum der römische Staat selbst die römische Ordnung mehr oder weniger liquidierte). Natürlich kann man den Schluss ziehen, dass trotz aller längerfristigen Krisensymptome der wesentliche Einschnitt im Westen von den Barbareneinfällen um 400, im Osten durch die awarisch-slawische, die persische und dann islamische Eroberung um 600 ausgelöst wurde. Umgekehrt sollte man aber auch fragen, wieso gerade um 400 das Westreich die Kontrolle verlor und um 600 das Ostreich. Im Fall der westlichen Barbaren kann der Einbruch der Hunnen als Erklärung dienen, wenn man Heather folgen will. Im Osten ist ähnliches schwieriger zu argumentieren. Jahrhunderte lang hatte das Römische Reich das sassanidische Persien im Gleichgewicht gehalten, trotz katastrophaler Niederlagen wie im Jahr 363; warum konnten bald nach 600 die Perser binnen weniger Jahre Syrien, Palästina, Ägypten und Kleinasien besetzen, und warum scheiterte die byzantinische Restauration dort genauso nach wenigen Jahren wie in Italien nach dem Gotenkrieg? Die Dynamik der islamischen Expansion bekommt erst aus der Retrospektive ihre Zwangsläufigkeit, die Armeen, die Syrien und Ägypten eroberten, waren keineswegs unüberwind33
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Ward-Perkins, The Fall of Rome (wie Anm. 28), S. 174. Ein ähnliches Missverständnis bei Arnaldo Marcone, A long late antiquity? Considerations on a controversial periodization. In: Journal of Late Antiquity 1,1, 2008, S. 4–19, hier S. 9, mit einem mir zugeschriebenen Zitat, das aber nicht von mir stammt, sondern von Ward-Perkins, The Fall of Rome (wie Anm. 28), S. 9. Der Autor hat sich nicht die Mühe gemacht, meinen Aufsatz zu lesen, sondern dessen Inhalt bequemerweise nach der verzerrenden Paraphrase von Ward-Perkins zitiert. Halsall, Barbarian Migrations (wie Anm. 30), S. 34.
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lich.35 Hier stoßen strategische Argumente, wie sie Peter Heather kunstvoll entwickelt, an ihre Grenzen. Alexander Demandt hat die Folgen der ‚Völkerwanderungszeit‘ prägnant dadurch charakterisiert, dass „die Römer schließlich doch das verloren, was sie hatten, die Germanen aber nicht das gewannen, was sie suchten […] Die ihnen so begehrenswert erscheinende römische Kultur vermochten sie nicht fortzuführen.“36 Dafür reicht aber die militärische Erklärung, die Demandt ebenfalls bevorzugt, kaum aus, denn die meisten siegreichen ‚barbarischen‘ Eroberer der Alten Welt haben die vorgefundene Kultur fortgesetzt, von den Hyksos über die Meder und Perser bis zu den Römern. Man kann darin ein Scheitern der Römer wie der Barbaren sehen.37 Aber sozialer Wandel wird nicht nur erlitten, sondern auch gemacht. Vielleicht waren viele Römer wie Germanen nicht unbedingt an einer Fortsetzung des Bestehenden interessiert? Die tiefgreifenden Veränderungen der Werte, Mentalitäten und Lebenseinstellungen durch die Christianisierung mögen dabei mitgespielt haben. Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und (innen)politischen Bedingungen hatten sich im Lauf der Spätantike ebenfalls weitgehend geändert. Das hat wohl nicht nur die Verteidigungsmöglichkeiten, sondern auch die Regenerations- und Integrationskraft des Imperiums beeinflusst. Chris Wickham hat in seinem 2006 erschienenen, fast tausendseitigen Werk „Framing the Early Middle Ages“ zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung von 400 bis 800 reiches Material gesammelt, von der über die Jahrhunderte langsam abnehmenden Verbreitung der afrikanischen glasierten Keramik (ARS) bis zu den Spuren der Erhaltung oder Aufgabe des römischen Steuersystems.38 Eine seiner Schlussfolgerungen ist, dass schon das Imperium Romanum wesentlich weniger homogen war als die sehr einheitliche und gut sichtbare Reichskultur vermuten lässt. Die weitere Entwicklung der verschiedenen Regionen des Reiches hängt offenbar mehr mit ihrer spezifischen Vorgeschichte als mit ihren Schicksalen während der Völkerwanderungszeit zusammen. Britannien entwickelte sich 35
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Hugh Kennedy, The Armies of the Caliphs. Military and Society in the Early Islamic State (London, New York 2001), S. 2, nimmt an, dass bei den Entscheidungsschlachten am Yarmuk in Syrien und in al-Qadisiya gegen die Sassaniden „the Muslim armies were less numerous and probably less well equipped than their adversaries“. Ähnliches gilt für die Eroberung Ägyptens (ebd. S. 4). Siehe auch Walter Kaegi, Heraclius. Emperor of Byzantium (Cambridge 2003), S. 229–299. Alexander Demandt, Die Spätantike. Römische Geschichte von Diocletian bis Justinian, 284–565 n. Chr. (München 2007), S. 606. Halsall, Barbarian Migrations (wie Anm. 30), S. 499–526 („the roots of failure“). Chris Wickham, Framing the Early Middle Ages. Europe and the Mediterranean 400–800 (Oxford 2005).
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daher ganz anders als etwa Gallien. Wickham sucht nach Erklärungen für die langfristigen, grundlegenden Veränderungen von der Spätantike bis um 800, die kaum durch Immigration und Herrschaftsverschiebungen zu erklären sind: „Social change is overwhelmingly the result of internal factors, not external influences“.39 Wie das 20. Jahrhundert lehrt, müssen selbst wiederholte katastrophale Kriege mit vielen Millionen Opfern, massive Zerstörung von Städten und dramatische Macht- und Bevölkerungsverschiebungen nicht notwendig das Ende der Zivilisation bedeuten, auch wenn es von den Betroffenen vielleicht zunächst so wahrgenommen wird. Die meisten Gesellschaften haben eine beträchtliche Regenerationsfähigkeit – so auch die der Spätantike, denn in den ersten Jahrzehnten des 6. Jahrhunderts haben sich viele von den Auseinandersetzungen des 5. Jahrhunderts betroffene Gebiete erholt. Die verheerendsten Auswirkungen hatten die Hunneneinfällen ja nicht im Westen, sondern in den Balkanprovinzen, deren nördliche Hälfte Priskos 450 als zerstört und fast menschenleer beschreibt.40 Gegen Mitte des 6. Jahrhunderts hingegen zeichnen Prokops De aedificiis und archäologische Befunde weitgehend übereinstimmend ein Bild dichter und im Wesentlichen prosperierender Besiedlung.41 In vielen Gebieten des Westens haben sich Herren barbarischer Herkunft zunächst ganz an römische Vorbilder angepasst. Prokop etwa beschreibt ironisch den spätrömischen Lebensstil der vandalischen Aristokraten zwischen luxuriösen Villen, Thermen und Theater; nach Belisars Sieg fanden sie Zuflucht in den Kirchen.42 Justinians Reconquista war Folge, nicht Ursache dieser gesellschaftlichen Konsolidierung und der gelungenen Integration vieler Barbaren. Umgekehrt waren es vor allem die Restaurationsbestrebungen des Kaisers, die diesen Regenerationsprozess unterbrachen.43 Das lag vor allem daran, dass die Kriegsaufwendungen offenbar die Steuergrundlage des Imperiums längerfristig überforderten und der gestiegene Bedarf an barbarischen Soldaten Ansprüche 39
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Wickham, Framing the Early Middle Ages (wie Anm. 38), S. 831. Siehe neuerdings auch Chris Wickham, The Inheritance of Rome. A History of Europe from 400 to 1000 (London 2009). Priscus Panites, Fragmenta, fr. 11, 2, übersetzt von Roger Blockley, The Fragmentary Classicising Historians of the Later Roman Empire, Bd. 2 (Liverpool 1983), S. 249. Procopius, De Aedificiis, hrsg. und übersetzt von Otto Veh, Prokop von Caesarea, Bauten. 2. Auflage (Darmstadt 1977); Andrew G. Poulter (Hrsg.), The Transition to Late Antiquity on the Danube and Beyond (Oxford 2008). Procopius, De bello Vandalico, hrsg. und übers. Otto Veh, Prokop von Caesarea, Werke 4 (München 1971), S. 6. Walter Pohl, Justinian and the barbarian kingdoms. In: The Age of Justinian, hrsg. von Michael Maas (Cambridge 2005), S. 448–76.
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weckte, die letztlich nur auf Kosten des Imperiums zu befriedigen waren. Auch die Langobarden waren zuerst an der Seite des Narses nach Italien gekommen. Noch schwerer wiegt, dass der fast 20jährige Gotenkrieg Italien, das alte Kernland des Imperiums, verwüstet zurückließ. Hier markiert nicht 476 einen Kulturbruch, sondern erst die Zeit ab 535, als massiv Aquädukte zerstört, Städte entvölkert und weite Landstriche verwüstet wurden; die große Pest der vierziger Jahre hat die Folgen noch verstärkt.44 Der ‚Fall Roms‘ im 5. Jahrhundert hatte nur das Weströmische Reich, zeitweise auch die Balkanprovinzen betroffen; der Osten prosperierte vielerorts weiterhin. Was hier in den wenigen Jahrzehnten am Beginn des 7. Jahrhunderts geschah, war noch dramatischer als die Ereignisse im Westen etwa zwei Jahrhunderte zuvor. Die Balkanprovinzen, seit den 580ern von wiederholten Awareneinfällen betroffen, wurden spätestens ab 610 (ebenso wie große Teile von Noricum) bis auf wenige Küstengebiete slawisiert.45 Zum Unterschied von den Regna des Westens verzichteten die lokalen oder höchstens regionalen slawischen Gemeinwesen auf jede römische Infrastruktur; nicht nur die Städte und der Fernhandel, sondern auch die ländliche Wirtschafts- und Besitzstruktur verfielen. Das muss durchaus keinen kompletten Bevölkerungsaustausch bedeutet haben, aber ein Ende der komplexen gesellschaftlichen Arbeitsteilung (die ja in der Regel zu Lasten der landwirtschaftliche Produzenten geht). In vielen Gegenden ist es immer noch schwierig, frühe slawische Besiedlung archäologisch nachzuweisen und zu datieren.46 Wenn man schon von einem ‚Ende der Zivilisation‘ sprechen will, dann wäre das allenfalls in diesem Fall angebracht. Ganz anders verlief wiederum die islamische Eroberung Palästinas, Syriens, Ägyptens und später auch anderer Gebiete.47 Die Eroberer waren nicht wie im Westen teils schon seit Generationen mehr oder weniger romanisiert und scheinen sich vielerorts zunächst wenig in die bestehende Gesellschaft integriert zu haben. Ihre Eroberung, der die persische Besetzung 44
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Zum Gotenkrieg siehe Herwig Wolfram, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts. 5. Auflage (München 2009), S. 337–62; zur Entwicklung Italiens nach archäologischen Befunden Neil Christie, From Constantine to Charlemagne. An Archaeology of Italy, AD 300–800 (Aldershot, Burlington 2006), der auf S. 492 warnt: „It is also dangerous – and too easy – to look for historical events to explain loss (war, plague, insecurity).“ Walter Pohl, Die Awaren. Ein Steppenvolk in Mitteleuropa, 567–822 n. Chr. (München 1988, 2002); Florin Curta, The Making of the Slavs. History and Archaeology of the Lower Danube Region c. 500–700 (Cambridge 2001). Paul M. Barford, The Early Slavs: Culture and Society in Early Medieval Eastern Europe (London 2001). Hugh Kennedy, The Prophet and the Age of the Caliphates. The Islamic Near East from the Sixth to the Eleventh century (London, New York 1986).
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den Weg bereitet hatte, ging – zum Unterschied von den langwierigen Auseinandersetzungen im Zuge der westlichen ‚Völkerwanderung‘ – seit 636 in wenigen Jahren vor sich. Während die Barbaren des Westens sich bald Landbesitz aneigneten, der nach spätrömischer Weise organisiert blieb, wurden die islamischen Besatzungsarmeen zunächst in eigens gegründeten Städten (wie Fustat oder Kufa) kaserniert und aus Steuermitteln versorgt (nur in Syrien scheint das etwas anders abgelaufen zu sein).48 Die notwendigen Steuern musste die aus der byzantinischen Provinzverwaltung direkt übernommene Steuerbehörde unter Leitung eines einheimischen pagarchos aufbringen. Darüber sind wir aus reichen Beständen ägyptischer Papyri gut informiert. Erst allmählich wurden die Länder des Orients tiefgreifender islamisiert und arabisiert (während Franken, Westgoten und Langobarden im Westen schrittweise Sprache und Religion der Mehrheitsbevölkerung annahmen). Das römische Reich ‚fiel‘ also in drei ganz unterschiedlich ablaufenden Prozessen mit ganz unterschiedlichem Ergebnis; und wieder anders verlief die Entwicklung in jenen Gebieten um die Ägäis und in Anatolien, die römisch blieben und dadurch (in unserer Terminologie) byzantinisch wurden.49 Das Buch von Chris Wickham gibt einen guten Überblick darüber (er hat allerdings die Slawengebiete ausgeklammert). Es ist kaum plausibel, alle diese Umbrüche als Spätfolge des Hunneneinfalls und ‚germanischer‘ Reichsgründungen zweihundert Jahre zuvor zu erklären. Ebenso wenig kann ein einziger, isolierbarer innerer Grund für all die unterschiedlichen Enden des Römischen Reiches herausgegriffen werden, weder die Zwietracht in der senatorischen und militärischen Aristokratie des 5. noch Pest oder Klimawandel des 6. Jahrhunderts. Sehr wohl aber muss es strukturelle Gründe gegeben haben, die in gewissen kritischen Situationen seit dem 5. Jahrhundert eine rasche Desintegration des römischen politischen Systems (oder, wie im Fall der Westgoten 711, einer post-imperialen Ordnung) ermöglichten. Die Frage lautet ja nicht nur, warum das Imperium schwere militärische Rückschläge einstecken musste und dabei letztlich einen Großteil seiner Gebiete verlor. Dass Imperien nach einer gewissen Zeit zerfallen, wussten schon die Zeitgenossen und spitzten es in der Erzählung von den vier Weltreichen zu. Viel schwerer zu erklären ist, warum keiner der drei sehr unterschiedlichen Eroberer – die barbarische Militäraristokratie im Westen, die ‚namenlosen‘ slawischen Verbände in Südosteuropa und die 48 49
Wickham, Framing the Early Middle Ages (wie Anm. 38), S. 124–150. John Haldon, Byzantium in the Seventh Century. The Transformation of a Culture (Cambridge 1990); Mark Whittow, The Making of Orthodox Byzantium, 600– 1025 (Basingstoke 1996).
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von Beduinen getragenen islamischen Heere im Osten – das Imperium fortzusetzen suchte. China wurde mehrmals in seiner Geschichte von barbarischen Feinden erobert, und dennoch wurde das chinesische Kaiserreich immer wieder restauriert.50 Die Eroberer Roms behielten ganz unterschiedliche Elemente der römischen Ordnung bei: Landwirtschaft, Christentum und lateinische Kultur im Westen; Wirtschaft, Gesellschaft und Verwaltung im islamischen Osten; und nichts von alledem bei den Slawen. Byzanz hingegen bewahrte Kaisertum, Christentum, griechische Kultur und Steuersystem, änderte aber vieles an Wirtschaft, Gesellschaft und Militärorganisation. Der hier skizzierte Befund stellt unverändert eine Herausforderung an die historischen Wissenschaften dar. Mit einfachen Erklärungsmodellen ist ihm nicht beizukommen. Selbstverständlich weist er auch über den Horizont einer ‚Germanischen Altertumskunde‘ hinaus. Der Inhalt der nun abgeschlossenen 35 Bände des ‚Neuen Hoops‘ hat dabei dennoch seinen wichtigen Platz. Er kann innerhalb einer – wie im Titel dieses Bandes vorgegeben – kulturwissenschaftlich orientierten, die politischen Verhältnisse aber nicht außer Acht lassenden Altertumskunde Mittel- und Nordeuropas wesentliches Instrument und Element zukünftiger Deutungen sein. Ohne Kenntnis aller Spuren der außerrömischen Bevölkerung und ihres Verhältnisses zu Rom ist die Umwandlung der römischen Welt nicht zu verstehen. Doch kann das nur Teil einer Erklärung sein, die an Komplexität die bisherigen Versuche weit übertreffen muss. Gelingt hier ein wesentlicher Fortschritt, könnte die alte Fabel vom Fall Roms wieder paradigmatisch für die historischen Wissenschaften sein: als Beispiel, wie historischer Wandel in all seiner Komplexität möglichst adäquat rekonstruiert und beschrieben werden kann. Die ehemalige ‚Germanische Altertumskunde‘ kann dabei Teil einer breit angelegten, vergleichenden Wissenschaft von der Spätantike und dem Frühmittelalter werden, die weit über die alte Polarität ‚Germanen gegen Rom‘ hinausweist.
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Vgl. Rome and China. Comparative Perspectives on Ancient World Empires, hrsg. von Walter Scheidel (Oxford 2009).
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 589–632 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
Germanic animal art and symbolism Karen Høilund Nielsen Germanic animal art, which Mats P. Malmer proclaimed as “one of the Scandinavian countries’ most original and best contributions to world art history, from the earliest times until to the present [my translation]”,1 achieved a wide distribution in Scandinavia in the post-Roman period and to a certain degree in some parts of Continental Europe and Britain too. It was not just in the post-Roman period that animal art has been of significant importance, but also in modern scholarship on this period: indeed, for some areas it was for a long time the only source of information from the sixth and seventh centuries.2 Germanic animal art has been subject to analysis in terms of chronology, contacts, art and crafts, social organisation, and, most recently, religion and cosmology. The aim of this paper is to give a short introduction to Germanic animal art and its symbolism including the history of research and some new perspectives.
The context Germanic animal art, which was divided into Styles I, II and III by Bernhard Salin in 1904,3 developed from the Nydam Style, which was again itself derived from Late Roman military art, especially as it is found in the Roman 1
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Mats P. Malmer, Metodproblem inom järnålderns konsthistoria. Acta archaeologica Lundensia, Series in 8°, 3 (Lund 1963), p. 223. Ulf Näsman, Det syvende århundrede – et mørkt tidsrum i ny belysning. In: Fra Stamme til Stat i Danmark 2: Høvdingesamfund og Kongemagt, ed. by Peder Mortensen, Birgit M. Rasmussen (Højbjerg 1991), pp. 165–178, here p. 166, Fig. 1. Bernhard Salin, Die altgermanische Thierornamentik: Typologische Studie über germanische Metallgegenstände aus dem 4. bis 9. Jahrhundert, nebst einer Studie über irische Ornamentik (Stockholm 1904).
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provinces, and the Saxon Chip-carving or Relief Style.4 In Style I, the sea beasts of the Nydam Style were replaced by quadrupeds, and changed from plastic animals to flat animals with every body-part surrounded by a contourline. The animals are primarily found along the edges of designs with the plane surface within filled with Late Antique geometrical patterns. The animals gradually came to cover more of the surface of the objects.5 Subsequent in Style II each of the often ribbon-like animals forms an organic whole and they are organised in an elegant inter-twining, often in a sort of “waves”.6 Style II is divided into a number of sub-styles, called Styles (A), B, C and D.7 The less coherent animals of Style III have very elongated bodies and their jaws and claws are oversize and aggressive. The bodies are often perforated and extremities may weave around these openings.8 Style I first appeared in the later first half of the fifth century, whereas Style II developed in the first half of the sixth century. The earliest Style III appeared in the late seventh century and lived until the beginning of the Viking Period. The three stages of Germanic animal art all have their roots in Scandinavia whence the first two Styles spread to the Germanic regions of the Continent and Britain.9 Without regard to chronology, the finds are 4
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Hermann Ament, Article “Tierornamentik, Germanische. 2”. In: RGA 30 (2005), pp. 586–597; Karen Høilund Nielsen, Saxon Art between Interpretation and Imitation. The Influence of Roman, Scandinavian, Frankish, and Christian Art on the Material Culture of the Continental Saxons. In: The Continental Saxons from the Migration Period to the Tenth Century. An ethnographic perspective, ed. by D. H. Green, F. Siegmund (Woodbridge 2003), pp. 193–233. Günther Haseloff, Die germanische Tierornamentik der Völkerwanderungszeit: Studien zu Salin’s Stil I. Vorgeschichtliche Forschungen 17 (Berlin 1981). Karen Høilund Nielsen, Ulv, hest og drage. Ikonografisk analyse af dyrene i stil II– III. Hikuin 29 (2002), pp. 187–218. Greta Arwidsson, Vendelstile, Email und Glas im 7.–8. Jahrhundert (Uppsala, Stockholm 1942); Pär Olsén, Die Saxe von Valsgärde (Uppsala, Stockholm 1945); Mogens Ørsnes, Form og stil i Sydskandinaviens yngre germanske jernalder (København 1966); Mogens Ørsnes, Südskandinavische Ornamentik in der jüngeren germanischen Eisenzeit. Acta Archaeologica 40 (1969 [1970]), pp. 1–121. Ole Klindt-Jensen, David Wilson, Vikingetidens kunst (København 1965), pp. 44– 47. Haseloff, Tierornamentik (cf. note 5); Karen Høilund Nielsen, Centrum og periferi i 6.–8. årh. Territoriale studier af dyrestil og kvindesmykker i yngre germansk jernalder i Syd og Østskandinavien. In: Fra Stamme til Stat i Danmark 2: Høvdingesamfund og Kongemagt, ed. by Peder Mortensen, Birgit M. Rasmussen (Aarhus 1991), pp. 127–154; Karen Høilund Nielsen, Animal style – a symbol of might and myth. Salin’s Style II in a European context. Acta Archaeologica 69 (1998), pp. 1–52; Karen Høilund Nielsen, Style II and the Anglo-Saxon elite. Anglo-Saxon Studies in Archaeology and History 10 (1999), pp. 185–202; Helmut
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distributed in Anglo-Saxon England with a centre of gravity in the east and south-east; in the eastern Frankish, Thuringian, Alamannic and some of the Burgundian areas of the Continent; in Langobardic Italy; and as individual finds in Hungary and Slovenia. Conversely there are practically no finds in the heart of the Frankish territories.10 Style III, on the other hand, is almost only found in eastern Scandinavia.11 The context and frequency of objects with Animal-style decoration in the individual regions and periods are of considerable significance to interpretation. It does matter whether Animal Style was generally known and used in the society on a broad scale or belonged to an exclusive social group. Style I in Scandinavia is predominantly found on silver objects (occasionally even gold objects), most often great square-headed brooches.12 These almost always unique Style I-decorated objects are found in Denmark and Sweden, but are even more common in southern and western Norway, where they also represent a longer period.13 Most are found in hoards in combination with other precious metal objects, but in some cases in Sweden and more commonly in Norway they appear in well-furnished burials. At Helgö in Sweden many moulds for Style-I objects have been found. Style I has also been found in Finland. In England, Style I is widely spread, especially in eastern and south-eastern England (Kentish and Anglian areas), where it is applied to both silver and bronze objects and is especially common on great square-headed brooches and clasps. It has a longer life here than in Scandinavia. In Anglian England, the style became much more popular than it ever was in Scandinavia.14 On the Continent, too, great
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Roth, Kunst der Völkerwanderungszeit. Propyläen Kunstgeschichte, Supplementband 4 (Frankfurt/Main 1979). Is not to be confused with the other animal ornamentation found primarily in the western Frankish area, but of different origin, cf. Michaela Aufleger, Tierdarstellungen in der Kleinkunst der Merowingerzeit im westlichen Frankenreich (Mainz 1997). Høilund Nielsen, Centrum (cf. note 9), p. 144 Fig. 19 and p. 145 Fig 23. Silver is almost entirely predominant in Denmark, whereas a third of the brooches in Norway and more than half of those found in Sweden are made of bronze or gilt bronze: cf. Thorleif Sjøvold, The Scandinavian relief brooches of the migration period: an attempt at a new classification (Oslo 1993), Table 2. Karen Høilund Nielsen, The Real Thing or just Wannabes? Scandinavian-Style Brooches in the fifth and sixth Centuries. In: Foreigners in Early Medieval Europe. Thirteen International Studies on early Medieval Mobility, ed. by D. Quast (Mainz 2009), pp. 51–111; Siv Kristoffersen, Sverd og spenne: dyreornamentikk og sosial kontekst (Kristiansand 2000); Siv Kristoffersen, Folkevandringstidens dyreornamentikk i Sørvestnorge. Hikuin 29 (2002), pp. 143–162; Sjøvold, Relief brooches (cf. note 12). John Hines, The Scandinavian character of Anglian England in the pre-Viking Pe-
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square-headed brooches in Style I are widely spread, but only few have recognizably Style I. Some of the brooches are in silver, whereas many others are in bronze and often much smaller than in Scandinavia.15 The distribution and quantity of objects with Style II is very different to that of Style I. Furthermore Style II is almost only used on bronze objects, some of which are also gilt or tinned. Only in Kent and at Sutton Hoo is the style applied on gold. In Scandinavia, Style II is most common in the southern regions, where it occurs in considerable quantities on brooches and mounts found at those settlement sites that are rich in metal finds and often called “central places” (Fig. 1).16 Style II-decorated objects are also very common in the inhumation burials found on the island of Bornholm, and also in cremation cemeteries in Jutland such as Lindholm Høje. In Sweden, especially in Uppland and the Mälar-region, Style II-decorated objects occur in the boat-graves with their rich deposits of weaponry. The few finds in Finland are also closely related to graves with weapons. On the island of Gotland, Style II appears on weaponry in many graves while brooches are only adorned with animal heads. Very little Style II has been found in Norway, mostly in Hedmark, with the rich finds from Åker. In England, Style II is quite rare. One group of finds is concentrated in eastern England, especially in and around Sutton Hoo, another in Kent, concentrated at very rich cemeteries such as Faversham, where, however, the style is very different from the Style II of eastern England.17 Style II is less common in Continental Europe. In its early, classical version it occurs on large bow brooches of Continental type, and on weapons and belt mounts, predominantly concentrated along the Rhine, in the Alamannic area and in the Langobard areas of Italy.18
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riod. BAR British series, 124 (Oxford 1984); John Hines, Clasps, hektespenner, agraffen: Anglo-Scandinavian clasps of classes A-C of the 3rd to 6th centuries A.D.: typology, diffusion and function (Stockholm1993); John Hines, A new corpus of Anglo-Saxon great square-headed brooches (Woodbridge 1997); Karen Høilund Nielsen, Stil II als Spiegel einer Elitenidentität? Der Tierstil von der Herkunftsmythologie bis zur Königssymbolik und Kirchenkunst im angelsächsischen Britannien. In: Zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Archäologie des 4. bis 7. Jahrhunderts im Westen, hrsg. von S. Brather. Ergänzungsbände zum RGA, Bd. 57 (Berlin, New York 2008), pp. 297–321. Haseloff, Tierornamentik (cf. note 5); Høilund Nielsen, Wannabees (cf. note 13). Høilund Nielsen, Centrum (cf. note 9). Høilund Nielsen, Anglo-Saxon (cf. note 9); Høilund Nielsen, Elitenidentität (cf. note 14). The recently found Staffordshire hoard will probably to some extent change this picture, see http://finds.org.uk/staffshoardsymposium. Høilund Nielsen, Animal Style (cf. note 9).
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Fig. 1: Gilt bronze mount with ornamentation in late Style II. Found by metal detector at the central place/magnate farm of Stavnsager, eastern Jutland. The mount is 2.2 cm wide. Now in Kulturhistorisk Museum Randers. Photo: Karen Høilund Nielsen.
The quantity of Style II outside of Scandinavia is quite low. Much Continental Style II also includes decoration in which only the animal heads can be assigned to Style II and there are no proper animals. When one considers that more than 100.000 row graves have been excavated on the Continent,19 some 150 objects with Style-II animals (= animals each comprising a head, body, legs and feet) from approximately a hundred different Continental sites is a tiny figure (less than 0.1% of the graves), even if grave robbing has reduced the amount.20 Normally there is no more than one grave with Style II in a cemetery. In contrast Animal Style was found in more than 3% of the cremation graves at the large cemetery of Lindholm Høje in northern Jutland, and in 15% and 30% of the inhumation graves of the cemeteries of Bækkegård21 and Nørre Sandegård Vest respectively,22 both on Bornholm. Another difference is the enormous diversity in the stylistic elements within Scandinavian Style II, whereas Style II on the Continent and to some degree in Anglo-Saxon England is rather stereotyped with little variation in the stylistic elements. On the Continent and in England, in each case approximately fifty different heads have been recorded, while the number for 19
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Heiko Steuer, Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa. Eine Analyse der Auswertungsmethoden des archäologischen Quellenmaterials. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, 3. Folge 128 (Göttingen 1982), pp. 68 ff, p. 309. Høilund Nielsen, Animal Style (cf. note 9). Lars Jørgensen, Bækkegård and Glasergård. Two cemeteries from the Late Iron Age on Bornholm (København 1990). Lars Jørgensen, Anne Nørgård Jørgensen, Nørre Sandegård Vest. A cemetery from the 6th-8th centuries on Bornholm (København 1997).
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southern and eastern Scandinavia is 350.23 In respect of the social groups using Style II, the picture is also very diverse. In Scandinavia, especially in southern Scandinavia, Style II is not confined to the elite, but is found over a wide social range and on both male and female accessories.24 In Continental Europe, Style II is predominantly found in burials of a military and/or elite character, and is only used by some segments of this (military) elite.25 This is also the case in Kent and Anglian England.26 Style I, on the other hand, belongs to the elite in Scandinavia and on the Continent. In south-western Norway and in Anglian England, conversely, it is as common as Style II is in southern Scandinavia, and both in southwestern Norway and in Anglian England Style I remained in use for longer than in southern Scandinavia and so for some time runs parallel with early Style II. Style II is common in southern and eastern Scandinavia but is rare in western and south-western Norway. In Anglian England and Kent, Style II is limited to the elite and on the Continent to certain segments of the elite. As questions of time and money in the modern world often do not allow scholars to spend years visiting every European museum, or allow all museums to have updated corpora of objects with Germanic animal art, there is a risk of misinterpretation of, for example, the distribution or local importance of this specific style. Very little of the Danish material found by metal detecting has been published, and for the Continental finds Åberg’s map of 192327 is still sometimes used for the distribution of Style II on the Continent. It is consequently very hard to gain a proper impression of the distribution and the popularity of Germanic animal art in Europe. Clear and unambiguous definitions of the style and its variants are another problem and, especially in Scandinavia, it is hard to achieve any precise absolute dates for finds from the fifth to the seventh centuries on which to base discussion. Consequently the debate amongst scholars is not always on equal terms.
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Høilund Nielsen, Anglo-Saxon (cf. note 9); the animal details from Scandinavia and the Continent were recorded by the author during two research projects, but not published in their entirety. Høilund Nielsen, Centrum (cf. note 9); Høilund Nielsen, Retainers of the Scandinavian kings: An alternative interpretation of Salin’s Style II (sixth-seventh centuries AD). Journal of European Archaeology 5.1 (1997), pp. 151–169. Høilund Nielsen, Animal Style (cf. note 9). Høilund Nielsen, Anglo-Saxon (cf. note 9); Høilund Nielsen, Elitenidentität (cf. note 14). Nils Åberg, Die Goten und Langobarden in Italien (Uppsala u.a. 1923), Karte.
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Research history In the research history28 of Germanic animal art, three factors are important. First, the general contemporary scholarly and scientific climate has inevitably influenced scholars within archaeology and art history. Second, the changing educational background of the scholars writing about this style has also been a decisive factor in their interpretations – it is significant that Åberg’s background was in the natural sciences. Last but not least, new archaeological finds, and especially finds of outstanding character, has had a deep impact on perspectives. Finds like Oseberg, Vendel, Valsgärde, Sutton Hoo and Helgö have been critical in the changing understanding and interpretation of Germanic animal art in north-western Europe. Over less than 150 years, research into Germanic animal art has developed from no recognition of this style, through analyses of chronology and cultural contacts, crafts and social importance, to being interpretations as an important aspect of religion and cosmology and to be associable with Old Norse religion. To some degree, however, the relationship between Germanic animal art and Old Norse religion has occasionally been touched upon ever since the late nineteenth century. Germanic animal art becomes scholarly The scholarly basis for later generations of research on the theme was established by Sophus Müller, whose thesis of 188029 turned animal art into a field of research in its own right. At the same time Oscar Montelius provided the methodological basis for later generations. Müller saw the animal art as purely decorative, whereas Montelius already recognised the motif known from the C-bracteates and the foils of the Vendel-type helmets with a man riding a horse and accompanied by other animals, especially birds, as a representation of Odin.30 28
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A comprehensive research history with more detail on individual scholars and their works can be found in: Karen Høilund Nielsen, Fra antikristne symboler til “ophitisk kunstsmag”. Dyrestil i oldtid og nutid. Hikuin 29 (2002), pp. 7–14; Karen Høilund Nielsen, Siv Kristoffersen, Germansk dyrestil (Salins stil I‒III). Et historisk perspektiv. Hikuin 29 (2002), pp. 15–74. Sophus Müller, Dyreornamentikken i Norden, dens Oprindelse. Udvikling og Forhold til samtidige Stilarter. En arkæologisk Undersøgelse. Aarbøger for Nordisk Oldkyndighed og Historie 1880, pp. 185–403. Oscar Montelius, Sveriges historia från äldsta tid till våra dagar I (Stockholm 1877), pp. 202–203; Oscar Montelius, Kulturgeschichte Schwedens von den ältesten Zeiten bis zum elften Jahrhundert nach Christus (Leipzig 1906), p. 250.
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The legacy from Montelius: typologists and cultural historians The first quarter of the twentieth century saw Germanic animal art established as an important research area, not merely in art history but also for addressing a series of other questions concerning Migration-period societies in Europe. The foremost scholars of this period were Bernhard Salin, Nils Åberg, Haakon Shetelig, Sune Lindqvist and George Baldwin Brown. Salin introduced the stylistic analysis based on the feet, legs and heads of the animals upon which he founded his division of Germanic animal art into the three Styles I, II and III.31 Åberg applied a comparable analysis, concentrating, however, on the heads of the animals and later adding the concept of the animal “wave” for those animals that were not part of an interlace pattern.32 New archaeological finds of utmost importance for the understanding of animal art in this period were the boat graves at Vendel with their richly decorated weaponry, the Oseberg ship-burial with its large amounts of carved wood, and the Langobardic cemeteries of Castel Trosino and Nocera Umbra with their combination of Langobardic, Frankish and Nordic material culture, including animal art. Common to the scholars mentioned is their well-grounded, European perspective. Dividing them, however, was the interpretation of the finds. Between Åberg and Lindqvist the relationship was tense, especially when it came to the chronological relationship between Style I and Style II.33 In contrast to Åberg, Lindqvist saw the two styles as contemporary. The only one of these scholars who discussed the motifs in relation to the Old Norse religion was Salin,34 who suggested that the most common motifs of the bracteates may have been religious symbols, especially the “head above quadruped”-motif. He suggested a connexion between some of the C31 32
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Salin, Thierornamenik (cf. note 3). Nils Åberg, Die Franken und Westgoten in der Völkerwanderungszeit (Uppsala, Leipzig, Paris 1922); Åberg, Goten und Langobarden (cf. note 27); Nils Åberg, Nordiska kompositionsformer i stil II. Fornvännen 1946, pp. 11–37. Sune Lindqvist, Vendelkulturens ålder och ursprung (Stockholm 1926); Sune Lindqvist, Folkvandringstidens stilfrågor och kronologiska problem. Fornvännen 1927, pp. 311–317; Sune Lindqvist, Uppsala Högars datering. Fornvännen 1949, pp. 33–48; Nils Åberg, Salins stilar eller Uppsalaskolans? Fornvännen 1946, pp. 31–37; Nils Åberg, Uppsala Högars datering. Fornvännen 1947, pp. 257–289; Nils Åberg, Vendelgravarna och Uppsala Högar i deras historiska miljö. Fornvännen 1949, pp. 193–204; for further details see Høilund Nielsen, Kristoffersen, Germansk dyrestil (cf. note 28). Bernhard Salin, De nordiska guldbrakteaterna. Några bidrag til kännedom om brakteaternas utredning och kulturhistoriska betydelse. Antiqvarisk Tidskrift för Sverige 14 (1899), pp. 89–93.
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bracteates and Thor (the large animal has a goat’s beard, but is not accompanied by a bird) and between other C-bracteates and Odin (the large animal has no goat’s beard, but is accompanied by a bird). He also assumed the horse and rider on the Vendel helmets to represent Odin, but he was very cautious in his attempts at interpretation.35 Of other scholars of this period addressing this question, Knut Stjerna36 and the literary historian Henrik Schück37 were very cautious in their interpretation and only saw the birds as “beasts of battle” in general, while Stjerna suggested the motif of the horse, rider and snake rather to be Beowulf and Grendel, although Ture J. Arne38 and especially the philologist Hugo Jungner39 interpreted the motif as Odin with his two ravens. Jungner was one of the first to draw heavily on Old Norse mythology in interpreting the Vendel Period. He discussed the Odin cult, in Uppsala in particular, and interpreted all the images from the helmets in the Vendel graves as imagery related to Odin with no reservations whatsoever. The next generation: regionalism Of the next generation of scholars in Germanic animal art, Wilhelm Holmqvist, and to some extent also John-Elof Forssander, were the only ones working within the European perspective that characterised their predecessors: Forssander, especially, concentrating on the relationship of the Sösdala, Nydam and Sjörup Styles and Style I with Roman arts and craft.40 The other prominent scholars of this period, Thomas Downing Kendrick and Edward Thurlow Leeds, Eva Nissen Meyer (Fett) and Bjørn Hougen, Greta Arwidsson and Pär Olsén, were working within their own geographical regions (Anglo-Saxon England; southern and south-western Norway; Uppland). Whereas Holmqvist, Nissen Meyer and Hougen were faithful to Salin’s classification and methods, Kendrick, Arwidsson and Olsén opposed Salin and presented alternative classifications and methods, Kendrick introducing the “Helmet” and “Ribbon” Style,41 and Arwidsson42 and Olsén43 in 35
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Bernhard Salin, Heimskringlas tradition om asernes invandring. In: Studier tillägnade Oscar Montelius (Stockholm 1903), pp. 133–41, here pp. 135–136. Knut Stjerna, Arkeologiska anteckningar till Beovulf. Kungliga Vitterhets-, Historieoch Antikvitetsakademiens månadsblad 32–4 (1903–1905), p. 436–51, here especially p. 446 and p. 448. Henrik Schück, Illustrerad svensk litteraturhistoria I (Stockholm 1911), p. 52. Hjalmar Stolpe, Ture J. Arne, Graffältet vid Vendel (Stockholm 1912), p. 13. Hugo Jungner, Uppsala- och Vendel-konungernes mytiska ättefäder. Fornvännen 1919, pp. 79–102. John-Elof Forssander, Provinzialrömisches und Germanisches. Meddelanden från Lunds universitets historiska Museum 1937, pp. 11–100. Thomas Downing Kendrick, Style in early Anglo-Saxon ornament. Ipek 9 (1934
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introducing an almost complete replacement of Salin’s Styles I–III with the Vendel Styles A–D. Hitherto, the view had been that Style II had its origin on the Continent. However, Holmqvist argued that it must have been the other way round, and that Style II had its origin in Scandinavia.44 With Style I, Leeds was long of the opinion that it had developed independently in different regions and that if Style I in England was due to any influence from abroad it had to be from the Continent. However, at the end of his career he was increasingly convinced that the Anglo-Saxon Style I had its origin in Scandinavia.45 Thus the idea that Styles I and II were of Scandinavian origin achieved increasing support, albeit not in every scholarly circle. Arwidsson and Olsén took as their starting-point the new cemetery at Valsgärde with yet more boat graves with richly adorned weaponry.46 Their perspective was much the same as that of Lindqvist and they also inherited his dispute with Åberg. They formed the so-called Uppsala School,47 which was characterised by defining the sub-styles on basis of the general idea expressed in the motifs, unlike Salin with emphasis on the stylistic elements. When Valsgärde Grave 7 was published in 1977 Arwidsson48 followed the chronology of Lindqvist, which was heavily criticised by Holmqvist,49 who was following Åberg’s point of view. Hougen50 and Nissen Meyer51 were not “style-typologists” in their work with the weapons from Snartemo (discovered 1933) and the Norwegian
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[1935]), pp. 66–76; Thomas Downing Kendrick, Anglo-Saxon Art to A.D. 900 (London 1938). Arwidsson, Vendelstile (cf. note 7). Olsén, Die Saxe (cf. note 7). Wilhelm Holmqvist, Kunstprobleme der Merowingerzeit (Stockholm 1939), pp. 284–285, p. 290. Edward Thurlow Leeds, Notes on Jutish art in Kent between 450 and 575. Medieval Archaeology 1 (1957 [1958]), pp. 5–26. Greta Arwidsson, Valsgärde 6 (Uppsala, Stockholm 1942); Greta Arwidsson, Valsgärde 8 (Uppsala, Stockholm 1954); Greta Arwidsson, Valsgärde 7 (Uppsala 1977); Olsén, Die Saxe (cf. note 7). Åberg, Kompositionsformer (cf. note 32). Arwidsson, Valsgärde 7 (cf. note 46). Wilhelm Holmqvist, Diskussion kring Valsgärde 7. Fornvännen 1978, pp. 180–193. Bjørn Hougen, Snartemofunnene. Studier i folkevandringstidens ornamentikk og tekstilhistorie (Oslo 1935); Bjørn Hougen, The Migration Style of Ornament in Norway. Catalogue of the Exhibition of Norwegian jewellery from the Migration Period (Oslo 1936). Eva Nissen Meyer, Relieffspenner i Norden. Bergen Museums Årbok 1934 [1935]. Historisk-antikvarisk rekke Nr. 4; Eva Nissen Fett, Nordische Relieffibeln der Völkerwanderungszeit. Ipek 11 (1937), pp. 106–116; Eva Nissen Fett, Relief-Fibeln
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great square-headed brooches, but placed much more emphasis on the social implications of the animal style and the objects which it adorned, a subject previously highly neglected. The Uppsala School also emphasised the social aspect of the style, Lindqvist drawing on the Old Norse literature in order to link presumed historical kings with the monuments, especially the burial mounds, in Uppland.52 This meant an increasing focus on religious, social and political circumstances. In this way the archaeology of central Sweden became a very nationally coloured historical-archaeological research in the magnate farmers in Valsgärde, the kings of the royal mounds of Old Uppsala and the emergence of the kingdom of the Svear. Holmqvist included the Scandinavian horse and rider motifs in his discussion of the “Reiterheiliger” and with the same interpretation, while he regarded the suggestions of an interpretation of the rider as Odin to be unjustified.53 Hans Zeiss also rejected the interpretation of the motif as having anything to do with Odin/Wodan and saw these motifs as coming from the Mediterranean world.54 The helmets from Valsgärde provided a considerable number of figural foils, some of which also depict the aforementioned horse and rider; but Arwidsson, who published the finds, only commented on these in the volume of 1977, and discussed the motifs only in relation to comparable Continental and Roman motifs.55 In his review, Holmqvist criticised her for only discussing parallels to the motif which where centuries older than the grave, which was to some extent a consequence of her view that Style II was as early as Style I.56 Lost innocence and puritanism After World War II positivism and logical positivism as well as the so-called New Archaeology were favoured because of their supposed lack of political undertones. Analyses concentrated strictly on what could be measured or was directly observable. The aim was objectivity and not cultural history. The results of research should be independent of the individual scholar. Mats Malmer’s methodological discussions were the first of their kind since the days of Montelius and fitted well into the ideas of New Archaeol-
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von nordischem Typus in Mitteleuropa. Bergen Museums Årbok 1941. Historiskantikvarisk rekke Nr. 5. Sune Lindqvist, Uppsala högar och Ottarshögen (Stockholm 1936). Holmqvist, Kunstprobleme (cf. note 44), pp. 123–128, pp. 267–277. Hans Zeiss, Das Heilsbild in der Germanischen Kunst des frühen Mittelalters (München 1941), pp. 38, 43–47. Arwidsson, Valsgärde 7 (cf. note 46). Holmqvist, Diskussion (cf. note 49).
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ogy.57 Malmer was very harsh in his criticisms of his predecessors, as well as of his contemporary colleagues. One of the very few who took up the challenge was Egil Bakka.58 However, Malmer’s methodology indirectly had a major impact on research amongst his contemporary and later Scandinavian colleagues. The clearest example is the thesis Form og stil by Mogens Ørsnes.59 Methodological advances were presented by Bertil Almgren and Mogens Ørsnes. In his attempt to show that two contemporary but very different styles were produced by – so to say – the same hand, Almgren introduced the analysis of curvatures,60 a method heavily criticised by Malmer61 and which never took on. Ørsnes, on the other hand, based his stylistic analysis on the same typological ideas as Salin but used modern methods such as seriation and cluster-analysis to establish his stylistic classification and chronology.62 A series of new and very different finds encouraged the debate within the themes of chronology and craft and production: the very richly furnished boat grave from Sutton Hoo in East Anglia, Arnegunde’s grave in SaintDenis in Paris, and the site of Helgö discovered on an island in Lake Mälaren. At Helgö, settlements and cemeteries together with large amounts of production waste were found. The large number of moulds found there changed the understanding of the production and distribution of brooches and other jewellery from the fifth-sixth centuries considerably.63 Concurrently large corpora including typological and chronological analyses were published, thus producing a solid basis for discussion in some areas.64
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Malmer, Metodproblem (cf. note 1). Egil Bakka, Methodological Problems in the Study of Gold Bracteates. With Mats P. Malmer, Comments, and Egil Bakka, Reply. Norwegian Archaeological Review 1 (1968), pp. 5–56. Ørsnes, Form og Stil (cf. note 7). Bertil Almgren, Bronsnycklar och djurornamentik (Uppsala 1955). Malmer, Metodproblem (cf. note 1), pp. 238–242. Ørsnes, Form og Stil (cf. note 7); Ørsnes, Südskandinavische (cf. note 7). Wilhelm Holmqvist et al., Excavations at Helgö IV: Workshop Part I (Stockholm 1972), especially chapters IV‒V. Aarni Erä-Esko, Germanic animal art of Salin’s style I in Finland. Suomen Muinaismuistoyhdistyksen Aikakauskirja 63, 1965; Egil Bakka, On the beginning of Salin’s Style I in England. Universitetet i Bergen Årbok 1958 [1959]. Historiskantikvarisk rekke No. 3; Sonia Chadwick Hawkes, The Jutish Style A. Archaeologia 98 (1961), pp. 29–74; Haseloff, Tierornamentik (cf. note 5); Helmut Roth, Die Ornamentik der Langobarden in Italien: Eine Untersuchung zur Stilentwicklung anhand der Grabfunde (Bonn 1973); Ørsnes, Form og Stil (cf. note 7); Ørsnes, Südskandinavische (cf. note 7).
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The relationships between the styles immediately prior to Style I (Nydam, Sösdala and Sjörup) were discussed by Olfert Voss on basis of the newly found Høstentorp silver hoard,65 and the relationship between Late Roman art and Germanic animal style was also taken up by Horst Wolfgang Böhme.66 In Norway, a discussion of the relief brooches was carried forward by Bente Magnus in her analysis of the Krosshaug burial,67 focusing especially on those in Nydam Style. Parallel with the analysis of the introduction of Style I in England by the Norwegian archaeologist Egil Bakka,68 Sonia Chadwick (Hawkes) took up where Leeds left the discussion of the origin of Style I in Kent. She concluded that both Kentish Style I and the great square-headed brooches had their origins in Jutland.69 The question of when and where the transition from Style I to Style II took place, previously keenly debated among Scandinavian scholars, was now taken over by German colleagues – partly sparked by the newly-found Arnegunde grave containing buckles decorated in Style II. Foremost amongst these were the archaeologist and art-historian Günther Haseloff, who favoured the Alamannic area for the transition,70 and Helmut Roth, who was of the opinion that several centres were behind the development, but especially Scandinavia.71 It was also Haseloff and Roth who sought seriously to identify animals and motifs within Styles I and II especially through comparative analysis with classical motifs.72 The so-called Tiermenschen 65
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Olfert Voss, The Høstentorp silver hoard and its period. A study of a Danish find of scrap silver from about 500 A.D. Acta Archaeologica 25 (1954 [1955]), pp. 171–219. Horst Wolfgang Böhme, Germanische Grabfunde des 4. bis 5. Jahrhunderts zwischen unterer Elbe und Loire (München 1974); Horst Wolfgang Böhme, Zum Beginn des germanischen Tierstils auf dem Kontinent. In: Festschrift für Joachim Werner zum 65. Geburtstag, hrsg. von G. Kossack, G. Ulbert (München 1974), pp. 295–308. Bente Magnus, Krosshaugfunnet (Stavanger 1975). Bakka, On the beginning (cf. note 64). Chadwick Hawkes, Jutish Style A (cf. note 64). Haseloff, Tierornamentik (cf. note 5), pp. 595–597, 607–608, 612–613, 709; Günther Haseloff, Stand der Forschung: Stilgeschichte Völkerwanderungs- und Merowingerzeit. In: Festskrift til Thorleif Sjøvold på 70 årsdagen, ed. by M. Høgestøl et al. (Oslo 1984), pp. 109–124, here pp. 116–117. Roth, Kunst (cf. note 9), pp. 72–73. Haseloff, Tierornamentik (note 5), pp. 3, 18–173; Günther Haseloff, Bild und Motiv im Nydam-Stil und Stil I. In: Helmut Roth, Zum Problem der Deutung frühmittelalterlicher Bildinhalte (Sigmaringen 1986), pp. 61–110, here pp. 82, 101; Roth, Kunst (cf. note 9); Helmut Roth, Einführung in die Problematik, Rückblick und Ausblick. In: Helmut Roth, Zum Problem der Deutung frühmittelalterlicher Bildinhalte (Sigmaringen 1986), pp. 9–24, here pp. 16–17.
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were a particular focus of attention, and were suggested to be linked with shamanism. A landmark publication edited by Roth was Zum Problem der Deutung frühmittelalterlicher Bildinhalte,73 the proceedings of a conference of the same title, in which the meaning of the Germanic Animal Style was debated form a range of viewpoints. This iconographic tradition has long roots in German archaeology and art history: suffice it to mention Herbert Kühn’s paper Über Sinn und Bedeutung der Bügelfibel in der Völkerwanderungszeit which was published in Jahrbuch für prähistorische & ethnographische Kunst (Ipek).74 The title of the periodical reflects the comparative perspective between prehistoric and other “primitive” art of ethnographic origin which allowed Kühn to read cosmos and man into the shape of the bowbrooches which – according to Kühn – was the background for the animal ornamentation and the position of the motifs on the brooches. The paper Ein Relieffibelpaar aus Nordendorf in Bayerisch Schwaben by Hayo Vierck is another major work within the iconographic tradition discussing the motif of the face-between-yawning-beasts as symbolising a human vital force or the human soul on basis of the brooches from Nordendorf (RGA).75 These three publications are, in a way, the prelude to what would happen in the last two decades of the twentieth century. The meaning of things The growth in the archaeological record from the 1970s and onwards had its influence on understanding of Germanic animal art. The production waste and workshops from the eighth century found in Ribe together with the much earlier finds from Helgö widened ideas on the mode of production, including that of objects with zoomorphic ornamentation. In Denmark the use of metal detectors was and is legal, and any treasure found has to be handed in to the authorities for compensation. The result of this has been an enormous increase in finds, especially finds from the fifth to eleventh centuries and thus also the period of Germanic animal art (Fig. 2). 73
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Helmut Roth (Hrsg.), Zum Problem der Deutung frühmittelalterlicher Bildinhalte. Akten des 1. Internationalen Kolloquiums in Marburg a.d. Lahn, 15. bis. 19. Februar 1983 (Sigmaringen 1986). Herbert Kühn, Über Sinn und Bedeutung der Bügelfibel in der Völkerwanderungszeit. Ipek 19 (1954–1959), pp. 49–67. Hayo Vierck, Ein Relieffibelpaar aus Nordendorf in Bayerisch Schwaben. Zur Ikonographie des germanischen Tierstils I. Bayerische Vorgeschichtsblätter 32 (1967), pp. 104–143.
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Fig. 2: A sample of objects with animal-style decoration. Found by metal detector at the central place/magnate farm of Stavnsager, eastern Jutland. Now in Kulturhistorisk Museum Randers. Photo: Karen Høilund Nielsen.
This brought a very different perspective to objects with animal ornamentation. Sites like Gudme, Tissø, Boeslunde/Neble, Sorte Muld and Uppåkra would never have shown their real character without the commitment of the Danish metal detectorists and hobby archaeologists and their collaboration with the Danish museums. The excavation and subsequent publication of the huge weapon deposits at Illerup Ådal the state-financed interdisciplinary research projects such as “From Tribe to State in Denmark” and “Svealand in the Vendel- and Viking periods” which took place in these years, also influenced research into social development in southern and eastern Scandinavia. During the last two decades of the twentieth century two very different schools emerged, both with Germanic animal art central in their research, and the one relying very much on the results from the other, although their theoretical backgrounds appear to be as far apart as they could be. One group of scholars was to some extent of the previous generation and worked primarily within the German iconographic tradition. Haseloff was
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mentioned above, but also David Leigh76 analysing the Kentish squareheaded brooches and George Speake77 Style II in England were working within the established tradition, although Speake was no believer in Salin’s method of analysis, preferring a more holistic method. Last but not least the historian Karl Hauck was the scholar working within the German iconographic tradition, or as he names it “iconology”, who was to put his footprint on the analysis of both anthropomorphic and zoomorphic art in the last quarter of the twentieth century. He predominantly studied the gold-bracteates (bracteate iconology), especially those with human beings depicted, but he also included the zoomorphic Styles I and II.78 Hauck links the analyses of the motifs and the occasional runic inscriptions with the much later Old Norse mythological literature, thus reconstructing a pre-Old Norse religion and cosmology, and argues that the mythology, which was written down in the tenth to twelfth centuries, was actually already part of an established tradition in the fifth century.79 Amongst the younger generation of scholars, for whom Anglo-American anthropological and archaeological theory was the backbone of their research, Germanic animal art was confronted with both modern social theory, the role of material culture in society, and with a progressive German iconographic tradition. A Scandinavian landmark publication was Arne B. Johansen’s frontal attack on the existing research in style and ornamentation from 1979.80 Johansen also came up with some interesting suggestions for the analysis of style, which, however, were completely drowned by the criticism it received because of Johansen’s not always thorough use of data.81 Also boosting interest in animal art was the increasing focus within theoretical archaeology on the study of symbols, such as Ian Hodder’s Symbols in Action 76
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David Leigh, The square-headed brooches of sixth century Kent. Unpublished thesis, University College Cardiff (Cardiff 1980); David Leigh, Aspects of early brooch design and production. In: Anglo-Saxon cemeteries: a reappraisal. Proceedings of a conference held at Liverpool Museum 1986, ed. by E. Southworth (Stroud 1990), pp. 107–124. George Speake, Anglo-Saxon animal art and its Germanic background (Oxford 1980). Karl Hauck et al., Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit. Münstersche Mittelalter-Schriften 24 (München 1985–1989). Karl Hauck’s scholarly works on these subjects are numerous. An entire list can be accessed at fruehmittelalter.uni-muenster.de/goldbrakteaten Arne B. Johansen, Nordisk Dyrestil – bakgrunn og opphav (Stavanger 1979). Arne B. Johansen, Nordic animal Style – background and origin. Norwegian Archaeological Review 14:2 (1981), pp. 118–123. Comments by Horst Wolfgang Böhme, Bente Magnus, pp. 123–124, Jørgen Ilkjær, J. Lønstrup, Signe Horn Fuglesang, in: Norwegian Archaeological Review 15:1–2 (1982), pp. 96–114.
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from 1982.82 Again this encouraged interpretation beyond what was directly observable, but now within more advanced theoretical frameworks. And thus, also, Germanic animal art was re-established as a central aspect of the analysis of the Germanic societies: the Germanic animal ornamentation became the door to past myths, belief, cosmology and political factions, and more precisely to the immaterial world which the archaeologists had long been reluctant to deal with. Foremost among these scholars, inspired by modern theory as well as Hauck’s re-construction of Migration-period religion and mythology, is Lotte Hedeager, who has especially focussed on the role of the animal art in the development of a political consciousness in the Migration Period.83 Control over the animal style as well as the rituals and myths of the pagan religion centred on shamanism and the god Odin was a part of the control of social reproduction: style legitimised power. Hedeager understands the animal art as an integratal part of the cosmological order of society; the animal art expresses animal-man transformation, communication with the otherworld, and sorcery (seiðr).84 Hedeager applies her interpretation not only to the Scandinavian areas but also to the Germanic peoples on the Continent, who cultivated animal art and Scandinavian myths of origin; and she sees those as an integratal part of their development of identity and selfunderstanding.85 The Scandinavian myth of origin was an ideological basis opposed to the Roman and Christian ideology and provided an identity with 82
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Ian Hodder, Symbols in action: Ethnoarchaeological studies of material culture (Cambridge 1982). Lotte Hedeager, Kingdoms, Ethnicity and Material Culture: Denmark in a European Perspective. In: The Age of Sutton Hoo. The seventh century in north-western Europe, ed. by M. Carver (Woodbridge 1992), pp. 279–300; Lotte Hedeager, Myth and art. A passport to political authority in Scandinavia during the Migration Period. Anglo-Saxon Studies in Archaeology and History 10 (1999), pp. 151–156. Lotte Hedeager, Skygger af en anden virkelighed. Oldnordiske myter (København 1997); Lotte Hedeager, Odins offer. Skygger af en shamanistisk tradition i nordisk folkevandringstid. Tor 29 (1997), pp. 265–278; Lotte Hedeager, Skandinavisk dyreornamentik. Symbolsk repræsentation af en førkristen kosmologi. In: Et hus med mange rom. Vennebok til Bjørn Myhre på 60-årsdagen, ed. by I. Fuglestvedt, T. Gansum, A. Opedal (Stavanger 1999), pp. 219–237. Lotte Hedeager, The Creation of Germanic Identity. A European Origin-Myth. In: Frontières d’empire: nature et signification des frontières romaines: Actes de la Table Ronde Internationale de Nemours, 21–22–23 mai 1992, ed. by P. Brun, S. van der Leeuw, C. R. Whittaker. Mémoires du Musée de Préhistoire d’Ile-deFrance 5 (Nemours 1993), pp. 121–131; Lotte Hedeager, Myter og materiel kultur: Den nordiske oprindelsesmyte i det tidlige kristne Europa. Tor 28 (1996), pp. 217– 234; Lotte Hedeager, Cosmological endurance: Pagan identities in early Christian Europe. European Journal of Archaeology 1:3 (1998), pp. 382–396.
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roots in the Scandinavian pagan religion with its animal art and symbolic language. Continental animal art was thus an independent style with a definite meaning, which had recognizable and comprehensible associations with particular pagan myths, heroic figures and deities, and was part of that core of social memory which created coherence and self-understanding in a world which due to the migrations continuously changed and thus had to be recreated. Although the scholarly context of Germanic animal art seems in recent decades to have moved to the social sciences, other scholars were still keeping the methods of Salin alive in their pursuit of the role of animal art in society in the sense that detailed stylistic analysis and a detailed chronology are essentials if we are to get closer to the historic reality and to be able to study the development of the social context of the animal art. Høilund Nielsen’s detailed stylistic, chronological and regional analyses of southern and eastern Scandinavian Style II resulted in an interpretation close to that presented by Hedeager, except with it now seen as a style legitimising power in an emerging kingdom in southern Scandinavia; only thereafter did Style II grew into a more general expression in Scandinavia.86 In contrast to Hedeager, Høilund Nielsen concludes that the combination of a Scandinavian origin myth and animal art among Continental Germanic tribes has a more diverse background.87 It seems to be a phenomenon which emerged in certain situations, and thus in several cases of political factions within the individual Germanic peoples after they settled, some of them late and with only an assumed Scandinavian origin of the tribe, while the earlier peoples often included members who are likely to have had ancestors from areas in or close to Scandinavia. This has some support in the results of a recent study by Høilund Nielsen of the great square-headed brooches of Scandinavian origin or Nordic type.88 Høilund Nielsen argues on basis of detailed analyses of the animal style on the brooches that they were to some extent produced in Scandinavia and came to the Continent and Kent as part of smaller or larger groups of migrating people from southern Scandinavia. Furthermore the later and wider imitation and distribution of the brooches on the Continent is seen primarily as a result of marriage policy with its first startingpoint amongst immigrant Scandinavians in Thüringia and in the middle Rhine area. 86
87 88
Høilund Nielsen, Centrum (cf. note 9); Høilund Nielsen, Retainers (cf. note 24); Høilund Nielsen based her research on a computerisation of Salin’s and especially Ørnes’s methods. Høilund Nielsen, Animal Style (cf. note 9). Høilund Nielsen, Wannabees (cf. note 13).
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This is also the period when the Reallexikon der germanischen Altertumskunde was published (1973–2008). One would perhaps expect Germanic animal art and its various aspects to take up a considerable space in this encyclopedia. A search, however, makes it clear that this is not really the case. Except for three entries, “Stil”, “Tiersymbolik” and a slightly summary “Tierornamentik, Germanische”, only a few entries discuss Germanic animal art. There are of course some, mostly philological, contributions on various animals (such as “Adler”, “Hund”, “Pferd”, “Wolf”), but none addressing the animals of Germanic animal art. The entry on “Tierornamentik” may well have had to wait too long (being late in the alphabet) and the intentions for this entry, when it was first referred to, may not have been fulfilled. The headwords “Borrestil”, “Nydamstil”, “Runensteintierstil”, “Sjörupstil”, and “Stil I”, “Stil II” and “Stil III”, coming before the entry on “Tierornamentik”, and “Tierstil”, “Vendelstile”, and “Zahnschnittornamentik” following it, have no texts of their own but are all referred to the entry on “Tierornamentik”. Of these the “Runensteintierstil” is not even mentioned and very little space is given to Scandinavian Styles I and II. The contributions made by Karl Hauck, such as “Bilddenkmäler” and “Dioskuren” could have included the subject, but in “Bilddenkmäler” the pictures in focus are very predominantly those on the gold bracteates and the Gotlandic picture-stones, which actually means everything other than Germanic Animal Style. In “Dioskuren”, however, Style-II horses are discussed. Hauck’s interpretation of the images of the bracteates, including animals, based on the Old Norse mythology is presented in “Brakteatenikonologie”, and is important as so many scholars apply this interpretation to the imagery of the post-Roman period. In “Tiersymbolik”, which was written by myself, the themes discussed include the more moderate interpretations of the animal art as suggested by Günther Haseloff, the more comprehensive interpretations based on the Old Norse literature, placing the animals in a pre-Christian cosmology and the imagery of shamanism as suggested by Lotte Hedeager and very much inspired from Karl Hauck, and a more pragmatic analysis of some of the individual animals. This was done without airing my own individual opinions. For those who want to consult an encyclopaedia for details within the theme of the Germanic or Scandinavian animal art, the second half of Lennart Karlsson’s book, “Nordisk form: om djurornamentik” complements the Reallexikon very well, but of course does not have the comprehensive discussion that characterises many of the Reallexikon’s entries.89 89
Lennart Karlsson, Nordisk form: om djurornamentik (Stockholm 1983).
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Most scholars working on Germanic animal art at the end of the twentieth century focus on social and political besides the religious implications. To some extent they have lost interest in the details of the animal style and instead use Hauck’s iconology and interpretations of the motifs as a basis for insights into mythology, religion, rituals and cosmology. The amalgamation of Germanic animal art with Old Norse mythology seems to be so complete that it has been turned into “common knowledge” and is rarely questioned.90 New directions In the later decades of the twentieth century the focus was on animal art and tribes and kingdom formation. At the beginning of the new decade focus has turned to the more individual/personal level of the animal art. The first landmark publication of the new millennium was a volume of the periodical Hikuin entirely dedicated to North European animal art AD 400–1100.91 The book included a thorough research history of the topic and a series of papers covering various perspectives in animal art from the fifth to the eleventh centuries and from research history and chronology through animal identification to its meaning in society, down to the personal level, whether in Scandinavia or transferred to another cultural context. The scholars working with Germanic animal style are now pursuing a range of different paths. Two directions in particular have opposite ideas about the relationship between style and religion in a long-term perspective. Those associating Old Norse mythology with the animal and anthropomorphic symbols of the Migration Period do so on the premiss that the Old Norse myths have stayed relatively unchanged until they were written down in the twelfth century, some perhaps slightly earlier. These ideas are behind the interpretations presented by scholars like Lotte Hedeager (cf. above),92 Bente Magnus, Siv Kristoffersen and Tania Dickinson with support from the various works of Karl Hauck, who has argued that this is in fact the case. The opposite view is pursued by Carola Hicks in particular, who argues that whereas the animals stay very much the same the religion changes, and in her case of the transition from pagan to Christian religion 90
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For example, Peter Vang Petersen, Odins fugle, valkyrier og bersærker – billeder fra nordisk mytologi fundet med metaldetektor. In: Ragnarok. Odins Verden, ed. by T. Capelle, C. Fischer (Silkeborg 2005), pp. 57–86. Karen Høilund Nielsen, Jens Vellev, Nordeuropæisk dyrestil 400–1100 e.Kr. Hikuin 29 (Højbjerg 2002). Hedeager, Skandinavisk (cf. note 84).
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in the British Isles her arguments are well supported.93 Jane Hawkes has also analysed the animal symbols before and in the period of conversion, concluding that the animals seems able to transform into the new religious context without hindrance, albeit with more success in some cases than in others.94 Hicks sees the roots of the Germanic animal style in the imagery of the Celtic religion. Most recently Johan Adetorp, in his thesis on the C-bracteates, has also argued that it is possible to draw many lines from Celtic religion and imagery, including animal style, to the Migrationperiod imagery of Scandinavia,95 and that this is an approach, in contrast to using the Old Norse literature, which to a greater extent respects the available sources. Historians as well as archaeologists are usually well trained in source criticism. Leopold von Ranke,96 Curt and Lauritz Weibull97 and Kristian Erslev set the agenda among the historians; Erslev’s contribution in a way which also embraced archaeological finds, and the archaeologists followed suite at an early date.98 Consequently one may wonder why it is generally accepted that Migration-period imagery can be explained on the basis of texts which are 600–800 years later and with only a few and disputable “facts” as proof for such an early date. The question has now been addressed and Hauck’s arguments for an early date of the Norse Mythology have been disputed in detail by Adetorp in his thesis.99 Although a number of scholars discussing animal styles interpret these in close association with Old Norse mythology, assuming Hauck is correct in his early date for the latter, the research results would nonetheless stand without it – except that the gods would be nameless and it would be impos93 94
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Carola Hicks, Animals in Early Medieval art (Edinburgh 1993). Jane Hawkes, Symbolic lives: the visual evidence. In: The Anglo-Saxons from the Migration Period to the eighth century. An ethnographic perspective, ed. by J. Hines (Woodbridge 1997), pp. 311–344. Johan Adetorp, De guldglänsande ryttarna: C-brakteaternas ikonografi i ny belysning (Lund 2008). Leopold von Ranke, Zur Kritik neuerer Geschichtsschreiber. Eine Beylage zu desselben romanischen und germanischen Geschichten (Leipzig, Berlin 1824). For example: Curt Weibull, Saxo: kritiska undersökningar i Danmarks historia från Sven Estridsens död till Knut VI (Lund 1915); Lauritz Weibull, Kritiska undersökningar i Nordens historia omkring år 1000 (København 1911); Lauritz Weibull, Historisk-kritisk metod och nordisk medeltidsforskning (Lund 1913). Kristian Erslev, Historisk Teknik: Den historiske Undersøgelse fremstillet i sine Grundlinier (København 1911), especially p. 6–7; Anne Katrine Gjerløff, Syn for sagn. Dansk arkæologi og historie i 1800-tallet. Historisk tidsskrift 1999:2, pp. 406–445. Adetorp, Guldglänsande (cf. note 95), pp. 35–51.
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sible to spice the articles with illustrative quotations from the Old Norse texts. More reliable in respect of source criticism, but perhaps thus less spectacular in modern eyes, is to analyse and interpret the imagery on basis of contemporary or slightly older sources, phenomena which had been in existence when the animal imagery first appeared. Amongst these are the Roman legacy used by Haseloff,100 and the Celtic material, which includes both imagery and textual information. This perspective should be obvious as it has been shown that the Nydam Style, the prelude to Style I, was actually based very much on Late Roman ornamentation and imagery. Even the early date for the Germanic names of the days of the week has now been disputed.101 Kristoffersen102 and Magnus103 both focus on the role of the animal style (Style I) in the particular context in which it is found on the Scandinavian peninsula, south-western Norway in particular. Zoomorphic ornamentation is closely linked to large ornate brooches found in well-furnished female burials. Typical associated grave goods in these burials are sets of keys, spindle-whorls and weaving battens, often of symbolic character. They associate these women with the social elite in the individual valleys and see them also as a sort of seeress. Kristoffersen also makes comparisons with the animal style found in a male context. Far fewer males than females have burials furnished with objects with animal-style ornamentation. The style seems also to be linked especially to swords and thus to express power. Style I among males is therefore related to the political elite. In Anglian England great square-headed brooches with Style I ornamentation are even more common than in Norway while male equipment decorated in Style I is rare,104 but when it does appear it is with very specific motifs. Tania Dickinson105 has identified “Tiermenschen”, birds-of-prey and aquatic animals placed on metal mounts from the shield boards or shield bosses. The 100
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Haseloff, Tierornamentik (cf. note 5), pp. 3, 18–173; Haseloff, Bild und Motiv (cf. note 72), pp. 82, 101. Philip Shaw, The origins of the theophoric week in the Germanic languages. Early Medieval Europe 15 (2007), pp. 386–401. Kristoffersen, Sverd og spenne (cf. note 13); Kristoffersen, Dyreornamentikk (cf. note 13). Bente Magnus, Monsters and birds of prey. Some reflections on form and style of the Migration period. Anglo-Saxon Studies in Archaeology and History 10 (1999), pp. 61–172; Bente Magnus, Kvinnen fra Hol på Inderøya. Spor 2008:2, pp. 4–8. Høilund Nielsen, Elitenidentität (cf. note 14). Tania M. Dickinson, Symbols of Protection: The significance of animal-ornamented shields in Early Anglo-Saxon England. Medieval Archaeology 49 (2005), pp. 109– 163.
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aquatic animals are mostly fish and clearly resemble the pike, a rather monstrous type of fish which seems interchangeable with dragons, which are underworld monsters, embodiments of evil and death. Gods or sorcerers who can defeat them or offer salvation from them are represented through the animal-men, representing the changing of shape as practised by shamans. The eagle is an archetypal animal of the battlefield in Scandinavia symbolising victory, but also the supernatural harbinger of death, cf. the combination with the underworld monsters. Magnus106 has also analysed the motifs on the brooches, especially the eastern Swedish equal-armed brooches. This chaotic image of animals and some humans, of limbs torn apart, of one eating the other etc., is interpreted as representing a myth of destruction, as that presented in the Seeress’s song of Ragnarøk from the Poetic Edda, and contrasting with other brooches which express the prince of the gods triumphant in the shape of a bird, probably an eagle. Although the finds are actually too few, a gender-difference is pointed to too, namely chaos related to Style I in a female context contrasted with order in a male. Most recently, the Hungarian finds of Styles I and II have been discussed by Margit Nagy107 from a traditional point of view while Orsolya Heinrich-Tamaska108 questions whether Avar Style II is part of Salin’s Style II and takes up the debate about the transition from Style I to II especially on the background of the allegedly Langobardic and Mediterranean contribution to this development.
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Bente Magnus, Praktspennen fra Gillberga. Från bergslag och bondebygd 46 (1995), pp. 29–41; Bente Magnus, Monsters (note 103); Bente Magnus, Das große Tier im Moor. In: Völker an Nord- und Ostsee und die Franken. Akten des 48. Sachsensymposiums in Mannheim vom 7. bis 11. September 1997, hrsg. von U. von Freeden, U. Koch, A. Wieczorek (Bonn 1999), pp. 75–82; Bente Magnus, The enigmatic brooches. In: Roman Gold and the Development of the Early Germanic Kingdoms. Aspects of technical, socio-political, socio-economic, artistic and intellectual development, A.D. 1–550. Symposium in Stockholm 14–16 November 1997, ed. by B. Magnus (Stockholm 2001), pp. 279–95. Margit Nagy, Álatábrázolások ás az I. Germán Álatstílus a Közép-Duna-Vidéken (Kr. u. 3–6. század), Tierdarstellungen und der germanische Tierstil I im Gebiet der mittleren Donau (3.-6. Jahrhundert n. Chr.) (Budapest 2007). Orsolya Heinrich-Tamaska, Deutung und Bedeutung von Salins Tierstil II zwischen Langobardia und Avaria. In: Die Langobarden. Herschaft und Identität, hrsg. von W. Pohl, P. Erhard (Wien 2005), pp. 281–300; Orsolya Heinrich-Tamaska, Tierund Zahnschnittornamentik im awarenzeitlichen Karpatenbecken. Bericht der Römisch-Germanischen Kommission 87 (2006), pp. 505–628.
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Identifying animals in Style II Animal symbolism is a phenomenon that is known from many cultures. For Germanic animal art the subject is especially relevant. There is, however, a reluctance to try to identify species when it comes to the so-called quadrupeds with no obvious attributes. One reason for the common reluctance to identify animal species may be seen in the way the animals are represented. They are never drawn naturalistically. They follow a very strict template or scheme which makes them fairly easy to identify as animals but is often hard to decode. This strict template also implies that the artisans must have learned their skills within a relatively narrow circle, and that the template can be seen to change when the style is transferred to other geographical areas: for instance to the Continent, where the range of variation is much narrower than in Scandinavia.
Functional details Stylistic details, like those presented by Salin, are usually used for chronological analysis. If, however, we move to a more abstract level and just distinguish between for example fringed feet, frame-shaped feet and talon-like feet, we may get “functional” elements, and through an analysis of how they combine get closer to an identification of the animals. Such an attempt has already been made,109 on the Scandinavian finds alone, using Correspondence Analysis. The conclusion was that it was possible to distinguish between three main types of animal or beast (Fig. 3). The earliest of these, associated principally with what is known as Style B, is generally characterized by a body of equal width, a back-turned head with a forward-extended crest, and the jaws, which are extended, biting around the whole body (Fig. 4a). The hind- and fore-limbs are often relatively uniform. In a number of cases the jaws are furnished with fangs. Over time, the body of the animal changes to consist of two, sometimes diverging, ribbons, but this is a trait which is hardly ever seen outside Scandinavia (Fig. 4b). Later, in what is known as Style C, another type of animal appears, which is most often characterized by a relatively long head without a crest, and with the mouth closed (Fig. 4c–d). The legs are usually different, while the neck is long and the back about equal with the hind limb. The primary impression is of a triangular animal. The head can be turned forwards, but if it is turned backwards it normally “bites” only over the ribbon which forms the back. Finally, in Style D, and particularly in the Gotlandic versions of this style, we 109
Høilund Nielsen, Ulv (cf. note 6).
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Fig. 3: Plot of a correspondence analysis of “functional” elements of Scandinavian animals of Style II. Only the variables are shown. Adapted from Høilund Nielsen, Ulv (cf. note 6).
have an extended animal with a long body, long neck and small head, with a crest extended backwards (Fig. 4e–g). The feet are often claw-like. In contrast to the former two types of creature this immediately looks aggressive. From here the development goes finally in the direction of small, rounded heads with no crest and a number of wing-like extremities (the Broa Style). The first type of animal with its compact but lithe body, almost identical but relatively short legs, paws with the claws indicated, the occasional fangs in the open jaws and the forward-extended crest, constitutes a creature which could only be a wolf (or hound). In the second Scandinavian animal group, the S-shaped body with the backwards-looking face of this wolf is replaced by a forward-looking animal with an almost triangular body and a characteristic angle between neck and back. The open jaws are replaced by a closed muzzle. The fore- and hind-limbs are different. The upper hind-leg is often enlarged and pronounced whereas the foreleg just grows out of the body. The feet – or hooves – are box-shaped. This is a very different animal from the earlier ones interpreted as wolves. With its triangular shape, muzzle and hooves it clearly represents a horse.
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Fig. 4: Scandinavian animals. a–b: “wolves”; c–d: “horses”; e–g: “dragons”. Adapted from Høilund Nielsen, Ulv (cf. note 6).
A return to the ribbon-shaped animals is seen with the third group, the ribbons now sometimes of a varying width. Some animals are shaped as a figure-of-eight with head and hind meeting at the top of the figure. Others are forward-looking with the neck and the body meeting in a relatively narrow angle, and with the head and neck slightly recessed, as on a swan. The animals have open jaws or beaks, or pincer-shaped jaws in which a snake or tongue sometimes appears. The crest points backwards if there is one. The feet are claw or talon-like. The jaws as well as the claws usually have an aggressive touch making the entire animal look aggressive, and its elongated and narrow body enhances this impression. There is no longer any resemblance to animals or other creatures from the local environment. A series of differences between Scandinavian, Continental and AngloSaxon Style II were also identified. Whereas the animals in Scandinavia almost always have two pair of legs and feet, a body and a head, this is often not the case on the Continent or in Anglo-Saxon England (Figs. 5–6). One
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Fig. 5: Continental animals. a–b: “wolves”; c: interlace animal based on the “wolf”; d–e: “dragon”-like animals of the eighth-century style known from the Tassilo chalice. Adapted from Høilund Nielsen, Ulv (cf. note 6).
set of legs is often missing, usually the front legs, or the animal may even lack all limbs entirely. The heads from the Continental and Anglo-Saxon animals are of only a few types and frequently of different sub-types than those found in Scandinavia. Likewise the jaws are set in a way different to those common in Scandinavia as they often cross each other and almost form a knot. If the missing details of the Continental animals do not represent a deficient understanding of animal style in these areas, it probably means that the perception of the individual animals was different to that in Scandinavia. For comparison, the same analysis of the animal details as above but with a large sample of Anglo-Saxon and Continental finds added was reundertaken, and the result is significant. The series of Scandinavian animal species can still be identified – wolf, horse, and dragon. Along the curveshaped spread of the Scandinavian finds in the plot of the analysis (Fig. 7),
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Fig. 6: Anglo-Saxon animals. a: “wolf”; b-d: interlace animals based on the “wolf”; e: “dragon”-like animal. Adapted from Høilund Nielsen, Ulv (cf. note 6).
the Anglo-Saxon ones spread to some extent along and below the same curve, although only very few finds enter the areas of the horses and dragons (Fig. 8). Instead one group is almost separated out from the “wolves”, being distinguished by lacking or having only one set of legs, often part of an interlace pattern. The Continental finds spread even less into the horse and dragon groups, but enhance the group with only one set of legs if any. It seems probable, therefore, that the wolf motif was shared between Scandinavia, Anglo-Saxon England and the Continent, but that the development from this differed in the three regions. As has been shown, the development from the wolf went over to the horse and to the dragon in Scandinavia, whereas on the Continent a creature based on some of the elements of the wolf developed and was often turned into an interlace pattern. The same was to some extent the case in England, although Kent followed the Continent closely while Anglian England shares some details of the horses and dragons identi-
Fig. 7: Plot of the variables from a correspondence analysis of “functional” elements from Scandinavian, Continental and Anglo-Saxon objects with Style-II animals comprising head, body and as far as possible also limbs. Animal “D1” is a late ribbon-shaped animal, no longer a wolf but not really a dragon yet. The late Tassilo-style animals of Fig. 5d–e are not included as they are much later than the other finds analysed.
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Fig. 8: Plot of the units from the correspondence analysis in Fig. 7.
fied in Scandinavia.110 This means that it is very likely the wolf which was represented by the earliest Style II in all the areas where this style has been found. Equally it is also evident that after the first, common wolf-phase, the regions divided and went their separate ways pursued in how they employed animals in their imagery. For Scandinavia it is also clear that, while quadrupeds were employed during the entire Early Medieval Period, their shapes and details and thus probably also their meanings were changing considerably during this period. Living animals Instead of trying to identify the meaning of these animals on an abstract level it would perhaps be useful to analyse the relationship between living animals and the way the same animals were portrayed in Style II. The animals which are here interpreted as wolves are always depicted as rather peaceful even though they are predators and scavengers in reality. It seems that aggression was not the crucial feature for the purpose of these images, or that it was under control. Other general characteristics attributed to wolves are that they are close to Man in social instincts and they are eager 110
Cf. also Høilund Nielsen, Anglo-Saxon (cf. note 9).
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and faithful – and capable of stealth.111 The way the body is presented in an S-shape and with a back-turned head, the front legs under its neck and head and the hind legs bent and drawn up to the abdomen, is not the picture of a running, walking or attacking wolf, but of a wolf in rest or sleeping – although the wolf is awake as its eyes are open and the ears pricked. It seems to be a resting, but very alert animal. It may of course be a product of artistic licence to let the animals perform an artificial ballet, or to shape the animal contrary to nature along a running wave, which has been suggested by Åberg,112 and which also seems convincing for some of the early Style II. For the horses it is especially useful to compare some of the horse brooches, where the animals are often shown with all legs visible. The wellknown horse brooch from Veggerslev (Fig. 9) is clearly trotting. This is actually the case with quite a number of pictures of horses, ranging from some of those found on the gold bracteates to the Gotlandic picture stones. Others are walking and some may perhaps show the flying pas. A closer analysis may show that other paces used by horses are also represented. The artists knew and were apparently conscious of the various paces of the horse. Horses with their legs and body in the right positions for various jumps are also found in Style II: the upper hind leg, which is important when jumping, is clearly emphasised (Figs. 10–11). Fighting horses occur in Style II as well (Fig. 12): the ornamentation of a mount from Floda, Sweden, is a good example. Horse-fighting was popular in Scandinavia. It is mentioned in the earliest sources and was apparently an old tradition.113 Horse-fighting can still be witnessed in China and the Pacific,114 and of course in the wild, thus making it possible to study the position and movements of the bodies of the horses. Altogether, the craftsmen creating the animals of Style II were very familiar with of the animals they depicted, their behaviour and movements as well as their special characteristics. The same is the case with the birds used as brooches and mounts, where a few traits of the body, tail or head make it clear whether the bird is an eagle, a raven or an owl (Fig. 13). Thus in the first two phases of Style II the depicted beasts are more than just ani111
112 113
114
Michael Speidel, Ancient Germanic warriors: warrior styles from Trajan’s column to Icelandic sagas (New York, London 2004), pp. 15, 20. Åberg, Kompositionsformer (cf. note 32). Gutorm Gjessing, Hesten i førhistorisk kunst og kultus. Viking 7 (1943), pp. 5– 143, here p. 98; Svale Solheim, Hestekamp. In: Kulturhistorisk Leksikon for nordisk middelalder fra vikingetid til reformationstid VI (København 1961), pp. 538– 540; Heinrich Beck, Pferdekämpfe. In: RGA 23 (2003), pp. 96–98. A Google search reveals a series of cases (with pictures) of, often illegal, horsefighting in China and in the Pacific.
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Fig. 9: The horse brooch from Veggerslev, Jutland. The brooch is 7 cm wide. After Gjessing, Hesten (cf. note 113).
mals. It was important which animal or bird they are. The degree to which the animals depicted represent animals of the local environment or more supernatural creatures or both ought to be the subject of a more comprehensive analysis – the sources are far from fully explored.
Wolf-warriors As the Style-II wolf is a feature found in Scandinavia, on the Continent and in Anglo-Saxon England alike, the meaning of this motif may also be the same in all three areas.115 The earliest Style II art is predominantly applied to weapons and horse-harness (Fig. 14) which has been interred in wellfurnished male burials. Contemporary with the early Style II and these burials are a small number of finds where motifs on pressed foil or dies for such give some insight into the meaning of the wolf in the Germanic societies. The Torslunda (Öland) die116 (Fig. 15a) shows one warrior with two spears in his hand and a (ring?-)sword at his side, plus a helmet with horns that terminate in birds’ 115
116
Karen Høilund Nielsen, The wolf-warrior. Animal symbolism on weaponry of the 6th and 7th centuries. In: Archäologisches Zellwerk. Beiträge zur Kulturgeschichte in Europa und Asien. Festschrift für Helmut Roth zum 60. Geburtstag (Rahden/ Westf. 2001), pp. 471–481. Kurt Böhner, Die frühmittelalterlichen Silberphaleren aus Eschwege (Hessen) und die nordischen Pressblech-Bilder. Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 38 (1991 [1995]), pp. 681–743, here p. 718, Taf. 63:1D.
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Fig. 10: Horse which is jumping, or almost floating, in the air. From a seax sheath found in Valsgärde grave 5. Adapted from Olsén, Die Saxe (cf. note 7).
Fig. 11: Horse which is jumping. From a horse-harness mount found in Valsgärde grave 5. Adapted from Olsén, Die Saxe (cf. note 7).
heads, together with another warrior clad in a wolf-skin and carrying both a spear and sword, being on the point of drawing the latter. The pressed foil from Gutenstein (Kr. Sigmaringen)117 (Fig. 15b) had been attached to a sword scabbard, where it was combined with scattered Style-II animals. The motif involves a warrior in a wolf-skin, who has a sword at his side, a spear in one hand, and a ring-sword in the other. The pressed foil from Obrigheim (Kr. Bad Dürkheim)118 (Fig. 15c) shows a warrior in a wolf-skin with a spear in one hand and a ring-sword in the other. By his side stands a warrior with a spear in either hand, wearing a horned helmet. Behind him one can make out yet another warrior, apparently with two spears and a shield. Despite the number of common features, including warriors in wolf-skins, it is not certain that this is the same scene in all three cases.119 117 118 119
Böhner, Eschwege (cf. note 116), p. 718, Taf. 67. Böhner, Eschwege (cf. note 116), pp. 717–718, Abb. 29. Böhner, Eschwege (cf. note 116), pp. 717–718.
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Fig. 12: Mount from Floda, Sweden. The design comprises two fighting horses surrounded by four smaller horses. The mount is 6.5 cm wide. Adapted from Salin, Thierornamentik (cf. note 3).
The pressed foils from Obrigheim and Gutenstein are regarded as portrayals of surviving heroic legends from Alamannia,120 but they have also been interpreted as showing a surrendering of the weapons of the deceased to the god of death and war, Odin.121 None of these images is, however, fully preserved. Hauck’s reconstruction of Gutenstein goes quite a way beyond 120
121
Peter Paulsen, Alamannische Adelsgräber von Niederstotzingen (Kreis Heidenheim) (Stuttgart 1967), p. 97. Böhner, Eschwege (cf. note 116), p. 718; Paulsen, Niederstotzingen (cf. note 120), p. 142; both following Karl Hauck, Alemannische Denkmäler der vorchristlichen Adelskultur. Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 16 (1957), pp. 1–40.
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Fig. 13: Owl brooch with late Style II ornamentation. The brooch is 3 cm wide. Photo: © Kulturhistorisk Museum Randers.
Fig. 14: Mount from horse-harness with early Style-II ornamentation, interpreted as a wolf. Note the human heads in the animal’s thighs. The mount is 6 cm wide. Adapted from Müller, Dyreornamentikken (cf. note 29).
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Fig. 15: A die and two foil figures with wolf warriors. a. Torslunda, Öland; b. Gutenstein, Kr. Sigmaringen; c. Obrigheim, Kr. Bad Dürkheim. Adapted from Holger Arbman, Båtgravarna i Vendel. In: Vendeltid. Historia i Fickformat (Stockholm 1980); Paulsen, Niederstotzingen (cf. note 120); Böhner, Eschwege (cf. note 116).
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what is actually present. Here, as in the scene on the die from Torslunda, we are faced with a scene or vignette; it is, however, open to question whether the event is really as obvious as Hauck would have us believe. How is the person in the middle to receive something when he already has a spear in either hand? On the Torslunda plate we have a complete scene, but here there is no question of any handing over of a sword; rather that the wolf-warrior is drawing his sword, possibly for some quite different purpose. Hauck’s interpretation is thus far from persuasive. On the other hand, we are very clearly dealing with a warrior who, together with one or more other warriors, is involved in some active event. Most important in this connexion is the identification of the wolf-warrior and his historical location in the 6th–7th centuries, which in the case of Gutenstein is in association with regular Style II. The wolf-warriors seem not to appear in groups, even though they appear to fight alongside other, helmeted warriors. The figured foils emphasize the special position of the wolf-skins: warriors of high rank with special duties, and closely associated with the character of the wolf. In Scandinavian Style II there are a number of cases where wolves (and horses) have human faces in their legs. These too may represent the wolf-warrior. On the Continent no surviving literature reveals the background to the wolf-skins,122 but the personal-name evidence shows, for the West Germanic area, a wide distribution of wolf with some word for “mask” (e.g. skin, jacket, clothing), while bear, for instance, boar and hound are not known in such combinations.123 In Scandinavia the male name Ulf is also widely found. The wolf-warriors are mentioned in Old Norse sources, but actually they are of much older age. Wolf-warriors were known among the Greeks, mentioned by Homer, and also among the Romans, especially amongst their Germanic troops.124 On Trajan’s Column, a great range of more types of warrior with wolf or bear pelts are depicted. One group is identified as being of Germanic origin,125 whereas others are Roman standard-bearers. They were already in early sources known as warriors with special skills. The wolf-warriors are thus part of a very old tradition amongst warriors on the Continent. It is less easy to establish the age of this tradition in Scandinavia, but the phenomenon seems to be very common amongst the Indo-
122
123 124 125
Gunter Müller, Zum Namen Wolfhetan und seinen Verwandten. Frühmittelalterliche Studien 1 (1967), pp. 200–212, here pp. 211–212. Müller, Wolfhetan (cf. note 122), pp. 209, 212. Speidel, Germanic warriors (cf. note 111), pp. 13–17. Speidel, Germanic warriors (cf. note 111), pp. 17–20, 41–42.
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Europeans,126 and thus was probably in existence in Scandinavia long before Style II and its wolves. Another question is whether one can reverse the equation, and identify the wolf-marked weaponry and horse-harness as equipment linked to royal elite warriors such as the wolf-skins. In southern Scandinavia, early Style II has already been interpreted as belonging to the local leader’s retinue.127 This retinue may originally have been a troop of wolf-skins, but that has to remain a hypothesis for the time being, while the paucity of finds unfortunately precludes any analysis of regional differences. In any event, both the animal style and the wolf-skins, in connexion with the name evidence and the later Old Norse sources, show that the wolf symbol was of special significance amongst Germanic warriors of high status and/or central position in the early years of the Germanic kingdoms.
Horses The horses of Style II are almost exclusively found in Scandinavia and are predominantly related to richly decorated weapons and horse-harness and thus belong to a quite exclusive sphere. Some of the pressed foils from the helmets found at Vendel and Valsgärde also carry horses. These, however, are mounted by armed warriors, as mentioned earlier, and their interpretation has been much debated. Examples of comparable motifs have been found in England and on the Continent. The two main interpretations focus on Odin and on the “Reiterheiliger”. The motif as such is, however, found much earlier and, as with the wolf-warriors, belongs to a very long tradition.128 Interestingly, except for Sleipnir, horses are only very rarely mentioned in the Old Norse literature. A long list of names of the horses that belonged to the Æsir has survived,129 but there is little if any information on their roles, indicating that Old Norse mythology is incomplete as a source for earlier periods in this respect. In his analysis of horses in art and ritual, Gutorm Gjessing concluded that the horse as a symbol in early Medieval art has very ancient sources, and was probably linked to rituals of fertility.130 126 127 128
129 130
Speidel, Germanic warriors (cf. note 111), pp. 15–16. Høilund Nielsen, Retainers (cf. note 24). Adetorp, Guldglänsande (cf. note 95), pp. 115–117, 128; Miranda Green, Animals in Celtic life and myth (London, New York 1992), pp. 207–210 ; see also Speidel, Germanic warriors (cf. note 111), pp. 135–141. The Poetic Edda: Grímnismál 30. Gjessing, Hesten (cf. note 113), pp. 104–105.
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Another case which Old Norse literature seems inadequate to explain is the motif of an openwork brooch from Vester Egesborg131 (Fig. 16). This is a very unusual piece of art from the first half of the seventh century. Its design comprises two large and two small animals with a human being between them. The human being is a bearded man with head and legs in profile and body en face (Fig. 17a). The arms are pointing sideways with the palms upwards. The position of the legs suggests that he is walking or running, and he is wearing a tunic with horizontal stripes on the chest and above the hem. On each side of him there is both a large and a small animal. The forelegs of the large animals are interwoven with the man’s body (Fig. 17b). The heads of the large animals have very large ears and the muzzle is pointed, almost beak-like. Their heads are close to the head of the man, but not in an aggressive manner. The hind-legs of the large animals are bent backwards almost as if they were kneeling but more likely to represent jumping. The large, almost triangular and rather heavy body, and the hooves of the hind-legs, the large ears and the muzzle, suggest that the large animals are horses. The small animals are less typical, but they also have hooves and muzzle, although no ears and their bodies are more slender (Fig. 17c). They could be foals, but the attributes are inconclusive. There is nothing to indicate the sex of any of the animals. Mane and tail are not indicated. The muzzle, body and legs of the small animals are interwoven with the body and hind-leg of the large horses, again probably not in an aggressive manner. There is no real contact between the small animals and the man. In a way, this is a special version of the man-between-beasts motif so well known from Sutton Hoo,132 Eschwege133 and Torslunda;134 in this case, however, it is man-between-horses. In the combination of details it is unparalleled. It has been published as a representation of Daniel in the Lions Den,135 but it has little in common with the Continental representa131
132 133 134 135
Birgitta Gärtner, Jens Ulriksen, Mytens ornament. Skalk 2000:5, pp. 5–9; Birgitta Gärtner, Jens Ulriksen, Vester Egesborg-pladsen: en anløbsplads fra vikingetid ved Dybsø Fjord. Liv og levn 11 (1997), pp. 17–23. Recently a mount with a closely related motif from Hamar, Norway, was published, see Arne Emil Christensen, Hester han temmet: Et merovingertidsbeslag fra Hamar. In: Historien i forhistorien. Festskrift til Einar Østmo på 60-års dagen, ed. by H. Gløstad, B. Skar, D. Skre (Oslo 2006), pp. 203–206. Böhner, Eschwege (cf. note 116), Taf. 63.2. Böhner, Eschwege (cf. note 116), Taf. 55.2–3. Böhner, Eschwege (cf. note 116), Taf. 63.1.A. Gärtner, Ulriksen, Mytens ornament (cf. note 131).
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Fig. 16: The brooch from Vester Egesborg, Sjælland. The brooch is 5.5 cm wide. Photo: © Næstved Museum.
tions of this motif where a text identifies the figure as Daniel (Danielschnallen: RGA). On these, the lions have their heads low and the man his hands upwards and Daniel is always accompanied by just two lions – not that the Bible specifies any number of lions. Thus it seems unlikely that the motif on the Vester Egesborg brooch is Daniel in the Lions Den. On the other hand, it seems to have no parallels either in Norse literature or in Celtic. In contrast to Torslunda and Eschwege there is no aggressive posture in the design. It looks more like a friendly wrestling group involving a number of animals and a man. However, a very interesting aspect of the brooch from Vester Egesborg is the number of layers and unusual elements that are present in the scene. The horses are standing almost upright, and especially when jumping the legs are drawn up under their bodies. They are to some extent shown as horses taking part in horse-fighting. There is some resemblance to the mount with fighting horses from Floda136 (Fig. 12), except that the latter has no man between the horses. There is also another significant difference. The large horses shown on the brooch from Vester Egesborg have human hands instead of hooves on their forelegs and they probably even have human feet instead of hooves on their hind-legs. This means that instead of a man-between-horses motif we may actually have an example of “hoodening”: dressing in a horse costume. As none of the participants carry weapons it is unlikely that the motif is comparable to the wolf-warrior who is an armed man in a wolf-skin: rather it is a sort of Mummers’ play, perhaps taking place at Yule-tide or the winter-solstice, as alluded to by a couple of contemporary sources in which the church prohibits such masquerades which maintained a long tradition in Celtic areas.137
136 137
Salin, Thierornamenik (cf. note 3), p. 256 Fig. 567. Sara M. Pons-Sanz, Anglo-Scandinavian trade or paganism? OE hæðen in the first
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Fig. 17: a–c The design of the brooch from Vester Egesborg. The man, the large horses and the small horses are highlighted in separate drawings. Adapted from Gärtner/Ulriksen, Vester Egesborg (cf. note 131).
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Conclusion During more than hundred years of intensive scholarly debate on Germanic animal art, questions of chronology, origin and its social context have been touched upon. As early as 1911, the art historian August Schmarsow138 asked for a discussion of the deeper ideas, especially involving religion and mythology, behind this art. Except for the often repeated discussion of the horse-and-rider motif and its interpretation either as a “Reiterheiliger” or as Odin, Schmarsow’s wishes were not really fulfilled until the last decades of the twentieth century. And then it became almost rampant in the conjunction of Hauck’s German tradition iconologic analysis with Hedeager’s postprocessual archaeology. Other perspectives with a starting-point especially in old Celtic religious tradition have recently been proposed, and a fresh debate on how far we can take interpretations, and to what extent we can reasonably tolerate the chronological disjunction, now seems appropriate. One thing is clear, however. Germanic, or rather Scandinavian, animal art from Style I to the Urnes Style is of course a zoomorphic style all the way through but it does not remain the same to such an extent as supports the idea that the myths behind it also remained the same. Style I clearly derives from Late Roman provincial art with all its almost fantastic beasts, which to some extent develop into more recognisable animals. Early Style II, on the other hand, displays stylised natural animals which could be found in the local environment. The animals of late Style II and Style III, however, leave the natural world behind, and appear as aggressive, dragon-like creatures, which can also be found in the contemporary decorated Gospels, such as Book of Lindisfarne.139 In the Viking Age even more influence on the animals from Christian imagery is seen,140 but parallel to this, and not earlier, we eventually have images which clearly have their background in the Old Norse myths of the written sources. My conclusion is therefore that neither the animal art, nor the related myths, stayed the same during the period under consideration. Furthermore many of the animals and designs are also known from Celtic and Christian contexts. An aim for the future would be to study developments within the symbolic language, the imagery in general, of northern Europe, in order to un-
138
139 140
Cleopatra Glossary. Modern Language Review 101 (2006), pp. 625–637, here pp. 632–635. August Schmarsow, Entwicklungsphasen der germanischen Tierornamentik von der Völkerwanderung bis Wikingerzeit (IV.–IX. Jahrhundert). Jahrbuch der königlich-preußischen Kunstsammlungen 1911, pp. 143–179. Høilund Nielsen, Ulv (cf. note 6). Iben Skibsted Klæsøe, Løver, fugle og slanger. Hikuin 29 (2002), pp. 243–266.
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cover how and when the Old Norse myths and the imagery which indisputably expresses those myths developed out of Celto-Germanic religion and its imagery. As already noted, the Germanic(‑like) animal style found in Hungary has recently come back into focus. This area is especially interesting as it includes both several versions of animal style and migrating tribes of Germanic origin as well as the Avars, and it has been central to some of the debate of the transition from Style I to II. It is to be hoped that Heinrich-Tamaska’s paper141 discussing this state of the art will stimulate a discussion of these questions. There are, though, some facts which ought to be considered in this discussion as well. The level of publication of objects with animal art is extremely uneven, and nowadays, when scholars do not have the option of visiting every museum in Europe and recording their collections, no one really has an overview anymore. Furthermore, Styles I and II have to a very large extent been treated as styles that were relatively uniform, thus disregarding regional variation. On the other hand, to identify real regional variation within the style it is again necessary to have a comprehensive overview of the entire style. Furthermore, the role of animal style in different areas is rarely examined comparatively – except in Scandinavia, most areas employ several different styles or traditions of ornamentation, and it matters whether the animal style is the dominant style or present just as scattered examples of something foreign. In the debate over the origins of Style II, the Mediterranean interlace patterns have played a central role, as they were seen as a precondition for developing Style II.142 This seems quite obvious when discussing Style II as it appears in the Alamannic and Langobardic areas, but not so much when discussing Scandinavian Style II. On the other hand animal style and interlace were already combined in Scandinavia before the emergence of Style II. A large number of spears have been found in the Danish war-booty deposits such as Nydam and Kragehul. These spears have interlaced decoration on their shafts, which in many cases is animal interlace with animal heads of the Nydam Style or Style I. They are dated from c. AD 425 and onwards (Fig. 18). The provenance of the attacking armies is not yet established, but it was definitely somewhere in Scandinavia.143 141 142 143
Heinrich-Tamaska, Deutung (cf. note 108). Nils Åberg, Spjutskaften från Kragehul Mosse. Fornvännen 1945, pp. 251–259. Rasmus Birch Iversen, Kragehul – et krigsbytteofferfund på Sydvestfyn. Kronologiske og typologiske bidrag til forståelsen af krig og samfund i yngre romersk jernalder og folkevandringstid i Skandinavien. Unpublished Ph.D.-thesis, Aarhus University 2008; Peter Vang Petersen, Nydam III – et våbenofferfund fra ældre
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Fig. 18: Wooden spear shafts with animal interlace found in the war-booty deposits at Nydam (III), Jutland, and Kragehul (Fyn). The animals are highlighted. After Vang Petersen, Nydam III (cf. note 143).
There are still many open questions – chronological, regional and interpretational – to deal with for those scholars who have dedicated their work to Salin’s Styles I and II. But in contrast to the situation for earlier generations, a much larger and well-recorded body of material is at hand for our explanations. The many finds from burials, hoards, settlements of different kinds, workshops etc. make it possible not just to analyse the decoration itself and to understand it on its own terms but also to analyse the production of the objects and their role in their social contexts, with all the material and spiritual implications that has.
germansk jernalder. Aarbøger for Nordisk Oldkyndighed og Historie 1987 [1988], pp. 106–137.
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 633–687 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik Alexandra Pesch „Mithin müßen diese Bilder allgemein und schon für sich verständlich gewesen seyn“. (Wilhelm Grimm, 18211)
Vielfach verwickelte Tierfiguren und Muster, darin versteckte Menschen und insgesamt unnatürlich, verworren wirkende Bilddarstellungen: Die germanische Tierornamentik hat im Laufe der Geschichte nicht nur Liebhaber gefunden. Gerade in der Frühzeit der Forschung fand sie zumeist ungnädige Richter. Manches Erzeugnis wurde als „Bauernarbeit“, als „tieferstehende Kunst“2 oder als „eine von guten Mustern abgeirrte, gesunkene aber doch kecke Manier“3 geschmäht. Sogar Bernhard Salin, der als Vater der eigentlichen Tierstilforschung gilt, sprach von einem „unentwickelten Stadium“4 des Stils im Rahmen der spätantiken Bildkunst und bezeichnete ihn sogar insgesamt als „degenerirt“ (Abb. 1).5 Versöhnlicher klingt seine Aussage „… müssen wir die Art und Weise bewundern, wie die Thierbilder den Anforderungen der Zierformen angepasst sind“.6 Auch Bemerkungen wie „zwar barbarisch, jedoch von einer
1
2 3 4
5 6
Grimm über die Tierstilbilder auf Goldbrakteaten, nach Morten Axboe, Klaus Düwel, Wilhelm Heizmann, Sean Nowak, Alexandra Pesch, Aus der Frühzeit der Brakteatenforschung. Frühmittelalterliche Studien 40, 2006, S. 383–462, hier S. 412, S. 424. Sophus Müller, Nordische Altertumskunde 2: Eisenzeit (Strassburg 1898), S. 201. Grimm 1821, nach Axboe u.a., Frühzeit (wie Anm. 1), S. 418. Bernhard Salin, Die altgermanischen Thierornamentik (Stockholm 1904, ²1935, ³1981), S. 205. – Die Begriffe „Tierstil“ und „Tierornamentik“ stehen nebeneinander. Salin, Thieronamentik (wie Anm. 4), S. 211–214. Salin, Thieronamentik (wie Anm. 4), S. 267.
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Abb. 1: Beschlag mit Ornamentik im Tierstil II, nach Salin, Thierornamentik (vgl. Anm. 4) S. 149.
ganz eigenen Schönheit“7 geben dieses verbreitete, zwiespältige Verhältnis vieler Forscher zur Tierornamentik wieder. Oft scheint dabei eine gewisse herablassende Distanz zum Objekt des Interesses durch. Jedoch wurden auf der anderen Seite auch immer die Eigenständigkeit, Innovations- und Imaginationskraft der germanischen Kunst betont. Diese Eigenschaften rückten besonders seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts mehr und mehr in einen würdigenden Blickpunkt der Forschung. Geht es um die Frage der Semantik des Tierstils, dann zeigt sich erst recht, wie breit die Ansichten, Lesungen und Deutungen im Laufe der Zeit gefächert waren und noch heute sind. Die germanische Bildkunst erklärt sich nicht von selbst. Aber es sind ja gerade die Rätsel, welche Menschen anziehen und in ihren Bann schlagen. Das Aufspüren und die Entschlüsselung von Geheimnissen sind Triebfedern der Wissenschaft. Je länger ein Thema rätselhaft bleibt, desto mehr Forschungen zieht es an sich. Sind erst einmal genügend, gerne auch kontroverse Thesen vorgebracht und Rätsel gelöst worden, dann entstehen naturgemäß auch wieder neue Fragen, und so lebt das Thema gut gespeist immer weiter fort. Irgendwann ist die relevante Literatur zu einem gewaltigen Berg angewachsen, der von Einzelnen kaum oder gar nicht mehr zu überblicken ist. Dann kann sich die bisherige Anziehung in Abschreckung umwandeln, und viele seriöse Forscher lassen lieber ganz die Finger davon. So aber steht es heute um die germanische Tierornamentik. Es lassen sich gewisse Tendenzen erkennen, die vorhandene Literatur mehr oder weniger vollständig zu ignorieren, stattdessen die Bilder in neo-impressionistischer Weise auf sich wirken zu lassen und bei Lesung 7
Haakon Shetelig, Hjalmar Falk, Scandinavian Archaeology (Oxford 1937), S. 233.
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und Deutung assoziativ wieder „bei Null“ anzufangen.8 Alles in allem für die Wissenschaft eine doppelte Katastrophe. In der Tat faszinierte alles, was mit dieser in Motivik, Stil, Verbreitung und Bedeutung durchaus als rätselhaft zu bezeichnenden Äußerung germanischer Vorstellungen und Identität zu tun hat, über Jahrhunderte die Forschung und führte zu einem imposanten Berg einschlägiger Monographien, Artikel, Theorien und Ideen.9 Drei Hauptfragestellungen sind erkennbar: Die erste zielt auf die Typologisierung (auch Herkunft, Verbreitung und Genese) einzelner Bildchiffren, die zweite auf die Datierung der Objekte und Stilphasen und die dritte auf ihre semantische Bedeutung, die Ikonographie.10 So ist es nur natürlich, dass auch das Reallexikon der Germanischen Altertumskunde von A wie „Adlersymbolik“ bis Z wie „Ziertechniken“ mit unzähligen Beiträgen zum Thema gefüllt ist. Neben den einschlägigen Lemmata versteckt sich vieles auch unter Einträgen, die im ersten Anschein gar
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Der frühen Bildforschung des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die allerdings auch noch wenig andere Möglichkeiten hatte, wird eine „impressionistische“, unsystematische und beliebige Art der Bilddeutung nachgesagt. Vgl. Karl Hauck, Bilddenkmäler § 8, B. zur Religion. In: RGA 2 (1976), S. 578: „So unstreitige Verdienste die ältere impressionistische Bildauswertung hat…“. Siehe auch Mats Malmer, Metodproblem inom järnålderens konsthistoria. Acta Archaeologica Lundensia, Series in 8°, No. 3 (Lund 1963), S. 22 f., S. 80–105, S. 115. Dazu der Disput von Egil Bakka, Methodological Problems in the Study of Gold Bracteates. Norwegian Archaeological Revue 1, 1968, S. 5–35, Reply, S. 45–56, hier S. 10, S. 19, und Mats Malmer, Comments. Problems of storage and communication of information in the Study of Gold Bracteates. Norwegian Archaeological Revue 1, 1968, S. 37–44. Mit dem Fortschreiten der Wissenschaft und der Verfeinerung der chronologischen, typologischen und ikonologischen Methoden ist jedoch der „Impressionismus des noch immer weiter wuchernden Bilder-Ratens“ (Hauck, in einem ungedruckten Entwurf von 1995 für einen Beitrag im RGA) als Weg des Erkenntnisgewinns abzulehnen. Überblicke bieten die Beiträge von Helmut Roth und Torsten Capelle, Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde, C. Kunst“, in: RGA 11 (1998), S. 356–374, und, sieben Jahre später von Hermann Ament und David M. Wilson, Artikel „Tierornamentik“ in: RGA 30 (2005), S. 586–605. Vgl. auch den großen Beitrag „Bilddenkmäler“. In: RGA 2 (1976), S. 540–598. Der Begriff wird in der Archäologie im Allgemeinen verwendet wie „Bilddeutung bzw. -interpretation“. Zur ursprünglich definierten Bedeutung Erwin Panofsky, Studies in Iconology. Humanistic Themes in the Art of the Renaissance (New York 1939), S. 6 f., S. 14 f.; Karl Hauck, Artikel „Brakteatenikonologie“. In: RGA 3 (1978), S. 361–400, hier S. 362 f.; vgl. auch Alexandra Pesch, Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Thema und Variation. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 36 (Berlin, New York 2007), S. 14 f.
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nichts damit zu tun haben.11 Dies alles angemessen im Rahmen eines kurzen Beitrags zu würdigen, bleibt aussichtslos. Die Menge der einschlägigen Texte und Thesen erklärt sich auch dadurch, dass der Begriff praktisch alle dekorativen Erscheinungen des germanischen Nordens vom 5. Jahrhundert bis in die Wikingerzeit, teilweise bis ins hohe Mittelalter hinein, subsummiert, seien es figürliche Darstellungen, Ornamente oder sonstige Verzierungen. Außerdem beschränkt sich die germanische Bildkunst nicht auf wenige Objektgattungen, Materialien oder Verbreitungszonen: Sie ist eine universell auftretende Kunst, die auf Gebrauchsgegenständen12 platziert worden ist und so als angewandte Kunst die Sachkultur in praktisch allen Lebensbereichen der germanischen Menschen durchdrungen hat. Als Pioniere ihrer Erforschung im 19. Jahrhundert gelten Christian J. Thomsen, Jens J. A. Worsaae, Sophus Müller, Oscar Montelius, Hans Hildebrand und nicht zuletzt Wilhelm Grimm. Die Etablierung und Konsolidierung der modernen Forschung im 20. Jahrhundert ist unter anderem Bernhard Salin, Nils Åberg, Greta Arwidsson, Wilhelm Holmqvist, Mats Malmer, Joachim Werner, Günther Haseloff, Horst W. Böhme, Karl Hauck, Helmut Roth und Torsten Capelle zu verdanken. Trotz ihrer enormen Ausbreitung kennt die Tierornamentik kaum individuelle Züge. Sie folgt vielmehr in ihren Motiven wie auch in deren konkreter Umsetzung dem Stil,13 einem vorgegebenen Regelwerk. Dies ist in der über weite Gebiete und vielen Objektgruppen nahezu gleichförmigen Art der Darstellungen zu erkennen – eben jener, die es ermöglicht, von einem bestimmten Stil zu sprechen. Ausnahmslos in aller Bildkunst spiegeln sich diese Regeln. Daher ist es möglich, trotz der unüberschaubaren Fülle der Tierstilobjekte in den Jahrhunderten ihres Fortbestehens Haupttendenzen und Stilzüge zu beschreiben und so die Charakteristika der germanischen Bildkunst zu definieren. Doch bringen alle Versuche der Klassifizierung Schwierigkeiten mit sich, die gleichsam als Fallstricke fungieren. Die lebendige Tradition14 der Tierornamentik lebte von der Variation. So kennt die Bandbreite der Darstel11
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So etwa in den Beiträgen „Chronologie“, „Fahren und Reiten“, „Reliquiare“, „Sakralkönigtum“ oder „Zentralorte“. Siehe die Einzelnachweise im Registerband 2 zum RGA (2008), S. 884 f. Vgl. Günther Haseloff, Die germanische Tierornamentik der Völkerwanderungszeit. Studien zu Salin’s Stil I. Vorgeschichtliche Forschungen 17, 3 Bände (Berlin, New York 1981), Bd. I, S. 3. Zum Stilbegriff siehe Heinrich Beck, Heiko Steuer, Artikel „Stil“. In: RGA 30 (2005), S. 1–16. Vgl. allgemein Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien (München 2000).
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lungen innerhalb einer Stilrichtung immer auch Ausreißer und „Exoten“, die sich nicht mehr reibungslos in das Gesamtbild einfügen. Bei allen Klassifizierungsversuchen ist daher mit einer gewissen Unschärferelation15 zu arbeiten. Diese muss zwar die Festlegung auf bestimmte Definitionen ermöglichen, aber doch Varianten und Ausnahmen zulassen. Ebenso gefährlich stellt sich das Bemühen um das Verständnis der Bildbedeutungen dar. Hier schlittert man geradezu auf Glatteis. Denn die notwendigen Kontexte zur Deutung der Bilder fehlen zunächst, vor allem aufgrund der altbedauerten Tatsache, dass die Germanen der Nachwelt selbst keine ausführlichen Texte über sich selbst, ihre Bilder und die hinter ihnen liegenden Vorstellungen hinterlassen haben. So sind die Bildkontexte nur in einem mühsamen, interdisziplinären Zusammenspiel der Auswertung verschiedener Quellengattungen zu rekonstruieren,16 und auch das naturgemäß nur mit größeren Unsicherheiten und Unschärfen. Wenn im Folgenden dennoch der Versuch unternommen wird, einen Überblick über den Stand der Forschung, über Herkunft, Charakteristika und Genese sowie die Möglichkeiten zur Entschlüsselung der germanischen Bilder zu geben, dann kann dies nur in überaus verkürzter, ja im Grunde unzulässig simplifizierter Form geschehen, als skizzenhafter Entwurf über die Welt der germanischen Bildersprache im Laufe der Jahrhunderte.17
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Zur Unschärfe Heiko Steuer, Datierungsprobleme in der Archäologie. In: Runeninschriften als Quellen interdisziplinärer Forschung. Abhandlungen des Vierten Internationalen Symposiums über Runen und Runeninschriften in Göttingen vom 4. – 9. August 1995, hrsg. von Klaus Düwel, Sean Nowak. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 15 (Berlin, New York 1998), S. 129–149, hier S. 146; vgl. Pesch, Thema und Variation und Variation (wie Anm. 10), S. 26. Dazu unten mehr. Der Text folgt in einigen Zügen meinen Beiträgen: Germanische Tierstilkunst. Charakteristik und Wege zur Deutung. Die Kunde 58, 2007, S. 221–236, sowie Iconologia sacra. Zur Entwicklung und Bedeutung der germanischen Bildersprache im ersten Jahrtausend. In: Glaube, Kult und Herrschaft. Phänomene des Religiösen im 1. Jahrtausend n. Chr. in Mittel- und Nordeuropa, hrsg. von Uta von Freeden, Herwig Friesinger und Egon Wamers. Kolloquien zur Vor- und Frühgeschichte Band 12 (Bonn 2009), S. 203–217; vgl. auch Pesch, Thema und Variation (wie Anm. 10), S. 360–391. – Vgl. zur Forschungsgeschichte Karen Høilund Nielsen und Siv Kristoffersen, Germansk dyrestil (Salin I–III). Et historisk perspektiv. Hikuin 29, 2002, S. 15–74; Charlotte Behr, Forschungsgeschichte. In: Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Auswertung und Neufunde, hrsg. von Wilhelm Heizmann, Morten Axboe. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 40 (Berlin, New York 2011), S. 153–229.
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Die Vorgeschichte In dem Kontakt und der Auseinandersetzung mit dem römischen Imperium begann um die Zeitenwende für das germanische Barbaricum eine Epoche der Innovationen. Die Anfänge sind heute beispielsweise noch an den neuen Grabsitten der frühen germanischen Eliten erkennbar: Römische Ton- und Metallgefäße, Kleidungsbestandteile, Militaria und andere Gegenstände gelangten bei den Germanen schon seit dem ersten Jahrhundert zu solcher Beliebtheit, dass sie diese sogar noch als Totenausstattung mit sich nahmen. Die Grabgruppen von Lübsow, Hagenow oder dem dänischen Hoby zeugen davon,18 dass Besitz von exklusiven Fremdgütern für die frühen germanischen Oberschichten offenbar eine große Rolle spielte. Die römische Geschichtsschreibung steckt ebenfalls voller Hinweise auf ein vielfach friedliches Nebeneinander bis hin zu einem gegenseitigen Durchdringen der Kulturen. Offenbar durchliefen germanische Männer in großer Zahl den Dienst in den römischen Söldnerarmeen.19 Auch andere Möglichkeiten der Erziehung und Ausbildung im Reich wurden gerne genutzt – Arminius war kein Einzelfall. Gleichzeitig aber ist auch immer wieder von kleineren Kriegszügen germanischer Gruppen in römisches Territorium und von und größeren kriegerischen Auseinandersetzungen die Rede. So erscheint das Barbaricum nicht als geschlossener Kulturraum, sondern als ein politischer 18
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Allgemein zu den „Fürstengräbern“ Heiko Steuer, Henrik Thrane, Otto Herman Frey, Michael Gebühr und Torsten Capelle, Artikel „Fürstengräber“. In: RGA 10 (1998), S. 168–220; Heiko Steuer, Fürstengräber, Adelsgräber, Elitegräber: Methodisches zur Anthropologie der Prunkgräber. In: Herrschaft – Tod – Bestattung. Zu den vor- und frühgeschichtlichen Prunkgräbern als archäologisch-historische Quelle. Internationale Fachkonferenz Kiel, hrsg. von Claus von Carnap-Bornheim, Dirk Krausse, Anke Wesse. Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie aus dem Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Kiel 139 (Bonn 2006), S. 11–26; Claus von Carnap-Bornheim, Zwischen Anpassung und Widerstand? Überlegungen zu den Fürstengräbern der römischen Kaiserzeit im Barbaricum. In: Herrschaft – Tod – Bestattung (wie Anm. 18), S. 111–126; Angelika Abegg-Wigg und Andreas Rau (Hrsg.), Aktuelle Forschungen zu Kriegsbeuteopfern und Fürstengräbern im Barbaricum. Internationales Kolloquium Schleswig Juni 2006. Schriften des Archäologischen Landesmuseums, Ergänzungsreihe Band 4 (Neumünster 2008). Zum Elitebegriff siehe auch Heiko Steuer, Artikel „Häuptling, Häuptlingtum“. In: RGA 13 (1999), S. 291–311, hier S. 291 f. Horst Wolfgang Böhme, Germanen im Römischen Reich. In: Menschen Zeiten Räume. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung in Berlin und Bonn (Stuttgart 2002), S. 295–305; Birger Storgaard, Kosmopolitische Aristokraten. In: Sieg und Triumpf. Der Norden im Schatten des römischen Reiches, Katalog des dänischen Nationalmuseums (Kopenhagen 2003), S. 106–125.
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Flickenteppich. Denkbar, dass ein germanisches Gefolgschaftswesen,20 also die Möglichkeit, sich als Krieger immer wieder neuen Herren anzuschließen und so auch die politischen Einheiten immer neu zu mischen, die Etablierung dauerhafter Machtverhältnisse und größerer staatlicher Strukturen mit einheitlicher politischer Richtung verhinderte. Insgesamt aber ist die Orientierung an der römischen Welt spürbar. Warum auch immer einzelne Germanen im Reich gewesen waren, aus der Ferne zurückgekehrt brachten sie neben interessanten „Souvenirs“ auch ihre Eindrücke und Erinnerungen, neue Kenntnisse, Fertigkeiten und Wertvorstellungen mit. Damit einher ging die schrittweise Entstehung einer neuen Identität.21 Dies war allerdings keine römische Identität: Denn die Grabinventare der beiden ersten Jahrhunderte mit der typischen Mischung aus einheimischen Waren und römischem Importmaterial unterstreichen nicht nur die Kontakte, die Hinwendung der Bestatteten zur römischen Welt, sondern sie zeigen vor allem, dass die germanischen Eliten damit eine eigene, gemeinsame Formensprache entwickelt hatten. Dies ist anhand der in Süddänemark, Norddeutschland und dem Elbe-Saale-Raum im Wesentlichen gleichen Grabsitten und auch anhand gut vergleichbarer Fundstücke zu folgern. Die Bestatteten müssen also bereits untereinander in engem Kontakt und Austausch gestanden und eine Art Konsens gefunden haben:22 Mit der „Sprache“ ihrer Inventare hatten sie eine noch heute sichtbare, eigene Ausdrucksform geschaffen und pflegten offenbar ein gemeinsames Verständnis ihres Daseins. In der früheren Forschung wurde die These vertreten, dass grundsätzlich die kaiserzeitlichen Germanen jegliche Bilder abgelehnt hätten.23 In der Tat waren die ersten vier Jahrhunderte noch relativ bilderarm – jedenfalls nach der Aussage des bisher bekannten archäologischen Fundmaterials. Doch 20
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Allgemein dazu Heiko Steuer, Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa. Eine Analyse der Auswertungsmethoden des archäologischen Quellenmaterials. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, 3. Folge, Nr. 128 (Göttingen 1982), hier besonders S. 54–58, S. 523 f. Vgl. Joachim Werner, Das Aufkommen von Bild und Schrift in Nordeuropa. Bayerische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Sitzungsberichte 1966, Heft 4 (München 1966). Vgl. Storgaard, Aristokraten (wie Anm. 19). Vgl. Hans Zeiß, Das Heilsbild in der germanischen Kunst des frühen Mittelalters. Bayerische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Kl., Sitzungsberichte 1941 II/8 (München 1941), S. 6; Werner, Aufkommen (wie Anm. 21), S. 4 f.; Haseloff, Tierornamentik (wie Anm. 12) I, S. 3 f.; Ruth Blankenfeld, Der bildfeindliche Germane? In: Innere Strukturen von Siedlungen und Gräberfeldern als Spiegel gesellschaftlicher Wirklichkeit. Akten des 57. Internationalen Sachsensymposiums, hrsg. von Christoph Grünewald und Torsten Capelle (Münster 2007), S. 99–107.
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Abb. 2: Das Motiv des gehörnten Pferdes lässt sich in der Germania langfristig nachweisen. a Gürtelblech aus Hagenow, spätes 1. Jahrhundert (vgl. Anm. 24), Detail-Umzeichnung Paula Haefs; b langes Horn von Gallehus, um 400 (vgl. Anm. 45), Detail nach Paulis Stich; c Inneres Bildfeld des Goldbrakteaten IK 144 aus Holmetorp, 5. Jahrhundert (nach IK, vgl. Anm. 64); d Pferdchenfibel aus Gotland, 5./6. Jahrhundert, nach Hauck, Sievern (vgl. Anm. 123), S. 411. Alle ohne Maßstab.
reichen nicht nur die geistigen Wurzeln der Tierornamentik bereits in diese Zeit hinein, sondern es lassen sich auch typische Motive bis hierhin zurückverfolgen. So taucht etwa das gehörnte Pferd, auf den Goldbrakteaten des 5./6. Jahrhunderts als Kernsymbol der Darstellungswelt bekannt, bereits um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert auf einem Prunkgürtel aus Hagenow auf (Abb. 2).24 Sind dies noch vereinzelte Blitzlichter einer neu entstehenden 24
Hans-Ulrich Voß, Artikel „Hagenow“. In: RGA 13 (1999), S. 350–352; siehe auch Alexandra Pesch, Gehörnte Pferde, Elitenkommunikation und synthetische Tradition
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Identität, so begannen die Germanen spätestens im 3. Jahrhundert mit einer ausgeweiteten eigenen Bildproduktion. Im Umkreis der Eliten sind die ersten herausragenden Zeugnisse germanischer Bildproduktion anzutreffen. Diese greift zwar auf imperiale Bildvorlagen bzw. -chiffren zurück, gestaltet diese aber um und setzt sie in neue Zusammenhänge.25 Dieses Vorgehen sollte auch für die kommenden Jahrhunderte typisch bleiben. So reifte eine ganz eigene Bildersprache heran, die sich im Laufe der Zeit unter immer neuen Rückgriffen auf andere Bilderwelten und die damit verbundenen Änderungen motivischer und darstellerischer Details im Norden bis in das hohe Mittelalter hinein behauptete. Es ist kein Zufall, dass bereits im ersten Jahrhundert auch die Runenschrift erfunden worden ist.26 Als künstliche Schöpfung auf der Basis lateinischer und griechischer Alphabete zeugt auch sie einerseits von der römischen Bildung der Erfinder,27 anderseits von deren Wunsch nach Abgrenzung und eigener Identität. Sie beweist auch, dass es bereits in dieser frühen Phase nicht nur gute überregionale Kontakte der Eliten gegeben hat, welche die rasche Verbreitung der Runenschrift ermöglichten, sondern dass auch so viel Macht in ihren Händen lag, dass sie
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am Beginn germanischer Bildkunst. In: Das Miteinander, Nebeneinander und Gegeneinander von Kulturen. Zur Archäologie wechselseitiger Beziehungen im 1. Jahrtausend n. Chr., hrsg. von Babette Ludowici, Heike Pöppelmann. Neue Studien zur Sachsenforschung 2, 2011, S. 9–17. Karl Hauck, Zur Ikonologie der Goldbrakteaten X: Formen der Aneignung spätantiker ikonographischer Konventionen im paganen Norden. Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 23. Simboli e simbologia nell’alto medioevo (Spoleto 1976), S. 81–106; Hayo Vierck, Imitatio imperii und interpretatio Germanica vor der Wikingerzeit. In: Les Pays du Nord et Byzance (Scandinavie et Byzance), hrsg. von Rudolf Zeitler. Acta Universitatis Upsaliensis, Figura, Nova Series 19 (Uppsala 1981), S. 64–101; Morten Axboe, Anne Kromann, DN ODINN P F AVG? Germanic „Imperial Portraits“ on Scandinavian Gold Bracteates. Acta Hyperborea 4 (1992), S. 271–305; Torsten Capelle, Artikel „Germanien, Germania, Germanische Altertumskunde, § 40 Die jüngeren Kunststile“. In: RGA 11 (1998), S. 368–374, hier S. 327 f.; vgl. auch schon Peter V. Glob, Über C-Brakteaten. Acta Archaeologica (Kopenhagen) 8, 1937, S. 275–278, hier S. 277. Klaus Düwel, Wilhelm Heizmann, Das ältere Fuþark – Überlieferung und Wirkungsmöglichkeiten der Runenreihe. In: Das fuþark und seine einzelsprachlichen Weiterentwicklungen. Akten der Tagung in Eichstätt vom 20. bis 24. Juli 2003, hrsg. von Alfred Bammesberger, Gaby Waxenberger. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 51 (Berlin, New York 2006), S. 3–60. Wilhelm Heizmann, Zur Entstehung der Runenschrift. In: Zentrale Probleme bei der Erforschung der älteren Runen. Akten einer internationalen Tagung an der Norwegischen Akademie der Wissenschaften, Osloer Beiträge zur Germanistik, hrsg. von John Ole Askedal, Harald Bjorvand, James E. Knirk (Frankfurt/Main a. M. 2010).
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überhaupt ein einziges System durchsetzen konnten, mit dem sie gleichzeitig die Ausbreitung anderer Schriftsysteme verhinderten. Es blieb also nicht bei der reinen Sammlung römischer Originale. Schon seit dem späten 1. Jahrhundert lässt sich ein Mischhorizont nachweisen, in dem Römisches und Germanisches nicht nur im selben Fundkomplex, sondern auch am selben Objekt feststellbar ist. Berühmte Zeugnisse dafür sind die beiden Zierscheiben aus dem großen Mooropferplatz von Thorsberg (Schleswig-Holstein).28 Hier wurden um das Jahr 200 zahlreiche Waffen und andere Objekte verschiedener Herkunft niedergelegt. Die beiden einer wahrscheinlich provinzialrömischen Werkstatt entstammenden Phalerae schmückten ursprünglich als Orden oder Ehrenzeichen die Brust eines erfolgreichen Soldaten. Doch auf eine der Zierscheiben wurden nachträglich neue Tierfiguren aufgebracht. Ihr Stil unterscheidet sich deutlich von dem Reliefstil der römischen Figuren. Seit langem wird die Herkunft der Thorsberger Zierscheibe, die nun römische und germanische Eigenarten in handwerklicher und motivischer Hinsicht mischt, diskutiert:29 Handelt es sich um ein römisches Importobjekt, um ein Stück römischer Handwerker in germanischen Diensten oder etwa um ein rein germanisches Stück in der Nachahmung römischer Vorbilder, möglicherweise angefertigt von germanischen Handwerkern, die in römischen Werkstätten gelernt hatten? Offenbar waren germanische Handwerker nicht nur bei den Römern in die Lehre gegangen, wo sie sich Techniken z.B. der Edelmetallverarbeitung angeeignet hatten, sondern sie hatten begonnen, ihr Wissen auch zur Gestaltung eigener Produkte nach eigenen Vorstellungen zu nutzen. Dass sie dabei römische Waren, zum Beispiel auch Münzen, Schmuck oder Metallbehälter als Rohstoffe verwendeten, zeugt für ihre wachsende innere Unabhängigkeit von der Ausstrahlung der römischen Welt. 28
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Eva Nyman, Claus von Carnap-Bornheim, Artikel „Thorsberg“. In: RGA 35 (2007), S. 123–127; Joachim Werner, Die beiden Zierscheiben des Thorsberger Moorfundes. Ein Beitrag zur frühgermanischen Kunst- und Religionsgeschichte. Römisch-Germanische Forschungen 16 (Berlin 1941); Claus von CarnapBornheim, Neue Forschungen zu den beiden Zierscheiben aus dem Thorsberger Moorfund. Germania 75, 1997, S. 69–99. von Carnap-Bornheim, Neue Forschungen (wie Anm. 28); vgl. Claus von CarnapBornheim, Nithijo und Saciro. Einige Bemerkungen zum Verhältnis von römischem und germanischem Feinschmiedehandwerk in der jüngeren römischen Kaiserzeit. Archäologie in Schleswig 3, 1993, S. 49–53; Claus von Carnap-Bornheim, The Social Position of the Germanic Goldsmith A. D. 0–500. In: Roman gold and the development of the early Germanic kingdoms. Aspects of technical, sociopolitical, socio-economic, artistic and intellectual development, A.D. 1–550. Kungliga Vitterhets Historie och Antikvitets Akademien (KVHAA) Konferenser 51 (Stockholm 2001), S. 263–278.
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Bald schon wurden in weiten Regionen nicht-römische Symbole geschaffen und verwendet. Es entfaltete sich eine regelrechte „Pressblechkultur“. In diesem Rahmen entstanden Zierbeschläge für Gürtel oder Pferdezaumzeug aus Bunt- und/oder Edelmetall. Sorgfältig gestaltete Tierfiguren in Pressblechfeldern wie etwa auf den Gürtelteilen aus Neudorf-Bornstein und ihren Verwandten aus Ejsbøl lassen zwar noch gut römische Tierfriesfiguren als ursprüngliche Vorlagen erahnen, doch viele Elemente weisen die Bildträger als einheimische Erzeugnisse aus.30 Das kauernde Tier, in den Tierstilen insgesamt ein Hauptmotiv, erscheint hier erstmals regelhaft, wenn auch noch selten. Aus Inventaren reicher Gräber wie Himlingøje (Dänemark) oder Gommern,31 stammen auch Applikationen und vollplastische Ringobjekte mit einer besonderen Vogel- bzw. Vogelkopf-Symbolik (oft auch als „Schlangenkopfringe“ bezeichnet) (Abb. 3).32 Die Ähnlichkeit dieser Objekte untereinander erweist die Stücke nicht nur als Ausdrücke in derselben Bildersprache, sondern damit auch als Funktionsträger im Rahmen der Elitenkommunikation. Mobilität, internationale Bezüge und der Aufbau der eigenen Identität sind die Voraussetzungen dafür in der kaiserzeitlichen Germania. Auch die „Medaillon-Imitationen“ des Nordens sind Beispiele dieser Entwicklung (Abb. 4).33 Diese goldenen Anhänger des vierten Jahrhunderts sind formal in ihren Formen und Motiven als Kopien römischer Schmuckmünzen und Ehrenabzeichen erkennbar.34 Sogar die lateinischen Buchsta30
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Claus von Carnap-Bornheim, Zu den Prachtgürteln aus Ejsbøl und Neudorf-Bornstein. In: Sieg und Triumpf (wie Anm. 19), S. 240–245; Angelika Abegg-Wigg, Zu den Grabinventaren aus den „Fürstengräbern“ von Neudorf-Bornstein. In: Herrschaft (wie Anm. 18), S. 279–298. Ulla Lund Hansen, Marie Stoklund, Artikel „Himlingøje“. In: RGA 14 (1999), S. 538–548; Mario Becker, Artikel „Gommern“. In: RGA 12 (1998), S. 395–399; siehe auch Ulla Lund Hansen et al., Himlingøje – Seeland – Europa. Ein Gräberfeld der jüngeren römischen Kaiserzeit auf Seeland, seine Bedeutung und internationalen Beziehungen (København 1995); Gold für die Ewigkeit: Das germanische Fürstengrab von Gommern. Begleitband zur Sonderausstellung vom 18.10.2000 bis 28.02.2001 im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle (Saale), hrsg. von Siegfried Fröhlich, Manuela Sailer (Halle/Saale 2001). Ulla Lund Hansen, in: Lund Hansen et al., Himlingøje (wie Anm. 31), S. 206–212. Allgemein siehe Morten Axboe, Om forholdet mellem medaillon-efterligninger og brakteater, eller: Hvad var der i Gudme guldrum? In: Vi får tacka Lamm, hrsg. von Bente Magnus, Carin Orrling, Monika Rasch, Göran Tegnér. The Museum of National Antiquities, Stockholm. Studies 10 (Stockholm 2001), S. 39–46; Morten Axboe, Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Herstellungsprobleme und Chronologie. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 38 (Berlin, New York 2004), S. 208 f.; Morten Axboe, Brakteatstudier. Det Kongelige Nordiske Oldskriftselskab. Nordiske fortidsminder Serie B, Bind 25 (København 2007), S. 93–98; Kartierung bei Pesch 2007 (wie Anm. 10), S. 373 ff., dazu auch S. 54 f. Peter Berghaus, Artikel „Goldmedaillons“. In: RGA12 (1998), S. 343–345; Alek-
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Abb. 3: Schlangenkopfring aus Schweden, 3. Jahrhundert. Nach Salin, Thierornamentik (wie Anm. 4) S. 181. Originalbreite 4 cm, H 2,8 cm.
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Abb. 4: Medaillon-Imitation IK 3 aus Åk, Norwegen, 4. Jahrhundert. a Avers mit Kopf im Profil, Vogelfigur und unlesbaren Kapitalis-Imitationen sowie b Revers mit zwei Figuren am Tropaion und imitierter Kapitalis-Umschrift (nach IK, vgl. Anm. 64). Originaldurchmesser 3,0 cm.
sander Bursche, Roman Gold Medaillons as Power Symbols of the Germanic Elite. In: Roman Gold (wie Anm. 29), S. 83–102.
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ben der Vorbilder sind übertragen, wobei oft allerdings nur unlesbare Zeichen entstanden sind. Doch handelt es sich trotz der Nachahmungen römischer Bilder bei den germanischen Objekten nicht um plumpe 1:1-Kopien. Es sind also keine intendierten Fälschungen. Nicht nur die Herstellung war eine völlig andere, sondern auch motivisch variieren sie die Vorlagen, indem sich auf ihnen beispielsweise Elemente unterschiedlicher Vorbilder mischen und ihre Chiffren durch neue Elemente angereichert werden.35
Die Frühzeit Zur Zeit der ersten Hunnenzüge am Ende des 4. Jahrhunderts, als sich auf dem Kontinent das römische Imperium nach und nach auflöste und die politischen Karten dort neu gemischt wurden, sind erstmals breitere Ansätze einer überregionalen und speziell germanischen Kunstentwicklung sichtbar. Die auf dem Kontinent mit erheblichen Unruhen verbundene Völkerwanderungszeit brachte im relativ ruhigen Norden Europas das Aufblühen einer einzigartigen Kultur, die sich archäologisch durch eine Vielzahl von charakteristischen Formen und Objektarten definieren lässt. Der sogenannte „Sösdala-Stil“ floriert in Südskandinavien zu Beginn der Völkerwanderungszeit.36 Produkte mit dieser speziellen Ornamentik stammen aber auch von Fundorten in England, Norwegen, Mittelschweden, Norddeutschland, Österreich, Ungarn, Rumänien und dem Baltikum, sie kennzeichnen also bereits weitgehend die Hauptverbreitungsgebiete der späteren Tierornamentik in ihren nördlichen und östlichen Bereichen. Charakteristisch dabei ist die Stempelung bzw. Punzung entlang der Ränder und auf den Achsen der Objekte mit Dreiecken, Sternen, Kreisen, Kreisaugen, Punkten, Halbkreisen und Kreuzen. Für die Stempelungen lassen sich keine direkten römischen Vorbilder aufführen. Der Stempelstil darf also als genuin germanische Ausdrucksform bezeichnet werden. Seine einzelnen Zeichen bleiben auch später in der germanischen Kunst wichtig. Ebenso nehmen Tierkopfprotomen, plastisch geformte Objektspitzen oder -enden in Tierkopfform sowie die Formen der damals verwendeten Bügelfibeln schon spätere Motivkonventionen vorweg. Silberblechfibeln (Abb. 5) und vor allem auch Teile vom Pferdezaumzeug gehören zu den wichtigsten Fundgruppen mit Sösdalastil. 35
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Allgemein Hauck, Bilddenkmäler (wie Anm. 8); Vierck, Imitatio (wie Anm. 25); Morten Axboe, Anne Kromann, DN Odin (wie Anm. 25). Dazu Helmut Roth, Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde, C. Kunst“. In: RGA 11 (1998), S. 356–368, hier S. 362 f.; Anna Bitner-Wróblewcka, From Samland to Rogaland (Warszawa 2001), besonders S. 89 f.; Storgaard, Aristokraten (wie Anm. 19), S. 123 f.
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Abb. 5: Silberblechfibel aus Sejlflod, Nordjütland, frühes 5. Jahrhundert, in typischer Grundform und mit reicher Stempelornamentik sowie der Darstellung zweier Vierfüßer auf der Kopfplatte. Nach Bente Magnus, Ørnen flyr – om Stil I i Norden. Hikuin 29, 2002, S. 105–118, hier S. 109. Originalhöhe 17,4 cm.
Es handelt sich ausschließlich um hochrangige Qualitätsprodukte, die auch als Statussymbole gelten – in der Nachfolge etwa der Vogel- bzw. Schlangenkopfringe. Ungefähr zur selben Zeit, etwa seit dem letzten Drittel des 4. Jahrhunderts und besonderes im 5. Jahrhundert, war mit den Kerbschnittbronzen37 37
Horst Wolfgang Böhme, Artikel „Kerbschnittbronzen“. In: RGA 16 (2000), S. 456–462; Horst Wolfgang Böhme, Zum Beginn des germanischen Tierstils auf dem Kontinent. In: Studien zur vor- und frühgeschichtlichen Archäologie, Festschrift für Joachim Werner, hrsg. von Georg Kossack, Günter Ulbert (München 1974), Teil II, S. 295–308; Horst Wolfgang Böhme, Bemerkungen zum spätrömischen Militärstil. In: Zum Problem der Deutung frühmittelalterlicher Bildinhalte. Akten des 1. Internationalen Kolloquiums in Marburg an der Lahn, 15.–19. Februar 1983, hrsg. von Helmuth Roth (Sigmaringen 1986), S. 25–50; Böhme, Germanen (wie Anm. 19); Günther Haseloff, Zum Ursprung der germanischen Tierornamentik. Frühmittelalterliche Studien 7, 1973, S. 406–442.
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Abb. 6: Zwei lanzettförmige Riemenzungen, “Kerbschnittbronzen“ des 4./5. Jahrhunderts, mit plastischen Randtieren und gekerbten Musterfeldern. Linkes Stück aus Aquileia, Österreich, Originalhöhe 7,3 cm, rechtes Stück aus der Prov. Namur, Belgien, Originalhöhe 7,6 cm. Beide nach Salin, Thieroranmentik (wie Anm. 4) S. 121.
eine Objektgruppe verbreitet, die für die folgende Entwicklung vielleicht noch wesentlicher ist als der Stempelstil. Diese oft mehrteiligen, mit tief eingeschnittenen bzw. eingekerbten Musterfeldern verzierten Gürtelgarnituren aus Bunt- oder Edelmetall waren kennzeichnende Ausrüstungsgegenstände der Söldner im römischen Heer (Abb. 6).38 Typisch sind kurvolineare und florale Motive, die als Ranken, Spiralhaken (Akanthus), Perlstabmuster (Astragale) oder Palmetten bezeichnet werden. Bei gegeneinandergelegten Haken entstehen auch Formen wie Herzen, Pelten oder Mäander. Gerne sind die Kerbschnitte zu Kreuzen, Swastiken oder Mehrfachwirbeln kombiniert. Vor allem an den Rändern der Objekte tragen sie oftmals halbplastische Tiere oder Tierfriese mit Löwen, Greifen, Delphinen und Mischwesen wie Seegreifen und Seelöwen.39 Diese Elemente sind auch andernorts für die spätantik-römische Bilderwelt typisch. Dazu gehört auch das Motiv des menschlichen Kopfes zwischen zwei 38 39
Böhme, Germanen (wie Anm. 19). Alexandra Pesch, Artikel „Mischwesen“. In: RGA 20 (2002), S. 61–73.
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Tieren: Es ist in vielen Fällen eine Darstellung des römischen Meeresgottes Oceanos, der von zweien seiner Seetiere flankiert wird. Diese intensivieren seine Gegenwart durch ihre machtvolle Anwesenheit. Solche Motive galten als glückbringend. Es wurde ihnen eine magische Wirksamkeit zum Schutz und für den Erfolg des Trägers zugemessen.40 Obwohl die heutige Forschung davon ausgeht, dass die Gürtelgarnituren in römischen Waffenfabriken angefertigt worden sind, fehlen in der klassischen Antike die direkten Vorbilder ebenso wie die Abnehmer für solche Kerbschnittobjekte. Offenbar hatte sich in den Grenzregionen des Imperiums bei den Söldnern und den bereits romanisierten Völkern eine kulturelle Eigenart herausgebildet, die römische und germanische Elemente umfasste und diese im Kunsthandwerk zu vereinen verstand. Auf diese Weise fanden einerseits die antiken Bildvorlagen, andererseits aber auch germanische Vorlieben Eingang in eine neue Objektwelt. Letztlich drückt sich also ein romanisiert-barbarischer Geschmack in den Kerbschnittbronzen aus. Ob sich römische Handwerker auf diesen Geschmack spezialisiert hatten oder ob nicht vielmehr Germanen selbst, die sich nicht nur als Krieger, sondern auch als Feinschmiede im Heer verdienten, die Stücke angefertigt haben, wird diskutiert. So sind die Kerbschnittbronzen auch als Zeugnisse der Mischkultur in den Grenzregionen zu sehen. In der Region des Elbe-Weser-Dreiecks tauchen seit den frühen Jahren des 5. Jahrhunderts und bis zu seiner Mitte flächenfüllende Kerbschnittdekore auf sächsischen Fibeln auf, kombiniert mit plastischen bzw. halbplastischen Tierfiguren oder Tierköpfen am Rand.41 Hier findet sich also auf nun in rein germanischem Umfeld die glückbringende „Seewesen-Fauna“ der Kerbschnittbronzen wieder. Der als „sächsischer Reliefstil“ oder manchmal auch als „spätrömischer Stil“ bezeichnete Dekor ist nicht nur auf Metallobjekten überliefert. Seit einigen Jahren sind die Grabfunde aus der Fallwart in Wremen, Landkreis Cuxhaven, bekannt, wo durch einen Glücksfall der Überlieferungsbedingungen kerbschnittverzierte Holzmöbel ergraben und konserviert werden konnten (Abb. 7).42 Die Übertragung der Kerbschnitttechnik auf das neue Medium Holz ist als Leistung der germanischen Hersteller zu würdigen. 40
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Bernard Andreae, Delphine als Glückssymbole. In: Problem der Deutung (wie Anm. 37), S. 51–56; Böhme, Bemerkungen (wie Anm. 37), S. 49. Hermann Ament, Artikel „Tierornamentik, Germanische, § 1–6“. In: RGA 30 (2005), S. 586–597, hier S. 588 f. Jürgen Udolph, Mathias D. Schön, Klaus Düwel, Artikel „Wremen“. In: RGA 34 (2006), S. 244–251; Mathias D. Schön, Der Thron aus der Marsch. Ausgrabungen an der Fallward bei Wremen im Landkreis Cuxhaven I. Museum Bad Bederkesa. Begleithefte zu Ausstellungen 1 (Bremerhaven 1995).
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Abb. 7: Hölzerner Klotzstuhl (Thron) aus Wremen (vgl. Anm. 42) mit Kerbschnittverzierungen. Originalhöhe 65 cm. Umzeichnung von Marlene Loevenich. Nach Torsten Capelle, Die Sachsen des frühen Mittelalters (Stuttgart 1998), S. 22.
Der sächsische Reliefstil kann als spezielle Ausprägung des Nydamstils gesehen werden. Diese große Stilphase mit weiträumiger Verbreitung ist als Zeichen eigenständiger Kunstproduktion ganz nach germanischem Geschmack zu bezeichnen.43 Der Nydamstil, benannt nach dem KriegsbeuteOpfermoor im süddänischen Jütland, verbreitete sich seit dem späten 4. Jahrhundert und vor allem im 5. Jahrhundert in Südskandinavien und in den angrenzenden Regionen. Er zeugt von einem großen Aufbruch in der Kunst, von der Entstehung einer regelrechten Bildersprache, die nun mehr und mehr Objektgattungen und Bereiche erobert. Dieses Phänomen kann kaum ausreichend mit dem nachlassenden römischen Import in den Jahren der Unruhe erklärt werden. Eher scheint eine gestärkte Verbundenheit der bildschaffenden Eliten Anlass zu dieser Entwicklung gegeben zu haben. 43
Günther Haseloff, Bild und Motiv im Nydam-Stil und Stil I. In: Problem der Deutung (wie Anm. 37), S. 67–110; Roth, Germanen (wie Anm. 36), S. 363 f.; Jan und Güde Bemmann, Der Opferplatz von Nydam. Die Funde aus den älteren Grabungen: Nydam I und Nydam II (Neumünster 1998), S. 233–240; Ament, Tierornamentik (wie Anm. 41), S. 599.
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Auch im Nydamstil sind die flächenfüllenden Kerbschnittverzierungen noch üblich, die Spiralranken und -haken, Mäander, Dreiecke, Voluten, Palmetten und Perlstabmuster bilden. Übernommen wurde auch die glückbringende Seewesen-Fauna der römischen Kerbschnittbronzen. Sie erscheinen hier in Form von Randtieren mit Fischleib oder seeschlangenartig eingerolltem Körper. Überhaupt spielen Tierfiguren eine größer werdende Rolle, sie sind immer häufiger anzutreffen und nehmen an Variantenreichtum und auch an Volumen im Gesamtbild zu. Selten jedoch handelt es sich um zoologisch gesehen reale Arten. Hauptsächlich treten Mischwesen der antiken Seefauna auf. Neu hinzu kommen allerdings auch Wesen aus Tierkörpern mit menschlichen Köpfen oder Händen. Diese „Tiermenschen“,44 bald ein charakteristisches Element der Tierornamentik, finden in der antiken Kunst keine direkten Vorbilder. Viele Besonderheiten der Formen und Motive werden erprobt, die auch später noch lange Zeit als typische Elemente der Tierstile erhalten bleiben. Die Wirkung der Bilder kann von schwarz gefärbten Silbereinlagen, den Nielloverzierungen (Schwefelsilber), unterstützt werden. Auch Stempelmuster, wie sie für den Sösdalastil typisch waren, treten noch auf und zeugen von einer synthetischen Fortentwicklung der regionalen Bildkunst. Die Motivik des Nydamstils zeigen auch die beiden Goldhörner von Gallehus (Südjütland).45 Obwohl die einst zusammen fast 7 kg wiegenden Hörner heute nur noch durch Zeichnungen erhalten sind, zählen sie zu den hochkarätigsten Produkten germanischer Bildkunst. Ihr reichhaltiges Bildprogramm mit menschlichen Figuren und Tieren, vor allem aber auch wieder mit Mischwesen – darunter Seewesen mit Menschenköpfen, Menschen mit Tierköpfen oder klassische Mischwesen wie Kentauren und Kynokephale –, bildet im zeitlichen Horizont um 400 ein in dieser Komplexität einzigartiges Ensemble. Doch lassen sich viele Details mit Motiven und Chiffren anderer Bildträger vergleichen, die zeigen, dass sich diese Gallehus-Hörner trotz ihrer zweifellos herausragenden Stellung und ihres exorbitanten Wertes gut in die allgemeine Entwicklung der germanischen Bildersprache einpassen (vgl. Abb. 2b).46 Das 5. Jahrhundert ist bis zu seiner Mitte vom Nydamstil geprägt. Objekte wie die Goldhörner zeigen nicht nur, dass der Zustrom an Gold in die Germania reichhaltig floss, sondern auch, dass die Eliten den Reichtum zu 44
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Günther Haseloff, Kunststile des frühen Mittelalters (Stuttgart 1979), S. 42 f.; Günther Haseloff, Tierornamentik (wie Anm. 12), S. 111–141, S. 707; Günther Haseloff, Bild und Motiv (wie Anm. 43), S. 89–95. Morten Axboe, Hans Frede Nielsen, Wilhelm Heizmann, Artikel „Gallehus“. In: RGA 10 (1997), S. 330–344. Stine Wiell, Christian Adamsen, Giv et glimt tilbage. Skalk 2007/1, S. 14 f.
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bündeln und zu nutzen verstanden. Ihre immer einheitlicher werdende, überregionale Bildersprache hatte sich als Spiegel und Ausdruck der Elitenidentität durchzusetzen begonnen. Dabei ist schon in den frühen Phasen germanischer Kunstentwicklung deutlich, dass immer wieder Anregungen „von außen“ analysiert und aufgegriffen worden sind, die zur Entwicklung der typischen Stilphasen in synthetischer Weise mit älteren Konventionen und eigenen Vorstellungen zusammengebracht wurden. Ein fließender Übergang ist in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts zu jener Stilphase zu verzeichnen, die als erste nun beinahe in der gesamten Germania auftritt und die auch wirklich mit dem Begriff „Tierornamentik“ bezeichnet wird. Vorher hatten sich im England des späten 4. Jahrhunderts, wo die letzten römischen Truppen allmählich abgezogen waren, vor allem im 5. Jahrhundert immer mehr Angeln, Sachsen und Jüten neue Siedlungsareale erschlossen. Dort entstand alsbald auf Gürteln und Fibeln der „quoit brooch style“ als Spielart des Nydamstils. Optisch dem kontinentalen Nydamstil in vieler Hinsicht ähnlich, zeigen sich doch technische Unterschiede zu diesen Produkten, die auf eine selbständige Herstellung dieser Stücke in den neuen Siedlungsgebieten schließen lassen.47 Außerdem verwendet der Stil bereits Elemente des Tierstils I. Dies macht ihn zu einem echten Übergangsphänomen. Enge Verwandte seiner Tiere finden sich in Skandinavien, beispielsweise auf dem Goldhalskragen von Ålleberg (dazu unten). Insgesamt ist das Bemühen um eine gemeinsame Formensprache zwischen den insularen und den kontinentalen Germanengruppen deutlich sichtbar.
Tierstil I In der Mitte des 5. Jahrhunderts steigerte sich die germanische Bilderproduktion explosionsartig.48 Die germanische Welt erscheint, gemessen an den relativ bilderarmen vier Jahrhunderten vorher, plötzlich als eine regelrechte Bildkultur. Eine Fülle an neuen Motiven und Formen markiert den endgültigen Aufbruch in ein neues Kunstschaffen:49 Praktisch alles, was 47
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Peter Inker, Technology as Active Material Culture: The Quoit-Brooch Style. Medieval Archaeology 44, 2000, S. 25–52; David M. Wilson, Artikel „Tierornamentik § 7. Britain“. In: RGA 30 (2005), S. 597–605, hier S. 598. Helmut Roth, Kunst und Handwerk im frühen Mittelalter. Archäologische Zeugnisse von Childerich I. bis zu Karl dem Großen (Stuttgart 1986), hier S. 137, S. 139; Claus von Carnap-Bornheim, Zur Übernahme und Verbreitung innovativer Techniken und Verzierungsgewohnheiten bei germanischen Fibeln – eine Skizze, Forschungen zur Archäologie im Land Brandenburg 5, 1998, S. 467–473, hier S. 469; Ament, Tierornamentik (wie Anm. 41), S. 587. Vgl. Werner, Aufkommen (wie Anm. 21), besonders S. 38 f.
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verziert werden konnte und dieses auch wert war, wurde mit Bilddarstellungen versehen, Schmuck, Waffen, Kleidungsbestandteile, Textilien, Haushaltsgefäße, sogar Häuser und Schiffe. Als Vorlagen waren nach wie vor römische Münzen und Medaillons von großer Bedeutung. Ebenso wurde auch die Kerbschnitttechnik weiter gepflegt. Doch die Bilder entfernten sich mehr und mehr von ihren Vorlagen. So wurden etwa die Seewesen sämtlich durch Vierbeiner ersetzt. Sie eroberten die Mitte der Bildflächen.50 Überhaupt spielen Tierfiguren nun eine Hauptrolle, indem sie nicht nur immer häufiger anzutreffen sind, sondern auch an Variantenreichtum und vor allem an Volumen im Gesamtbild zunehmen. Die Bezeichnung „Tierstil“ bzw. „Tierornamentik“ ist also berechtigt, wenn sie auch unterschlägt, dass zahlreiche Menschendarstellungen existieren.51 Selten sind jedoch die Wesen zoologisch gesehen als „reale“ Arten ansprechbar. Vielfach treten auch Mischwesen antiker Tradition auf.52 Dazu kommen Mischwesen aus Tierkörpern, die mit menschlichen Köpfen oder Händen versehen sind. Viele dieser Tiermenschen finden eben in der Antike keine direkten Vorbilder. Sie scheinen genuin germanischen Vorstellungen zu entsprechen. Zu den frühesten Zeugnissen mit Tierstil-I-Darstellungen gehören die drei schwedischen Goldhalskragen (vgl. Abb. 8a, 8b).53 Auf diesen exquisit gearbeiteten Stücken reihen sich Tier-, Menschen-, Mischwesenfiguren und Masken hintereinander. Dabei wird die für die germanische Bildersprache so charakteristische Vorliebe für das Tier als Hauptmotiv besonders deutlich. Zwar lassen sich einige der Tiere nach ihren biologischen Arten bestimmen (z.B. Pferd, Eber, Hirschkuh), doch war diese Bestimmbarkeit vielleicht weniger von Interesse als die Anwesenheit von Tieren als solchen. Tiere und Mischwesen sind hier als Teilnehmer an einem religiösen Geschehen, als Träger und Vermittler einer Heilsbotschaft von Bedeutung.54 Obwohl vor allem bei den Tierfiguren des ältesten Kragens (Ållebergkragen) noch die typologische 50
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Roth, Kunst und Handwerk (wie Anm. 48), S. 136; Haseloff, Tierornamentik (wie Anm. 12) I, S. 27 ff., II, S. 706; Ament, Tierornamentik (wie Anm. 41), S. 589 f. Allgemein zum Begriff Salin, Thieronamentik (wie Anm. 4), S. 214–245; zu den Menschendarstellungen Torsten Capelle, Die verborgenen Menschen in der germanischen Ornamentkunst des frühen Mittelalters (Lund 2003). Haseloff, Tierornamentik (wie Anm. 12) I, S. 13, S. 111–131; Roth, Kunst und Handwerk (wie Anm. 48), S. 142 ff.; Alexandra Pesch, Mischwesen (wie Anm. 39). Jan Peder Lamm, Artikel „Goldhalskragen“. In: RGA 12 (1998), S. 335–343. Der Kragen von Ålleberg gilt auch als Erzeugnis des Nydamstils, vgl. Haseloff, Tierornamentik (wie Anm. 12), S. 232 f., zeigt aber auch Kriterien von Stil I. Dazu gehören die Konturlinien. Dazu demnächst Alexandra Pesch, in: Alexandra Pesch, Maiken Fecht, Jan Peder Lamm, Die Macht der Tiere. Völkerwanderungszeitliche Goldhalskragen und die Prinzipien der germanischen Kunst, in Vorbereitung.
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Abb. 8a: Die drei schwedischen Goldhalskragen der Völkerwanderungszeit. Zwischen den aus drei, fünf bzw. sieben Goldröhren zusammengesetzten und reich mit aufgeschobenen Zierwulsten und -drähten geschmückten Kragen aus Ålleberg (links), Färjestaden (rechts) und Möne (unten) befinden sich Reihen von applizierten Tierfiguren, Mischwesen und Masken. Foto: Sören Hallgren/Statens Historiska Museum, Stockholm.
Verwandtschaft zu römischen Tierfriesen erkennbar ist, zeigen sie doch bereits wichtige Detailkriterien, die sie als echte Produkte des Tierstils erweisen. Denn wie in jedem Kunststil unterliegen im Tierstil I die Darstellungen ganz bestimmten Regelkriterien. Ein Stil55 lässt sich als Summe von Gestaltungsmerkmalen beschreiben, die öffentlich sind, die von allen akzeptiert und rezipiert werden, und die von den Handwerkern bzw. Künstlern56 als Grundlage ihrer Arbeiten genommen werden. Nicht die Natur lieferte den Künstlern also ihre Vorlagen, und auch ihre Phantasie war nicht gefragt, sondern allen wichtig waren ihre hervorragende, gelehrte Kenntnis der Re55 56
Beck, Steuer, Stil (wie Anm. 13). Zum Künstler-Begriff allgemein Torsten Capelle, Handwerker – Kunsthandwerker – Künstler? Fragen zur Begriffsbestimmung und zu Ausdruckmitteln anhand ur- und frühgeschichtlichen Fundmaterials. Boreas 5, 1982, S. 164–171; Roth, Kunst und Handwerk (wie Anm. 48), besonders S. 34 ff.; Torsten Capelle, Germanen (wie Anm. 36), S. 356; Pesch, Thema und Variation (wie Anm. 10), S. 361f.
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Abb. 8b: Vorderteil der linken Kragenhälfte des Goldhalskragens von Ålleberg. Links sind die drei Mittelwulste des Kragens mit applizierten menschlichen Vollfiguren erkennbar. Im Bildausschnitt sind sechs Tierfiguren von insgesamt 62 in den beiden Röhren-Zwischenräumen des gesamten Kragens erkennbar, die, jeweils ein gleiches Paar bildend, hintereinandergereiht sind. Ein Pferd führt die beiden Reihen an und wird, getrennt von einem Feld mit zwei mal zwei anthropomorphen Gesichtern bzw. Masken, von einem Eber und einem rückwärtsblickenden Tier, der Hirschkuh, gefolgt. Foto: nach Pesch et al., Goldhalskragen (wie Anm. 54).
geln des allgemein anerkannten Tierstils und die Fähigkeit, diese konkret auf den Bildträgern umzusetzen. Als erster formulierte Bernhard Salin zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Regeln dieses Tierstils I. Erkennungskriterien waren dabei vor allem Detailbeobachtungen. So wies Salin darauf hin, dass die Köpfe der Tiere zumeist eine u-förmige bzw. halbrunde Augeneinfassung besitzen sowie ein gerades oder rundliches Kinn (Abb. 9).57 Auch sind die Tierkörper nicht reliefartig plastisch herausgearbeitet, wie dies für die römischen Vorbilder typisch war. Vielmehr werden sie als Flächen abgebildet, die, um erkennbar zu bleiben, von Konturlinien umgeben sind. Die Innenflächen können dann schraf57
Vgl. Salin, Thieronamentik (wie Anm. 4), S. 222 Fig. 515; Ament, Tierornamentik (wie Anm. 41), S. 590–593.
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Abb. 9: Die berühmte Zusammenstellung verschiedener Tierköpfe im Stil I von Bernhard Salin. Gemeinsamkeiten sind trotz Variantenreichtums erkennbar, genauso wie die Entwicklung zu immer längeren Maul- oder Schnabelpartien. Nach Salin, Thierornamentik (wie Anm. 4), S. 222.
fiert sein. Überhaupt treten häufig Schraffuren oder andere ornamentale Flächenverzierungen auf. Darüber hinaus gibt der Tierstil bestimmte Detailkomponenten vor. Die Tiere werden gewissermaßen nicht als Ganzes angelegt, sondern sie werden aus fünf Komponenten zusammengesetzt. Diese sind Kopf, Hals, Schulter mit Vorderbein, Rücken und Hüfte mit Hinterbein (Abb. 10). Doch sind die Komponenten der Tiere manchmal in unnatürlicher Reihenfolge zusammengefügt. Es können auch Komponenten fehlen oder zusätzliche auftauchen, man spricht dann von Tiersalat. Die Komposition der Tierkörper ist also rein addierend.58 Sie werden allerdings auf den Objekten nach und nach gedehnt, immer länger gezeichnet und bald ineinander und in sich selbst geflochten. So gewinnen sie stärkeren Ornamentcharakter. Anthropomorphe Figuren sind im Tierstil I oft nur schwer erkennbar, obwohl sie recht häufig auftreten. Wie die Tiere sind sie aus einzelnen Komponenten zusammengefügt. Auf Fibeln und Preßblechbeschlägen etwa werden sie dann aber durch Verdrehen, Dehnen und Verflechten der Einzelteile im Bildzusammenhang geradezu versteckt.59 Zu den schönsten und in der Literatur ausgiebig gewürdigten Funden mit Tierstil I-Darstellungen gehören die Prachtfibeln vom „jütländischen Typ“ (Abb. 11).60 Die massiven, großen Gewandspangen sind sowohl in ihren 58
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Haseloff, Kunststile (wie Anm. 44), S. 42–51; Roth, Kunst und Handwerk (wie Anm. 48), S. 139; Roth, Germanen (wie Anm. 36), S. 358 f., S. 366 f.; Ament, Tierornamentik (wie Anm. 41), S. 590, S. 593 f. Capelle, Verborgene Menschen (wie Anm. 51). Siehe besonders Haseloff, Tierornamentik (wie Anm. 12), I, S. 18–173, II, S. 707 f.
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Abb. 10: Die fünf typischen Komponenten, aus denen Tiere im Stil I zusammengefügt sind: a vollständiges Tier von der Donzdorf-Fibel (siehe Abb. 11a), b Kopf, c Hals, d Schulter mit Vorderbein, e Rücken und f Hüfte mit Hinterbein. Nach Haseloff, Kunststile (wie Anm. 44) S. 18.
Grundformen als auch in den Darstellungen recht einheitlich gestaltet, was bei einer Verbreitung von Norwegen bis in die Schweiz erstaunt. Sie tragen Randtiere wie auch zentrale, meist verschlungene Tier- und Menschenfiguren, die heutigen Betrachtern im ersten Eindruck fremd, ja unverständlich erscheinen und oft überhaupt nur schwer zu erkennen sind. Doch fällt die verblüffende Homogenität der Gruppe auf, die einzelnen Exemplare zeigen untereinander viele Ähnlichkeiten: Sie variieren in den Formen und Motiven charakteristische Details, so als wären sie alle Angehörige einer großen Familie. Diese Variation von grundsätzlich offenbar feststehenden, vorgegebenen Motiven und Darstellungsregeln zeugt von der lebendigen Tradition, die sich in der kunstvollen Umgehensweise mit diesen Regeln ausdrückt und bei der jeder Hersteller als hochgebildeter Spezialist seinen Anteil hatte am Gesamtphänomen des Tierstils. Nicht anders ist dies bei den in der Mitte des 5. Jahrhunderts aufkommenden Goldbrakteaten.61 Das sind kleine, runde Amulettanhänger aus goldenem Pressblech (Abb. 12). Ihre Darstellungen sind für heutige Betrachter 61
Im RGA unter anderem in den Lemmata „Bilddenkmäler“, „Brakteaten“, „Goldbrakteaten“, „Mischwesen“ und „Sakralkönigtum (§ 22)“ behandelt.
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Abb. 11: Drei Fibeln vom sogenannten jütländischen Typ, mit zahlreichen Tierfiguren, Tiermenschen sowie Maskendarstellungen in „Rundeln“ auf den Kopf- und Fußplatten. a Fibel aus Donzdorf, Kr. Göppingen; b Fibel aus Basel-Kleinhüningen; c Fibel aus Bifrons, Kent. Umzeichnungen nach Haseloff, Tierornamentik (wie Anm. 12) S. 42, 46 und 47. Ohne Maßstab (Originalhöhe der Donzdorf-Fibel 13 cm).
weitaus einfacher zu lesen, hier wird keine Figur so versteckt wie bei den eben genannten Fibeln. Trotzdem erfüllen auch ihre Darstellungen die Salinschen Kriterien des Tierstils. Die Brakteaten gehören als Amulette mit Götterbilddarstellungen in einen sakralen Bereich, wenn sie auch als Zeichen hohen Status getragen worden sind. Das gleiche gilt für die Goldhalskragen mit ihren ebenfalls gut erkennbaren Einzelbildern und später auch für die Goldblechfigürchen, den sogenannten gubber.62 Möglich, dass für solche Darstellungen der Götterwelt andere Regeln bezüglich der Bildgestaltung galten, als für die eher weltlich gesehenen Fibeln, oder dass auf den Fibeln gewisse Tabus die Bildauswahl beschränkten und das Verstecken bzw. „Ver62
Allgemein dazu Margrethe Watt, Artikel „Gubber“. In: RGA 13 (1999), S. 132– 142; Margrethe Watt, Die Goldblechfiguren (‚guldgubber‘) aus Sorte Muld. In: Der historische Horizont der Götterbild-Amulette aus der Übergangsepoche von der Spätantike zum Frühmittelalter. Bericht über das Colloquium vom 28.11.–1.12. 1988 in der Werner-Reimers-Stiftung, Bad Homburg, hrsg. von Karl Hauck (Göttingen 1992), S. 195–227.
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Abb. 12: Völkerwanderungszeitliche Goldbrakteaten. Die gezeigten Amulette des 5. und 6. Jahrhunderts repräsentieren die vier Typen A bis D, in die Goldbrakteaten anhand ihrer Motive unterschieden werden: a IK 254 Geltorf-A mit einem anthropomorphen Haupt im Profil; b IK 71 Raum Hamburg-B mit einer menschlichen Vollgestalt, hier mit Randtieren; c IK 37 Büstorf-C mit einem menschlichen Haupt über einem Vierbeiner und d IK 471 Nørre Hvam-D mit einem greifenartigen, in sich selbst verschlungenen Mischwesen. Fotos: Archäologisches Landesmuseum Schloss Gottorf.
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klausulieren“ der Bilder nötig machten.63 Jedenfalls lassen sich bei den Brakteaten die noch – oder wieder – römischen Darstellungen verpflichteten Chiffren und Motive erkennen. Viele ihrer Bilder gehen direkt auf römische Münzbilder zurück. Doch was im Gegensatz zu der klassischen Reliefkunst römischer Münzen regelrecht barbarisch anmutet und wenig gekonnt, wie dies ja auch als Manko von der älteren Forschung immer wieder betont worden ist, erweist sich bei näherer Betrachtung als Produkt einer sorgfältigen Analyse und Rezeption der römischen Bilderwelt unter Verwendung eigener Techniken, Ideen, Motiven, Chiffren und eben Darstellungsregeln. Eine solche Umgestaltung konnte nicht ohne ein tiefes Verständnis ihrer Vorbilder möglich sein. Sie setzt bei den Herstellern, den Konzeptionisten und Goldschmieden – in diesem Fall den sogenannten „Brakteatenmeistern“,64 ein hohes Maß an Wissen und Können voraus. Seien es Fibeln, Brakteaten oder sonstige Bildträger, es war nur mit Vorkenntnissen und Erfahrung möglich, diese sorgfältig komponierten Bilder richtig zu lesen und zu verstehen. Denn wenn damals auch die Menschen mit dem Tierstil vertraut waren, so setzen gerade die Kürzungen in Verbindung mit der Zerlegung in Komponenten Spezialwissen voraus. Viele Bilder fordern gleichsam die Betrachter zur Entwirrung und Entschlüsselung auf, sie spielen mit den komplizierten Regelvorgaben des Stils und mischen die Komponenten zu immer neuen und scheinbar individuellen Bilddarstellungen. In der schriftlosen Zeit war dies für die Betrachter solcher Bilder sicherlich nicht nur eine Art denksportlicher Herausforderung, sondern geradezu ein „intellektuelles Vergnügen“.65 Generell sind viele Bilder im Tierstil durch die Zerlegung der Figuren in Detailkomponenten, durch die Zersplitterung der Formen, durch Verflechtungen und Verstecken einzelner Elemente wie auch durch die symmetrische Gesamtkomposition der Bilddarstellungen nicht mehr auf Anhieb zu lesen. Darüber hinaus kennt der Tierstil viele verkürzte Darstellungen, bei denen nur einzelne Komponenten einer Figur abgebildet werden. Mit einer natural63 64
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Vgl. Pesch, Thema und Variation (wie Anm. 10), S. 385. Siehe dazu: Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit. Bd. 1,1 Einleitung, Bände 1,2–3,2 Ikonographischer Katalog. Münstersche Mittelalter Schriften 24,1,1–24,3,2, hrsg. von Karl Hauck, Morten Axboe, Klaus Düwel, Lutz E. von Padberg et al. Münstersche Mittelalter Schriften 24,1,1–24,3,2 (München 1985– 89), hier IK 1, Einleitung, S. 18; Sean Nowak, Schrift auf den Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit. Untersuchungen zu den Formen der Schriftzeichen und zu formalen und inhaltlichen Aspekten der Inschriften. Dissertation Göttingen, 2003, im Internet abrufbar unter: http://webdoc.sub.gwdg.de/diss/2003/nowak/index.html (letzter Zugang August 2011), siehe dort S. 23–29 mit weiterer Literatur. Ament, Tierornamentik (wie Anm. 41), S. 594.
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istischen Darstellung oder einem natürlichen organischen Zusammenhang hat dies nichts zu tun. Doch handelt es sich auch weder um einen Ausdruck der Unfähigkeit der Hersteller, noch um „freie Kunst“, wie dies im ersten Anschein auf heutige Betrachter wirken mag. Der so verspielt wirkende Tierstil ist alles andere als beliebig. Er tritt von Anfang an als durch und durch organisierte Erscheinung auf. Seine Regeln zu beherrschen, erforderte ein hohes Maß an Kenntnissen, die sich nicht jeder Hufschmied kurzfristig aneignen konnte. Spezialisten mit hoher Mehrfachqualifikation waren die Garanten der Tierstiltradition (dazu unten). Das Verbreitungsgebiet des Tierstils mit seiner Kernregion in Südskandinavien (vor allem in Dänemark und Südschweden), der Nordseeküstenregion und Südostengland, umfasste bereits im späten 5. Jahrhundert auch weite Teile von Norwegen und Finnland und reichte im kontinentalen Süden – wenn auch nicht flächendeckend – bis zum Donauraum.66 Im Tierstil sprechen die germanischen Völker in ihrer Bildkunst eine gemeinsame Sprache.67 Die Angehörigen der Eliten, welche die Objekte mit Tierstilbildern trugen und diese für ihre Repräsentation als Zeichen ihres hohen Status nutzten, korrespondierten gewissermaßen untereinander in der Bildersprache der Prunkobjekte. Damit fungierte die Tierornamentik auch als germanisches „Corporate design“.68 Dieser moderne Terminus meint ein Rahmenwerk aus vorgegebenen Formen, Motiven und Stilregeln zur Auswahl und Gestaltung von Bildern und Texten. Indem sich möglicherweise unterschiedliche, aber doch zusammengehörige Gruppen (heute beispielsweise grundsätzlich unabhängige Abteilungen einer großen Firma) solchen gemeinsamen Regeln unterwerfen, wirkt ein Corporate design nach außen als Selbstdarstellung einer zwar vielfältigen, aber geschlossenen agierenden Einheit, und darüber hinaus auch nach innen als Medium der Identifizierung. In ihrer sichtbaren Reglementiertheit ist die germanische Bildersprache als Ausdruck einer gemeinsamen Eliten-Identität zu verstehen.69 Generell sind ja Bilder identitätsstiftend 66
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Bitner-Wróblewska (wie Anm. 36); Margit Nagy, Tierdarstellungen und der germanische Tierstil I im Gebiet der mittleren Donau (Budapest 2007). – Haseloff (wie Anm. 12) unterschied mehrere Stufen im Stil I, die er mit A–D bezeichnete. Da diese aber nur als Varianten mit minimalen Unterschieden angesehen werden und grundsätzlich auch keine zeitliche Abfolge repräsentieren, sind sie hier zu vernachlässigen. Doch sei erwähnt, dass der Stil I insgesamt nicht nur ein höchst komplexes, sondern eben auch ein dynamisches System von Motiven, Chiffren und Detailkriterien darstellt. Noch lange sind nicht alle seine Randerscheinungen, Stilstufen, lokalen Besonderheiten und Inhalte erforscht. Vgl. Ament, Tierornamentik (wie Anm. 41), S. 587. Pesch, Thema und Variation (wie Anm. 10), S. 387 f. Vgl. Christoph Huth, Menschenbilder und Menschenbild. Anthropomorphe Bildwerke der frühen Eisenzeit (Berlin 2003), S. 11, S. 21, S. 25 f.
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und fungieren als verbindende Glieder von Gruppen.70 In der frühmittelalterlichen Germania des Nordens, wo neben dem Tierstil gleichzeitig keine anderen Bildersysteme entwickelt oder genutzt wurden und auch Schriften als Mittel der Kommunikation weitgehend fehlten, waren Bilder der wichtigste, authentische Ausdruck der allgemeinen Kultur, im Sinne von Weltanschauung, Religion und gesellschaftlicher Ordnung. Als Medien internationaler Elitenkommunikation spiegeln sie soziale Beziehungen. Gleichzeitig sind sie auch sichtbarer Ausdruck einer gemeinsamen ideologischen Basis der Gesellschaft. Über deren Größe wie auch ihre konkreten Inhalte lässt sich allerdings heute wenig sagen, was wiederum auch an dem immer wieder beklagten Fehlen erläuternder Schriftquellen liegt.
Tierstil II Im späten 6. Jahrhundert lässt sich eine neue Phase der Tierornamentik definieren: der „Tierstil II“.71 Die germanischen Darstellungen erscheinen in grundsätzlicher Weise verändert. Mit Bernhard Salin sind neue Detailkriterien gegenüber der älteren Stilphase zu benennen: Die Augeneinfassungen der Tierköpfe werden nun nicht mehr rundlich, sondern eckig bzw. rechtwinklig dargestellt, und die Tiere zeigen das charakteristische spitze Kinn (Abb. 13). Außerdem haben auch vierbeinige Tiere oft eine lange Schnauzenpartie, die eingerollt sein kann wie ein Raubvogelschnabel. Diese Detailkriterien sind, obwohl sie nicht wirklich bei jedem einzelnen Objekt auftreten, bei der Bestimmung nach wie vor hilfreich. Doch treten sie heute meistens hinter einer neuen Definition der Stilphasen zurück. Diese arbeitet mit dem Kompositionsprinzip des Gesamtbildes.72 Im Stil II werden Köpfe und andere Tierkomponenten nicht mehr rein additiv zusammengestellt, sondern in ein Bandgeflecht integriert. Dieses erscheint optisch ausgewogen, es ist als primäre Flächenfüllung symmetrisch angelegt. Die Tierkomponenten werden sekundär den Schlingungen des Bandgeflechtes zugeordnet, wobei diese oft die Körper der Tiere bilden.73 Egil Bakka beschrieb dieses Kompo70
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Heiko Steuer, in Beck, Steuer, Stil (wie Anm. 13), S. 14 ff.; Pesch, Thema und Variation (wie Anm. 10), S. 362–367; Charlotte Behr, Using bracteates as evidence for long-distance contacts. In: Incipient Globalisation? Long-distance contacts in the 6th century, hrsg. von Anthea Harris, British Archaeological Reports International Series, Reading Medieval Studies 32 (Oxford 2006), S. 15–25. Salin, Thieronamentik (wie Anm. 4), S. 245–271; vgl. Roth, Germanen (wie Anm. 36), S. 366. Greta Arwidsson, Vendelstile. Email und Glas im 7.–8. Jahrhundert. Valsgärdestudien 1 (Uppsala 1942); Haseloff, Kunststile (wie Anm. 44), S. 43 f.; Ament, Tierornamentik (wie Anm. 41), S. 590. Anthropomorphe Gestalten unterliegen auch im Stil II denselben Kriterien wie die Tiere.
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Abb. 13: Zusammenstellung verschiedener Tierköpfe im Stil II von Bernhard Salin. Als typisches Detailkriterium gilt das spitze Kinn. Erkennbar ist auch die Verlängerung der Augenumrandung nach vorne/oben oder hinten/unten. Nach Salin, Thierornamentik (wie Anm. 4), S. 246.
sitionsprinzip als ‚organisierten Rhythmus‘.74 Oft sind die Tiere dabei nur inkomplett gezeichnet, es fehlen Gliedmaßen an den langen, bandförmigen und verflochtenen Körpern. Generell wirken die Stil II-Bilder bewegter, dynamischer als die Vorfahren im Stil I. Flechtbandmotive hielten damit erstmals in großem Maße Einzug in die Germania. Doch liegen ihre Wurzeln wiederum in der antiken Bilderwelt. Als einfache und komplexe Formen waren sie in Antike und Frühmittelalter zum Beispiel an Bauwerken, auf Mosaiken oder Sarkophagen ausgesprochen beliebt. Sie wurden als unheilabwehrende und glückbringende Zeichen verwendet und versprachen Hilfe gegen Unfälle oder böse Mächte. Auch Knoten- und Schlingenmuster gehören in diesen Zusammenhang. Teils als „byzantinisch“ bezeichnet,75 teils auch als koptisches Element angesehen,76 74
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Egil Bakka, On the Beginning of Salin’s Stil I in England. Universitetet i Bergen, Årbok 1958, Historisk-antikvarisk rekke (Bergen 1958), hier S. 3; vgl. Roth, Germanen (wie Anm. 36), S. 366. Haseloff, Kunststile (wie Anm. 44), S. 38, S. 42 f. Wilhelm Holmqvist, Kunstprobleme der Merowingerzeit. Kungliga Vitterhets Historie och Antikvitetets Akademiens Handlingar 47 (Stockholm 1939).
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war die Flechtbandornamentik doch ein weit verbreitetes Phänomen, das vor allem im gesamten nördlichen und östlichen Mittelmeerraum auftrat. Auch im Rahmen der Missionierung Europas erfreute sie sich zu verschiedenen Zeiten großer Beliebtheit. Der Tierstil II erscheint als eine Synthese aus dieser spätantiken Ornamentik und dem Tierstil I. Wo auch immer der Anstoß zum Vollzug dieser Synthese gegeben wurde, etwa bei den Alemannen,77 die engeren Kontakt zum Süden hatten, oder im Norden, wo der Stil I initiiert worden war,78 praktisch gleichzeitig ist der neue Stil II überall anzutreffen. Damit muss auch seine Erfindung und Verbreitung wieder als gemeinsames Unternehmen zahlreicher germanischer Einheiten bzw. Werkstätten verstanden werden. Es war also im späten 6. und im 7. Jahrhundert mit dem Stil II ein neuer Konsens der Bildkunst erreicht, das neue germanische „Corporate design“ war umgesetzt worden. In jüngerer Zeit ist wieder die Diskussion nach dem ursprünglichen Inhalt der Stil II-Darstellungen aufgelebt. Die zahlreichen Anleihen aus der mediterranen, christlichen Bilderwelt und die Nutzung des Stils auch auf Objekten christlicher Bedeutung führten zu der Annahme, dass mit dem neuen Stil grundsätzlich auch christliche Inhalte verbunden gewesen seien.79 In der Tat tauchen vor allem im 7. Jahrhundert Tierstilbilder bei den bereits – mehr oder weniger – bekehrten Germanen des Südens auf, an Schmuck oder Waffen, sowie auch auf Objekten explizit christlichen Charakters wie den Goldblattkreuzen.80 Dazu gehören auch die vielzitierte Zierscheibe von Limons, auf der Christus im Kreuznimbus, umgeben von Tiermotiven im Stil II, dargestellt ist,81 sowie etwa die berühmte, aufklappbare Reliquienschnalle aus dem englischen Schiffsgrab von Sutton Hoo (vgl. Abb. 14).82 Ganz offensichtlich verwendeten die bekehrten Germanen des Südens Stil II-Motive und Bildchiffren im Dienste ihrer christlichen Vorstellungen. Doch muss dies heißen, dass Stil II als bewusster Gegenschlag zur 77
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So die gängige These, siehe etwa Haseloff, Kunststile (wie Anm. 44), S. 42 f.; Egon Wamers, Salins Stil II auf christlichen Gegenständen. Zur Ikonographie merowingerzeitlicher Kunst im 7. Jahrhundert. Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 2008, S. 33–72, hier S. 67 f. Wilhelm Holmqvist, Germanic Art During the First Millenium A.D. Kungliga Vitterhets Historie och Antikvitetets Akademiens Handlingar (Stockholm 1955). Birgit Arrhenius, Einige christliche Paraphrasen aus dem 6. Jahrhundert. In: Problem der Deutung (wie Anm. 37), S. 129–152; Wamers, Salins Stil II (wie Anm. 77). Horst Wolfgang Böhme, Goldblattkreuze. In: RGA 12 (1998), S. 312–318; Günther Haseloff, Goldbrakteaten – Goldblattkreuze. Neue Ausgrabungen und Forschungen in Niedersachsen 5, 1970, S. 24–39. Wamers, Salins Stil II (wie Anm. 77), S. 40 ff. Angela Evans, Gareth Williams, Artikel „Sutton Hoo“. In: RGA 30 (2005), S. 146–153.
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Abb. 14: Reliquiarschnalle aus dem Schiffsgrab von Sutton Hoo, Ostengland. Die aufklappbare, goldene Schnalle ist flächendeckend mit kunstvollen Tierbildern im Stil II geschmückt. Nach Rupert Leo Scott Bruce-Mitfort, The Sutton Hoo ShipBurial, Volume 2. Arms, Armour and Regalia (Cambridge 1978) Plate 20 a.
heidnischen Bilderwelt im Stil I erfunden worden sein muss, also im Sinne einer christlichen Propaganda zu verstehen wäre? Der neue Stil hat vor allem auch die älteren Tierstilkonventionen aufgenommen und fortgeführt. Darin drückt sich erneut das traditionelle, gemeinsame Elitenbewußtsein der Germania aus. Die synthetische Technik der Bildweltgestaltung, die ein typisches Merkmal aller germanischen Kunst vom Anfang bis ins Mittelalter hinein war und die bereits den Stil I als Synthese aus spätantiken Bildern und germanischen Vorstellungen hervorgebracht hat, ermöglichte auch die Integration verschiedener neuer Vorlagen in die Bildersprache. Diese vermochte sich dadurch nicht nur über geographisch weite Bereiche, sondern sogar über die Grenzen der Religionen hinweg durchzusetzen.83 Offenbar entfalteten die Bilder ihre Wirksamkeit konkurrenzlos in beiden verschiedenen Umgebungen. Dies bedeutet leider 83
Vgl. Karen Høilund-Nielsen, Animal Style – A Symbol of Might and Myth. Acta Archaeologica 69, 1998, S. 1–52.
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auch, dass nicht eindeutig zu unterscheiden ist, ob bestimmte Objekte – wie etwa die ursprünglich aus christlichem Umfeld stammenden Inventare des Sutton Hoo-Grabes – von den einstigen Besitzern christlich oder heidnisch verstanden worden sind, ob also der neue Glaube mitsamt dem Tierstil II tatsächlich auch schon den Westen und Norden erreicht hatte.84
Vendelstile Die Salinsche Untergliederung in drei Stilphasen wurde aufgrund ihrer relativen Schlichtheit, bei welcher lokale Ausprägungen, Werkstattkreise und ähnliches weitgehend unberücksichtigt bleiben, immer wieder in Frage gestellt und durch erweiterte oder veränderte Definitionen modifiziert. Doch ist sie bis heute grundsätzlich aktuell geblieben. Dabei machte Greta Arwidsson bereits 1942 einen anderen Vorschlag, bei dem Salins Stil II und Stil III (dazu unten) ersetzt werden durch die sogenannten „Vendelstile“ (Abb. 15). Hierbei werden fünf Stufen, Vendelstil A bis E, unterschieden.85 Mit der Untergliederung der Vendelstile wird die Kontinuität des Tierstils im Norden als Abfolge sich auseinander entwickelnder, teilweise auch zeitlich parallel auftretender Erscheinungen zwischen Völkerwanderungs- und Wikingerzeit betont und der besondere Anteil des Nordens an diesen Bildern gewürdigt. Auch lassen sich verschiedene Einflüsse und Vorbilder aus dem Süden und Westen genauer analysieren.86 Doch die konkrete Bestimmung bzw. Unterscheidung der Charakteristika der einzelnen Vendelstile ist wesentlich anspruchsvoller als die Erkennung der beiden relevanten Stufen Salins, denn die Definitionen bei Arwidsson sind ausgesprochen kurz gehalten. Die Arbeit mit ihnen gestaltet sich somit als schwierig. Daher ist es den „Vendelstilen“ in den meisten Schulen nicht gelungen, sich gegen die beiden Phasen Salins durchzusetzen, und sie werden gerade im deutschsprachigen Raum selten rezipiert.
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Vgl. allgemein Kurt Schäferdieck u.a., Artikel „Christentum der Bekehrungszeit“. In: RGA 4 (1981), S. 501–599; Torsten Capelle, Heidenchristen im Norden. Schriftenreihe des Landesmuseums für Natur und Mensch 38 (Mainz 2005). Arwidsson, Vendelstile (wie Anm. 72) 1942, besonders S. 18–21; später kam noch Stil F als sechste Stufe der Übergangszeit hinzu. Vgl. Arwidsson, Vendelstile (wie Anm. 72), S. 63–69, S. 100–105.
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Abb. 15: Große Fibel aus Gotland mit flächendeckenden Tierornamenten unterschiedlicher Prägung, 7. Jahrhundert. Nach Salin, Thierornamentik (wie Anm. 4) S. 284. Originallänge 16,7 cm.
Stil III, Tassilokelchstil und insulare Stile Im späten 7. Jahrhundert sind eine erneute Veränderung der grundsätzlichen Motivik und deren Komposition im Tierstil zu beobachten. Nicht nur metallische oder hölzerne Bildträger zeigen eine neue Stilphase, sondern auch Wand- und Buchmalerei sowie Steindenkmäler. Nach Salin sind die Köpfe der Tiere nun durch eine Augenumrahmung bezeichnet, die sich nach oben oder hinten teils stark verlängert und verselbständigt, bis sie schließlich einen Schopf bilden kann.87 „Niemals hat der Nordländer elegantere, um nicht zu sagen extravagantere Ornamente geschaffen, als während dieser Epoche“.88 Dabei sind oftmals kaum mehr die ursprünglichen Körperteile 87
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Salin, Thieronamentik (wie Anm. 4), S. 271–290; siehe auch Günther Haseloff, Die Kunst der insularen Mission auf dem Kontinent, in: Helmut Roth, Kunst der Völkerwanderungszeit. Propyläen Kunstgeschichte, Supplementbände IV (Frankfurt u.a. 1979), S. 85–92; Egil Bakka, Westeuropäische und nordische Tierornamentik des 8. Jahrhunderts im überregionalen Stil III. Studien zur Sachsenforschung 4, 1983, S. 1–56; Egon Wamers, Zwischen Salzburg und Oseberg. Zu Ursprung und Ikonographie des nordischen Greiftierstils. In: Völker an Nord- und Ostsee und die Franken, Akten des 48. Sachsensymposiums in Mannheim vom 7. bis 11. September 1997, hrsg. von Uta von Freeden et al. (Bonn 1999), S. 195– 228; Volker Bierbrauer, Kontinentaler und insularer Tierstil im Kunsthandwerk des 8. Jahrhunderts. In: Tiere – Menschen – Götter. Wikingerzeitliche Kunststile und ihre neuzeitliche Rezeption, hrsg. von Michael Müller-Wille und Lars Olof Larsson (Göttingen 2001), S. 63–87. Salin, Thieronamentik (wie Anm. 4), S. 271.
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der Tiere erkennbar und teilweise etwa Köpfe und Füße schwerer zu unterscheiden. Doch es gibt auch Tierfiguren, die gegenüber ihren langgestreckten Bandgeflecht-„Ahnen“ im Stil II wieder figürlicher, körperhafter gestaltet und besser erkennbar sind. Insgesamt werden die vielfältigen Tierfiguren variantenreich ausgeführt. Weil daher Stil III weniger klar per Definition zu erfassen ist als seine Vorgänger und sich auch deutliche lokale Unterschiede bemerkbar machen, ist die Benennung dieser Stilphase nicht mehr einheitlich akzeptiert und wird in neueren Publikationen oft ganz aufgegeben.89 Stattdessen wird dieser neue Stil häufig als „Tassilostil“ bezeichnet, nach seinem berühmtesten Bildträgerobjekt.90 Der Tassilokelch, ein im Jahre 777 dem Kloster Kremsmünster gespendeter Abendmahlskelch (vgl. Abb. 16), vereinigt Flechtbänder und Tierfigurfelder mit Christusdarstellungen, die in byzantinischer Tradition stehen. Hier sind die Tiere in dünne, aus den Schwänzen entwickelte Fadengeflechte eingebunden. Typisch für diesen Stil sind auch symmetrisch bzw. heraldisch angeordnete Tiere und Pflanzen, die als Paradiesdarstellungen gelten. Dabei gruppieren sich die Tiere etwa um den Lebensbaum bzw. Lebensbrunnen. oder sie klettern in paradiesischen Ranken.91 Der in dieser Weise ausgeprägte Stil erlebte eine Blüte im kontinentalen Frankenreich und wurde nicht nur für Spitzenprodukte liturgischer Bestimmung verwendet, sondern auch für kleine metallische Objekte wie Schwertriemenbeschläge aus Buntmetall. Immer sind die schlanken Tiere kombiniert mit Ranken, oft auch mit floralen Elementen. Grundsätzlich haben auch solche Chiffren ihren Ursprung in der Antike. Mit der byzantinisch-mediterranen Ikonographie des spätantiken bzw. frühmittelalterlichen Christentums gelangten sie nach Mitteleuropa.92 In den großen Klosterwerkstätten vor allem in Irland und England, die mit der Buchmalerei wie auch der dekorativen Gestaltung liturgischer Geräte oder anderer Preziosen neue internationale Standards höchster Güte schufen, geschah ihre Vereinigung mit älteren Elementen des Tierstils. Schon vorher hatten dort Aspekte keltischer Kunst Einzug in die dortige christliche Bildkunst gefunden. Damit präsentiert sich der neue Stil in der althergebrachten Weise als Synthese aus verschiedenen Wurzeln. Er wird auch als „insularer 89
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Vgl. Capelle, Die jüngeren Kunststile (wie Anm. 25), S. 368 f.; Ament, Tierornamentik (wie Anm. 41), S. 594 f. Egon Wamers, Artikel „Tassilo-Kelch“. In: RGA 30 (2005), S. 293 f.; vgl. Bierbrauer, Tierstil (wie Anm. 87), S. 89 f. Helmut Roth, Christentum der Bekehrungszeit (wie Anm. 84), S. 592 f.; vgl. allgemein Victor H. Elbern, Fructus Operis. Kunstgeschichtliche Aufsätze aus fünf Jahrzehnten, hrsg. von Piotr Skubiszewski (Regensburg 1998), S. 182–200 und passim; Wamers, Oseberg (wie Anm. 87), S. 223. Vgl. Holmqvist, Kunstprobleme (wie Anm. 76).
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Abb. 16: Tassilo-Kelch aus Kremsmünster, Bayern. Der prachtvoll durch partielle Versilberungen, Vergoldungen, Niello und Glaseinlagen farblich akzentuierte Abendmahlskelch ist auf der Kuppa mit Darstellungen der vier Evangelisten bzw. Christus geschmückt, die von architektonisch gliedernden Flechtbändern, Ranken und Zwickel-Tierfiguren im Stil III umgeben sind. Nach Wilfried Menghin, Frühgeschichte Bayerns (Stuttgart 1990) Farbtafel 68. Originalhöhe 27 cm.
Stil“ bezeichnet,93 was allerdings die Tatsache verschleiert, dass er gerade im kontinentalen Frankenreich zu höchster Blüte gelangte. Ob dies ursächlich mit der angelsächsischen Mission auf dem Kontinent zu erklären ist94 oder mit einem gleichzeitig gepflegten, gemeinsamen Verständnis der Kunst, ist zu diskutieren. Wie mehrfach betont, fand der Stil vor allem in den ehemals germanischen Gebieten des karolingischen Reiches Verwendung.95 Dies ist bemerkenswert, zeigt es doch, dass es sich offenbar grund93
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Vgl. Katharina Bierbrauer, Insulares in der kontinentalen Buchmalerei des 8. Jahrhunderts. In: Tiere – Menschen – Götter (wie Anm. 90), S. 63–87; Uta Roth, Insulare Tierstile, Entwicklungsgeschichtliche Aspekte. Hikuin 29, 2002, S. 219–242. Haseloff (wie Anm. 87); Bakka, Tierornamentik (wie Anm. 87); Bierbrauer, Tierstil (wie Anm. 90). Bakka, Tierornamentik (wie Anm. 87), S. 8 ff.; Egon Wamers, Insular Art in Carolingian Europe: the Reception of Old Ideas in a New Empire. In: The Age of Mi-
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sätzlich immer noch um eine von den germanischen Eliten über alle politischen und religiösen Grenzen hinweg verwendete Bildersprache handelte und weniger um eine primär christliche Kunst, die sich vom Süden und Westen in den Norden verbreitete.96 War die Unterscheidung zwischen Bildträgern mit christlicher Symbolik und solchen mit heidnischen Inhalten schon im Stil II schwierig, so scheinen im Stil III die Grenzen völlig zu verschwimmen. Flechtbänder spielen immer noch eine große Rolle. In der Buchmalerei waren sie schon seit der Stil II-Zeit eingeführt worden, wie das um 680 entstandene Book of Durrow (vgl. Abb. 17 und 18) zeigt, und in der Folge gelangten sie vor allem auch in der Kunst der Initialen zu vollendeter Form (so etwa im berühmten Book of Kells, ca. 750–800).97 In gleicher Weise erscheinen sie in der zeitgenössischen Wandmalerei, etwa in Sakralbauten, wie sie die karolingische Kirche von Mals in Norditalien überliefert hat.98 Doch viele der monumentalen gotländischen Bildsteine des 8. Jahrhunderts zeigen identische Flechtbänder um ihre Bildflächen.99 Diese Bildsteine gelten als wichtiger Ausdruck des heidnischen Glaubens, als Zeichen der heidnischen Glaubens- und Bilderwelt.100 Leider ist heute das erste Aufkommen solcher Ornamentik nicht mehr genau nachzuvollziehen, und so sind auch Urheber und Nachahmer nicht zu benennen. Doch weder ist ein Einfluss der Klosterwerkstätten auf den heidnischen Norden erwiesen, noch erscheint allein der umgekehrte Weg unmittelbar einleuchtend. Die Erklärung liegt wohl darin, dass in beiden Bereichen noch dieselben Bildtraditionen wirksam waren und sich diese verschiedenen Ideen unterordnen ließen. Ältere Produkte höchster Qualität, wie etwa die Stil II-Schnalle (vgl. Abb. 14) aus dem Grab von Sutton Hoo (um 625), zeugen davon, dass es beispielsweise in England eine lange Tradition der
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grating Ideas, Early Medieval Art in Northern Britain and Irland, hrsg. von R. M. Spearman und J. Higgit (Edinburgh/Gloucestershire/Dover [USA]), S. 35–44; Ament, Tierornamentik (wie Anm. 41), S. 595. Anders Wamers, Salins Stil II (wie Anm. 77). David M. Wilson, Artikel „Durrow.“ In: RGA 6 (1986), S. 295 f.; Uta Roth, Artikel „Irische Kunst“. In: RGA 15 (2000), S. 487–491; Wilson, Tierornamentik (wie Anm. 47), S. 599–603; Otto Pächt, Buchmalerei des Mittelalters (München, 3. Aufl.1989). Elisabeth Rüber, Sankt Benedikt in Mals (Bozen 1992), siehe besonders Abb. 32 f. Wilhelm Holmqvist, Artikel „Bilddenkmäler, § 6 Bildsteine“. In: RGA 2 (1974), S. 561–570. – Ebenso zeigen die großen Prachtfibeln der Vendelzeit diese Flechtbänder. Erik Nylén, Jan Peder Lamm, Bildsteine auf Gotland (Neumünster, 2. Aufl. 1991), besonders S. 13–16.
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Abb. 17: Ornament aus dem um 680 entstandenen Book of Durrow mit vier kunstvoll verflochtenen Tieren. Nach Salin, Thierornamentik (wie Anm. 4), S. 341.
Abb. 18: Johannes-Löwe mit Flechtbandrahmung aus dem Book of Durrow, um 680, einem der frühesten Werke insularer Tierstilkunst. Nach Pächt, Buchmalerei (wie Anm. 97), Ausschnitt aus Farbtafel II.
hochspezialisierten Werkstätten gegeben hat. Kontinuierlich wurden hier Spitzenprodukte des Tierstils von der Völkerwanderungszeit bis ins Mittelalter angefertigt, und dies im ständigen Austausch mit anderen Werkstätten in Skandinavien und auf dem Kontinent. Es handelt sich also nicht um eingewanderte Handwerksbetriebe aus dem Süden oder gar aus Byzanz, die für die Herstellung etwa metallischer Prunkobjekte, liturgischen Geräts und der Prachthandschriften verantwortlich waren, sondern es sind weiterhin die alteingesessenen Werkstätten, die hier lediglich wieder neue Impulse zur Herstellung neuartiger Objekte und Ornamente aufnehmen und damit ihre alten
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synthetischen Traditionen kunstfertig fortführen. Offenbar galten für sie eigene Regeln. Diese wurden in einem gewissen Konsens aller Werkstätten bzw. der sie bezahlenden Eliten entwickelt und verfolgt, so dass auch der Stil III wieder im Großen und Ganzen als ein gemeinsames Unternehmen der Germania erscheint. Die motivischen und technischen Traditionen der Hersteller flossen ein in alle Bildkunst, seien sie nun im Rahmen christlicher oder heidnischer Kultur entstanden. So war die Plattform der Bildersprache den germanischen Eliten als Ausdruck ihrer gemeinsamen Traditionen und Werte, als bildhaftes Kommunikationsmittel untereinander, wichtiger als die religiösen und politischen Unterschiede zwischen ihnen. Über die karolingische Kunst wurde der alte Tierstil schließlich zu einer Wurzel der mittelalterlichen Kunst des Abendlandes.
Die wikingischen Tierstile Mit den Phänomenen um Stil III, die auf dem Kontinent und in England in die romanische Epoche überleiteten, war der denkwürdige Mischhorizont der Bildkunst des germanischen Spätheidentums noch nicht abgeschlossen. Denn vom 8.–11. Jahrhundert entstanden in den letzten germanischen Gebieten, die noch nicht zum neuen Glauben konvertiert waren, wieder mehrere neue Stilstufen. Diese wikingerzeitlichen Tierstile Skandinaviens, auf zahlreichen Denkmälern aus Holz, Metall und Stein überliefert, führen in vieler Hinsicht die Traditionen der älteren Tierstile fort.101 Sie lassen sich besser als die Stufen in Stil I bis III nicht nur als zeitliche, mehr oder weniger aufeinander folgende Erscheinungen erfassen, sondern sie sind als differenziertes System teils gleichzeitiger, teils aufeinander folgender Ausprägungen desselben Kunstverständnisses zu sehen.102 So wurde von Anfang an hier von verschiedenen, oft parallel arbeitenden Werkstätten mit gemeinsamen Traditionen, aber auch eigenen Charakteristiken ausgegangen – ohne dass diese bisher genauer zu lokalisieren wären. 101
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Dazu allgemein David M. Wilson, Artikel „Wikinger § 3 Kunst“. In: RGA 34 (2007), S. 64–72; David M. Wilson, Ole Klindt-Jensen, Viking Art (London 1966); Lennart Karlsson, Nordisk Form, om djurornamentik. The Museum of National Antiquities, Stockholm, Studies 3 (Stockholm 1983), hier S. 30–91; Signe Horn Fuglesang, Kunst. In: Wikinger Waräger Normannen, die Skandinavier und Europa 800–1200. Katalog (Paris u.a. 1992), S. 176–183; Capelle, Die jüngeren Kunststile (wie Anm. 25); Michael Müller-Wille, Tierstile des 8.-12. Jahrhunderts im Norden Europas. Dendrochronologische und kunsthistorische Einordnung. In: Tiere – Menschen – Götter (wie Anm. 90), S. 215–250; Wamers, Oseberg (wie Anm. 87). Zu den unterschiedlichen Datierungsansätzen Müller-Wille, Tierstile (wie Anm. 101), S. 215–250.
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Typisch für die frühe Zeit um 800 (teils noch als Vendelstil E betrachtet) und bis ins 10. Jahrhundert ist im Broa- und Berdal- sowie im Oseberg- und Borrestil das Motiv des „Greiftieres“: Es ist ein zoologisch kaum bestimmbares Wesen, das mit seinen handartigen Pfoten seine eigenen Gliedmaßen oder die anderer Tiere bzw. Ranken umfaßt (vgl. Abb. 19).103 Die kleinen Tiere schlingen und kringeln sich, so dass sie trotz ihrer häufigen Unterwerfung unter geometrische Formgefüge oder ihre Zerlegung in mehrere Teile, dynamisch und belebt, ja brodelnd wirken. Die Tiere haben kleine, nach oben stehende Ohren und zeigen ihre leicht dreieckigen Köpfe en face. In den etwas jüngeren Jelling- und Mammenstilen, die teilweise parallel in das späte 9. und 10. Jahrhundert gehören, tritt dieses Phänomen wieder zurück, die Tiere werden im Profil und in Ranken und Bänder geflochten dargestellt und haben langgezogene Bandleiber mit Schraffurfüllungen. Der elegante Urnesstil des 11. Jahrhunderts schließlich beendet, gemeinsam mit dem Ringerikestil Norwegens und dem Runensteinstil, der hauptsächlich in Schweden auf mit Schriftbändern und Tierfiguren geschmückten Gedenksteinen auftritt, die germanische Tradition der Tierornamentik. In vielen Fällen handelt es sich bereits um christliche Denkmäler. Hier vollzieht sich also endgültig der Übergang zur christlichen Gesellschaft des Mittelalters, die dann in der Romanik und später der Gotik ihren neuen, internationalen Ausdruck findet.104 Weiterhin wurden bei der Entwicklung der wikingischen Tierstile Bilder der Nachbarkulturen analysiert und teilweise in die Bildersprache integriert.105 Die Ähnlichkeiten zwischen den Greiftieren und manchen der Wesen, die z.B. auf kontinentalen und insularen Reliquienschreinen, etwa dem sogenannten Runenkästchen von Gandersheim, im Rankenwerk des christlichen Lebensbaums klettern, sind unverkennbar.106 So wird nach wie 103
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Heiko Steuer wies in seinem Beitrag: Zur Herleitung des nordischen Greiftierstils. In: Studien zum Altgermanischen, Festschrift für Heinrich Beck, hrsg. von Heiko Uecker. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 11 (Berlin, New York 1994), S. 648–676, auf die Möglichkeit hin, dass die Beobachtung von Hauskatzen die Darstellungen der Greiftiere beeinflusst haben könnten. Dagegen Wamers, Oseberg (wie Anm. 87), S. 195 ff. – Siehe auch Michael Müller-Wille, Bild und Bildträger. In: Problem der Deutung (wie Anm. 37), S. 153–174; Michaela Helmbrecht, Die Greiftiere auf dem Lindauer Buchdeckel – Bemerkungen zu skandinavischem Tierstil in Süddeutschland. In: Cum grano salis, Beiträge zur europäischen Vor- und Frühgeschichte. Festschrift für Volker Bierbrauer, hrsg. von Bernd Päffgen, Ernst Pohl, Michael Schmauder (Friedberg 2005), S. 209–218. Vgl. Fuglesang, Kunst (wie Anm. 101), S. 182. Vgl. Wilson, Wikinger (wie Anm. 101), S. 64. Vgl. Victor H. Elbern, Das Gandersheimer Runenkästchen – Versuch einer ikono-
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Abb. 19: Tierkopfpfosten aus dem norwegischen Schiffsgrab von Oseberg, Vestfold, mit Schnitzereien im Greiftierstil. Die farbige Skizze fertigte Gabriel Gustafson, der Ausgräber, zur besseren Unterscheidung der einzelnen Tiere. Nach Arne Emil Christensen, Anne Stine Ingstad und Bjørn Myhre, Oseberg Dronningens Grav, Vår arkeologiske Nationalskatt i nytt lys (Oslo 1992), S. 103.
vor Herkunft und Bedeutung vieler bildtragender Objekte dieser Zeit diskutiert, und immer noch sind Urheber bzw. Erfinder und Rezipienten nicht eindeutig voneinander zu trennen. Noch im Hochmittelalter wurden im Norden ältere, ehemals heidnische Vorstellungen im Dienst des Christentums in die romanische Bilderwelt integriert, wie etwa die Sigurddarstellungen an der Stabkirche von Hylestad belegen.107 Gleichzeitig wurden die alten, offenbar mündlich tradierten Überlieferungen des Spätheidentums von den christlichen Schreibern in das Umfeld des neuen Glaubens übertragen.
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graphischen Synthese. In: Fructus Operis (wie Anm. 91), S. 42–52; allgemein auch Helmbrecht, Greiftiere (wie Anm. 103). Klaus Düwel, Artikel „Sigurddarstellung“. In: RGA 28 (2005), S. 412–423, hier S. 417 f.; allgemein auch Agnethe Berentsen Harket, Signe Horn Fuglesang, Romanesque Animal Ornament. In: Tiere – Menschen – Götter (wie Anm. 90), S. 195–213.
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Tierstilmeister und Zentralorte Die Tierornamentik stellt sich dar als differenziertes System aus im einzelnen definierbaren Stilphasen, Ausprägungen und Motivkomplexen. Diese gehören doch alle einem gemeinsamen, sich weiterentwickelnden System an. Gleichzeitig kann sie auch betrachtet werden als Variation einer allgemeinen europäischen Bildersprache des ersten Jahrtausends (vgl. Abb. 21). Diese hatte in der Germania einen Seitenarm ausgebildet, der auf der Basis von antiker bzw. spätantiker Ikonographie als temporäre Parallelerscheinung existierte und dabei im Laufe ihrer Entwicklung immer wieder Anregungen aus gleichzeitigen Bildsystemen des Südens und Westens schöpfte. Im Gegenzug flossen auch Anregungen aus der germanischen Tierornamentik in die gleichzeitigen christlichen Bilderwelten ein. In allen Stilphasen wurden die Bildträger nicht an einem einzigen Ort zentral hergestellt und von dort aus verbreitet. Vielmehr waren Menschen in jeweils verschiedenen Orten in der Lage, die Motive, Formen und Stilkriterien der Tierornamentik durch kopiale Herstellungsprozesse zu beleben und sie in immer neue Regionen weiterzuvermitteln. Dafür zeugen nicht nur Beobachtungen technischer Unterschiede als Indizien für lokale Herstellung, sondern auch Variationen in den Motiven und deren konkreter Umsetzung an jedem einzelnen Werkstück.108 Doch bei weitem nicht jeder war zur Herstellung von Tierstilobjekten in der Lage. Schon frühe Forscher hatten die Tatsache erkannt, dass sowohl die generelle Ausbildung der typischen Gesetzmäßigkeiten der Tierornamentik, als auch deren überraschend weite Verbreitung von weit mehr Planung, Organisation, Kenntnis und Geisteskraft zeugen,109 als dies bei einer „Volkskunst“110 der Fall gewesen wäre. Um Tierstilbilder verständlich kopieren und auf wertvollen Objekten aus Metall oder Holz anbringen und sie im Rahmen der Regeln des Stils variieren, neu entwickeln und konzipieren zu können, war ein hoher Wissensstand des Herstellers nötig. Er muss sowohl über sehr gute theoretische Kenntnisse verfügt haben, damit die zugrundeliegenden Kontexte korrekt in Bilder umgesetzt werden konnten, wie auch über hervorragende handwerkliche Fertigkeiten und Erfahrungen. Wer sich mit der Aufbereitung und Verarbeitung 108
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Vgl. auch Morten Axboe, The Scandinavian Gold Bracteates. Acta Archaeologica (København) 52, 1981, S. 1–100, hier S. 39 f., S. 46 ff.; Morten Axboe, Brakteatstudier (wie Anm. 33), S. 15, S. 77–91; Nancy Wicker, On the Trail of the Elusive Goldsmith: Tracing Individual Style and Workshop Charakteristics in Migration Period Metalwork. Gesta 33/1, 1994, S. 65–70, hier S. 67 f., S. 69, S. 98, S. 258. Siehe etwa Jens J. A. Worsaae, Om Forestillingerne paa Guldbracteaterne. Et Tydningsforsøg. Aarbøger for Nordisk Oldkyndighed og Historie 1870, S. 382–419. Sophus Müller, Nordische Altertumskunde 2: Eisenzeit (Straßburg 1898), S. 201.
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unterschiedlicher Metalle, der Herstellung verschiedener Legierungen, der Nutzung ihrer jeweiligen Eigenschaften und der Prozesse ihrer Vereinigung durch Lote, Kleber und Schmelzprozesse auskannte und zusätzlich die Formenkunde seiner Zeit, vielleicht sogar die Runen, meisterlich beherrschte, der darf ohne Frage als hochgebildeter Mehrfachspezialist bezeichnet werden. Zweifellos war er Angehöriger der Eliten.111 Doch diese „Tierstilmeister“112 selbst lassen sich nur noch anhand ihrer Produkte nachweisen. Sie sind sämtlich anonym. Leider ist eine solche Person konkret weder in Textquellen, noch in Herstellermarkierungen oder einem Grab auszumachen. Für die schnelle und sichere Verbreitung von Bildern und Bildträgern waren nicht nur qualifizierte Menschen mit hervorragenden Kontakten untereinander nötig,113 sondern auch Orte, an denen die Herstellung möglich war. Es muss Werkstätten gegeben haben, welche die technischen Voraussetzungen für die Vorbereitung, Bearbeitung und Herstellung von Edelmetallobjekten boten. Komplexe Arbeitsfolgen der Bearbeitung von Bunt- und Edelmetall und der Herstellung hoch qualitätvoller Objekte lassen sich nicht ohne weiteres an jedem beliebigen Herd- oder Schmiedefeuer durchführen.114 Auch entsprechendes Werkzeug muss zur Verfügung stehen; die gro111
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Allgemein zur Position der Handwerker Jochem Wolters, Artikel „Goldschmied, Goldschmiedekunst“. In: RGA 12 (1998), S. 362–386, hier S. 363 ff. mit weiterer Literatur; Barbara Regine Armbruster et al., Artikel „Schmied, Schmiedehandwerk, Schmiedewerkzeuge“. In: RGA 37 (2004), S. 194–213; Alexandra Pesch, Artikel „Wieland § 1. Person“. In: RGA 33 (2006), S. 604–608, hier S. 606 ff.; Joachim Werner, Zur Verbreitung frühgeschichtlicher Metallarbeiten. Antikvarisk Arkiv 38, 1970, S. 65–81; Capelle, Handwerker (wie Anm. 56); Torsten Capelle, Zu den Arbeitsbedingungen von Feinschmieden im Barbaricum. In: Archäologische Beiträge zur Geschichte Westfalens, Festschrift für Klaus Günther (Rahden/Westf. 1997), S. 195–198; Wicker, Goldsmith (wie Anm. 108); Nancy Wicker, Production Areas and Workshops for the Manufacture of Bracteates. In: Runeninschriften als Quellen (wie Anm. 15), S. 253–267; Nancy Wicker, The Organisazion of Crafts Production and the Social Status of the Migration Period Goldsmith. In: The Archaeology of Gudme and Lundeborg, Papers presented at a Conference at Svendborg, October 1991, hrsg. von Per O. Nielsen, Klaus Randsborg und Henrik Thrane (København 1994), S. 145–150; Birgit Arrhenius, Why the King needed his own Goldsmith. Laborativ Arkeologi 10–11, 1998, S. 109–111; Claus von Carnap-Bornheim, The Social Position of the Germanic Goldsmith A. D. 0–500. In: Roman Gold (wie Anm. 29), S. 263–278. Der Begriff wird hier analog zu den eingeführten Termini „Runenmeister“ und „Brakteatenmeister“ verwendet. Vgl. für die kaiserzeitlichen Waffenhersteller Claus von Carnap-Bornheim, Nithijo (wie Anm. 29), S. 53. Allgemein Barbara Armbruster, Traditionelle Goldschmiedehandwerk in Westafrika und bronzezeitliche Metallverarbeitung in Europa. Technologien im ethnoar-
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ben, archäologisch gut belegten Zangen eines Hufschmiedes reichen bei weitem nicht aus. Leider ist es bisher nicht gelungen, auch nur eine einzige dieser Spezialwerkstätten oder das dazugehörige Feinwerkzeug zu ergraben – auch das gehört zu den Rätseln der germanischen Eisenzeit.115 Erst mit den großen Klosterwerkstätten des christlichen Mittelalters sind vergleichbare Institutionen bekannt. Diese bieten auch das Muster zum Verständnis der älteren Werkstätten.116 Denn in ihnen arbeiteten nicht nur Spezialisten verschiedenen Schwerpunktes nebeneinander und zusammen, sondern sie waren auch für die Ausbildung den Nachwuchses verantwortlich. Dies ging von der Vermittlung der ideologischen Basis allen Kunstschaffens bis hin zur konkreten handwerklichen Ausbildung. Dabei lassen sich Schulen unterschiedlichen Qualitätsstandards unterscheiden, Ausstrahlungskraft und Produktivität waren nicht immer gleich. Doch letztlich unterlagen alle Werkstätten – unabhängig von ihrer Ausstattung und Bedeutung – denselben ideologischen und stilkundlichen Grundregeln. Kommunikation und Wissenstransfer zwischen den Stätten waren beispielsweise dadurch gewährleistet, dass nicht nur Schüler, sondern auch die Meister den Ort wechseln konnten oder dass sie zeitweilig ihr Wirkungsfeld an eine andere Stätte verlegten. Große Fest-, Markt- oder Thingtage mögen ebenfalls Foren des regelmäßigen Austausches gewesen sein. Keinesfalls aber kann die alte These, nach der in der Germania lediglich Wanderhandwerker von Ort zu Ort zogen und für die Verbreitung der Tierstilobjekte sorgten, aufrechterhalten werden.117 Als Standorte der großen germanischen Werkstätten kommen vor allem die sogenannten Zentralplätze in Frage. Dort waren einerseits der militärische Schutz, den die Arbeit mit Edelmetall benötigt, vorhanden, wie auch andererseits die „Auftraggeber und Kunden“, die letztlich die Produkte nutzten. Obwohl die Erforschung einiger Zentralplätze in den letzten Jahren
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chäologischen Vergleich. Beiträge zur Allgemeinen und Vergleichenden Archäologie 15, 1995, S. 111–120; demnächst genauer dazu Fecht, in: Pesch et al. Goldhalskragen (wie Anm. 54). Lediglich Indizien wie Werkstattabfälle, Halbfabrikate oder Edelmetalldepots sind nachzuweisen. Vgl. Capelle, Die jüngeren Kunststile (wie Anm. 25), S. 372; siehe auch Hayo Vierck, Werke des Eligius. In: Studien zur vor- und frühgeschichtlichen Archäologie, Festschrift für Joachim Werner, hrsg. von Georg Kossack und Günter Ulbert. Münchener Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte (München 1974), S. 309–381. Natürlich besteht durchaus die Möglichkeit, dass „Auszubildende“, „Novizen“ oder „Lehrlinge“ der festen Werkstätten an verschiedenen Orten lernten oder dass „Meister“ auch zeitweise an fremden Stätten wirken konnten. Es versteht sich von selbst, dass unser heutiges Vokabular sich nicht auf die Frühgeschichte übertragen lässt und nur als nähere oder weitere Analogie zu verstehen ist.
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deutlich vorangekommen ist, fehlen noch viele Informationen zu diesen Stätten, und sicherlich sind bisher nur wenige lokalisiert und gründlich genug erforscht. Der wohl berühmteste Zentralort liegt auf der dänischen Insel Fünen: Gudme/Lundeborg wird auch in der Diskussion um einen Ursprungsort des Tierstils genannt.118 In diesem seit vielen Jahren ausführlich erforschten Siedlungskomplex hatte sich im Laufe der späten Kaiserzeit ein Reichtumszentrum etabliert, dessen herrscherliche Hallenbauten und reiche Schatzfunde von seiner überregionalen politischen und wirtschaftlichen Bedeutung bis in die Vendelzeit und darüber hinaus zeugen. Außerdem illustrieren unterschiedliche Fundgattungen die weitreichenden Verbindungen Gudmes. Es ist also in der Tat denkbar, dass die politischen, militärischen und sakralen Eliten dieses Zentrums mit ihrer Qualitätswerkstatt bei der Entwicklung des Tierstils eine Rolle gespielt haben. Doch wenn die germanische Gesellschaft nach wie vor als relativ unstrukturiert gilt, als politisch weitgehend ungegliedert oder nur kleinräumig organisiert, warum sollten ihre losen Gruppen ohne politischen Zusammenhang bzw. kleinen Gefolgschaften unter wechselnden, oft konkurrierenden Anführern sich in einem so wichtigen Bereich wie der Kunst, dem Medium ihrer Repräsentation, einem gemeinsamen Regelwerk bedient und sich in intensivem Austausch mit den anderen an der Entwicklung und Verbreitung derselben Bildkunst beteiligt haben? Uner118
Henrik Thrane, Marie Stoklund, Artikel „Gudme“. In: RGA 13 (1999), S. 142– 149; The Archaeology of Gudme (wie Anm. 111); Henrik Thrane, Das Reichtumszentrum Gudme in der Völkerwanderungszeit Fünens. In: Historischer Horizont (wie Anm. 62), S. 299–380: Henrik Thrane, Guldrige Gudme i folkevandringstiden – efter 20 års forskning. In: Kult, Guld och Makt. Ett tvärvetenskapligt symposium I Götene, hrsg. von I. Nordgren. Serie B: Vetenskapliga rapporter och småskrifter No. 4 (Göteborg 2006), S. 258–271; siehe auch Karl Hauck, Gudme in der Sicht der Brakteatenforschung. Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, XXXVI. Frühmittelalterliche Studien 21, 1987, S. 147–181; Karl Hauck, Gudme als Kultort und seine Rolle beim Austausch von Bildformularen der Goldbrakteaten. Zur Ikonologie der Goldbrakteaten L. In: The Archaeology of Gudme (wie Anm. 111), S. 78– 88; Karl Hauck, Der Kollierfund vom fünischen Gudme und das Mythenwissen skandinavischer Führungsschichten in der Mitte des Ersten Jahrtausends. Mit zwei runologischen Beiträgen von Wilhelm Heizmann. Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, LV. In: Die Franken und die Alemannen bis zur „Schlacht bei Zülpich“ (496– 97), hrsg. von Dieter Geuenich. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 19 (Berlin, New York 1998), S. 489–544; Karl Hauck, Zur religionsgeschichtlichen Auswertung von Bildchiffren und Runen der völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten. Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, LVI. In: Runeninschriften als Quelle (wie Anm. 15), S. 298–353; Karl Hauck, Die runenkundigen Erfinder von den Bildchiffren der Goldbrakteaten. Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, LVII. Frühmittelalterliche Studien 32, 1998, S. 28–56.
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klärt wäre dabei ebenfalls, wie einer der Zentralorte seine Bildkunst und damit seine Macht so erfolgreich international durchsetzen konnte, dass ihm die Verbreitung dieser Bilder unter Verdrängung aller anderen denkbaren Bilderstile gelingen konnte. Eine solche Oberhoheit Gudmes über andere Orte lässt sich auch mit Tierstilobjekten nicht nachweisen. Die Stücke stammen eben nicht alle von dort. Auch erscheint die Bildkunst insgesamt nicht vollständig kanonisiert, gerade die Variation, geprägt auch von lokalen Anpassungen und Besonderheiten, gehört ja zu ihren Eigenarten. Die Tatsache der schnellen und weiten Verbreitung des Tierstils und vor allem auch seine kleineren und größeren motivischen Variationen, an fast jedem Objekt erkennbar, zeugen vielmehr von der Tierstilentwicklung als einem gemeinsamen Unternehmen. Nicht eine Werkstatt in Gudme darf diese Erfindung allein für sich beanspruchen, sondern von Anfang an scheinen Kontakt und enge Zusammenarbeit vieler solcher Werkstätten bzw. Zentren die Bildersprache als Gemeinschaftsleistung gefördert zu haben. Die Verbreitung der einheitlich gepflegten Bildkunst ist auch ein Hinweis auf eine gemeinsame ideologische Basis der sie nutzenden Eliten und somit auch auf überregionale und langlebige politische Gemeinsamkeiten. Damit lässt sich als eine der organisatorischen Strukturen der Germania ein Netzwerk der Zentralorte bzw. ihrer Eliten rekonstruieren.119 Innerhalb dieses Netzwerkes wurde mit Hilfe der Tierstilmeister in den Qualitätswerkstätten ein Konsens bezüglich der Bildkunst erreicht und gepflegt.
Zur Rekonstruktion der Kontexte Wer nach der konkreten Bedeutung des Tierstils oder einzelner Motive fragt, hat einen schwierigen Weg vor sich. Denn kein Bild ist aus sich allein heraus verständlich. Es müssen dazu die passenden Kontexte bekannt sein.120 Dies sind die Hintergrundgeschichten, die zugrundeliegenden Ideen, von denen das Bild einen Aspekt oder ein Detail illustriert. Antike und frühmittelalterliche Bilder bieten gewissermaßen Auszüge aus komplexen Hintergrundge119
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Alexandra Pesch, Netzwerk der Zentralplätze. Elitenkontakte und Zusammenarbeit frühmittelalterlicher Reichtumszentren im Spiegel der Goldbrakteaten. In: Goldbrakteaten – Auswertung und Neufunde (wie Anm. 17); vgl. auch Heiko Steuer, Artikel „Reichtumszentrum“. In: RGA 24 (2003), S. 343–348; Heiko Steuer, Artikel „Zentralorte“. In: RGA 35 (2007), S. 878–914. Panofsky, Iconology (wie Anm. 10), S. 11 f.; Karl Hauck, Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, VII: Kontext-Ikonographie. In: Verbum et Signum, hrsg. von Hans Fromm, Wolfgang Harms und Uwe Ruhberg (München 1975) Bd. 2, S. 25–69; Pesch, Thema und Variation (wie Anm. 10), S. 367–370.
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
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schichten. So wie es nur möglich ist, ein Kruzifix in der gemeinten Weise als Symbol der Hoffnung und Freude zu verstehen (indem es mit der Kreuzigung einen schrecklichen, aber wesentlichen Aspekt der Hintergrundgeschichte von Jesus Christus abbildet), wäre es auch nur möglich, beispielsweise die Botschaft eines Goldbrakteaten zu verstehen, wenn dessen entsprechende Hintergrundgeschichte bekannt wäre. Doch vor allem aufgrund des Fehlens umfangreicher zeitgleicher Schriftüberlieferung innerhalb der Germania liegen solche Kontexte nicht offen ersichtlich vor. Sie können nur in einem mühsamen, interdisziplinären und bis heute auch in vielen Details strittigen Verfahren rekonstruiert werden. Eine systematisierte Bewertung der unterschiedlichen Hintergrundrekonstruktionen ist dabei unerlässlich. Ohne dies blieben die Bemühungen um das Bilderverständnis letztlich nur ein vielleicht amüsantes, aber nicht zum Ziele führendes Bilderraten. Dabei wären für Spekulationen Tür und Tor geöffnet, die Interpretationen wären anfällig für Ideologien jeglicher Art, und sie bewegten sich regelrecht schlitternd auf Glatteis. Tatsächlich bieten sich aber mehrere Zugriffsmöglichkeiten zur Bestimmung und Rekonstruktion der passenden Kontexte an. Das hierfür notwendige interdisziplinäre Verfahren schöpft verschiedene Wege zur Rekonstruktion von Hintergrundgeschichten aus (Abb. 20).121 Mit Hilfe dieser sechs Haupt-Ansatzpunkte aus verschiedenen Fachbereichen lassen sich grundsätzliche Möglichkeiten der Bilddeutung fassen: 1. Die Voraussetzung zur Erkennung und Rekonstruktion der richtigen Kontexte ist die Bestimmung des Bildinhaltes als Zusammenstellung von Figuren, Formen, Attributen oder Symbolen. Nicht immer aber sind die Details germanische Bilder auf Anhieb zu lesen. Daher ist es im ersten Schritt sinnvoll, Varianten einer Bilddarstellung zu suchen. Aufgrund der Reglementierung frühmittelalterlicher Bildmuster finden sich für die meisten Bilder auch heute noch gute Vergleiche, Kopien oder eben Varianten. Mit ihrer Hilfe kann eine breitere Überlieferungsbasis gewonnen werden, eine Art „Standardbild“ oder „Idealbild“. Damit können Schwächen einzelner Bilder ausgeglichen werden, dargestellte Details lassen sich besser ansprechen bzw. identifizieren. 121
Vgl. Karl Hauck, Brakteatenikonologie. In: RGA 3 (1978), S. 361–400, hier S. 362 f.; Karl Hauck, Kontext-Ikonographie (wie Anm. 120); Karl Hauck, Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, XI: Methoden der Brakteatendeutung. Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 4, Nr. 3, 1976, S. 156–175; Karl Hauck, Methodenfragen der Brakteatendeutung. Erprobung eines Interpretationsmusters für die Bildzeugnisse aus einer oralen Kultur. In: Problem der Deutung (wie Anm. 37), S. 273–296.
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1. Idealbildrekonstruktion durch Variantenanalyse
6. Texte antiker und frühmittelalt. Autoren
2. Fundort, Umfeld Bilddeutung
5. Skandinavische Mythen bzw. Textüberlieferung
3. Antike Bildersprache
4. Romanische/ mittelalterliche Kunst
Abb. 20: Schema der Hauptzugangswege für die Bilddeutung.
2. Die Betrachtung des Umfeldes eines Bildträgers kann weitere Zugriffspunkte bieten. Bei den archäologischen Objekten ist dies zunächst der Fundort. Doch auch der Zweck des bildtragenden Gegenstandes – z.B. Waffe, Trinkhornbeschlag oder Schmuckstück – ist von Interesse, wie auch die Position des Bildes auf seinem Träger bzw. des Bildes an einem Objekt.122 Ob Waffe oder Schmuckstück, die Funktion kann durchaus Hinweise auf die Bedeutung oder Intention der Bilder geben. Allerdings ist dies zu interpretieren, denn heutige Sichtweisen können sich dabei erheblich unterscheiden von denjenigen des Frühmittelalters. Auch fallen die Tierstilbilder gerade durch ihre Verwendung auf verschiedenen Objektgruppen auf, sowie dadurch, dass sie über große Regionen gleichförmig ausfallen. Positiv daran ist, dass gerade diese weite Verbreitung einen wichtigen Hinweis zur generellen Bedeutung der Bilder gibt, denn sie zeigt ja, dass es sich nicht um individuelle Darstellungen von Einzelnen oder für einzelne Menschen handeln kann und dass somit die Kontexte für die Bilddeutung auch im allgemeinen Gedankengut ihrer Zeit zu suchen sein werden. 3. Einen bedeutenden Zugriffspunkt bietet die Bilderwelt des antiken Kulturraums. Aus ihr waren die frühen germanischen Bildchiffren während 122
Thorsten Lemm legt dar, dass Maskendarstellungen häufig an gefährdeten Bauteilen wie möglichen Bruchstellen angebracht worden sind, in: Maskendarstellungen der Wikingerzeit. Offa 61/62, 2004/05, S. 309–352, hier S. 335.
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des Frühmittelalters in verschiedenen Schüben entlehnt worden. Zwar haben sie sich mit den Jahren dann zwar rasch emanzipiert, wurden neu kombiniert, weiterentwickelt und mit neuen Chiffren aus dem germanischen wie auch römischen Bereich zusammengebracht. Doch wenigstens bei der Wertigkeit römischer Bilder ist durchaus an eine Bedeutungsübertragung zu denken: Waren die jeweiligen römischen Vorbilder glückbringende oder schutzspendende Heilsbilder oder aber Status- und Machtzeichen oder abschreckende Bilder? Diese Wertigkeit kann sehr wohl Hinweise auf die Bedeutung der Tierstilbilder geben. Im Laufe der Zeit allerdings kann sich diese Bedeutung dann wie die Bildchiffren selbst verschoben und verändert haben. 4. In den Schriften antiker, spätantiker und mittelalterlicher Autoren gibt es zahlreiche Nennungen und Beschreibungen germanischer Gruppen. Darunter finden sich auch Bemerkungen zu bestimmten Eigenarten. Dies alles ist für die Kontextrekonstruktion wichtig, vor allem, weil die entsprechenden Textüberlieferungen auf germanischer Seite fehlen. Doch solche Schriften sind keine objektiven Berichte. Es ist nie sicher, dass sich darin historische Realität von Fiktion und reelle Fakten von Propaganda, Phrasen oder Topoi unterscheiden lassen. Als Geschichtsquellen sind sie daher vorsichtig und nur mit der nötigen Quellenkritik zu genießen.123 5. Wertvolle Einblicke in die Vorstellungswelt der Germanen bieten die skandinavischen Textüberlieferungen des Mittelalters. Ihre detaillierten Beschreibungen der vorchristlichen Lebensumstände im Norden, der Götterwelt, der Mythen und Heldengeschichten vermitteln tiefe Einblicke in die schriftlosen Zeiten davor. Viele Inhalte gehen nachweislich wenigstens bis in die Völkerwanderungszeit zurück. Vor allem auf Island wurden nach der offiziellen Annahme des Christentums im Jahre 1000 die dort 123
Dies gilt etwa auch für den zweiten Merseburger Zauberspruch, der als kontinentale Wodan/Odinüberlieferung für die Deutung der C-Brakteaten eine wichtige Rolle gespielt hat. Dazu Karl Hauck, Goldbrakteaten aus Sievern. Spätantike Amulett-Bilder der ‚Dania Saxonica‘ und die Sachsen-‚Origo‘ bei Widukind von Corvey, mit Beiträgen von Klaus Düwel, Heinrich Tiefenbach, Hayo Vierck (München 1970), hier S. 160–203, S. 396–447; Karl Hauck, Brakteatenikonologie (wie Anm. 121), S. 386–389; Wilhelm Heizmann, Bildchiffren und Runen von Kommunikationsformen und Heilverfahren auf goldenen C-Brakteaten. In: Kontinuitäten und Brüche in der Religionsgeschichte, Festschrift für Anders Hultgård zu seinem 65. Geburtstag, hrsg. von Michal Stausberg, Olof Sundqvist, Astrid van Nahl. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 31 (Berlin, New York 2001), S. 326–351, hier S. 327 f.; Wilhelm Heizmann, Die Fauna der völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten. Tiere im Kontext der Regenerationsthematik. In: Tiere in skandinavischer Literatur und Kulturgeschichte: Repräsentationsformen und Zeichenfunktionen, hrsg. von Annegret Heitmann, Wilhelm Heizmann, Ortrun Rehm (Freiburg 2008), S. 15–40, hier S. 28–35.
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noch lebendigen, einst mündlichen Traditionen germanischer Dichtkunst aufgeschrieben. Indem die komplexe spätheidnische Götterwelt wie auch sagenhafte historische Überlieferungen zum Inhalt christlicher Gelehrsamkeit wurden, konnten alte Traditionen den Religionswechsel überdauern. 6. In den Texten kann eine unabsichtliche oder intendierte Vermischung mit christlichen Vorstellungen niemals ausgeschlossen werden. Ebenso ist es möglich, dass es sich in manchen Teilen um „gelehrte Geschichte“, also rückwirkend rekonstruierte Vorstellungen des Mittelalters, handelt. Die Aussagen und Vorstellungen sind demnach sorgfältig im Einzelfall zu prüfen.124 7. Schließlich sei auf die Relevanz der Semantik und Typologie mittelalterlicher Kunst hingewiesen. Sie schöpfte nicht nur ihre Motive und Stile aus denselben Wurzeln wie die Tierstile, nämlich hauptsächlich aus der spätantiken Bildkunst, sondern es waren auch viele Elemente der Tierornamentik (vorwiegend Stil II und III) in sie eingeflossen (siehe Abb. 15). Aus der recht gut bekannten Bedeutung beispielsweise romanischer Bildmotive lassen sich daher Analogien zur Bewertung der älteren Bilder finden. Natürlich sind auch hierbei der zeitliche Abstand und der veränderte geistige Hintergrund zu bedenken. Die genannten sechs Haupt-Zugangsmöglichkeiten zur Rekonstruktion der Kontexte germanischer Bildkunst bergen jeweils eigene Schwierigkeiten, die innerhalb ihrer wissenschaftlichen Disziplinen zu bewerten sind. Dies macht eine Gesamtbewertung der Tierstilbilder keineswegs einfach, ist aber als quellenkritische Herangehensweise unabdingbar. Nur die Kombination verschiedener Erkenntnisse aus den unterschiedlichen Hilfswegen kann zu einer Gesamtdeutung von Tierstilbildern führen. Doch selbst auf diese interdisziplinäre Weise bleibt alles noch ein wenig „schwammig“, sicher auch im Einzelnen angreifbar.125 Wirklich erfolgreich kann die interdisziplinäre Methode letztlich erst sein, wenn die heute noch in vieler Hinsicht rätselhafte Zeit der Germanen mit ihren Eigenarten und Vorstellungen in ihrer ganzen Komplexität verstanden worden ist. Doch dies ist auf dem heutigen Stand der Forschung noch wissenschaftliche Zukunftsmusik.
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Vom blinden Jonglieren mit wieder- und wiedergekäuten Versatzstücken aus der Edda ohne kritische Prüfung auch ihres Gesamtzusammenhangs ist jedenfalls abzuraten. Das von Egon Wamers 1993, Rezension: Zum Problem der Deutung frühmittelalterlicher Bildinhalte, Germania 71, 2. Halbband, S. 596–606, hier S. 597, als „trial and error“ bezeichnete Arbeitsprinzip der ikonographischen Forschung gehört noch nicht selbstverständlich der Vergangenheit an.
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
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Zur Bedeutung von Tierstilbildern Auf die vieldiskutierte Frage nach der semantischen Bedeutung von Tierstilbildern ist zunächst grundsätzlich zu bemerken, dass es kaum eine einzige Antwort darauf geben kann. Zu variantenreich sind die im Laufe der Zeit auftretenden Erscheinungen, zu unterschiedlich die rekonstruierbaren und denkbaren Kontexte und zu dünn die Möglichkeiten des konkreten Verständnisses. Einige grundsätzliche Erwägungen sind dennoch geeignet, sich dem mit den Bildern verbundenen Inhalt zu nähern. Wichtig ist hierbei die Erkenntnis, dass es sich nicht um individuelle Zeichen handeln kann. Nicht jeder Kleinherrscher oder Tierstilmeister entwickelte eigene Bildchiffren und stellte seine persönlichen Ideen dar oder gar sich selbst.126 Die in vieler Hinsicht genormten Bilder sind auch nicht als willkürliche Auswüchse „wilder Phantasie“127 erklärbar. Dass sie in weiten Regionen und durch lange Zeiträume hindurch von allen akzeptiert und gerade auch als Zeichen hohen gesellschaftlichen Status getragen worden sind, weist in die Richtung, welche die Deutung nehmen muss. Denn offenbar sind die Bilder Darstellungen von etwas Übergeordnetem. Nur mit einem allgemeinen Wert konnten sich alle identifizieren. Überindividualität und Überregionalität beweisen also einen allgemeinen, offiziellen Charakter der Bilder. Im ersten Jahrtausend ist dies nur bei Darstellungen numinoser Bedeutung denkbar. Denn alle gleichzeitigen Bildersprachen unterstützten dies: So etwa die verwandten antiken und mittelalterlichen Ikonographien, die ebenfalls als Bilder aus der Welt des Göttlichen religiös motiviert sind (vgl. allgemein Abb. 15). Für die germanischen Darstellungen prägte Hans Zeiß den Begriff des „Heilsbildes“.128 Ohne eine konkrete Religion benennen zu müssen, ist damit treffend der Charakter der Tierstilbilder und Symbole ausgedrückt. Wie ihre 126
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Vgl. Alexandra Pesch, Charismatisches Königtum im Spiegel materieller Quellen: Die völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten. In: Das frühmittelalterliche Königtum, hrsg. von Franz-Reiner Erkens. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 49 (Berlin, New York 2005), S. 65–86, hier S. 78 f.; Pesch, Thema und Variation (wie Anm. 10), S. 383 f. So schon Worsaae (wie Anm. 109), S. 385. Zeiß, Heilsbild (wie Anm. 23); vgl. auch Heiko Steuer, Artikel „Heilsbild“. In: RGA 14 (1999), S. 233–236; Helmut Roth, Einführung in die Problematik, Rückblick und Ausblick. In: Problem der Deutung (wie Anm. 37), S. 9–24, hier S. 12; siehe auch Charlotte Behr, Wilhelm Heizmann, Sinnbilder und Heilswörter. In: RGA 28 (2006), S. 467–473; Joachim Werner, Tiergestaltige Heilsbilder und germanische Personennamen. Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 37, 1963, S. 377–383; Burkard Gladigow, Schutz durch Bilder. In: Historischer Horizont (wie Anm. 62), S. 12–31.
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Vorbilder und Nachfahren versprach die germanische Heilsbildikonographie den Lebenden Schutz und Hilfe. Sie versicherte die Besitzer der Anwesenheit des Numinosen, der Teilnahme der Götter am irdischen Geschehen. Forscher wie Wilhelm Holmqvist, Günther Haseloff, Helmuth Roth und Karl Hauck haben dies in ihren Werken wiederholt ausführlich und grundsätzlich schlüssig dargelegt. Vor allem die skandinavischen Texte des Mittelalters halfen dabei, einige der germanischen Bilder genauer verstehen zu lernen. Durch ihre Informationen sind manche der figürlichen Darstellungen, beispielsweise auf Goldbrakteaten oder Goldfolien (gubber), konkret als Darstellungen aus der Odinreligion anzusprechen.129 Der nordische Hauptgott Odin (kontinental Wotan) ist durch die Textüberlieferungen wohlbekannt und wurde noch im Mittelalter auch als erster und vorbildlicher Herrscher sowie als Spitzenahn verschiedener Königsdynastien verehrt.130 Einen Beleg für das hohe Alter des mit ihm verbundenen Kultes und einiger der übrigen Hauptgöttinnen und -götter des Nordens (Thor, Frigg, Tyr) bieten die germanischen Wochentagsnamen, die in der Übersetzung der römischen Sieben-Tage-Woche im 3. oder 4. Jahrhundert aufgekommen sind.131 Grundsätzlich bildet also die Odinreligion den Kontext, in dem die germanischen Bilder zu verstehen sind. Doch die Wortüberlieferungen leisten keinen Beitrag zum konkreten Verständnis der separat (also nicht in szenischen Bildern, z.B. auf Goldbrakteaten) dargestellten Tiere. Obwohl von Anfang an solche Tiere und Mischwesen die Hauptrolle in der germanischen Ikonographie spielten, lassen sie sich nur in wenigen Ausnahmefällen möglicherweise mit Hinweisen der Texte benennen. Dabei sind gerade die unspezifischen, vorwärts- und rückwärtsblickenden, häufig kauernden und in sich und andere verschlungenen Tiere die Kernsymbole des nicht umsonst diesen Namen tragenden Tierstils und seine am häufigsten abgebildeten Motive. Um hier einen Zugang zur Deutung zu bekommen, sind andere Überlegungen erforderlich. Zunächst war es offenbar in vielen Fällen nicht wichtig, welche zoologische Tierart bei einer Darstellung gemeint war. Nur selten sind Tiere genau
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Karl Hauck, Methodenfragen der Brakteatendeutung. Erprobung eines Interpretationsmusters für die Bildzeugnisse aus einer oralen Kultur. In: Problem der Deutung (wieAnm. 37), S. 273–296, hier S. 278 ff., S. 293 f. und passim; Roth, Einführung (wie Anm. 128), S. 9 f.; vgl. auch Heizmann, Bildchiffren (wie Anm. 123) und Heizmann, Fauna (wie Anm. 123). Anders Hultgård, Artikel „Wotan-Odin“. In: RGA 35 (2007), S. 759–785. Peter Ernst, Artikel „Woche und Wochentagsnamen“. In: RGA 34 (2007), S. 169– 172.
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
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anzusprechen. Oft wurde das Tier als solches abgebildet, variiert und verfremdet. Es ist damit Ausdruck des Unaussprechlichen und Nichtdarstellbaren, ein Träger numinoser Ideen. In dieser Funktion wurden Tiere nicht nur in der Bildkunst der Germania gesehen. Vielmehr drückt sich hier eine uralte, auch im Abendland weit verbreitete Vorstellung aus: Tiere und Mischwesen gelten als Vermittler zwischen Menschen und Göttern.132 In den Bilddarstellungen sind sie mit Rollen in religiösen Vorgängen betraut, indem sie Heilsgeschehnisse und göttliche Epiphanien flankieren und durch ihre Anwesenheit betonen. Sie verstärken die Eindrücklichkeit der Darstellungen. So war es bei den Kerbschnittbronzen und anderen Bildträgern spätrömischer Herkunft, die als direkte Vorgänger der Tierstilkunst gelten, und so nahmen auch später Tiere noch vergleichbare Positionen ein, etwa in der Buch- und Objektkunst der Karolingerzeit, der Romanik und, modifiziert, auch im Symbolismus des Mittelalters.133 Auch ohne die Abbildung der Götter selbst sind separate Tierdarstellungen als verkürzte bzw. komprimierte Fassungen solcher Vorstellungen zu sehen und damit als Substrate komplexer religiöser Ideen. Als Zeugen göttlicher Anwesenheit und Macht sind Tiere Botschafter einer göttlichen Ordnung, die sich in den Bildern manifestiert. Damit unterstützen sie auch die Besitzer solcher Bilder in ihrem irdischen Dasein und weisen sie als Teil des numinosen kosmologischen Plans aus. Tiere fungieren also beispielsweise auf Amuletten oder Schmuckstücken nicht nur als kraftvolle Helfer im irdischen Dasein der Menschen, sie garantieren auch die Übertragung göttlicher Ordnung in die menschliche Sphäre. Damit bezeugen sie den Glauben an den Einklang mit dem Numinosen und die Hoffnung auf göttlichen Beistand im Leben und im Tode. Grundsätzlich sind die Heilstiere dabei nicht an bestimmte Götter gebunden. Sie sind universell wirksam und wurden über die Grenzen von Zeitepochen, Reichen und Religionen hinaus eingesetzt. Tiere sind immer ein bedeutender Bestandteil der verschiedenen Ikonographien Europas gewesen, die sich niemals separiert entwickelten, sondern immer im gegenseitigen Austausch und in gemeinsam entwickelten Schritten (siehe Abb. 21).134 Weil es sich also nicht um ein spezifisch germanisches Phänomen handelt, konnte es auch zur Übernahme und Vermischung der Tierbilder aus den christlichen und heidnischen Bildersprachen kommen und zur permanenten 132
133 134
Gunther Müller, Germanische Tiersymbolik und Namengebung. Frühmittelalterliche Studien 2, 1968, S. 202–217, hier S. 215 f.; Pesch, Mischwesen (wie Anm. 39). Vgl. Gudrun Lange, Artikel „Tiersymbolik“. In: RGA 30 (2005), S. 605–608. Pesch, Iconologia Sacra (wie Anm. 17).
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(Vorstufen)
Keltische Kunst
Klassische Antike
Oströmische und koptische Kunst
Spätantike
Frühe germanische Bilder
Nydamstil
Tierstil I
Flechtbandornamentik
Polychromer Stil Tierstil II
Insulare Kunst
Karolingische Kunst
Tierstil III
Romanische Bildkunst Mittelalterliche Traditionen
Aquitanische Motivik
Wikingische Tierstile
Abb. 21: Hauptströmungen der Kunstentwicklung im ersten Jahrtausend.
gegenseitigen Befruchtung. Die Tierbilder sind zwar fest in den Rahmen jeder einzelnen Religion integriert, doch sie gehören im Grunde zu einer älteren, parallel existierenden und in unterschiedlichen Kontexten lebendig gehaltenen Vorstellung. Eigene, charakteristische Interpretationen und bildnerische Ausfertigungen der Tiere bei den Germanen führten diese grundsätzlich gemeinsamen Vorstellungen in den Phasen des Tierstils zu einer jeweils ganz besonderen Blüte. Im Nydamstil und frühesten Stil I finden sich noch einigermaßen gut erkennbare Tiere beispielsweise auf den Goldhalskragen (Abb. 1), Preziosen höchster Qualität, wo sie jeweils in mehreren Reihen hintereinander angeordnet sind und als die eigentlichen Träger der dortigen Heilsbildikonographie fungieren.135 Auch die besonders im Stil II und III auftretenden, orna-
Fallstricke und Glatteis: Die germanische Tierornamentik
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mentalen Reihungen und Verflechtungen von Tieren bzw. Ranken sind nicht nur als glückbringende bzw. unheilabwehrende Symbole zu verstehen, sondern als komprimierter Ausdruck des Wunsches nach numinoser Begleitung. Indem sie göttliche Ordnung auf den Zeichen irdischer Macht und weltlichen Reichtums (wie etwa Prunkwaffen, Prachtfibeln oder Brakteaten) repräsentieren, legitimieren sie auch die Trägerinnen und Träger dieser Bilder als Teile dieser göttlichen Ordnung.136 Immer wieder wurde daran erinnert, daß sich in dieser schwierigen, streng reglementierten und doch so variantenreichen, ja geradezu verspielt wirkenden Bildkunst dieselben geistigen Ideen spiegeln, wie sie auch in der ebenso verschlungenen, ungeheuer kunstfertigen Sprache der skaldischen Dichtung in der Wikingerzeit bzw. dem nordischen Mittelalter Ausdruck fanden.137 Die Eliten der Germania schufen und pflegten ihre Bildkunst in wiederholten synthetischen Prozessen, die immer zwischen der Analyse und Integration fremder Bilder in die eigene Bildersprache und deren Umgestaltung im Rahmen der eigenen Weltanschauung pendelten. Generell hatte die Kunst der Tierstilmeister auf den Gebrauchsobjekten wie Schmuck, Beschlägen oder Waffen die Tierbilder zu einer beeindruckenden, anregenden Schönheit geführt, deren zeitlose Faszination bis heute anhält. Sie unterstreicht die mentale Eigenständigkeit der germanischen Eliten. Durch viele Jahrhunderte kommunizierten sie mit Hilfe ihrer Bildersprache, grenzten sich mit ihr von anderen Kulturen ab und stellten ihre Zusammengehörigkeit untereinander zur Schau. Dabei war es kaum relevant, welcher Religionsgemeinschaft die Träger angehörten, denn die Tierbilder waren grundsätzlich universell verständlich und entfalteten ihre heilsame Macht in unterschiedlichen Kontexten.
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Genauer zur konkreten Bedeutung einzelner Tiere demnächst Pesch, in: Pesch et al., Goldhalskragen (wie Anm. 54). Vgl. auch Lotte Hedeager, Skandinavisk dyreornamentik: Symbolsk repræsentation af en før-kristen kosmologi. In: Old Norse Myths, Literature and Society. Proceedings of the 11th International Saga Conference 2–7 July 2000, University of Sydney, hrsg. von Geraldine Barnes, Margaret Clunies Ross (Sydney 2000), S. 126– 141. Der in diesem Beitrag, besonders S. 141, vorgetragenen Ansicht, der Tierstil sei eine rein germanisch-heidnische Angelegenheit, die sich in Opposition zur christlichen Bildersprache und ohne jeden Austausch mit dieser entwickelt habe, ist zu widersprechen. Vgl. auch Wamers, Salins Stil II (wie Anm. 77), S. 34 f. Siehe z.B. Friedrich Panzer, Das germanische Tierornament und der Stil der Stabreimepik. Germania V, Heft 1, 1921, S. 80–91; Nancy Wicker, The Scandinavian Animal Styles in Response to Mediterranean and Christian Narrative Art. In: The Cross goes North. Processes of Conversion in Northern Europe, AD 300–1300, hrsg. von Martin Carver (York 2003), S. 531–550, hier S. 538; Pesch, Thema und Variation (wie Anm. 10), S. 385 f.
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 689–736 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
Die Bilderwelt der völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten als religionsgeschichtliche Quelle Wilhelm Heizmann Die Erforschung der germanischen und nordgermanischen Religion lag seit ihren wissenschaftlichen Anfängen im 19. Jahrhundert wenigstens in Deutschland vorwiegend in den Händen von Philologen. Als opus magnum der Frühzeit darf zweifellos Jacob Grimms ‚Deutsche mythologie‘ gelten, deren dreibändige vierte Auflage von 1875–78 zugleich den Abschluss der Gründungsphase der germanischen Religionsgeschichte markierte.1 Damit war ein fest umrissenes Corpus an Texten etabliert, das von nun an immer wieder neu befragt wurde. Zwar wurde von Anbeginn auch volkskundliches und archäologisches Material einbezogen, doch blieb die germanische Religionsgeschichte in ihrem Kern eine philologische Disziplin, mit Tacitus’ Germania und den beiden Edden gleichsam als Eckpfeilern. Während das nachmittelalterliche, sogenannte volkskundliche Material, worunter in erster Linie Sagen-, Märchen-, Aberglauben- und Brauchtumsüberlieferung zu verstehen ist, – bei den Brüdern Grimm noch unverzichtbarer Bestandteil ihrer Forschungen – später aus Gründen der Quellenkritik und zum Teil auch aus ideologischen Gründen zunehmend in Misskredit geraten war und heute im Kontext der germanischen Religionsgeschichte kaum mehr Berücksichtigung findet,2 hat die Archäologie in den letzten Jahrzehnten stark an Boden gewonnen. Zu Recht, denn wie keine andere 1 2
Grimm 1875–1878. Dass dieses Material schwierig zu handhaben ist, muss offen eingeräumt werden. Prinzipiell darauf zu verzichten, erscheint jedoch in Anbetracht der für die germanische Religionsgeschichte so ertragreichen Arbeiten von Forschern wie Wilhelm Mannhardt, Karl Meuli, Nils Lid oder Axel Olrik kaum zu rechtfertigen. Aus neuerer Zeit wäre in diesem Zusammenhang etwa die umfangreiche Studie von Terry Gunnell ‚The Origins of Drama in Scandinavia‘ aus dem Jahr 1995 zu nennen, an der im Einzelnen sicherlich vieles zu kritisieren ist, die zugleich aber durch die konsequente Beiziehung volkskundlicher Quellen neue Deutungsperspektiven eröffnet.
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Disziplin erweitert sie mit aufregenden Neufunden beständig unsere Materialbasis und öffnet dadurch neue Perspektiven.3 Sie trägt so wesentlich dazu bei, den Zustand einer gewissen Stagnation zu überwinden, der sich nach den inzwischen auch schon Jahrzehnte zurückliegenden heftigen Auseinandersetzungen mit den Ideen Georges Dumézils eingestellt hatte4 und der auch durch die Beiziehung neuerer theoretischer Ansätze mit immer kürzerer Halbwertszeit nicht überwunden werden konnte. Einer der Gründe für diese Stagnation ist sicherlich im begrenzten Umfang des Corpus schriftlicher Quellenzeugnisse zu suchen: Seit den Tagen der Grimms ist hier nur wenig Neues hinzugekommen. Substanzielle Fortschritte verspricht heute vor allem die Erschließung und Einbeziehung archäologischen Quellenmaterials. So hat sich etwa unsere Vorstellung vom germanischen Barbaricum durch die Erforschung der Zentralorte und Reichtumszentren völlig verändert. Insbesondere tritt dabei das südliche Skandinavien seit der frühen Kaiserzeit als Ausgangspunkt und Zentrum von ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen hervor.5 Die intensiven Kontakte zur antiken Welt bezeugt hier zunächst auf rein materieller Ebene der enorme Zustrom an Edelmetall in Form von Münzen und Schmuck. Sie zeigen sich weiter in der Fülle an Importen von Luxusgütern aus den verschiedensten Teilen des römischen Reiches,6 Güter, die im Norden seit dem 3. Jahrhundert zunehmend von einheimischen Kunsthandwerkern nachgeahmt und fortentwickelt wurden.7 Betroffen war aber nicht nur das profane Leben, und die Rezeption fremder Vorbilder erschöpfte sich auch nicht in der bloßen Imitation. Es kam vielmehr zu einem gewaltigen Innovationsschub, der eigenständige Kulturleistungen hervorbrachte. Für lange Zeit befindet sich in Südskandinavien das kreative Zentrum der germanischen Welt. So wurde auf der Basis der lateinischen Kapitalisschrift im Bereich des heutigen Dänemark seit dem 2., vielleicht auch
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Insofern war es eine glückliche Entscheidung der Gründungsväter des Reallexikons, auch die Volkskunde in das Lexikon einzubeziehen. Vgl. jüngst von Freeden / Friesinger / Wamers (Hrsg.) 2009. Schmitt 1986; vgl. auch von See 1988, S. 63–68. Vgl. Nielsen / Randsborg / Thrane (Hrsg.) 1994; Lund Hansen 1995; Lund Hansen 1999; Uppåkrastudier 1 ff., Lund 1998 ff., hier besonders Hårdh / Larsson 1998; Larsson / Hårdt (Hrsg.) 2002; Hårdh 2002; Helgesson 2002; Lihammer 2003; Storgaard 2003; Pesch 2007; Hardt / Jöns / Kleingärtner / Ludowici / Scheschkewitz (Hrsg.) 2010; Jöns / Schmid / Schön / Zimmermann (Hrsg.) 2011; Krümpel 2011; Pesch 2011; vgl. auch Hauck 2002, S. 84 Anm. 93 mit zahlreichen weiteren Literaturhinweisen zu diesem Thema. Lund Hansen 1987; Jørgensen 2003, S. 13 f.; Storgaard 2003. Vgl. Krümpel 2011, Kap. 2.1.3 Prunkgräber der jüngeren Römischen Kaiserzeit am Beispiel des Fundortes Himlingøje.
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schon seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. mit den Runen ein eigenständiges germanisches Schriftsystem entwickelt,8 das an die Reichtumszentren geknüpft zu sein scheint.9 Obwohl nur spärlich überliefert, werden in den Runeninschriften schon bald erste Zeugnisse einer germanischen Dichtersprache greifbar.10 So überliefert das runentragende Goldhorn von Gallehus den ältesten germanischen Stabreimvers: ek hlewagastiR holtijaR horna tawido. Zugleich treffen wir auf poetische Stilmittel, die in ausgebildeter Form erst von der Jahrhunderte später bezeugten altenglischen Dichtung und in komplexester Form von der Skaldendichtung verwendet werden.11 Dazu zählen die eingliedrigen Waffennamen wie raunijaR ‘Erprober’ auf dem Lanzenblatt von Øvre Stabu (RäF 31) oder ranja ‘Renner’ auf dem Lanzenblatt von Dahmsdorf (RäF 32), die formal den späteren Heiti entsprechen,12 kenningähnliche Bildungen wie tilarids ‘Hinreiter’ auf dem Lanzenblatt von Kowel (RäF 33),13 regelrechte Kenningar wie widuhudaR ‘Waldhund’ = ‘Wolf’ auf der Spange von Himlingøje II (RäF 10)14 oder walhakurne ‘(auf) dem Welsch-Korn’ = ‘Gold’ bzw. ‘Brakteat’ auf dem Brakteat IK 184 Tjurkö (I)-C/Målen (RäF 136). Ikonographisch wird der Einfluss der antiken Welt in der massiven Aneignung mediterraner Bildmotive sichtbar, die im südskandinavischen Raum zu einer reichen eigenständigen Bildüberlieferung führt. Neben die noch vergleichsweise rohen vollplastischen Menschendarstellungen aus Bronze in Nachahmung importierter römischer Statuetten15 treten bald ikonographisch weit aufwendigere Zeugnisse wie die Goldhörner von Gallehus,16 die elaborierten Goldhalskragen17 sowie die umfangreichen Denkmälergruppen der Goldbrakteaten (s. S. 694) und Goldfolien.18 Das Erstaunliche an diesen künstlerischen und nicht minder intellektuellen Meisterleistungen ist nicht nur die Tatsache ihrer schieren Existenz. Nicht weniger überrascht, dass sich bestimmte Erscheinungen wie die Runen, der Tierstil oder auch die Goldbrakteaten geradezu explosionsartig 8 9 10 11 12
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Düwel 2008, S. 178 f.; Heizmann 2010. Lund Hansen 2003; Düwel 2008, S. 181. Vgl. Beck 2006, S. 129 ff. Marquardt 1938; Meissner 1921. Marstrander 1929; Krause 1936, S. 587; Marquardt 1938, S. 317 f.; Düwel 1981, S. 147 f. Düwel 1981, S. 149. Düwel 1981, S. 148. Jørgensen / Storgaard / Gebauer Thomsen (Hrsg.) 2003, S. 390. Axboe / Nielsen / Heizmann 1998. Holmqvist 1980; Lamm 1994, S. 37–51; Lamm 1998. Böhner 1991, S. 730–739; Watt 1992; Watt 1999; Watt 2004; Hauck 1993,2; Hauck 1994, S. 197 ff.; Lamm 2004.
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über weite Bereiche der germanischen Welt ausbreiten.19 Dieses Phänomen ist nur vor dem Hintergrund weit gespannter Kommunikationsnetze verständlich, die damals schon die germanische Welt überzogen, von deren Existenz wir jedoch in den schriftlichen Quellen nur ausnahmsweise Mitteilung erhalten.20 Archäologisch manifestieren sich diese engen Verbindungen in den seit dem 1. Jahrhundert erstaunlich gleichartigen Grabsitten der Oberschichten.21 Auch zeigt die Verbreitung von Rangabzeichen oder Insignien, dass sich die Aristokratie aus weit entfernten Gebieten bis in die gotischen Gebiete nördlich des Schwarzen Meeres durch den Gebrauch einer gemeinsamen Symbolik erkennen und identifizieren konnte.22 Als Initiatoren und Mediatoren der genannten kulturellen Innovationen darf eine Schicht von Spezialisten vermutet werden, deren Existenz an bestimmte Voraussetzungen geknüpft ist. Ihre Leistungen sind nicht als Nebenprodukte von Laien vorstellbar, sie sind vielmehr das Ergebnis komplexer schöpferischer Prozesse, die eines geschützten Raums und materieller Förderung bedurften. Dieser Raum lässt sich mit Hilfe der politischen Macht- und religiösen Kultzentren der Völkerwanderungszeit im westlichen Ostseegebiet (Himlingøje, Gudme, Uppåkra etc.) umreißen. In diesen, durch weit gespannte Handelskontakte, politische Allianzen und Kultbeziehungen verbundenen Reichtumszentren stoßen wir auf eine qualifizierte Schicht von Spezialisten, die in der Lage ist, hochkulturliche Phänomene wie Schrift und Bild der eigenen Kultur anzuverwandeln, um ihrer spekulativen Weltsicht insbesondere im Bereich der Religion Ausdruck zu verleihen. Der Brakteatenüberlieferung kommt in diesem Zusammenhang allein schon durch ihren schieren Umfang eine besondere Rolle zu. Wir kennen 19
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Pesch 2007, S. 378; vgl. Roth 1986, S. 137, 139; von Carnap-Bornheim 1998, S. 469, 472; Hedeager 2004, S. 219; Ament in Ament / Wilson 2005, S. 587. Solche Kommunikationsnetze sind die Voraussetzungen für jenen Bericht des Prokop, wonach die unter Kaiser Justinian auf römischen Boden angesiedelten Heruler nach der Ermordung ihres Königs Ochus eine Gesandtschaft quer durch Europa zu ihren angestammten Sitzen in Skandinavien schickten, um von dort einen Spross des königlichen Hauses herbeizuschaffen (Gotenkriege II, 14–15 [Veh (Hrsg. und Übers.) 1966, S. 318/319, 324/325 f.]; vgl. Taylor 1999, S. 471). An anderer Stelle berichtet Prokop über Informationsfluss und Kontakt zwischen den in der Heimat verbliebenen und den in Nordafrika ansässigen Vandalen (Vandalenkriege I, 22 [Veh (Hrsg. u. Übers.) 1971, S. 148/149 f.]). Hierher gehört ebenso die von Jordanes mitgeteilte Nachricht über den (vielleicht gautischen) König Roduulf, der seine skandinavische Heimat verließ, um sich an den Hof Theoderichs des Großen in Ravenna zu begeben (Getica III, 24 [Mommsen (Hrsg.) 1882, S. 60]; vgl. Krag 2003, S. 58). Storgaard 2003, S. 108. Storgaard 2003, S. 114.
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derzeit (März 2011) 1003 Exemplare von 622 Modeln.23 Brakteaten bieten zudem den Vorteil, durch eine vorbildliche moderne Edition erschlossen zu sein.24 Dies bleibt bekanntlich bei den Goldhörnern von Gallehus für immer verwehrt, da deren Originale im 19. Jahrhundert durch den Uhrmacher und Goldschmied Niels Heidenreich gestohlen und durch Einschmelzen unwiederbringlich zerstört wurden.25 Bis heute sind zudem die vorhandenen frühen Abbildungen nicht als Faksimile in Originalgröße der Forschung zugänglich gemacht. Unzureichend sind die Editionen der Goldhalskragen und Goldfolien, doch ist zumindest für die Goldhalskragen baldige Abhilfe in Aussicht.26 Ohne Katalog sind bislang die vendelzeitlichen Pressbleche als Dekor von Kammhelmen, Waffen und Pferdegeschirr.27 Wer glaubt, wenigstens die mythische und heroische Bilderwelt der Gotländischen Bildsteine wäre in einer verlässlichen Ausgabe zugänglich, wird bei näherem Zusehen bald eines besseren belehrt.28 Als problematisches Beispiel für die ungenügende Bildqualität selbst jüngster Editionen sei schließlich das Corpus der angelsächsischen Bildsteine genannt, das seit 1984 in bislang 9 Bänden und einem Einführungsband vorgelegt wurde.29 Erst im direkten 23
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Zum derzeitigen Stand der Neufunde vgl. Heizmann / Axboe (Hrsg.) 2011 mit einem Katalog der Neufunde seit Abschluss des ‚Ikonographischen Katalogs‘ (1989). Hauck / Axboe / Clavadetscher / Düwel / Lange / von Padberg / Rulffs / Wypior (Hrsg.) 1985–1989. Brøndsted 1954, S. 28–44. Um die Goldhalskragen kümmert sich jetzt Alexandra Pesch im Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie am Archäologischen Landesmuseum Schloss Gottorf. In Zusammenarbeit mit Maiken Fecht und Jan Peder Lamm ist für 2012 eine Publikation mit dem derzeitigen Arbeitstitel ‚Die Macht der Tiere. Völkerwanderungszeitliche Goldhalskragen und die Prinzipien der germanischen Kunst‘ angekündigt, die in der Publikationsreihe des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz erscheinen soll. Arwidsson 1954; Arwidsson 1977; Bruce-Mitford 1978; Hauck 1980,1; Hauck 1981; Hauck 1982; Hauck 1983, S. 453–461; Steuer 1987; Böhner 1991, S. 702– 721; Quast 2002. Dies zeigt sich etwa beim Vergleich der Wiedergabe des Steins von Austers I in Sune Lindqvists Ausgabe von 1941/42 (Bd. 1, Taf. 13 Fig. 27, Bd. 2, Fig. 403 und 404) mit einem Latexabguß Karl Haucks, den dieser 1957 auf einem Kolloquium des Max-Planck-Instituts für Geschichte einem Fachpublikum präsentierte (Gauert 1958, die Abbildung auf S. 116; vgl. auch Oehrl 2010,1 Abb. 309 sowie dort weiter das Foto aus Andrén / Jennbert / Raudvere (Hrsg.) 2004 [Abb. 310] und die Zeichnung von Oehrls eigener Auswertung [Abb. 311]) und dessen Befund erst kürzlich durch Sigmund Oehrl glänzend bestätigt wurde (Oehrl 2010,1, S. 182–192). Corpus of Anglo-Saxon Stone Sculpture, Bde. 1 ff., 1984 ff. sowie Cramp 1991.
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Vergleich mit diesen Bildpräsentationen lässt sich ermessen, welche editorische Pionierleistung der Ikonographische Katalog der völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten darstellt, der von Karl Hauck und seinem Team in den Jahren 1985 bis 1989 in sieben Bänden vorgelegt wurde (vgl. Anm. 24). Bei den völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten handelt sich um einseitig geprägte, barbarische Nachahmungen römischer Münzen und Medaillons aus Gold. Sie bilden eine zeitlich sehr eng begrenzte Denkmälergruppe, die sich auf gerade einmal drei Generationen zwischen 450 und 540 nach Christus erstreckt.30 Die Herstellung erfolgt mittels eines sogenannten Models, genauer einer Matrize. Folglich erscheint alles, was auf der Matrize vertieft ist, auf dem Brakteaten als Erhöhung. Zugleich musste das beabsichtigte Bild auf der Matrize spiegelbildlich wiedergegeben werden.31 Um die komplexen Botschaften der Goldbrakteaten auf einem sehr begrenzten Raum von durchschnittlich selten mehr als 3 cm Durchmesser erkenn- und nachvollziehbar zum Ausdruck bringen zu können, erfordert dieses Prägeverfahren zum einen großes konzeptuelles Geschick des ‚Designers‘, zum andern aber auch anspruchsvolle technische Fertigkeiten des ausführenden Handwerkers, wobei beide Aufgaben durchaus in einer Person zusammenfallen konnten. Dementsprechend entstanden Produkte von sehr unterschiedlicher Qualität. Gleichzeitig eignet sich das Herstellungsverfahren grundsätzlich zur Serienproduktion, die sich wenigstens zum Teil auch in den Funden niedergeschlagen hat (vgl. IK 96,1–4, IK 286,1–4, IK 363,1–7 etc.) Schon ein erster flüchtiger Blick auf die Bilder der Goldbrakteaten lässt eine eigenwillige Ästhetik erkennen (Abb. 1), die unserem an modernen Stilrichtungen geschulten Blick, zunächst wenig Widerstand entgegen setzt; doch gibt es auch Stücke, die sich dem unmittelbaren Zugriff entziehen und erst einer längeren Zeit des ‚Einlesens‘ bedürfen (Abb. 2). Dass wir heute zunehmend in der Lage sind, diese Bilder nicht nur unter ästhetischen Gesichtspunkten wahrzunehmen, sondern auch ihren Sinngehalt zu verstehen, verdanken wir vor allem den Bemühungen des 2007 verstorbenen Doyens der Brakteatenforschung Karl Hauck.32 Im Gegensatz zur Brakteatenfor-
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Die Qualität der Fotografien entspricht vielfach nicht dem, was heute technisch möglich ist. Als besonderes Manko erweist sich, dass auf die ‚Lesehilfe‘ in Form von Nachzeichnungen verzichtet wurde, die noch die Arbeiten von Collingwood auszeichnen (Parker / Collingwood 1917). Eine Autopsie bleibt damit bei vielen Stücken unverzichtbar. Axboe 2004, S. 260. Nowak 2003, S. 23–29; Axboe 2004, S. 1–26. Neben der 1970 erschienenen Arbeit ‚Gold aus Sievern‘ und dem ‚Ikonographischen Katalog‘ sind vor allem Haucks Begleitstudien unter dem Sammeltitel ‚Zur Ikonologie der Goldbrakteaten‘ (I, 1972–LXIV, 2002) zu nennen. Die Forschungen
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Abb. 1–3: 1: IK 58 Fünen (I)-C; 2: IK 16 Aschersleben-A; 3a: IK 62 Gerete-C, 3b: Silbermedaillon, Av: Constantin I. im Helm mit Christusmonogramm, 315 n. Chr.
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schung vor und neben ihm, die sich in Analogie zum Begriff ‚Volksetymologie‘ am besten mit ‚Volksikonologie‘ beschreiben lässt, verwendet Hauck eine fest umrissene Methode, bei der die Fundorte, die Fundsituation, die Träger und die Tragweise der Brakteaten in die Interpretation einbezogen werden. Seine Bilddeutung nähert sich darüber hinaus ihrem Gegenstand von zwei Seiten: von den Wurzeln der Brakteatenkunst in spätantiken Bildkonventionen zum einen und von der weit jüngeren Schriftüberlieferung des Kontinents wie insbesondere des Nordens zum anderen, namentlich der Lieder-Edda und der Edda des Isländers Snorri Sturluson. Die Erkenntnis, dass die Brakteatenbilder auf antike Vorbilder zurückgehen, reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück.33 In erster Linie sind das spätantike Goldmedaillons und Münzen aus der konstantinischen Ära. Diese Vorbilder wurden jedoch nicht nur kopiert und nachgeahmt, sondern bald in Stil und Inhalt nach eigenen Vorstellungen umgestaltet. Schließlich stoßen wir auch auf Bilder, die weitgehend vorbildlos zu sein scheinen. Diese anfängliche Abhängigkeit von mehr oder weniger zeitgenössischen spätantiken Bildtraditionen ist unmittelbar einsichtig (Abb. 3a–b), wurde aber bislang in der Forschung nicht in der wünschenswerten Ausführlichkeit dokumentiert.34 Dabei sind wir in der überaus vorteilhaften Lage, dass von den gewaltigen Mengen an Gold, die Skandinavien im 5. und 6. Jahrhundert hauptsächlich in Form von Münzgold erreichten, bis heute immerhin knapp 1000 Solidi gefunden wurden35 und wir die Vorbilder daher wenigstens zum Teil unmittelbar vor Ort nachweisen können. Diese imperiale Provenienz des Brakteatengoldes hat möglicherweise ihren schriftlichen Niederschlag in der Kenning ‚Welsch-Korn‘ der Inschrift des Brakteaten IK 184 Tjurkö (I)-C/Målen gefunden, wo es heißt: wurtē rūnōR an walhakurnē HeldaR Kunimu(n)diu ‘Es wirkte die Runen auf dem Welsch-Korn Held dem Kunimund’.36 Nicht selten finden sich die römischen Solidi in Horten zusammen mit Goldbrakteaten.37 Dieses unmittelbare Nebeneinander von spätantikem Münzgold und Brakteaten lässt wenig Raum für zeitferne Alternativen, wie weit ältere keltische Silbermünzen, die als mögliche Vorbilder der C-Brakteaten diskutiert wurden.38
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Haucks zum Verständnis der Goldbrakteaten würdigt jetzt Behr 2011, insbesondere S. 220–229. Thomsen 1855; vgl. Munksgaard 1978, S. 338; Behr 2011, S. 155 ff. Für Beispiele vgl. Heizmann 2009, Tafeln I und II. Fagerlie 1967 verzeichnet 883 Exemplare. Müller 1988/2011, S. 127 f./337 f.; Nowak 2003, S. 553 ff.; Düwel 2006, S. 15; Düwel / Nowak 2011, S. 403–409. Axboe 2009, Abb. S. 34 u. 37. Adetorp 2008.
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Die Herleitung eines Teils der Brakteatenbilder von antiken Vorbildern erlaubt es nicht nur, die Brakteatenkunst in einen größeren Traditionszusammenhang einzuordnen, sie kann im Einzelnen auch zum Verständnis verschiedener Bilddetails beitragen, die sonst kaum verständlich wären. So lässt sich etwa zeigen, dass die ‚Rosette‘ auf IK 62 Gerete-C (Abb. 3a) auf das Stirnjuwel der Kaiserbüste zurückgehen muss (Abb. 3b), das sich aus seinem ursprünglichen Zusammenhang gelöst hat und zu einem eigenständigen Bildelement geworden ist. Von daher lassen sich dann auch ähnlich platzierte Elemente auf anderen Brakteaten identifizieren.39 Gleiches gilt für die Konstruktion einer Art von Bühne auf verschiedenen Exemplaren der Formularfamilie B1,40 hier verdeutlicht mit IK 39 Dänemark (X)-B (Abb. 4a). Als Vorbild dürfen Darstellungen wie jene auf dem Revers eines Solidus des Kaisers Petronius Maximus aus dem Jahr 455 n. Chr. gelten, bei denen der Kreuzesstab in der Hand des Kaisers auf die Grundlinie gestellt wird (Abb. 4b).41 Zu den unabdingbaren Voraussetzungen für das Eindringen in die Bilderwelt der Goldbrakteaten zählt die Einsicht, dass man sich zu deren Konzeption nach dem Vorbild der antiken Medaillons, Münzen und Gemmen der zeichenhaften Methode bediente.42 Die Brakteatenbilder sind also nicht narrativ in dem Sinn, dass hier wie in Bilderzyklen ein Ereignis erzählt wird. Vielmehr zwingt der eng begrenzte Raum zur extremen Verkürzung.43 Dies wird durch chiffrenhafte Bildformeln und die Verwendung von Kernsymbolen erreicht.44 Hauck hat diesen Begriff den Kulturanalysen der ethnologischen Feldforschung entlehnt. Kernsymbole repräsentieren demzufolge Bedeutung auf zusammenfassende Weise. Um diese Abbreviaturen zu verstehen, müssen die besonders qualitätvollen Prägungen herangezogen werden. Ihre Qualitäten beruhen auf differenzierterem Detail und/oder reichem Darstellungskontext45 durch die Hinzufügung von Gestalten und Attributen, der sich zum Beispiel auf B-Brakteaten bis zu acht Figuren steigern kann. Durch den beträchtlichen Aufwand der Herstellung werden Stücke mit großem Detailreichtum zu Leitvarianten der Auswertung. Leitvarianten setzen 39
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Vgl. IK 45 Dödevi-C, IK 233 Djupbrunns-C, IK 324 Sandegård-C/Raum Rønne, sogar IK 106 Lilla Istad-C (=Formularfamilie C7 [die Formularfamilien nach Pesch 2007, hier S. 182 ff.]). Pesch 2007, S. 101 f. Kent / Overbeck / Stylow 1973, Taf. 165 S. 179; vgl. Heizmann 2009, S. 21. Hauck 1992,2, S. 111 f.; Hauck 1993,1, S. 404; Hauck 2011,2, S. 76 f. Vgl. Hauck 1998, S. 508. Hauck 2011,2, S. 68 ff. Hauck in IK 1,1 Einleitung, S. 73; Hauck 1992,2, S. 110 f.; Hauck 2011,2, S. 67 ff.
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Abb. 4–6: 4a: IK 39 Dänemark (X)-B; 4b: Solidus, Rv: Kaiser Petronius Maximus mit Kreuzzepter, den rechten Fuß auf eine menschenköpfige Schlange gesetzt, 455 n. Chr.; 5: IK 277 Høyvik-C; 6: IK 10 Års-C.
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die Kenntnis aller Elemente des reicheren Darstellungskontextes und die Ermittlung der Bilddetails, die als Kernsymbole verwendet wurden, voraus. In diesem Zusammenhang ist weiter die Tendenz zur teilweise extremen Stilisierung zu beachten, die sich etwa bei der Ausgestaltung der Hufe des großen Vierbeiners der C-Brakteaten46 und der Darstellung des Vierbeiners selbst deutlich zeigt. Hier findet man neben naturnahen Darstellungen (Abb. 5), die es erlauben, dieses Tier als Pferd anzusprechen, auch stark stilisierte Formen, die erst im Gesamtzusammenhang der C-Brakteaten als Pferdedarstellungen nachzuvollziehen sind (Abb. 6). Weitere Beispiele betreffen die Wiedergabe von Vögeln (Abb. 7a–b)47 und Untieren (Abb. 8a–b; 9a–d), die erst in der Serie verständlich werden. Ein nicht unwesentliches Problem ergibt sich hier aus der Frage nach dem Detailbefund. Wann dürfen wir von bedeutungstragenden Elementen sprechen, wann von bedeutungslosen Randphänomenen, wie das bei den Spielformen der Hufe der Fall zu sein scheint? Offenbar stoßen wir hier an die Grenzen der Bilddeutung. Die Herleitung bestimmter Brakteatenbilder von antiken Vorlagen und der Vergleich in Serie innerhalb von Brakteatengruppen, der sich an Leitvarianten orientiert, mag im Einzelnen viel zum Verständnis von bestimmten Bilddetails beitragen, zur Deutung des Sinngehalts der jeweiligen Brakteatenbilder tragen diese Erkenntnisse indes wenig bei. Dazu bedarf es unabdingbar der Schriftüberlieferung. Hauck hat dazu neben den althochdeutschen Zauber- und Segenssprüchen insbesondere die literarischen Hinterlassenschaften der Isländer aus dem Hochmittelalter herangezogen. Die Berechtigung, frühe Bild- und späte Textüberlieferung für einander fruchtbar zu machen, ist jedoch keineswegs selbstverständlich gegeben, sondern muss prinzipiell begründet werden. Immerhin haben wir es hier mit einem beträchtlichen räumlichen, zeitlichen und kulturellen Abstand zu tun, der Zweifel an einem verbindenden Kontinuum an gemeinsamen Ideen und Traditionen aufkommen lässt. Dieses Problem stellt sich nicht weniger innerhalb der schriftlichen Überlieferung selbst. Jacob Grimms viel zitierter Satz aus dem Vorwort seiner 1844 in zwei Bänden aufgelegten zweiten Ausgabe der ‚Deutschen mythologie‘: unsere denkmäler sind ärmlicher aber älter, die ihrigen jünger und reiner; zweierlei festzuhalten, daran war es hier gelegen: daß die nordische mythologie echt 46
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Vgl. die Zusammenstellung der unterschiedlichen Hufformen bei Hauck in IK 1,1 Einleitung, S. 108 f. Fig. 23. Die Darstellung in Heizmann 2009, S. 17 beruht auf einem Versehen, das ich hiermit korrigiere.
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Abb. 7–9: 7a: IK 66 Gummerup-B (Detail); 7b: IK 165 Skovsborg-B (Detail), 8a: IK 66 Gummerup-B (Detail); 8b: IK 165 Skovsborg-B (Detail); 9a: IK 595 Fuglsang-B/Sorte Muld (Detail); 9b: IK 51,3 Gudme II-B (Detail); 9c: IK 51,1 Faxse-B (Detail); 9d: IK 37 Büsdorf-C (Detail).
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sei, folglich auch die deutsche, und daß die deutsche alt sei, folglich auch die nordische.48
zielte auf eine als schmerzlich empfundene Schieflage der Überlieferung. Der zufolge hat der Norden zwar zahlreiche schriftliche Quellentexte vorzuweisen, doch verdanken diese ihre Existenz der im Zuge der Christianisierung übernommenen lateinischen Schrift, und sie unterlagen damit zugleich dem Einfluss der neuen Religion. Der Kontinent dagegen kann nur mit trümmerhaften, dafür jedoch bis in die römische Kaiserzeit und darüber hinaus zurückreichenden Resten aufwarten. Die Skepsis, beide Überlieferungen zu ihrer wechselseitigen Erhellung heranzuziehen zu können, führte in der Folge häufig zur Beschränkung auf das nordische, vornehmlich isländischen Quellen zu verdankende Material und damit zur Abkoppelung der nordgermanischen von der germanischen Überlieferung. Dieser Skepsis ist jedoch entgegenzuhalten, daß sowohl der Kontinent und der Norden als auch das nordische Altertum und das nordische Mittelalter durch ein Netz von Kommunikationssträngen miteinander verbunden waren. Solche Stränge, um das problematische Wort ‚Kontinuität‘49 zu vermeiden, setzt etwa die Runenschrift voraus, die in älterer Zeit ein alle Germanen verbindendes Medium von erstaunlicher formaler und sprachlicher Konstanz und Einheitlichkeit darstellt und deren zeitliche Erstreckung von ca. 150 bis 700 n. Chr. Altertum und frühes Mittelalter verklammert.50 Es gibt sie, von der Forschung ja nie angezweifelt, im Bereich der Heldensage, an deren Überlieferung alle älteren germanischen Literaturen Anteil haben. Die heroische Weltsicht der sie tragenden Adels- und Kriegerschichten fand außerhalb der Dichtung ihren Niederschlag in den Bildprogrammen auf Kammhelmen, Waffen und Pferdegeschirr aus schwedischen, englischen und kontinentalen Fürstengräbern (vgl. S. 693). Gerade im Bereich der germanischen Bildkunst lässt sich zeigen, mit welcher Hartnäckigkeit bestimmte Bildformeln – stellvertretend seien hier genannt das bezwungene Untier mit Axtträger,51 der Kampf von 48 49
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Grimm 1844, Bd. 1, S. IX. Vgl. Heizmann 2009, S. 17 mit der in Anm. 35 aufgeführten Literatur zur Diskussion des Kontinuitätsbegriffs. In dieser Deutlichkeit zuerst formuliert bei Höfler 1971; vgl. Heizmann 2009, S. 12. Zu finden auf dem Pressblechmodel B von Torslunda (Oehrl 2010,1, Abb. 295) und dem Pressblech von Vendel I (Oehrl 2010,1, Abb. 296), auf dem gotländischen Bildstein Austers I in Hangvar (Oehrl 2010,1, Abb. 309–311) oder auf dem englischen hogback von Sockburn (Oehrl 2010,1, Abb. 279–285) sowie in Abwandlung des Motivs auf dem Monument von Hunnestad, Stein 1 & 5 (DR 282/286; Oehrl 2010,1, Abb. 5) und auf dem Runenstein von Ytterenhörna (Sö 190; Oehrl 2010,1, Abb. 26). Vgl. zu diesen Darstellungen Oehrl 2010,1, S. 172 ff., 182 ff., 154 ff., 210 ff.
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Hirsch und Schlange,52 die sich in den Schwanz beißende Schlange53 – von der Völkerwanderungszeit bis zur Wikingerzeit Verwendung fanden. Ob diese Bildformeln, die ja zum Teil uralt und durchaus auch nicht germanischer Provenienz sind,54 mehr als nur eine rein formale Klammer bilden oder vielmehr Ausdruck einer vergleichbaren religiösen und heroischen Weltsicht sind, wird sich erst im Zuge detaillierter Einzelstudien zeigen lassen. Es hat diese das Altertum und das Mittelalter übergreifenden Zusammenhänge aber auch im Bereich der Religion gegeben. Zentrale Göttergestalten wie Óðinn, Þórr und Frigg wurden nicht nur im Norden verehrt. Sie sind vielmehr nach Ausweis zahlreicher historischer, literarischer und epigraphischer Quellen gleichermaßen bei den Angelsachsen und den Germanenstämmen des Kontinents bezeugt.55 Zu dieser Überlieferung zählen neben der reichen mythischen Überlieferung des Nordens die Wochentagsnamen (vgl. etwa althochdeutsch Wuotanestac, altenglisch Wôdnesdæg, altnordisch Óðinsdagr),56 Mythenfragmente wie der Zweite Merseburger Zauberspruch, in denen neben dem Götterfürsten Wodan unter anderem Balder sowie die auch im Norden bekannten weiblichen Gottheiten Friia und Volla genannt werden,57 der angelsächsische Neunkräutersegen mit Woden,58 die Herkunftserzählung der Langobarden mit Wodan/Godan und seiner Gemahlin Frea,59 das altsächsische Taufgelöbnis mit Thunaer und Wôden,60 oder die Bügelfibel I von Nordendorf (RäF 151) mit den Götternamen Wodan und Wigiþonar. Unter diesen Voraussetzungen ist kein wirklicher Grund zu erkennen, warum bei dem Versuch, die Bilderwelt der Goldbrakteaten zu entschlüsseln, die jüngeren Schriftquellen prinzipiell unberücksichtigt gelassen werden sollten. Nun sind wir allerdings in der glücklichen Lage, dass wir auch im Brakteatenhorizont nicht auf eine genuin germanische Schriftüberlieferung verzichten müssen. Von 622 Modeln sind etwa 1/5 mit Runen versehen. Sie 52 53
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Heizmann 1999,3, S. 600 f.; Heizmann 2011, S. 563 ff. Vgl. Oehrl 2010,1, S. 205 ff. sowie demnächst zum Stichwort ‚Uroboros‘ in G(ermanische)A(ltertumskunde)O(nline). Vgl. etwa zum Bildmotiv ‚Figur zwischen wilden Tieren‘ die Untersuchung von Holzapfel 1973. Hultgård 2007 (Wotan/Óðinn); Beck 1986 (Donar/Þórr); Heizmann 2001, S. 302 f. de Vries 1957, S. 27; Polomé 1994, S. 97; Ernst 2007; Hultgård 2007, S. 760. Beck 2003, S. 90–379. The Metrical Charms 2, 31–33 (van Kirk Dobbie [Hrsg.]) 1942, S. 120; vgl. Heizmann 1997, S. 163–173; Hultgård 2007, S. 761 f. Origo gentis Langobardorum 1 (Waitz [Hrsg.] 1878, S. 2 f.); Paulus Diaconus: Historia Langobardorum I, 8 (Waitz [Hrsg.] 1878, S. 52). Wadstein 1899, S. 3; Steinmeyer 1916, S. 20; Haug / Vollmann (Hrsg. u. Übers.) 1991, S. 18/19.
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ermöglichten es, die Verknüpfung von Bild und Schrift der römischen Vorlagen wenigstens in Teilen auch im Norden beizubehalten. Diese Runenüberlieferung auf Goldbrakteaten macht wiederum allein 1/3 der gesamten Inschriften im älteren Fuþark aus. Unter diesen Brakteateninschriften begegnen wir einem nicht unbeträchtlichen Namenmaterial.61 Die Frage, ob wir hier auf bekannte Götternamen stoßen, lässt sich rundweg verneinen. Allerdings gibt es Namen, die sich durchaus als Beinamen des Götterfürsten Wotan/Odin erwägen lassen. Hier seien nur die vier aussichtsreichsten Kandidaten vorgestellt:62 1. IK 58 Fünen (I)-C (Abb. 1). Der linksläufige Komplex zwischen Kopf und Lauf des Pferdes wurde früher zumeist als houaR transkribiert, neuerdings als horaR. Im ersten Fall ließe sich das Wort zu dem gut bezeugten Odinsnamen Hár ‘der Hohe’ stellen.63 Im zweiten Fall wurde unter anderem eine Bedeutung ‘das Liebe’ als Bezeichnung des dargestellten Pferdes erwogen.64 2. IK 128 Nebenstedt (I)-B: glïaugiR (Abb. 10). Nach gängiger Auffassung handelt es sich hierbei um den Namen GlīaugiR, was mit der ‘Glanzäugige’ zu übersetzen wäre. Damit ließe sich wiederum der Odinsname Báleygr ‘der Flammäugige’ vergleichen.65 61 62
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Müller 1988/2011; Beck 2011. In der Diskussion befinden sich ferner (ich führe nur Literatur auf, die eine Deutung als Odinnamen erwägt): IK 11 Åsum-C akaR (Beck 2001, S. 71 f.; Müller 1988/2011, S. 145/359; Düwel / Nowak 2011, S. 430 ff.), IK 51 Gudme II-B undR (Nowak 2003, S. 282 ff.; anders Heizmann 1998; vgl. dagegen jetzt Nedoma 2009), IK 98 Køge-C hariuha (Düwel / Nowak 2011, S. 409 ff.; Müller 1988/ 2011, S. 113 f./320, 144 f./358, 147/361), IK 149 Schonen I-B gakaR (Beck 2001, S. 65; Beck 2011, S. 307 f., 310, 314), IK 161 Skodborghus-B alawin und alawid (Beck 2001, S. 61 ff.; Beck 2011, S. 303; Düwel / Nowak 2011, S. 416 ff.; Müller 1988/2011, S. 128 ff./338 ff.), IK 181 Svarteborg-M ssigaduR (Düwel 2005; Hauck 1975, S. 171; Müller 1988/2011, S. 122 ff./331 ff.; Wagner 2009), IK 184 Tjurkö (I)-C/Målen heldaR (Beck 2011, S. 312 ff.; Düwel / Nowak 2011, S. 403 ff.; Müller 1988/2011, S. 127 f./337 f., 144/357 f.; Nowak 2003, S. 270 ff.), IK 241 Eskatorp-F/Väsby uuigaR (Düwel / Nowak 2011, S. 423 ff.; Müller 1988/2011, S. 134/345, 144/358, 147/362), IK 341 Sønder Rind-B uiniR (Müller 1988/2011, S. 113/319, 148/362 f.; Düwel / Nowak 2011, S. 443 ff.), IK 364 UFo-C þul (Beck 2001, S. 66), IK 367 UFo-C waiga (Beck 2001, S. 74; Müller 1988/2011, S. 113/ 320, 148/363). Müller 1988/2011, S. 114/321, 126/336, 146/360 f.; Düwel / Nowak 2011, S. 469 ff. Beck 2001, S. 67; Heizmann 2001, S. 329; Nowak 2003, S. 279 ff. Müller 1988/2011, S. 140/353, 147/361; Hauck 2001, S. 101; Düwel / Nowak 2011, S. 386 ff., 437 f.
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3. IK 98 Raum Køge-C/Seeland II: farauisa. Das Wort lässt sich sowohl als fārawīsa ‘der Gefährliches Wissende’ oder farawīsa ‘der Fahrtenkundige’ verstehen. Für beide Auffassungen sind Odinsbezüge möglich. Auf Odins Zauberwissen könnte fārawīsa Bezug nehmen; zu farawīsa gibt es Anknüpfungsmöglichkeiten unter den Odinsheiti: Vegtamr ‘der Weggewohnte’ und Gangráðr ‘der Wegekundige’.66 4. IK 340 Raum Sønderby-C/Femø (IK 11 Åsum-C): fakaR. (Abb. 11) Das Wort könnte an altnordisch (poetisch) fákr ‘Pferd’ angeknüpft werden, das sich in eine Reihe mit Odinsnamen stellen ließe, die den Gott in Beziehung zum Pferd setzen: Hrosshársgrani, Atríðr, Brúnn, Rauðgrani, Jalkr, Vakr.67 Diese Beispiele zeigen zur Genüge, dass auf rein sprachlichem Wege wasserdichte Ergebnisse im Sinne von Götternamen nicht zu erreichen sind. Hier werden sich immer Skeptiker zu Worte melden, die allerdings, so ist zu vermuten, nicht eher überzeugt sein werden, bis ein Brakteat mit einer deutlich lesbaren Odin-Inschrift auftaucht. Dies ist allerdings nicht zu erwarten, denn aus vergleichbaren antiken Kontexten wissen wir, dass der Zaubergott sich nie mit seinem eigentlichen Namen nennt und auch nicht mit diesem genannt werden darf. Nachdem die Runologie lange Zeit so getan hat, als gingen sie die Bilder der Runenbrakteaten nichts an, als hätten also die Bilder mit den Inschriften nichts zu tun, beginnt sich seit einigen Jahren die Erkenntnis durchzusetzen, daß Bild und Schrift zusammen gesehen werden müssen. Dies ist auch in Bezug auf die Vorbilder eine plausible Vorannahme. Dort finden sich Bilder des Kaisers sowie verschiedener römischer Gottheiten, vornehmlich Mars und Victoria, ihnen entspricht das Namensmaterial. Es ist daher kaum zu erwarten, dass wir auf den Goldbrakteaten die Bilder sonst völlig unbekannter germanischer Gottheiten oder lokaler Machthaber vor uns haben, deren Prestige, Charisma und Macht dem Vergleich mit den Vorbildern in keiner Weise Stand hielte. Es ist gewiss kein Zufall, dass es im Brakteatenhorizont auf germanischer Seite nachweislich nur der Frankenkönig Theudebert I (534–548) wagte, sein Bild und seinen vollen Namen auf Goldmünzen zu prägen.68 Wenn wir also auf Goldbrakteaten immer wieder kaiserlichen und göttlichen Insignien begegnen, so liegt es nahe, deren Träger mit hochrangigen Gestalten des germanischen Pantheons zu identifizieren und nicht mit unbedeutenden Nebenfiguren. 66 67
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Müller 1988/2011, S. 140 f./353 f.; Düwel / Nowak 2011, S. 394 ff., 409 ff. Müller 1988/2011, S. 145/359, 148/362; Beck 2001, S. 70 ff.; Düwel / Nowak 2011, S. 430 ff. Springer 2005, S. 458.
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Abb. 10–12: 10: IK 128 Nebenstedt (I)-B; 11: IK 340 Raum Sønderby-C/Femø; 12: IK 190Av Raum Trollhättan-A.
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Um aber über Vermutungen und Vorannahmen hinaus zu gelangen, sind wir letztlich auf signifikante Bilddetails angewiesen, die sich mit Hilfe der literarischen Überlieferung zum Sprechen bringen lassen. Zu den sicheren Kandidaten zählt zweifellos die Darstellung auf dem Avers von IK 190 Raum Trollhättan-A (Abb. 12), die sich mit Snorris Überlieferung vom Handverlust des Gottes Týr im Rachen des Fenriswolfes69 zusammenbringen lässt.70 Ob wir zudem auf dem Revers von IK 297 Lyngby-A (Abb. 13) mit einer Darstellung der Midgardschlange rechnen dürfen,71 die in den nordischen Quellen als weltumgürtende und sich in den Schwanz beißenden Schlange beschrieben wird,72 ist zumindest diskussionswürdig. Karl Hauck hat seine Auffassung, dass auf den Goldbrakteaten zuvorderst Óðinn, der Hauptgott des germanischen Pantheons, dargestellt wird, auf unterschiedlichste Weise nachzuweisen versucht.73 Am überzeugendsten ist ihm dies in meinen Augen am Beispiel der ikonographischen Analyse der Formularfamilie B1 und der C-Brakteaten geglückt. Gleich mehrfach begegnet auf Brakteaten der Formularfamilie B1, die auch als Drei-GötterBrakteaten bezeichnet werden, eine Szene, die Karl Hauck als Darstellung von Balders Misteltod gedeutet hat.74 Den Schlüssel zum Verständnis liefern
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Snorri Sturluson: Gylfaginning, Kap. 34 (Faulkes [Hrsg.] 1982, S. 28): En er úlfrinn spyrnir, þá harðnaði bandit, ok því harðara er hann brauzk um, því skarpara var bandit. Þá hlógu allir nema Týr. Hann lét ho˛ nd sína. ‘Und als der Wolf mit dem Fuß gegen (die Fessel) tritt, da wurde sie hart, und je stärker er sich drehte und wendete, desto stärker wurde die Fessel. Da lachten alle außer Tyr, er verlor seine Hand.’ (Lorenz [Hrsg. u. Übers.] 1984, S. 416). Zuerst gesehen von Eric Graf Oxenstierna, ohne jedoch mit der einschlägigen Schriftüberlieferung zu argumentieren (1956, S. 36); vgl. auch Hauck 1977,1, S. 169 f.; Hauck 1980,1, S.282; Hauck 1980,2, S. 580; Hauck 1988, S. 18; Hauck 1992,1, S. 259; Hauck 1992,2, S. 127 f.; Hauck 1993,2, S. 444; Thykier / Watt / Sørensen (Hrsg.) 1997, S. 58; Heizmann 1999,1, S. 244. Vgl. Hauck 2001, S. 282 f. Snorri Sturluson: Gylfaginning, Kap. 34 (Faulkes [Hrsg.] 1982, S. 27): Ok er þau kómu til hans þá kastaði hann orminum í inn djúpa sæ er liggr um o˛ ll lo˛ nd, ok óx sá ormr svá at hann liggr í miðju hafinu of o˛ ll lo˛nd ok bítr í sporð sér. ‘Und als sie [= die Götter] zu ihm [Odin] kamen, da warf er die Schlange in das tiefe Meer, das um das gesamte Landgebiet liegt, und diese Schlange wuchs so, daß sie mitten im Meer um alle Lande liegt und sich in den Schwanz beißt.’ (Lorenz [Hrsg. u. Übers.] 1984, S. 414). Diese Vorstellung setzt eine Reihe von bildhaften Umschreibungen (Kenningar) insbesondere in Skaldengedichten des 9. und 10. Jahrhunderts offensichtlich voraus (vgl. Heizmann 1999,2, S. 428 mit Anm. 105; Oehrl 2011). Zuletzt Hauck 2011,1, S. 3 ff.; Hauck 2011,2, S. 80 ff. Zuletzt Hauck 2011,1, S. 18 ff.; Hauck 2011,2, S. 80 ff.; zusammenfassend Heizmann 2009, S. 19 ff.
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Abb. 13–14: 13: IK 297Rv Lyngby-A; 14: IK 51,1 Faxe-B.
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IK 51,1 Faxe-B (Abb. 14) und IK 595 Fuglsang-B/Sorte Muld,75 denn hier steckt der geschulterte beziehungsweise dargebotene Zweig (ursprünglich ein Palmzweig) der linken Gestalt, die nach Ausweis von Flügel, Zweig, Kranz, Rock und Globus unverkennbar in der Victoria-Nachfolge steht (Abb. 14a–b), zugleich abgeknickt im Rumpf der mittleren Gestalt in der Kaisernachfolge. Durch diesen abgeknickten Zweig wird ein Ereignis aus der letzten Phase der Götterwelt aufgerufen, von dem uns die mythologischen Texte des Nordens, namentlich Snorri Sturlusons Gylfaginning76 und die Vo˛ lospá77, berichten: die Tötung Balders auf Anstiften von Loki. Auf anderen Drei-Götter-Brakteaten wird zudem das schon aus der spätantiken Kunst bekannte synoptische Prinzip,78 bei dem zeitlich aufeinander folgende Phasen in einem Bild zusammengezogen werden, eingesetzt, um Zukünftiges, wie Lokis Bestrafung durch das Gift einer über seinem Haupt angebrachten Giftschlange (Abb. 15),79 vielleicht auch weit zurückliegende
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Beck/Hauck 2002, Tafel I; jetzt im ‚Katalog der Neufunde‘ in Heizmann/Axboe 2011. Snorri Sturluson: Gylfaginning, Kap. 49 (Faulkes [Hrsg.] 1982, S. 46): Ho˛ ðr tók mistiltein ok skaut at Baldri at tilvísun Loka. Flaug skotit í go˛ gnum hann ok fell hann dauðr til jarðar … . ‘Ho˛ ðr nahm den Mistelzweig und schoß nach Lokis Anweisung auf Balder; das Geschoß durchbohrte ihn, und er fiel tot zu Boden.’ (Lorenz [Hrsg. u. Übers.] 1984, S. 551). Ec sá Baldri, blóðgom tívor, Óðins barni, ørlo˛ g fólgin; stóð um vaxinn, vo˛ llom hæri, miór oc mioc fagr, mistilteinn Varð af þeim meiði, er mær sýndiz, harmflaug hættlig, Ho˛ðr nam scióta; (Vsp. 31 u. 321‒4)
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‘Ich sah Balder, dem blutigen Opfer, dem Sohne Odins, das Schicksal bestimmt: es ragte empor hoch über die Gefilde, schlank und sehr schön der Mistelzweig. Es ward aus dem Baum, der schlank erschien, ein gefährliches Harmgeschoß: Höd begann zu schießen.’ (Schröder 1929, S. 50; vgl. auch Krause [Übers.] 2004, S. 22). Zu dem im Zusammenhang mit den mittelalterlichen Schemabildern eingeführten Begriff ‚synoptisches Prinzip‘ vgl. grundlegend Meier 1990, S. 38; vgl. auch Hauck 1992,2, S. 118 f. sowie Heizmann 1999,1, S. 246. Locasenna (Schlußprosa): Scaði tóc eitrorm oc festi up yfir annlit Loca. Draup þar ór eitr. (Neckel/Kuhn [Hrsg.] 1983, S. 110). ‘Skadi nahm eine Giftschlange und befestigte sie über dem Gesicht Lokis. Aus ihr tropfte Gift.’ (Krause [Übers.] 2004, S. 161); Snorri Sturluson: Gylfaginning, Kap. 50 (Faulkes [Hrsg.] 1982, S. 49): Þá tók Skaði eitrorm ok festi upp yfir hann svá at eitrit skyldi drjúpa ór orminum í andlit honum. ‘Da nahm Skaði eine Giftschlange und befestigte sie so über ihm, daß
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Abb. 14–17: 14a: IK 51,1 Faxe-B (Detail); 14b: Goldmedaillon (zu 4½ Solidi), Rv: Victoria mit Kranz und Palmzweig auf Globus (Detail); 15: IK 39 Dänemark (X)-B (Detail); 16: IK 66 Gummerup-B (Detail); 17a: IK 51,1 Faxe-B (Detail); 17b: Sesterz des Antoninus Pius, Rv: Mars Ultor mit Helm, Panzer, Beinschienen und Mantel, mit der Rechten auf die Lanze gestützt, die Linke hält den auf den Boden gesetzten Rundschild, 140/144 n. Chr. (Detail).
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Ereignisse, wie Lokis ‚Ursünde‘, die Ottertötung (Abb. 16),80 visionär in das Geschehen einzubeziehen. Als dritte Person tritt auf den Drei-GötterBrakteaten eine Gestalt in der Mars-Ultor Nachfolge (Abb. 17a–b) auf, gekennzeichnet durch die nach unten gerichtete Lanze, charakteristische Armhaltung der Lanzenhand und gefältelten Schurz. Für sich allein finden wir diese Gestalt wieder auf dem Revers von IK 362 Gunheim-M. Das Vorbild Mars hat Hauck bewogen, diese Gestalt als Odin zu identifizieren.81 Zwar wird Odin/Wotan sonst überwiegend mit dem römischen Merkur gleichgesetzt,82 doch treffen wir vereinzelt auch auf den Vergleich mit Mars. In diese Richtung weist jedenfalls der berühmte Bericht Adams von Bremen über die drei Hauptgötter im Tempel von Uppsala. Von Wodan heißt es dort, er führe Kriege und verleihe dem Menschen Kraft gegen seine Feinde. Sie stellen ihn bewaffnet dar sicut nostri Martem solent (‘wie wir den Mars’).83 Ausgangspunkt der ikonographischen Analyse der C-Brakteaten84 ist die Bestimmung des dort dargestellten großen Vierbeiners als Pferd.85 Dies ergibt sich unter anderem aus den antiken Vorlagen, denn ein Bild wie das auf IK 62 Gerete-C geht letztlich auf ein Medaillon des Kaisers Konstantin I. zurück (Abb. 3a–b). Das Brakteatenpferd begegnet in einer Reihe von Spielarten, darunter solchen, die das Pferd in einem derangierten Zustand (Abb. 18)
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das Gift der Schlange ihm ins Gesicht tropfen sollte.’ (Lorenz [Hrsg. u. Übers.] 1984, S. 583); vgl. Hauck 1974, S. 138 f.; Hauck in Beck/Hauck 2002, S. 77. Reginsmál (Einleitungsprosa); „Otr hét bróðir várr“, qvað Reginn, „er opt fór í forsinn í otrs líki. Hann hafði tekit einn lax oc sat á árbacconom oc át blundandi. Loki laust hann með steini til bana.“ (Neckel/Kuhn [Hrsg.] 1983, S. 173). ‘„Otter hieß unser Bruder“, sprach Regin, „der sprang oft in den Wasserfall in der Gestalt eines Otters. Er hatte einen Lachs gefangen, saß am Flußufer und aß blinzelnd. Loki warf ihn mit einem Stein tot.“’ (Krause [Übers.] 2004, S. 317); Snorri Sturluson: Skáldskaparmál, Kap. 39 (Faulkes [Hrsg.] 1998, S. 45): þeir [=Óðinn, Loki, Hœnir] kómu at á nokkvorri ok gengu með ánni til fors nokkvors, ok við forsinn var otr einn ok hafði tekit lax ór forsinum ok át blundandi. Þá tók Loki upp stein ok kastaði at otrinum ok laust í ho˛ fuð honum. ‘Sie gelangten an einen Fluß und gingen an ihm entlang bis zu einem Wasserfall. Dort war ein Otter, und der hatte im Wasserfall einen Lachs gefangen, den er mit fast geschlossenen Augen aß. Da hob Loki einen Stein auf, warf ihn nach dem Otter und traf ihn am Kopf.’ (Krause [Übers.] 1977); S. 145); vgl. Hauck 1992,3, S. 489. Zuletzt Hauck 2011,1, S. 16 f.; Hauck 2011,2, S. 83 ff. Vgl. Heizmann 2011, S. 571 f. Trillmich (Hrsg. u. Übers.) 2000, S. 470/471. Für eine Zusammenfassung der Hauckschen Deutung der C-Brakteaten vgl. Heizmann 2007, S. 19 ff. Zu den in der Forschung vertretenen alternativen Deutungen als Thors Bock (vgl. etwa Worsaae 1870, S. 414 f.) oder neuerdings auch als Mithrasstier (Sundqvist/ Kaliff 2004) vgl. Heizmann 2007, S. 19 ff.
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Abb. 18–19: 18: IK 33 Britisches Museum-C; 19a: IK 151 Schonen (?) (VI)-C; 19b: IK 192 Tuna-A.
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bis hin zur Ausgliederung der Extremitäten zeigen (Abb. 19a–b). Auf diese Extremitäten konzentriert sich offensichtlich ein besonderes Interesse. Sie werden von Vögeln inspiziert (Abb. 20a–c) oder von kleineren Vierbeinern beleckt (Abb. 21a–b). Auf diese Weise liefern die Bilder das unmissverständliche Signal, dass es mit diesen Extremitäten etwas Besonderes auf sich haben muss. Auf mehreren Brakteaten wird das Pferd im Sturz gezeigt (Abb. 22a–b). Hauck spricht hier von einer Sturz-Chiffre, die sich als Todestopos in der frühmittelalterlichen christlichen Bildkunst nachweisen lässt.86 Aus dieser Beobachtung ergibt sich die Frage, wodurch dieser Sturz ausgelöst wurde. Sie führt in die Vorstellungswelt des Mittelalters von den Ursachen von Krankheiten. Bis in die Neuzeit hinein wurden vor allem in der Volksmedizin Würmer als Verursacher diverser Krankheiten gesehen.87 Ganz konkret macht zum Beispiel der althochdeutsche Wurmsegen aus einer Handschrift des 9. Jahrhunderts des Klosters Tegernsee solche Würmer für die Erkrankung der Hufe verantwortlich.88 Von diesem Wurmsegen her gesehen lassen sich jene Brakteatenbilder verstehen, die ein wurmähnliches Wesen in unmittelbarer Zuordnung zu den Pferdehufen zeigen (Abb. 23a–b). Ein genauer Blick auf die C-Brakteaten offenbart ein ganzes Arsenal von rationalen und magischen Kuren. Schon in seinen ersten Beiträgen hat Hauck in diesem Zusammenhang auf bestimmte Details aufmerksam gemacht, die aus Mund und Nase des großen Hauptes hervorzukommen scheinen (Abb. 24a–c).89 Er hat sie als Atemchiffren angesprochen.90 Zu dieser Auffassung gelangt er durch den Vergleich mit den Bildkonventionen antiker Windgottdarstellungen.91 Hauck hat diese Atemchiffren als Zeichen göttlicher Aktivität interpretiert, als Darstellung des zaubermächtigen Atems des Götterfürsten, der die Heilung des verletzten Pferdes bewirkt.92 Zu 86 87 88
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Hauck 1992, 3, S. 448 f. Vgl. Keil 2007, §§ 4–6. Gang uz, Nesso,/ mit niun nessinchilinon,/ uz fonna marge in deo adra,/ vonna den adrun in daz fleisk,/ fonna demu fleiske in daz fel,/ fonna demo velle in diz tulli./ Ter pater noster. (Braune [Hrsg.] 1965, S. 89; vgl. von Steinmeyer [Hrsg.] 1916, S. 374). ‘Nesso, fahr heraus/ mit neun Nessojungen:/ aus dem Mark in die Adern,/ aus den Adern in das Fleisch,/ aus dem Fleisch in die Haut,/ aus der Haut in diese Sohle!/ Dreimal das Vaterunser!’ (Haug / Vollmann [Hrsg. u. Übers.] 1991, S. 156/ 157). Vgl. die niederdeutsche Fassung bei Braune (Hrsg.) 1965, S. 90; Wadstein (Hrsg.) 1899, S. 19; von Steinmeyer (Hrsg.) 1916, S. 374. Vgl. Die Zusammenstellung bei Hauck in IK 1,1 Einleitung, S. 76 Fig. 13. Hauck 1970, S. 137–140; Hauck 1972, S. 633 f., 643–651; Hauck 1978, S. 380 f.; Hauck 1988, S. 25 f.; Hauck in IK 1,1 Einleitung, S. 100 f. Hauck 1970, S. 146 f. Abb. 1a–b. Hauck 1970, S. 189–194; Hauck 1977,2, S. 499 ff.; Hauck 1977,3, S. 103–108;
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Abb. 20–21: 20a: IK 43 Darum (V)-C (Detail); 20b: IK 52 Fjällbacka-C (Detail); 20c: IK 68 Raum Hälsingborg-C (Detail); 21a: IK 146 Røgenes-C (Detail); 21b: IK 151 Schonen (?) (VI)-C (Detail).
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Abb. 22–23: 22a: IK 132 Obermöllern-B; 22b: IK 392 Gudme II-C; 23a: IK 125 Mecklenburg-C (Detail); 23b: IK 81 Raum Hjørring-C/Stejlbjerg (?) (Detail).
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Abb. 24: a: IK 196 UFo-A; b: IK 183 Tjurkö (III)-A/Målen; c: IK 131 Norwegen (?)-B (Detail).
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erwägen wäre allerdings, ob hier nicht in einem weiteren Sinn von einer Kommunikationschiffre gesprochen werden sollte, in die dann nicht nur der Atem, sondern auch das heilmächtige Wort miteinbezogen wäre.93 In diesem Zusammenhang wäre insbesondere auf jene Brakteatenbilder hinzuweisen, die das Pferdeohr unmittelbar im Mund des Gottes zeigen (Abb. 25a–b). Andere Bilder zeigen die Zunge des göttlichen Arztes (Abb. 26a–b).94 Vielleicht kann sogar diskutiert werden, ob nicht auch seine Speichelflocken abgebildet werden (Abb. 27a–b).95 Speichel ist nach verbreitetem antikem Glauben für Schlangen und anderes giftiges Getier tödlich.96 In der angelsächsischen Rezeptsammlung der sogenannten Lacnunga ist ein Wurmsegen überliefert (Wið wyrme), der in die Wunden gesungen werden soll; zugleich sind sie mit Speichel zu bestreichen.97 Während hier Zaubermedizin und Erfahrungsmedizin Hand in Hand gehen, wird Speichel auch rein rational in zahlreichen Kuren der Pferdeheilkunde eingesetzt, wie sich zum Beispiel mit Hilfe von Rossarzneibüchern des 16.–18. Jahrhunderts dokumentieren lässt.98 Dort werden nicht allein dem menschlichen Speichel heilende Kräfte zugeschrieben, sondern auch dem von Pferden und Hunden,99 die wir tatsächlich auf einigen C-Brakteaten als tiergestaltige Helfer in dieser Funktion wieder finden (Abb. 19a; 21a–b). In diesen bildlichen Zusammenhang fügt sich im Übrigen auch die runische Schriftüberlieferung auf Goldbrakteaten. Insbesondere ist hier das Wort laukaR ‘Lauch’ zu nennen, das überwiegend auf C-Brakteaten auftritt.100 Von der Antike bis in unser Jahrhundert hinein fanden nämlich in
93 94 95 96
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Hauck 1978, S. 385 f.; Hauck 1992,2, S. 122; Hauck 1992,3, S. 466 f.; Hauck in Beck/Hauck 2002, S. 68. Heizmann 2001, S. 334; vgl. Oehrl 2010,2, S. 434 ff, 439 ff. Heizmann 2001, S. 333. Hauck 1977,2, S. 487; Heizmann 2001, S. 334 ff. So schon Aristoteles, De animalibus historia θ, 29, 607a (Dittmeyer [Hrsg.] 1907, S. 350); vgl. Nikandros, Theriaca 86 (Schneider [Hrsg.]) 1856, S. 223); Plinius, Historia naturalis VII, 15 (König/Winkler [Hrsg. u. Übers.] 1996, S. 22/23); XXVIII, 35 (König/Winkler [Hrsg. u. Übers.] 1988, S. 32/33); weitere Hinweise bei Seligmann 2001, S. 287. Grendon 1909, S. 168 f. (A 5.); Bonser 1963, S. 221. Antkowiak (Hrsg.) 1969, Nr. 357 (S. 21); Brauer 1980, Cap. 122 (S. 75); Brebaum (Hrsg.) 1967, R. 220 (S. 103); Brunnbauer (Hrsg.) 1972, Nr. 402 (S. 105), Nr. 454 (S. 114); Ludwig (Hrsg.) 1995, Nr. 126 (S. 27). Vgl. Bargheer 1931, S. 314; Hauck 1977,3, S. 115 f.; von Hovorka / Kronfeld 1908, S. 400; Jühling 1900, S. 80; Stemplinger 1948, S. 104; Weinreich 1909, S. 99 ff. Dazu jetzt ausführlich Heizmann 2011, S. 550 ff.
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Abb. 25–27: 25a: IK 48 Erska Håkonsgården-C (Detail); 25b: IK 113Av Lista-C (Detail); 26a: IK 135 Ølst-C (Detail); 26b: IK 392 Gudme II-C (Detail); 27a: IK 169 Sletner-C (Detail); 27b: IK 182,1 Szatmár-C.
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ungebrochener Tradition nicht nur Zauber- und Segenssprüche im Bereich der Pferdeheilkunde, insbesondere im Bereich der Verletzungen und Erkrankungen der Extremitäten, Anwendung, sondern in gleicher Weise auch bestimmte rationale Heilverfahren. Von allen Heilpflanzen, die in diesem Zusammenhang genannt werden, stehen die verschiedenen Spezies der Gattung Allium an erster Stelle. Dies gilt für die antike Tradition der Mulomedicina Chironis101 aus der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts n. Chr. oder die Rezepte im Corpus hippiatricorum Graecorum,102 einer im 9. Jahrhundert n. Chr. veranstalteten Sammlung von Autoren des 4. nachchristlichen Jahrhunderts, ebenso wie für die mittelalterliche lateinische Fachliteratur mit Vertretern wie Jordanus Rufus aus Calabrien (13. Jh.)103 und Laurentius Rusinus aus Rom (ca. 1320–1370).104 Und dies gilt weiter für eine von der antiken Fachliteratur wenig beeinflusste Überlieferung mit Vertretern wie dem Rossarzneibuch des Meisters Albrant,105 den die ältesten Handschriften als Schmied und Marstaller Kaiser Friedrichs II. in Neapel bezeichnen, sowie die zahlreichen Rossarzneibücher der Empiriker der sogenannten Stallmeisterzeit.106 Eine Fülle von antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Texten bestätigt somit die überragende Bedeutung von Allium bei der Behandlung von praktisch allen Arten der Verletzung und Erkrankung der Pferdeextremitäten.107 Diese Belege aus der Hippiatrie eröffnen einen unmittelbaren Bezug zu tatsächlich geübten rationalen Heilverfahren. Das Formelwort laukaR steht so in engster Beziehung zum bildlich Dargestellten und entspricht damit der Mehrschichtigkeit der Bildformel: im Bereich der Erfahrungsmedizin als Äquivalent zu rationalen Heilverfahren, auf der Ebene der vom Gott geübten Zaubermedizin als Lebenskraut par excellence, wie Lauch insbesondere in der nordischen 101 102 103 104 105 106
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Buch VII, 606, 629, 661; X, 991 (Oder [Hrsg.] 1901). Oder/Hoppe (Hrsg.) 1924, Bd. 1, S. 418, 421. Hippiatria, Kap. 13, 37, 38 (Molin [Hrsg.] 1818). Schnier (Hrsg.) 1937, S. 55, 57, 66, 117 f. Kap. 14 (Eis [Hrsg.] 1960). Vgl. (in Auswahl) Brebaum (Hrsg.) 1967, S. 88, 91 f., 131, 139, 169, 178, 181, 205, 229 f.; Knobloch (Hrsg.) 1933, Kap. 16, 22, 53, 55, 85, 87, 258, 312, 336, 378, 525, 710, 743, 756, 803, 824, 832, 833, 869, 882, 990; Körke (Hrsg.) 1935, Kap. 158, 178, 189, 286, 409, 455, 530, 585, 586, 624, 658, 663; Lezius (Hrsg.) 1968, Kap. 9, 35, 57, 187, 250, 252, 313, 332, 334; Liermann (Hrsg.) 1934, Kap. 63, 173, 191, 197, 199, 232, 252, 353, 448, 459; Maaß (Hrsg.) 1935, Kap. 84, 90, 95, 162, 189; Schmidt (Hrsg.) 1931, Kap. 116, 144, 147, 250, 262, 502; Schober 1936, S. 43, 75 f.; Seele (Hrsg.) 1932, Kap. 61, 67b, 87, 163, 165, 180, 223, 250b, 252, 253, 281, 290a, 294, 314, 341, 357, 366; Seifert 1976, Cgm 407, Kap. 34, 36, 90, 135, 167, Cgm 384, Kap. 21 (vgl. dort auch S. 88 die Tabelle der am häufigsten verwendeten Heilmittel nach Indikationen unter Extremitäten). Vgl. Heizmann 1987, S. 148.
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Überlieferung reich bezeugt ist.108 Diese Zusammenhänge machen verständlich, warum die Lauch-Formel zum einen als machtvoller Ausdruck göttlichen Heil-Zauberwissens bevorzugt vor dem Götterhaupt erscheint (Abb. 28a), andererseits aber auf einem so qualitätsvollen Stück wie IK 26 Börringe-C (Abb. 28b) unmittelbar unter die Vorderhand des Pferdes platziert wurde. Das Formelwort weist damit nicht nur demonstrativ auf den Ort der Verletzung, sondern vermittelt zugleich die Botschaft von deren prinzipieller Heilbarkeit. Dass die Ikonographie der C-Brakteaten also tatsächlich um das Thema Verletzung und Heilung eines Pferdes kreist, darf man als gesicherten Befund ansprechen. Es ist dann methodisch nur legitim, sich in nahen Horizonten nach vergleichbaren Überlieferungen umzusehen, und dies führt unweigerlich auf den Zweiten Merseburger Zauberspruch, der in seiner historiola die Heilung des Pferdes explizit dem Götterfürsten Wotan zuschreibt.109 Auf diese Weise wird in großem Maße wahrscheinlich, dass die zentrale Gestalt der Goldbrakteaten als Odin/Wotan anzusprechen ist. Je tiefer wir in die Bilderwelt der Goldbrakteaten eindringen und ihre Rätsel zu entschlüsseln vermögen, um so deutlicher tritt zutage, dass hier nicht nur Göttergestalten wie Óðinn, Balder, Loki und Týr greifbar werden, sondern darüber hinaus auch die ‚Gerüstfakten‘, um einen anschaulichen Terminus von Karl Hauck zu verwenden, zentraler Mythen der weit späteren nordischen Schriftüberlieferung. Während diese hochmittelalterliche Überlieferung der noch nicht lange zurückliegenden Wikingerzeit nahe steht und uns den Heroismus einer Kriegergesellschaft vermittelt, auf die eine pessimistische Endzeiterwartung wie ein dunkler Schatten fällt, liegt den Bildern der Goldbrakteaten eine ungleich zuversichtlichere Weltsicht zugrunde. Alles in der völkerwanderungszeitlichen Brakteatenkunst läuft letztlich auf ein großes Thema, eine dominierende Botschaft hinaus: Den lebensbedro108 109
Dazu jetzt ausführlich Heizmann 2011, S. 556 ff. Phol ende uuodan/ uuorun zi holza./ du uuart demo balderes uolon/ sin uuoz birenkit./ thu biguol en sinthgunt,/ sunna era suister;/ thu biguol en friia,/ uolla era suister;/ thu biguol en uuodan,/ so he uuola conda:/ sose benrenki,/ sose bluotrenki,/ sose lidirenki:/ ben zi bena,/ bluot zi bluoda,/ lid zi geliden,/ sose gelimida sin. (Braune [Hrsg.] 1965, S. 89; vgl. von Steinmeyer [Hrsg.] 1916, S. 365 f.; Haug/ Vollmann [Hrsg. u. Übers.] 1991, S. 152/153). Auf die zahlreichen, zum Teil sehr vertrackten philologischen Probleme dieses Zauberspruchs kann hier nicht eingegangen werden; vgl. zuletzt Beck 2003 sowie Eichner/Nedoma 2003. Meine Übersetzung orientiert sich an Heinrich Tiefenbach (1970): ‘Phol und Wodan fuhren zum Holze. Da ward dem Fohlen Balders sein Fuß verrenkt. Da besprach ihn Sinthgunt, Sunna ihre Schwester; da besprach ihn Frija, Volla ihre Schwester; da besprach ihn Wodan, wie er es wohl konnte: wie Beinverrenkung, wie Blutverrenkung, wie Gliedverrenkung: Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Gliedern, so dass feste Verbindungen sein mögen.’
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Abb. 28: a: IK 8 Års (II)-C; b: IK 26 Börringe-C (Detail).
henden Elementen des Chaos und des Todes steht die übermächtige Regenerationskraft eines Gottes entgegen. Sein Sieg garantiert den Bestand der kosmischen Ordnung und vermittelt Heilsgewissheit in unsicherer Zeit. Die Brakteatenreligion ist in ihrem Kern also eine Auferstehungsreligion. Sie fügt sich damit nahtlos in entsprechende religiöse Strömungen wie den Mithras-Kult, den Kult des Jupiter Dolichenus, den Kult von Attis und Ky-
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bele, den Isis-Kult und schließlich auch das Christentum, Kulte, die gerade im römischen Heer weit verbreitet waren. Die Begegnung und die Auseinandersetzung mit ihnen führten zu einer grundlegenden Veränderung der germanischen Religion, deren Ausmaß wir gerade erst zu erahnen beginnen. Dass die germanische Religion in ihrem Kern indogermanische Traditionen fortsetzt, ist nach den Forschungen Georges Dumézils nicht zu bestreiten. In der Spätantike gerät sie jedoch durch den jahrelangen Aufenthalt germanischer Geiseln, Söldner und Hilfstruppen auf römischem Boden in den mächtigen Sog von letztlich orientalischen Mysterienkulten und Auferstehungsreligionen, deren Mythologeme und religiöse Vorstellungen den indogermanischen Traditionskern überformen. Mit dem Zusammenbruch der antiken Welt und dem Kollabieren der intensiven ökonomischen und kulturellen Kontakte zwischen Nord und Süd wird diesem dominierenden Einfluss zunehmend der Boden entzogen. Erst in der relativen Isolation der Dark Ages bildet sich schließlich jenes Erscheinungsbild der dann nordgermanischen Religion heraus, das uns in den späteren Quellen des Nordens greifbar wird. Die Einsicht in diese Zusammenhänge steht noch am Anfang. Mit der Zentralortforschung und der zunehmenden Entschlüsselung der völkerwanderungszeitlichen Bilderwelt der Germanen sind jedoch erste Schritte getan, die unsere Sicht auf die Entwicklung der germanischen Religion grundlegend verändern werden.
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Wilhelm Heizmann
Uppåkrastudier 1 ff., Lund 1998 ff. (bis dato 10 Bde.) de Vries, Jan 1957. Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. 2 (Grundriß der germanischen Philologie 12/2). Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage. Berlin. Wagner, Norbert 2009. Zum ssigadur des Svarteborg-Medaillons. In: Beiträge zur Namenforschung 44, S. 209–211. Watt, Margrethe 1992. Die Goldblechfiguren (‚guldgubber‘) aus Sorte Muld. In: Hauck, Karl (Hrsg.), Der historische Horizont der Götterbild-Amulette aus der Übergangsepoche von der Spätantike zum frühen Mittelalter. Göttingen, S. 195–227. Watt, Margrethe 1999. Gubber. In: RGA 13, S. 132–142. Watt, Margrethe 2004. The Gold-Figure Foils („Guldgubbar“) from Uppåkra. In: Larsson, Lars (Hrsg.), Continuity for Centuries. A Ceremonial Building and its Context at Uppåkra, Southern Sweden (Uppåkrastudier 10; Acta Archeologica Lundensia. Series in 8°, 48). Lund, S. 167–221. Weinreich, Otto 1909. Antike Heilungswunder. Untersuchungen zum Wunderglauben der Griechen und Römer (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 8:1). Gießen. Worsaae, Jens Jacob Asmussen 1870. Om Forestillingerne paa Guldbracteaterne. In: Aarbøger for nordisk Oldkyndighed og Historie 1870, S. 382–419.
Anhang
Altertumskunde – Altertumswissenschaft – Kulturwissenschaft: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren Reallexikon der Germanischen Altertumskunde RGA-E-Band 77 – Seiten 739–763 © De Gruyter 2012 • Berlin • Boston
1 Herausgeberfolge des RGA 1.1 Herausgeber Heinrich Beck (Saarbrücken, Bonn): Bd. 1, 1973 – Bd. 35, 2007 Dieter Geuenich (Duisburg, Duisburg-Essen): Bd. 13, 1999 – Bd. 35, 2007 Herbert Jankuhn (Göttingen): Bd. 1, 1973 – Bd. 9, 1995 Hans Kuhn (Kiel): Bd. 1, 1973 Kurt Ranke (Göttingen): Bd. 1, 1973 – Bd. 7, 1989 Heiko Steuer (Freiburg): Bd. 8, 1994 – Bd. 35, 2007 Dieter Timpe (Würzburg): Bd. 8, 1994 – Bd. 13, 1999 Reinhard Wenskus (Göttingen): Bd. 1, 1973 – Bd. 9, 1995 1.2 Leitung der Redaktion und der Arbeitsstelle Rosemarie Müller (Göttingen): Bd. 8, 1994 – Bd. 35, 2007, und Registerbände 1 und 2, 2008
2 Fachberater Ament, Hermann (Mainz) Andersson, Thorsten (Uppsala) Arbman, Holger (Lund) Almgren, Bertil (Uppsala) Baudou, Evert (Umeå) Behre, Karl-Ernst (Wilhelmshaven) Becker, Carl Johan (Kopenhagen) Berghaus, Peter (Münster) Bierbrauer, Volker (München) Callies, Horst (Hannover) Capelle, Torsten (Münster)
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Castritius, Helmut (Braunschweig, Darmstadt) Daxelmüller, Christoph (Freiburg, Regensburg, Würzburg) Dillmann, François-Xavier (Versailles) Düwel, Klaus (Göttingen) Friedland, Klaus (Kiel) Godłowski, Kazimierz (Krakau) Grünewald, Thomas (Duisburg) Hagberg, Ulf Erik (Uppsala) Hinz, Hermann (Kiel) Hoffmann, Erich (Kiel) Hultgård, Anders (Uppsala) Ioniţǎ, Ion (Jaşi) Jäger, Helmut (Würzburg) Kaenel, Hans-Markus von (Frankfurt/Main) Kroeschell, Karl (Freiburg) Jan Peder (Stockholm) Löwe, Heinz (Tübingen) Loyn, Henry Royston (Cardiff, London) Lübke, Christian (Greifswald) Magnus, Bente (Stockholm) Maier, Bernhard (Bonn) Nehlsen, Hermann (Göttingen) Naumann, Hans-Peter (Zürich) Neumann, Günter (Würzburg) Nedoma, Robert (Wien) Nowakowski, Wojciech (Warschau) Petrikovitz, Harald von (Bonn) Petzoldt, Leander (Innsbruck) Pohl, Walter (Wien) Reichert, Hermann (Wien) Reichstein, Hans (Kiel) Roth, Andreas (Mainz) Roth, Helmuth (Marburg, Bonn) Saar, Stefan Christoph (Potsdam) Sawyer, Birgit (Trondheim) Schäferdiek, Knut (Bonn) Schenk, Winfried (Tübingen, Würzburg, Bonn) Schier, Kurt (München) Schlabow, Kurt (Neumünster) Schmidt-Wiegand, Ruth (Münster, Marburg) Schnurbein, Siegmar von (Frankfurt/Main)
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Stenberger, Mårten (Stockholm) Steuer, Heiko (Freiburg) Strauch, Dieter (Köln) Thrane, Henrik (Odense, Århus) Timpe, Dieter (Würzburg) Tómasson, Sverrir (Reykjavik) Udolph, Jürgen (Göttingen, Leipzig) Uslar, Rafael von (Mainz) Uther, Hans-Jörg (Göttingen) Wiechmann, Ralf (Hamburg) Wiegelmann, Günter (Münster) Wilson, David M. (London) Wolfram, Herwig (Wien) Wolters, Reinhard (Braunschweig, Tübingen) Wood, Ian N. (Leeds) Wührer, Karl (Wien) Zimmer, Stefan (Bonn)
3 Rezensionen zu Zwischenbilanzen und zum Abschluss des RGA (die Zusammenstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit)
3.1 Rezensionen 3.1.1 Rezensionen während der Erscheinungszeit des RGA Piergiuseppe Scardigli, Johannes Hoops als Philologe und Begründer des Reallexikons der germanischen Altertumskunde. General Linguistics 34, No. 3–4, 1994, S. 203–208. Rolf Hachmann, Michael Richter, Piergiuseppe Scardigli, Vom ‚Alten Hoops‘ zum ‚Neuen‘. Jahrbuch für internationale Germanistik 28, Heft 2, 1996, S. 26–77, mit den Abschnitten: Rolf Hachmann, I. Eine Neuauflage des Reallexikons der Germanischen Altertumskunde, S. 26–30; Rolf Hachmann, Piergiuseppe Scardigli, II. Johannes Hoops als Begründer des ‚Alten Hoops‘, S. 30–37;
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Piergiuseppe Scardigli, III. Zur Aufgabe der Sprach- und Textphilologie im ‚Neuen Hoops‘, S. 37–40; Michael Richter, IV. Der ‚Neue Hoops‘ aus der Sicht des Historikers, S. 40–42; Rolf Hachmann, V. Herbert Jankuhn und der ‚Neue Hoops‘, S. 42–53; Rolf Hachmann, VI. Eine kritische Würdigung des ‚Neuen Hoops‘, S. 53–62; Rolf Hachmann, VII. Die Vor- und Frühgeschichte und der ‚Neue Hoops‘, S. 62–69 Rolf Hachmann, VIII. Ausblick, S. 69–77.
3.1.2 Rezensionen zum Abschluss Hermann Parzinger, Ein faszinierender Blick aufs Altertum. „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“. Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 184, Freitag 8. August 2008, Seite 45. Rudolf Schieffer, Das Reallexikons der Germanischen Altertumskunde. Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 64, Heft 2, 2008, S. 603–608. Henrik Thrane, Germansk oldtidskundskab som leksikon. Fornvännen 105, 2010, S. 115–120. Timo Stickler, Zum Abschluß des Reallexikons der Germanischen Altertumskunde. Historische Zeitschrift 292, Heft 1, Februar 2011, S. 125– 132.
3.2 Berichte zum Abschluss des RGA FL/Forsch, 6.710 Artikel zur Germanischen Altertumskunde. Mammutwerk nach 40 Jahren abgeschlossen. universitätbonn forsch. Universität Bonn. Bonner Universitäts-Nachrichten, November 2009, S. 13 (Heinrich Beck). Heiko Steuer, Das Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. 35 Bde. 2 Register-Bde., de Gruyter Verlag, Berlin 1973–2008, in: Freiburger Universitätsblätter 182, 4. Heft, Jg. 2008, S. 165–167. Heiko Steuer, Ein wissenschaftliches Großprojekt ist abgeschlossen: Das „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“. Archäologisches Nachrichtenblatt 13, Heft 4, 2008, S. 309–311.
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Enzyklopädisches Großprojekt der Göttinger Akademie nach Jahrzehnten abgeschlossen. Internationale Tagung vom 11.-13. September 2008: Erträge und Perspektiven nach 40 Jahren „Reallexikon der Germanischen Altertumskunde“. Presse Akademie der Wissenschaften zu Göttingen / Presse Göttingen, den 8. September 2008 (Adrienne Lochte). Christian Starck, im Tätigkeitsbericht des Präsidenten III. 2. Akademienprogramm. Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2008 (Berlin, New York 2009) S. 75: Hinweis auf die Abschlusstagung.
4 Ergänzungsbände zum RGA 4.1 Ergänzungsbände Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (Berlin, New York) (herausgegeben von Heinrich Beck, Herbert Jankuhn, Reinhard Wenskus Bd. 1–6; von Heinrich Beck, Heiko Steuer, Dieter Timpe Bd. 7–14; von Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer, ab Bd. 15): Bd. 1 Heinrich Beck (Hrsg.): Germanenprobleme in heutiger Sicht (1986; 2., um ein Vorwort erweiterte Auflage 1999). Bd. 2 Heinrich Beck (Hrsg.): Heldensage und Heldendichtung im Germanischen (1988). Bd. 3 Heinrich Beck (Hrsg.): Germanische Rest- und Trümmersprachen (1989). Bd. 4 Rudolf Simek: Altnordische Kosmographie. Studien und Quellen zu Weltbild und Weltbeschreibung in Norwegen und Island vom 12. bis 14. Jahrhundert (1990). Bd. 5 Heinrich Beck, Detlev Ellmers, Kurt Schier (Hrsg.), Germanische Religionsgeschichte. Quellen und Quellenprobleme (1992). Bd. 6 Ulrike Sprenger: Die altnordische Heroische Elegie (1992). Bd. 7 Wilhelm Heizmann: Wörterbuch der Pflanzennamen im Altwestnordischen (1993). Bd. 8 Else Ebel: Das Konkubinat nach altwestnordischen Quellen. Philologische Studien zur sogenannten „Friedelehe“ (1993). Bd. 9 Jürgen Udolph: Namenkundliche Studien zum Germanenproblem (1994). Bd. 10 Klaus Düwel (Hrsg.), unter Mitarbeit von Hannelore Neumann und Sean Nowak: Runische Schriftkultur in Kontinentalskandinavischer und -angelsächsischer Wechselbeziehung. Internationales
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Symposium in der Werner-Reimers-Stiftung vom 24.-27. Juni 1992 in Bad Homburg (1994). Bd. 11 Heiko Uecker (Hrsg.): Studien zum Altgermanischen. Festschrift für Heinrich Beck (1994). Bd. 12 Thomas Birkmann: Von Ågedal bis Malt. Die skandinavischen Runeninschriften vom Ende des 5. bis Ende des 9. Jahrhunderts (1995). Bd. 13 Edith Marold, Christiane Zimmermann (Hrsg.): Nordwestgermanisch (1995). Bd. 14 Susanne Kramarz-Bein (Hrsg.): Hansische Literaturbeziehungen. Das Beispiel Þiðreks saga und verwandter Literatur (1996). Bd. 15 Klaus Düwel (Hrsg.), in Zusammenarbeit mit Sean Nowak: Runeninschriften als Quellen interdisziplinärer Forschung. Abhandlungen des Vierten Internationalen Symposiums über Runen und Runeninschriften in Göttingen vom 4.-9. August 1995 (1998). Bd. 16 Dieter Geuenich, Wolfgang Haubrichs, Jörg Jarnut (Hrsg.): Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen (1997). Bd. 17 Michael Schulte: Grundlagen der Umlautphonemisierung. Eine strukturelle Analyse des nordgermanischen i/j-Umlauts unter Berücksichtigung der älteren Runeninschriften (1998). Bd. 18 Hans Fix (Hrsg.): Snorri Sturluson. Beiträge zu Werk und Rezeption (1998). Bd. 19 Dieter Geuenich (Hrsg.): Die Franken und die Alemannen bis zur „Schlacht bei Zülpich“ (496/97) (1998). Bd. 20 Wolf-Rüdiger Teegen: Studien zu dem kaiserzeitlichen Quellopferfund von Bad Pyrmont (1999). Bd. 21 Stig Toftgaard Andersen: Die Aktualität der Saga. Festschrift für Hans Schottmann (1999). Bd. 22 Wolfgang Haubrichs, Ernst Hellgardt, Reiner Hildebrandt, Stephan Müller, Klaus Ridder (Hrsg.): Theodisca. Beiträge zur althochdeutschen und altniederdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters. Eine internationale Fachtagung in Schönmühl bei Penzberg vom 13. bis zum 16. März 1997 (2000). Bd. 23 Frank Siegmund: Alemannen und Franken (2000). Bd. 24 Heinrich Beck, Else Ebel (Hrsg.): Studien zur Isländersaga. Festschrift für Rolf Heller (2000).
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Bd. 25 Klaus Düwel, Edith Marold, Christiane Zimmermann (Hrsg.), unter Mitarbeit von Lars E. Worgull: Von Thorsberg nach Schleswig. Sprache und Schriftlichkeit eines Grenzgebietes im Wandel eines Jahrtausends. Internationales Kolloquium im Wikinger Museum Haithabu vom 29. September – 3. Oktober 1994 (2001). Bd. 26 Alfons Zettler: Offerenteninschriften auf den frühchristlichen Mosaikfußböden Venetiens und Istriens (2001). Bd. 27 Russell Poole (Ed.): Skaldsagas. Text, Vocation, and Desire in the Icelandic Sagas of Poets (2001). Bd. 28 Thomas Grünewald (Hrsg.), in Verbindung mit Hans-Joachim Schalles, Germania inferior. Besiedlung, Gesellschaft und Wirtschaft an der Grenze der römisch-germanischen Welt (2001). Bd. 29 Heiko Steuer (Hrsg.), unter Mitarbeit von Dietrich Hakelberg, Eine hervorragend nationale Wissenschaft. Deutsche Prähistoriker zwischen 1900 und 1995 (2001). Bd. 30 Sebastian Brather: Archäologie der westlichen Slawen. Siedlung, Wirtschaft und Gesellschaft im früh- und hochmittelalterlichen Ostmitteleuropa (2001) (vgl. Bd. 61). Bd. 31 Michael Stausberg (Hrsg.), in Verbindung mit Olof Sundqvist und Astrid van Nahl: Kontinuitäten und Brüche in der Religionsgeschichte. Festschrift für Anders Hultgård zu seinem 65. Geburtstag am 23.12.2001 (2001). Bd. 32 Dieter Geuenich, Wolfgang Haubrichs, Jörg Jarnut (Hrsg.): Person und Name. Methodische Probleme bei der Erstellung eines Personennamenbuches des Frühmittelalters (2002). Bd. 33 Mechthild Müller: Die Kleidung nach Quellen des frühen Mittelalters. Textilien und Mode von Karl dem Großen bis Heinrich III. (2003). Bd. 34 Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer, Dietrich Hakelberg (Hrsg.): Zur Geschichte der Gleichung „germanischdeutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen (2004). Bd. 35 Thomas Grünewald, Sandra Seibel (Hrsg.): Kontinuität und Diskontinuität. Germania inferior am Beginn und am Ende der römischen Herrschaft. Beiträge des deutsch-niederländischen Kolloquiums in der Katholieke Universiteit Nijmegen (27. bis 30.06.2001) (2003). Bd. 36 Alexandra Pesch: Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Thema und Variation (2007).
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Bd. 37 Wilhelm Heizmann, Astrid van Nahl (Hrsg.): Runica – Germanica – Mediaevalia, gewidmet Klaus Düwel (2003). Bd. 38 Morten Axboe: Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Herstellungsprobleme und Chronologie (2004). Bd. 39 Friedrich Lotter, unter Mitarbeit von Rajko Bratož und Helmut Castritius: Völkerverschiebungen im Ostalpen-MitteldonauRaum zwischen Antike und Mittelalter (375–600) (2003). Bd. 40 Wilhelm Heizmann, Morten Axboe (Hrsg.): Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit – Auswertung und Neufunde (2011). Bd. 41 Dieter Hägermann, Wolfgang Haubrichs, Jörg Jarnut (Hrsg.): Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter (2004). Bd. 42 Sebastian Brather: Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen (2004). Bd. 43 Hans-Petr Naumann (Hrsg.), unter Mitwirkung von Franziska Lanter und Oliver Szokody: Alemannien und der Norden. Internationales Symposium vom 18.–20. Oktober 2001 in Zürich (2004). Bd. 44 Astrid van Nahl, Lennart Elmevik, Stefan Brink (Hrsg.): Namenwelten. Orts-und Personennamen in historischer Sicht, gewidmet Thorsten Andersson zu seinem 75. Geburtstag (2004). Bd. 45 Claudia Theune: Germanen und Romanen in der Alamannia. Strukturveränderungen aufgrund der archäologischen Quellen vom 3. bis zum 7. Jahrhundert (2004). Bd. 46 Claudia Bornholdt: Engaging Moments.The Origins of Medieval Bridal-Quest Narrative (2005). Bd. 47 Stefan Zimmer (Hrsg.), unter Mitwirkung von Hasso Heiland, Gerhard Rasch: Antike geographische Namen nördlich der Alpen. Mit einem Beitrag von Hermann Reichert: „Germanien in der Sicht des Ptolemaios“ (2005). Bd. 48 Klaus Böldl: Eigi einhamr. Beiträge zum Weltbild der Eyrbyggja und anderer Isländersagas (2005). Bd. 49 Franz-Reiner Erkens (Hrsg.): Das frühmittelalterliche Königtum. Ideelle und religiöse Grundlagen (2005). Bd. 50 Ralf Scharf: Der Dux Mogontiacensis und die Notitia Dignitatum. Eine Studie zur spätantiken Grenzverteidigung (2005).
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Bd. 51 Alfred Bammesberger, Gaby Waxenberger (Hrsg.): Das futhark und seine einzelsprachlichen Weiterentwicklungen. Akten der Tagung in Eichstätt vom 20. bis 24. Juli 2003 (2006). Bd. 52 Oliver Grimm, mit Beiträgen von Boris Rankov und FransArne Stylegar: Großbootshaus – Zentrum und Herrschaft. Zentralplatzforschung in der nordeuropäischen Archäologie (1.-15. Jahrhundert) (2006). Bd. 53 Wolf-Rüdiger Teegen, Rosemarie Cordie, Olaf Dörrer, Sabine Rieckhoff und Heiko Steuer (Hrsg.): Studien zur Lebenswelt der Eisenzeit. Festschrift für Rosemarie Müller (2006) [nicht Bd. 40, wie irrtümlich über jedem Beitrag in der Kopfzeile angeführt]. Bd. 54 Annette Hoff: Recht und Landschaft. Der Beitrag der Landschaftsrechte zum Verständnis der Landwirtschafts- und Landschaftsentwicklung in Dänemark ca. 900 -1250 (2006). Bd. 55 Philipp von Rummel: Habitus barbarus. Kleidung und Repräsentation spätantiker Eliten im 4. und 5. Jahrhundert (2007). Bd. 56 Jana Krüger: „Wikinger“ im Mittelalter. Die Rezeption von víkingr m. und víking f. in der altnordischen Literatur (2008). Bd. 57 Sebastian Brather (Hrsg.): Zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Archäologie des 4. bis 7. Jahrhunderts im Westen (2008). Bd. 58 Heiko Steuer, Volker Bierbrauer (Hrsg.), unter Mitarbeit von Michael Hoeper: Höhensiedlungen zwischen Antike und Mittelalter von den Ardennen bis zur Adria (2008). Bd. 59 Heinrich Hettrich, Astrid van Nahl (Hrsg.): Günter Neumann, Namenstudien zum Altgermanischen (2008). Bd. 60 Stefanie Dick: Der Mythos vom „germanischen“ Königtum. Studien zur Herrschaftsorganisation bei den germanischsprachigen Barbaren bis zum Beginn der Völkerwanderungszeit (2008). Bd. 61 Sebastian Brather: Archäologie der westlichen Slawen. Siedlung, Wirtschaft und Gesellschaft im früh- und hochmittelalterlichen Ostmitteleuropa. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage (2008) (vgl. Bd. 30). Bd. 62 Uwe Ludwig, Thomas Schilp (Hrsg.): Nomen et Fraternitas. Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag (2008). Bd. 63 Helmut Castritius, Dieter Geuenich, Matthias Werner (Hrsg.): Die Frühzeit der Thüringer. Archäologie, Sprache, Geschichte (2009).
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Bd. 64 Lydia Klos: Runensteine in Schweden. Studien zu Aufstellungsort und Funktion (2009). Bd. 65 Wilhelm Heizmann, Klaus Böldl, Heinrich Beck (Hrsg.): Analecta Septentrionalia. Beiträge zur nordgermanischen Kultur- und Literaturgeschichte. Gewidmet Kurt Schier zu seinem 80. Geburtstag am 27. Februar 2009 (2009). Bd. 66 Albrecht Greule, Matthias Springer (Hrsg.): Namen des Frühmittelalters als sprachliche Zeugnisse und als Geschichtsquellen (2009). Bd. 67 Florian Gauß: Völkerwanderungszeitliche „Blechfibeln“. Typologie, Chronologie, Interpretation (2009). Bd. 68 Hubert Fehr: Germanen und Romanen im Merowingerreich. Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschehen (2010). Bd. 70 Sebastian Brather, Dieter Geuenich, Christian Huth (Hrsg.): Historia archaeologica. Festschrift für Heiko Steuer zum 70. Geburtstag (2009). Bd. 71 Matthias Egeler: Walküren, Bodbs, Sirenen. Gedanken zur religionsgeschichtlichen Anbindung Nordwesteuropas an den mediterranen Raum (2011). Bd. 72 Sigmund Oehrl: Vierbeiner-Darstellungen auf schwedischen Runensteinen. Studien zur nordgermanischen Tier- und Fesselungsikonografie (2011). Bd. 73 Dieter Strauch: Mittelalterliches nordisches Recht bis 1500. Eine Quellenkunde (2011). Bd. 74 Anne Schulz: Essen und Trinken im Mittelalter (1000–1300). Literarische, kunsthistorische und archäologische Quellen (2011). Bd. 75 Manuel Koch: Ethnische Identität im Entstehungsprozess des spanischen Westgotenreichs (2011). Bd. 76 Solveig Möllenberg: Tradition und Transfer in spätgermanischer Zeit. Süddeutsches, englisches und skandinavisches Fundgut des 6. Jahrhunderts (2011).
4.2 Sonderausgaben Die Germanen. Studienausgabe, hrsg. von Heinrich Beck, Heiko Steuer, Dieter Timpe (1998).
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Fibel und Fibeltracht. Mit einem Vorwort von Rosemarie Müller und Heiko Steuer. Studienausgabe (2000; Studium, 2. um ein Vorwort erweiterte Aufl. 2011).
5 Neuere Publikationen zu den Germanen (Monographien und Ausstellungskataloge; einschließlich der Literatur zum Erinnerungsjahr der Varus-Schlacht 2009). Während der Publikationszeit des RGA sind laufend Gesamtdarstellungen und übergreifende Studien zur germanischen Geschichte und Kultur erschienen, die hier (in Auswahl) erwähnt sein sollen. Dabei wird vom Jahr 1998 ausgegangen, in dem der Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“ im Band 11 erschienen und in dem auch ein neues Abkürzungsverzeichnis beigegeben ist. Alle wesentliche ältere Literatur wird in diesem Stichwort genannt. Die Bibliographie führt zuerst die jüngsten Publikationen auf und geht dann weiter zurück bis zum Jahr 1998. *Populäre Literatur. 5.1 Allgemein zu Germanen 2010 Frank M. Ausbüttel: Die Germanen. Geschichte kompakt (Darmstadt 2010). Matthias Becher, Stefanie Dick (Hrsg.): Völker, Reiche und Namen im frühen Mittelalter. MittelalterStudien Bd. 22 (München 2010). Andreas Kleineberg, Christian Marx, Eberhard Knobloch, Dieter Lelgemann: Germania und die Insel Thule. Die Entschlüsselung von Ptolemaios’ „Atlas der Oikumene“ (Darmstadt 2010). Arnulf Krause: Von Göttern und Helden. Die mythische Welt der Kelten, Germanen und Wikinger (Stuttgart 2010). Thomas Lau: Teutschland. Eine Spurensuche 1500 bis 1650 (Stuttgart 2010). Heiko Steuer: European Societies in the First Millenium AD. Archaeology, History and Methodology, ed. by Victor Spinei and Andrei Asǎndulesei. Florilegium magistrorum historiae archaeologiaeque Antiquitatis et Medii Aevi VIII. Romanian Academy/Institute of Archaeology of Iaşi (Bucureşti – Brǎila 2010) (Wiederabdruck einer Zusammenstellung von Aufsätzen der Jahre 1987–2007).
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Herwig Wolfram: Wie schreibt man heute ein Germanenbuch und warum immer noch eins?, in: Matthias Becher, Stefanie Dick (Hrsg.), Völker, Reiche und Namen im frühen Mittelalter. MittelalterStudien Bd. 22 (München 2010), S. 15–43. Herwig Wolfram: Die Germanen. Wissen (München 1995, 8. Aufl. 2005, 9. überarbeitete Aufl. 2009, 10. Aufl. 2010).
2009 Bruno Bleckmann: Die Germanen. Von Ariovist bis zu den Wikingern (München 2009). Wolfram Euler, Konrad Badenheuer: Sprache und Herkunft der Germanen. Abriss des Protogermanischen vor der ersten Lautverschiebung (Hamburg, London 2009). Uta von Freeden, Herwig Friesinger, Egon Wamers (Hrsg.): Glaube, Kult und Herrschaft. Phänomene des Religiösen im 1. Jahrtausend n. Chr. in Mittel- und Nordeuropa. Akten des 59. Internationalen Sachsensymposiums und der Grundprobleme der frühgeschichtlichen Entwicklung im Mitteldonauraum (Bonn 2009). Friedrich E. Grünzweig: Das Schwert bei den „Germanen“. Kulturgeschichtliche Studien zu seinem „Wesen“ vom Altertum bis ins Hochmittelalter. Philologica Germanica Bd. 30 (Wien 2009). Klaus Tausend: Im Inneren Germaniens. Beziehungen zwischen den germanischen Stämmen vom 1. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr., mit Beiträgen von Günter Stangl und Sabine Tausend. Geographica Historica 25 (Stuttgart 2009).
2008 Paolo Andreocci: Die Germanen bei Caesar, Tacitus und Ammian: eine vergleichende Darstellung. (Diss. Freiburg i. Br. 2008). *Arte.tv: Die Germanen. Vierteilige ARD-Dokumentation über Kultur und Lebensweise der Germanen. Regisseure: Christian Twente, Stephan Koester, Schoko Okroy, Alexander Hogh (2008). Volker Bierbrauer: Ethnos und Mobilität im 5. Jahrhundert aus archäologischer Sicht: Vom Kaukasus bis nach Niederösterreich. Bayerische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Kl. Abh. Neue Folge Heft 131 (München 2008).
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*Die Germanen. Wie sie lebten, woran sie glaubten, weshalb sie kämpften: Der Aufstieg einer rätselhaften Völkerschar. GEO Epoche. Das Magazin für Geschichte Nr. 34 (Hamburg 2008), S. 126–137. *Die Geburt der Deutschen. Vor 2000 Jahren. Als die Germanen das Römische Reich bezwangen. Der Spiegel Nr. 51, 15.12.2008 (Hamburg 2008), 162 Seiten. Ernst Künzl: Die Germanen. Geheimnisvolle Völker aus dem Norden (Großformat) (Stuttgart 2008). Herwig Wolfram: Germanen. Die 101 wichtigsten Fragen (München 2008). [Titelbild: Reiterstein von Hornhausen, nach links]. Roberta Gianadda: Nordeuropa: Kelten, Germanen und Wikinger, Bildlexikon der Völker und Kulturen (Berlin 2008). 2007 Frank M. Ausbüttel: Germanische Herrscher. Von Arminius bis Theoderich (Darmstadt 2007). *Die Erfindung der Deutschen. Wie wir wurden, was wir sind. Spiegel Special Geschichte 1, 2007 (Hamburg 2007), einzelne Beiträge. Merowingerzeit – Europa ohne Grenzen. Archäologie und Geschichte des 5. bis 8. Jahrhunderts. Kataloghandbuch zur Ausstellung Staatliches Puschkin Museum der Schönen Künste Moskau, Staatliche Eremitage St. Petersburg, Museum für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, hrsg. von Wilfried Menghin (Staatliche Museen zu Berlin / Edition Minerva 2007). *Helfried Spitra, Uwe Kersken (Hrsg.): Die Germanen. Neues, Interessantes & Überraschendes von den Stämmen des Nordens. (ARD/Arte, Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2007; Bastei Lübbe Taschenbuch Bd. 64235, Bergisch-Gladbach 2009). Peter S. Wells: Die Barbaren sprechen. Kelten, Germanen und das römische Europa (Stuttgart 2007). 2006 Ernst Künzl: Die Germanen. Theiss Wissen kompakt (Stuttgart 2006); als 2 CDs 2007. Rudolf Simek: Die Germanen (Stuttgart 2006, 2. Aufl. 2010). Vgl. dazu die Rezension von Reinhold Kaiser, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 136, 2007, S. 379–382.
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Roland Gschößl: Im Schmelztiegel der Religionen: Göttertausch bei Kelten, Römern und Germanen (Darmstadt 2006). Ingo Wiwjorra: Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts (Darmstadt 2006).
2005 Paul Fouracre (Hrsg.): The New Cambridge Medieval History Bd. 1 c. 500–700 (Cambridge 2005). Arnulf Krause: Die Geschichte der Germanen (neue Aufl. Frankfurt/ Main 2005). Herwig Wolfram: Gotische Studien. Volk und Herrschaft im frühen Mittelalter (München. 2. Aufl. 2005). Rudolf Simek: Der Glaube der Germanen (Kevelaer 2005).
2004 Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer, Dietrich Hakelberg: Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 34 (Berlin, New York 2004). Günter Behm(-Blancke), Studien zur Geschichte und Kultur der Germanen. Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas 38, hrsg. von Jan Bemmann, Morten Hegewisch (Langenweissbach 2004). Darin: Kultur und Stammesgeschichte der Elb-Havelgermanen des 3.-5. Jahrhunderts (Diss. 1938) – Opfer und Magie im germanischen Dorf der römischen Kaiserzeit (Neue Ausgrabungsergebnisse) (1943). Sebastian Brather, Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 42 (Berlin, New York 2004). Jürgen Busch: Das Germanenbild der deutschen Rechtsgeschichte. Zwischen Wissenschaft und Ideologie. Mit einem Vorwort von Herwig Wolfram. Rechtshistorische Reihe 299 (Frankfurt 2004). Matthias Hardt: Gold und Herrschaft. Die Schätze europäischer Könige und Fürsten im ersten Jahrtausend (Berlin 2004). *Gernot K. Hemer, Reinhard Welz, Sonja Steiner-Welz von Welz: Die Germanen: Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit. Kultur und Geschichte (Vermittlerverlag Mannheim Taschenbuch 2004).
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T.E. Karsten: Die Germanen. Eine Einführung in die Geschichte ihrer Sprache und Kultur (Wiesbaden 2004, nach der Ausgabe Berlin, Leipzig 1928). Karl R. Krierer: Antike Germanenbilder. Archäologische Forschungen Bd. 11. Österreichische Akademie der Wissenschaften Denkschriften, Phil.-Hist. Kl. 318 (Wien 2004). Brian Murdoch, Malcolm Read (Hrsg.): Early Germanic Literature and Culture, Bd. 1 (Woodbridge 2004). *Emil Nack: Germanen. Land und Volk (Tosa 2004). Rudolf Simek: Götter und Kulte der Germanen. Wissen (München 2004, 2. Aufl. 2006, 3., durchgesehene Aufl. 2009).
2003 Bruno Krüger: Die Germanen. Mythos – Geschichte – Kultur – Archäologie. Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas 29 (Langenweissbach 2003). Friedrich Prinz: Deutschlands Frühgeschichte. Kelten, Römer und Germanen (Stuttgart 2003). Rudolf Simek: Religion und Mythen der Germanen (Darmstadt 2003). Bernhard Maier: Die Religion der Germanen: Götter, Mythen, Weltbild (München 2003). Hermann Ament (Hrsg.): Frühe Völker Europas: Thraker – Illyrer – Kelten – Germanen – Etrusker – Italiker – Griechen (Darmstadt 2003).
2002 Patrick Geary: Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen (Frankfurt/Main 2002); zuerst engl. unter dem Titel: The Myth of Nations: The Medieval Origins of Europe (Princeton 2002). Andrew Gillet (Hrsg.): On Barbarian Identity. Studies in Early Middle Ages 4 (Turnhout 2002). Arnulf Krause: Die Geschichte der Germanen (Frankfurt, New York 2002). (Titelbild: Reiterstein von Hornhausen: nach rechts).
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Ludwig Rübekeil: Diachrone Studien zur Kontaktzone zwischen Kelten und Germanen. Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil. Hist. Kl. Sitzungsberichte 699 (Wien 2002). Olof Sundqvist: Freyr’s offspring. Rulers and religion in ancient Svea society. Historia Religionum Nr. 21 (Uppsala 2002). 2001 Otto Holzapfel: Die Germanen. Mythos und Wirklichkeit. Herder Spektrum (Freiburg, Basel, Wien 2001). 2000 Walter Pohl: Die Germanen. Enzyklopädie deutscher Geschichte 57 (München 2000). Hannsferdinand Döbler: Die Germanen: Legende und Wirklichkeit von A-Z. Ein Lexikon zur europäischen Frühgeschichte (München 2000). Malcolm Todd: Die Germanen. Von den frühen Stammesverbänden zu den Erben des Weströmischen Reiches (Stuttgart 2000 und Darmstadt 2000). (Zuerst engl.: The Early Germans, Oxford 1992). 1999 Michael Müller-Wille: Opferkulte der Germanen und Slawen. Sonderheft 1999 der Zeitschrift „Archäologie in Deutschland“ (Stuttgart 1999). Peter S. Wells: The Barbarians Speak. How the conquered peoples shaped Roman Europe (Princeton, New Jersey 1999). 1998 Die Germanen. Studienausgabe. Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde (Berlin, New York 1998) [Sonderdruck aus: RGA Bd. 11, 1998 S. 181–438]. Germanen. I. Geschichte, II. Archäologie, III. Der Germanenbegriff im Mittelalter. In: Lexikon des Mittelalters Bd. 4 (München und Zürich 1998) Sp. 1338–1344 (G. Wirth, H. Ament, J. Gruber). Germani, Germania. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike Bd. 4 (Stuttgart, Weimar 1998), Sp. 954–963 (R. Wiegels, W. Spickermann, P. Barceló).
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Germanische Archäologie. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike Bd. 4 (Stuttgart, Weimar 1998), Sp. 967–971 (V. Pingel). Dennis H. Green, Language and History in the Early Germanic World (Cambridge 1998). Allan A. Lund: Die ersten Germanen. Ethnizität und Ethnogenese (Heidelberg 1998). Dazu die ausführliche Rezension: Hermann Reichert, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 252, Nr. 3–4, S. 139–175. 5.2 Varus-Schlacht: Literatur zum Erinnerungsjahr 2009 2009 Hans-Dieter Otto: Arminius vs. Varus. Die Schicksalsschlacht im Teutoburger Wald (Ostfildern 2009). Thomas Grasselt (Red.): Zwischen Kelten und Germanen: Nordbayern und Thüringen im Zeitalter der Varusschlacht. Begleitband zur Ausstellung. Archäologische Staatsammlung München u.a. (München, Weimar 2009). Boris Dreyer: Arminius und der Untergang des Varus. Warum die Germanen keine Römer wurden (Stuttgart 2009). Hans-Peter Killguss (Hrsg.): Die Erfindung der Deutschen. Rezeption der Varusschlacht und die Mystifizierung der Germanen. Dokumentation zur Fachtagung vom 3. Juli 2009. Beiträge und Materialien 4 der Infound Bildungsstelle gegen Rechtsextremismus (Köln 2009). Klaus Kösters: Mythos Arminius. Die Varusschlacht und ihre Folgen (Münster 2009). Günther Moosbauer: Die Varusschlacht (München 2009, 2. Aufl. 2010). Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen (Berlin 2009). Hans-Joachim Schalles, Susanne Willer (Hrsg.): Marcus Caelius – Tod in der Varusschlacht. Ausstellung im LVR-RömerMuseum im Archäologischen Park Xanten 23.4.2009 bis 30.8.2009 (Bonn, Darmstadt 2009). Michael Sommer: Die Arminiusschlacht. Spurensuche im Teutoburger Wald (Stuttgart 2009). Holger Sonnabend: Wenn die Römer damals gesiegt hätten. Die Legende der Schlacht am Teutoburger Wald und ihre wirkliche Bedeutung (Stuttgart, Leipzig 2009). Hans Dieter Stöver: Der Sieg über Varus. Die Germanen gegen die Weltmacht Rom (München 2009).
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2000 Jahre Varusschlacht – Imperium, hrsg. vom LWL-Römermuseum in Haltern am See (Stuttgart 2009). 2000 Jahre Varusschlacht – Konflikt, hrsg. von der VARUSSCHLACHT im Osnabrücker Land GmbH – Museum und Park Kalkreise (Stuttgart 2009). 2000 Jahre Varusschlacht – Mythos, hrsg. vom Landesverband Lippe (Stuttgart 2009). Varusschlacht im Osnabrücker Land. Museum und Park Kalkriese (Mainz 2009). Rainer Wiegels: „Schon so lange wird Germanien besiegt!“ Rom, ein gescheiterter Sieger? Varus-Gesellschaft zur Förderung der vor- und frühgeschichtlichen Ausgrabungen im Osnabrücker Land e.V. (Georgsmarienhütte 2009).
2008 Boris Dreyer: Als die Römer frech geworden. Varus, Hermann und die Katastrophe im Teutoburger Wald (Darmstadt 2008). Vgl. dazu Werner Völker: Als die Römer frech geworden… Die Schlacht im Teutoburger Wald. Wagenbachs Taschenbücherei 7 (Berlin 1981 / 6. –8. Tausend 1984). Tillmann Bendikowski: Der Tag, an dem Deutschland entstand. Geschichte der Varusschlacht (München 2008). Das Hermannsdenkmal. Daten, Fakten, Hintergründe. Scriptorium (Marsberg, Padberg 2008) (Autoren: Stephan Berke, Frank Huismann, Michael Zelle). Dirk Husemann: Der Sturz des römischen Adlers. 2000 Jahre Varusschlacht (Frankfurt, New York 2008). (Titelbild: Kalkriese-Maske) Ralf-Peter Märtin: Die Varusschlacht. Rom und die Germanen (Frankfurt am Main 2008, 4. Aufl. 2009). Michel Reddé, Siegmar von Schnurbein (Hrsg.): Alésia et la bataille du Teutoburg. Un parallèle critique des sources. Beihefte der Francia 66 (Ostfildern 2008). Lutz Walther (Hrsg.): Varus, Varus! Antike Texte zur Schlacht im Teutoburger Wald. Lateinisch/Deutsch, Griechisch/Deutsch (Stuttgart 2008). Reinhard Wolters: Die Schlacht im Teutoburger Wald. Arminius, Varus und das römische Germanien (München 2008). (Titelbild: KalkrieseMaske)
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2007 Frank M. Ausbüttel: Germanische Herrscher. Von Arminius bis Theoderich (Darmstadt 2007). Rainer Wiegels (Hrsg.): Die Varusschlacht. Wendepunkt der Geschichte? Archäologie in Deutschland, Sonderheft (Stuttgart 2007). (Titelbild: Kalkriese-Maske) 2006–2004 Peter Opitz: Das Geheimnis der Varusschlacht (Kelkheim 2006). Peter S. Wells: Die Schlacht im Teutoburger Wald (Düsseldorf, Zürich, Wien 2005). Wilm Brepohl: Neue Überlegungen zur Varusschlacht (Münster 2004). Kalkriese. 15 Jahre Archäologie. Eine Entdeckung und ihre Folgen. Varusschlacht im Osnabrücker Land (Museum und Park Kalkriese 1988– 2004). 5.3 Völkerwanderungszeit Philipp von Rummel/Hubert Fehr, Die Völkerwanderung. WissenKompakt (Stuttgart 2011). Peter Heather: Invasion der Barbaren. Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (Stuttgart 2011). (Titel des englischen Originals: Empires and Barbarians: The Fall of Rome and the Birth of Europe, London 2010). Guy Halsall: Barbarian Migrations and the Roman West 376–568 (Cambridge 2007). Walter A. Goffart: Barbarian Tides. The Migration Age and the Later Roman Empire (Philadelphia 2006). Matthias Knaut, Dieter Quast (Hrsg.): Die Völkerwanderung. Europa zwischen Antike und Mittelalter. Sonderheft 2005 der Zeitschrift „Archäologie in Deutschland“ (Stuttgart 2005). Chris Wickham: Framing the Early Middle Ages: Europe and the Mediterranean, 400–800 (Oxford 2005). Friedrich Prinz: Deutschlands Frühgeschichte. Kelten, Römer und Germanen (Stuttgart 2003). [entspricht: 1. Teilband zu B. Gebhardts „Handbuch der deutschen Geschichte“, 10. Aufl.]
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Klaus Rosen: Die Völkerwanderung (München 2003, 3. Aufl. 2006, 4. durchgesehene Aufl. 2009). Walter Pohl: Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration (Stuttgart, Berlin, Köln 2002, 2. Aufl. 2004). (Titelbild: Reiterstein von Hornhausen, nach links) Malcolm Todd: Die Zeit der Völkerwanderung (Stuttgart 2002 und Darmstadt 2002; englisch: Migrants and Invaders – The Movement of Peoples in the Ancient World, 2001). *Peter Arens: Sturm über Europa. Die Völkerwanderung (München 2002, 3. Aufl. März 2002). Herwig Wolfram: Das Reich und die Germanen. Zwischen Antike und Mittelalter (Siedler Deutsche Geschichte / Taschenbuchausgabe: Berlin 1998, [1990, 1994]). (Titelbild: Reiterstein von Hornhausen, nach rechts). 5.4 Römer und Germanen, Römer in Germanien Hubert Fehr: Germanen und Romanen im Merowingerreich. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 68 (Berlin, New York 2010). Helmuth Schneider (Hrsg.): Feindliche Nachbarn. Rom und die Germanen (Köln, Weimar, Wien 2009). Gerhard Waldherr: Der Limes. Kontaktzone zwischen den Kulturen (Stuttgart 2009). *Das Ende des Römischen Reichs. Geschichte – Der Spiegel Nr. 1, 2009 (Hamburg 2009). Andreas Thiel: Die Römer in Deutschland (Stuttgart 2008). Rom und die Barbaren. Europa zur Zeit der Völkerwanderung. Kunstund Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn (München 2008). Reinhard Wolters: Die Schlacht im Teutoburger Wald. Arminius, Varus und das römische Germanien (München 2008). Peter Heather: Der Untergang des römischen Weltreichs (Stuttgart 2007, engl. Originalausgabe Verlag Macmillan 2005). Krieg und Frieden. Kelten Römer und Germanen. Begleitbuch zur Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum Bonn, hrsg. von Gabriele Uelsberg (Darmstadt 2007). Gustav Adolf Lehmann, Rainer Wiegels (Hrsg.): Römische Präsenz und Herrschaft im Germanien der augusteischen Zeit. Der Fundplatz von Kalk-
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riese im Kontext neuerer Forschungen und Ausgrabungsbefunde. Abh. Akad. der Wiss. zu Göttingen, Phil.-Hist. Kl. Dritte Folge Bd. 279 (Göttingen 2007). Jane Penrose: Rom und seine Feinde. Kriege – Taktik – Waffen (Stuttgart 2007). Bryan Ward-Perkins: Der Untergang des Römischen Reiches und das Ende der Zivilisation (Darmstadt 2007; englische Originalausgabe Oxford 2005). The Transformation of the Roman World, 13 Bände, 1997–2006. Coordinators Javier Arce, Evangelos Chrysos, Ian Wood (Leiden u.a.). Dazu: Ian Wood, Transformation of the Roman World, in: RGA 31 (Berlin, New York 2006) S. 132–134. Svante Fischer: Roman Imperialism and Runic Literacy. The Westernization of Northern Europe (150-800 AD). Aun 33 (Uppsala 2005). Imperium Romanum. Roms Provinzen an Neckar, Rhein und Donau. Ausstellungskatalog (Stuttgart 2005). Imperium Romanum. Römer, Christen, Alamannen – Die Spätantike am Oberrhein. Ausstellungskatalog (Stuttgart 2005). Maureen Carroll: Römer, Kelten und Germanen. Leben in den germanischen Provinzen Roms (Stuttgart 2003), zuerst englisch: Roman, Celts and Germans: The German Provinces of Rome (Stroud 2001). Thomas S. Burns: Rome and the Barbarians. 100 B.C. – A. D. 400 (Baltimore 2003). Lars Jørgensen, Birger Storgaard, Lone Gebauer Thomsen (Red.): Sieg und Triumpf. Der Norden im Schatten des Römischen Reichs. Nationalmuseet (Kopenhagen 2003). Michael Erdrich: Rom und die Barbaren. Das Verhältnis zwischen dem Imperium Romanum und den germanischen Stämmen vor seiner Nordgrenze von der späten römischen Republik bis zum Gallischen Sonderreich. Römisch-Germanischen Forschungen 58 (Mainz 2001). Thomas Grünewald (Hrsg.): Germania inferior. Besiedlung, Gesellschaft und Wirtschaft an der Grenze der römisch-germanischen Welt. Ergänzungsbände zum RGA 28 (Berlin, New York 2001). Ludwig Wamser u.a. (Hrsg.): Die Römer zwischen Alpen und Nordmeer. Ausstellungskatalog (Mainz 2000). Reinhard Wolters: Die Römer in Germanien (München 2000, 5. Aufl. 2006, 9. durchgesehene und aktualisierte Aufl. 2011,
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Mamoun Fansa (Hrsg.): Über allen Fronten. Nordwestdeutschland zwischen Augustus und Karl dem Großen (Oldenburg 1999). Herwig Wolfram: Das Reich und die Germanen. Zwischen Antike und Mittelalter (Berlin 1998). 5.5 gentes 2011 Konrad Vössing: Die Vandalen (Darmstadt 2011). 2010 Andreas Gut (Zusammenstellung): Die Alamannen auf der Ostalb. Frühe Siedler im Raum zwischen Lauchheim und Niederstotzingen. Archäologische Informationen aus Baden-Württemberg Heft 60 (Esslingen 2010). Ulrich Nonn: Die Franken. Urban-Taschenbücher 579 (Stuttgart 2010). 2009 Giorgio Ausenda, Paolo Delogu, Chris Wickham (Hrsg.): The Langobards before the Frankish Conquest. An Ethnographic Perspective Studies in Historical Archaeoethnology 8 (Woodbridge 2009). Das Königreich der Vandalen. Erben des Imperiums in Nordafrika, hrsg. vom Badischen Landesmuseum Karlsruhe. Ausstellungskatalog (Darmstadt 2009). Michael Kulikowski: Die Goten vor Rom (Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2008), zuerst unter dem Titel: Rome’s Gothic Wars (Cambridge 2007). Herwig Wolfram: Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie (München, 5. Aufl. 2009). 2008 Dorothee Ade, Bernhard Rüth, Andreas Zekorn (Hrsg.): Alamannen zwischen Schwarzwald, Neckar und Donau (Stuttgart 2008). Jan Bemmann, Michael Schmauder (Hrsg.): Kulturwandel in Mitteleuropa. Langobarden – Awaren – Slawen. Akten der Internationalen Tagung in Bonn 2008 (Bonn 2008).
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Christopher Kelly: Attila the Hun: Barbarian Terror and the Fall of Rome (London 2008). Die Langobarden. Das Ende der Völkerwanderung. Katalog zur Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum Bonn (Darmstadt 2008). 2007 Sam J. B. Barnish (Hrsg.): The Ostrogoths from the migration period to the sixth century; an enthnographic perspective. Studies in Historical Archaeoethnology 7 (Woodbridge 2007). Helmut Castritius: Die Vandalen. Urban-Taschenbücher 605 (Stuttgart 2007). John F. Drinkwater: The Alamanni and Rome 213–496 (Caracalla to Clovis) (Oxford 2007). Alexander Koch (Hrsg.): Attila und die Hunnen, hrsg. vom Historischen Museum der Pfalz Speyer (Stuttgart 2007). Karin Krapp: Die Alamannen. Krieger – Siedler – frühe Christen (Stuttgart 2007). Timo Stickler: Die Hunnen (München 2007). 2006 Mark B. Ščukin, Michel Kasanski, Oleg Sharov: Des les goths aux huns: le nord de la mer noire au Bas-Empire et à l‘époque des grandes migrations. British Archaeological Reports International Series 1535/Archaeological studies on late antiquity and early medieval Europe 400–1000A.D. Monographs 1 (Oxford 2006). 2005 Dieter Geuenich: Geschichte der Alemannen. Urban-Taschenbücher 575 (Stuttgart, Berlin, Köln 1997, 2. überarbeitete Aufl. 2005). Mark B. Shchukin: The Gothic Way: Goths, Rome, and the Culture of the Chernjakhov/Sintana de Mures (St. Petersburg 2005). 2004 Wolfgang Giese: Die Goten. Urban-Taschenbücher 597 (Stuttgart 2004).
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Reinhold Kaiser: Die Burgunder. Urban-Taschenbücher 586 (Stuttgart 2004). Karin Priester: Geschichte der Langobarden. Gesellschaft – Kultur – Alltagsleben (Stuttgart 2004). Nico Roymans: Ethnic identity and imperial power. The Batavians in the Early Roman Empire (Amsterdam 2004). Matthias Springer: Die Sachsen. Urban-Taschenbücher 598 (Stuttgart 2004).
2003 Dennis H. Green, Frank Siegmund (Hrsg.): The Continental Saxons from the Migration Period to the Tenth Century. An Ethnographic Perspective. Studies in Historical Archaeoethnology 6 (Woodbridge 2003). Die Vandalen: Die Könige, die Eliten, die Krieger, die Handwerker. Publikation zur Ausstellung „Die Vandalen“. Eine Ausstellung der MarieCurie-Sklodowska-Universität Lublin und des Landemuseums Zamoc, Ausstellung im Weserrenaissance-Schloß Bevern (Nordstemmen 2003). Sönke Lorenz, Barbara Scholkmann, Dieter R. Bauer (Hrsg.), Christina Tippelt (Red.): Die Alemannen und das Christentum. Zeugnisse eines kulturellen Umbruchs. Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde Nr. 71 (Leinfelden-Echterdingen 2003).
2002 Walter Pohl: Die Awaren. Ein Steppenvolk in Mitteleuropa 567–822 n. Chr. (München 1988, 2. aktualisierte Auflage 2002). Walter Pohl, Peter Erhart: Die Langobarden. Herrschaft und Identität (Wien 2002). Wilhelm Störmer: Die Bajuwaren. Von der Völkerwanderung bis zu Tassilo III. (München 2002).
2001 Gerard Jentgens: Die Alamannen. Methoden und Begriffe der ethnischen Deutung archäologischer Funde und Befunde. Freiburger Beiträge zur Archäologie und Geschichte des ersten Jahrtausends Bd. 4 (Rahden/Westf.).
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Herwig Wolfram: Die Goten und ihre Geschichte (München 2001, 3. durchgesehene Aufl. 2010). 2000 Frank Siegmund: Alemannen und Franken. Ergänzungsbände zum RGA Bd. 23 (Berlin, New York 2000). 1999 Gerhard Wirth: Attila. Das Hunnenreich und Europa. Urban-Taschenbücher 467 (Stuttgart, Berlin, Köln 1999). Peter J. Heather (Hrsg.): The Visigoths from the migration period to the seventh century: an ethnographic perspective. Studies in Historical Archaeoethnology 4 (Woodbridge 1999). Uta von Freeden, Ursula Koch, Alfried Wieczorek (Hrsg.): Völker an Nord- und Ostsee und die Franken. Akten des 48. Sachsensymposiums in Mannheim 1997 (Bonn 1999). Pedro de Palol, Gisela Ripoll: Die Goten. Geschichte und Kunst in Westeuropa (Augsburg 1999; Original Madrid 1988, deutsche Ausgabe zuerst 1990). 1998 Torsten Capelle: Die Sachsen des frühen Mittelalters (Stuttgart 1998 und Darmstadt 1998). Ian Wood (Hrsg.): Franks and Alamanni in the Merovingian Period: An Ethnographic Perspective. Studies in Historical Archaeoethnology 3 (Woodbridge 1998).
Register
RGA-Stichwortregister Verzeichnet sind die in den Beiträgen berücksichtigten RGA-Artikel. Åberg, Nils 16, 594–596, 598, 619, 636 Abodriten 414 Abstammungstraditionen 92, 492, 575 Ackerbau 119 Adel 77 Adler 607 Adlersymbolik 635 Åker 592 Alanen 77 Alemannen 120f., 128, 134, 145, 177, 184, 193f., 255, 259, 265, 274f., 416, 663 Ålleberg 651–654 Almgren, Oscar 16 Alstad-Stein 264 Altertumskunde 24, 165, 167, 170 Altsachsen 444 Alskog 264 Alt-Ladoga 22, 266, 274 Akkulturation (auch Registerband 2, s.v. 70) Ambronen 74 Amulett 264, 266 Angeln 417, 444, 651 Angelsachsen 82, 84, 86, 275, 416, 429–458, 468 Angelsächsische Chronik 429, 435, 456, 470 Angelsächsische Stämme 84, 182, 469 Anglofriesisch 84, 465, 474
Angelsächsische Chronik 85 Anthropologie 24, 33, 90, 123, 138–140 (auch Registerband 2, s.v., 39) Aquileia 647 Arbman, Holger 16 Archäologische Landesaufnahme 118 Ariovist 134, 146 Arktische Steinzeitkultur 420 Arminius 110, 148, 537, 539 Arnegunde-Grab 600f. Årslev 263 Arzt 378–380, 382, 384, 388 Asen 626 Atlilieder 76 Aunjetitzer Kultur 420 Aussatz 334, 385 Auzon, das Bilder- und Runenkästchen 266, 475, 498 Avunkulat 38 Awaren 121, 417 Axt 177, 701 Bækkegård 593 Bajuwaren 120, 145, 255, 259f., 416 Balder 702, 706, 708, 719 Baltische Sprachen und Völker 182, 246, 248–250, 261 Baltoslawische Spracheinheit 182 Bandkeramik 119 Barbarus 577 Bastarnen 249, 257, 422
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RGA-Stichwortregister
Battle of Brunnanburh 490 Battle of Maldon 488 Bauer 130, 167 Bayeux Tapestry 85 Begriffsrunen 273 Bekehrung und Bekehrungsgeschichte 23, 66, 70, 85, 500 Belgae 252, 255 Beowulf 56, 495, 597 Berdal(-stil) s. Chronologie Bernstein und Bernsteinhandel 74 Berserker 92 Beowulf 136 Beuchte 275 Beute 539 Bewcastle Cross 498 Biene 324 Bienenrecht 324 Bier 325 Bifrons 656 Bilddenkmäler 143, 607, 635, 656, 669 Boeslunde 603 Bootaxtkultur 420 Bornholm 592f. Borre 607, 672 Bragi 60 Brakteaten 72, 143, 264, 276, 278f., 281f., 656, 659, 681, 687, 696 Brakteatenikonologie 72, 607, 635, 679, 712, 728 Brettchenweberei 321 Briten 485 Broa 613, 672 Brøgger, Anton Wilhelm 155 Broholm 135 Bronzezeit 119, 148 Brown, Gerard Baldwin 155, 596 Brukterer 444, 539 Brunanburh 490 Buchmalerei 667–669 Bugge, Elseus Sophus 267, 269f., 280 Burgunden 239, 416
Caedmon 471, 496 Caedwalla von Wessex 456 Caistor-by-Norwich 442 Castel Trosino 596 Charnay 273 Chatten 417, 418 Chauken 185f., 551 Childerich von Tournai 529, 546, 547, 549f. Chirurgie 340, 342 Chlodwig 84 Christentum der Bekehrungszeit 87, 500, 665, 667 Christusdarstellungen 667 Chronologie 636 Clades Variana 536f., 540 Constantin der Große 695, 710 Coombe 452 Dach 319 Dänen 260 Dahmsdorf 691 Danelag 85, 488 Danielschnallen 628 Dankirke 535 Deor 495 Dichtung 23 Ding 86, 297 Dioskuren 607 Dnjepr 264 Donar-Þórr 597, 684, 702, 710, 724 Donzdorf 656f. Dorestad 191–193 Dróttkvætt 60 Dürrnberg 264 Dumézilsche Dreifunktionentheorie 690, 735 Duodezimalsystem 126 Durrow 669f. Dux 186 Ealdorman 488 East Anglia 443
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Ebert, Max 13, 113, 124, 131, 155 f., 421 Edda 696 Eddische Dichtung 161 Eggers, Hans Jürgen 113, 150f., 156, 158, 541 Eggja 288 Eherecht 18 Einfache Formen 52, 101f. Einhard (Einhart) 34 Einquartierungssystem 18 Einzelgrabkultur 420 Ejsbøl 175, 517f., 521, 526, 531, 643 Elbgermanen 255 Elegie 495, 511 Eligius von Noyon 676 Engelhardt, Conrad 517 England 464 Eschwege-Niederhone s. Niederhone Essex 449 Ethnographische Methode, s. Kossinna, Gustaf Externsteine 32 Ezelsdorf 142 Fälschungen 264 Färjestaden 653 Färöer 318 Fahren und Reiten 636 Fallward 272 Faversham 592 Feddersen Wierde 136, 157 Fehde 139 Felsbilder 143 Feuerböcke 542 Fibel und Fibeltracht 117, 264, 275 Finnland 222 Finnsburglied 493 Fische 323 Fischerei und Fischereimethoden 323 Flechtbandbandornamentik s. Ornamentik 667, 669
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Flögeln 157 Flußnamen 73 Foederati 18 Formenkreis 141, 149, 164 Franken 120, 185, 255, 259, 262, 416 Frau 264 Fremde Einflüsse im Germanischen 486, 500 Friedelehe 18 Friesen 262, 264, 417, 418, 444, 551 Friesen, Otto von 267–270, 272, 283 Fruchtbäume 15 Frühchristliche Dichtung 497 Fürstengräber 414, 549, 638, 701 Fürstensitze 134, 138, 414 Furor teutonicus 539 Fußboden 319 Futhark 282 Gaesaten 75 Galinder 77 Gallehus 290, 640, 650, 691, 693, 724, 734 Gallien 250, 257 Gandersheim, Kästchen von 673 Garðariki 264 Gaut 181 Gauten- und Schwedensagen 495 Gefolgschaft 83, 136, 523, 639 Geisel 721 Gelegenheitsdichtung 60 Gemmen und Kameen 697 Genealogie 492 Gentilismus 401 Genzmer, Felix 90 Gepiden 416f. Gerete 695, 697, 710 Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde 64, 72f., 108, 114, 144, 145, 150, 174f., 178, 184, 193, 199, 215, 217f., 221, 228, 232, 238f., 245, 248, 265, 297, 317f., 411f., 573, 579, 635, 641, 645, 671
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Germanicus 537, 539f. Germani cisrhenani s. Linksrheinische Germanen, auch Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde 252 Germanische Lautverschiebung 246, 248 Geschichtsschreibung 97, 575 Gesellschaft 33, 38 Gesichtsurnenkultur 420 Geto-dakische Kultur und Kunst 424 Giftorätt 295 Gode, Godentum 379f. Gøtar 495 Götterbilder 657 Goldblattkreuze 663 Goldblechfigürchen 120, 137, 657 Goldbrakteaten 120, 137, 270, 281, 604, 607, 635, 640, 656, 658f., 674, 679, 681, 684, 689–736 Goldhalskragen 651f., 657, 686, 691, 693, 731f. Goldmedaillons 143, 643, 694, 696 Goldschmied, Goldschmiedekunst 675 Gommern 643 Goten 18, 120, 181, 184–186, 230, 249, 260, 264, 419, 423 Gothiscandza 184 Gotikon 184 Gotische Literatur 184 Gotische Mission 184 Gotische Schrift 184 Gotische Sprache 184 Gotizismus 184 Gotland 592, 669 Gournay 135 Grabhügel s. Hügelgrab Graffiti 264 Grágás 296 Grimm, Jacob und Wilhelm, vgl. Personenregister Grundeigentum 18 Grundherrschaft 18
Grundsteuer 18 Gubber 120, 657, 684, 691 Gudme 129, 135, 161, 264, 535, 603, 677f., 692, 700, 703, 714, 717, 733 Gutalag 296 Gutasaga 235, 296 Häuptling, Häuptlingtum 135, 258, 638 Hagenow 548, 638, 640 Haiðaby 132, 264 Halle 136 Hallstattkultur und Hallstattzeit 138, 422 Handel 23f., 24, 135, 264, 277 Harfe und Leier 137 Haseloff, Günther 590, 601, 603, 607, 610, 636, 684 Haus 319 Hedelisker 517 Heerkönigtum 80 Heerwesen 18, 182 Hehn, Victor 41, 43, 45 Heilbräuche und Heilzauber 346 Heilkunde 317–388 Heilmittel und Heilkräuter 340, 346, 347, 358, 381f. Heilsbild 681, 683, 686 Heilswörter 731 Held, Heldendichtung und Heldensage 681, 701 Helgö 591, 595, 600, 602 Heliand und Altsächsische Genesis 56, 84 Helm 143, 693, 695, 701, 709, 735 Helm, Karl Hermann Georg 64 Hengest und Finn, Horsa 493 Herrschaft 181, 186, 189 Herrschaftszeichen 547 Heruler 692, 735 Herzog 186 Heuneburg 135, 138
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Heusler, Andreas 25, 39, 52–55, 58–61, 63f., 66, 81, 90, 93 Heveller 414, 418 Heyne, Moritz 25 Hildebrand, Hans 636 Hildebrand und Hildebrandslied 82 Himlingøje 264, 643, 690f., 692, 726 Himmerland 236 Hirsch 702, 730 Hirt, Hermann 44 Hjortspring 520, 536 Hobel 264 Hoby 638 Höfler, Otto 92 Hollenstedt 123 Holmqvist, Wilhelm Egon 597–599, 636, 684 Hoops, Johannes 1, 12f., 24f., 29, 31–33, 35–42, 44f., 80, 94f., 99, 107, 111, 113, 115, 140, 154 Hordar 238 Hüfingen 272 Hügelgrab 153 Hund 607, 716 Hundare 242 Hunnen 120f., 417, 444 Hunnestad 264 Hunsrück-Eifel-Kultur 424 Hygelac 88 Illemose 517 Illerup Ådal 128, 175, 264, 273f., 515, 517–522, 526, 531, 533f., 549, 550, 603 Illyrer 250, 261 Indogermanische Altertumskunde 45, 119, 165–167, 170 Indogermanische Sprache und Sprachfamilien 166, 246, 248, 251 Ingeld 495 Ingwäonen 242 Ingwäonisch 242, 465, 474
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Inschriften 263, 264, 272, 275f. Interpretatio 24 Invaliden 368, 383, 387 Irische Kunst 669 Isländersagas 295 Island 86, 323, 335 Issendorf 442 Italische Sprachen 246, 248–252, 256, 261 Jagd 324 Jankuhn, Herbert 2, 38, 92, 107, 110, 112–117, 124f., 129–132, 145, 149, 151f., 156, 167f., 266, 283, 285, 290, 517 Jastorf-Kultur 115, 138, 173, 252f. Abb. 4, 317, 421 Jelling 264, 266, 672 Jüten 444, 465, 651 Jütland 157, 260, 601 Justinian 692 Kalkriese 16, 128, 148, 263, 536–540 Kamm 264, 290 Karl der Große 34, 84, 86, 361f. Karolinger und Karolingerzeit 24, 34, 84, 86 Karolingische Kunst 34, 671 Kells, Book of 669 Kelten 149, 165, 246, 248–256, 413, 484f. Keltische Großplastik 414 Keltische Ortsnamen 486 Kendrick, Sir Thomas Downing 597 Kent 592, 594, 601, 606, 616 Kerbschnittbronzen 646, 647, 652, 685 Kiekebusch, Albert 155f. Kimbern 74, 261, 418, 423 Kimmerier 418 Kind 242 Kinder 321, 325, 327–330, 332 Kindergräber 329
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Kinderspiele 329 Kindins 242 Klapptisch 543 Kleidung 320, 322 Kleinaspergle 138 Knochen und Knochengeräte 15 Knut der Große 86 Knut (Hörða-Knutr) 86 Køge (Registerband 2, s.v., 488) 264 König und Königtum 17, 70, 80, 83, 146 Königsschatz 547 Köttlachkultur 424 Kontinuitätsprobleme 31, 77, 181, 701 Kossinna, Gustaf 33, 108, 114, 131, 138, 140, 146, 155–157, 406 Kowel 691 Kragehul 264, 517, 519, 523, 631, 632 Fig. 18 Krankheiten 332, 335, 337, 340, 341, 344, 345, 352, 371f., 378 Krause, Wolfgang 60, 238, 266, 271, 275, 280f., 283, 285, 287, 290 Kriegswesen 182, 529 Krimgoten 260 Krokus 179 Kudrun 56 Künstliche Glieder 368, 372 Kulturgruppe und Kulturkreis 16, 141, 149, 156, 410 Kulturpflanzen 318 Landnahme 182, 191 Landschaft 158 Landschaftsarchäologie 118, 143, 152, 158, 555f., 559 Langobarden 313, 120f., 145, 265, 313, 419, 702 Latènekultur und Latènezeit 135, 414, 421 Lauch 716, 718f.
Lauchheim 265 Lausitzer Kultur 420 Lautverschiebung s. Germanische Latverschiebung Leeds, Edward Thurlow 597f., 601 Leges 180 Leges Alamannorum 180 Leges Anglo-Saxonum 180 Leges Langobardorum 82, 180 Leges Romanae 180 Leges Visigothorum 180 Lengerich 543, 546 Lebender Leichnam 344 Leier s. Harfe und Leier Lejre 137 Leuphana 193 Lex Baiuvariorum 180 Lex Burgundionum 180 Lex Francorum Chamavorum 180 Lex Frisionum 180 Lex Ribuaria 180 Lex Romana Burgundionum 180 Lex Romana Visigothorum 180 Lex Salica 180 Lex Saxonum 180 Lex Thuringorum 180 Lincoln 264 Lindenschmit, Ludwig (der Ältere) 94 Lindholm Høje 592f. Lindisfarne 488, 630 Lindisfarne Gospels 475 Lindqvist, Sune 596, 598f. Lister 264 Lofoten 137 Loki 708, 710, 719 Lord 482 Lorsch 181 Lübsow 638 Lund 264 Lundeborg 535, 677, 733 Lungenentzündung 333 Lutizen 414, 418
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Magie 282, 346 Mals 669 Mammen und Mammenstil 672 Marbod 134 Markomannen 134, 416 Markomannenkrieg 134, 551 Marnekultur 424 Mars 704, 709f. Maske 680 Megalithgräber 153 Meldorf 263, 277, 290 Merowingerzeit 265 Merseburger Zaubersprüche 281, 681, 702, 719, 725 Met 325 Mildenberger, Gerhard 114, 145 Mischwesen 647, 656, 685 Mistel 706, 708 Mithras und Mithrazismus 710, 720, 735 Möne 653 Mond 143 Montelius, Oscar 108, 154, 595, 599, 636 Much, Rudolf 25, 33, 38f. Müllenhoff, Karl Victor 48, 52f., 55, 63, 67, 99, 102f. Müller, Sophus 25, 150, 154f., 595, 623, 633, 636, 674 Mündlichkeit und Schriftlichkeit 496 Mušov 175, 542f., 548, 550 Mythische Namen 265 Nachzehrer 344 Nadeln 117 Naturwissenschaftliche Methoden in der Archäologie 15, 94, 119, 123, 144, 320 Nebenfrau 18 Nebenstedt 264, 273, 276, 281f., 705 Neble 603 Neckel, Gustav 31, 33, 36, 57, 59, 91
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Negauer Helm 264 Nemeter 238 Neolithikum 119, 149, 159 Neudingen 264, 272 Neudorf-Bornstein 643 Neupotz 529 Nibelungenlied 55 Nibelungensagen 55 Niederhone 627f., 725 Niederlande 157, 206 Niederstotzingen 139, 622 Niello 650, 668 Nørre Sandegård 593 Norden, Eduard 75 Nordendorf 274f., 602, 702 Nocera Umbra 596 Nordgermanen 151, 255, 262 Nordgermanische Sprachen 215–244, 265 Nordwestdeutsche Stämme 254 Noricum 250 Northumbria 449, 453 Nordwestbloch (Register Bd. 2) 253 Nydam 129, 175, 265, 515, 517– 519, 521f., 524f., 526, 531f., 597, 601, 607, 610, 631f., 649, 650f. Obermöllern 714 Obrigheim 621f., 624, 686 Odilienberg 123 Odin s. Wotan-Odin Östergötland 265 Øvre Stabu 263, 290, 691 Oiscingas 492 Oksywie-Kultur 424f. Olgerdiget 534f. Olsen, Magnus Bernhard 270, 283 Oppidum 135 Origo gentis 15, 79, 80, 181, 187, 190, 313, 492, 575 Ornamentik (Flechtband) 662f., 667, 669 Opfer und Opferfunde 151, 164, 168f., 175, 265, 517
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Orkneyinseln 318 Oseberg 264, 595f., 672f. Ostgermanen 142, 215, 226, 228, 239 Ostgoten 184 Otfrid von Weißenburg 84 Paläoanthropologie 33 Pannonien 250 Passentin 520 Pastorale Literatur 84 Patrizen und Matrizen 694 Paul, Hermann 25–31, 34, 36–38, 94, 154 Penda 456 Penkovka-Kultur 422 Personennamen 26 Perspektivismus 35 Pest 345 Peukinen s. Bastarnen Pferd 607, 703, 710, 712, 716, 719 Pferdegeschirr 693, 701 Pferdegräber 117 Pforzen 264, 272 Phalere 642 Pietroassa 229, 290f. Poienneşti-Lukaševka-Kultur 422 Porskjær 531 Ports of Trade 135 Positivismus 28, 97, 181 Preislied 60 Preßblecharbeiten und Preßblechornamentik 643, 655 Priester und Priesterinnen 265 Primitive Gemeinschaftskultur 31 Prospektionsmethoden 119, 123f., 144, 320 Przeworsk-Kultur 317, 424f. Púchov-Kultur 424 Pytheas 74 Raddatz, Klaus 518 Rædwald 130 Raeter 416
Raetien 250 Rätsel und Rätseldichtung 101f. Ragnarök, ragnarökr 611 Ragnarsdrápa 60 Rassenlehre, Rassenideologie 90 Raub- und Entführungsehe 295 Raumbewußtsein 181 Recht 24, 37, 180, 293–316 Rechtlosigkeit 180 Rechtsaltertümer 180 Rechtsbücher 180 Rechtsethnologie 180 Rechtsfähigkeit 180 Rechtsgeschichte 180 Rechtsgewohnheit 180 Rechtskenntnis 180 Rechtssatzung 180 Rechtssprache 180 Rechtssprichwort 180 Rechtssymbolik 180 Rechtsverband 180 Rechtsverse 180 Reginsmál 710 Reichtumszentrum 135, 678, 690f. Religiöse Dichtung 497 Religion 151, 240, 265, 683, 689, 701f., 721 Reliquiare 636, 672 Rhein 252, 254 Rhein-Weser-Germanen 254, 551 Ribe 264 Ribemont 135, 539 Ringfibel 445, 446 Rituale 240 Rök 269, 290 Römische Kaiserzeit 136 Römische Ortsnamen 193 Römischer Import 17 Römisches Vulgarrecht 52 Rom 256, 577 Romanen 17, 415 Romanisch-Germanische Sprachbeziehungen 17 Rondelle 142
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Roslagen 218 Roth, Helmut 17, 114, 127, 275, 601f., 636, 651, 684 Rugier 237, 444 Runen und Runendenkmäler 72, 264–266, 272, 275, 498 Runendichtung 498 Runenfälschungen 265 Runengedichte 265, 498 Runeninschriften 72, 119, 265f., 271f., 275, 281–284, 288, 498 Runenmeister 265, 497f., 675 Runenmünzen 265 Runennamen 265 Runenreihen 265, 498 Runenschrift 265, 267, 272, 284, 641, 498 Runensteine 264f., 272, 275 Runica manuscripta 265 Ruthwell Cross 472, 498 Rzucewo-Kultur 420 Sachsen 145, 255, 259, 262, 416, 417, 444, 449, 651 Sage und Sagen 101f. Sakrale Namen 241 Sakralkönigtum 17, 19, 181, 187, 189, 281, 576, 636, 656 Salin, Carl Bernhard 589, 596–598, 600, 604, 606, 612, 622, 628, 632–634, 636, 644, 654f., 661f., 665f., 670 Salz, Salzgewinnung, Salzhandel 353 Samen 88, 417 Sandegård 697 Sântana-de-Mureş-ČernjachowKultur 82, 422f. Sarmaten 257, 417 Schadenzauber 282 Schamanismus 88 Schatz 547 Schlacht 530 Schlagmarken 126 Schlange 702, 708, 716
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Schlangenkopfringe 643 Schmiedegräber 126 Schmiedemarken 126 Schmied, Schmiedehandwerk, Schmiedewerkzeuge 126, 675 Schonen 307 Schrader, Otto 13 25, 38, 40, 42–45 Schretzheim 264, 271, 290 Schrift und Bild 143 Schrift und Schriftwesen 182 Schrittfinnen (Schridfinnen) 222 Schuchhardt, Carl 32, 131, 155f. Schuhe 321, 330 Schumacher, Karl 32, 131, 155f. Schwangerschaft 325, 346 Schwertinschriften 126, 264 Seehandelsplätze 135 Semgallen 418 Semnonen 259 Seeland 264, 281f. Sejlflod 646 Seuchen 335 Shetelig, Haakon 596, 634 Shetlandinseln 318 Siedlungsarchäologie 118, 152, 157, 555f., 559 Siedlungs-, Gehöft- und Hausformen 118, 157, 319, 320 Siedlungsgeographie 157 Sievern 264, 281, 291, 681, 694 Sigtuna 264 Sigurddarstellung 673 Silberlöffel 263 Sinnbilder und Heilswörter 281, 683 Sippe 38 Sitte und Brauch 24, 101f. Sittlichkeitsdelikte 326 Situlenkunst 143 Sjörup 597, 601, 607 Skalde 380 Skaldengeschichten 60 Skaldische Dichtung 60, 687 Skaldische Verskunst 60 Skaldengeschichten 60
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Skandiai nesoi 182 Skandinavische Stämme 86, 233, 236–238 Skandinavismus und nordischer Gedanke 91, 151 Skedemosse 175, 517f., 521 Skodborg 264, 281f., 291 Skythen 250, 417 Slaven s. Slawen Slawen 149, 165, 182, 185f., 232f., 249, 414 Slawisch-Baltisch-Germanische Sprachbeziehungen 185, 232f. Slawische Keramik 185 Slawische Religion 185 Slawische Sprachen 185, 217, 232, 248–250 Sleipnir 626 Sletner 717 Snartemo 598 Snorri Sturluson 82, 696, 706, 708, 710 Söldner 721 Sösdala und Sösdala-Stil 597, 601, 645, 650 Sorte Muld 535, 603, 700, 708, 724, 736 Sozial- und Kulturanthropologie 16, 33, 140 Spätantike 577 Speckstein 126 Sperre 534 Spong Hill 273, 442 Stadt 135, 172 Stamm und Staat 33, 147, 258, 401 Stammesbildung, Ethnogenese 33, 38, 80, 179, 189, 402 Staraja Ladoga 274 Starigard 264 Stenberger, Mårten Karl Herman 127 Stil 96, 607, 636, 653, 661 Stonehenge 142 Strichkeramikkultur 425
Sussex 442 Suffolk 449, 452 Sutton Hoo 130, 592, 595, 600, 627, 663–665, 669, 725, 728 Svarteborg 264, 281 Swallowcliffe Down 455 Sweben 134, 255, 259 Swebenknoten 403 Sylt 137 Synkretismus 35, 87, 188f. Tassilo III. 181 Tassilo-Kelch 615, 666–668 Teutonen 74, 236, 261 Theoderich der Große 692 Theodiscus 181 Theodo II. 181 Theophore Namen 241f. Theudebert 704 Þingvellir 297 Thomsen, Christian Jürgensen 150, 154, 636 Thor s. Donar-Þórr Thorsberg 120, 175, 263, 277, 290, 517f., 523, 531f., 549f., 642 Thraker 250, 261 Thron 649 Thüringer 80, 145, 259, 417 Þulr 81 Tierornamentik, Germanische 72, 84, 120, 589 ff., 590, 607, 633 ff., 635, 648, 651f., 670, 724 Tiersymbolik 607, 685 Tischler, Otto 155 Tissø 124, 603 Tjurkö 264, 281f., 291, 696, 715, 725 Torslunda 620, 624 Fig. 15a, 627f., 701 Totenfolge 139 Transformation of the Roman World 77, 188, 402, 581 Tribal Hidage 182 Trier 257
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Trinkhorn 542 Trollhättan 282, 291, 705f. Trossingen 137, 272 Trundholm 142 Tryggevælde 290 Tuberkulose 331, 333 Tuna 711 Tune 289 Typologie 24 Týr s. Ziu-Týr Übergangsinschriften 265 Ultima Thule/Thule 71 Unfruchtbarkeit 346 Ungeziefer 320, 344, 356 Untier 699 Uppåkra 124, 129, 137, 535, 603, 736 Uppland 592, 599 Uppsala 597, 599, 692, 710 Urheimat 217, 404 Urnenfelderkultur 420 Urnes 630, 672 Urnordische Sprache 224f., 265 Uslar, Rafael von 127, 254f. Valsgärde 143, 595, 598f., 621, 626, 724 Vandalen s. Wandalen Varpelev 263 Varus 110, 112 Verfassung 83 Verhüttung und Metalltechnik 15 Verwaltung 83 Verwaltungsbezirke 83 Verwandtschaft 38 Vendel 143, 595–597, 626 Vendelstile s. Tierornamentik, Germanische Veneter 250, 261 Verbreitungskarte 158 Verletzungen 340 Vermand 529, 549 Verrenkungen 367
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Vergolden 117, 668 Versilbern 668 Viehhaltung und Weidewirtschaft 323 Villeneuve-au-Châtelot 135 Vimose 175, 263f., 273f., 289f., 517, 521, 523, 531 Vinařicer Kultur 424 Vindeliker 416 Virchow, Rudolf Ludwig Carl 140, 155f. Vita Eligii 575 Vitherlagsret 307 Vögel 324, 699 Völkerwanderung 24, 574, 576, 580 Völkerwanderungszeit 120, 134, 136, 159, 574, 576, 702 Völkische Weltanschauung 16, 33, 52, 87, 91, 101f., 188f., 189 Volk 33, 101f., 401 Volksglaube 33, 52, 101f. Volksrechte 52 Vo˛ luspá 708 Vorbasse 535 Vorgermanisch/Vorindogermanisch 221, 223 Vorrömische Eisenzeit 134, 254 Vries, Jan de 283 Waffennamen 264 Waffenopfer 135f., 148, 517 Waitz, Georg 89 Wales 182 Waltharius 56 Walther und Hildegund 56, 495 Wandalen 120f., 249, 260, 419, 441, 692 Wandersiedlung 560 Wasserversorgung 15 Wechselbalg 346 Weibull, Lauritz 609 Weimar 264
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RGA-Stichwortregister
Wenskus, Reinhard 38f., 77–80, 82, 87, 114, 130, 167f., 179, 235, 458, 539 Werkstatt und Werkzeug 676 Werner, Joachim 113, 179, 407, 636, 638, 683 Werra (augusteisches Lager Hedemünden) 128 Weser 252 Wessex 442f., 449, 454 Westgermanische Sprachen 215, 228, 236, 238f., 465, 474 Westgoten 184 West Stow 452 Wetzstein 99 Widsith 81, 495 Wiedergänger 344 Wiege 328 Wieland 126, 675 Wielbark-Kultur 82f., 126, 230, 425 Wien 15 Wikinger 86f. 219, 265, 417, 671 Wikingerzeit 24, 86f., 132, 136, 182, 702, 719 Wilhelm der Eroberer 85 Wittislingen 263, 291 Wilhelmshaven 157 Woche und Wochentagsnamen 684, 702, 726 Wöchnerin 325, 327, 329, 344, 346, 375f. Wörter und Sachen 31, 35, 45, 97, 482 Wohn- und Wohnstallhaus 157 Wortforschung 265 Wolf 607
Worsaae, Jens Jacob Asmussen 154, 636, 674, 710 Wotan-Odin 595, 597, 599, 605, 622, 626, 630, 681, 684, 702–704, 706, 708, 710, 719, 732 Wremen 272, 648, 649 Würfel und Würfelspiel 265 Würzburg 15 Wunden und Wundbehandlung 340, 356 Wurm 344, 360, 712, 716, 732 Wurmlingen 264 Xanten
183f.
Yeavering 448, 453 Yttergärde 264 Zarubincy-Kultur 423f. Zähringer Burgberg 134, 174 Zahlsysteme 283 Zauber 282f. Zauberspruch und Zauberdichtung 356 Zaun 297 Zeiß, Hans 266, 271, 285, 407, 599, 639, 683 Zentralorte 124, 135, 138, 151, 636, 674, 676, 678, 690 Zierscheibe 642 Ziertechniken 635 Zimmermannskunst 272 Zinn 74 Ziu-Týr 684, 706, 719 Zwiebel 126 Zwölften s. Duodezimalsystem
Personenregister Register der in den Beiträgen erwähnten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit Bezug zur Altertumswissenschaft; kursiv sind historische Personen gekennzeichnet. Åberg, Nils 594–596, 598, 619, 636 Adam von Bremen 710 Adams, Douglas Q. 203 Adamus, Marian 225 Adetorp, Johan 609 Ælfric von Eynsham 504–508 Aelnoth 306 Æthelwold 504, 508 Ahn, Gregor 188 Albrant 718 Alcock, Leslie 448 Alexander III., Papst 310 Alfred (der Große) 458 Almgren, Bertil 127, 600 Ament, Hermann 127, 210 Amira, Karl von 17, 37 Anders Sunesøn 307, 314 Andersen, Harald 518 Andersson, Thorsten 73 Anton, Hans Hubert 15, 187 Antonsen, Elmar H. 225, 286f. Åqvist, Gösta 299 Arbman, Holger 127, 624 Aristoteles 77, 716 Arndt, Ernst Moritz 89 Arne, norweg. Bischof 305 Arne, Ture J. 597 Arntz, Helmut 266, 271, 285 Arwidsson, Greta 597–599, 636, 665 Ascher, Saul 88, 89 Assmann, Aleida 109
Assmann, Jan 636 Auerbach, Erich 98 Augustinus 109 Ausbüttel, Frank M. 173 Axboe, Morten 133, 643 Bachofen, Johann Jakob 38 Bæksted, Anders 283 Baetke, Walter 17 Bakka, Egil 600f., 635, 661 Bandle, Oskar 217 Bargheer, Ernst 92 Barnes, Michael P. 285f. Bartes, Roland 107 Bartholomae, Christian 34 Bartholomäus Anglicus 6 Baudou, Evert 127 Baugh, Albert C. 459 Becher, Matthias 15, 187 Beck, Heinrich 2, 14, 113, 125, 131, 149, 150, 161, 166, 168f., 174, 177, 266, 281f., 295 Becker, Carl Johan 127 Beda Venerabilis 34, 66, 82, 429, 435, 443f., 456, 463, 465, 469, 471, 485, 487, 491f., 496 Behr, Charlotte 696 Behre, Karl Ernst 127, 152 Bengt, Bischof von Linköping 307 Benveniste, Émile 35f., 482 Benz, Richard 68
780
Personenregister
Berghaus, Peter 127, 181, 191 Betz, Werner 501 Bleckmann, Bruno 173 Bierbrauer, Volker 108, 128, 150, 229, 230, 236, 408f., 413, 418, 422 Blom, Grethe Authén 305 Boeckh, August 30, 34, 36f., 46, 48f., 52, 94–96, 98, 100 Böhm, Max Hildebert 102 Böhme, Horst Wolfgang 601, 636, 638, 646 Böhner, Kurt 620–622, 624, 627 Boethius 34 Bojunga, Klaudius 64 Bourdieu, Pierre 566 Bosch-Gimpera, Pedro 203 Brandes, Georg 54 Brate, Erik 234, 269 Brather, Sebastian 108, 141, 153, 230, 401 ff., 434 Bratuscheck, Ernst 47 Braunmüller, Kurt 286 Brøgger, Anton Wilhelm 155 Brøndsted, Johannes 151, 517 Brown, Gerhard Baldwin 155, 596 Brugmann, Karl 25 Brunner, Karl 507 Brunner, Otto 396, 574 Bruno von Longoburgo 365 Bühler, Johannes 90 Bugge, Alexander 155 Bugge, Elseus Sophus 267, 269, 270, 280 Burchfield, Robert William 497 Burkhardt, Jakob 67 Buschmann, Matthias 98 Buttmann, Philipp 36 Caesar 82, 125, 144, 252, 254, 257, 259, 392f., 396 Callies, Horst 180 Campbell, Alistair 475 Capelle, Torsten 114, 127, 636
Carnap-Bornheim, Claus von 153, 642, 651 Cassiodor 6, 34, 235, 394f. Cassius Dio 577f. Castritius, Helmut 80, 179, 181 Cato 5 Caxton 489 Celsus 5 Chadwick (Hawkes), Sonja 601 Chauliac, Guy de 351 Chirurg des Marienburger Konvents 370 Chirurg von der Weser 348, 350, 366, 369, 377f. Cicero 77 Clarke, David Leonhard 409 Colgrave, Bertram 463 Collingwood, William Gershom 694 Corradini, Richard 181 Crystal, David 468 Curtius, Ernst Robert 66–68 Dahlmann, Friedrich Christoph 89 D’Alembert, Jean le Rond 7 Darwin, Charles 17 de Boor, Helmut 71, 90f. de Gruyter, Walter 106, 113, 166f. de Vries, Jan 283, 736 Delorez, René 285 Demandt, Alexander 580, 583 Dick, Stefanie 39, 81, 146 Dickinson, Tania 608, 610 Diderot, Denis 7 Diesenberger, Maximilian 181 Dilthey, Wilhelm 100 Donders, Frans 330 Dopsch, Alphons 581 Dragendorff, Hans 155 Droysen, Johann Gustav 49, 89, 97 Düwel, Klaus 240, 265 Dumézil, Georges 690, 721 Durliat, Jaques 18 Dux Günther 110 Dybeck, Richard 269
Personenregister
Ebert, Max 13, 113, 124, 131, 155f., 421 Eggers, Hans 76, 503 Eggers, Hans Jürgen 113, 150f., 156, 158, 541 Eggert, Manfred K. H. 151, 158–161 Ekwall, Eilert 491 Ellmers, Detlev 206 Endres, Josef Anton 28, 34 Engelhardt, Conrad 517 Erdrich, Michael 153 Ersch, Johann Daniel 8 Erslev, Kristian 609 Es, Willem A. van 191 Esch, Arnold 171 Fabricius, Ernst 155 Fecht, Maiken 693 Fehr, Hubert 141 Feugère, Michel 542 Feulner, Anna Helene 207 Fifei Geswy zuo Basel (Fiffi Götzweib) 382 Figal, Günter 107 Fischer, Franz 257 Fishman, Joshua A. 461f., 491 Fleming, Alexander 361 Förster, Max 486 Forssander, John-Elof 597 François, Etienne 109 Frau von Sangershausen 381 Frau von Tesingen 377 Fried, Johannes 575 Friesen, Otto von 267–270, 272, 283 Fromm, Hans 221 Gabriel von Lebenstein 360 Gadamer, Hans-Georg 97 Gamillscheg, Ernst 226 Gaupp, Ernst Theodor 18 Gauß, Florian 142 Geary, Patrick 87, 146, 171 Gebühr, Michael 531 Gelasius I., Papst 303
781
Gellius 5 Genzmer, Felix 90, 399 Geuenich, Dieter 2, 166, 397 Gierach, Erich 92, 131 Giesler, Jochen 424 Gildas 429 Gimbutas, Mari(j)a 149, 203 Gjessing, Gutorm 619f., 626 Gneuss, Helmut 501, 507 Goffart, Walter 80 Godłowski, Kazimierz 127 Goeßler, Peter 155 Goethe, Johann Wolfgang von 89 Goetz, Hans-Werner 395 Goffart, Walter 18, 80, 579 Graefe, Ferdinand von 370 Gratian 303 Graus, František 399 Green, Dennis Howard 482 Gregor von Tours 83, 88 Gregor VII., Papst 303 Gregor der Große, Papst 303 Greule, Albrecht 15 Grimm, Jacob 12, 37, 39, 48–53, 63, 65, 69, 71, 78, 88–90, 93, 98–100, 103, 216, 278, 511f., 689f., 699f., 701, 726 Grimm, Wilhelm 30, 48, 52, 62f., 65, 69, 93, 98f., 103, 278, 633, 636, 689f. Gröber, Gustav 25 Grönbech, Wilhelm 398 Grünewald, Thomas 181 Grünkorn, Gertrud 113 Grønvik, Ottar 265 Günnewig, Barbara 194 Guido d’Arezzo der Jüngere 388 Gundelwein, Andreas 531f. Gunkel, Hermann 291 Gunnell, Terry 689 Gutenbrunner, Siegfried 65, 90 Hachmann, Rolf 40, 80, 113–116, 130, 132, 138, 145, 168
782
Personenregister
Härke, Heinrich 154 Hagberg, Ulf Erik 127, 518 Haid, Oliver 188 Hakelberg, Dietrich 146 Halsall, Guy 408, 427, 529, 582 Hampe, Karl 31 Hampe, Theodor 155 Hans Seyff von Göppingen 365, 376 Haseloff, Günther 590, 601, 603, 607, 610, 636, 684 Haubrichs, Wolfgang 84, 239 Hauck, Albrecht 10, 11, 13–15 Hauck, Karl 279f., 604f., 607–609, 622, 630, 635f., 641, 677, 679, 683f., 693f., 696f., 699, 706, 708, 710, 712, 716, 719, 727–729 Haupt, Albrecht 64 Hawkes, Christopher 431 Hawkes, Jane 609 Heather, Peter J. 580–583 Hedeager, Lotte 160–162, 605f., 608, 630, 687 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 36, 48 Hehn, Victor 41, 43, 45 Heidegger, Martin 68 Heiler, Thomas 15 Heinrich-Tamaska, Orsolya 419, 611, 631 Heinrich von Pfalzpaint 351 Heizmann, Wilhelm 730f. Helm, Karl Hermann Georg 64 Henning, Rudolf 268, 270 Henrik Harpestraeng 377f. Herder, Johann Gottfried 65, 71, 91, 95 Herodot 250 Herrmann, Joachim 423 Hertlein, Friedrich 155 Herzog, Johann Jakob 10, 11, 13–15 Heusler, Andreas 25, 39, 52–61, 63f., 66f., 81, 90, 93, 295, 510, 511f. Heyne, Moritz 25 Hickes, George 493
Hicks, Carola 608f. Hildebrand, Hans 636 Hildebrandt, Reiner 338 Hildegard von Bingen 338f., 344, 380f. Hinz, Hermann 127 Hirt, Hermann 44 Hodder, Ian 160, 604 Höfler, Otto 92, 574 Hoernes, Moritz 32, 155 Hofmann, Dietrich 234 Hoffory, Julius 52 Høilund Nielsen, Karen 153, 606 Holm, Gösta 234 Holmqvist, Wilhelm 597–599, 636, 684 Hoops, Johannes 1, 12, 14–16, 19, 24f., 29, 31–45, 80, 94f., 98f., 107, 111, 113, 115, 140, 154, 192 Hoppe, Michael 15 Hougen, Bjørn 597f. Hrafn Sveinbjanarson 371, 377f. Huijbers, Antoinette M. J. H. 562 Huizenga, Erwin 365 Hultgård, Anders 188, 240 Humboldt, Wilhelm von 30, 46, 70, 100 Hundsbichler, Helmut 171 Huth, Christoph 143, 660 Hieronymus Brunschwig 257, 363 Ilkjær, Jørgen 129, 515, 517f. Imer, Lisbeth M. 263f., 290 Ine von Wessex 445, 449, 456, 458 Innozenz IV., Papst 310 Ioniţa, Ion 127 Isidor von Sevilla 6f., 395 Ivo von Chartres 301 Jackson, Kenneth 486 Jacob von Melle 735 Jacob-Friesen, Karl Hermann 150, 156, 159
108,
Personenregister
Jäger, Helmut 127 Jänichen, Hans 266 Jahn, Friedrich Ludwig 62 Jan Yperman 365, 371, 377f. Jankuhn, Herbert 2, 38, 92, 107, 110, 112–117, 124f., 129–132, 145, 149, 151f., 156, 159, 167f., 177, 179, 266, 283, 285, 290, 517 Jarnut, Jörg 145 Jenny, Wilhelm von 90 Jespersen, Otto 459, 512 Jiriczek, Otto Luitpold 25 Isidor von Sevilla 34, 403 Johan van Seghen 351 Johanek, Peter 191 Johannes von Salisbury 303 Johansen, Arne B. 604 Jón, norweg. Bischof 305 Jónnsson, Finnur 61 Jordanes 235, 394, 692 Jordanus Rufus 718 Jungner, Hugo 597 Justinian 303, 692 Kaenel, Hans-Markus von 127 Kaiser, Charlotte 340 Kallio, Petri 233 Kalmar, Ivan 27 Kambartel, Friedrich 98 Karl, Bischof von Linköping 307 Karlsson, Lennart 607 Kauffmann, Friedrich 68, 73, 95f. Keil, Baldur 372 Kendrick, Sir Thomas Downing 597 Kern, Fritz 300 Kiekebusch, Albert 155f. Kier, Christian 313 Kindermann, Heinz 91 Klein, Thomas 225 Kloss, Heinz 461 Kluge, Friedrich 25, 33f. Knirk, James E. 289 Knut VI. 307 Knut, der Heilige 306
783
Koch, Alexander 407 Koch, John T. 201 Kock, Ernst Albin 61 Köbler, Gerhard 301 Koivulehto, Jorma 217f., 223 Kop(p)ernikus 381 Koselleck, Reinhart 98 Kossack, Georg 80, 137, 150f., 157 Kossinna, Gustaf 33, 108, 114, 131, 138, 140, 146, 155–157, 406 Krämer, Werner 264 Krahe, Hans 73 Kraus, Carl von 92 Krause, Arnulf 175 Krause, Wolfgang 60, 238, 266, 271, 275, 280f., 283, 285, 287, 290 Krausse, Dirk 138 Kristoffersen, Siv 608, 610 Kroeschell, Karl 180, 301, 399 Krohn, Niklot 409 Krüger, Bruno 112 Kühn, Herbert 602 Künzl, Ernst 174 Künzl, Susanna 542, 543 Kuhn, Hans 2, 57, 61, 80, 82, 90; 224f., 227, 238, 252, 294 Kusmenko, Jurij K. 274 Lachmann, Karl 48, 52f., 55, 57, 102 Lamm, Jan Peder 127, 693 Lamprecht, Karl 26–34, 36–38, 71f., 80, 99, 154 Lanfrank von Mailand 341, 351, 352, 370 Lange, Wolfgang 38 Lau, Nina 532 Lauffer, Otto 64 Lassen, Christian 199 Laurentius Rusinus 718 Lazarus, Moritz 27 Leeds, Edward Thurlow 597f., 601 Leigh, David 604 Lid, Nils 689 Lie, Hallvard 61f.
784
Personenregister
Liestøl, Aslak 270 Lindenschmit, Ludwig (der Ältere) 94 Lindqvist, Sune 596, 598f. Linné, Carl von 338 Livius 75 Löwe, Heinz 180 Lie, Hallvard 61f. Looijenga, Tineke 271 Loyn, Henry Royston 180f. Lübke, Christian 181 Lüning, Jens 151 Lugge, Margret 396 Lund, Allan 393 Lund Hansen, Ulla 643, 726
Much, Rudolf 25, 33, 38f., 179 Mühlmann, Wilhelm 208 Müllenhoff, Karl Victor 48, 52, 53, 55, 63, 67, 99, 102f. Müller, Gunter 280f., 283 Müller, Rosemarie 2, 110, 114–116, 126, 128f., 183, 193 Müller, Sophus 25, 150, 154f., 595, 623, 633, 636, 674 Müller, Stefan 206 Müller-Blattau, Josef Maria 64 Müller-Wille, Michael 671 Mulomedicina Chironis 718 Mynors, R. A. B. 463
Magnus, Bente 127, 601, 608, 610f., 646 Magnus Hakonarsson 304 Magnus Lagaböter 305 Mallory, James Patrick 74, 203f. Malmer, Mats P. 589, 599f., 635f. Mann, Thomas 69 Mannhardt, Wilhelm 689 Martianus Capella 6 Martin, Max 546f. Maurer, Friedrich 74, 255 Meier, Christel 708 Meier, John 52 Meli, Marcello 271 Meller, Harald 142 Menghin, Wilfried 142 Mees, Bernard 67 Meuli, Karl 689 Meyer, Richard M. 25, 510 Mildenberger, Gerhard 114, 145 Mogk, Eugen 267 Mohr, Wolfgang 90 Moltke, Erik 279f., 283 Mommsen, Wolfgang J. 98 Montelius, Oscar 108, 154, 595, 599, 636 Moore, Henrietta 561 Morton, William Thomas Green 364 Moulin, Dan de 374
Nagy, Margit 611 Naumann, Hans 67f., 169 Naumann, Hans-Peter 295 Neckel, Gustav 31, 33, 36, 57–59, 91, 294 Nedoma, Robert 271 Nehlsen, Hermann 180 Nehring, Alfons 13, 25, 43f., 203 Neuhaus, Volker 98 Neumann, Günter 193 Nielsen, Hans Frede 225, 227, 465f. Nielsen, Karl Martin 279f. Nietzsche, Friedrich 54, 64, 69, 95, 97f. Nikandros 716 Nikolaus von Polen 377f. Nollau, Hermann 64, 66, 68 Norden, Eduard 75 North, Richard 494 Nowakowski, Wojciech 127 Nünning, Ansgar 98 Nünning, Vera 98 Nyman, Eva 219 Nyrup, Rasmus 278 Nyström, Per 314f. Ørsnes, Mogens 518, 600 Oexle, Otto Gerhard 2, 171 Olsen, Magnus Bernhard 270, 283
Personenregister
Olsén, Pär 597f., 621 Olrik, Axel 689 Opitz, Stephan 271 Orosius 222, 237, 578 Ortolf von Bayerland 351, 371, 377f. Oxenstierna, Eric Graf 706 Padberg, Lutz von 188 Page, Ray I. 267, 498 Panzer, Friedrich 687 Paracelsus 364 Paré, Ambroise 373 Parzinger, Hermann 3 Paul, Hermann 25–31, 34, 36–38, 94, 154 Paulsen, Peter 622, 624 Paulus Diaconus 394, 702 Pauly, August Friedrich 10–16, 172 Penzl, Herbert 225 Pesch, Alexandra 153, 693 Peterson, Lena 286 Petrikovitz, Harald von 128, 180 Petrus Hispanus 351 Photios 5 Pieper, Peter 273f. Pirenne, Henri 581 Plassmann, Alheydis 80f. Plinius der Ältere 5, 716 Pohl, Walter 15, 80, 141, 145, 181, 187, 235, 258, 393–395, 401, 403, 434 Polybios 75 Poseidonios 75 Priskos 584 Prokop 394, 398, 584, 692 Ptolemaios 229, 237 Proust Marcel 109 Puschner, Uwe 188 Pytheas von Massalia 53, 74 Quirk, Randolph
481
Raddatz, Klaus 518 Randsborg, Klavs 520, 536
785
Ranisch, Wilhelm 93 Ranke, Kurt 78, 179 Ranke, Leopold von 609 Rau, Andreas 153 Raumer, Hans von 89 Raumer, Rudolf von 65 Reichert, Hermann 39 Reichardt, Konstantin 90 Reichstein, Hans 127, 152 Reimitz, Helmut 181 Reinerth, Hans 132 Renfrew, Colin 149, 536 Richbodo von Lorsch 345 Richter, Michael 113, 115 Riehl, Wilhelm Heinrich 101 Rietschel, Siegfried 38 Roger Frugardi / Rüdiger Frutgard 332, 349f., 362, 366/367, 371, 378, 388 Rossmann, Andreas 106 Roth, Andreas 180 Roth, Helmuth 114, 127, 275, 601f., 636, 651, 684 Roymans, Nico 410 Rudberg, Gunnar 76 Rüsen, Jörn 98 Rummel, Philipp von 419, 426 Saar, Christoph 180 Sachs, Britta 106 Salin, Bernhard 589, 596–598, 600, 604, 606, 612, 622, 628, 632–634, 636, 644, 654f., 661f., 665f., 670 Sangmeister, Edward 159 Saussure, Ferdinand de 35, 287 Sawyer, Birgit 181 Sawyer, Peter 181 Scardigli, Piergiuseppe 113, 115, 130, 277, 283, 291 Schäferdiek, Knut 182 Schenk, Wilfried 127 Scherer, Wilhelm 65, 89, 93 Schier, Kurt 295
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Personenregister
Schietzel, Kurt 152 Schlabow, Kurt 128 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 97 Schliz, Alfred 90, 155 Schmarsow, August 630 Schmid, Peter 152 Schmid, Wolfgang P. 68, 73 Schmidt, Karl Horst 251 Schmitt, Rüdiger 45, 170, 203 Schmidt-Wiegand, Ruth 93, 180 Schmoll, Heike 106 Schnabel, Franz 89 Schnall, Uwe 271 Schneider, Hermann 56, 90–92 Schneider, Reinhold 69f. Schnittger, Bror 155, 278 Schnurbein, Siegmar von 128, 166 Schorn-Schütte, Luise 31 Schrader, Otto 13, 25, 38, 40, 42–45, 203 Schramm, Gottfried 41, 243 Schramm, Percy Ernst 2, 112, 178 Schreuer, Hans 33 Schrijver, Peter 210 Schröder, Edward 25, 33, 243 Schuchhardt, Carl 32, 131, 155f. Schück, Henrik 59 Schützeichel, Rudolf 347 Schulze, Hagen 109 Schumacher, Karl 155f. Schwab, Ute 276 Schwarz, Ernst 78, 224, 238, 481f. Schwerin, Claudius Freiherr von 64 Schwyzer, Eduard 256 See, Klaus von 298 Seebold, Elmar 232, 236, 238f. Seelow, Hubert 278 Seemüller, Joseph 84 Seger, Hans 155f. Seneca der Jüngere 75 Service Elman Roger 258 Shetelig, Haakon 596, 634 Siegmund, Frank 407, 409
Sievers, Eduard 483, 507 Simek, Rudolf 174f. Simon, Gerd 92 Sisam, Kenneth 509f. Sjöholm, Elsa 298f., 302, 312, 314f. Snorri Sturluson 82, 696, 706, 708, 710 Söderberg, S. 269 Sommer, Michael 175 Spamer, Adolf 100f., 102 Speake, George 604 Spiegel, Friedrich 200 Spranger, Eduard 100–102 Springer, Matthias 580 Stammler, Wolfgang 266 Starck, Taylor 347 Stein, Frauke 408 Steinthal, Chajim, H. 27, 30 Stenberger, Mårten Karl Herman 127 Steuer, Heiko 2, 109f., 114–116, 126, 128f., 131–133, 146–148, 150, 166, 171, 177, 188f., 218, 153, 171, 245, 412, 637–639, 672 Stewart, William 460, 461 Stjerna, Knut 597 Stoklund, Marie 290 Strabon 75 Strauch, Dieter 180 Strauß, Botho 110 Streitberg, Wilhelm 24f. Stroh, Fritz 66 Stromayr, Caspar 374f. Strzelczyk, Jerzy 229 Sudhoff, Karl 347, 348 ff Sundquist, Olof 240 Suphan, Bernhard 91 Szondi, Peter 98 Tacitus 39, 75, 81, 83, 87, 103, 134, 241, 257–259, 338, 382, 398, 523, 537–540, 689 Tausend, Klaus 146 Theune, Claudia 150 Theuws, Frans 137, 153
Personenregister
Thomas von Aquin 301 Thomsen, Christian Jürgensen 150, 154, 636 Thrane, Henrik 127, 275, 677 Tiefenbach, Heinrich 191 Timpe, Dieter 74, 77, 178, 180 Tischler, Otto 155 Todd, Malcolm 73 Tolkien, John Ronald Reuel 493f. Trot(t)ula 380 Trübner, Karl 12, 24 Trusen, Winfried 301 Udolph, Jürgen 207, 217f., 232f., 467 Urbańczyk, Przemysław 229, 414 Uslar, Rafael von 127, 254f. Valdemar II., König von Dänemark 308 Varro 5 Veit, Ulrich 161 Vergil 55 Verrius Flaccus 7 Verwers, Willem 191 Vierck, Hayo 602, 676 Vincenz von Beauvais 6 Virchow, Rudolf 140, 155f. Von der Hagen, Friedrich Heinrich 52 Von der Leyen, Friedrich 64 Voss, Olfert 601 Voßler, Karl 30 Wagner, Norbert 393f. Wahle, Ernst 156, 203 Waitz, Georg 89 Wamers, Egon 682 Ward-Perkins, Bryan 580–582 Watt, Margrethe 736 Weber, Max 534 Weibull, Curt 609 Weibull, Lauritz 609 Weisgerber, Leo 30 Weiske, Julius 9 Welcker, Carl Theodor 89 Wells, John C. 347
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Welte, Benedikt 10, 11 Wenskus, Reinhard 38f., 77–82, 87, 114, 130, 167f., 178–180, 208, 235, 399, 458, 539, 576 Werner, Joachim 113, 179, 407, 636, 638, 683 Wessén, Elias 234 Wetzer, Heinrich Joseph 10f. Wickham, Chris 583f., 586 Widukind von Corvey 403, 681 Wiechmann, Ralf 127 Wiegels, Rainer 238 Wilhelm von Brescia 352 Wilhelm Burgensis 378 Willerding, Ulrich 127 Williams, Edna Rees 506 Wilson, Sir David M. 127 Wimmer, Ludvig F. A. 268–270 Winkelmann, Johann Joachim 96 Wissowa, Georg 11–16, 172 Withering, William 360 Witzel, Michael 200 Wolf, Friedrich August 36f., 45–48, 95f. Wolfram, Herwig 15, 80, 83f., 145, 163, 173, 180f., 187, 235, 399 Wolters, Reinhard 127, 181 Wood, Ian N. 15, 181, 187f. Woolf, Alex 449 Worringer, Wilhelm 61 Worsaae, Jens Jacob Asmussen 154, 636, 674, 710 Wotzka, Hans-Peter 420, 422 Wrenn, Charles Leslie. 481 Wührer, Karl 180 Wurm, Helmut 322 Yperman, Jan s. Jan Yperman Zedler, Johann Heinrich 8 Zeiß, Hans 266, 271, 285, 407, 599, 639, 683 Zeuß, Kaspar 78 Zimmermann, Wolf Haio 137, 153