Aby Warburgs Theorie der Kultur: Detail und Sinnhorizont [Reprint 2015 ed.] 9783050079912, 9783050036588

Aby Warburg (1866–1929) hat mit seinen kulturwissenschaftlichen Untersuchungen und der Programmatik seiner Bibliothek au

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German Pages 173 [176] Year 2002

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Table of contents :
Vorwort
I. Einleitung
1. Ausgangsfragestellung
2. Kulturwissenschaft, Kulturtheorie und Kulturphilosophie
3. Zur Struktur der Untersuchung
II. Warburgs intellektuelle Entwicklung
1. Universitätsjahre
1.1 Bonn
1.2 München
1.3 Florenz
1.4 Straßburg
2. Positivismus und Hilfskonstruktionen
Sinnvermutungen
III. Lehrer
1. Kulturwissenschaft und Sozialgeschichte
2. Kulturwissenschaft und Religionsgeschichte
3. Kulturwissenschaft und Kunstgeschichte
IV. Leitfiguren
1. Theorie der Kleidung und des Heroischen
2. Theorie der Entwicklung und des animalischen Ausdrucks
3. Theorie des Irrationalen und der fremden Antike
V. Entwicklung einer eigenständigen Methodik
1. Methodik in der Kunstgeschichte
2. Psychologische und philosophische Ästhetik
3. Symbolbegriff
3.1 Notwendigkeit und Beliebigkeit von Symbolen
3.2 Symbol
3.3 Symbol und Abstraktion
3.4 Symbol als »Umfangsbestimmung«
3.5 Der »Umfang« des Menschen: sein Kosmos
4. Zur Übernahme von Sinnhorizonten im Rahmen der Traditionsbildung
VI. Unterwegs zu einem Begriff der Kultur
1. Neukantianismus - Wert und Methode
2. Wert, Methode und Dynamisierung
VII. Die rettende Mnemosyne? – Gedächtnis der Kultur
1. Walter Benjamin
Benjamins Anknüpfung an die Kunsttheorie Baudelaires
2. Aby Warburg
VIII. Kulturanalyse – Kultursynthese – Kulturwissenschaft
1. Rationalitätsmodelle
1.1 Handlung
1.2 Angst
1.3 Orientierung
2. Konkretes Milieu und Einleben in die Kulturwelt
IX. Bausteine einer Kulturtheorie: Drei Manuskripte
1. ›Grundlegende Bruchstücke zu einer pragmatischen Ausdruckskunde/zu einer monistischen Kunstpsychologie‹
Zwischen Einfühlungsästhetik und objektivem Stil
2. ›Symbolismus als primäre Umfangsbestimmung‹
Symbolisches Umfeld und Selbstdefinition
3. ›Einleitung zum Mnemosyne-Atlas‹
X. Denkraum und Dynamisierung
Literaturverzeichnis
1. Primärliteratur: Schriften Warburgs
2. Sekundärliteratur I: Schriften zu Warburg
3. Sekundärliteratur II: Sonstige Schriften
Personen- und Sach-Index
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Aby Warburgs Theorie der Kultur: Detail und Sinnhorizont [Reprint 2015 ed.]
 9783050079912, 9783050036588

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Bernd Villhauer Aby Warburgs Theorie der Kultur

Bernd Villhauer

Aby Warburgs Theorie der Kultur Detail und Sinnhorizont

Akademie Verlag

ISBN 3-05-003658-3

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2002 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Werksatz Schmidt & Schulz, Gräfenhainichen Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza Einbandgestaltung: Peter Nils Dören, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Für meine Schwester

»Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird.« (Johann Wolfgang von Goethe) »Auch der Kunst ist zur exakten Forschung Raum genug gegeben.« (Paul Klee)

Inhalt

x m Vorwort 1 I. 7 8 12

Einleitung 1. Ausgangsfragestellung 2. Kulturwissenschaft, Kulturtheorie und Kulturphilosophie 3. Zur Struktur der Untersuchung

15 Π. 17 17 20 21 21 24 24

Warburgs intellektuelle Entwicklung 1. Universitätsjahre 1.1 Bonn 1.2 München 1.3 Florenz 1.4 Straßburg 2. Positivismus und Hilfskonstruktionen Sinnvermutungen

25 DI. Lehrer 25 1. Karl Lamprecht - Kulturwissenschaft und Sozialgeschichte 28 2. Hermann Usener - Kulturwissenschaft und Religionsgeschichte 31 3. Jacob Burckhardt - Kulturwissenschaft und Kunstgeschichte 39 IV. Leitfiguren 39 1. Thomas Carlyle - Theorie der Kleidung und des Heroischen 44 2. Charles Darwin - Theorie der Entwicklung und des animalischen Ausdrucks 48 3. Friedrich Nietzsche - Theorie des Irrationalen und der fremden Antike 53 V. 53 58

Entwicklung einer eigenständigen Methodik 1. Methodik in der Kunstgeschichte 2. Psychologische und philosophische Ästhetik

X

Inhalt

61 63 65 67 68 69 70

3. Symbolbegriff 3.1 Notwendigkeit und Beliebigkeit von Symbolen 3.2 Symbol bei Aby Warburg und Ernst Cassirer 3.3 Symbol und Abstraktion 3.4 Symbol als »Umfangsbestimmung« 3.5 Der »Umfang« des Menschen: sein Kosmos 4. Zur Übernahme von Sinnhorizonten im Rahmen der Traditionsbildung

73 73 80

VI.

Unterwegs zu einem Begriff der Kultur 1. Neukantianismus - Wert und Methode 2. Max Weber - Wert, Methode und Dynamisierung

87 91 92 97

V n . Die rettende Mnemosyne? - Gedächtnis der Kultur 1. Walter Benjamin Benjamins Anknüpfung an die Kunsttheorie Baudelaires 2. Aby Warburg

105 106 107 112 114 117

VIIL Kulturanalyse - Kultursynthese - Kulturwissenschaft 1. Rationalitätsmodelle 1.1 Handlung 1.2 Angst 1.3 Orientierung 2. Konkretes Milieu und Einleben in die Kulturwelt

123 123

IX.

Bausteine einer Kulturtheorie: Drei Manuskripte 1. Grundlegende Bruchstücke zu einer pragmatischen Ausdruckskunde/zu einer monistischen Kunstpsychologie< Zwischen Einfühlungsästhetik und objektivem Stil 2. »Symbolismus als primäre Umfangsbestimmung< Symbolisches Umfeld und Selbstdefinition 3. »Einleitung zum Mnemosyne-Atlas
Aby Warburg. Eine intellektuelle Biografieäußere< Komponente im Vergleich zwischen den Wissenschaftsbereichen, aber auch eine >innereDer Frühling< und >Die Geburt der Venus< in Straßburg bei Hubert Janitschek promoviert. Durch die Mittel seiner Familie finanziell unabhängig, entschied er sich für die Existenz eines Privatgelehrten, der, ohne in universitäre Strukturen eingebunden zu sein, eine rege Forschungstätigkeit entfaltete und eine umfangreiche Bibliothek aufbaute. An die Studienzeit schlossen sich zunächst verschiedene monographische Arbeiten zu Themen der Frührenaissance an, wobei immer stärker das Interesse an kulturwissenschaftlichen Deutungsmodellen in den Vordergrund trat. Im Rahmen dieser Modelle versuchte Warburg, Erkenntnisse der Psychologie, Ethnologie und Soziologie zu verbinden; auch das Gebiet der von ihm untersuchten Themenbereiche und Zeiten weitete sich allmählich bis zur Untersuchung verschiedener anderer Stile wie der Gotik, aber auch beispielsweise zu Problemen aus dem Bereich astro1

Siehe beispielsweise: Badt, K., Eine Wissenschaftslehre der Kunstgeschichte, Köln 1971; ders., Kunsttheoretische Versuche, Köln 1968; Belting, Η. u.a., Kunstgeschichte eine Einführung, Berlin 19884; Dilly, H., Kunstgeschichte als Institution. Studien zur Geschichte einer Disziplin, Frankfurt a.M. 1979; Frankl, P., Das System der Kunstwissenschaft, Brunn/Leipzig 1938; Kultermann, U., Geschichte der Kunstgeschichte. Der Weg einer Wissenschaft, Düsseldorf/Wien 1966; Locher, H., Kunstgeschichte als historische Theorie der Kunst, München 2001, Podro, Μ., The Critical Historians of Art, New Haven/ London 1982; Schnaase, K , Geschichte der bildenden Künste, Düsseldorf 1843-64; Thausing, M., Die Stellung der Kunstgeschichte als Wissenschaft, in: ders., Wiener Kunstbriefe, Leipzig 1884; Zaunschirm, Th., Systeme der Kunstgeschichte, Wien 1975 2 Zaunschirm, Th., Systeme der Kunstgeschichte, S. 4

Einleitung

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logischer Symbolik (>Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers ZeitenNachleben der AntikeSchlangenritual-Text< in die Forschungsgeschichte einging. Der Vortrag markierte einen Wendepunkt in der Geschichte seiner Heilung und die nun möglich gewordene Rückkehr ins wissenschafdiche Leben (>Warburg reduxMnemosyne< gewidmet war, in dem die Traditionskontinuitäten und Bildwanderungen mit reichhaltigem Material vorgeführt werden sollten. Aby Warburg starb am 26. Oktober 1929 in seiner Heimatstadt Hamburg. Als deutscher Wissenschaftler jüdischer Herkunft durch die Zeidäufte um eine unmittelbare Wirkungsgeschichte gebracht, wird ihm heute wieder größere Aufmerksamkeit gewidmet, wobei die bekannteren Teile seines Lebenswerkes, die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg (die heute noch den Kern des >Warburg Institute< der Universität von London bildet) und die Methodik seines kulturwissenschafdichen Ansatzes (unter anderem als Grundlage für die Entwicklung der Ikonologie in der Kunstgeschichte) im Mittelpunkt des Interesses stehen. Dieser Wiederentdeckung ging eine lange Zeit erschwerter und halbherziger Rezeption voraus. Noch 1980 schrieb Martin Warnke: »Es muß heute festgestellt werden, daß weder die sozialpsychologische Problemstellung, in die Warburg den Menschen der Renaissance hineinrückte, noch auch die methodische Voraussetzung, die im Kunstwerk ein Ergebnis vorgängiger geschichdicher Auseinandersetzungen sieht, wissenschaftsgeschichdich wirksam geworden sind.« 5 Zuvor hatte Heinrich Lützeler schon festgestellt, »daß eine ganze Reihe charakteristischer, fesselnder und sogar grundlegender Kunsthistoriker bisher nicht im Zusammenhang methodologisch durchdacht worden sind« 6 , und Warburg an vorderster Stelle in diese Reihe eingeordnet. 3

Siehe Diers, M., Kreuzlinger Passion, in: Kritische Berichte, Band 415, 1975 So Warburgs eigene ironische Benennung 5 Hoftnann, W., G. Syamken, M. Warnke, Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg, Frankfurt am Main 1980, S. 74 6 Lützeler, H., Kunsterfahrung und Kunstwissenschaft. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Darstellung und Dokumentation des Umgangs mit der bildenden Kunst, 3 Bände, Freiburg/München 1975, S. 518 4

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Einleitung

Scheu vor Fragen der Methodik hat womöglich auch mit dieser verspäteten Rezeption zu tun, die Befürchtung, sich in vorbereitenden theoretischen Überlegungen zu verlieren und den konkreten Problemzusammenhang sowie das Gegenstandsbewusstsein zu vernachlässigen. Ein Blick auf Warburgs kurze Publikationsliste einerseits und die stattliche Anzahl seiner unvollendeten Forschungsvorhaben andererseits scheint diese Furcht zu bestärken. Aber die Untersuchung seines methodischen Ansatzes ist nicht nur ein Schlüssel zum Verständnis seines Scheiterns, sondern auch die Voraussetzung für das Verständnis seiner geglückten Projekte und seiner wissenschaftlichen Programmatik. Dabei ist, wenn man Warburg und seinem intellektuellen Format gerecht werden will, nicht nur die wissenschaftliche Arbeit zu beachten, sondern vor allem auch das wissenschaftorganisatorische Engagement. Die Bibliothek, die dem »Fortleben der Antike< gewidmet war, und vielen Wissenschaftlern ein ideales Arbeitsumfeld bot, kann durchaus gleichberechtigt neben die Schriften gestellt werden. Schon der wissenschafüiche Ansatz, der im inneren Aufbau dieser >Problem-Bibliothek als Laufgewicht im KulturgefiigeWarburg-Schule< und die Prägnanz ihres jeweiligen wissenschaftlichen Programms trugen dazu bei, dass Aby Warburg selbst immer mehr in den Status eines Vorläufers geriet, zum >ersten der Warburgianer< wurde. Dass überhaupt so stark der Eindruck einer Schule oder eines kollektiven Forschungsprogrammes des >Warburgianismus< entstehen konnte, ist eines der Grundprobleme der Warburg-Rezeption. Damit wurde in gewisser Weise auch die interdisziplinäre Sprengkraft neutralisiert: »Die fachwissenschafdiche Rezeption hat auf diese Weise den Kulturhistoriker Warburg zum Ikonologen verkürzt und seine Idee einer >kunstgeschichtlichen Kulturwissenschaft« zurechtgestutzt auf ein in den

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Warburg in einem Brief an E. R. Curtius vom 5.8.1929 zitiert nach: Gombrich, Ε. H., Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie (GAW), Frankfurt a.M. 1981, S. 14 9 Tillich, P., Renaissance und Reformation. Zur Einführung in die Bibliothek Warburg, in: Theologische Blätter, Band 32, Nr. 12,1922 8

Einleitung

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Grenzen des Faches vertret- und brauchbares Maß.« 10 Ähnlich äußert sich Dieter Wuttke: »Die Gleichsetzung Warburgs mit und die Reduzierung des Bildes seiner wissenschaftlichen Persönlichkeit auf die Ikonologie stellt eines der verbreitetsten Mißverständnisse dar.«11 Wenn die im Zuge der Herausbildung von >Warburgianismen< und der Schulenbildung reduzierten und vergröberten ursprünglichen Denkansätze hier teilweise rekonstruiert werden sollen, heißt das natürlich nicht, dass von der Art der bisherigen Rezeption nichts zu lernen wäre; bei einigen Wissenschaftlern des Warburg-Kreises findet sich jeweils eine Entfaltung Warburgscher Motive, die in der Retrospektive die Relevanz dieser Motive für die kulturwissenschaftliche Forschung deutlich werden lässt. Hervorzuheben sind hier beispielsweise die Arbeiten, die Frances Yates dem Motiv der Erinnerung oder dem Leben und Werk Giordano Brunos widmete, auch Edgar Wind 12 ist hier zu nennen oder Erwin Panofskys und Ernst H. Gombrichs Anknüpfungen an Methoden und Forschungsthemen von Warburg. Aber gerade bei einer profilierten Forscherpersönlichkeit wie Gombrich wird klar, wie die Arbeit des großen Nachfolgers den Blick auf die Gründerfigur verstellen kann. Gombrich selbst entstammte der Wiener kunstgeschichtlichen Schule, war Schüler Julius v. Schlossers und Emanuel Loewys und brachte auch bei seiner Verwaltung und Interpretation des Warburgschen Erbes spezifische Voraussetzungen des Wiener Umfeldes ein. Damit ist gemeint, dass Gombrich durch seinen Lehrer v. Schlosser (1866-1936) wohl vor allem das Studium der Quellentexte und die textkritische Hermeneutik nahegebracht worden war; auch seine späteren Forschungsinteressen entwickelten sich aus den ersten >handwerklichen/positivistischen< Prägungen. Kunstphilosophische Spekulation oder großflächige, weltanschaulich durchgeformte Deutungsmodelle standen hier wohl eher im Hintergrund. Der Standpunkt seines prägenden Lehrers v. Schlosser wird beispielsweise im Vorwort zu dessen Arbeit über die Geschichte der wächsernen Votivbilder beleuchtet. Dort heißt es: »Geschichte im eigentlichen Sinne (nicht in dem der >NaturhistorieGeschichte< oder gar aus dem Reiche platonischer Ideen entlehnen darf, soll es sich nicht selbst verlieren, dessen Charakter von einem modernen Ästhetiker (J. Cohn) glücklich mit dem Ausdruck der Inselhaftigkeit formuliert worden ist, kann als solches gar keine, von der innern der schaffenden Individualität ab-

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Diers, M., Warburg aus Briefen, Weinheim 1991, S. 5 Wuttke, D., in: Warburg, Α., Ausgewählte Schriften und Würdigungen (ASW), hrsg. v. D. Wuttke, Baden-Baden 19923, Nachwort I, S. 603 12 Vgl. beispielsweise die Arbeiten von B. Buschendorf 11

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Einleitung

zulösende Geschichte haben, sondern nur als Kulturprodukt, das heißt, wenn es in den Kreis der wirtschaftlichen, sozialen, technischen Mächte dieses Lebens tritt.« 13 Bei einer näheren Betrachtung dieser Konstellation, der Beeinflussung von Darstellung und Interpretation Warburgschen Denkens durch die Arbeit Gombrichs, muss daher ein Rezeptionsproblem kurz angeschnitten werden: Ernst H. Gombrich stand kulturmorphologischen Deutungsmustern sehr kritisch gegenüber und in seinen Arbeiten findet sich (in Abgrenzung von der hegelianisch beeinflussten Tradition) durchgehend ein Misstrauen gegen Entwicklungsmodelle in der Kunstgeschichte. Im Essay >Auf der Suche nach der Kulturgeschichte< von 1967 formulierte Gombrich, so Karl Clausberg, »eine umfassende Inquisitionsschrift gegen die hegelianischen Häresien in der Kunst- und Kulturwissenschaft, die das expressionistische Trauma in Gestalt aller möglichen Kulturmorphologien hervorgebracht und nicht mehr hatte zur Ruhe kommen lassen. Neben vielen anderen traf Gombrichs Verdikt Carl Schnaase, Jacob Burckhardt, Max Dvorak, Erwin Panofsky, Johan Huizinga und nicht zuletzt Warburgs Lehrer Karl Lamprecht.« 14 Dass auch Lamprecht der Gombrichschen Kritik verfällt (»Leider war seine Objektivität hier und da von Parteilichkeit getrübt« 15 ) macht wahrscheinlich, dass man mit Gewinn die Folgen der skeptischen Haltung untersuchen kann, die Gombrich gegen Hegelianismen eingenommen hat, deren Weg über diesen wichtigen Lehrer Warburgs, Karl Lamprecht, ins Warburgsche CEuvre führte. An mehreren Einzelproblemen lässt sich verdeutlichen, welche Aspekte des Warburgschen Denkens Gombrich meinte, als er sagte, dass er die, »Identifikation mit Warburgs Sicht und Forschungsinteresse« von Gertrude Bing, der langjährigen Warburg-Mitarbeiterin und designierte Herausgeberin des Nachlasses »nicht teilen konnte« 16 . Auch eine zugespitzte Formulierung Raymond Klibanskys illustriert diesen Gegensatz. In einem Interview urteilt er: »... Gombrich kannte Warburg nicht. Seine Geistesart war ihm fremd. ..., er war nie in Hamburg. Er sah Papiere Warburgs.« 17 Die >zweite Generation·«, die Warburgs Anregungen aufgriff, bemühte sich, seine Theorieansätze fruchtbar zu machen, verengte dadurch aber auch den Blick, den man durch die von Warburg entwickelten kulturwissenschaftlichen Sehhilfen hätte werfen können. Am Beispiel Panofekys lässt sich dies ebenso demonstrieren: »Während Warburg nach dem Prinzip der Montage und der figuralen Uberdeter-

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Schlosser, J. v., Tote Blicke. Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs. Ein Versuch, hrsg. v. Th. Medicus, Berlin 1993, S. 10 14 Clausberg, K., Zwischen Pathosformel und Ornament - Ernst Hans Gombrich, in: Merkur 8/94, S. 715 15 GAW, S. 48 16 GAW, S. 16 17 Aus einem Interview in: Merkur 3/1996, S. 274

Einleitung

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minierung verfuhr und letztlich mit Mnemosyne eine sehr eigenartige, beinahe aphasische Kunstgeschichte produziert hat, die nur auf dem - manchmal surrealistischen - In-Beziehung-Setzen gleichzeitig heterogener und einander ähnelnder Bilder basierte, arbeitete Panofsky nach dem Prinzip der Deduktion - man denke an seine Analyse von Melencolia I, ein Meisterwerk seiner Art - , dergestalt, daß er die Beziehungen der figurativen Determination immer mehr verengte, bis er schließlich am Ende seines Lebens »schließlich und einfach zum guten, alten Terminus der Ikonographie< zurückkehrte.« 18 Nicht ohne Erwähnung soll hier deshalb zur Ergänzung des Bildes auch ein Forscher bleiben, der von der Geschichte bis vor wenigen Jahren fast gänzlich vergessen wurde: Walter Solmitz19. Durch ihn sind Gespräche mit Warburg überliefert, er hat Aufzeichnungen Werburgs transkribiert und sich zeitweise (bei anderen Schwerpunktsetzungen als Gombrich) mit einer Biografie Warburgs beschäftigt.

1. Ausgangsfragestellung Grundlage für die vorliegende Arbeit war neben der erneuten Lektüre der publizierten Schriften Warburgs, auch die der bislang unveröffentlichten Arbeiten, die in London als umfangreiche Sammlung von Aufzeichnungen vorliegen. Unter philosophischen Gesichtspunkten soll die Arbeit vor allem Folgendes leisten: Die Konturen von Warburgs kulturtheoretischen Ansätzen sollen schärfer gezeichnet werden, als das bisher der Fall war. Eine Darstellung der Konstellationen, in die sein Werk eingerückt werden kann, wird sowohl das Herkommen Warburgs, seine Prägung durch die Geschichtsauffassung Karl Lamprechts, den Evolutionismus oder nietzscheanische Sichtweisen, aber auch literarische Einflüsse (vor allem den Thomas Carlyles) wie auch die Wirkungsgeschichte Warburgs (füir Philosophen vielleicht am sichtbarsten in Werk und Person Ernst Cassirers, aber auch bei Edgar Wind und Erwin Panofsky) einem intensiveren Verständnis öffnen. Für das geschichtliche Herkommen muss näher auf die Debatte um Methodenbewusstsein und Selbstverständnis zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingegangen werden. In diese Zeit fallen verschiedene Versuche, den Geisteswissenschaften eine methodologische Basis zu geben, beispielsweise aus dem Umfeld der Wertphilosophie der badischen Schule des Neukantianismus.

18

Barta-Fliedl, I., Chr. Geissmar-Brandi, N. Sato, Rhetorik der Leidenschaften. Zur Bildersprache der Kunst im Abendland. Meisterwerke aus der Graphischen Sammlung Albertina und aus der Portraitsammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Katalog zur Ausstellung Tokyo/Hamburg 1999, Hamburg/München 1999, S. 241f. 19 Grolle, J., Walter Solmitz, Berlin/Hamburg 1994

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Einleitung

Aus einer genaueren Beschreibung der intellektuellen Entwicklung Warburgs kann sich auch ein präziseres Verorten in der kunsttheoretischen Debatte der Zeit ergeben, seine Stellung zu Heinrich Wölfflin, auch die Bezüge zu Hippolyte Taine und Jacob Burckhardt werden besser verständlich. Bei diesem Themenkreis muss näher auf die Symboltheorie eingegangen werden, die Warburg auf der Grundlage der Arbeiten Theodor Vischers, Robert Vischers und Tito Vignolis entwickelt hat. Uber den Symbolbegriff, der sich von traditionellen Symbolkonzeptionen sowie von den neukantianischen Ansätzen unterscheidet, lässt sich eine der Hauptachsen der Warburgschen Argumentationen erschließen. Aus ihm entfaltet sich Warburgs methodologische Erneuerung des Faches Kunstgeschichte. Tatsächlich gehen Warburgs theoretische Arbeiten immer von einer methodologischen Fragestellung aus; seine Bemühungen, die kunstgeschichtliche Methodik zu reformieren, zielen dabei auf ein kulturgeschichtliches Theorieprojekt mit großem Irritationspotential. Ich stimme mit Michael Diers überein, dass ein Grund für die mangelhafte Rezeption Warburgs gerade darin zu suchen ist, dass seine methodischen Überlegungen Sprengkraft für den Kanon seines Faches bergen. 20 Gerade von seinen methodischen Überlegungen her sollte aber das Warburgsche CEuvre interpretiert werden. Davon ausgehend können dann philosophische Dimensionen der Grundlagen der kunstwissenschaftlichen Arbeit Warburgs geprüft werden: Wenn es richtig ist, dass seine kunstgeschichtlichen Analysen nur vor der Folie eines weiteren Begriffs einer Kulturwissenschaft, die sich nicht auf Detailuntersuchungen beschränkt, verständlich werden, dann sollten die philosophischen Anteile solch eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes analysiert werden können. Dies wäre auch für die aktuelle Situation, in der der Begriff der Kulturwissenschaft wieder Interesse findet, relevant.

2. Kulturwissenschaft, Kulturtheorie und Kulturphilosophie Wie kann Kulturwissenschaft definiert werden, welches sind ihre Methoden, welche voraussetzenden Paradigmen tragen sie, und welches Verständnis von orientierender Rationalität oder Wertbezogenheit liegt ihr zugrunde? Das sind Fragen der Systematik, welche Leitlinien zur Auslegung Warburgscher Texte und zur Darstellung ideengeschichtlicher Zusammenhänge liefern. In vorliegender Arbeit soll gezeigt werden, wie Warburg den Zusammenhang zwischen Rationalität und symbolischer Weltdeutung begriffen hat. Die größte Gefahr scheint mir hierbei, dass Systeme wie Cassirers »Philosophie der symbolischen Formen< weitgehend die Raster eines Verständnisses vorgeben. In diesem Zusammenhang ist es notwendig, sich mit Hans Blumenbergs These auseinanderzusetzen, dass die »Philosophie der symbolischen Formen< die philosophische Ex20

Siehe beispielsweise: Diers, M., Warburg aus Briefen, S. 3

Einleitung

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plikation des kulturwissenschaftlichen Ansatzes der Bibliothek Warburg gewesen sei. Blumenberg band so das Warburgsche Institut stark an den späten Neukantianismus an: »Die Theorie dieser Bibliothek, wenn man es so sagen darf, war Cassirers dreibändige »Philosophie der symbolischen Formen< (1923-1929). Zwar war dieses System der symbolischen Funktion das Schlußstück der impliziten oder ausdrücklichen Intentionen des ganzen Neukantianismus: die Kategorientafel der Naturobjekte nur als einen Spezialfall des Kategoriensystems der Kulturobjekte anzusehen, unter denen am Ende die methodisch zugerichteten der Natur auch wieder auftauchen - aber der Wirkung nach wurde durch das Netz der symbolischen Formen und ihre vertikale Struktur eine neue Welt von Gegenständen und Themen für die philosophische Theorie erschlossen oder in neuer Weise ausgezeichnet und integriert.« 21 An dieser Stelle muss bei der Verrechnung Warburgs im neukantianischen Modell ein Fragezeichen gesetzt werden.22 Auch hier gilt, dass Warburg nicht zum Vorläufer degradiert werden soll. Seine Fragestellung ist umfassender, als eine solche Haltung zulassen könnte. An mehreren Stellen der Arbeit wird deutlich werden, wo die Unterschiede zwischen dem Cassirerschen und dem Warburgschen Denken liegen. Jürgen Habermas ist in seinem Aufsatz >Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung. Ernst Cassirers humanistisches Erbe und die Bibliothek WarburgDie Zweideutigkeit der symbolischen Formern, Frankfurter Rundschau v. 18.11.95 22a Kemp, W., G.Mattenklott, M.Wagner, M.Warnke (Hrsg.), Vorträge aus dem Warburg-Haus, Band 1, Berlin 1997 22b Habermas, J., Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus, a. a. O., S. 14

10

Einleitung

burg die Bildung kultureller Symbolsysteme auf kategorialer Ebene fest, wie dies Ernst Cassirer in seiner Transformation neukantianischen Denkens tut? Zu zeigen ist vor allem, wie der Begriff des transzendentalen Subjekts in der kulturphilosophischen Begriffebildung des Neukantianismus verändert wurde und, dass in der avancierten Form neukantianischer Kulturtheorie, wie sie Cassirer vorgestellt hat, die erkenntnistheoretische Fragestellung fest eingeschrieben ist. Vielleicht müssen nicht nur an den Neukantianismus selbst, sondern auch an die neukantianisch inspirierten Interpreten Warburgs die gleichen Fragen gestellt werden, die Martin Heidegger an Ernst Cassirer stellte. Heidegger formulierte seine Einwände gegen die Form der Cassirerschen Begründung von Kulturphilosophie bekanntlich während der berühmten Diskussionen der Davoser Hochschulwochen 1929 und in >Sein und Zeitdirekt< anvisiert werden, sie ist nur in den Rahmenbedingungen behandelbar, die mit jeweiligen geschichtlich und kulturell gegebenen Kontexten entstehen. Was und wieviel wir über das Sein sagen können, hängt von den Symbolsystemen ab, in denen wir unausgesprochen immer schon denken und leben. Dagegen setzt Heidegger eine Philosophie, die die Aufgabe hat, »aus dem faulen Aspekt eines Menschen, der bloß die Werke des Geistes benutzt, gewissermaßen den Menschen zurückzuwerfen in die Härte seines Schicksals.«25 Damit ist die Frage nach der Lebensform, hier nach den Bedingungen der mythischen Lebensform, gestellt. Fraglich wird so aber das ganze Projekt einer Kulturphilosophie auf neukantianischen Grundlagen, von der Heidegger annahm, sie stamme aus der »Verlegenheit der Philosophie bezüglich der Frage ..., was ihr eigentlich noch bleibt im Ganzen der Erkenntnis.« 26 Die wesentliche Frontstellung der Zeit war so die einer phänomenologisch reformulierten Ontologie und einer kulturphilosophischen Wissenschaftstheorie des Neukantianismus. Diese Gegenüberstellung findet ihre Entspre23

Heidegger, M., Sein und Zeit, Tübingen 198616 ders., Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a. Μ. 19734, S. 253 25 ders., Kant und das Problem der Metaphysik, a. a. O., S. 263 26 ders., Gesamtausgabe, Band 3, Frankfurt a. M., S. 274 24

Einleitung

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chung auf der methodologischen Ebene und auf der Gegenstandsebene der kulturwissenschafdichen Analyse. Der Platz, den die Warburgschen Überlegungen in einem solchermaßen gebildeten Koordinatensystem der Theorien einnehmen könnten, bestimmt sich näher über die Frage nach der Lebensform und der über sie philosophisch greifbaren Rationalitätsmodellen. Einige erste theoretische Trennungslinien seien hier schon skizziert: Dass Warburg die Lebensform betont, würde ihn nicht unbedingt in einen Gegensatz zu Ernst Cassirer bringen. Auch bei Cassirer ist ja die Analyse der jeweiligen geschichtlich und kulturell gegebenen Kontexte in die Analyse der Lebensform überfiihrbar. Jedoch klärt Cassirer die rationalen Standards des Menschlichen schon vorgängig ab und leitet sie nicht aus den jeweiligen Formen des Lebens her. Das ergibt sich aus seinen (im Umkreis des Marburger Kantianismus selbstverständlichen) erkenntnistheoretischen Interessen und schlägt sich nieder in den szientistischen Akzenten seiner Kulturtheorie. 27 Wie sind aber nun für Warburg rationale Methoden, begriffen als Aspekte der jeweiligen Lebensform - als Anstrengungen, mit denen Menschen ihr Leben organisieren - abgegrenzt von einer irrationalen Sicht der Welt, von mystischen, mythischen oder religiösen Weltzugängen? Gerade das Ritual und die mythische Weltsicht behandelt er in einer Arbeit, die für seinen Rationalitätsbegriff zentral ist und die auch in seiner Biografie eine bedeutende Rolle spielt, im schon erwähnten >Schlangenritual-TextSchlangenritualUmgebende der Unvernunft* immer schon mitgedacht wird. Walter Sollnitz beschreibt dies als »ständige Auseinandersetzung mit dem Irrationalismus - die irrational motivierte und erfüllte Aufklärung.« 30 Warburgs Argumentation ist hierbei aber keinesfalls relativistisch, sein Programm trotz allem Skeptizismus ein unmissverständlich der Aufklärung verpflichtetes. Nicht aus den Augen verlieren sollte man jedoch, wie Fortschrittsvorstellungen stets von Elementen einer skeptischen Anthropologie begleitet werden. Mit diesem Buch möchte ich einerseits zur Festigung der theoretischen Fundamente kulturwissenschaftlicher Arbeit beitragen. Die Analyse wird außerdem andererseits ein klarer konturiertes Bild der Warburgschen Theorieansätze hervortreten lassen, jenseits gefälliger Essayistik und vorschneller Vereinnahmung für eine Modernität, die ihm gar nicht zugänglich sein konnte. Wir werden so ein angemesseneres Bild dieses Forschers gewinnen, der mit brennendem Interesse philosophische Fragen stellte, ohne selbst Philosoph gewesen zu sein.

3. Zur Struktur der Untersuchung Nach einer ersten Darstellung der frühen intellektuellen Erfahrungen (Kapitel II) werden die prägenden Lehrer (Kapitel III) Warburgs und wichtige Leitfiguren der Zeit (Kapitel IV) angesprochen. Es soll klar werden, welch unterschiedliche und gegensätzliche intellektuelle Werkzeuge Warburg zur Verfügung standen, als er seine Auseinandersetzung mit kulturtheoretischen Fragen begann. Danach kommt das Originäre der Warburgschen Methodik (vor allem am Beispiel seines Symbolbegriffs) zur Sprache. Diese symboltheoretischen Überlegungen (Kapitel V) bilden nämlich als Grundlage der Methodik den Schlüssel zu einem weiteren Kulturverständnis. Warburg arbeitete an einem Konzept der Kultur, das Einseitigkeiten und Fehlstellungen in anderen Kulturauffassungen der Zeit zu vermeiden suchte. Kontrastierend skizziere ich hier einige Theoriebestandteile des Neukantianismus und Max Webers (Kapitel VI). Dass es nicht zur Formulierung einer geschlossenen kulturtheoretischen Konzeption kam, zeigt besonders der Warburgsche Gedächtnisbegriff, der dennoch eine große forschungsgeschichtliche Wirkungskraft entfalten konnte. Ich bespreche im Folgenden Aspekte dieser Vorstellung vom Gedächtnis und dem Erinnern in einer Auseinandersetzung mit Walter Benjamin, in dessen

30

>Solmitz Papers< (SP), Archivkasten 139, Warburg Institute, London

Einleitung

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Theorie der Erinnerungsbegriff ebenfalls eine elementare Rolle einnimmt (Kapitel VII). Von den verschiedenen strukturierenden Sichtweisen auf das Warburgsche Denken wird dann (in Kapitel VIII) die rationalitätstheoretische vorgestellt. Insbesondere wird gefragt, ob Aby Warburg an die Begriffe der >HandlungAngst< und der >Orientierung< Erwartungen in Bezug auf die Formulierung eines umfassenden Rationalitätsbegriffes hegte. Abschließend (Kapitel IX) interpretiere ich unter den bis dahin gewonnenen Prämissen drei zentrale Texte Warburgs, die bisher noch nicht Gegenstand intensiverer Darstellung und Reflexion waren. Verdienste und Probleme von Warburgs Theorie werden hier deutlich und können in den abschließenden Thesen abgewogen werden. Eine intensivere biografische und historische Einleitung wurde vorangestellt, um die Brüche und Widersprüche in den Warburgschen Theorie-Fragmenten genetisch plausibler darstellen zu können. »Denn in Warburgs Entwicklung liegt der Schlüssel nicht nur für seine ganz persönliche Sprache, sondern auch für die Form, die er seinem Lebenswerk geben wollte.« 31

31

GAW, S. 376

II. Warburgs intellektuelle Entwicklung

Für die Darstellung von Warburgs Entwicklung ist Ernst H. Gombrichs WarburgBuch die wesentliche Orientierungshilfe. Ich werde den von Gombrich vorgegebenen Rahmen aus philosophischer Sicht zu ergänzen versuchen und in diesem Sinne zunächst einige der Stätten von Warburgs Studium (Bonn, München, Straßburg und Florenz) ansprechen, um dann in Exkursen auf prägende Persönlichkeiten einzugehen. Im Durchgang durch die Einzelbeschreibungen hoffe ich, Warburgs Denken so verorten zu können, dass die philosophisch-begrifflich interessanten Gehalte seiner Arbeit hervortreten. Die philosophisch-systematischen Fragen sollen also gleichsam in einem biografischen Kontext entwickelt werden. Diese Vorgehensweise scheint mir in gewisser Weise angemessen auch für die Beschreibung eines bestimmten Typus der kulturwissenschaftlichen Arbeit, die (siehe das glanzvolle Beispiel Cassirers) größere Mengen positiven Stoffes zu ordnen hat, bevor »begriffliche Leuchtkerzen< gezündet werden können. Auch Warburg hat streckenweise in der Anordnung des Stoffes nicht nur die eigenen Theorien vorformuliert, sondern dieses wissenschaftliche Prinzip auch in seinen Darstellungsformen reflektiert. Neben den extrem verdichteten kulturtheoretischen Aphorismen steht die breite Materialsammlung, in der die Dokumente selbst sprechen sollen (der Verweis auf Benjamins >Passagenwerk< liegt hier nahe) oder der Forscher gewissermaßen nur ihren Dialog ermöglicht, neben den »Grundlegenden Bruchstücken< steht die vielfältige Bildenzyklopädie des Mnemosyne-Atlas. Der Darstellung der Studienjahre ist vorauszuschicken, dass Warburg in seiner Schülerzeit offenbar von der Beschäftigung mit Lessings Schrift über die LaokoonGruppe 1 besonders beeindruckt wurde. Gombrich hierzu: »Als richtungsweisend für sein Denken hat Warburg häufig Lessings Laokoon genannt, den er gemeinsam mit seinem Lehrer Oscar Ohlendorff gelesen hatte. (...) Fragen, wie die nach dem 1 Lessing, G. E., Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie, Berlin 1766,17882

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Wesen des Bildes und seiner spezifischen Funktion in der Hierarchie der Zeichen sollten ihn auch in Zukunft beschäftigen.« 2 Auf die Laokoon-Gruppe wird Warburg in seinen Forschungen an vielen verschiedenen Stellen zurückkommen. In seinem Vortrag >Der Eintritt des antikisierenden Idealstils in die Malerei der Frührenaissancetransportieren< können und wo die Grenzen ihrer Darstellungsfähigkeit liegen, wird Warburg später transformieren: von der Problematik gegenständlicher Darstellung zur Darstellung von Ideen und Weltanschauungen. Warburg teilte wohl auch die argumentative Frontstellung gegen Winckelmanns Konzeption von der >edlen Einfalt und stillen Größe< des Griechentums in der Hinsicht, dass er die Erklärung der mimisch-gestischen Zurückhaltung in der Laokoon-Gruppe aus kunstimmanenten, stilistischen Gründen für tragfahiger hielt als das Rekurrieren auf allgemeine Kulturcharaktere. Wenn der Lessing-Text »Warburgs erste, gewissermaßen seine gesamte Laufbahn bestimmende theoretische Lektüre« 4 war, dann ist hier schon die Kopplung von notwendigen Ausdruckswerten und stilistischen Gesetzen festzumachen, die später in vielen Konstellationen für Warburgs Theorie prägend sein wird. Zunächst geht es aber einfach um die Darstellung von Gefuhlssituationen und affektiven Extremen. Warburg beschäftigt früh die Frage, inwieweit Gefühlsregungen in individuelle Darstellungskontexte eingebunden sein müssen. Kennzeichnet ein Ausdrucksextrem, eine emotionale Gebärde, den Menschen, an dem sie gezeigt wird, oder muss zuvor erst ein charakterisierendes Bild dieses Menschen gegeben werden, von dessen Hintergrund die Gebärde dann eine Variation darstellt? Wichtig ist dabei für Warburg der Stellenwert des »höchsten Augenblickes des Affectes«. Gefragt wird, ob man einen solchen Augenblick in eine Ausdrucksform bringen kann und wie ein solcher Augenblick höchster Erregung von Kunstinter2

GAW, S. 41 Unveröffentlichtes Manuskript, Warburg Institute London, hier zitiert nach: Settis, S., Pathos und Ethos, Morphologie und Funktion, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus, Bd. 1, Berlin 1997 4 Radnoti, S., Das Pathos und der Dämon. Uber Aby Warburg, in: Acta. Hist. Hung. Tomus 31,1985, S. 92 5

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preten gedeutet und verstanden wird. Wie verhält sich das ekstatische Moment zum durchgehenden Charakter der Person und zur Formensprache der Normalität? Der Affekt soll einerseits immer noch als singulärer erscheinen, ist andererseits aber stets auch Ausdruck und Teil eines darstellerischen Kontextes. Aus diesen Überlegungen zur Ausdrucksgebärde entsteht eine Theorie der Mimik, die schließlich in die Symboltheorie mündet.

1. Universitätsjahre Warburg studierte ab 1886 in Bonn, München, Florenz und Straßburg. Seine wesentlichen Studien betrieb er dabei in der Kunstgeschichte und Archäologie, doch ergänzte er diese von Anfang an auch durch begleitende Arbeiten in Soziologie und Psychologie.5

1.1 Bonn Aus der Bonner Zeit sind zahlreiche >Kollegnachschriften< erhalten, beispielsweise über die Vorlesimg Herrmann Useners 6 zur Mythologie, aber auch private LektüreNotizen und Exzerpte. Warburg las in dieser Zeit Spencers >Principien der Sociologies v o n Theodor Weiß >Die Anthropologie der Naturvölker (1858), vor allem aber Tito Vignolis >Mythos und Wissenschaft·:7. Dieses seinerzeit vieldiskutierte Werk erwarb Warburg 1886.8 Die Vorlesungen seines Professors Usener, der sich intensiv mit Vignoli auseinandersetzte9, dürften Warburg die Bedeutung Vignolis eingeschärft haben. In >Mythos und Wissenschaft: vertrat Tito Vignoli (1829-1914) sozialpsychologische und anthropologische Theoreme vor dem Hintergrund einer positivistisch fundierten Entwicklungstheorie, Giambattista Vico und Charles Darwin gleichermaßen verpflichtet. Der menschliche Verstand, so Vignoli, bedient sich sowohl der Wissenschaft als auch der Mythologie zur Erklärung der Welt. Mythisches und wissenschaftliches Denken sind nur verschiedene Seiten der einen menschlichen Vernunft. »Die Elemente und das logische Gerüst der Wissenschaft sind [...] identisch mit denen, aus welchen die mythischen Anschauungen und das ganze innere Geistesleben des

Näheres beispielsweise bei Roeck, B., Der junge Warburg, München 1997 Siehe Kapitel III 7 Vignoli, T., Mito e Scienza, Mailand 1879 (dtsch. Mythus und Wissenschaft, Leipzig 1880) 8 Eine genaue Auflistung der Buchkäufe Warburgs und der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg liegt in London vor. 9 Dokumentiert beispielsweise in seiner Rezension von >Mythus und Wissenschaft*, in: Deutsche Literaturzeitung 2/1881 5

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Menschen spontan sich entwickeln.«10 Für Warburgs Auffassungen, aber auch für die Programmatik des Warburg Institutes wurde dieses Nebeneinander, diese friedliche Koexistenz von Mythos und Rationalität zentral: »Vignoli offered Warburg a depiction of myth and science which came extremely close to the model he would himself suggest.«11 Nach Gombrich12 faszinierte Warburg an Vignolis Buch die zentrale Rolle, die dem Gefühl der Angst darin zukommt. Die Angst ermöglicht nach Vignoli Projektion und Personifikation, mit denen die Welt in freundlichen und feindlichen Symbolen begriffen wird.13 Das Verhalten des Menschen können wir danach nur begreifen, wenn wir beobachten, was Tiere als Sicherungs- und Erkundungsverhalten ausbilden. Bewegte Dinge gelten ihnen zunächst als bedrohlich, aus der Bewegtheit schließen sie auf Belebtheit und ergreifen meist die Flucht. Daraus wird ein urtümliches Personifizierungs- und Deutungsverhalten des Menschen abgeleitet. Auf der Ebene der Bedingungen der ursprünglichen spontanen Reaktionen sind die Verbindungen zwischen Mensch- und Tierreich angesiedelt: »Denn wenn wir wider alles Erwarten einen beliebigen Körper, von dem wir auch ohne die Erfahrung wissen, daß er leblos ist, sich bewegen oder seltsame Stellungen annehmen sehen, so wird sofort jene angeborene Disposition zum Personifizieren in uns wirksam und jene Erscheinung setzt uns in Verwunderung und Erstaunen, weil wir sie für den Ausfluß einer dem Körper immer eigen gewesenen Willenspotenz halten.«14 In Warburgs Handexemplar von >Mythos und Wissenschaft« sind folgende Textstellen markiert: »... Wir sind den Thatsachen, welche diese (die Lehre vom Mythos und seinem Ursprung, B.V.) bilden, jetzt nahegekommen, aber doch ist, wenn ich mich nicht irre, jene einheitliche Erklärung und die tiefere Begründung dieser Erklärung noch nicht gefunden: warum nämlich der Mensch alle Naturerscheinungen personifiziert und sich selbst in ihnen objectiviert, zuerst unbestimmt, später ganz anthropomorphisch, und so die Welt allmählich nach seinem Bilde gestaltet.«15 Zu Vignolis These von der Personifikation der Naturobjekte und Naturerscheinungen bemerkt Warburg: »Personification insoweit als die Möglichkeit willkürlicher Vorwärtsbewegung (u. zielbewußter Directionsäußerung) überall vorausgesetzt wird.«16 Personifiziert wird also nur, was mit Dynamik erfüllt ist, und diese Dynamik wird in einen Bezug zum eigenen Verhalten gesetzt. 10 Vignoli,

T., Mythus und Wissenschaft, a. a. O., S. 119 Hollister, C. H., The survival of antiquity: the German years of the Warburg Institute, New Haven 1984 12 GAW, S. 88 13 Siehe Kapitel VIII 14 Vignoli, Τ., Mythus und Wissenschaft, a. a. Ο., S. 51 15 ebd., S. 16 (Hervorhebung von Warburg) 16 Notizbuch Warburgs, >Ostern 1890zu dem Begriff einer einfachen äußeren Realität. Dabei kann man sich nichts genaues denken; aus den Versuchen geht soviel hervor, daß das Thier nicht zwischen willkürlicher dem Ziel sich anpassender Bewegung des Verfolgenden und den gesetzmäßig (das heißt von vorneherein mit Tendenz zur Ruhe) sich bewegenden unorganischen Dingen unterscheiden kann. Das Thier kann wohl leblos und lebendig unterscheiden, nicht aber in der Lebendigkeit wieder eine Gebundenheit entdecken.«17 »Daß alles organische zuerst als lebendig gefaßt wird, ist aus dem Selbsterhaltungstrieb zu erklären: ehe man etwas ganz erkannt wird es erst mal aus Vorsicht wie das gefährlichste behandelt: das verfolgende feindliche Tier.« 18 Wichtig fiiir die zunehmenden kognitiven Leistungen des Menschen gegenüber dem Tier ist also die Fähigkeit, in der >Lebendigkeit eine Gebundenheit zu entdecken und die Eigenschaft des Tieres, Bedrohungen anzunehmen. Aus der Angst entwickeln sich die Orientierungsfähigkeiten, die später übergehen in eine Grundannahme von Sinn, von Zusammengehörigkeit oder >GebundenheitEntifikation< wie Vignoli es nennt) der Tiere setzt sich beim Menschen im Bilden theoretischer, mythischer wie wissenschaftlicher, Konstrukte fort. Vignoli verwirft die 17

Notizbuch Warburgs >IX 1890objektive< Wissensstoff, sondern die >subjektive< Aneignung und die Bedingungen des künstlerischen oder wissenschaftlichen Bewusstseins im Mittelpunkt stehen, allerdings werden dazu immer wieder die positivistischen und materialistischen Akzente seines Denkens einen Kontrast bilden.

1.2 München In München, wo er das Sommersemester 1888 verbrachte, schrieb Warburg u. a. in Veranstaltungen Heinrich von Brunns (Etruskische Kultur), Reichls (Renaissance) und Simonsfelds (Deutsches Mittelalter) mit. Hier wurde er auch in den Arbeitsstil der Kunstgeschichtler und Historiker >alter Schule< eingeführt, in Techniken des Faktensammelns, der Werkbeschreibung und der positivistischen Absicherung eines Gegenstandsbereiches. Heinrich von Brunn, der 1865 bis 1894 Professor für Klassische Archäologie in München war, versuchte jedoch auch noch, ergänzend zu den fachlichen Einzelforschungen, eine Annäherung an die griechische Götterwelt durch Charakterisierung der einzelnen Gottheiten und Festlegung ihrer Rolle für die Bildimg einer Weltbeschreibimg. Jeder Gott vertrat in dieser Vorstellung eine bestimmte Dimension der Wirklichkeit. »Für Brunn ist eines der Elemente, die die klassische griechische Kunst (im Gegensatz zur archaischen Kunst) kennzeichnen, die Schaffung von Idealtypen der verschiedenen Gottheiten, die ihrem jeweiligen innersten und unterschiedlichen Charakter entsprechen ... Die klassische Kunst ... erarbeitete eine neue Form, die sich sozusagen auf die Innerlichkeit des Gottes, auf seinen >Charakter< gründete: das ist, was Brunn unter Götteridealen versteht.«22 Brunn entwarf eine Entwicklungsgeschichte von der griechischen Kunst, die in ihrer archaischen Phase noch den Charakter und die Besonderheit einer jeweiligen Gottheit mit äußeren Symbolen und Insignien demonstrierte, später in der klassischen Phase aber eine verinnerlichte, psychologische Form der Göttergestalt hervorbrachte.23 Die >Lebenshaltung< der Götter, ihre Stellung im Pantheon und ihre ebd., S. 32 (durch Warburg komplett unterstrichen) Settis, S., Pathos und Ethos, S. 37 23 Siehe dazu beispielsweise Brunn, Heinrich v., Griechische Götterideale in ihren Formen erläutert, München 1893 21

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Eigenschaften werden zunehmend abstrahiert und nur noch Details (Körperhaltungen, Mimik, Gestik ...) verweisen auf ihre Stellung. Die Charakteristik der Götter wird lesbar - im Rahmen eines fein ausdifferenzierten Zeichensystems.

1.3 Florenz Nach der Münchner Zeit folgte Warburg seinem Lehrer August Schmarsow nach Florenz. Aus dieser Zeit sind zahlreiche Notizen zu Filipino Lippi, Ghiberti, der Brancacci-Kapelle, sowie Masolino und Masaccio erhalten. Florenz bekam fur Warburg auch im biografischen Kontext einen hohen Stellenwert - es wurde zu seiner zweiten Heimatstadt. Bei der Weiterentwicklung und Illustration seiner kulturtheoretischen Versuche war Florenz, und speziell die florentinische Renaissance, das entscheidende Reservoir von Beispielen und Anregungen. Hier fand er kulturgeschichtliche Inspiration in Fülle, wurde wiederum auf das Problem des Ausdrucks von Gefühlen in der Kunst hingewiesen und begann an ersten längeren wissenschaftlichen Texten zu schreiben.

1.4 Straßburg An die Zeit in Florenz schließt sich die zweite Bonner Phase an sowie ein Aufenthalt in Straßburg (1889-1890). In Bonn besucht Warburg zwei Veranstaltungen Ritters (>Uber den Burgenbau Heinrichs V< und >Deutsche KaisergeschichteUber die logische Begründung der zahlenmäßigen Angabe der Wahrscheinlichkeit beim Glücksspiel·«. Ausgedehnte Notizen und Exzerpte sowie Hinweise auf Lektüre verraten, welche Bedeutung er diesen Dingen beimaß. Vor allem steht der Begriff des Zufalls im Mittelpunkt seines Interesses. Es scheint, dass die >Zufalligkeiten< der Ornamentik oder des bewegten Beiwerks definitorisch besser gefasst werden sollten; Warburg wollte Detail und Regel in ein sinnvolles methodisches Verhältnis bringen. Dazu liest er Wilhelm Windelbands >Die Lehren vom Zufalle24 und beschreibt in seinen Notizen die Vorstellung von der Wahrscheinlichkeit als notwendig »rückwärtsgewandte Tätigkeit«, als »Suche nach den Gründen«. Aus Windelbands Buch zitiert er zustimmend: »>Zufall< als Ursachslosigkeit zu definieren hat keinen Sinn«, denn »jede Veränderung hat ihre Verläufe ...«. Nur im Glücksspiel sei es korrekt, Wahrscheinlichkeit und Zufall zusammenzudenken. Normalerweise haben wir es also nach Warburgs Auffassung mit konventionell 24

Windelband, W., Die Lehren vom Zufall, Berlin 1870

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kalkulierbaren Ursache-Wirkung-Ketten zu tun, nur in den speziell präparierten Milieus des Spiels tritt >reiner Zufall< auf, dem wir versuchen, mit der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten beizukommen. Windelband hatte geschrieben: » . . . und so können wir diesen Begriff dahin bestimmen, daß wir Zufall jede Coincidenz von Thatsachen nennen, die weder miteinander im Verhältnis von Ursache und Wirkung stehen noch von einer gemeinschafdichen Ursache abhängen, also nicht nothwendig miteinander verbunden sind.« 25 Er prüft systematisch, welche Darstellungsweisen des Zufalligen in der Mathematik, Physik, sozialwissenschafdichen Statistik, schließlich auch der Philosophie, das Zufällige in regelgeleitete theoretische Modelle einzubinden versuchen. Die Statistik, ebenso wie die mathematische Wahrscheinlichkeitsrechnung, kann nur rückblickend das empirisch gewonnene Material strukturieren; ein Gesetz oder eine Notwendigkeit (mit der Prognosen zukünftiger Entwicklungen möglich würden) begründen sie nicht. Begrifflich kann nur die Philosophie den Zufall fassen. Zu diesem Zweck geht sie so vor, dass einerseits kausale Erklärungen der einzelnen zufallig zusammentreffenden Fakten beschrieben werden, andererseits aber für deren Verknüpfung oder zweckgerichtete Auftreten die Unmöglichkeit einer Erklärung konstatiert wird. Zum Problem der Zweckgerichtetheit heißt es allerdings zuversichtlich: »... So erscheint der Zufall auch auf dieser Stufe als ein Phänomen der auf das Einzelne gerichteten menschlichen Betrachtung. Wer es vermöchte, in concreter Bestimmtheit und in alle Verzweigungen bis in's Einzelne hinein die Subordination zu erfassen, durch welche der Mechanismus der Teleologie dient, der würde vielleicht zu einer vollkommenen Aufhebung des Zufallsbegriffes dringen, der für uns nur ein Postulat bleiben muß.« 26 Diese Auffassung bleibt als programmatische bestehen - der Zufall soll Teil eines sinnvollen, kausal zusammenhängenden Systems von Wechselwirkungen und somit im Grunde aufgehoben werden. Dazu wird ihm metaphysisch ein nur subjektiver Status zuerkannt: »Somit ist der Zufall in allen Fällen ein Princip unserer Betrachtung, nicht ein Princip des Geschehens: er ist eine Anschauungsweise des Einzelnen, sofern es in irgend einer Weise vom Allgemeinen getrennt wird, und enthüllt sich immer als eine Täuschung, wo er auf dies Allgemeine selbst als Realprincip angewendet werden soll.« 27 Im Auge des Betrachters liegt also der Unterschied zwischen zufälligem Chaos und strukturierter Ordnung. Im Rahmen einer philosophischen Einheitsperspektive formuliert Windelband weiterhin die Hoffnung, dass der Zufall durch Ausbildung von Gesetzmäßigkeiten und Auffinden der Idealformen in Wissenschaft, Ethik und Kunst schließlich doch aufgelöst werden könne. »So mag es denn wahr sein, daß die vollkommene Aufhebung des Zufalligen nur möglich ist für den unendlichen Geist, der mit einem Blicke die ganze Welt der Gestaltungen umfaßt und mit einem Herzschlag die ganze Welt des Geschehens durchdringt, daß alles wissenschafdiche, alles mora25 26

ebd., S. 24 ebd., S. 68

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lische, alles künstlerische Leben ein unermüdlicher und wenigstens an einzelnen Punkten stets siegreicher Kampf gegen die Zufälligkeit ist.« 28 Unterschieden werden muss jedenfalls - und diese Unterscheidimg nimmt Warburg auf - zwischen mathematischer und philosophischer Wahrscheinlichkeit. Die mathematische Wahrscheinlichkeit, auf der die Wahrscheinlichkeitsrechnung beruht, kann nur vorhandenes empirisches Material strukturieren und systematisieren, dabei mengenmäßige Verteilungen feststellend, die jedoch nicht zur Formulierung einer Regel oder eines Gesetzes beitragen. Das Verhältnis von Zufall und Regel kann also nur philosophisch bestimmt werden. Hier finden wir eine der Ubergangsstellen von der empirischen Einzelforschung zu philosophischen Argumentationen im Warburgschen Denken. Ab einem bestimmten Punkt muss Warburg die Unzulänglichkeit des rein positivistischen Ansatzes und der ausschließlichen Arbeit an einzelnen kunstgeschichtlichen Detailfragestellungen empfunden haben. Er schließt allerdings die philosophischen Dimensionen der Einbindung in ein rückblickend erworbenes System zusammen mit dem Gewinn von Selbstsicherheit und souveräner Orientierung. Er beschreibt psychologisierend den Erwerb einer >philosophischen< Haltung, die sogar glauben kann, >Fortuna im Glücksspiel zu zwingen.Spielraum< für den Eintritt des Ereignisses übrig. Dieser >Spielraum< bezeichnet gleichsam die Maximalwartenszeit, die wir auf den Eintritt des bestimmten Ereignisses aufwenden müssen. Aber wir haben auch ein eigenartiges Mittel uns größere Gewißheit über diesen Spielraum zu verschaffen, indem wir nach einer Verhältniszahl (die Anzahl der günstigen gegenüber den ungünstigen Fällen ...) suchen; gewinnen wir einen solchen Anhalt, so haben wir... ein ganz eigenartiges Gefühl der Beruhigimg gewonnen, das durch Reflexion.« 30 Es geht auch um eine Analyse des Kontextes, in dem Zufälliges, in dem Details als beziehungsvoll erlebt werden können, damit wir an Selbstsicherheit gewinnen. Wenn wir Warburgs berühmtes späteres Diktum »Der liebe Gott steckt im Detail« 31 hinzustellen, dann lautet die angewandte vorgreifende Fragestellung in dieser Phase: Wie kann das Detail so angesehen werden, dass der >liebe Gott< hervorschaut? Walter Solmitz wies auf den Zusammenhang zwischen kunstgeschichtlichem Detail, zufälligen Beigaben in der Ornamentik, >bewegtem Beiwerk< - »which is ebd., S. 80 Randbemerkung zu Notizen über Wahrscheinlichkeit, Archivkasten 34, Warburg Institute London 30 Randbemerkung zu den Notizen über Wahrscheinlichkeit 31 Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte dieses Satzes siehe beispielsweise ASW, S. 623ff. 28 29

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really the very Essence of >accidential«< und der Wahrscheinlichkeitsrechnung als Problem des >Als sinnvoll erlebten Zufalls< hin und bezog die pathetische Steigerung von Ausdrucksformen ein: »... Der als sinnvoll erlebte Zufall. Das Zufallige, Accidentielle als sinnvoll. This is something that occurs in Warburg in various ways: (...) Note the effort by which accidental are made to represent something meaningful. In this process: dramatization >Steigerung< plays a part«32.

2. Positivismus und Hilfekonstruktionen Ein Uberblick über das kunstgeschichtliche Instrumentarium, das sich Warburg in seinen Studienjahren erworben hat, zeigt, dass in seiner Vorgehensweise positivistische Ansätze vorherrschen. Einzelne Phänomene sollen so genau wie möglich erforscht werden und Hilfskonstruktionen theoretischer Art dienen dazu, einen besseren und angemesseneren Gegenstandsbezug herzustellen. In seiner Beschäftigung mit den Fragen der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird aber zum ersten Mal greifbar, dass die Analyse der Einzelheiten in einem umfassenderen Sinn- und Deutungsbezug verankert werden kann und soll. Sinnvermutungen Das Heranwachsen und die intellektuelle Entwicklung Aby Warburgs fallen in eine Zeit, die einerseits von großen kultursynthetischen Versuchen, andererseits von kulturanalytischem Positivismus geprägt ist. Jugendstil und Lebensreformbewegung, aber auch Szientismus und Materialismus schufen eine Atmosphäre, in der jeder junge Wissenschaftler sich fragen musste, ob er sein Leben und Forschen vom weltanschaulichen Zusammenhang oder von der akribischen Detailanalyse und Sachlichkeit her bestimmen lassen wollte. Es lässt sich zeigen, dass das Warburgsche Werk durch die Frage nach der Beziehimg zwischen regelhaft geordnetem Gesamtbild und partikulärem geschichtlichen Detail strukturiert wird. Immer mehr versucht er im Laufe der Formulierung immer neuer kulturwissenschaftlicher Ansätze, die historischen Detailanalysen mit kultursynthetischen Großhypothesen zu vermitteln. Wäre also, mit Windelband, eine These über die >Ableitung des Zufälligen< zu finden, beziehungsweise über die Relativierung und Eingrenzung des wirklich >rein< Zufalligen, dann wäre Warburg einen entscheidenden Schritt weiter gekommen auf dem Weg zur Beschreibung der Art und Weise, wie denn >Gott im Detail< zu finden sei. Die retrospektiven Deutungsmodelle, die zur Durchstrukturierung der zufälligen Details dienen könnten, sind von Warburg in der gerade dargestellten Zeit noch nicht gefunden, eine Lösung bietet dann in der Folge Karl Lamprecht an, der mentalitätsgeschichtlich einen sich weiterentwickelnden Zeitgeist ableitet. 32

SP 5, Notes 2

III. Lehrer

Zur Beschreibung der Anregungen, die Warburg von den folgenden Wissenschaftlern erfahren hat, möchte ich das Verhältnis jeweils als ein Lehrer-Schüler-Verhältnis charakterisieren, was in einem unmittelbaren praktischen Sinne natürlich für Burckhardt nicht passt, da dieser Warburg nie als Hochschullehrer in einer direkten pädagogischen Beziehung gegenüberstand. Auch muss man sich davor hüten, anzunehmen, dass Warburg in naiver Weise Lehrsätze und Dogmen von Lamprecht, Usener und Burckhardt aufnahm. Er verarbeitete deren Konzepte immer in sehr eigenständiger Weise. Jedoch schien es mir bei der Intensität und Bedeutung der Beeinflussung sinnvoller, hier von >Lehrern< zu sprechen.

1. Karl Lamprecht - Kulturwissenschaft und Sozialgeschichte Die methodologische Dimension des Warburgschen Denkens lässt sich an seinem Interesse für Werk und Person des schon erwähnten Karl Lamprecht (1856-1915) frühzeitig erkennen. Warburg hatte sich hier einen Lehrer ausgesucht, der eine neue Methodik der historischen Forschung zu etablieren versuchte und in der Fachwelt sehr kontrovers diskutiert wurde. Lamprecht orientierte sich bei seiner Arbeit als Historiker am Ideal einer exakten Wissenschaft und versuchte, die Methodik seines Faches zu systematisieren, indem er Geschichte als eine gesetzmäßige Abfolge von auf materieller Grundlage beschreibbaren Zuständen der ökonomischen, juristischen und politischen Formen beschrieb (besonders in >Alte und neue Richtungen der Geschichtswissenschaft von 1896, >Was ist Kulturgeschichte?< von 1897 und >Moderne Geschichtswissenschaft* von 1905). Parallel dazu entwickelten sich nach seiner Auffassung die geistig-kulturellen Verhältnisse, die »Mentalität eines Zeitalters«. Er unterschied dabei verschiedene Kulturstufen, die ein jedes Volk notwendig zu durchlaufen habe: «Animismus, Symbolismus, Typologismus, Konventionalismus, Individualismus und Subjektivismus« waren hierfür die kennzeichnenden Oberbegriffe. Auf jeder dieser Stufen der »seelischen Verfassung« des Menschen wird dieser mit der »Reizmasse« der äußeren wirtschaftlichen und kulturellen

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Geschehnisse konfrontiert. Unter dem Einfluss W.Wundts bemühte er sich, ein System der gesetzmäßigen Entfaltung sozialpsychologischer Kräfte zu geben. In seinem Denken verwoben sich hegelianische mit positivistischen Einflüssen, und zwar so, dass er dem Positivismus ganz sich überlassen zu können glaubte, weil er letztlich doch bei einer hegelianisch strukturierten Geschichtsauffassung enden würde. »Kurz gesagt, Lamprecht hatte eine gut ausgearbeitete monistische Position; man könnte sein System auch als positivistischen Hegehanismus beschreiben. Lamprecht glaubte, dass es möglich sei, eine eigenständige Wissenschaft des psychischen Lebens der Menschen zu entwickeln, die 1. Das Verhalten der Individuen innerhalb jeder Kulturepoche und 2. Die Bewegimg von einer Epoche zur anderen erklärt.« 1 Diese Kombination aus Hegelianismus und Positivismus hat sich auch auf Warburg übertragen, bei ihm jedoch steht der Positivismus so weit im Vordergrund, dass die Konturen der unterlegten hegelianischen Elemente verschwimmen. Für Lamprechts Vorgehen war zentral, dass er glaubte, aus der Fülle geschichtlichen Quellenmaterials mittels sozial- und geistesgeschichtlicher >Stichproben< Globalaussagen über den Geist einer Zeit ableiten zu können. Die Werke der Kunst bildeten einen Hauptfundus für solche >Stichprobenniedere< Formen künstlerischer Betätigung. Das verbindet ihn in interessanter Weise mit dem Zeitgenossen Alois Riegl, der in seinem Werk >Spätrömische Kunstindustrie< ebenfalls Alltagskultur in den Mittelpunkt seiner Untersuchung stellte und dessen >Kunstwollen< ebenfalls eine vermittelnde Scharnierfunktion zwischen Positivismus und Geschichtstheorie zu übernehmen hatte. Ernst H. Gombrich beschreibt Lamprecht in der Rolle eines »... Vorkämpfers der Kulturgeschichte, der Zeit seines Lebens mit den Historikern vom Fach in Fehde lag, die sich nur für politische Geschichte interessierten.« 2 Lamprecht verfocht eine fortschrittsorientierte, evolutionäre Auffassung der Wissenschaft; er entfachte mit seinen Stellungnahmen eine methodologische Auseinandersetzimg, die den Diskussionsstand der historischen Wissenschaften entscheidend veränderte, den sogenannten >Lamprecht-StreitStichprobenmaterial< gerne aus der Geschichte der Wiederaufnahmen älterer Kulturphänomene bezog: »Denn das, was den universalgeschichtlichen Verlauf recht eigentlich bildet, sind die Vorgänge der Renaissancen und Rezeptionen: und diese sind, mögen sie auch durch politische Ereignisse oder andere mehr mechanische Vorgänge ausgelöst sein, doch ihrem Kern nach kulturgeschichtliche Erscheinungen.« 3 1

Whimster, S., Uber Lamprecht und Weber, in: Mommsen, W. J., W. Schwentker, Max Weber und seine Zeitgenossen, Zürich/Göttingen 1988, S. 384 2 Gombrich, Ε. H., Die Krise der Kulturgeschichte. Gedanken zum Wertproblem in den Geisteswissenschaften, München 1991, S. 36 3 Lamprecht, K., Zur universalgeschichdichen Methodenbildung, Leipzig 1909, S. 36

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Diese Tradierungs- und Wiederaufnahmeprozesse sind aber wiederum auf den strukturellen Gehalt hin zu prüfen, ihre innere geschichtliche, will sagen geschichtstheoretische Logik. »Kulturgeschichtliche Erkenntnisse sind letzten Endes überhaupt nicht so sehr inhaltreicher, bildhafter, wie formaler, evolutionistischer Natur.« 4 Von Bedeutung sind also zuerst und vor allem die Deutungsmodelle religiöser oder weltanschaulicher Art, ohne die die Mentalität des Zeitalters unverständlich bleibt. So entwirft sich der Geist der jeweiligen Zeit vorgreifend in weltanschaulichen Horizonten und wird sich dem Interpreten, der diese Horizonte nicht kennen will, nur von der oberflächlichsten Seite zeigen. Dazu gehört, dass man den Kollektivcharakter unendlich viel wichtiger nimmt als die Einzelpersönlichkeit. »Lamprecht behauptete, dass zwischen der Sozialpsyche und allen anderen Gegenständen der Natur kein Unterschied bestehe und dass diese deshalb mit Methoden untersucht werden solle, die diejenigen der exakten Naturwissenschaften entsprächen, vergleichbar der Analyse einer Pflanze oder eines menschlichen Körpers.« 5 Aus einer Analyse der Kollektivseele ergeben sich bei Lamprecht die Konsequenzen für den konkreten geschichtlichen Menschen. Auch die Beschäftigung mit Wundt sollte dazu dienen, die Art und Weise des individualpsychologischen Abdrucks der Kollektivpsyche zu klären. Bei Warburg scheinen Annahmen über diese Kollektivpsyche mit Eigenschaften verbunden zu werden, die eigentlich zu einem einzelnen Individuum gehören; dazu ist Näheres auszuführen, wenn ich Warburgs Denken mit der neukantianischen Konzeption des Verhältnisses von transzendentalem und historisch-konkretem Subjekt in Beziehung setze.6 Von Bedeutung ist ebenfalls, dass bei Lamprecht nur das rationale Element des Menschen Ausdruck in den kollektiven geschichtlichen Prozessen gewinnt: »Lamprecht setzt den freien Willen mit dem Irrationalen gleich. Der freie Wille sei keine Folge der Sozialpsyche, sondern das Ergebnis einer nicht vorher bestimmbaren (und deshalb) irrelevanten Laune.« 7 Dies alles könne nur ins rechte Verhältnis gesetzt werden, so Lamprecht, wenn eine neue Methodik den Blick für die wesentlichen Fakten und Zusammenhänge schärfe: »Da ist denn zunächst klar, dass eine Methodologie die Wege wissenschaftlichen Denkens weisen soll: das liegt schon im Worte. Sie soll also eine Führerin sein des wissenschaftlichen Denkens in bisher unbekannte Gebiete; sie spricht de lege ferenda. Gewiß hat sie dabei auch mit den schon bestehenden Methoden zu thun, sie soll diese kritisch klassifizieren.« 8 ebd., S. 51 Whimster, S., Über Lamprecht und Weber, a. a. O., S. 386 6 siehe Kapitel VI 7 Whimster, S., Über Lamprecht und Weber, a. a. O., S. 387 8 Lamprecht, K., Die historische Methode des Herrn von Below, Berlin 1899, S. 9 4

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Es bleibt die Frage bestehen, ob das überzeitlich Gültige, die anthropologische Konstante, allein aus den Zeugnissen der Zeit >destilliert< werden kann oder ob man nicht einen Bezug auf Uberzeitliches schon gleich zu Beginn, in der begrifflichen Vorentscheidung, benötigt. Lamprecht bewegt sich zwischen konkreter Kulturwissenschaft und abstrakter Kulturphilosophie manchmal ratlos hin und her - welche Ratlosigkeit sich auf den Schüler vererbte. Die systematischen Probleme, die Lamprecht sich auflud, ohne sie zu lösen, beruhen großenteils darauf, dass er den Hegelschen »objektiven Geist< sich in der Geschichte in psychologischen Strukturen verwirklichen sah, die mit Hilfe der Herbartschen Assoziationspsychologie beschrieben werden sollten. Dadurch werden der geschichtlichen Entwicklung und den rekonstruierten Denkformen individualpsychologische Eigenschaften implantiert. Mit dem so entstandenen Gegensatz wird auch Warburg bis ans Ende seines Lebens zu kämpfen haben. Hinsichtlich der persönlichen Prägung, die Warburg durch diesen Lehrer erfuhr, ist noch zu beachten, dass Lamprecht an der Universität Leipzig ein >Institut für Kultur- und Universalgeschichte< aufgebaut hatte, das mit seiner Bibliothek und ihrer Systematik in vielem für Warburgs Bibliotheksgründung Vorbild gewesen ist.9 Darüber auch Syamken: »Ein über die Studienzeit Warburgs fortwirkender Einfluß Lamprechts wird auch daran erkennbar, daß Warburg seine kulturwissenschafdiche Bibliothek nach dem Modell von Lamprechts kulturwissenschaftlichen Institut in Leipzig konzipieren wird, auch wenn er bald ganz eigene Wege geht.« 10

2. Hermann Usener - Kulturwissenschaft und Religionsgeschichte Hermann Usener war als Altphilologe tätig in Bern, Greifewald und Bonn, wo Warburg ihm 1886 begegnete. 1866 hatte Usener dorthin gewechselt und lehrte an der Bonner Universität Gräzistik. Sein Forschungsbereich war groß, Useners Schüler Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf bescheinigte ihm bei der Verfolgung seiner zahlreichen wissenschaftlichen Interessen »unvergleichliche Gelehrsamkeit« 11 , wobei seine Forschungsschwerpunkte besonders bei der griechischen Philosophie und der Geschichte der Religionen lagen.12 Zahlreiche Einzeluntersuchungen zu 9

Lamprecht, K., Das Königlich-Sächsische Institut für Kultur- und Universalgeschichte, Leipzig 1909 10 Syamken, G., u. a., Die Menschenrechte des Auges, Frankfurt a.M. 1980, S. 22 11 zitiert nach Kany, R., Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen 1987, S. 67 12 Siehe zu Usener beispielsweise Momigliano, A, New Paths of Classicism in the Nineteenth Century, Middletown 1982 oder (fur seinen Einfluss) Mette, Η. J., Nekrolog einer

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Themen von Homer bis zur Spätantike wurden ergänzt durch Herausgebertätigkeiten (Lukan, Aristoteles u. a.). Useners Forschungen waren aber nicht nur dem antiken Schrifttum gewidmet, sondern er arbeitete ebenso zur byzantinischen Kultur und zum Mittelalter. Er edierte Heiligenlegenden und verwandte Texte und suchte die Ursprünge heutiger Volksbräuche in der Antike zu finden, arbeitete außerdem über die mythologischen Ursprünge und Prägungen des Zahlbegriffs 13 . Usener steht am Beginn der systematischen und wissenschaftlichen Arbeit an einer vergleichenden Religionsgeschichte, war aber auch ein wichtiger Anreger der Religionsphänomenologie. Wie Roland Kany schreibt, war es Usener, der die Mythologie als Religionswissenschaft eigendich erst wissenschaftlich >salonfahig< gemacht hat: »Denn kaum ein Mythologe des 19. Jahrhunderts ist wie Usener über die Mythendeutung hinaus zu einer allgemeinen Lehre von den religiösen Vorstellungen vorgedrungen und hat in solchem Maße Rang und Selbständigkeit der historischen und systematischen Erforschung der Religion betont.« 14 Seine vergleichende Religions- und Sprachgeschichte hat morphologischen wie strukturellen Charakter; ähnlich den methodischen Neustrukturierungen in der Zoologie und Botanik der Zeit bemüht er sich um die Darstellung von elementaren Grundformen 15 , übt den vergleichenden Blick zwischen >GestaltenGötternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung< von 1896. Hier wird nachvollziehbar, wie Useners Arbeiten zu Mythologie und Religionswissenschaft ihn nicht nur zu fußnotenreichen Forschungsberichten führten, sondern dass sein Werk in der Perspektive einer kultursynthetischen Systematik stand. Kany dazu: »Alle diese Richtungen der Mythologie und Religionswissenschaft gelangen - mit unterschiedlichem Gewicht - in Useners Werk zu einer Synthese, die nicht Ergebnis eines Ekklektizismus ist, sondern in einem durchaus eigenständigen Entwurf gründet, der mindestens in den Beginn der 80er Jahre zurückreicht. Useners Mythologie hat ebenso wie seine anderen Arbeitsfelder einen systematischen Ort innerhalb seines Konzepts der Geschichtswissenschaft oder besser: einer vergleichenden Kulturwissenschaft.«16 Aufschlussreich ist hierfür auch, in welch unterschiedlichen Bereichen Usener durch Schüler wirksam werden konnte; so zählten unter anderem Rudolf Borchardt und Paul Natorp zu seinen Studenten.

Epoche. Hermann Usener und seine Schule. Ein wirkungsgeschichtlicher Rückblick auf die Jahre 1856-1979, in: Lustrum 22, 1979/1980, S. 5-106 13 Usener, H., Dreiheit. Ein Versuch mythologischer Zahlenlehre, Bonn 1903 (Nachdruck Hildesheim 1966 bei Olms) 14 Kany, R., Mnemosyne als Programm, S. 71 15 beispielsweise in: Altgriechischer Versbau. Ein Versuch vergleichender Metrik von 1887 (Nachdruck Osnabrück 1965 bei Otto Zeller) 16 ebd., S. 75

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Warburg besuchte in Bonn Useners Mythologie-Vorlesung im Wintersemester 1886/87 und erlebte dort, wie Usener die mythologischen Konstellationen als >Kunde von der Vorstellung eines Volkes über das Transcendente< behandelte. In Werburgs Aufzeichnungen kehrt Useners Schlüsselsatz »Die älteste Denkform des Menschen ist mythologisch« mehrmals wieder. Die Mythenbildung wird von Usener auch als psychologisches Problem vorgestellt. Der Mensch benötige Mythen, um das darzustellen, was erst später in wissenschaftlicher Sprache ausgedrückt werden könne. In einem Brief an Wilamowitz-Moellendorf drückt er sich, ihren Gegensatz skizzierend, so aus: »Sie suchen die Schöpfungen des Willens in der Geschichte, ich das unwillkürliche, unbewußte Werden.« 17 Die Mythen verlören mit der fortschreitenden Aufklärung der Menschen immer mehr an Bedeutung, sie würden aber nie ganz überflüssig gemacht werden können. Warburg notiert in seinen Kolleg-Mitschriften: »Die früheren Vorstellungen werden nicht wie alte abgelegte Kleider fortgeworfen; auf keinem Gebiete geizt der konservative Trieb mehr als auf religiösem; so werden ganz widersprechende Ansichten bis in helle geschichtliche Zeiten festgelegt.«18 Interessant ist hierbei wieder, in welchen »systematischen Rang< die positivistische Einzeluntersuchung einrückt: Für Usener ist gerade die genaue Fixierung historischer Einzelformen bei den Götternamen wichtig, da die Details gegenüber den allgemeinen Uberbegriffen immer auf geschichtlich Älteres zurückweisen. Die Mischung von individual- und kollektivpsychologischen Vorstellungen, nach denen eine frühe >Prägezeit< angenommen wird, passt sehr gut in den Geist der Zeit; unverkennbar harmonieren entwicklungstheoretische Ableitungen und Mutmaßungen über Ursituationen; nach Usener »... muss in Anrechnung gebracht werden, dass wie beim einzelnen Mensch, so wohl auch beim Volk die Jugendeindrücke die tiefsten und nachhaltigsten zu sein pflegen. Je früher und tiefer eine Vorstellung sich einprägt, je länger sie Zeit findet sich einzuleben, umso mehr erhält sie die Fähigkeit, eine Anschauungsform zu werden, womit der Geist neues sich vermittelt.« 19 Dies gilt auch für die Vorbemerkung Useners zu einer Untersuchung über die mythologischen Ursprünge des Zahlbegriffs, insbesondere der Entstehung der Dreizahl, an: »... Denn die Ueberreste früherer Stufen, welche an dem menschlichen Geiste bei seiner unablässigen Häutung und Erneuerung haften bleiben, leisten oft auch den schärfsten Waffen des Geistes und Witzes lange beharrlichen Widerstand, und es bedarf des ganzen Rüstzeugs geschichtlicher Thatsachen, um den abgestorbenen und doch immer an unserem Leben theilnehmenden Rest zu lösen und abzu17

Usener und Wilamowitz. Ein Briefwechsel. 1870-1905, mit einem Nachwort und Indices von William M. Calder ΠΙ, Stuttgart/Leipzig 19942, S. 7 18 Kollegnachschriften in der Mappe >Lecture notes - Bonn 1886—1888Augenblicksgöttern< in der spontanen Deutung von Geschehnissen (wie dem Blitzschlag, der sofort und unmittelbar Achtung einfordert) lässt aber nicht nur eine begrenzte symbolische Figur oder ein Bild entstehen, sondern begründet einen Kult. In jeder spontanen Benennung, die Usener in sprachgeschichtlichen Untersuchungen nachzuweisen versucht, blitzt eine größere Ordnung auf, die Gruppierung der Geschehnisse vor einem Sinnhorizont.

3. Jacob Burckhardt - Kulturwissenschaft und Kunstgeschichte Burckhardt kommt in Bezug auf Warburg einerseits das Verdienst zu, seine wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf die Kultur der italienischen Renaissance gelenkt zu haben, andererseits die, in für Warburg faszinierender und motivierender Weise, kunstgeschichtliche Exkurse unter kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten geordnet zu haben. Mit seiner Herangehensweise, die nicht nur geschichtliche Panoramen entwarf, sondern auch an Detailproblemen kultur- und ideengeschichtliche Konstellationen entwickelte, beeinflusste er außer Warburg noch unzählige andere Kunstgeschichtler und Historiker, wiewohl er nie schulbildend in einem institutionellen Sinne wurde. Die methodische Anknüpfung Warburgs an Burckhardt hat Henning Ritter so beschrieben: »Als Kunsthistoriker hat Warburg sich immer in der Nachfolge Jacob Burckhardts verstanden und seine Aufgabe darin gesehen, die beiden Seiten des Burckhardtschen Werkes - die Psychologie des sozialen Individuums im Renaissancebuch und die Anleitung zum Genuß im >Cicerone< - in einer synthetischen Kunstgeschichte zusammenzuführen.«21 Der verbindende >systematische< Zug, der die Burckhardtschen Forschungen in die Perspektive einer Kunstgeschichte nach Aufgaben< stellt, ist in hohem Maße an seine Persönlichkeit gebunden. Burckhardt vermied subjektive Wertungen durchaus nicht und schätzte die Entwicklung wissenschafidicher Methodik relativ gering; dies wurde ihm von Seiten der scientific community< der Zeit trotz seiner schnell ebd., S. 4 Ritter, H., Der Entdecker der klassischen Unruhe, Süddeutsche Zeitung v. 27-/28.10.1979, S. 150 20 21

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wachsenden Berühmtheit so übel genommen, dass ihm in seinen Einzelveröffentlichung alle Detailfehler mit hämischer Begeisterung nachgewiesen wurden, um so seine wissenschaftliche Kompetenz in Frage zu stellen. Burckhardt ist ein Beispiel dafür, wie kulturphilosophische Arbeit von einer schon vorab festgelegten Kulturanschauung oder Kultursynthese strukturiert wird: Seine persönliche Weltanschauung legt kultursynthetisch Felder des Interesses fest, die in einzelnen kulturwissenschaftlichen Analysen genauer beleuchtet werden. Pessimistische Grundannahmen des Schopenhauer-Verehrers Burckhardt kommen hier ebenso ins Spiel wie Aversionen gegen Modernisierungsprozesse, »Maschinen und Demokratie·«:. In jedem Fall geht eine versuchte Kultursynthese der kulturanalytischen Arbeit voraus. Das bedingt aber auch die große Geschlossenheit und Stimmigkeit, mit der beispielsweise in seinem >Cicerone< die Einzelbeschreibungen der Kunstwerke mit einem größeren Deutungszusammenhang vermittelt werden. Insofern kann Burckhardt - von der Struktur seiner Kulturtheorie her betrachtet - als Einfluss auf Warburg wie ein antagonistischer Pol zu Karl Lamprecht betrachtet werden. Dieser hatte im ersten Arbeitsschritt Kultursynthese auf Kulturanalyse folgen lassen. Auch in anderer Hinsicht stehen sich Lamprechtsche und Burckhardtsche Einflüsse kontrastierend gegenüber: Bei der Bestimmung des Anteils des Individuums am historischen Prozess. Lamprecht nähert sich, wie ausgeführt, dem Individuum über Ableitung aus der Gestalt einer Kollektivpsyche an, Burckhardt hingegen betont, vielmehr feiert den einzelnen Menschen und seine geschichtsbildende Kraft. In Abgrenzung gegen geschichtstheoretische Hegehanismen rückt Burckhardt den ganzen Menschen als Individuum, und zwar als privates, nicht von den öffentlichen Vorgängen abhängiges Individuum, in den Vordergrund. Der einzelne Mensch, der Bürger als Privatmann, ist es, von dem alle Einflüsse ausgehen und den man in den Mittelpunkt der Untersuchungen stellen soll, gerade in seiner Unabhängigkeit und Privatheit. Die persönlichen Orientierungswünsche Burckhardts geben die Richtung der wissenschaftlichen Arbeit vor, beispielsweise in seiner Beschreibung der Bedeutung von Einzelnen im Staat: »Seine eigene Flucht aus dem Geschehen der Zeit legte sich historisch aus in der Darstellung der christlichen Weltflucht und der griechischen Apolitie« 22 , schreibt Löwith über diese Lebensorientierung durch Forschung. Nur die so gewonnene Souveränität ermöglichte ihm einen summarischen Blick auf historische Formationen und Gestalten, der notwendig zu Reduktionen, aber auch zu treffenden Charakterisierungen führte - wie der über den »wunderbaren florentinischen Geist, scharf räsonierend und künstlerisch zugleich.« 23 Auch in der Weise, wie durch Betrachtung historischer Panoramen Souveränität gewonnen wird, ähnelt Burckhardt seinem Nachfolger Warburg. Die GelasLöwith, K-, Sämtliche Schriften, Band 7, Stuttgart 1982, S. 180 Burckhardt, J., Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Neudruck der Urausgabe, hrsg. v. K. Hoffmann, Stuttgart 1985, S. 55 22

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senheit, von der Warburg im Zusammenhang mit dem Verstehen des Zufalls in der Geschichte spricht, scheint auch Burckhardt in steter Auseinandersetzung mit der Geschichte gesucht zu haben. »Der feste Glaube an die Berufimg des Historikers, wenigstens aus der Geschichte >weiser< zu werden und vielleicht der eigenen Zeit und ihrer vermeintlichen Farblosigkeit und Nostalgie eine Periode voll Tatkraft, Farbe und Schönheit vor Augen zu führen, bewahrte Burckhardt vor der zersetzenden Kraft der historischen Reflexion, vor Entfremdung und Wirklichkeitsverlust. Wie später Aby Warburg schöpfte er seelische Stärke aus dem Studium der Geschichte und der schönen Kunst.« 24 Wie sehen die Umrisse des Burckhardtschen Kulturbegriffes abstrakter formuliert aus? Er betont an verschiedenen Stellen, dass es eine Art >Grundsubstanz< der menschlichen Natur gebe, elementare Eigenschaften des Menschlichen, die sich durch die gesamte Geschichte der Menschheit zögen und als Potential immer wieder neue Entwicklungen hervortreiben könnten. Wie wir bei Warburg später wieder erleben werden, stellt sich das Problem der konsistenten und zusammenhängenden Beschreibung einer Theorie, die mehr oder weniger durch ein persönliches Interessenprofil konturiert wird. Karl Löwith hat dennoch versucht, Burckhardt philosophisch-systematisch >zwischen Hegel und Kierkegaard< zu verorten. Er beschreibt, wie Burckhardt sich einerseits von der Subjektivität und Ironie der romantischen Denker, andererseits aber auch vom objektiven Systemgedanken Hegels distanziert habe. »Im Verhältnis zu Hegels Idee vom Weltgeist, worin sich das Selbstsein verallgemeinert, verteidigt er das Recht des einzelnen Individuums; im Verhältnis zu Kierkegaards Idee vom radikal vereinzelten Selbstsein aber die Macht des allgemeinen Geschehens. Seine eigene Idee vom Individuum besteht jedoch darin, dass dieses inmitten der Abhängigkeit vom allgemeinen Geschehen der Zeit >unabhängig< und insofern frei ist.« 25 Burckhardt vertrat eine dynamische, oft subjektivistische Auffassung von Kultur als Prozessualität: »Kultur nennen wir die ganze Summe derjenigen Entwicklungen des Geistes, welche spontan geschehen und keine universelle oder Zwangsgeltung in Anspruch nehmen.« 26 Aber obwohl die Gesamtheit der Kulturprozesse keinen durchgehenden impliziten Gesamtsinn aufweise, da sie derjenige Prozess sei, »durch welchen sich das naive und rassemäßige Tun in reflektiertes Können umwandelt«, trage sie doch immer wieder zur Herausbildung von etwas bei, das man als >Sinnzentren< bezeichnen könnte. Dass Warburg den größten Teil seiner Forschungstätigkeit auf das Problem des >Nachlebens der Antike< konzentrierte, liegt ganz in der Logik des Burckhardtschen Pochat, G., Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie. Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Köln 1986, S. 579 25 Löwith, K., Sämdiche Schriften, Band 7, S. 171 26 Burckhardt, J., Weltgeschichtliche Betrachtungen/Historische Fragmente, Leipzig 1985, S. 66 24

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kulturhistorischen Ansatzes. Auch bei Burckhardt ist das Hauptinteresse auf Kontinuitäten gerichtet. Karl Löwith spricht von Burckhardts »Ansicht, daß das >Interessante< an der Geschichte das scheinbar Uninteressante, nämlich das in allem Wandel Konstante und sich Wiederholende ist, weil der Mensch so ist, wie er immer schon war und auch sein wird.« 27 »Kulturgeschichte in Burckhardts Sinn bezieht sich also auf das Ganze und Dauernde der in den Ereignissen wirksamen geistigen Kräfte, wogegen die Ereignisse selbst vorübergehende Einzelheiten sind.« 28 Dies ist natürlich nur möglich, wenn die Lehren vom Ästhetischen eingebettet sind in eine Lehre vom Menschen. Bei Burckhardt ist diese Lehre vom Menschen wiederum gegründet auf die idealistische Annahme eines vorwaltenden Geistes, der Kontinuitäten garantiert. »Die reine ästhetische Erkenntnis ist die höchste menschliche Erkenntnis. Sie ist Selbsterkenntnis des Menschen. In ihr wird das Ideal des Menschen transparent, d.h. Burckhardts normativer Ästhetik ist eine normative Anthropologie implizit. Als Hüterin des Schönen, Wahren und Guten ist die Kunst Leitbild allen menschlichen Denkens und Handelns. Indem Burckhardt dieses Ideal ins rein Geistige verlegt, stützt sich seine normative Anthropologie auf einen idealistischen Geistesbegriff.« 29 Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Burckhardt und Warburg sind bei der Begründung kulturwissenschaftlicher Tätigkeit hervorzuheben? Hier ist zwischen der Methodik und den Motiven (oder Problemen) der Kulturtheorie zu unterscheiden. Für die Methodik muss beachtet werden, dass Burckhardt beispielsweise eine Parallelisierung von bestehenden primitiven Kulturen mit den Griechen der Antike ablehnt. Er sieht nicht, wie aus den Untersuchungen über primitive Stämme Entwicklungsgesetze kultureller Gemeinschaften abgeleitet werden könnten: »Aber die Verweisung auf Neger und Rothäute hilft nicht, so wenig als die auf die Negerreligionen bei der Religionsfirage; denn die weiße und gelbe Rasse sind gewiß von Anfang an anders verfahren, die dunkeln können für sie nicht maßgeblich sein.« 30 Ethnologische Querverweise sind also nicht denkbar; die für Warburg typische Verschränkung von Soziologie, Ethnologie und Kunstgeschichte ist im Burckhardtschen Werk nicht angelegt. Auch Parallelen zum Tierreich werden von Burckhardt schärfstens abgelehnt, Warburg wird später beides, die ethnologischen wie die biologischen Ableitungen, zentral in seinen methodischen Ansatz zu integrieren versuchen.

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Löwith, K., Heidegger - Denker in dürftiger Zeit, Frankfurt a.M. 1953, S. 72 der., Sämtliche Werke, Band 7, S. 203 29 Ritzenhofen, H. Kontinuität und Krise - Jacob Burckhardts ästhetische Geschichtskonzeption (Dissertation), Köln 1979, S. 38a 30 Burckhardt, J. Weltgeschichdiche Betrachtungen/Historische Fragmente, S. 42 28

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Bekanntlich definierte Burckhardt auch die Kultur als Gegensatz und in Abgrenzung zum Staat: »Zum eigentlichen Interesse des apolitischen Menschen und anstelle des Staates wird dann notwendig die >KulturFreieBeweglicheVielgestaltige< im Verhältnis zu der festlegenden und vereinfachenden Zwangsgewalt des Staates und der dogmatischen Religion, wenngleich sich alle drei Potenzen gegenseitig bedingen und keine unbedingt ist was sie ist. Der apolitische Mensch wird zum Träger der eigentlichen >KulturDreiPotenzen-LehrePathosformel< ziehen lassen. Bei Burckhardt heißt es: »Wo irgend Pathos zum Vorschein kam, mußte es in antiker Form geschehen.« 32 Nach Gombrich ist dies als Keim der Warburgschen Idee der Pathosformel anzusehen. Was kann das Bild nach Burckhardtschen Begriffen leisten und wie verhält es sich zum Symbol und zur Allegorie? Dazu äußerte er sich im Vortrag >Die Allegorie in den Künsten< von 1887.33 Abstraktionen und allegorische Figuren werden hier von Burckhardt gleichgestellt. Die menschliche Grundsubstanz, das >HumanumIdeale< und >das dem inneren Antrieb Entsprechende< miteinander identifiziert werden; nur so ist auch ein Ausdruck wie das >Allgemein Menschliche< sinnvoll zu denken: »Die Skulptur, was auch Individuelles von ihr verlangt wird, bleibt dem Idealen zu31

Löwith, K., Sämtliche Schriften, Band 7, S. 195 f. zitiert nach: Stein, Κ v., Vorlesungen über Ästhetik, Stuttgart 1897, S. 71 33 gehalten am 15.2.1887, veröffentlicht in: Gesamtausgabe, Berlin/Leipzig 1933, Band 14 32

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geneigt, welches allein ihr gestattet, frei ihren innersten Antrieben nachzuleben.« 34 Das Neubilden von Allegorien, wie es beispielsweise im Werk von Peter Paul Rubens zu finden ist, gilt Burckhardt als Zeichen kulturstiftender Kreativität. Die Griechen stellt er vorbildhaft als große Allegoriker vor: »Das Bilden von Abstracta, welches uns Mühe macht, war bei ihnen ein populäres Vermögen, und die Allegorie brauchte hier nicht erst durch literarisch gebildete Leute dem Volke aufgeredet werden.« 35 Abstrahierende wissenschaftliche Tätigkeit und allegorisierende künstlerische gehen Hand in Hand. Warburg konnte aus diesem Verhältnis später eine originäre Vorstellung von künstlerischer Abstraktion entwickeln, die das vorherrschende Deutungsmodell einer Zeit, den Sinnhorizont, in ein Bild bringen kann. Ein anderer Zeitgenosse und Bewunderer Burckhardts, Friedrich Nietzsche, hatte die Forschungen Burckhardts ganz anders als Warburg weitergedacht. Da auch Nietzsche ein neues Bild der Antike zu zeichnen suchte und sich ebenfalls mit materialistischen und physiologischen Theorien zur Entstehung der Kultur auseinandersetzte, wird später noch detaillierter auf ihn einzugehen sein.36 Im Kontrast zu Nietzsche ist ein weiterer inhaltlicher Punkt der Burckhardtschen Arbeit anzusprechen. Anders als bei Nietzsche ist das Interesse Burckhardts für die großen Machtpolitiker und Lebemänner, die kraftvollen >Sieger der Geschichte< stets gekoppelt mit dem Versuch, die Verluste und Grausamkeiten jeden Sieges auszuweisen. Er bringt tiefe Sympathie für die Opfer geschichtlicher Prozesse zum Ausdruck. Dies als Einfluss auf Warburg zu konstatieren hat große Bedeutung für dessen ethisches Selbstverständnis und die später noch anzusprechende Parallelität zu Walter Benjamin, der auf das übergangene Leid Teile seiner Geschichtstheorie gründen wollte. »Für Burckhardt ... ist die Geschichte >die Lebens- und Leidensgeschichte der Menschheit·«, >das Drama< vom handelnden und duldenden Menschen·«. Immer in der Geschichte ist >das sogenannte Siegerglück< erkauft durch >unendlichen Jammer der Besiegten·«, welche ebenfalls Menschen waren und möglicherweise bessere.«37 Grundsätzlich lässt sich sagen, dass Warburg dem Werk und der Person Burckhardts stets großen Respekt entgegenbrachte; er sandte ihm seine Dissertation zu und war ausgesprochen stolz über die positive Antwort, bemühte sich später um die Herausgabe des Burckhardtschen Nachlasses und behandelte ihn und sein Werk in Seminaren der Warburg-Bibliothek. Dass insgesamt von einer starken Beinflussung

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Burckhardt, J., Gesamtausgabe, Band 14, S. 421 " e b d , S. 431 36 Siehe Kapitel IV 37 So zitiert bei: v. Martin, Α., Nietzsche und Burckhardt. Zwei Repräsentanten einer Epoche, München 1947, S. 124

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Warburgs durch Burckhardt gesprochen werden kann, ist schon von verschiedenen Autoren gezeigt worden (Gombrich, Wuttke, ...)· Es sei hier nur kurz ergänzend erwähnt, wie Warburg in einem Brief an seinen Bruder Max die Hoffnung zum Ausdruck brachte, dass seine Arbeiten zum Florenz der Renaissancezeit Burckhardts >Cultur der Renaissance in Italien< ergänzend zur Seite gestellt würden. Auch dass er noch 1926/27 in Hamburg ein Seminar zu Burckhardt abhielt, zeigt, dass dieser für ihn zeitlebens der »vorbildliche Pfadfinder< blieb, als der er ihn im Vorwort zu seinem Aufsatz >Bildniskunst und florentdnisches Bürgertum< ansprach. Auch auf Burckhardts Ausspruch über das italienische Festwesen nimmt Warburg immer wieder Bezug. In >Die Kunst der Renaissance in Italien< wird die Festkultur von Burckhardt im achten Kapitel des fünften Abschnitts ausführlich charakterisiert: »Hier beschäftigt uns das Fest selber als ein erhöhter Moment im Dasein des Volkes, wobei die religiösen, sittlichen und poetischen Ideale des letztern eine sichtbare Gestalt annehmen. Das italienische Festwesen in seiner höhern Form ist ein wahrer Ubergang aus dem Leben in die Kunst.« Warburg versucht in »Antike und Gegenwart im festlichen Leben der RenaissanceEine Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens·«.«42 Was muss man für das bessere Verständnis der Warburgschen Methodik bei einer Beschreibung des Verhältnisses zwischen Warburg und Burckhardt beachten? Burckhardt bemüht sich um die historische Darstellung des »Allgemein Menschlichens jedoch in einer Form, die aufgrund persönlicher Interessenlagen europäische Kulturelemente verabsolutiert und in der kulturwissenschaftlichen Arbeit nur ein geringes Gewicht auf die Anwendung wissenschaftlicher Methodik legen konnte. Warburg greift Motive dieser Arbeit auf, die Kulturkontinuitäten, die Ordnung kunsthistorischer Fakten in der Perspektive eines Menschenbildes oder eines kultursynthetischen Modells; er verbindet dies alles aber mit moderner psychologischer und ethnologischer kulturvergleichender Methodik.

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1. Thomas Carlyle - Theorie der Kleidung und des Heroischen Der schottische Schriftsteller, Historiker und Philosoph, der in seinen Arbeiten Elemente puritanischer Theologie mit solchen der idealistischen deutschen Philosophie zu verbinden suchte, ist ein anderer bedeutender Einfluss in der Entwicklung Warburgs. Carlyle war in der damaligen Zeit in Deutschland sehr präsent, auch als Mittler zwischen englischem und deutschem Geistesleben; er übersetzte beispielsweise Werke des von Warburg verehrten Goethe, mit dem er auch jahrelang korrespondierte, ins Engüsche (unter anderem den >Wilhelm Meister< sowie Teile des >FaustSartor Resartusc1 auf Warburg hatte, sollte nicht unterschätzt werden. Dies betrifft sowohl einzelne inhaltliche Gesichtspunkte, beispielsweise zur Symboltheorie, als auch die grundsätzliche Arbeits- und Lebensauffassimg Warburgs, die sich in Auseinandersetzimg mit dem Carlyleschen Ethos und Pathos weiterbildete. Das berühmte, von Carlyle in >Sartor Resartus< verwendete Bild der Fahne, die Soldaten um sich her versammeln kann, taucht auch bei Warburg an mehreren Stellen wieder auf. Dieses Symbol ist deshalb für die Warburgschen Interessen wichtig, weil es die symbolische Prägung mit Handlungsaufforderung und Handlungskoordination verbindet: Das Symbol der Fahne repräsentiert ein Land oder ein Herrscherhaus und bewegt gleichzeitig den Menschen, sich zu ihm hinzubewegen. Diese Fahne als >völkerversammelndes Symbol< spricht Warburg beispielsweise in seinem

1 Dtsch. etwa >Der neugeschneiderte Schneidere, zuerst erschienen 1833-1834 in >Frasers MagazineSartor Resartus< eine Bibelstelle ein, die im Buch ebenfalls zitiert wird, die wohl auch ein Bild seiner Vorstellung von wissenschafdichem Fortschritt geben sollte. Es handelt sich um Daniel ΧΠ,4: »Und du, Daniel, verbirg diese Worte und versiegle diese Schrift bis auf die letzte Zeit; so werden viele darüberkommen und großen Verstand finden.«5 Die Geschichte der Verwendung dieser Worte wäre noch zu schreiben, beispielsweise taucht die Bibelstelle ebenfalls in Francis Bacons >Novum Organon< von 1620 auf und hat auch in diesem Schlüsselwerk neuzeitlicher philosophischer Methodenlehre und Welterkenntnis die Funktion der Verherrlichung menschlichen Strebens nach Erkenntnis durch Wissenschaft. In >Sartor Resartus. The life and the opinions of Herr Teufelsdrökh< nun beschreibt Carlyle die wechselseitigen Beziehungen von Selbst- und Weltdeutung in Symbolsystemen. Das fiktive Alter ego, ein deutscher Gelehrter und Professor der >Allerley-Wissenschaft« weist in seinem Werk >Die Kleider, ihr Werden und Wirken< nach, in welcher Weise Kleider Schein sind, der zum Sein beiträgt. Der vielfach ironisch gebrochene Handlungsstrang dient vor allem der Illustration Carlylescher Uberzeugungen. >Sartor Resartus< kann daher als theoretischer Text gelesen werden. »The narrative in >Sartor< is only apparent, is not consistent, and does not gain our primary interest or embody Carlyle's primary intention.« 6 Das 2 Siehe Kapitel IX; Hinweis auch in GS, Bd. VII, Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek, Berlin 2001, S. 546 3 Hinweise im Tagebuch beispielsweise am 2 3 . 1 . 1 8 9 0 sowie am 25.1.1890 4 Warburg hatte die deutsche Ausgabe von 1834 erworben. 5 Zitiert nach: Die Bibel oder Die ganze Heilige Schrift des alten und neuen Testaments. Nach der deutschen Ubersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1963 6 Brookes, G. H., The Rhetorical Form of Carlyle's >Sartor Resartusheroischen Geistes< in Kriegern, Künstlern oder Politikern geistige Physiognomien zeichnet, die den Zeittendenzen erst jene Dichte und Färbung geben, die sie dann kulturphilosophisch interpretierbar machen, so wird auch in >Sartor Resartus< der Umriss einer paradigmatischen Gestalt sichtbar gemacht. Am Beginn des Buches lobt der Erzähler die Unparteilichkeit und Vorurteilslosigkeit seines Romanhelden, die ungeheure Gelehrsamkeit und gleichzeitige Radikalität eines geistigen Revolutionärs, des deutschen Professors Teufelsdrökh: Ihm wird bescheinigt, ein Feld >nahezu grenzenlosen Ausmaßes< beackert zu haben und mit seinen Arbeiten nur allzuoft jenseits des Horizonts des Berichterstatters zu agieren. >Sartor Resartus< verbindet die theoretische Darstellung mit dem Muster eines biographisch getönten Entwicklungsromans. Die geistige Physiognomie dieses Professors der >Allerley-Wissenschaft< wird parallel zu dessen angeblichen theoretischen Konstruktionen beschrieben, Biographie und wissenschaftliche Deutung laufen nebeneinander her. In überraschender Weise verbinden sich dabei Theorien über geistige Physiognomie mit einem Begriff von Gestaltung der eigenen Lebenspraxis. Das Persönliche ist bei Thomas Carlyle immer das Wissenschaftliche und umgekehrt. Teufelsdrökh, dem Romantiker als Wissenschaftler, gelingt es aber doch mehr oder minder, die Theorie in emphatischem Sinn zur persönlichen Sache zu machen - ohne von diesem Gegensatz zerrissen zu werden wie Warburg in bestimmten Krisenzeiten seines Lebens. Aber auch von Professor Teufelsdrökh wird eine bunte Sammlung angefangener Projekte und unterschiedlichster Notizen hinterlassen; Warburg-Forscher werden sich sofort an die >Notizkästen< erinnert fühlen und die ungeheuren, kaum strukturierten Massen von Notizen und Aufzeichnungen, die heute von der wissenschaftlichen Existenz Warburgs zeugen. Betrachtet man diese Konstellation vor dem Hintergrund der Entwicklung Aby Warburgs und seiner Schwierigkeiten mit einer systematischen Entfaltung seines Begriffs von Kulturwissenschaft, stößt man immer wieder auf verschiedene erstaunliche Parallelen. Es könnte sich um Warburg handeln, wenn von Diogenes Teufelsdrökh gesagt wird: »Denn es scheint, als läge die Beweisführung zu einem großen Teil in der Individualität des Autors selbst, als hätte ihn nicht theoretische Schlüssigkeit, sondern Erfahrung gelehrt.«7 Auch über Warburg wird berichtet, dass seine Schlussfolgerungen vor allem im persönlichen Vortrag und unterstützt durch seine

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Carlyle, Th., Sartor Resartus. Leben und Meinungen des Herrn Teufelsdrökh, übersetzt und mit Anmerkungen versehen v. P. Staengle, Zürich 1991, S. 73. Im Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek schreibt Warburg unter dem Datum vom 26. August 1927: »Ich werde mir das nicht nehmen lassen, worin ich mich wirklich - in unendlicher Verdünnung - mit Thomas Carlyle verwendet fühle: die direkte Anrede an den Ungläubigen.« (GS, Bd. VH, S. 132).

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suggestive persönliche Ausstrahlungskraft wirkten. Man kann dies natürlich auch vor der Folie der Realisierung eines bestimmten Gelehrtenideals sehen. Warburg verwirklichte in Ansätzen das in Deutschland seit der Romantik prägende Ideal der Einheit von Leben und Forschung; er war - wie Teufelsdrökh - aber wie in anderer Weise Jacob Burckhardt - seine eigene Theorie, d. h. in und mit seiner Person stellte sich letztendliche Stimmigkeit der Gedanken erst her. Diese Ineinssetzung von Theorie und Person ist auf einer theoretisch-deskriptiven Ebene bei Carlyle nur verständlich, wenn man bedenkt, wie er den geschichtstheoretischen Status der Persönlichkeit einschätzt. Persönlichkeiten und, in gesteigerter Form, als Inbegriff der Macht des Persönlichen, Helden, sind es nach Carlyle, die den Lauf der Geschichte (auch der geistigen und Ideengeschichte) prägen. Diese theoretischen Persönlichkeiten, die Helden der Wissenschaft, tragen dabei Abstraktionen zusammen, die irgendwann zum Teil eines allgemeinen Wissensschatzes werden. Es ist aber so, dass diese Abstraktionen über die Persönlichkeiten begriffen werden müssen, nicht umgekehrt. Es ist das Heldische, das sich in den Formen der Literatur, Politik oder Philosophie äußert, nicht die Literatur, Politik oder Philosophie, die sich in großen Menschen verkörpert. So muss jede Abstraktion, jede Theorie rückgebunden werden an die geistige Physiognomie, aus denen sie entstanden ist. Am Beispiel der Macht, die wir auch als >geistige MachtMacht< nicht mehr als ein Ausdruck des dynamischen Potentials der beteiligten Subjekte - der Handlungsträger ist.« 8 Warburg verwandelte diese Vorstellungen in ein Konzept der Aufklärung, bei ihm >DenkraumgewinnungUmfangsbestimmung< des Kulturmenschen (dazu später mehr) beigetragen. Ebenso ist die Methodik, der der Verfasser jenes Werkes zur Kleiderphilosophie folgt, eine, die heutzutage nur als kulturwissenschafdiche bezeichnet werden könnte. Aus einer Darstellung und Analyse der historischen Kleiderformen wird eine systematische Kleidertheorie destilliert; wie bei vielen Destillationsprozessen bleiben aber auf jeder Stufe der Verarbeitung vorläufige Endprodukte unterschiedlicher Reinheits-

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Fasbender, Th., Thomas Carlyle. Idealistische Geschichtssicht und visionäre Heldenideal, Würzburg 1989, S. 107

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grade übrig. »Sieht man von den mannigfachen Abteilungen und Unterabteilungen ab, so zerfällt das Werk naturgemäß in zwei Teile, in einen historisch-deskriptiven und in einen philosophisch-spekulativen, allerdings beide unglücklicherweise durch keinerlei feste Demarkationslinie voneinander geschieden; in dieser labyrinthischen Kombination ragen die Teile übereinander, schneiden ineinander, verlaufen - weitgehend - durcheinander.« 9 Der Text von >Sartor ResartusPhilosophie der Kleider< zu referieren und mit ihr zu zeigen, wie sich der Mensch über verschiedene Stufen der Selbstdarstellving intellektuell entwickelt. Wie das lebendige Kleid der Gottheit< in Goethes >Faust< sind die Kleider als Zeichen menschlicher Kultur Anfang und Kern jeder symbolischen Selbstdarstellung. In den Kleidern als äußerlichen Formen drücken sich die Formen der Innerlichkeit, des Inneren, auch des erkennenden Inneren aus. Wir gewinnen durch die Kleidung ein Bild unserer Möglichkeiten zu sein, zu handeln und zu denken. Leute machen Kleider, damit Kleider Leute machen können; an den Kleidern erkennen wir paradoxerweise den Menschen, wie er wirklich ist - und erkennt dieser Mensch sich in der Fülle seiner Möglichkeiten. Sogar der Mensch ist im Grunde nämlich ein Gewand, das >Gewand< seines göttlichen Ich; sein Körper ist nicht nur der >Tempelvisible Manifestation and Impersonation of the Divinity.< In seinem Manuskript zum »Symbolismus als Umfangsbestimmung< 10 führt Warburg als Beispiele der Erweiterung des »natürlichen Umfangs eines MenschenGerät/Schmuck/Tracht< an. Allerdings wird bei Carlyle in den Symbolisierungen der göttliche Geist, der die Welt durchwest, ausgedrückt. Die Kleider sind Symbole der Transzendenz. Eine symbolische Weltsicht ermöglicht es, durch die ironische und metaphorische Kleiderphilosophie die Art und Weise zu beschreiben, wie die göttliche Transzendenz nun in den Dingen der Welt aufbewahrt wird. Dass Kleider den Menschen verhüllen und verfremden, aber auch zum Bewusstsein seiner geistigen Existenz bringen, diese These wird an verschiedenen Schlüsselsituationen der Teufelsdrökhschen Entwicklung verdeutlicht. Dies wirkt in manchem wie ein Vorgriff auf Cassirersche Formulierungen, bei denen es auch immer darum geht, wie Weltverständnis für Menschen nur durch symbolische Formgebung und Selbstdefinition entstehen kann. Es berührt außerdem die Problematik, die in jeder das Symbolische behandelnden Philosophie erörtert werden muss: Verdecken die reflexiv geschaffenen Werke, die künstlichen Symbolsysteme ihre eigenen Grundlagen oder lassen sie die Quellen, aus denen sie herrühren, reichhaltiger sprudeln? Um im Bild der Kleider zu bleiben: Bringen die Kleidungs9

Carlyle, Th., Sartor Resartus. Leben und Meinungen des Professors Teufelsdrökh, S. SO f. 10 Siehe Kapitel IX

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stücke Eigenschaften des Menschen zum Ausdruck und helfen ihm bei der Selbsterkenntnis und Weiterentwicklung oder sind sie nur unnötiger Ballast, fremde und störende Hüllen? Im SymbolbegrifF finden wir einen der Ubergänge von Carlyles theoretischen zu seinen praktisch-pädagogischen Anliegen: Da seiner Ansicht nach verschiedene Symbole den Menschen in spezifischer Weise voranbringen und ihm in jeweils unterschiedlicherWeise helfen, sich und seine Kultur zu entwickeln, müssen Unterschiede in der Symbolbildung gemacht werden. Es gibt abgelebte Symboliken, die beengen und lebens- bzw. entwicklungsunfahig machen, und andere, die neue Horizonte eröffnen. Am Ende von >Sartor Resartus< drückt Carlyle die Hoffnung aus, dass neue Generationen sich neuer, lebenskräftiger Symbole bedienen werden. Auch dieses reformpädagogische Anliegen findet sich im Denken Warburgs wieder; auch für ihn gibt es hilfreiche und gefahrliche Symbolik, die im Rahmen der >Umfangserweiterung< ihre Bedeutung erweist. Die Symbolik wird von Warburg als eine quasi natürliche Erweiterung der Möglichkeiten des Ich oder als eine Zerstörung von >Denkraum< beschrieben. Wurde diese >Umfangserweiterung< bis an die Grenzen der möglichen Erkenntnis qua Lebensform vorangetrieben, dann stellt sich eine Unzufriedenheit mit den herkömmlichen Symbolsystemen ein; Warburg fasst daher in einem Manuskript die Begriffe >Umfangserfüllung< und >Ermüdungserscheinung< zusammen. Die Fragen, die sich, in Anknüpfung an den dynamischen Symbolbegriff Carlyles, fur Warburg aufzufächern beginnen, sind die nach dem Eigenleben der Symbole.

2. Charles Darwin - Theorie der Entwicklung und des animalischen Ausdrucks Während seiner ersten Studienzeit in Florenz stößt Warburg 188811 auf ein Werk, über das er später in sein Tagebuch notiert: »Endlich ein Buch, das mir hilft«. Es handelt sich um Charles Darwins >The Expression of the emotions in Man and Animals«, das 1872 zuerst erschienen war. 1889 kam eine weitere, ergänzte und verbesserte Auflage 12 heraus, die Darwins Sohn Francis bearbeitet und mit weiterem Material seines Vaters ausgestattet hatte. Das Buch Darwins (von dem noch im gleichen Jahr eine deutsche Ausgabe veröffentlicht wurde) hatte und hat bei weitem nicht die Aufmerksamkeit erfahren, mit der man den anderen wesentlichen Schriften zur Entwicklung der Lebewesen, >The origin of species< und >The origin of manAusdruck der Gemütsbewegungen beim Menschen und beim Tiere< schließlich im Herbst 1872 erschien, hatte es sich dem Thema schon mehr als 30 Jahre gewidmet. »Mein erstes Kind wurde am 27. Dezember 1839 geboren, und ich fing da sofort an, mir über das erste Dämmern der verschiedenen Ausdrucksformen, die der Knabe darbot, Notizen zu machen; denn selbst schon in dieser frühen Zeit fühlte ich mich überzeugt, daß die allerkompliziertesten und feinsten Schattierungen des Ausdrucks sämtlich einen allmählichen und natürlichen Ursprung gehabt haben müssen. Im Sommer des folgenden Jahres, 1840, las ich Sir C. Beils wunderbares Werk über den Ausdruck 14 und das erhöhte bedeutend das Interesse, das ich an dem Gegenstand hatte, obgleich ich durchaus nicht mit der Ansicht übereinstimmen konnte, dass verschiedene Muskeln speziell zum Zwecke des Ausdrucks geschaffen worden seien. Von dieser Zeit an widmete ich gelegentlich dem Gegenstande meine Aufmerksamkeit, und zwar sowohl in Bezug auf den Menschen als auch auf die domestizierten Tiere.« 15 Ein erstes Problem ergibt sich bei der Zuordnung von Gefühl einerseits und Ausdruck andererseits. Darwin glaubt, aus der Erfahrung ableiten zu können, welche inneren Zustände durch äußere mimische und gestische Formen ausgedrückt werden. »Daher ist es schwer, mit Sicherheit zu bestimmen, welches die Bewegungen der Züge und des Körpers sind, die gewöhnlich gewisse Seelenzustände charakterisieren. Nichtsdestoweniger sind, wie ich hoffe, einige Zweifel und Schwierigkei13

GAW, S. 99 Gemeint ist hier Charles Bells >Anatomy of Expression von 1806 15 Darwin, Ch., Recollections of the Development of my Mind and Character, London 1887 (deutsch 1959), S. I l l 14

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ten beseitigt worden durch die Beobachtung der kleinen Kinder, der Geisteskranken, der verschiedenen Menschenrassen, von Kunstwerken und endlich der Gesichtsmuskeln unter der galvanischen Behandlung wie sie Dr. Duchenne ausgeführt hat.« 16 Für unseren Zusammenhang ist interessant, dass hier Beispiele aus der Kunst herangezogen werden sollen, um Grundverhältnisse des Ausdrucks von Gefühlen zu verstehen. Werke der Kultur bilden die Grundlage für eine Systematik, die später bei Warburg zur Erklärung von Kulturbildungsprozessen nötig wird. In seinem Buch schildert Darwin zunächst Formen von Gestik und Mimik, setzt diese dann in Beziehung zueinander und katalogisiert sie, wobei auch die unterschiedlichen Ausdrucksformen der Menschen verschiedener Kulturkreise Beachtung finden. Danach folgt ein Ableiten des Ausdrucks von Emotionen beim Menschen aus instinktiven Reaktionsmustern des Tieres. Hier kommt ein Problem ins Spiel, das Warburg besonders interessiert haben dürfte, das Problem der Tradierung von Ausdrucksmustern nämlich. Wie und warum erhalten sich bestimmte Formen des Gefühlsausdruckes? Warum erweisen sie sich als adäquat und gehen bei der Abfolge von Generationen in die Instinktausstattung über, so dass wir gefühlsmäßige Regungen und Ausdrucksformen zeigen, die uns beim bewussten, willensgesteuerten Schauspielen nur unter Schwierigkeiten verfügbar sind? Darwin geht von der heute verworfenen These der Vererbung erworbener Eigenschaften aus. Wenn Warburg ihm hierin folgte, dann können wir für seine Theorie annehmen, dass Lernen und intuitive/emotionale Weiterentwicklung nahe zusammenrücken. Dies ist für die später zu diskutierende Vorstellung vom gemeinsamen Erfahrungs-, Reaktions- und Bildreservoir interessant. In der Beschäftigung mit Darwin liegen die Grundlagen für solche Annahmen, die auch über die Theorie der Engramme mit dem Begriff eines »körperlichen Lernens« verbunden werden sollten. Das Bildreservoir, das gleichzeitig eine Reihe von Reaktionsvorschlägen beinhaltet, muss bei weiteren Symbolisierungs- und Kultivierungsprozessen immer mitgedacht werden; noch in den Eintragungen im Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek heißt es: »Ich ging von Darwin und Piderit aus und suchte die Funktion des Gesetzes vom kleinsten Kraftmaaßes aus der mnemischen Dauer (durch die Geschichte) der Engramme höchster Ergriffenheit (die »Antike« ist ein solcher Conservator) darzustellen.«17 Die Instinktausstattung macht aber nicht nur Darstellung von Gefühlen möglich, sondern legt auch die Grundlagen für deren Erkennen. Es scheint sich parallel eine Kompetenz des unmittelbaren Begreifens von fremden Gefühlszuständen herauszubilden, eine Art interpretatorischer Fähigkeit, die nicht durch Analyse von 16

Darwin, Ch., Der Ausdruck der Gefühle beim Menschen und beim Tiere, Düsseldorf 1964, S. 23 17 Karin Michels/Charlotte Schoell-Glass (Hrsg.), Aby Warburg. Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg - mit Einträgen von Gertrud Bing und Fritz Saxl, Band ΥΠ der Gesammelten Schriften, Berlin 2001, S. 123

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Verhaltensdetails gebildet wird, sondern unmittelbar, spontan und emotional, einer Art visueller emotionaler Intelligenz der Gefühlsinterpretation. Uber dieses Phänomen schreibt Darwin: »Es ist mir häufig als eine merkwürdige Thatsache aufgefallen, dass so viele Nuancierungen des Ausdrucks augenblicklich ohne irgend einen bewussten Process der Analyse unsererseits erkannt werden. Ich glaube, niemand kann deutlich einen verdriesslichen und einen schlauen Ausdruck beschreiben; und doch sind viele Beobachter darüber einstimmig, dass diese Ausdrucksformen bei den verschiedenen Menschenrassen zu erkennen sind.« 18 Hier begegnen wir einem Zusammenhang, der sowohl für Warburg als auch für Cassirer eine große Rolle gespielt hat, dem zwischen Darstellung und Interpretation. Auch für kulturelle Wahrnehmung gilt, dass sie auf eigentümliche Art Ausdrucks- und Darstellungsweisen verbindet, so wie mit der Kompetenz, Gefühle auszudrücken auch die Kompetenz entsteht, diesselben zu interpretieren. Wie systematisiert Darwin nun die Entstehung von natürlichen Gefühlsdarstellungen? Hervorzuheben sind dabei vor allem zwei Elemente: die >zweckmäßig assoziierten Gewohnheiten< und das sogenannte >KontrastprinzipKontrastprinzip< andererseits beschreibt die Beobachtung, dass neue Ausdrucksmittel auch als Gegensatz zu schon vorhandenen sich entwickeln können. Darwin erläutert das an verschiedenen physiologischen Details im Verhalten von Hunden, die ihre freundlichen Gebärden als Negativ zu aggressiven Gesten ausbilden, welche wiederum aus Kampfhandlungen entstanden sind. So wedeln sie beispielsweise mit dem Schwanz, weil dies die Negativhandlung zum aggressionsvorbereitenden Einziehen des Schwanzes (der beim Kampf behindern würde) ist. Schon vorhandene Prägungen werden also konterkariert durch neue Gegenprägungen. Es stellt sich dabei die Frage, ob und in welcher Form die ursprünglichen Prägungen erhalten bleiben. Darwin nimmt eine solche Erhaltung wohl nicht an, bei ihm erfährt das Tierverhalten eine Umprägung zur neuen Eindeutigkeit. Ausdrucksverhaltensweisen der Tiere enthalten so nichts, was auf eine gegenteilige Haltung hinweisen könnte; sie sind nicht ambivalent, sondern sie bestätigen ein und dieselbe affektive Situation. 18 19

Darwin, Ch., Gesammelte Werke, Band 7, Stuttgart 1881, S. 368 ders., Der Ausdruck der Gefühle beim Menschen und beim Tiere, a. a. O., S. 37 f.

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Ein Hinweis, der in ganz andere Interessenfelder verweist, sei hier angefügt: Die Prinzipien, mit denen Charles Darwin die Entstehung der Mimik bei Tieren zu erklären versucht, ähneln erstaunlich den Prinzipien der klassischen Etymologie wie sie beispielsweise auch schon in der Dialektik-Schrift des Augustinus entwickelt werden; auch hier gibt es zweckmäßig assoziierte SpracAgewohnheiten und ein Kontrastprinzip, nach dem das Wort als Negativ des ursprünglich gemeinten entwickelt wird. Möglicherweise wäre eine Untersuchung dieser eigenartigen Parallelen wissenschaftlich ergiebig - eine Analyse der Tradition des >Lesens ins GesichternSelbstorganisation< im unmittelbaren (tierisch-menschlichen) Ausdruck ist, dann muss diese Zwiespältigkeit, die Warburg im Symbol nachweisen will, in den Prozessen der natürlichen Entwicklung gleichsam schon angelegt sein. Viele Erkenntnisse und Beobachtungen Darwins finden daher später Eingang in das Manuskript Grundlegende Bruchstücke zu einer pragmatischen Ausdruckskunde/zu einer monistischen Kunstpsychologieapollinisch< und >dionysisch< das periodische Fortleben der Antike in der Kunst der italienischen Renaissance ent20 21 22

GAW, S. 327 Siehe Kapitel EX zitiert nach: GAW, S. 190 f.

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deckt habe.« 23 Auch im Vortrag >Der Eintritt des antikisierenden Idealstils in die Malerei der Frührenaissance< weist Warburg auf diese beiden Begrifflichkeiten hin: »Durch die religionswissenschaftliche Durchforschung des griechisch-römischen Altertums lernen wir [...] mehr und mehr, die Antike gleichsam im Symbol einer Doppelherme von Apollo und Dionysos zu schauen. Das apollinische Ethos wächst mit dem dionysischen Pathos gleichsam als Doppelzweig aus einem Stamme hervor, der in den mysteriösen Tiefen des griechischen Mutterbodens wurzelt.« 24 Spekulation muss bleiben, ob und wie Warburg auch Parallelen zwischen der eigenen psychischen Erkrankung und den Lebenskrisen beziehungsweise der Umnachtung Nietzsches gezogen hat; es wird berichtet, dass das Nietzsche-Bild von Hans Olde in den letzten Jahren nach der Krankheit in Warburgs Zimmer gehangen habe. Inwieweit hat sich Warburg in seiner Theoriebildung vom >Schauen des Dionysos< leiten lassen? - Warburgs Verhältnis zu den phobischen Potentialen der Antike unterschied sich jedenfalls deutlich von dem Nietzsches, auch hier dem Vorbild Burckhardt näher: »Je gründlicher er die Kunst der Renaissance studiert, desto deutlicher und drohender tritt ihm die Wiederbelebung der antiken Pathosformeln entgegen: die Wiedergeburt des Dämonischen, des Saturnischen - fast möchte man sagen, des >DionysischenGeburt der Tragödie< und ließ sich von Nietzsches Ideen für seine Arbeit >Theaterkostüm zu den Intermedien von 1589< beeinflussen. Hierbei ist das 19. Kapitel der >Geburt der Tragödie< besonders von Interesse. In diesem wird bekanntlich die sokratische Kultur zur Kultur der Oper in Beziehung gesetzt. Dargestellt werden soll unter anderem die Entstehung des >stilo rappresentativo< und des Rezitativs, die Nietzsche >aus einer im Wesen des Recitativs mitwirkende(n) ausserkünstlerische(n) Tendenz< erklärt: Das Wort soll nämlich im Gesang vernommen werden können. Es werde so die im Grunde >unkünstlerische Forderung< erhoben, die explizite Botschaft des Wortes verstehen zu wollen. Das Unkünstlerische trete in die Kunst ein, und durch die Kunst erzwinge es die Verwirklichung seiner Wünsche. So trieben unkünstlerische 23

Hillard, G., Herren und Narren der Welt, München 1954, S. 54. >G. Hillard< ist ein Pseudonym von Gustav Steinbömer (1881-1972), Kunsthistoriker, Schriftsteller und Theaterregisseur. 24 Warburg, Α. Μ., Der Eintritt des antikisierenden Idealstils in die Malerei der Frührenaissance, unveröffentlichte Handschrift, Warburg Institute London, S. 75f., hier zitiert nach: Settis, S., Pathos und Ethos, S. 34 25 Maikuma, Y., Der Begriff der Kultur bei Warburg, Nietzsche und Burckhardt, Königstein i.Ts. 1985

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Kräfte die Entwicklung des künstlerischen Fortschritts an. Damit würden aber auch falsche Vorstellungen implementiert, die Vorstellung vom ursprünglichen, einfachen, guten und gleichzeitig künstlerisch kreativen Wesen Mensch, die Vorstellung, der reine Affekt sei im Stande, Kunst zu erschaffen. »Die Voraussetzung der Oper ist ein falscher Glaube über den künstlerischen Process und zwar jener idyllische Glaube, dass eigentlich jeder empfindende Mensch Künstler sei. Im Sinne dieses Glaubens ist die Oper der Ausdruck des Laienthums in der Kunst, das seine Gesetze mit dem heiteren Optimismus des theoretischen Menschen dictiert.« 26 Hieraus erklärt Nietzsche sich die >idyllische Tendenz< der Oper. In der Renaissance habe man die opernhafte Imitation der griechischen Tragödie benutzt, um sich zum Zusammenklang von Natur und Ideal, in eine bukolische und idyllische Landschaft führen zu lassen. Durch das Bedürfnis nach Idylle werde aber die Kunst von ihren wahren Zielen, der »schrecklichen Wahrheit des Lebens< und der Anerkennung der unschließbaren Lücke zwischen Natur und Ideal abgebracht. »[D]em in der Genesis der Oper und im Wesen der durch sie repräsentierten Cultur lauernden Optimismus ist es in beängstigender Schnelligkeit gelungen, die Musik ihrer dionysischen Weltbestimmung zu entkleiden und ihr einen formenspielerischen, vergnüglichen Charakter aufzuprägen: mit welcher Veränderung nur etwa die Metamorphose des aeschyleischen Menschen in den alexandrinischen Heiterkeitsmenschen verglichen werden dürfte.« 27 Aus der deutschen Gegenentwicklung in der Linie Bach-Beethoven-Wagner soll nun aber das rettende Heil kommen, die Wiederherauffuhrung des Dionysischen. Sie bilde musikalisch das Pendant zur deutschen Philosophie, in der Kant und Schopenhauer »die zufriedene Daseinslust der wissenschaftlichen Sokratik durch den Nachweis ihrer Grenzen vernichtet« hätten. Warburg lehnt aber Nietzsches Sicht der Oper als eines Verfallsproduktes der Dekadenz hin zum Apollinischen ab, der angeblich historische Vorgang sei schlicht falsch bewertet: »Wenn Nietzsche doch nur mit den Tatsachen der Völkerkunde und Volkskunde besser vertraut gewesen wäre! Sie hätten selbst für ihn durch ihr spezifisches Gewicht regulierende Kraft fur seinen Traumvogelflug besessen.« 28 Was sind die Gründe für Warburgs Ablehnung? Nicht die Worte oder Musik stünden beim Sinn des Operngeschehens im Mittelpunkt, sondern die Gesamtheit der wirkenden Effektmaschinerie. Nach Warburg findet durch sie gerade eine Wiederbelebung nicht-idyllischer Ausdrucksformen statt. »Eine gewisse Rhetorik der Leidenschaften - je mehr durch antike Vorbilder beglaubigt, desto kühner kann Nietzsche, F., Die Geburt der Tragödie, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, München 19882, Band 1, S. 120 27 Nietzsche, F., Die Geburt der Tragödie, in: Sämtliche Werke, S. 122 28 Pfotenhauer, B., Das Nachleben der Antike. Aby Warburgs Auseinandersetzung mit Nietzsche, in: Nietzsche-Studien, Band 14 (1985), S. 303 26

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sie sein - ist unabdingbar, um sie als Leidenschaften überhaupt erst ausdrückbar zu machen. Deshalb werden solche bewährten Reservoirs von Symbolen immer wieder aktuell.« 29 Dieser Aspekt der Reaktualisierung, Reinterpretation oder Dynamisierung im Umgang mit Kulturdokumenten ist es auch, der das Warburgsche Kulturkonzept abhebt gegen einen Hauptargumentationsstrang in der Kulturauffassung Nietzsches: »Wir gehören einer Zeit an, deren Kultur in Gefahr ist, an den Mitteln der Kultur zugrunde zu gehen« - so beschrieb dieser das Dilemma einer Versteinerung kultureller Verhältnisse, in denen sich immer mehr positive, zu festen Formen gewordene Kulturerzeugnisse gegen lebendige kulturschaffende Kräfte in der Individualität stellen. Georg Simmel hat diese Argumentationslinie in seinem Aufsatz zur »Tragödie der Kultur< weitergezogen. Das Verhältnis von passiver und aktiver beziehungsweise positiver, ausgeformter und kreativer Kultur wird von ihm zwischen den Polen Objekt und Subjekt so gefasst, dass die kulturellen Inhalte paradoxerweise »zwar von Subjekten geschaffen und fur Subjekte bestimmt sind, aber in der Zwischenform der Objektivität, die sie diesseits und jenseits dieser Instanzen annehmen, einer immanenten Entwicklungslogik folgen, und sich damit ihrem Ursprung wie ihrem Zweck entfremden.« 30 Da nach Warburg nur tradiert wird, was persönlich ergriffen und nachgefühlt beziehungsweise in dieser Nachfühlung auf einen Sinnhorizont bezogen werden kann, findet für ihn eine ständige Verflüssigung des festen, objektiven Moments statt. Uberlieferung kann es so nur in einer lebendigen Kultur geben. Trotz unterschiedlicher Schwerpunkte in der Bestimmung der Begrifflichkeiten der Kultur 31 , genoss Nietzsche Warburgs Wertschätzung als >Seismograph< kultureller Strömungen und als Reflektionsmedium des Zeitgeistes und seiner Verarbeitung der Vergangenheit. In einer Notiz aus dem Jahre 1927 werden Nietzsche und Burckhardt als >Narthex-SchwingerAuffänger der mnemischen Wellen< und >sehr empfindliche Seismographen< gewürdigt, »die in ihren Grundfesten beben, wenn sie die Welle empfangen und weitergeben müssen« 32 .

Pfotenhauer, B., Das Nachleben der Antike, S. 305 Simmel, G., Der Begriff und die Tragödie der Kultur, zitiert nach: Konersmann, R. (Hrsg.), Kulturphilosophie, Leipzig 1996, S. 50 31 Ausführlich geht Maikuma auf diese Nuancen ein: Maikuma, Y., Der Begriff der Kultur bei Warburg, Nietzsche und Burckhardt, Königstein/Ts. 1985 32 Notizbuch 1927 zu den Übungen über Jakob Burckhardt, hier zitiert nach Settis, S., Pathos und Ethos, a. a. O., S. 34 29

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V. Entwicklung eigenständiger Methodik

1. Zur Methodik in der Kunstgeschichte Die Entstehimg der Kunstgeschichte als wissenschaftliches Fach wird meist auf die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts datiert und vor allem mit der Gestalt Winckelmanns (1717-1808) verbunden. Es handelt sich also um eine verhältnismäßig junge Disziplin, obwohl sich kunsthistorisches Interesse natürlich schon in der Renaissance, teilweise auch in antiken Reiseberichten und Kunstbetrachtungen feststellen lässt; schon bei Demokrit (460-370 v. Chr.) finden wir eine Beschreibung der historischen Abfolge von Kunstformen und Überlegungen zum Wesen künstlerischer Kreativität. Jüngeren Datums sind die methodologischen Bemühungen im kunstgeschichtlichen Kontext, mit denen sich die Kunstgeschichte von der reinen Bestandsaufnahme und Ordnung von Kunsterlebnissen zur kunstwissenschaftlichen Analyse und Systematik entwickelt hat. Auch für die Kunstgeschichte gilt jedoch das Nietzsche-Wort, dass ein Fach nur so viel Wissenschaft in sich schließt, wie es Methodenbewusstsein enthält. Hier brachte vor allem die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts mit seiner starken Entwicklung der historischen Wissenschaften die entscheidenden Impulse, durch die der vergleichende und beurteilende Connaisseur zum systematisch forschenden Wissenschaftler wurde. Warburg hat diesen Schritt, wie seine Distanz zu bestimmten Aspekten der Burckhardtschen Arbeit zeigt, schon vollbewusst durchgeführt. Welche Bestandteile aus der Methodendiskussion seiner Zeit versuchte Warburg in seinem Ansatz zu integrieren, welche ignorierte er, und wo formulierte er Kritik? Aus seinen persönlichen Aufzeichnungen, wie beispielsweise den Tagebuchnotizen, geht hervor, dass unter anderem die Einbeziehung anderer Wissenschaften (Psychologie, Ethnologie, ...) wie das intensivere Heranziehen auch bisher unbeachteter Quellen (Rechnungsbücher der Medici, astrologische Flugschriften der Lutherzeit, ...) dazu beitragen sollte, die kunstgeschichtliche Arbeit zu einer Wissenschaft im strengen Sinne zu machen. Mit jugendlicher Verve wird das Programm einer Szientifizierung der Kunstgeschichte in einem Brief an die Mutter so beschrieben: »Wir junge Generation von

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Entwicklung eigenständiger Methodik

Kunstforschem wollen die Kunstwissenschaft so weit bringen, dass der, der über Kunst öffentlich redet, ohne sich eigens in sie vertieft zu haben, als ebenso lächerlich gelten soll wie Leute, die sich über Medizin zu reden getrauen, ohne Doctoren zu sein.« 1 Diese Bemerkungen stehen in der Erneuerungstradition, deren Anliegen Moritz Thausing in seiner berühmten Antrittsvorlesung so beschrieb, dass »nicht ästhetische Urtheile, sondern historische Thatsachen« 2 zutage gefördert werden sollten. Warburgs eigene methodologische Bemühungen begannen in einem Umfeld, das von zwei großen kunsttheoretischen Neugründungsversuchen geprägt wurde: erstens dem der Fundierung auf die Psychologie und zweitens dem der Fundierung auf die Soziologie. Während die neue Wissenschaft der Soziologie auf Warburg direkt kaum gewirkt zu haben scheint (trotz des sozialgeschichtlichen Ansatzes von Lamprecht), gilt für die Psychologie das Gegenteil. Allerdings muss hier angemerkt werden, dass sich Warburg oft einer Sprache bedient, die den Eindruck erweckt, es sei ihm auch um soziologische Analyse gegangen; im Kern sind aber immer psychologische oder geistesgeschichtliche Verhältnisse gemeint. Eine wirkliche Verbindung von Soziologie und Kunstgeschichte findet nicht statt, das muss gegen eine bestimmte Tradition der Warburg-Deutung festgehalten werden. Damit ist nicht in Abrede gestellt, dass Warburg sozialgeschichtliche Annäherungen versucht, auf die Rechnungsbücher der Medici und ähnliche Untersuchungsgegenstände würde hier zu Recht verwiesen. Ich gehe aber davon aus, dass die Programmatik Warburgs nicht auf genuin soziologische Probleme zielte, obwohl (dies lässt sich bei der Parallelführung mit Weberschen Arbeiten gut zeigen) viele soziologische Ergebnisse en passant erzeugt und verarbeitet werden. Das Gesagte gilt also ausdrücklich nur für den hier untersuchten methodologisch-kulturtheoretischen Aspekt des Warburgschen Werkes. In den kulturanalytischen Detailuntersuchungen finden sich durchaus soziologisch orientierte Arbeiten, beispielsweise eben zum Mediceer-Kreis oder zu den Wanderungsbewegungen von Kunstwerken im Italien der Renaissance. Die spezifisch Warburgsche Sprachregelung leistete allerdings der Verkennung seiner Arbeit als einer der sozialgeschichtlichen Grundlegung von Kunstgeschichte (wie man sie in den 60er und 70er Jahren finden konnte) Vorschub. Auch dies trug zur problematischen Rezeptionsgeschichte der Warburgschen Werke bei; Warburg wurde unter einseitigem Blickwinkel wiederentdeckt. Landauer beschrieb diese Wiederentdeckung unter dem Einfluss eines kunstgeschichtlichen Paradigmenwechsels von der formalen zur soziologischen Kunstgeschichte seinerzeit so: «The art historical profession until recently was dominated by art 1

Brief v. 3.8.1888, zitiert nach GAW, S. 59 M. Thausing, Die Stellung der Kunstgeschichte als Wissenschaft. Aus einer Antrittsvorlesung an der Wiener Universität im October 1873, zuerst publiziert in: Oesterreichische Rundschau, Mai 1883, hier zitiert nach der BuchveröfFentlichung: Moritz Thausing, Wiener Kunstbriefe, Leipzig 1884, S. 5 2

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historians working in the formal analysis. Consequently, the young turks - for the most part Marxists - have dug deep into the German past to find a hero to set against the prevailing current in art history, and that hero they found in Aby Warburg. But they have made of him too much of a kindred spirit. The magic of his Patborformeln and the parameters of his >cultural-politdcal< analysis have little in common with their social analysis of art.«3 Die Einbeziehung anderer Disziplinen und deren Methoden ist bei Warburg Teil eines Forschungsprogrammes, das über die Sicherung der Methoden und Gegenstandsbereiche der Wissenschaft zu einem Bild des wissenschaftlich tätigen Menschen gelangen will; seine Methodik soll psychologisch abgesichert sein und hat eine anthropologische Perspektive. Was die psychologische Grundlegung der Methodik betrifft, so folgt Warburg damit der Entwicklung seiner Zeit, die den positivistisch-wissenschafidichen Geist auch in Gebieten zum Einsatz bringen wollte, die früher vor ihm ausgeschlossen waren. Dies alles vollzieht sich im Geiste einer >monistischen< Kulturbemühung. Die psychologische Ableitung ist bei Warburg auch Verwissenschaftlichung, die symbolbildenden Willensakte sollen kausal erklärt und eingebunden werden. Die Perspektive ist aber, wie gesagt, eine der quasi philosophischen Anthropologie, der Entwurf eines Menschenbildes: »Das, worauf es letzten Endes bei dieser Art von Geschichtsschreibung ankommt, ist die Erfassung nicht der Objekte, sondern des Menschen, dessen Produkte diese Objekte sind.«4 Die Arbeit, in der sich Warburgs methodische Bemühungen zum ersten Mal deutlich zeigen, ist seine Promotionsschrift über >Sandro Boticellis Geburt der Venns und Frühling< von 1893. Ausgangspunkt sind von Schmarsow gegebene Aufgaben zu den Fresken Masolinos und Masaccios in der Brancacci-Kapelle in Florenz. Mit deren Untersuchung sollen vor allem Neuerungen in der Darstellung von Gestik und Mimik festgehalten werden. Es geht hierbei um die genauere Bestimmung des stilgeschichtlichen Uberganges. Dabei konzentriert sich Warburg auf die Manierismen im Reliefstil des Quattrocento, auf übertrieben und ornamental flatternde Haar- oder Kleidungsdetails. Geklärt werden sollte, wie Motive der Bewegung in Auseinandersetzung mit der Tradition neu gefasst werden: »Es lässt sich nämlich hierbei Schritt für Schritt verfolgen, wie die Künstler und deren Berater in >der Antike< ein gesteigerte äussere Bewegung verlangendes Vorbild sahen und sich an antike Vorbilder anlehnten, wenn es sich um Darstellung äusserlich bewegten Beiwerks - der Gewandung und der Masse - handelte.«5 Diese Details werden dann bei Filippino Lippi und Sandro Boticelli genauer betrachtet, und als Promotionsthema kristallisiert sich schließlich die Behandlung des stilgeschichtlichen Fortschrittspro-

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Landauer, C. H., The survival of antiquity: the German years of the Warburg Institute, New Haven (Diss.) 1984, S. 296 4 Zitiert nach: Grolle, J., Walter Solmitz, a. a. O., S. 16 f. 5 ASW, S. 13

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blems in zwei Gemälden Boticellis heraus, eben in der >Geburt der Venus< und dem >FrühlingEinfuhlung< in seinem Werden als rt/Tbildende Macht darstellen kann.« 6 Halten wir fest: es ist bezeichnend, dass die >EinfiihlungPsychohistoriker< nützlich. Zum Stilproblem muss außerdem bemerkt werden, dass hier zwei Begriffe des Stils unterschieden werden können: Klassisch trennt man den Stil als Wahrnehmungsproblem vom Stil als Produktionsproblem. Bei Warburg ergeben sich die Phänomene des Produktionsstils aus dem Wahrnehmungsstil. Es ergibt sich dabei die Frage, ob eine solche Stilauffassung sich zu anderen (paradigmatisch ist als großer Gegenentwurf oft die Auffassung Wölfflins dargestellt worden) komplementär verhalten könnte. Interessant ist hierzu vielleicht eine Bemerkung Wölfflins in seiner Besprechung von Warburgs >Bildniskunst und florentinisches Bürgertumc »Die Tendenz der W.schen Abhandlung, die Kunstwerke aus dem Leben zu begreifen, wird gerade heutzutage sehr wohltuend empfunden werden.« 8 Wölfflin scheint einerseits den Warburgschen Ansatz als Ergänzung zu eigenen Überlegungen akzeptiert zu haben, andererseits auch die Entwicklungen zu einem Uberdenken der rein formalistischen Analyse mit Einbindung ins >Leben< nicht nur negativ gesehen zu haben. Uberhaupt muss natürlich das Bild von Wölfflin als reinem Formalisten korrigiert werden. Hierzu ist beispielsweise das in der achten Auflage der >Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe beigegebene Nachwort interessant, in dem Wölfflin 6

ebd. (Hervorhebung von Warburg) Ebd. 8 Zitiert nach: ASW,S.611 7

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sich ausdrücklich auch zur Ausdrucksdimension der Kunst äußert. Die schlichte Gegenüberstellung der rein formalen Analyse und der Analyse der ausgedrückten Inhalte subjektiver oder objektiver Art greift hier nicht. Wie Hubert Locher schreibt: »Wölfiflins Kunstgeschichte zielt letztlich auf die Erkenntnis jener geistigen Werteaktiven< wie von der >passiven< Seite her begriffen werden kann, führt also nicht notwendig zu einem unaufhebbaren Gegensatz dieser Elemente. Das Aktive und Passive können im stilbildenden Akt vereinigt werden. Dies ist eine der grundsätzlichen Fragen Warburgs, die in die Entwicklung einer eigenen Methodik einfließen: Mit welchen Mitteln können die Stilanalysen um eine zusätzliche Ebene bereichert werden, die dem Ineinander von Produktions- und Rezeptionsästhetik gerecht wird? An welchen Dokumenten werden die Entwicklungen zu einem stilbildenden Selbstbewusstsein nachvollziehbar und können positivistisch gesichert werden? In der Promotionsschrift sind die Ansätze zu einer solchen methodischen Sicherung noch in den Anfängen; es fällt zwar schon auf, dass schriftliche Zeugnisse und Bildwerke in einen intensiveren und freieren Dialog gebracht werden, aber das hat noch den Charakter des Bemühens um >VollständigkeitDas Reich der VenusFormgefiihls< diesseits und jenseits der Alpen. 10 Siehe dazu: Meier, N., Ernst Heidrich (1880-1914). Zur Grundlegung der Kunstwissenschaft, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Band 25/1 (1980) 11 Goethe, J. W . v., Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil, in: ders., Werke ΧΠ, hrsg. v. E. Trunz, München 1981, S. 3 0 - 3 4

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genommen, da dieser sich antike Szenen mit literarischen Mitteln vergegenwärtigte und Reliefmotive antiken Ursprungs in den Formen der Renaissancelyrik wiederzubeleben und darzustellen suchte. Durch einen Text wird also die Überlieferung von Bildinhalten geschaltet, wobei Polizian (1454-1494) in der Renaissance in dieser Hinsicht eine Schlüsselstellung einnahm: »In Polizian den Berater Botticellis zu sehen, passt auch zu der Uberlieferung, die Polizian als Inspirator Raffaels und Michelangelos gelten lässt.«12 Angelo Ambrogini Poliziano, der Erzieher der Söhne des Lorenzo de' Medici, machte durch seine Interpretation des Homerischen Epos den mythischen Stoff für die Menschen der Renaissance begreif- und darstellbar. Von großer Bedeutung in der Darstellung waren dabei, wie erwähnt, die Elemente der Bewegung. Vor allem die Details im >bewegten Beiwerk< wie Haare oder Kleidung verdeutlichen nach Warburgs Ansicht, ob und wie Künstler das antike Erbe aufgenommen hatten. Die äußere Bewegtheit, die Expressivität in der Bewegung, das waren die >EchtheitszeichenPsychologie oder Philosophie< ist also, wie diese Begriffe jeweils besetzt wurden, vor allem, wie bei jeder dieser ästhetischen Theorien der Begriff des Symbols benutzt wurde. Es wird sich zeigen, dass am Symbolbegriff die genaue Gestalt einer Ästhetik sich entwickelt. Aus der anthropologischen Perspektive Warburgscher Methodik ergibt sich, wie gesagt, ein vorwiegend psychologisches Interesse. Der Mensch, »dessen Produkte diese Objekte sind«, soll nicht begrifflich-abstrakt (wie in der Philosophie) oder als Teil von Gemeinschaftsbezügen (wie in der Soziologie) verstanden werden, sondern in Anlehnung an die Konzepte der Psychologie, die aber in Warburgscher Darstellung eigentlich meistens Einzelbetrachtungen von Fällen liefert, also individualpsychologisch argumentiert. Dies birgt Probleme, da Warburg individualpsychologische Paradigmen übernimmt, wo es ihm um die Beschreibung kollektivpsychologischer Strukturen gehen sollte. Genauso wird er das Subjekt seiner Kulturtheorie als empirisch-individuelles voraussetzen, wo ihm das transzendentale der Neukantianer im Sinne einer homogenen Theorie mehr innere Schlüssigkeit seiner Konzepte gebracht hätte. Individuelle Psychologie sowie empirisches Subjekt 12

ASW, S. 19

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lassen sich dann - wie zu zeigen sein wird - nur noch in der Auffangtheorie vom Gedächtnis harmonisieren. »Indem er den stilgeschichtlichen Ansatz ablehnte bzw. ignorierte, hatte er das Hauptthema der theoretischen Kunstgeschichte umgangen, nämlich das Problem eines einheitlichen Stils als Ausdruck eines >ZeitaltersEinfühlen< integriert. Stil interessiert ihn als Ergebnis von Einfühlung und Nachfiihlung im Kontakt mit künstlerischen Werken, nicht als Perspektive, als Verhältnis zur Welt oder als Wahrnehmungsweise. So kann bei ihm der Stilbegriff auch nicht das Bindeglied zwischen Kunstgeschichte und Philosophie bilden, wie dies in manchen philosophisch strukturierten Ästhetiken der Fall ist. Wie eine gesellschaftliche Schicht der Renaissancezeit ihr Selbstverständnis über symbolische Selbstdarstellungen, aber auch über Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit bildet, zeigt seine Arbeit >Bildniskunst und florentinisches Bürgertum< von 1902. Warburg nähert sich hier über das Thema der Darstellungen und Selbstdarstellungen des florentinischen Renaissance-Patriziats einem Komplex von künstlerischen Ausdrucksproblemen der verschiedensten Art an. Besprochen werden dabei vor allem Porträtmünzen und -gemälde (vor allem ein Bild Ghirlandajos, auf dem neben der Bestätigung der Franziskaner-Ordensregel durch den Papst die wichtigsten Personen der Medici-Familie abgebildet sind) und lebensgroße Votivstatuen aus Wachs. In einer Vorbemerkung stellt er sich in die Nachfolge Jacob Burckhardts und hofft, dessen Arbeiten zur Porträtkunst kulturgeschichtlich ergänzen zu können. Er versucht dabei, die florentinische Renaissance vom Selbstverständnis ihrer herrschenden Schicht her darzustellen. Hinter den künstlerischen Dokumenten sollen die Auftraggeber mentalitätsgeschichtlich und sozialgeschichtlich analysiert werden. Der Tiefenblick des Kunstgeschichtlers soll die Auftragslage und Motivwahl deuten, denn »der Kunstgeschichte hegt für die vergleichende Betrachtung des Verhältnisses zwischen Auftraggeber und Künstler nur einseitig das endgültige Resultat des kunstbildenden Prozesses im Werke selbst vor; von dem Gefühlsaustausch oder Meinungsausgleich zwischen Besteller und ausführendem Künstler dringt nur selten etwas in die Aussenwelt und das undefinierbare überraschend Wahre teilt sich ja auch dem Bildwerk als Geschenk eines unvorhergesehenen glücklichen Augenblicks mit und entzieht sich dadurch meistens dem persönlichen und geschichtlichen Bewußtsein.« Zwischen dem Auftraggeber, der über die Wahl des Motivs und Betimmung des künstlerischen Rahmens schon so intensiv am künstlerischen Prozess beteiligt ist, 13

GAW, S. 419 f.

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dass er für Warburg gleichsam als Mit-Kunstschaffender angesprochen werden kann, und dem eigentlichen Künsder findet also ein >Gefiihlsaustausch< statt. Der Anspruch des Auftraggebers, dem eigenen Selbstbild entsprechend dargestellt zu werden, und die künsderische Intention treffen zusammen. Im Kunstwerk dieses Zusammentreffen analytisch nachzuweisen und die mit ihm verbundenen Spannungen sinnfällig zu machen, das ist auch hier Warburgs Anliegen. Dies gilt ebenso für >Flandrische Kunst und florentinische Frührenaissance< (1902): Ausgangspunkt für Warburgs Überlegungen in dieser Arbeit ist ein kunstgeschichdiches Kuriosum, das vertraute Vorstellungen über >hohe< und >niedrige< Kunst in Frage zu stellen scheint. Es geht dabei um die Tatsache, daß die gebildeten Patrizier der italienischen Renaissance sich aus Nordeuropa Bilderteppiche fur ihre Paläste kommen ließen, d. h. dass in ein von der Kunstgeschichte selbstverständlich als Zentrum des kulturellen Fortschritts betrachtetes Gebiet >rückständige< und gleichsam ländlich-primitive Kunst importiert wurde. Diese Liebhaberei der Renaissance-Italiener für nordische Kunst wird zunächst anhand einiger Bildnisse dargestellt und schließlich einer mentalitäts- und stilgeschichdichen Untersuchimg unterzogen. Uber van Eycks Bildnis der Arnolfinis von 1434 heißt es da: »Dieses rücksichtslos objektive Wunderwerk ist kein auf den Verkauf im Ausland berechneter, dem Geschmack eines etwas verweichlichten Sammlers sich liebenswürdig insinuierender Kunstartikel, sondern wird erzeugt als naturnotwendiger Niederschlag einer Mischung von menschlichen Elementen, die sich durch ihren Gegensatz anziehen; es steht, gleichsam ein Naturprodukt, jenseits von schön und häßlich.« Die menschlichen Erzeugnisse entstehen also mit einer Notwendigkeit, die auch ihren späteren ästhetischen Status beeinflusst, sie sind stilistisch anzusehen als Naturprodukt. Ihre quasi >natürliche< Entstehung verhindert aber nicht eine immanente Spannung und Widersprüchlichkeit. Es finden sich zahlreiche Beispiele für gegenläufige Bildinhalte: Stifterbilder, bei denen sich andachtsvolle Haltung und forscher Blick widersprechen. >>[W]ährend die Hände des Stifters noch das übliche Gebärdenspiel des Selbstvergessenen, schutzflehend aufwärts Blickenden bewahren, richtet sich der Blick schon träumerisch oder beobachtend in irdische Fernen. Die weltzugewandte Persönlichkeit klingt gleichsam übertönig mit, und aus der Mimik des religiös ergriffenen Beters entwickelt sich von selbst die typische Physiognomik des selbstbewußten Zuschauers.« Einer dieser selbstbewussten Zuschauer, die heidnische mit chrisdichen Werten zu konfrontieren im Stande sind, wird in >Francesco Sassettis letztwillige Verfügung< von 1907 vorgeführt. In dieser Schrift zeigt Warburg beispielhaft auf, wie sich ein schon als modern anzusehender Mensch selbstverständlich mittelalterlicher Symbole bedient. Die Ambivalenz der persönlich erworbenen Symbolik und Selbststilisierung wird dargestellt; Francesco Sassetti (1421-1490) verwendet zur Kennzeichnung und Stilisierung eigener Aktivitäten gleichermaßen die chrisdiche Symbolik wie die der

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heidnischen Göttin Fortuna. Am Renaissancekaufmann Sassetti rühmt Warburg einerseits >feine und feste mittelalterliche WurzelfestheitSinn-Bild< gefasst werden. Bei letzterem, beim Symbol als >Sinn-BildIdee in der Form begrenzter Erscheinungsymbolon< von >symballein< - zusammenfügen, zusammenwerfen, zusammenhalten - sei hier kurz erwähnt; auf die Wort- und Begriffsgeschichte kann ich detailliert nicht eingehen. Dazu beispielsweise: Pochat, G., Der Symbolbegriff in der Ästhetik und Kunstwissenschaft, Köln 1983.

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wenn man bedenkt, wie beispielsweise auch bei Hegel das Zeichen den Ausdruckscharakter beliebig zuerteilt bekommt. Diese Beliebigkeit wird später von Philosophen wie Peirce betont, welcher das Symbol als Ergebnis willkürlicher Entscheidung den anderen Zeichen (>icons< und >indicesFernesHöheres< oder >JenseitigesKratylos< diskutiert wird, erhebt sich im dialektischen Bezug von >Jenseitigem< und >Diesseitigem< oder >Abwesendem< und >Anwesendem< die Frage nach dem inneren Darstellungszusammenhang von Erkenntnis und Ausdruck Damit eng verbunden ist die Frage der Bestimmung des Verhältnisses von Zeichen und Symbol. Hegel hatte geschrieben: »In Kunstwerken haben die Völker ihre gehaltreichsten inneren Anschauungen und Vorstellungen niedergelegt, und für das Verständnis der Weisheit und Religion der Nationen macht die Kunst oftmals, und bei manchen Völkern sie allein den Schlüssel aus. Diese Bestimmung hat die Kunst mit Religion und Philosophie gemein, jedoch in der eigenthümlichen Weise, daß sie auch das Höchste sinnlich darstellt, und damit der Natur und ihrer Art der Erscheinung, den Sinnen und der Empfindung näherliegt.« 16 Eine Ausdifferenzierung des Symbolbegriffes ergibt sich nun in der nachhegelianischen Ästhetik unter anderem daraus, dass man das Symbol nicht mehr vom >FernenHöheren< oder >Jenseitigen< her zu begreifen sucht, sondern aus dem Prozess der künstlerischen Symbolbildung heraus. Die Kernfrage ist dann nicht mehr: >Was soll symbolisiert werden?Wer symbolisiert?< Dieses lässt sich noch in >Wer symbolisiert mit welchen Mitteln?< und >Wer symbolisiert mit welchen Zielen?< aufteilen. So kommen der empirische Mensch und seine Werke ins Spiel. Konzentriert sich die kulturphilosophische Aufmerksamkeit auf ihn, fallt jede überzeitliche, allgemeine Instanz der Symbolbildung, wie beispielsweise ein trans15

Hegel, G.W.F., Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil. Die subjektive Logik oder Lehre vom Begriff. Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe, Reprint: Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 59 16 ders., Vorlesungen über Ästhetik. Erster Band. Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe, Reprint: Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, S. 27

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zendentales Subjekt, weg.17 Dafür können die Symbole nach ihrer mehr oder weniger zwingenden Notwendigkeit geordnet werden. Die Perspektive der symbolischen Systematisierung der menschlichen Anschauungs- oder Erscheinungswelt hat Goethe folgendermaßen beschrieben: »Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe.«18

3.1 Notwendigkeit und Beliebigkeit von Symbolen Die angesprochene Ausdifferenzierung der Symbole gründet also in der Auffassung von einer spezifischen Kulturwelt des empirischen Menschen. Er, nicht ein transzendentales Bewusstsein, bildet die Symbole zu seinen Zwecken und mit seinen Mitteln. So gewinnt er ein Bewusstsein der eigenen Kultur und ihrer Deutungsmöglichkeiten. Überraschenderweise liegen Ansatzpunkte für eine solche andere Heuristik des Symbolischen in der Kultur auch schon im Werk Immanuel Kants vor. In seiner >Anthropologie< gibt Kant eine >Lehre vom Bezeichnungsvermögens die verschiedene Zeichenkategorien und deren Funktionen beschreibt. Es handelt sich um den Nukleus einer ganz eigenen Symboltheorie, in der andere Akzente als im sonstigen anthropologischen Ansatz Kants gesetzt werden. Unterschieden wird hier zwischen willkürlichen, natürlichen und Wunderzeichen. Die natürlichen Zeichen können demonstrativ, rememorativ oder prognostisch sein. Mit den rememoratdven Zeichen scheint eine Vermittlung zu späteren kulturphilosophischen Ansätzen, so auch den Warburgschen Auffassungen von einer Deutungskonzeption für historische Symbole, möglich. Als rememorative Zeichen führt Kant Mausoleen und Grabdenkmäler an sowie etwa die Ruinen von Palmyra, Baalbek und Persepolis. Diese sind »sprechende Denkzeichen des Kunstzustandes alter Staaten und traurige Merkmale vom Wechsel aller Dinge.« Auf sie wird menschliche Symbolinterpretation sich richten müssen, wenn ein angemessenes historisches Selbstverständnis entstehen soll. Eine solche Grenzziehung historischen Selbstverständnisses macht eine theoretische Grundlegung der funktionsspezifischen Ausdifferenzierung von Symbolen notwendig, ebenso eine Darstellung der spezifischen Funktionen, die das jeweilige Symbolsystem übernehmen kann. Das Symbol muss funktionalistisch und situativ neu gefasst werden; systematisch verarbeitet Warburg dies in seinem Text vom >Symbolismus als Schwerkraft im geistigen HaushaltLao17

Siehe hierzu Kapitel VI Goethe, J.W. v., Maximen und Reflexionen 1113, in: ders., Artemis-Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, Zürich/Stuttgart 1948 ff. 19 Siehe Kapitel IX 18

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koon< Lessings zurückfuhren. Auch in dieser Schrift wird ja nicht nur diskutiert, welche Kunstgattung für welche Inhalte geeignet sei, sondern auch, welche Symbole in ihr für welche Zwecke verwendet werden können. Für die Ausformulierung der Warburgschen Symboltheorie ist aber die Anknüpfung an Vischer die entscheidende. »Warburg hat sich sein begriffliches Rüstzeug im Studium der psychologischen Ästhetik seiner Zeit erarbeitet, vor allem aber in der Auseinandersetzimg mit der Ästhetik Friedrich Theodor Vischers.«20 Diese Einschätzung Edgar Winds wird bestätigt durch die Warburgschen Lektürenotizen, in denen Vischers Schrift >Das Symbols die ursprünglich in einer Festschrift für Eduard Zeller 1887 enthalten war, immer wieder auftaucht. Vischer unterscheidet drei verschiedene Arten, wie sich Sinn und Bild im Symbol verbinden. Bei der ersten, der >dunkel-verwechselndenlogisch-sondernde< Symbolkonstellation, bei der Zeichen und Bezeichnetes immer noch klar voneinander getrennt werden. Das Symbol ist nicht von magischer Macht erfüllt, sondern ist beschreibbares allegorisches Zeichen. Die letzte Symboldimension steht nun zwischen diesen beiden, sie ist auf einer mittleren Stufe angesiedelt, die Vischer die >vorbehaltende< nennt. An die magische Bedeutung des Bildes wird hier nicht mehr eigentlich geglaubt - und dennoch bleibt der Benutzer von Symbolen ihrer magischen Aura unterschwellig verbunden. Es ist deutlich, wie sehr diese Grundstruktur Warburgsches Denken beeinflusst hat; nicht nur, indem er die Stufen der Symbolisierung zwischen Mythos und Wissenschaft verortet, sondern auch, indem er - wie Vischer - den unmittelbaren Charakter von Erkenntnis im Symbol betont. Warburg setzt damit die Einfühlungstheorie Vischers fort. Bei Vischer ist dieses Einfühlen die >dunkle Symbolik des Gemütsgroßen< Kunst aus dem ursprünglich im einzelnen wirklich geschauten dynamischen Zustandsbild. - Das den neuen Eindruck apperzepierende Erinnerungsbild an allgemeine dynamische Zustände wird später beim Kunstwerk unbewußt als idealisierender Umriß projektiert. - Der künstlerische Manierismus oder Idealismus ist nur ein besonderer Fall des automatischen Reflexes der künstlerischen Einbildungskraft.« 21

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Wind, E., Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft: und seine Bedeutung für die Ästhetik; Vierter Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Beilageheft zur Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 25, 1931, S. 163 21 Warburg, Aby, Gesammelte Schriften, Band I und Π: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. Mit einem Anhang unveröffentlichter Zusätze unter Mitarbeit v. F. Rougemont hrsg. v. G. Bing, Leipzig/Berlin 1932, S. 328

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Warburg bemüht sich, im Symbol die Symbolisierung mitzubegreifen. Das Symbolische wird so zum Umfeld konkreter Zeichenverknüpfung und Sinngebung, es wird zum Milieu der Bedeutungsübertragung. Damit wird auch die endgültige Fesdegung eines symbolischen Kanons ausgeschlossen; die Symbolisierung setzt sich als ständig erneuerter Prozess fort, das Symbol erhält, in Ernst Cassirers Begrifflichkeit ausgedrückt, abwechselnd Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsakzente. 3.2 Symbol bei Aby Warburg und Ernst Cassirer Eine Grundfrage beim Vergleich der Symbolbegriffe ist die, ob die Symbolbildung selbst schon Sinngebimg ist, oder ob sie durch diese erst ermöglicht wird. Für Cassirer wird die Welt im Symbolisieren sinnvoll, fur Warburg kann nur symbolisiert werden, weil wir der Welt schon mit starken Sinnerwartungen entgegentreten. Diese starken Sinnerwartungen sind die Fortentwicklungen der tierischen Bedrohungsannahme, die Warburg von Vignoli übernommen hatte. Das Tier fasst alles zunächst als Bedrohung auf, d.h. es unterlegt allem einen potentiell feindseligen Sinn. Der Mensch entwickelt dies weiter zu einer Sinnerwartung, die ihn vermuten lässt, jedes neu erscheinende Faktum könne einen Lebenssinn oder eine weltanschauliche Neudefinition stiften. Menschen leben vor Sinnhorizonten. Das Symbol hat also bei Warburg einen viel umfassenderen Zweck als bei Cassirer. Dieser Hinweis scheint mir auch deshalb angezeigt, weil in der Forschung vielfach eine übertriebene Engfuhrung der Warburgschen und der Cassirerschen Auffassungen vom Symbol versucht wird. Dabei genügt im Grunde in diesem Zusammenhang der Hinweis darauf, dass Cassirer seine Symbolkonzeption nicht im Austausch mit den Angehörigen des Warburg-Institutes oder gar Warburg selbst entwickelte, sondern vor seinem Zusammentreffen mit diesen. Wie er selbst schreibt: »Die Entwürfe und Vorarbeiten für diesen Band [die >Philosophie der symbolischen FormenUber die Abstraktion< von H. Schmidkunz. In seinem Handexemplar, das sich noch heute im Besitz des Warburg Institute in London befindet, hat Warburg am Rand exzerpiert »Abstraktion logische Verstärkung« und eine Textpassage von Schmidkunz angestrichen, in der ausgeführt wird, dass »diese logische Verstärkung nicht ohne eine gleichzeitige negierende Tätigkeit vor sich gehen kann, so erfahren wir es auch hier: die Kosten jener Verstärkung der Mitbezeichnung zur Bezeichnung muss die ursprüngliche Bedeutung tragen, der Gegenstand des concreten Namens. Er weicht seinem Attribut. Die Seele hat extensiv verloren, was sie intensiv gewann.« Indem die Symbolisierung abstrahiert, richtet sie also die Wahrnehmung des Gegenstandes zu und engt die Verwendungsmöglichkeiten des Symbols auf spezifische Bezeichnungsvorgänge ein. Eine ähnliche Auffassung von der Abstraktion vertritt, wie gezeigt, Thomas Carlyle. Auch bei ihm stellt sich die Abstraktion als ein Schmieden immer weitreichenderer und leichterer Instrumente dar, die schließlich nur noch von Spezialisten fiir spezialistische Zwecke gebraucht werden können. Warburg versucht im Anschluss an Schmidkunz wie an Carlyle (aber auch in Fortführung der Problematik des >Lamprecht-StreitsAllgemeinePsychohistoriker< wiederum sehr angemessen. Das konkrete Subjekt erarbeitet sich seine spezifische Symbolwelt. Notwendig musste Warburg also die 26 aus einem Brief Warburgs an Wilamowitz-Moellendorf von 1924, zitiert nach: Jessinghausen-Lauster, Die Suche nach der symbolischen Form. Der Kreis um die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, Baden-Baden 1985, S. 313

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Frage nach dem Symbolisieren stärker beschäftigen als die Frage nach dem Symbol. Was der Neukantianismus in der Ableitung neuer kategorialer Strukturen versuchte, strebte Warburg auf einer psychologischen Ebene an. Die Fülle der geschichtlichen Details sollte in begrifflicher Systematik gefasst werden durch die Darstellung des geschichtlichen Bewusstseins, dem Warburg glaubt, sich psychologisch annähern zu können. Dem Entwicklungsgang dieses Bewusstseins will er in einer Folge von Symbolbildungen mit unterschiedlichen Intensitäts- und Verbindlichkeitsgraden darstellen; mit Schmidkunz weist er auf den immer indirekteren Gegenstandsbezug hin, was er später unter dem Begriff der >Umfangsbestimmung< zusammenfassen sollte. Grundlage der Symbolisierung ist jedoch stets die Sinnvermutung des Menschen, der die unbelebte und indifferente Außenwelt auf sich bezieht und für sich sinnvoll macht. Diese Sinnkonstruktion will Warburg biologisch-evolutionistisch absichern mit Tito Vignoli und Charles Darwin. Tito Vignoli hatte geschrieben, die Tiere personifizierten alles um sie herum. Warburg korrigiert, dass Tiere nur auf neu eintretende, selbst bewegende Gegenstände personifizierend reagierten. Es müssten bestimmte Voraussetzungen gegeben sein, die den Gegenstand als potentiellen Feind oder potentiell gefährliches Hindernis erscheinen lassen. Orientierung in der natürlichen Welt sowie Orientierung im Kulturkosmos sind schon angelegt in der Deutungsbereitschaft des Tieres. Dem Menschen wird dann evolutionär die Möglichkeit eröffnet, die Grenzen seiner Deutungen weiter hinauszuschieben und jedes Phänomen sinnvoll auf sich zu beziehen. Vom Tier gilt aber noch, dass es »leblos und lebendig unterscheiden, nicht aber in der Lebendigkeit wieder eine Gebundenheit entdecken«27 kann. Mit anderen Worten: Dem Tier fehlt der umfassende Sinnhorizont, die allgemeine Sinnvermutung, die die Grundlage dafür schaffen kann, dass es nicht nur das, was sich direkt auf es zu bewegt, als relevant begreift.

3.4 Symbol als >Umfangsbestimmung< Die Sinnvermutung von Lebewesen fallt bei Warburg mit dem zusammen, was er den >Umfang< nennt. Eine Sammlung von Notizen zum Symbolbegriff und verwandten Problemen überschrieb er mit »Symbolismus aufgefasst als (...) Primäre (..) Umfangsbestimmung«. Obwohl Warburg den Begriff der >Umfangsbestimmung< vermutlich 1891 bei Ziegler in einem Seminar über Kant kennengelernt hat, können wir besser verstehen, was Warburg mit Umfangsbestimmung meinte, wenn wir seinen physiologischen Ansatz erinnern. Das Tier gelangt zu Ausdrucksformen (die den Keim symbolischen Verhaltens darstellen) durch Reaktionen auf scheinbar 27 Notizbuch

Warburg IX 1890, Warburg Institute London

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zielgerichtete feindliche Aktivitäten; es nimmt diese präventiv auch dort wahr, wo sie noch nicht existieren. Dieses >Auf-sich-beziehen< kultiviert der Mensch nun auf besonders ausgeprägte Weise; er bezieht alles auf sich, gibt allem einen ihn betreffenden Sinn. Der Mensch postuliert so Sinn und Bedeutung für jedes Phänomen. Durch eine solche Tätigkeit erweitert und bestimmt er den Umfang seiner Selbstdefinition und der darauf beruhenden Tätigkeiten. So verleibt sich der Mensch gleichsam Aspekte der Welt ein, er verringert den Abstand zu ihnen, bringt sie sich nahe, um im symbolisierenden Akt diesen Abstand als rein geistigen wieder herzustellen: »Durch bewusste subjektive Verkörperung wird die Entfernung wirklich zerstört aber im Geiste als Bewußtsein wieder gewonnen, das Entfernungsbewußtsein setzt sich im Gehirn als Gedächtnis ab...« 28 An anderer Stelle beschreibt er diesen Vorgang als »Verlust des Persönlichen Identitätsgefühls [organisches Ich] durch anorganische räumliche Ausdehnung/Aneignung.«29

3.5 Der >Umfang< des Menschen: sein Kosmos Walter Solmitz benutzt hierfür das Bild des Vorschiebens einer Demarkationslinie zwischen Individuum und Nicht-Individuum. Zum >Umfang< des Menschen gehören nach und nach all die Bereiche des Wissens, die sich der Mensch affektiv und unmittelbar selbst angeeignet und in Symbole gebracht hat. Dieses Symbolisieren verändert einerseits den Menschen, andererseits schiebt sich die Grenze des Erkannten immer weiter hinaus, so dass am Ende der ganze Kosmos in den Umfang des Menschen gehören kann. Der >Umfang< eines Menschen scheint also den Ausschnitt der Welt zu bezeichnen, den sich der Mensch kulturstiftend und symbolschaffend selbst erobert hat. So weit wie sein Umfang reicht die persönliche Wissensform, die Wissenschaft als Lebensform. Das kulturwissenschaftlich zu untersuchende Detail, die Ornamentik und scheinbar zufällige Einzelheit am künstlerischen Objekt, lässt nun Rückschlüsse auf diesen Umfang zu, zeigt auch, wo der Umfang selbstgeschaffen und wo er einfach übernommen wurde. Es ist nämlich zu unterscheiden zwischen einem offiziellen und einem selbsterworbenem Umfang; kleine Hinweise im Ausdrucksverhalten führen uns buchstäblich immer wieder die realen Umfangsverhältnisse >vor AugenSymbolismus als UmfangsbestimmungUmfang erweiterte

4. Zur Übernahme von Sinnhorizonten im Rahmen der Traditionsbildung Möglich wird ein Hinausschieben des >Umfangs< durch die Annahme von Sinnhorizonten und durch eine grundsätzliche Deutungsbereitschaft des Menschen, mit der beispielsweise auch neue Wissensinhalte in die Lebensform Wissenschaft integriert werden können. Diese Sinnhorizonte, nicht die tradierten Inhalte, sind schließlich auch die wesentliche Klammer der kulturellen Tradierungsprozesse, Lamprechts >strukturelle< kulturwissenschafidiche Weltanschauungen - verwandelt zu Ermöglichungsbedingungen für Kontinuität über alle Epochenbrüche hinweg. Dies wird allerdings oft missverständlich in psychologisierend anmutender Sprache vorgebracht, so beispielsweise wenn es um die Rezeption flandrischer Kunst im Italien der Renaissance geht: »Das eigentlich charakteristische Thema, das die Italiener als flandrisch empfanden, war der >Hieronymus im GehäusFlandrische und florentdnische Kunst im Kreise des Lorenzo Medici< (1901), hier zitiert nach: Diers, M., Warburg aus Briefen, Weinheim 1991

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Der Sinn ist vor der Deutung, Gott vor dem Detail vorhanden. Das ist die >peinliche< Seite Aby Warburgs, ikonologisch unverwendbar und nicht in sauberen kulturwissenschaftlichen Einzelanalysen methodisch auszubeuten: Seine eigene Lebenssinnsuche ließ ihn (vielleicht gegen seinen Willen) das Instrumentarium einer kulturellen Hermeneutik der vorgreifenden Lebenssinn-Annahmen entwerfen. Diese vorgreifenden Orientierungen oder >Umfangserweiterungen< können, gerade weil sie so persönlich und subjektiv sind, Traditionskontinuitäten gewährleisten. Nicht das Abstrakte, von allem Persönlichen Gereinigte, überlebt, sondern das, was qua subjektiver Aneignung, von nachfolgenden Generationen per >Einfuhlung< wieder entdeckt werden kann. Ordnungen des Wissens unter Sinnkonstellationen sind immer subjektiv, aber gerade deswegen zum beruhigenden Uberblick (und zur nachvollziehenden Einfühlung) geeignet.

VI. Unterwegs zu einem Begriff der Kultur

Will man aus philosophischer Sicht beschreiben, welchen Beitrag Aby Warburg zur Weiterentwicklung kulturwissenschaftlicher Begrifflichkeiten geleistet hat, dann muss der Stand der kulturphilosophischen Diskussion seiner Zeit kurz dargestellt werden. Die reflektierteste Form der Debatte um die philosophische Basis der Kulturwissenschaft findet sich zweifellos im Umfeld des Neukantianismus. Hier wird auch eine theoretische Erwägung der methodischen Grundlagen der Kulturwissenschaften versucht, wobei die Abgleichung an naturwissenschafdichen Vorgehensweisen eine wichtige Rolle spielt. Daher möchte ich das kulturphilosophische Denken des Neukantianismus kurz referieren, wobei ich besonders Heinrich Rickert und Wilhelm Windelband Aufmerksamkeit schenke und von ihnen später Verbindungslinien zu Max Weber ziehe. Rickert und Windelband wurden deshalb herausgegriffen, weil sie auch die methodologischen Dimensionen der Wissenschaftstheorie ausdrücklich thematisieren.

1. Neukantianismus - Wert und Methode Der Neukantianismus versucht in seinen späteren Phasen eine transzendentale Begründimg kulturphilosophischer Tätigkeit. Ansätze hierzu finden sich bereits in der Arbeit Friedrich Albert Langes, der, trotz seiner Betonung materialistischer Vorgehensweisen ideale Ordnungsprinzipien als Grundlagen der Kultur einführt, die in den neukantianischen Diskussionen wirkmächtig werden. Diese Wechselwirkung idealistischer und materialistischer Prinzipien, wie sie zum Beispiel in seiner b e schichte des Materialismus< skizziert wird, nimmt bei Lange die Form an, dass er eine >Ergänzung der Wirklichkeit« durch eine vom Menschen >selbst geschaffene Idealwelt< fordert. Seine daraus entwickelte These von der >unseienden Geltung< bildete die Grundlage für den geltungs- und werttheoretischen Ansatz der südwestdeutschen Schule der Neukantianer. In Werburgs bibliografischen Notizen aus der Bonner Zeit findet sich ein Hinweis auf Lange, der zeigt, dass ihm dessen Denken nicht fremd war. 1 Warburg weist hin auf: Lange, Fr. Α., Uber philosophische Bildung, in: >Nord und Südnomothetisch< vorgehen, während Geisteswisseschaften sich einer >idiographischen< Methode zu bedienen haben. Bekannt geworden ist diese Unterteilung wohl vor allem durch die Schrift >Präludien< von Windelband. 5 Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass die Beschäftigung mit Abstracta und Singularia gleichbedeutend nebeneinander gestellt werden konnte. Die Konzentration auf das Einzelne muss transzendentalphilosophisch begründet werden; in Drews' Geschichte der Philosophie wird die Bedeutung des Details und der Detailanalyse bei Windelband treffend dargestellt: »[...] denn gerade in der Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit des Gegenstandes wurzeln alle unsere Interessen und Wertgefuhle, und eben diese sind es, worauf es letzten Endes ankommt.« 6 »Der liebe Gott steckt im Detail« heißt das bei Aby Warburg; nur das Detail, das scheinbar Zufallige und Belanglose öffnet den Blick auf die Wertungsgrund2 Siehe dazu Köhnke, K.Chr., Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt a. M. 1986 3 Geyer, C. F., Einführung in die Philosophie der Kultur, Darmstadt 1994, S. 34 4 In diesem Zusammenhang können die beiden Bezeichnungen meist synonym verwendet werden. 5 Windelband, W., Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie, Freiburg/Tübingen 1884 6 Drews, J., Geschichte der Philosophie, München 1921, S. 33

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lagen, die jedem Geschehen, jeder geschichtlichen oder kulturellen Tatsache, erst Sinn und Zusammenhang verleihen. Der Usenersche Einfluss ist hier natürlich immer mitzudenken, wie Roland Kany ihn in >Mnemosyne als Programm< in einem Vergleich Useners, Benjamins und Warburgs beschrieben hat. Bei Usener ist das historische Detail der Götternamen wichtig, weil die einzelnen Bezeichnungen gegenüber den allgemeinen Begriffen immer auf geschichtlich Älteres zurückweisen. Und der Name kann wiederum in der aufspaltenden Zurückfuhrung auf die Benennung der >Augenblicksgötter< tiefer verstanden werden: »Die ursprünglichste geistige conception konnte nur die auffassung und benennung des einzelwesens oder der einzelnen erscheinung sein. Vor den sonderbegriffen mussten sich die augenblicksbegriffe oder einzelbegriffe geltend machen. Wenn die augenblickliche empfindung dem dinge vor uns, das uns die unmittelbare nähe einer gottheit zu bewusstsein bringt, dem zustand in dem wir uns befinden, der kraftwirkung die uns überrascht, den werth und das vermögen einer gottheit zumisst, dann ist der augenblicksgott empfunden und geschaffen, ...« 7 Die Namen führen als Detailbeschreibungen auf Älteres zurück und erlauben so die Ziehung von Entwicklungslinien, das Einzelne als Einzelnes hilft uns, Regel und Begriff für geschichtliche Dynamik zu finden. Wenn, um zum neukantianischen Zusammenhang zurückzukehren, wie Rickert betont, >Erkennen Werten< ist, und wenn wir nur an den Details feststellen können, dass und wie wir weiten, dann kann sich im erkenntnisrelevanten Sinne eine alte Beziehung der philosophischen Theorie sogar plötzlich auf den Kopf stellen, das Unbedeutende wird bedeutend, das kleinste Tor führt zum Ideenhimmel. Was sind nun die Probleme dieses Begründungsversuches? »Es gilt also, das leitende Prinzip der Begriffe zu finden, deren Inhalt ein Besonderes und Individuelles ist.« 8 Es liegt daher in der Logik des Begründungsbemühens für eine Kulturwissenschaft - obwohl dies von den Neukantianern nicht unbedingt immer so gesehen wurde - , bei der Kunst und ihren Interpretationen anzusetzen. Gerade in der Kunst wird nämlich das Dilemma der Kulturphilosophie, Einzelnes unter einen Begriff bringen zu müssen, in verschärfter Form wirksam. Das Einzelne ist hier >besonders einzelnGeschichte und Naturwissenschafts die Geschichtswissenschaft neuer Prägung habe vor allem den Geschichtsdokumenten 7 Usener, H., Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung, Bonn 1896, S. 280 8 Rickert, H., Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Tübingen 1921 5 , S. 89

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»neues Leben einzuhauchen«. Die Wiederentdeckung direkter realer Präsenz der Dokumente, an die sich methodologische Hoffnungen knüpfen, erinnert sehr an Aby Warburgs Bildpotentiale. Um nun aber die theoretische Klammer zu finden, die es ermöglicht, Besonderheiten, kulturelle, künstlerische oder geschichtliche Details systematisch aufzuschließen, können verschiedene Strategien diskutiert werden. Das Besondere kann beispielsweise als Schnittpunkt mehrerer Mengen von Allgemeinbegriffen vorgestellt werden, eine andere Möglichkeit ist die Formulierung einer hierarchischen Ordnung, beispielsweise der Höherentwicklung, meist vom Besonderen zum Allgemeinen. Diese Höherentwicklung wurde auch von Hermann Usener angenommen, der im Rückgriff auf die Einzelbenennungen der Götter glaubt, frühere Stadien der geistigen Entwicklung festhalten zu können. In dieser Sichtweise ist das Einzelne eben notwendig das Altere, der allgemeine Begriff geschichtlich jünger. Es ist dabei wichtig, festzuhalten, dass der Gegensatz von Einzelnem und Allgemeinem in den hier besprochenen Wissenschaftsfeldern jeweils eine andere Problemstellung meint. Wir haben, beispielsweise bei der Darstellung der von Lamprecht untersuchten geschichtlichen Konstellationen, festgestellt, dass in der Geschichtswissenschaft für das Einzelne das einzelne Ereignis eingesetzt werden kann, während das Allgemeine ein allgemeines geschichtliches Entwicklungsgesetz, eine Regel meint. In der neukantianischen Philosophie wird als Einzelnes eher das Phänomen oder die einzelne sinnliche Wahrnehmung untersucht, während das Allgemeine den Begriff meint. Die anvisierte Kunst- oder Kulturwissenschaft Warburgs versucht diese Ebenen zu verbinden und kommt dadurch in strukturelle Schwierigkeiten, der Kulturbegriff wird so von verschiedenen Seiten stark aufgeladen. Diese Schwierigkeiten bedenkend, kann man die ganze Bemühung, die Mannigfaltigkeiten von Kultur im begrifflichen Rahmen zu fassen, mit guten Gründen als vergeblich beschreiben, wie Paul Tillich dies tat. Er hielt es für »... unmöglich, brauchbare Allgemeinbegriffe von Kulturideen zu entwickeln. Was Religion oder Kunst seien, ist auf dem Wege der Abstraktion nicht zu erfahren: sie vernichtet das Wesentliche, die konkreten Formen, und muß alle noch kommenden Konkretionen außer acht lassen. Jeder kulturwissenschafdiche Allgemeinbegriff ist entweder unbrauchbar, oder er ist ein verhüllter Normbegriff, er ist entweder Umschreibung eines Nichts oder er ist Ausdruck eines Standpunktes.« 9 Im Rahmen neukantianischer Theoriebildung wird die Frage nach der Möglichkeit historischer Erkenntnis besonders dringlich. Um eine solche neue Erkenntnisform gleichberechtigt neben die kantianische, an der Mathematik orientierte, stellen zu können, musste aber die Beziehung zwischen Wissen und Werten geklärt werden. Die Linie führt über Windelband mit seiner Vorstellung von einer

9 Tillich, P., Uber die Idee einer Theologie der Kultur, in: Gesammelte Werke, Band 9 , 1 9 2 1 , S. 1 3 - 3 1

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Geschichtswissenschaft, die zum Erkennen der Wirklichkeit in ihrer Individualität und Besonderheit fähig sein sollte. Diese idiographische Wissensgewinnung wird bei Rickert dann konkretisiert. Er versucht, das transzendentale Bewusstsein methodisch für die Anforderungen der Einzelfacher anschlussfähig zu machen und für jedes dieser Einzelfacher ein adäquates thematisches Bewusstsein in seinen psychischen Formen herauszuarbeiten. Zu beachten ist dabei, dass der strikte Gegensatz zwischen idiographischem und nomothetischem Denken aufgehoben und durch Ubergänge und Zwischenformen ersetzt wird. Es geht hier mehr um einen >relativen Unterschied< zwischen generalisierender und individualisierender Methode. Dies ermöglicht einen Pluralismus in der Methodik und eine Rehabilitierung der fachspezifischen Annäherung. »Weichen in Einzelheiten die verschiedenen Auffassungen auch stark voneinander ab, so gilt doch in der Philosophie der Hauptgedanke, daß bei einer Gliederung der Spezialwissenschaften es vor allem auf die Eigenart des psychischen Seins ankomme, selbst dort für geradezu selbstverständlich, wo wie ζ. B. bei Dilthey, infolge eines stark ausgeprägten historischen Sinnes, die Unbrauchbarkeit der bisher vorhandenen Psychologie zu einer Grundlegung besonders der Geschichtswissenschaft sich herausgestellt hat. Es wird denn eine neue, erst zu schaffende >Psychologie< gefordert.« 10 Nach Rickert (>Der Gegenstand der Erkenntnis·«) basiert die Geschichtswissenschaft auf Geschichtsphilosophie, die Kulturwissenschaft auf Kulturphilosophie. Letztere wiederum muss auf ein System objektiv gültiger oder >transzendenter< Werte gegründet sein: »Kurz, die Einheit und Objektivität der Kulturwissenschaft ist bedingt von der Einheit und Objektivität unseres Kulturbegriffes und diese wiederum von der Einheit und Objektivität der Werte, die wir werten.« 11 Auch in den empirischen Einzelwissenschaften werden also die Probleme und Gegenstände erst aufgrund kultureller Wertmäßigkeiten bestimmt, die Kulturwissenschaften können so in bestimmter Beziehung die Grundlage für die Naturwissenschaften sein. In Frage steht, ob es derselbe eine durchgängige Kulturbegriff ist, mit dessen Hilfe wir die beiden Gruppen von Objekten der Einzelwissenschaften gegeneinander abgrenzen können und der zugleich das Prinzip der historischen oder der individualisierenden Begriffebildung meint. Wir haben es mit einer Einheit von formalem und materialem Einteilungsprinzip bei der Bestimmung der Gegenstände der Natur- und Kulturwissenschaften zu tun. »Für die historische Begriffsbildung liefert der Begriff der Kultur also das Prinzip zur Auswahl des Wesentlichen ebenso, wie der Begriff der Natur als der Wirklichkeit mit Rücksicht auf das Allgemeine dies für die Naturwissenschaften tut. Durch die Werte, die an der Kultur haften, und durch die Beziehung auf sie, wird der Begriff einer darstellbaren historischen Individualität erst konstituiert.« 12 10 11 12

Rickert, H., Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, S. 13 f. ebd., S. 161 ebd., S. 93

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Immer geht es um das Verhältnis von Einzelnem und Gesetz, von Individuellem und Allgemeinem - zwei Arten von Individuellem werden bezeichnet: partikulare Wirklichkeiten und Auffassungen von Wirklichkeiten, die als schon begriffsfähig beschrieben sind. Die Kulturwerte jedenfalls sind allgemein, sie machen aber das Einzelne theorie- und gesetzfähig. »Diese Allgemeinheit der Kulturwerte ist es, welche die individuelle Willkür der geschichtlichen Begriffsbildung beseitigt, und auf der also ihre >Objektivität< beruht. Das historisch Wesentliche darf nicht nur für dieses oder jenes Individuum, sondern es muß für alle bedeutsam sein.« 13 Die Entwicklung und Herausbildung der Kulturwerte findet jedoch nicht unabhängig vom Einmaligen und Individuellen statt, sie muss sich in ständiger Berührung mit diesem vollziehen. Im Rickertschen Theorierahmen ist dies wichtig, da er seinen Werteobjektivismus nur schwer stichhaltig zu begründen vermag und am Ende einen Dezisionismus des Individuellen einführen muss. Außerhalb der Rickertschen Theorie werden durch ein solches Denken aber noch Potentiale frei, die die Auffassung vom Individuellen als Schnittmenge von Allgemeinheiten verabschieden können. Das Einzelne hat ein eigenes originäres Potential gewonnen, das eben diesen Allgemeinheiten zur Manifestation erst verhelfen kann. Uber die Diskussion dieses Verhältnisses kann einer der wesentlichen Problembereiche des Neukantianismus erschlossen werden, der auch die Warburgschen Interessen unmittelbar berührt. Wir haben hier einerseits die erwähnte Frage zu beachten, ob das Einzelne über Kombinationen von Allgemeinem, als Schnittmenge von Allgemeinheiten, dargestellt werden kann. Dies hängt eng mit dem Begriff des Subjektes zusammen, das sich solche Einzelheiten deutet und sie >sinnvoll machtdynamisch< oder nicht? Der Blick auf die Geschichte zerschlägt die transzendentalen Gewissheiten; Warburg hat das Echo dieses Schlages deutlich wahrgenommen, aber auch der von den historischen Relativierern geschmähte Neukantianismus hatte sich den mit ihm verbundenen Unsicherheiten und Bedrohungen schon ausgesetzt und das Individuelle zu denken versucht, als Wirkliches und im letzten Sinne Ungreifbares: »Solange man überhaupt noch eine Wirklichkeit vor sich hat, die mit den uns bekannten Wirklichkeiten unter einen Begriff gebracht werden kann, muß man sie wie jede Wirklichkeit als heterogenes Kontinuum, also als durch begriffliche Erkenntnis prinzipiell unerschöpflich voraussetzen.« 15 Zu fragen wäre aber, inwieweit diese Anerkennung der Unausschöpflichkeit von Wirklichkeitsstrukturen nur ein Lippenbekenntnis bleiben musste, das die formalistischen Schwächen eines neukantianischen Ansatzes nicht berührt. Die Gegebenheit des Wirklichen im individuellen Weltzugang bleibt das große Problem. »Die Frage nach der Faktizität des Subjekts paßte in das Konzept des kulturphilosophischen Idealismus nicht hinein«, schreibt Gert Wolandt in »Idealismus und Faktizität, einer Aufarbeitung der Grenzen des neukantianischen kulturphilosophischen Versuchs.16 Und nach wie vor entscheidet sich die Tragfähigkeit jedes kulturphilosophischen Projekts an der Subjekt-Frage. Es ist von besonderer Tragik, dass im Falle Aby Warburgs diese theoretische Anforderung in einer sehr persönlichen Weise dramatisiert wurde. Wie später vielleicht noch deutlich werden wird, muss man vermuten, dass in entscheidenden Augenblicken bei der Warburgschen Reflexion über diesen Problemkreis die Notwendigkeit eines Mittelpunkt-Subjekts der Kulturtheorie individuell zugespitzt dazu geführt hat, dass Warburg quasi sich selbst in die Leerstelle einrücken lässt, gleichsam als Dummy für den kulturphilosophischen Selbstversuch. Wenn Ernst H. Gombrich schreibt, dass Warburg die Aneignimg, Nutzbarmachung und Umwandlung des Bildungsgutes aus dem 19. Jahrhundert als ein sehr persönliches Projekt betrieb (»Er vollzog diese Umschmelzung im Feuer seiner eigenen seelischen Leiden und Leidenschaften«16"), dann gilt dies auch für den leidenschaftlich persönlichen Versuch, ein Subjekt der kulturellen Betrachtung zu bestimmen, einen Mittelpunkt des Kulturkosmos. Unausgesprochen ist er selbst nämlich der Mittelpunkt aller Aneignungs-, aller Reaktualisierungs-, und Dynami15

Rickert, H., Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, S. 138 Wolandt, G., Idealismus und Faktizität, Berlin/New York 1971, S. VI 16a GAW, S. 10 16

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sierungsprozesse. Die objektiven Anforderungen an das Subjekt in der Kulturphilosophie müssen schon hoch sein, die von Warburg auf sich selbst gerichteten mussten ihn zerreißen. Für den Neukantianismus wäre auf der theoretischen Ebene eine stärkere Beachtung der Faktizität und ein Betonen der Werke der Kultur (statt ihrer kategorialen Verständnis- und Entstehensbedingungen) möglich gewesen, wenn die Nähe von Kultur- und Geisteswissenschaften akzeptiert worden wäre. Das Absehen von den einzelnen Kulturzeugnissen und ihre Reduktion auf Objekte eines transzendenten Kultursubjekts führte jedoch notwendig in den Szientismus. Für die Geisteswissenschaften schlug Wilhelm Dilthey eine umfangreiche methodische Grundlegung vor, die gerade das historisch Singuläre zu integrieren sich bemühte. Aber schon der Terminus >Geisteswissenschaften< war für die Neukantianer nicht akzeptabel, da er mit einer zu starken Betonung der seelischen Qualität eine psychologische Analyse vorzubereiten schien.17 Durch die Diltheyschen Anregungen hätten möglicherweise Blockaden im Neukantianismus durchlässiger werden können, die sich so bis hin zu Emst Cassirer erhielten. Warburg hat sich mit Dilthey wohl schon frühzeitig auseinandergesetzt und ihn immer wieder im Laufe seines Lebens herangezogen. So vermerkt er auch noch im Jahr 1928 im Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek »Im Dilthey gelesen« und schließt daran Notizen über die Dynamik des Symbols an 18 . Er scheint Diltheys möglichen Stellenwert in diesem Zusammenhang der Historisierung neukantianischer Kategorien immer wieder sehr wohl erkannt zu haben 19 .

2. Max Weber - Wert, Methode und Dynamisierung Uber die Orientierung Max Webers an der neukantianischen Theorienkonstellation und besonders der Rickertschen Werttheorie besteht in der Forschung mittlerweile Konsens. Es ist hierzu nur beispielsweise auf die Arbeiten Wagners 20 , Oakes' 21 oder Nussers22 zu verweisen. Letzterer zeigt mit wünschenswerter Deut17 Siehe dazu Perpeet, W., >Kulturphilosophiedas Einzelne< und >die Gesetzmäßigkeit« aber in einen indirekteren, vermitteiteren Zusammenhang. Der wertsetzende Mensch als empirisches, individuelles Bewusstseinssubjekt rückt bei ihm stärker in den Mittelpunkt. Dazu trennt Weber die erfahrungsweltliche Forschung, die das empirische Material liefert, noch mehr von den sinngebenden Werturteilen idealer Art und arbeitet diese Trennung in der Methodik aus. In Webers Denken wird die Beziehung zwischen Einzelnem und Allgemeinem als Grundproblem sozialwissenschaftlicher Objektivität beispielsweise im Hiatus zwischen Einzelwahrnehmung und Gesamtbegriff gespiegelt. »Weber begreift dieses Problem als Frage nach dem Verhältnis zwischen Begriffebildung und Erfahrung, dem Zusammenhang von Wissen auf der einen und Wirklichkeit auf der anderen Seite. Wie können wir von den Gegenständen unserer Wahrnehmung Begriffe bilden und als gültig ausweisen in Anbetracht der unendlichen Vielfältigkeit, in der wir sowohl das menschliche Handeln als auch seine Produkte erfahren?«25 Denn die Wirklichkeit ist bei Max Weber als eine unausschöpflich irrationale Erlebniswelt gedacht, das nicht endgültig in deutliche Begriffe gefasst werden kann. Das Konkrete kann in der Abstraktion nie restlos abgebildet werden. »Wie bei jeder generalisierenden Wissenschaft bedingt die Eigenart ihrer Abstraktionen es, daß ihre Begriffe gegenüber der konkreten Realität des Historischen relativ inhaltsleer sein müssen. Was sie dafür zu bieten hat, ist gesteigerte Eindeutigkeit der Begriffe« heißt es beispielsweise in den >Methodischen Grundlagen der Soziologie< von 1921.26 Webersche Unausschöpflichkeit des Wirklichen ist ein weiterer deut-

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Nusser, K.-H., Kausale Prozesse und sinnerfassende Vernunft, a. a. O., S. 25 Schelting, A v., Die logische Theorie der historischen Kulturwissenschaft von Max Weber und im besonderen sein Begriff des Idealtypus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 49, S. 623-752 25 Oakes, G., Die Grenzen kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung, a. a. O., S. 16 26 Erstveröffentlichung in >Grundriß der Sozialökonomikallgemeiner< das Problem ist (...), d. h. aber hier: je weittragender seine Kulturbedeutung, desto weniger es einer eindeutigen Beantwortung aus dem Material des Erfahrungswissens heraus zugänglich [ist], desto mehr spielen die letzten höchst persönlichen Axiome des Glaubens und der Wertideen hinein (...) und daß also die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken, die Anderen ebenso heilig sind wie uns die unseren.« 29

Ges. Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Marianne Weber, Tübingen 1922, S. 503-523 27 Oakes, G., Die Grenzen kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung, a. a. O., S. 34 28 ebd., S. 34/35 29 Weber, M., Soziologie - universalgeschichtliche Analysen - Politik, hrsg, v. J. Winckelmann, Stuttgart 1973 5 , S. 192 f.

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Weber bringt damit eine Ansicht zum Ausdruck, die Ortega y Gasset später so formulierte: »Die Glaubensüberzeugungen bilden die Grundlage, und zwar die tiefste, füir die Architektonik unseres Lebens.« Eine solche Position unterscheidet sich deutlich von der des Rickertschen Wertobjektivismus. Sie ist dabei zweifellos in Gefahr, subjektive Wertsetzungsallmacht bis hin zu einer beliebigen definitorischen Entscheidungsgewalt zu verabsolutieren. Verschiedene Weltbilder konkurrieren gleichberechtigt miteinander; einen übergeordneten Rahmen, eine Gewichtung der einzelnen Positionen nach ihrer Bedeutung, kann es dann in der Konsequenz nicht geben. Wie wird bei Weber ein kompletter Relativismus vermieden? Zunächst einmal durch eine Begrenzung der menschlichen Sinngebungsmöglichkeiten und ein Herauspräparieren der eigentlich wissenschaftlichen Sphäre. »Daß aus alledem kein Relativismus folgt, hängt mit jenem »systematic turn< zusammen, in dem Rickerts System der Weltanschauung durch eine Systematik der Weltdeutungen ersetzt wird, die für alle Denk-, Kultur-, Sach-, Wert- und Lebensgebiete gleichartig sein muß. Sowohl Fragen des Geldwesens und der Musik, der Theodizee wie der politischen und bürokratischen Herrschaftsformen, des Rechts und der Agrarsiedlungen, der politischen Ökonomie wie der Ethik der Weltreligionen stehen unter dem gleichen methodologischen Index. Nach ihm reicht >Wissenschaft* nur so weit, aber dann auch wirklich so weit, als das systematisch-logische methodische Element reicht, die Empirie umgreift, und die Ordnung der Vernunft dem Chaos, dem Gewühl, der Mannigfaltigkeit der Welt entreißt.« 30 Die weltanschaulichen Ausgangspositionen bleiben demnach unvermittelbar, sie bilden aber die Grundlage eines wissenschaftlichen Geistes, der sich - methodisch - in stets gleicher Weise mit spezifischen Mitteln formiert. Und diese Mittel sind systematisch vergleichbar, weil strukturell verwandt. Um trotz der grundsätzlichen These von den unterschiedlichen Glaubenspositionen einen Rationalitätsbegriff entwickeln zu können, baut er ein mehrstufiges Modell der Rationalitätsformen auf. In diesem Modell unterscheidet er zwischen praktischer, theoretischer, materialer und formaler Rationalität.31 Besonders folgenreich ist dabei die Bestimmung des Verhältnisses zwischen praktischer und theoretischer Rationalität. Die praktische Form ergibt sich daraus, dass Menschen pragmatisch ihre Ziele verfolgen und Mittel-Zweck-Kalkulationen im Eigeninteresse anstellen. Die theoretische Rationalität kennzeichnet die bewusste Formalisierung und Logifizierung des gesamten Lebens, den Aufbau von abstrakten Begrifflichkeiten im interpersonellen Bereich. Abgelehnt wird allerdings eine durchgehende Entwicklungskonzeption, die die Vermittlung der letzten Wertungsgrundlagen aufgrund eines idealen selbstaufGeyer, C. F., Einführung in die Philosophie der Kultur, a. a. O., S. 43 Siehe hierzu beispielsweise Sprondel, W. M., C. Seyfarth (Hrsg.), Max Weber und die Rationalisierung sozialen Handelns, Stuttgart 1982 30

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geklärten Bewusstseins leisten zu können glaubt. Es gibt bei Weber keine notwendige stetige Höherentwicklung oder Aufklärung, auch nicht hinsichtlich der letztendlichen Klärung der rationalen Methoden. »Weber hatte keine einfache Rationalisierungsthese, welche die geschichtlichen Perioden mit der Moderne in der Art der älteren und neueren Entwicklungsgeschichte seiner Lehrer und Altersgenossen verband. Er modifizierte die herkömmlichen Vorstellungen eines geradlinigen Fortschritts dadurch, dass er die soziokulturelle Evolution als Rationalisierung entlang mehrerer Dimensionen und in mehreren Richtungen betrachtete. Gleichzeitig wies er die >wissenschaftliche< Entwicklungstheorie seiner Altersgenossen zurück, welche auf der Anwendung historischer Gesetze beruhte.« 32 Webers Kulturauffassung ist demnach im letzten, metaphysisch orientierten Sinne »unsystematischer·«, gewinnt aber im Vergleich zu den neukantianischen Positionen an Dynamik und Handlungsbezug: >»Kultur< ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens (...) Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist nicht etwa, daß wir eine bestimmte oder überhaupt irgendeine Kultur wertvoll finden, sondern daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen. Welches immer dieser Sinn sein mag, er wird dazu führen, daß wir im Leben bestimmte Erscheinungen des menschlichen Zusammenseins aus ihr heraus beurteilen, zu ihnen als bedeutsam (positiv oder negativ) Stellung nehmen.« 33 Wie der Wissenschaftler durch die wissenschaftliche Methodik als solcher erst kenntlich wird, so der Kulturmensch durch seine sinngebende und damit kulturstiftende Aktivität. Interessant ist hierbei, dass Wert- und Zweckdimension nicht strikt getrennt werden, sondern im Verständnis Webers der Zugang zur ersten nur über die zweite erfolgen kann. Ein Ergebnis dieser sinn- und kulturstiftenden Aktivität, die aus den historischen und psychologischen Gegebenheiten der Zwecksetzung des Individuums heraus entsteht, wird von Weber in seinem berühmten Aufsatz >Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus< expliziert. Hier zeigt Weber, wie rationale Methoden entwickelt werden, damit wirtschaftliche Rationalität Form gewinnt, nicht weil diese einen Wert zuerteilt bekam, sondern weil religiöse Antriebe Menschen bewegten, der Welt einen bestimmten Sinn zu verleihen. Indem sie diesem Sinn entsprechend handelten, schufen sie die Voraussetzung wirtschaftlicher Rationalität und Produktivität, den modernen Kapitalismus. Die Schrift, in der dies entwickelt wurde, kannte Warburg und sah sie als seinen Bemühungen wesensverwandt an. >Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus< war eine Abhandlung, »deren allgemeine Bedeutung und deren besonderen Stellenwert auch für die eigene Forschung Warburg umgehend erkannt 32

Roth, G., Politische Herrschaft und persönliche Freiheit - Heidelberger Max Weber-Vorlesungen 1983, Frankfurt am Main 1987, S. 284 33 Weber, M., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968, S. 180f.

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zu haben scheint.«34 In seinem Tagebuch heißt es auch entsprechend: »lese d. prachtvollen Aufsatz v. Max Weber, Prot. Ethik u. Geist d. Kapitalismus. - Den [Mann] müßte man für Hamburg haben. Dadurch wieder Mut zum Glauben an meinen Sassetti-Aufs. Weil die Problemstellung ähnlich: d. traditionelle (>innerweldich asketische·«) Gefühlsleben als Causalität d. neuen selbstvertrauenden Weltzugewandtheitf.] D. leidenschaftliche Hängen am Alten bedingt [/] leitet über zu einer bedingungslosen Identification mit d. Neuen nach einem krisenzwiespaltbewußten Uebergangszustand [oder: -Zeitalter?].«35 Warburg sah also in Weber einen Bundesgenossen. Die Art und Weise, wie dieser durch die Untersuchimg der strukturellen Rolle mentalitätsgeschichdicher Konstellationen bei der Herausbildung von Wirtschafts- und Herrschaftsformen das geschichtliche Material neu ordnete, war für ihn äußerst fruchtbar. Warburg wurde hier mit einer Denkweise konfrontiert, die einerseits Soziologie und Psychologie verband, andererseits eine Systematik verschiedener Bewusstseinsformen und Rationalitätstypen versuchte. Die Modelle, die sich im Vergleich zwischen dem Neukantianismus und Weber gegenüberstanden, waren das eines Kulturwerte bildenden transzendentalen Bewusstseins gegen das eines handlungsorientierten Realbewusstseins, das entsprechend seiner bedürfhisorientierten Zwecksetzung Werte schafft und der Welt einen Sinn verleiht, der, wiederum bei Herausbildung binnenrationaler Methodik, orientierender Leitfaden für nachfolgende Generationen werden kann. Diese beiden Haltungen korrespondieren jeweils mit einer bestimmten Einschätzung des Verhältnisses von Theorie und Detail. Gefragt werden muss nun im Weiteren, welchem Paradigma Warburg mit seiner Theorie-Detail-Auffassung näher steht. In der neukantianischen Theorie, die in vielerlei Hinsicht mit Cassirer ihren Höhepunkt erreicht, bleiben wesendichen Fragen der Beziehung zwischen dem transzendentalen Subjekt und der empirischen Subjektivität, die als Grundlage des Kreativen in der Kunst gedacht wird, letztlich ungeklärt. Das Movens der Kreativität - einer Kreativität, die sich am Gegebenen, an der geschichtlichen Uberlieferung immer wieder entzünden kann - ist aber eines der zentralen Interessengebiete Werburgs. Die Forschungen über das >Fordeben der Antike< werden zum Hintergrund eines Theorieansatzes, der gegebene Sinnhorizonte und Innovation im kreativen Prozess zusammenzudenken versucht. Der Schutzengel, der dieses prekäre Zusammentreffen behüten und ermöglichen soll, hat die Gestalt einer griechischen Göttin, der Göttin der Erinnerung - Mnemosyne.

Diers, M., Warburg aus Briefen, Weinheim 1991, a. a. O., S. 94 Tagebuch v. 25.3.1907, Anmerkungen in eckiger Klammer von M. Diers, siehe Anm. 34 34 35

VII. Die rettende Mnemosyne? Gedächtnis der Kultur

Zur philosophischen Theorie des Gedächtnisses gehört - neben vielen anderen Aspekten - die Komponente des >ungerichteten< Erinnerns, eines unterschiedslosen und nicht wertenden Speicherns von Eindrücken und Informationen. Ebenso können Details in Lebensentwürfen, Weltanschauungen oder unbestimmtere Verweise auf sinngebende Horizonte als Ergebnis geschichtlicher Erfahrung memoriert werden, ohne dass sie zu bestimmten Zwecken interpretiert oder angeordnet sein müssten. Erinnerung kann Widersprüchliches aufbewahren, ohne inhaltliche Differenzen oder Konflikte akut werden zu lassen. Andererseits zeigt sich bei einer Analyse der Funktionen des Gedächtnisses aber auch eine Tendenz zum nachträglichen Strukturieren und Deuten des Disparaten. Dieses Fähigkeit des Gedächtnisses, Vergangenes so umzustellen und neu zu interpretieren, dass es sich mit unserem Selbstverständnis und unserer Moralauffassung besser verträgt, hat Nietzsche im Bild eines Kampfes festgehalten. Es ist der Kampf zwischen Gedächtnis und Selbstachtung, der solange ausgefochten wird - bis das Gedächtnis nachgibt. Und schließlich gibt es die beunruhigende und verwirrende Dimension eines Erinnerns, das nie ganz lückenlos mit der Wunschvergangenheit, den Anforderungen der Gegenwart oder den Erwartungen der Zukunft sich verrechnen lässt und einen Appellcharakter zur ständigen Neubewertung mit sich führt. Es ist verständlich, warum Konzeptionen der Erinnerung als Brückentheorien benutzt werden, wenn sich die Kulturphilosophie vor das Problem gestellt sieht, kontingente Details der kunstgeschichtlichen Forschimg in einen methodisch durchstrukturierten kulturwissenschaftlichen Problemzusammenhang zu integrieren. Dies birgt aber die Gefahr, dass man über eine Gedächtnistheorie Unvereinbarkeiten zusammenspannt, die theoretisch konsequent gar nicht vermittelt werden können. Im Gedächtnis kann unter Umständen Widersprüchliches problemlos koexistieren, in einer Gedächtnistheorie darf das nicht so sein, sonst wird sie zu einer >Art Auffangstellung aller RätselZeitBilder< seine Kritik an C. G. Jung und verwandten Denkern auf den Begriff bringt.1 1

Gehlen, Α., Zeitbilder, Frankfurt a. M. 1960, S. 163

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Die rettende Mnemosyne? - Gedächtnis der Kultur

In diesem Kapitel zur Theorie des Gedächtnisses und seiner Rolle für die Kulturphilosophie gebe ich bei der Erörterung der Erinnerung zunächst einen Exkurs zu Walter Benjamin, der eine Gedächtnistheorie entwickelte, die in vielem Werburgs Denken nahe kommt. Benjamin war sich einer gewissen Nähe in Bezug auf Forschungsinteressen und -ansätze bewusst und verfolgte die Arbeit Werburgs und seines Instituts mit Hochachtung. Dass Walter Benjamin von der Person Warburgs beeindruckt war, zeigt beispielsweise die Bemerkung in seinem Aufsatz >Johann Heinrich BachofenUrsprung des deutschen Trauerspiels< erfolgte: »Er war der festen Überzeugung, daß Kunstwissenschaftler wie Erwin Panofsky und Fritz Saxl interessierte Leser des Trauerspiel-Buchs hätten sein müssen. Und das nicht nur allein deshalb, weil er deren Monographie über Dürers Melencolia3 in seiner Untersuchung gebührend gewürdigt hatte. Vielmehr nahm er Gemeinsamkeiten in der ganzen Denkweise und Forschungshaltung an, die solches Interesse auch von der Sache her begründet hätten.« 4 Eine offizielle Reaktion des Instituts blieb aber aus. Warburg jedenfalls kannte das Werk, denn er schenkte Fritz Saxl eine Ausgabe mit Widmung. Rezensiert wurde es allerdings von Warburg oder seinen Mitarbeitern nicht, obwohl Hugo von Hoffmannsthal das Trauerspielbuch bei Erscheinen mit einer Empfehlung an Erwin Panofsky geschickt hatte. Wie berechtigt war Benjamins Annahme von Gemeinsamkeiten also, und welche inhaltlichen Ubereinstimmungen in den Forschungsprogrammen gab es? Es ist für den methodologischen Aspekt unserer Fragestellung von Belang, dass Benjamin durch die Methodenorthodoxie der Literaturwissenschaft seiner Zeit abgestoßen war. Wolfgang Kemp führte aus, wie Benjamin notwendigerweise in die kunsttheoretische Diskussion involviert werden musste, da »... Interdisziplinarität, für Benjamin unabdingbare Wegmarke jeder Forschung, einen methodisch ge-

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Benjamin, W., Johann Jakob Bachofen, zitiert nach: Text + Kritik, Heft 31/32, 1971,

S. 32 3

Siehe dazu: Klibansky, R. u.a., Saturn und Melancholie - Studien zur Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt am Main 1992 4 Brodersen, M., >Wenn Ihnen die Arbeit des Interesses wert erscheint« - Walter Benjamin und das Warburg-Institut: einige Dokumente, in: Bredekamp, H., u.a., Aby Warburg - Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990, Weinheim 1991, S. 88

Die rettende Mnemosyne? - Gedächtnis der Kultur

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sicherten Platz nur in der Kunstwissenschaft hatte.« 5 Ob man wirklich von einem >methodisch gesicherten Platz< reden kann, sei dahingestellt; gerade der Methodenpluralismus der Warburg-Schule muss jedenfalls für Benjamin hohe Anziehungskraft besessen haben. Für die Warburgianer war es selbstverständlich, dass Literaturwissenschaft, Philosophie, Geschichte, Psychologie und Kunstgeschichte sich gegenseitig zu befruchten hätten. Dieser weite Methodenbegriff korrespondierte mit einem bestimmten Verständnis von kollektiver und individueller Erinnerungsleistung in kulturellen Gemeinschaften. Für die Person Warburgs gilt, dass ein wichtiger Anreger seines Interesse für die Probleme, die mit Gedächtnis- und Erinnerungstheorien zusammenhängen, Ewald Hering mit seinem Vortrag >Uber das Gedächtnis als allgemeine Funktion der organisierten MaterieErben< verstanden wird. So wie manchen Vertretern der Evolutionstheorie der Zeit zufolge Informationen zu Uberlebensstrategien ins Erbmaterial übernommen wurden, um der nächsten Generation einen Vorteil zu verschaffen, so sah Warburg eine bestimmte Gestik und Mimik zum Teil des kollektiven Gedächtnisses werden. Der Künstler übernimmt Ausdrucksbewegungen als Impulse aus der Vergangenheit, die Kunst ist somit >soziales ErinnerungsorganPolarisierung< und >Polarität< verwendet. In einer Tagebuchnotiz vom 25. Mai 1907 zu Goethes >Metamorphose der Pflanze< heißt es: »Vor allem sehe ich, daß der von mir als geprägtes Eigentum empfundene Begriff der Polarität auch bei Goethe im Centrum steht. Problem der Renaissance stellt sich dar als energetische Metamorphose des humanen individuellen Selbstgefühls durch Polarisierung, die durch Wiedereinstellung des Erinnerungsbildes an vorzeitlich (antike) geleistete Energiesteigerung hervorgerufen wird - kürzer: Dynamische Polarisierung durch wiederhergestellte Erinnerung.« 6 " 5

Kemp, W., Benjamin und Aby Warburg, in: Kritische Berichte, Jg. 3, Heft 1, 1975, S. 5 f. 6 Hering, E., Uber das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie, Leipzig 19213 6a Zitiert nach GAW, S. 326 (Fußnote), siehe auch GS, Bd. ΥΠ, S. 341

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Goethe ging von der Polarität realentgegengesetzter Kräfte aus; diese >polare Dynamik* betrachtete er als einen grundlegenden Strukturzusammenhang des Kosmos. Besonders deutlich wird dies in seinen Bemerkungen zum Magneten. Er bezeichnete den Magneten als ein >UrphänomenLösung< im Bild, bei Warburg in der >Pathosformek 7 Jürgen Fredel weist mit Recht darauf hin, dass Warburgs Beschäftigung mit Polaritätskonstruktionen sich jedoch aus mehreren Quellen speist: »Zur Ordnung der Pathosformeln benutzte er ein bipolares System, welches unter den Begriffen bios praktikos und bios theoretikos schon Piaton und Aristoteles geläufig war: Die Gebärdensprache von Kampf, Sieg, Triumph, Tod, Opfer, Raub, Klage oder Verfolgung teilte er der >vita activa< zu, während >LagernErgriffen-SeinHingabePolarisierung< statt? Im schon angesprochenen Aufsatz >Francesco Sassettis letztwillige Verfügung< von 1907 sind es weltanschauliche Orientierungen, die sich gegenüberstehen: der mittelalterliche Glaube an eine >harmonia mundi< und die neuheidnische Dynamik des Renaissance-Geschäftslebens. Zwischen ihnen muss ein stabiles Gleichgewicht hergestellt werden, das sich in einem prägnanten Erinnerungsbild ausdrücken kann. Im Folgenden werden die Auffassungen Warburgs und Benjamins zum Thema Gedächtnis verglichen. Dabei soll systematisch in der Engführung der beiden Konzepte, neben der Frage nach dem kollektiven beziehungsweise individuellen Subjekt der Erinnerung, die Unterscheidung zwischen >anamnetisch< und >mnemisch< wichtig werden. Wie bekannt, treffen schon Piaton und Aristoteles die Unterscheidung zwischen einer aktiven Auffassung der Gedächtnisleistung (Anamnesis = bewusstes Zurückholen und Interpretieren) sowie einer passiven Auffassung (Mneme = Speichern, Aufbewahren). Je klarer diese Funktionen getrennt sind, je deutlicher die daraus entstehenden Erkenntnismöglichkeiten beschrieben werden, desto schärfer kann eine Theorie der Erinnerung konturiert werden.

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S. 71

Siehe Kapitel V Barta-Fliedl, I., Chr. Geissmar-Brandi, N. Sato, Rhetorik der Leidenschaften, a. a. O.,

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1. Walter Benjamin Wie stellt Benjamin die Rolle der Erinnerung dar? In seinem Aufsatz >Über das mimetische Vermögen«:9 beschreibt er die Fähigkeit des Menschen, Ähnlichkeiten herzustellen. Dieses mimetische Vermögen, das sich beispielsweise bei Kindern zeige, die »nicht nur Kaufmann oder Lehrer, sondern auch Windmühle und Eisenbahn« spielen, oder bei primitiven Völkern, die Naturgewalten in Tänzen darstellen, dient einerseits dem Erkennen von Ähnlichkeiten in der Natur, das heißt, dem Erkennen sinnvoller Ordnungen und wiederkehrender Strukturen in natürlichen Abläufen. Andererseits bildet es die Grundlage für kulturelle Codes, mit denen die Ähnlichkeiten in Formen gebracht werden können, die immer abstrakter, unsinnlicher, aber auch leistungsfähiger und besser erinnerbar werden. »Die Gabe, Ähnlichkeit zu sehen, die er (der Mensch, B.V.) besitzt, ist nichts als ein Rudiment des ehemals gewaltigen Zwanges, ähnlich zu werden und sich zu verhalten. Vielleicht besitzt er keine höhere Funktion, die nicht entscheidend durch mimetisches Vermögen mitbedingt ist.« 10 Wie der Umgang mit Sprache immer noch auf das urtümliche Nachahmen zurückgeführt werden kann, so kann aber in der Gegenbewegung auch die erste staunende Wahrnehmung von Natürlichem als sinnvoller Keim eines sprachlichen Weltverhaltens, einer Entzifferung der natürlichen Hieroglyphen, eines >Lesens im Buch der Welt< verstanden werden. Die Wahrnehmung in kulturell überformten Symbolsystemen ist dann auch auf die natürliche Welt gerichtet: »Was nie geschrieben wurde, lesen. Dies Lesen ist das älteste: das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen. Später kamen Vermittlungsglieder eines neuen Lesens, Runen und Hieroglyphen in Gebrauch. Die Annahme liegt nahe, dass dies die Stationen wurden, über welche jene mimetische Begabung, die einst das Fundament der okkulten Praxis gewesen ist, in Schrift und Sprache Eingang fand. Dergestalt wäre die Sprache die höchste Stufe des mimetischen Verhaltens und das vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit: ein Medium, in welches ohne Rest die früheren Kräfte mimetischer Hervorbringung und Auffassung hineingewandert sind, bis sie so weit gelangten, die der Magie zu liquidieren.« 11 Walter Benjamin beschreibt die Sprache gleichermaßen als Archiv und als Symbolisierungssystem. Da der Einfluss Carlyles auf Warburg schon erwähnt wurde, dessen »Philosophie der Kleider< im >Sartor Resartus< hier als Schlüsseltext gelten darf, sollte auch ein Hinweis darauf nicht fehlen, dass Benjamin ebenfalls den Kleidern und Moden eine hervorragende Funktion zubilligt. Für das >Passagen-Werk< hatte er eine »Metaphysik der Mode< entworfen. Susanne Buck-Morss fuhrt aus, wie die Kleidung in Benjamins Denken »ganz buchstäblich die Grenze zwischen Subjekt Benjamin, W., Sprache und Geschichte, Stuttgart 1992, S. 91 ff. ebd., S. 94 11 zitiert nach: Buck-Morss, S., Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das Passagenwerk, Frankfurt am Main 1993, S. 323 9

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und Objekt, zwischen Individuum und Kosmos« bildet.12 Auf die geschichtsphilosophische und politisch-ideologische Dimension der Modetheorie Benjamins sei nur kurz hingewiesen: Hier ermöglicht der Scheinwechsel der Modeabfolgen eine Erstarrung der gesellschaftlichen Gesamtsituation, in der es wesentlich keinen Wandel gibt. Da durch die Mode die Illusion von Veränderungen erzeugt wird, beruhigt sich das alltägliche Bewusstsein über die Starrheit der Verhältnisse. »Moden sind ein Medikament, das die verhängnisvollen Wirkungen des Vergessens, im kollektiven Maßstab, kompensieren soll.«13 Kehren wir nun aber zum Problem der Entfaltung von Benjamins Erinnerungstheorie zurück.

Benjamins Anknüpfung an Baudelaire Seine Vorstellungen von Erinnerung entwickelt Walter Benjamin vor allem in der Auseinandersetzung mit Charles Baudelaire. Die Bedeutung Baudelaire für Benjamins Arbeit insgesamt zeigt sich beispielsweise darin, dass die Baudelaire-Notizen ungefähr 20 % des Gesamtmaterials für Benjamins >Passagenwerk< ausmachen. Baudelaire hatte in seiner kunsttheoretischen Schrift >Der Salon von 1846< Erinnerung als Kriterium der gesamten Kunst bezeichnet und von künstlerischer Betätigung als einer »Mnemotechnik des Schönen< gesprochen. Nur im verändernden Vorgang des Erinnerns wird bewahrt, was der Bewahrung wert ist, wird das Wesentliche vom Unwesentlichen getrennt. »Im wiederholten Augenblick steigert sich ein Kunstwerk«, schreibt Benjamin.14 Unterschiedsloses Dokumentieren (wie in der Fotografie) wird kritisch betrachtet. Gerade die gerichtete Auswahl ist von höchster Bedeutung, nicht der simple Realismus. Statt Darstellung einer Summe von Einzelheiten kennzeichnet daher den künstlerischen Prozess die Aussicht auf ein Ganzes, auf einen großen Zusammenhang, der von Baudelaire auch als >Mutteridee< bezeichnet wird, von der her die einzelnen Kunstwerke erst ihren Sinn zuerteilt bekommen. Erkenntnis und Darstellung einer solchen Mutteridee sind aber offenbar immer an die freie Entfaltung menschlicher Subjektivität gekoppelt und nach Baudelaires Auffassung kann diese sich nur in der Erinnerung voll entfalten. Im Hintergrund steht dabei, dass der Künstler als paradigmatisches Beispiel menschlicher Kreativität und Erinnerungsleistung überhaupt behandelt wird. Erst im Rückblick auf seine eigene Geschichte erkennt nach dieser Auffassung das Subjekt sich selbst, nur so wird das umfassende Selbsterlebnis möglich, in dem Künstlertum, ebenso wie wahre menschliche Existenz gründet. Wir brauchen also

ebd., S. 127 Benjamin, W., Passagenwerk V, S. 131 (B 9a, I), in: ders., Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M. 1972 ff. 14 Benjamin, W., Gesammelte Schriften, IV (1), a. a. O., S. 108 12 13

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unsere Erinnerungen als Arbeitsmaterial eben nicht nur in rein stofflicher Hinsicht; im Gegenteil kann die stoffliche, objektivierende Behandlung kreative Kräfte sogar unterdrücken. Das Gedächtnis, so Manfred Koch in seiner Studie zum Erinnerungsbegriff in Romantik und Symbolismus, hat in Baudelaires Kunsttheorie »überhaupt nur Bedeutung, sofern das früher Gesehene und Erlebte darin beweglich und veränderbar im Sinne unendlich vieler Neukombinationen gehalten wird.« 15 Tatsächlich aber, so stellt Benjamin in seiner Auseinandersetzung mit Baudelaire fest, gibt es auch zahllose Aufbewahrungs- und Erinnerungstechniken, die das Zusammenhängende, Organische aufspalten und allenfalls Bruchstücke, Bilder und tote Teile Hinweise auf Vergangenheitstotalität behalten. Gegen solche Techniken muss lebendiges Erinnern sich immer wieder behaupten. In >Über den Ursprung des deutschen Trauerspiels< beschreibt Benjamin den melancholischen Blick auf eine gänzlich von Allegorien überzogene Welt. Die mnemotechnischen Strategien, beispielsweise der Renaissance, hätten so einen durchschlagenden Erfolg erzielt und die Welt in einen Karteikasten mit Bildern und Merkzetteln verwandelt. Uberall sind nun Bildtafeln aufgestellt, Metaphern und Allegorien; alles ist Hinweis und jeder Hinweis wird zum Teil einer visuellen und intellektuellen Bildrhetorik, die im Bezug auf einen spezifischen Sinn argumentiert. Als eine ganz von solchen Argumentationen durchzogene, ist die Welt füir den Menschen nicht mehr frei verfügbar und interpretierbar, eine Totalallegorisierung hat eingesetzt, die Lebendiges verdeckt und erstickt. Tendenziell findet dieser Vorgang der Allegorisierung und symbolischen Versteinerung bei jedem Menschen statt, der erwachsen wird; Benjamin richtet daher ein besonderes Augenmerk auf kindliche Erfahrungswelten, auf die >unverstellte< und >unverstümmelte< natürliche Erkenntnis der frühen Jahre. In der Erinnerung an diese Frühzeit wird es nämlich möglich, die >Sprache der Dinge< neu zu vernehmen. Dass diese Strategie, die individuelle und weltzeitliche Frühphasen parallelisiert, dem romantischen Denken und der >blauen Blume< viel verdankt, ist offensichtlich. Benjamin spricht davon, dass wir in unserer Kindheit noch »an die Dinge gekettet« waren. Dies meint nicht ein Unfreisein, sondern ein Stehen auf dem Boden der Tatsachen, die noch keine durch Taten verdorbenen Sachen waren, sondern sich auf radikale Einsichten bezogen, zu denen die Erwachsenen nicht mehr fähig sind. Erinnerung ist hier Reflexion auf ein noch ganz den ersten Denkakten und Berührungen mit der Dingwelt überlassenes Ich, das sich nicht von der verfugenden und einordnenden Geschäftigkeit der Erwachsenen hat ermüden und einschläfern lassen. Einschläfern deshalb, weil Benjamin für das erwachsene, bewusste Leben paradoxerweise das Bild des Schlafes verwendet, aus dem wir nur im Gedenken erwachen können. » W i r haben«, so schreibt er im >Passagenwerkwir< ist tatsächlich auch so gemeint, dass 15 Koch, M., >Mnemotechnik des Schönen< - Studien zur poetischen Erinnerung in Romantik und Symbolismus, Tübingen 1988, S. 109 16 Benjamin, Passagenwerk V, 1214 f.

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Beschreibungen der individuellen Erwachenssituation auf die Gruppe übertragen werden. Dass diese Gruppe als Lebewesen vorgestellt wird, zeigt eine andere Stelle im >PassagenwerkAu recherche du temps perduMadeleine-Szene< der >Recherche< von Proust wird ja eine Subjektkonturierung durch Erinnerung beschrieben. Dieser Prozess der Bestimmung des Subjekts beinhaltet aber auch, dass uns die Grenzen der Subjektivität, mithin ihre historische Gewordenheit und gegenwärtige Fragilität, deutlicher werden. Daher auch der wiederholte Hinweis bei Proust (und entsprechend bei Benjamin) auf unwillkürliches Erinnern, das bestimmten Gesetzen unserer Subjektivität nicht unterworfen ist. »In der Verstellbarkeit des Erinnerns setzte Benjamins höchstes Interesse für das an Henri Bergson gewonnene Verweigern der willkürlichen, verfugenden Erinnerung bei Marcel Prousts >Suche nach der verlorenen Zeit< ein, von der er sagt, es sei dieser Suche das Vergessen näher gestanden, als das, was meist Erinnern genannt wird. ... Wie Proust hatte er ein generelles Erinnern, ein generelles Verhältnis zur Geschichte, ob phylogenetisch oder ontogenetisch, nicht mehr kritisiert wissen wollen, sondern zum Schweigen gebracht, unaufgehoben erledigt, ohne umfunktionierbares Einspruchsrecht.« 18 Dass es bei dem Wachwerden aus den Träumen des Erwachsenseins auch zu einem bösen Erwachen kommen könnte, das zu verdeutlichen war ein wichtiges Anliegen Benjamins: Der Gefahr der Rearchaisierung, einer Mobilisierung mythischer Gehalte der Vergangenheit, wollte er solche Erinnerungen an Urerfahrung 17 Folkers, H., Die gerettete Geschichte. Ein Hinweis auf Walter Benjamins Begriff der Erinnerung, in: Assmann, Α., u. a., Mnemosyne. Formen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a. M. 1991, S. 367 18 Schmidt, B., Benjamin zur Einführung, Hannover 19842, S. 22

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entgegen stellen, die als Elemente einer Bewegung »vorwärts zum Ursprung< dennoch Teil von Humanisierungsstrategien bleiben konnten. Um aber verstehen zu können, ob es ein Schlaf der Vernunft oder ein Erwachen der Vernunft sei, muss, als Grundlage jeglichen Gedankens an Humanisierung im historischen Verlauf, zunächst auf die vertraute menschliche Geschichtslandschaft ein ganz fremdes, nicht menschliches Licht geworfen sein, gleichsam wie das Licht einer Zeit bevor es Menschen gab. Die Naturgeschichte eilt in Benjamins Denken der Menschheitsgeschichte mit ihren Begrifflichkeiten zu Hilfe. Oft bemerkt wurde die Art, wie Benjamin Kultur als Natürliches, Unhistorisches zu betrachten versuchte, die Schaufensterauslagen der Pariser Geschäfte wie versteinerte Urzeittiere. Adorno schrieb in seiner Charakterisierung: »Der Essay als Form besteht im Vermögen, Geschichtliches, Manifestationen des objektiven Geistes, >Kultur< so anzuschauen, als wären sie Natur. Benjamin war dazu fähig wie kaum einer. Sein gesamtes Denken ließe als >naturgeschichtliches< sich bezeichnen. Ihn sprachen die versteinerten, erfrorenen oder obsoleten Bestandteile der Kultur, alles an ihr, was der anheimelnden Lebendigkeit sich entäußerte, so an, wie den Sammler das Petrefakt oder die Pflanze des Herbariums.« 19 Auch Gegenwärtiges soll sich also urgeschichtlich präsentieren. Was wäre aber damit gewonnen? Die naturgeschichtliche Zeit, so könnte man mit Benjamin sagen, zeichnet sich eben durch das Zyklische, die Wiederkehr und Gleichförmigkeit aus - zumindest, was die zeitlichen Horizonte betrifft, die Menschen sinnvoll auf sich beziehen können. Menschenzeit aber ist durch Wandel und Entwicklung gekennzeichnet, durch ein beständiges sich Um- und Uberstürzen, das gerade in der Moderne eine schier rasende Frequenz der Veränderung erreicht hat. Dementsprechend müssen auch verschiedene Formen der Vergegenwärtigung vergangener Phasen, des Rückblicks, der Erinnerung möglich sein. In der Naturgeschichte, so wäre zu ergänzen, blickt man auf das zurück, was sich in gleicher oder ähnlicher Form wieder ereignen kann. Auf die Menschheitsgeschichte übertragen, befreit ein solcher Blick aus dem Hypnotisiertsein durch den Fortschritt, der, so das mulmige Gefühl, eben auch ein Fortschritt ins Unheil sein kann, und eröffnet die Möglichkeit von scheinbar außergeschichtlichen Einbrüchen messianischer Zeit in die Realgeschichte. »Benjamin betrachtet alles, was er aus der Vergangenheit heraufholt, als vorwärtsweisend in die Zukunft, weil die Gedächtnisarbeit (sich selbst rückwärts lesen, nannte er es) die Zeiten aufbrechen läßt«, so Susan Son tag über seine Geschichtsschreibung als zurückblickende Prophetie.20

Theodor W . Adorno, Uber Walter Benjamin. Aufsätze, Artikel, Briefe, hrsg. und mit Anmerkungen versehen von Rolf Tiedemann, erweiterte und revidierte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1990, S. 14 20 Sontag, S., Im Zeichen des Saturn, Frankfurt a. M. 1990 19

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Theorie des Kunstwerks und Theorie der Erinnerung stützen einander; wo das erste seiner Aura nicht beraubt werden soll, damit ein rettender Kurzschluss über die Zeiten möglich werde, soll die letztere Momente des anderen Wirklichkeitszugangs in solchen Kurzschlüssen bewahren. Das Kunstwerk ist eine Passage zur anderen, mythischen Zeit. Auf diese Umwälzung der Erfahrungssituation im Kunstwerk und deren Erinnerung legt auch Jürgen Habermas in seiner frühen Studie zu Benjamin Wert: »Benjamins Theorie der Kunst ist eine Theorie der Erfahrung. Die Erfahrung der Aura hat in den Formen der profanen Erleuchtung die auratische Hülle gesprengt und ist exoterisch geworden. Sie verdankt sich nicht einer Analyse, die Verdrängtes ans Licht hebt. Sie wird auf andere Weise gewonnen, als Reflexion es vermöchte: nämlich durch das Wiederaufnehmen einer Semantik, die Stück für Stück aus dem Inneren des Mythos herausgelöst und in den Werken der großen Kunst messianisch, d.h. für den Gebrauch der Emanzipation freigesetzt und zugleich aufbewahrt worden ist.« 21 Das Vergangene ist als Kunst immer in der Lage, neue Erscheinungen hervorzubringen, Befreiung verheißend, einen neuen Himmel und eine neue Erde. Aufgrund dieser Vorstellungen konnte Benjamin auch in einem Gespräch mit Ernst Bloch sagen, seine neue Methode der Geschichtsbetrachtung würde, wie die Atomzertrümmerung, ungeheure Kräfte der Geschichte freisetzen. Oder, wie Susan Buck-Morss es beschreibt: »Benjamin hat sein Werk als >kopernikanische Wende< in der Praxis der Geschichtsschreibung gekennzeichnet. Sein Ziel war die Zerstörung der mythischen Unmittelbarkeit der Gegenwart, indem er sie nicht in einem kulturellen Kontinuum ansiedelte, welches die Gegenwart affirmativ als seinen Höhepunkt herausstellt, sondern indem er diejenige Konstellation der historischen Ursprünge ausfindig machte, die das >Kontinuum< der Geschichte zu sprengen vermag.« 22 »Das Pathos dieser Arbeit - es gibt keine Verfallszeiten«, so eine der Benjaminschen Äußerungen zum >Passagenwerkkopernikanische Wende< war allerdings nur möglich, indem Benjamin kollektives und individuelles Subjekt verband. Nimmt man ein »träumendes Kollektive an, dann können auch die Einzelheiten, die von der Erinnerung aufbewahrt worden sind, einem individuellen Einpassungsprozess entzogen werden. Ihre Ambivalenz, ihr revolutionäres Potential, bleibt erhalten, besonders in scheinbar nebensächlichen Details, so dass »das Ewige jedenfalls eher eine Rüsche am Kleid ist als eine Idee.« 23

Habermas, J., Zwischen Kunst und Politik - Eine Auseinandersetzung mit Walter Benjamin, in: Merkur 293, 9/1972 22 Buck-Morss, S., Dialektik des Sehens, a. a. O. 23 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. V(I), S. 578 21

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2. Aby Warburg zum Gedächtnis Auch fiir Warburg eröffnen Erinnerungen einen Raum des Zugangs zu anderen Denk- und Wahrnehmungsformen. Dabei ist allerdings zweierlei zu unterscheiden: Die Erinnerung, als Kollektiverinnerung von Gruppen gedacht, kann eine fremde Sinnorientierung vergegenwärtigen, einen anderen Sinn- und Deutungshorizont, kann aber auch Kontingenzen aufbewahren, die nicht sinnvoll organisiert, respektive >vereinnahmt< wurden. Jedenfalls sind auch für Warburg beispielsweise die Erfahrungen von Kindern, ebenso wie von Eingeborenen primitiver Stämme, mögliche Zugangskorridore >anderer< Erinnerung, mit der wir über unsere eigene mehr erfahren. Der Optimismus der Rekonstruktion von Erinnerungszeichen erinnert an das Usenersche Programm der Wiederauffindung der Vorstellung von Göttern durch Analyse der überkommenen Götternamen. Für Warburg gilt wie für Usener: »Geschichtliches Erinnern soll in den Raum des völlig Vergessenen dringen.« 24 Warburg benutzt also die Ikonologie zu gleichen Zwecken und mit ähnlich großen Hoffnungen, wie Usener sie mit der Etymologie verbunden hatte: »Die Ikonologie, wie sie sich in Warburgs Schifanoia-Studie präsentiert, erfüllt die indikatorische und beweisende Funktion, die bei Usener die Etymologie innehat.« 25 Warburg, der über den Eingang zur Kulturwissenschaftlichen Bibliothek in der Hamburger Heilwigstraße das griechische Wort ΜΝΗΜΟΣΥΝΗ einmeißeln ließ, hat dieses Rekonstruktionsprogramm in unterschiedlichsten Bereichen zu einem größeren theoretischen Entwurf zusammenschließen wollen. Sein Ausgangspunkt lag, wie erwähnt, bei materialistischen und physiologischen Theorien wie denen Herings 26 und Semons 27 . Auf einen Ausdruck Herings beispielsweise nimmt er in einer seiner Schriften, dem sogenannten >Nymphenfragmententschärfen< und auf Distanz zu halten. Zu dieser Naturnotwendigkeit schreibt er in seiner Arbeit >Flandrische Kunst und 24

Kany, R., Mnemosyne als Programm, a. a. O., S. 122 ebd., S. 165 26 Hering, E., Uber das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organischen Materie, a. a. O. 27 Semon, R., Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, Leipzig 19113 25

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florentdnische Frührenaissance< von 1902 zum Bildnis der Arnolfinis von van Eyck aus dem Jahre 1434:»... Dieses rücksichtslos objektive Wunderwerk ist kein auf den Verkauf im Ausland berechneter, dem Geschmack eines etwas verweichlichten Sammlers sich liebenswürdig insinuierender Kunstartikel, sondern wird erzeugt als naturnotwendiger Niederschlag einer Mischung von menschlichen Elementen, die sich durch ihren Gegensatz anziehen; es steht, gleichsam ein Naturprodukt, jenseits von schön und häßlich.« 28 So ist es auch, wenn Grundformen des Verhaltens und emotionalen Ausdrucks in sogenannten >Pathosformeln< dargestellt werden. Diese Formeln, die sich, nach Warburg, in Darstellungen der Antike finden und teilweise in der Renaissance- und Barockzeit wieder aufgegriffen werden, basieren ursprünglich auf emotionalen Extremsituationen im Zusammenhang mythisch-kultischer Selbstvergewisserung. Für Warburg ist die Erinnerung an Situationen der gelungenen Konfliktlösung und Abwehr von Bedrohungen durch Irrationalismen Voraussetzung jeglicher Rationalität. In den Pathosformeln wird eine Art von Kompetenz aufbewahrt und überliefert, die gerade nicht schon die fertige Lösung oder eine spezielle, ausdifferenzierte Form rationaler Reaktion auf Problemstellungen enthält, sondern neben der symbolischen Befriedung auch die Konfliktsituation nochmals verdeudicht. Sie bewahren Vergangenheit, die niemals vergeht. »Pathosformel ist deswegen ein Wort mit innerer >Sprengkraftoffenen Rechnungen der Geschichte< betonte, nicht duldend, dass die Toten ein für alle Mal tot seien. Dabei scheint es mir wichtig, einer Fehldeutung des für die Erinnerungstheorie konstitutivem Begriffe der >Pathosformel< entgegenzutreten. Die Pathosformel wird nicht einfach als feststehendes Bild oder Symbol übernommen (nachdem sie im >sozialen Gedächtnis< repetiert wurde), sondern sie wird Anlass und Inspiration, manche Aspekte vergangener Ausdrucksformen aufgrund neuer eigener Erfahrung mit neuem Leben, mithin neuer Gültigkeit a u f zuladen·«. Sie ist nicht Kanon oder Teil eines Kanons, sondern motivierendes Zeichen zum Ergreifen und zur Neuinterpretation alter Ausdrucksformen mit neuen Schwerpunkten. Ihre Reduktion auf Bildkatalogisierung und Klassifizierung entspricht nicht der Bedeutung, die sie im Warburgschen Denken hatte. Nur in der fixierten Form als bildgeschichdiches Beispiel konnte sie so beschrieben werden, in der dynamischen Form als bildhervortreibendes und sinngebendes Element liegen aber die eigendichen Möglichkeiten der Pathosformel. 28

ASW, S. 106 Settis, S., Pathos und Ethos, Morphologie und Funktion, in: Kemp, W., u. a., Vorträge aus dem Warburg-Haus. Band 1, Berlin 1997, S. 41 29

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Die >Denkraumgewinnung< basiert einerseits auf dem Distanzw/wrt durch Symbolisierung (>UmfangsbestimmungRelativismus - Universalismus< einzuordnen wäre. Zugespitzt kann die Problematik diskutiert werden, indem man zeigt, wie er zur (auch in der Philosophie verbreiteten) Alternative zwischen »kulturellen Relatdvismus< und »naturwissenschaftlichem Universalismus< quersteht. Es gibt von Seiten verschiedener Interpreten den Versuch, hier Eindeutigkeit und innere Kohärenz herzustellen - beispielsweise bei Maikuma, der zusammenfassende Thesen über einen durchgehenden Begriff der Kultur oder eine homogene Gedächtnistheorie bei Warburg zur Diskussion stellt: »Trotz ihrer überwältigenden Fülle von Details bieten uns die Renaissanceforschungen Aby Werburgs, als Ganzes betrachtet, den Eindruck einer streng kohärenten Gedankensystematik.« 39 Konrad Hoffmann hingegen beschreibt (vielleicht zutreffender) den inneren Zwiespalt Warburgs zwischen einer systematischen, an naturwissenschaftlichen Paradigmen orientierten Kunstgeschichte, die sogar in gewissem Rahmen Entwicklungen glaubt vorhersagen zu können, und der Tatsache, dass es ihm gleichzeitig um »eine neuartig vertiefte Betrachtung von Kunst als Ausdruck (ging), dabei nicht als Absehen von sich selbst, sondern um Bewußtmachen, um Begreifen dessen, was ihn am Bild so mächtig ergreift.« Wenn Warburg die Zielsetzung seiner Bibliothek so versteht, dass sie die »Funktion des persönlichen und sozialen Gedächtnisses< klären solle, dann wird in diesem Ausdruck das Ungesonderte in der Aufgabenstellung seines Denkens klar. W o Benjamin andeutungsweise einen kollektiven Charakter mit psychologisch beschreibbarem Eigenschaften annimmt, ein »träumendes Kollektiv·«, bleibt Warburg unentschieden und will naturgesetzliche Entwicklungen mit persönlicher Ergriffenheit verbinden, anamnetische, aktivische Eigenschaften mit mnemischen, passiv-bewahrenden. Man muss sehen, wie Warburg seine persönlichen Krisenbewältigungsstrategien - ähnlich seinem Lehrer Burckhardt - auf kulturelle Vorgänge übertragen hat. Es ging auch immer um seine Rückgewinnung von Rationalität gegen die Angst, die ihn ein Leben lang verfolgte und in der ersten Hälfte der 20er Jahre arbeits- und lebensunfähig in die Klinik brachte. Ihm selbst war dies aber wohl bewusst; am Ende seines Lebens schreibt er: »»Manchmal kommt es mir vor, als ob ich als Psychohistoriker die Schizophrenie des Abendlandes aus dem Bildhaften in selbstbiographischem Reflex abzuleiten versuche: die ekstatische Nymphe (manisch) einerseits und der trauernde Flußgott (depressiv) andererseits.« 40 39 Maikuma, Y., Der Begriff der Kultur bei Warburg, Nietzsche und Burckhardt, a. a. O., S. 6 40 Eintrag im Tagebuch der Kunstwissenschaftlichen Bibliothek Warburg vom 3. April

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Wie verhält es sich mit der Melancholie, die er selbst an sich wahrnimmt und als >Psychohistoriker< für alle anspricht? In seiner Beschäftigung mit Dürers >Melencolia I< fasst er die Melancholie als Bedrohung des geistigen Menschen gerade wegen der Fähigkeit der Distanzierung von den Phänomenen. In der Distanzierung, der Denkraumgewinnung, zu der uns Erinnerung wesentlich verhelfen soll, liegt auch die Gefahr der anhaltenden Denkpause, des reflexionslosen Anstarrens von Symbolen, eines Gedenkens, das Denken ausschließt, eines müde-verzweifelten Blickes, der dem von Benjamin im >Trauerspielbuch< nicht unähnlich ist. Aber das Fatale dieser Situation speist sich gerade aus einer scheinbaren Notwendigkeit der Zusammenziehung von gesellschafdich-kultureller Symbolisierung (oder Allegorisierung) und individueller Bemühung, die Angst zu bannen. Mit dem theoretischen Material, das sich Warburg von Carlyle, Lamprecht, Darwin, Nietzsche und Burckhardt angeeignet hatte, konnte er seine Probleme jedenfalls nicht lösen.

1929, hier zitiert nach: Karen Michels/Charlotte Schoell-Glass (Hrsg.), Aby Warburg. Tagebuch der Kunstwissenschaftlichen Bibliothek Warburg - mit Eintragungen von Gertrud Bing und Fritz Saxl, GS, Bd. VII, S. 429

VIII. Kulturanalyse - Kultursynthese Kulturwissenschaft

Auch die kolturphilosophische Grundlagendiskussion muss das Eigene und das Fremde für ihre Zusammenhänge in jeweils neuer Weise bestimmen können. Uber Kultur >allgemein< kann man substantiell und verbindlich wohl nur sprechen, wenn man zu verstehen beginnt, wie man in einer spezifischen Kultur schon verortet ist. Von außen kann ein kulturelles Universum mit seinen Strukturen nur unzureichend betrachtet oder beurteilt werden. Uber den Weg der begrifflichen Ordnung der eigenen Erfahrungen mit der spezifischen Kulturumgebimg erwirbt man sich jedoch die Fähigkeit, auch andere Kulturumgebungen zu betrachten und zu vergleichen. Wenn man die eigene Welt als einen spezifischen Kulturkosmos mit bestimmten, auf diesen bezogenen Ordnungs- und Symbolisierungsnotwendigkeiten begriffen hat, kann man auch andere Welten und Weltbetrachtungen gegen ihn absetzen oder in ihrer Eigengesetzlichkeit verstehen. Das bedeutet, »daß der übergeordnete kulturphilosophische Diskurs immer schon in einer angewandten Kulturtheorie verortet ist, daß sich also eine bestimmte Konstellation der Kultur vorgängig immer schon ergeben haben muß, um dann die reflexive Bezugnahme auf sich selbst als die gleichsam >letzte Frucht< dieser Kultur aus sich selbst hervorzubringen.« 1 Dass hierbei Selbstreflexivität im Warburgschen Kontext nicht mit hegelschem Selbstverhältnis, sondern wohl eher als Aspekt einer fast schizophrenen Selbstverhältlichkeit gedacht werden muss, liegt wohl auf der Hand. Warburg hatte keinen dialektischen Apparat zur Verfügung, der ihn in Begriffen beruhigt hätte. Dennoch: Wie verhält sich nun eine solchermaßen neugebildete Theorie über die Kultur zur Theorie der Kultur? »Die ursprüngliche Reflexivität verselbständigt sich nicht nur zu einer bewußten Gestaltung der allgemeinen Kulturtheorie, sie versucht in dem dreigliedrigen Relationsgefüge auch, sich diese entweder unterzuordnen oder sich ihr als immanente Reflexivität zu integrieren. Dabei entsteht, wie A. Warburg als erster gezeigt hat, zwangsläufig die Frage nach der kulturellen Funktion, die der aus der jeweiligen Kulturtheorie auf dem Wege über die Verselbständigung entstan-

1

Geyer, F., Einführung in die Philosophie der Kultur, S. 27

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denen Reflexion zufällt.« 2 So Carl-Friedrich Greyer über den Weg von der Erfahrung der Kulturwelt zur Reflexion über diese und eine Theorie der Kulturtheorie. Das kulturtheoretische Projekt hat sein eigenes Verortetsein in einer spezifischen Kulturwelt mitzubedenken, hat den eigenen Sinnhorizont in Rechnung zu stellen. Daher wird ein besonderes Augenmerk auf jene spezifischen Elemente einer fremden Kulturvorstellung zu richten sein, die einen fremden Sinnhorizont aufleuchten lassen. Davon ausgehend, müssen in unseren kultursynthetischen Modellen, d. h. in Beschreibungen eines kulturellen Universums, die Vorannahmen deutlich gemacht werden, ohne die wir eine solche Gesamtbeschreibung nicht hätten liefern können. Jedes Reden über Kultur wird auf diese Weise zu einem Reden über Menschen als sinnorientierte Kulturwesen. Bei der Durchsichtigmachung dieses Zusammenhanges können die Warburgschen Analysen Anleitungen liefern. Denn Warburg versucht zu zeigen, wie beim Übergang von einer Epoche zur nächsten strukturell wichtige Motive des Ausdrucks erhalten bleiben. Die Menschen der Renaissance beispielsweise setzten ihre Lebenserfahrung in Beziehung zur eigenen Vorstellung von ihrer Kultur (oder Kultursynthese) und diese zu den Symbolen, die über einen anderen Sinnhorizont auf eine andere Kulturvorstellung oder -theorie verwiesen. Jede Generation hat sich so neu zu fragen, wie die jeweiligen Vorwegnahmen von Kultursynthesen zu einzelnen Kulturaktivitäten in Beziehung gesetzt werden können. Immer wieder muss der Schritt von der Orientierung im eigenen Kulturkosmos zur Rationalität der eigenen Kultur begrifflich gefasst werden.

1. Rationalitätsmodelle Beim Versuch, die verschiedenen Theorieansätze Warburgs, seine Detailstudien und die kulturphilosophischen Aphorismen zu systematisieren, scheint es daher angezeigt zu fragen, ob schon seinem Kulturverständnis ein durchgängiger, womöglich sogar systematischer Rationalitätsbegriff zugrunde hegt, ob sich die wiederholten Anläufe zu einer kulturwissenschafdichen Synthese in der Perspektive eines Modells von rationalem Weltverhältnis ordnen lassen. Es ist zu fragen, ob Warburg in verschiedenen Theorie-Kontexten weltanschauliche Grundüberzeugungen zur Voraussetzung nimmt, die jeweils auf einem benennbaren Begriff von Vernünftigkeit beruhen. Mit scheinen vor allem drei Begriffe systematisierenden Wert für das Rationalitätsproblem bei Warburg zu haben: Handlung, Angst und Orientierung. Alle drei Begriffe übernehmen jeweils eine Art Brückenfunktion, indem sie aus den situativen Beschreibungen menschlichen Symbolisierungsverhaltens überleiten 2

ebd., S. 27 f.

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zu theoretischen Konstrukten. Eine aufsteigende Reihe des Souveränitätsgewinns müsste sie in die Abfolge >Angst, Handlung, Orientierung< bringen - zumal Warburg den Entwicklungsgedanken, wie gesagt, oft gleichberechtigt neben seine anthropologische Skepsis stellt - aber ich bevorzuge hier (auch im Sinne des Modells biografischer Entwicklungslogik) eine Reihenfolge, die mehr dem zeitlichen Ablauf der Konzentration Warburgs auf die Themenbereiche entspricht.

1.1 Handlung Wir haben bei den Bemerkungen zu Charles Darwin und Tito Vignoli gesehen, welche Bedeutung im Rahmen der Warburgschen Überlegungen die einzelne Entscheidung, die Handlungssituation für das Tier oder den primitiven Menschen hat. Jede Erkenntnis will durch eine konkrete Handlung erworben sein und durch weitere Handlungen zum Teil der Lebensform gemacht worden sein - so entwickelt Warburg unter Bezugnahme auf Carlyle seine Auffassungen weiter. Das Tier muss vor jedem potentiell bedrohlichen Gegenstand erst einmal flüchten oder mit Ausdrucksverhalten reagieren, der primitive Mensch muss jedem Phänomen eine mimetische Handlung der ordnenden Vereinnahmung und Fixierung entgegengebracht haben. Warburg stellt diese mimetischen Handlungen und ihre Bedeutung im schon angesprochenen >Schlangenritual-Text< heraus. Da dieser Text auch biografisch eine hervorgehobene Bedeutung im Werk Warburgs besitzt, wurde er in der Forschung schon mehrfach kommentiert. Hinzuweisen ist neben verschiedenen Aufsätzen3 auf die kommentierte Einzelausgabe von Ulrich Raulff.4 Mich interessiert hier vor allem die Auffassung der rituellen Handlung bei Warburg und deren Beitrag für eine Rationalitätskonzeption in seiner Kulturauffassung. Warburg unternahm 1895/96 eine Reise durch die Vereinigten Staaten von Amerika.5 Er besuchte dabei unter anderem Indianerreservate im Südwesten der USA und wohnte verschiedenen Zeremonien und Tänzen bei. Er brachte Aufzeichnungen mit, die nur allmählich und mit großen Unterbrechungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Für die erwähnte biografische Bedeutung (die hier aber nicht weiter ausgeführt werden soll) ist der am Ende seines Klinikaufenthaltes in Kreuzlingen gehaltene Vortrag am 21. April 1923 >Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nord-Amerika< zentral. Dieser Vortrag wird in vielen Deutungen (auch bei Ernst Cassirer) als wesentliches Dokument des Gesundens von Warburg biografisch eminent aufgeladen.

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beginnend mit Fritz Saxl: >Warburgs Besuch in Neu-Mexiconüchtern< und praktisch in ihren Weltverhältnissen, andererseits bewahren sie sich magisch-mystische Verhaltensweisen. Sie stehen wie manche Kaufleute und Künstler der Renaissance zwischen verschiedenen Weltauffassungen, nicht zwischen Christentum und Antike, sondern zwischen praktischer und mystischer Daseinsbeherrschung unter animistischen Vorzeichen. Durch Aufzeichnung und Interpretation ihrer Kulthandlungen will Warburg diese Wechselbeziehung aufhellen. An den Indianern lässt sich das Nebeneinander verschiedener Orientierungssysteme im Kulturkosmos besonders gut studieren, da sie viele solcher Phänomene in Reinform verkörpern; in der zivilisatorischen Entwicklung scheinbar weniger weit vorangeschritten, glaubt Warburg sie den ursprünglichen (animalischen) Formen der Ausdrucksfindung noch näher; es »taucht hier ein Gedanke auf, der bis zu LevyBruhl, zu Freud und Jung Karriere machen sollte, nämlich der vom Stand der Wildheit als phylogenetischer Kindheit, von der Barbarei als Geisteskindheit.«7 Warburg hat sich, trotz seines Respekts für die Indianer und ihre Kultur, trotz seiner Zurückhaltung in der Interpretation nie ganz von dieser Vorstellung des >kindlichen Wilden< befreit. Dennoch hat er mit großem Ernst die indianischen Kulturleistungen parallelisiert mit denen des modernen abendländischen Menschen. Instruiert und unterstützt von der Washingtoner >Smithsonian Institution, die sich mit indianerkundlichen Forschtingen beschäftigte, ging Warburg dabei dennoch nicht nur mit naiven Vorstellungen zur >Ursprünglichkeit< der Indianer, sondern mit hohem ethnologischen Problembewusstsein zu Werke. Dass die eigentlichen Kulte der Indianer nur sehr schwer zugänglich sein würden, aufgrund der Verschüttung des indianischen Erbes, war ihm bewusst. Die Indianer konnten sich nicht am Ende einer ruhmvollen Kulturkontinuität, im Austausch mit dem N a c h leben der Antike< fühlen, in ihrer Vergangenheit überwogen die trennenden Geschehnisse, die Kulturkatastrophen. »Indessen ist bei der religionspsychologischen Beurteilung der Pueblo-Indianer aus einem Grund die größte Vorsicht vonnöten: das Material ist kontaminiert, d. h. zweifach überschichtet. Der amerikanische Ur6 7

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grund ist seit dem Ende des 16. Jahrhunderts überschichtet mit einer Lage spanischkatholischer Kirchenerziehung, die Ende des 17.Jahrhunderts eine gewaltsame Unterbrechung erfuhr, später zwar wiederkehrte, aber in die Dörfer der Molds nie wieder offiziell eindrang. Darüber lagert sich die dritte Schicht nordamerikanischer Erziehung.«8 Genese und Ausformung religiösen Bewusstseins werden scheinbar nebenbei auf einfache Formeln gebracht: »Denn solange die Eisenbahn noch nicht an die Siedlungen heranreichte, führte hier die Wassernot und die Wassersehnsucht zu ähnlichen magischen Praktiken wie sie auf der ganzen Welt bei primitiven untechnischen Kulturen auftreten, um die widerstrebenden Naturgewalten zu bezwingen. Die Wassernot lehrt zaubern und beten.«9 Aus einem elementaren Bedürfnis heraus wird nach Möglichkeiten gesucht, dieses zu stillen und wenn technische Lösungen nicht oder noch nicht verfügbar sind, dann entsteht ein Bezwingungs- und Sinngebungszusammenhang. Diesen ursprünglichen Zusammenhang will Warburg wieder freilegen, das bezweckt sein Eindringen ins >Seelenleben< der Pueblo-Indianer. Durch einen Versuch soll festgestellt werden, wie tief die Verschüttung der elementaren Zusammenhänge, die Umerziehimg reicht: »Ich habe einmal versucht, die Kinder dieser Schule ein deutsches Märchen, das sie vorher nicht kannten, Hans Guck-in-die-Luft, illustrieren zu lassen, weil darin ein Gewitter vorkommt, und wollte sehen, ob dabei der Blitz von den Kindern realistisch oder in der Schlangenform gezeichnet wird. Von 14 sehr lebendigen, aber unter dem Einfluß der amerikanischen Schule stehenden Zeichnungen waren 12 realistisch gezeichnet. Aber zwei brachten doch noch das unzerstörbare Symbol der pfeilspitzigen Schlange,...« 10 Am Rande sei hier auf die interessante Einzelheit angemerkt, dass gerade die Darstellung des Blitzes als göttliche Erscheinung eine solche Bedeutung gewinnt. Auch Hermann Usener hatte in seiner Beschreibung der Entstehung des »Augenblicksgottes« auf den blitzeschleudernden Sondergott Keraunos verwiesen, der später in die Gestalt des Zeus (ebenfalls mit Blitzen als Machtsymbolen ausgestattet) integriert wird. Der Blitz als schlagartige erscheinende, unmittelbar beeindruckende göttliche Gewalt hat hier (wie auch bei Vico und Vignoli) einen besonderen symbolhaften Charakter. Seine Deutung und Einbindung in die religiöse Formierung eines Weltbildes musste für den Usener-Schüler Warburg wichtig sein. Was ihm als Kunsthistoriker aber zunächst auffällt, sind die Tongefäße mit Symbolen aus der indianischen Mythologie und Kosmologie. An diesem Beispiel erläutert er seine Vorstellung vom Zusammenhang zwischen Reduktion und Bildwerdung einerseits und Erinnerungsleistung andererseits. »Charakteristisch für den Stil der Zeichnung auf diesen Töpfereien ist es, daß sie die Erscheinung heraldisch skelettiert. Sie zerlegt den Vogel ζ. B. in seine wesentlichen Bestandteile, und zwar 8

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so, daß er zum heraldisch geformten Abstraktum wird. Er wird zur Hieroglyphe, die nicht mehr geschaut, sondern gelesen sein will. Wir haben eine Zwischenstufe zwischen Wirklichkeit und Zeichen, zwischen realistischem Spiegelbild und Schrift. Man kann an dieser Art der Ornamentbehandlung solcher Tiere sofort sehen, wie diese Art des Sehens und Denkens zur symbolischen Bilderschrift fuhren kann.« 11 Erinnert werden muss hier an Schmidcunz' Auffassung der Abstraktion, bei der »extensiv verloren« und »intensiv gewonnen« wird. Auch die Indianer müssen in ihren Symbolisierungsprozessen erst entsinnlichen. Sie skelettieren um zu symbolisieren. Bildwerdungs- und Symbolisierungsprogramme spielen ebenfalls eine Rolle beim Schlangentanz, der die Funktion hat, an Schöpfungsmythen zu erinnern und den Regen beziehungsweise die Blitze zu beschwören. Notwendig ist dabei aber ein Einswerden mit den beschworenen Phänomenen; in höchster mimetischer Konsequenz werden die Indianer zunächst selbst zu Naturmächten. So jedenfalls sieht es Warburg, er führt aber kein Beispiel füir die äußerste mimetische Gleichsetzung oder Ausgleichung an, dem Leser des >Schlangenritual-Textes< ist dabei nicht immer plausibel, dass sich die Indianer selbst als >Blitze denkenEntifikation< Wahrnehmungsweisen und Vorstellungen verdinglichte. Will Warburg also mimetische Prozesse beschreiben, kann es sein, dass durch seine Vorstellung von >Entifikation< das Naturphänomen zu etwas wird, mit dem sich der Mensch einfühlend identifizieren kann. Im nächsten Schritt des beschriebenen Rituals werden die Schlangen jedenfalls als >eingefangene Blitze< in gefährliche Nähe gebracht (ihren Kopf steckt sich der Vollzieher des Rituals in den Mund) und dann demonstrativ distanziert: die Tänzer werfen die Schlangen von sich weg auf den Boden. Die Gefahr der Schlange wird beschworen und gebannt, sie wird zum Symbol des Blitzes, schließlich zur ungefährlich handhabbaren rituellen Chiffre. »Wenn ein gefährliches Tier wie die Schlange nicht mehr als leibhaftige Todesmacht, sondern als Symbol des Blitzes erfahren wurde, konnte ihr der Mensch nun in beschwörender und selbstbewußter Weise gegenübertreten. Die Todesmacht war als Bild und Symbol vom Menschen entfernt worden, und in der sich öffnenden Distanz gelangte die Freiheit des >Denkraumes< zum Durchbruch.« 12

11

WS, S. 13 Bredekamp, H., u. a., Aby Warburg - Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990, Weinheim 1991, S. 1 12

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Obwohl Warburg den eigentümlichen Charakter des Realitätszugangs der Primitiven betont, ist er doch gleichzeitig der Ansicht, es handle sich dabei um Erkenntnisgewinn, Aufklärung des primitiven Selbstverständnisses. »Ich will zufrieden sein, wenn Ihnen diese Bilder aus dem täglichen und festlichen Leben der Pueblo-Indianer gezeigt haben, daß ihre Maskentänze keine Spielerei sind, sondern die primäre heidnische Form der Beantwortung der großen quälenden Frage nach dem Warum der Dinge: Der Unfaßbarkeit der Vorgänge in der Natur stellt der Indianer dadurch seinen Willen zur Erfassung entgegen, daß er sich in eine solche Ursache der Dinge persönlich verwandelt. Triebhaft setzt er füir die Tinerklärliche Folge die Ursache in größtmöglicher Faßbarkeit und Anschaulichkeit. Der Maskentanz ist getanzte Kausalität.«13 Der Indianer wird also selbst zum Teil der aufklärerischen Reflexion im Mythischen, er setzt sich selbst - mimetisch - als Bindeglied ein zwischen Unverstandenes; die archaische >Wissenschaft: ist so gleichzeitig Lebensform und Selbstverständnis, umgeben von Unfassbarkeiten. Ein wiederholtes >Nachspielen< dieser Situation macht sie erträglich und symbolisierbar. Die Kräfte, die gebändigt werden sollen, sind dieselben, die im >Nachleben der Antike< maßgeblich sind. Auch das Begreifen dieser Kräfte geht mit einem wiederholten >Nachspielen< einher; bevor man etwas nachleben kann (so wie bestimmte Schichten der Renaissance die Antike nachlebten) muss es nachgespielt worden sein. Zentral ist die aneignende Handlung, die leibliche Erfahrung der Lernsituation, das situative Lernen und ein Sich-prägen-lassen; man könnte hier, die Terminologie von Herrmann Schmitz verwendend, von einer durch Handlung erschlossenen implementierenden Situation< sprechen.14 Auch im Manuskript zur >monistischen Kunstpsychologie1. Einverleibung (Medizinischer Zauber)Π. HineinumverleibungΠΙ. Anverleibung (Geräthsymbolik)< und >IV. Zu-verleibung (ornamentale Töpferei)< auf. Es werden dabei auch die Gefahren deutlich, die im Warburgschen Theorieverständnis strukturell angelegt sind. Gerade aus dem Zusammenhang zwischen Lebensform und Selbstverständnis in ihrer Einheit bei der Grundlegung wissenschaftlicher Weltsicht entsteht eine spannungsvolle Konstellation, eine fortwährend bedrohte Gleichgewichtslage, die jederzeit nach der einen oder anderen Seite umkippen kann. In der historischen Entwicklung fallen nämlich Instrumentarium der Welterkenntnis und Lebensform immer wieder auseinander. Die technischen Mittel der Analyse und Wissensvermittlung können sogar zur Zerstörung der Lebensform beitragen. Dadurch wird die Lebensform Wissenschaft eine immer 13 14

ruhe.

WS, S. 52 Für einen Hinweis auf diese Parallelen danke ich Herrn PD Dr. Guido Rappe, Karls-

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aufgeklärtere, aber fragilere; der Mensch empfindet und lebt nicht die aufklärerischen Fortschritte, ja, er schafft intuitiv sogar Gegengewichte für sie. Man kann nur Aufklärung und Gegenaufklärung gleichzeitig leben. Auch die Ergebnisse der Aufklärung, moderne Wissenschaft und Technik, können nach Warburg den Andachtsraum zerstören, der sich schließlich in den Denkraum verwandeln könnte. Anders als bei Horkheimer und Adorno wird aber mit diesem theoretischen Instrumentarium keine Verfallsgeschichte geschrieben; Prozesse der Aufklärung und Gegenaufklärung sind fur Warburg revidierbar, wiederholbar, stets umkehrbar. Nur in einem beständigen Präsenthalten aller Stufen der menschlichen Selbstreflexion und deren Bezug auf Wissenschaft als Lebensform kann der Prozess der Aufklärung sich fortsetzen. Die einzelnen Stufen, die historisch und systematisch zusammengedacht werden müssen, sind: Symbolisierung - Erinnerndes Festhalten - Andacht - Gedenken - Denken - Fortschritt. Useners Einfluss, die Mythenbildung psychologisch zu fundieren, hat sich untrennbar mit Vignolis Lernen aus der Angst und Darwins Ausdruckskunde verbunden, dies alles in der Perspektive eines möglichen aber nicht immer und endgültig siegreichen aufklärerischen Fortschritts. »Gleichwohl glaubte Warburg nicht an die Möglichkeit eines »letzten Gefechtsmnemischen Wellen der Vergangenheit« empfangen, beide haben den tragischen Grund der Geschichte erblickt, beide waren von ihrem Wissen bedroht. Burckhardt aber hat sich dem historischen Sehertum nicht ergeben, er hat der Unruhe der Vergangenheit, die er aufsteigen fühlte, die formbildende, maßgebende Kraft seines Denkens entgegengestellt, sophrosyne gegen mnemosyne ...Pause einlegen< (Denkraumgewinnung) als positive Umdeutung eines ursprünglich traumatischen Erlebnisses des Zurückgestoßenwerdens. Er meint, Warburg sei auf dreierlei Art angezogen und zurückgewiesen worden: von >der FrauDeutschland< und von den >High Class Schichten·«. Psychologische Mutmaßungen darüber, dass der Begriff der Mnemosyne als Schlüsselbegriff Warburgscher Theoriearbeit erst nach der großen psychischen Krise der Zwanzigerjahre auftaucht, spielen dabei ebenfalls eine Rolle: »One might say: die Umwandlung der MEDUSA into Mnemosyne.«11 Theorieimmanent gründet sich auch die These von Erkenntnis und Kulturentwicklung aus Angst auf Warburgs Auseinandersetzungen mit Vignoli und Darwin. Das Tier reagiert angstvoll und ausdrucksbildend auf einen Gegner, das feindliche Tier eben. Es reagiert aber auch angstvoll auf das, was es für einen Gegner hält. Dem Menschen ist es möglich, seine Welt so gut zu begreifen und zu ordnen, dass alle natürlichen Gegner und angsterregenden Erscheinungen eliminiert werden, dadurch entstehen jedoch wiederum neue Gefahren. Nun, weil Angst als Motor des Erkenntnisgewinns grundlegend bleibt, die Gegner aber fehlen, wird in der aufgeklärten Welt oder dem Prozess der Aufklärung selbst ein neuer Gegner ausgemacht. Da wir die Angst brauchen, um zu verstehen, schaffen wir neue Kulissen der Bedrohung und besetzen selbst das als bedrohlich, was unsere alten Ängste beseitigt hat. Solmitz schreibt hierzu: »Wir glauben, keinen Gegner mehr zu haben - aber eben dieser Glaube ist [...] ein solcher Gegner« und »Der Trieb, der Wille zur Contemplation erscheint selbst als eine [...] unaufgeklärte Macht.«18 Daher wird die K o n templation·«, der Fortschritt der Aufklärung selbst zum Gegenstand von Mythenbildung, da die Angst aus der menschlichen Weiterentwicklung nicht entfernt werden kann, vielmehr integrale Voraussetzung des Orientierungsprozesses ist, der in den wechselnden Mythen zum Ausdruck kommt. Die Angst ist bei Aby Warburg auch eine Kulturmacht, die im Irrationalen die Triebkräfte für Ordnung und Beherrschung schafft. Die Angst ist Irrationales, das zur Rationalität drängt. Ohne Angst keine kulturbezogene Rationalität. Die Angst nämlich zwingt zum Abstandnehmen und zur Bestimmung eines symbolischen Verhältnisses zur Umwelt. Was Ängste weckt wird zunächst in Bild und Schrift gebannt. Wie oft verbinden sich Warburgs eigene Obsessionen mit den beschriebenen Phänomenen. Bei der aus Ängsten geschaffenen Symbolisierung und Dokumentation sollte man beispielsweise an die Sammlung von Weltkriegsdokumenten erinnern, die Warburg in fieberhafter Arbeit anlegte, Zeitungsausschnitte, Fotografien, Propagandaschriften der verschiedenen Kriegsgegner. Ein weiteres Ergebnis dieses Dokumentationszwanges ist im Grunde auch das Kulturwissenschaftliche 17 18

SP SP

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Tagebuch der K.B.W. - man denke daran, wie dort winzigste Regungen und Veränderungen festgehalten werden und wie fast hysterisch Warburg auf Eintragungen von Gertrud Bing und Fritz Saxl besteht (»Lieber Saxl, Es bedeutet für mich eine ernstliche Erschwerung, daß Sie so wenig ins Tagebuch schreiben! Ihnen, liebe Bingia, gilt das gleiche!!«19) und deren Widerwillen gegen solche »Verzettelung« misstrauisch kommentiert. Eines von vielen Beispielen findet sich unter dem Datum des 31.3.1927: Bings sachliche Eintragung »Nichts zu berichten« wird von Warburg mit einem skeptischen »So, so?« bedacht.20 Die Dokumentation, die Bannung in Wort- und Bild trägt zur Stabilisierung des Warburgschen Verhältnisses offenbar einiges bei, festgehaltene Symbolisierung erhält Erlösungscharakter von der Angst.

1.3 Orientierung Neben der Reflexion über den phobischen und antiphobischen Kontext der Aufklärung gibt es aber immer wieder den Diskurs einer gelingenden Orientierung. Wenn man den Anteil der Fortschrittsidee an den kulturphilosophischen Versuchen Warburgs beschreiben will, dann müssen diese zwei Diskurse unterschieden werden: der Diskurs der Angst, der auch das immer gleiche Kreisen um die Urängste und mühsam zu überwindenden Ursituationen enthält und der Diskurs der Orientierung, der durchaus Elemente einer fast optimistisch anmutenden Befreiung und Erhöhung enthält. Warburg, der den Weg der Kulturentwicklung eben auch als Weg »von der mythisch-fürchtenden zur wissenschafdich-errechnenden Orientierung des Menschen sich selbst und dem Kosmos gegenüber« 21 bestimmte, spricht von Ordnungsversuchen, die im Letzten auf eine Orientierung im Kulturkosmos zielen. Bei allen Versuchen zu einer allgemeinen Kulturtheorie geht es um einen grundlegenden Willensakt, »um den Willen zur Orientierung. Es ist der Begriff der Orientierung, der die kulturelle Funktion der allgemeinen Kulturtheorie umfaßt. Die Kultur als eine lebendige Ganzheit, als Kosmos zu begreifen, heißt, sich in der Totalität der Kultur zu orientieren. Der reflektierende Aneignungsversuch des Kulturgutes - sei es einheimisch oder fremd, sei es direkt vom >bewegten Leben< oder schon stark geprägt von der Reflexivität - vollzieht sich als Orientierung in der Kultur.« 22 Von diesen Voraussetzungen her wäre der Topos von der >Orientierung< eine Art Bindeglied zwischen den divergierenden Wahrnehmungsweisen lebens-

19

Karen Michels/Charlotte Schoell-Glass (Hrsg.), Aby Warburg. Tagebuch der Kulturwissenschafüichen Bibliothek Warburg - mit Einträgen von Gertrud Bing und Fritz Saxl, GS, Band VH, Berlin 2001, S. 100 20 ebd., S. 77 21 >Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg. Vor dem Kuratoriumoptimistischeren< Teil des Warburgschen Denkens auch für sein starkes Volksbildungsinteresse, das ihn bewog, Vorträge vor Arbeitern zu halten und nach immer wieder neuen Möglichkeiten zu suchen, die komplexen Probleme seiner Arbeit an der Kulturwissenschaft pädagogisch sinnvoll darzustellen. Es scheint zunächst, dass Warburgs Sammlung (>Bilderreihenausstellung zur Geschichte und Psychologie der menschlichen Orientierung im Kosmossymbolischen Prägnanz·«, der im Cassirerschen Denken eine so große Rolle spielt, mit Parallelbegrifflichkeiten Warburgs vergleicht. Im dritten Band seiner »Philosophie der symbolischen Formen< bestimmt Cassirer die symbolische Prägnanz so: »Unter »symbolischer Prägnanz< soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als >sinnliches< Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen >Sinn< in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt. Hier handelt es sich nicht um bloß >perzeptive< Gegebenheiten, denen später irgendwelche >apperzeptive< Akte aufgepropft wären, durch die sie gedeutet, beurteilt und umgebildet würden. Vielmehr ist es die Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger >Artikulation< gewinnt - die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfugung angehört. In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit, ist sie zugleich ein Leben >im< Sinn. Sie wird nicht erst nachträglich in diese Sphäre aufgenommen, sondern sie erscheint gewissermaßen als in sie hineingeboren.« 24 Hieran könnte sich die Nachfrage anschließen, >in< welchem Sinn dieses Leben gedacht ist, welche persönlichen Lebensentwürfe damit sinnvoll verbunden werden können. Ein Aspekt der schon diskutierten Pathosformel ist sicherlich, dass sie die Organisation der Wahrnehmung in bezug auf zentrale Bereiche symbolischer Prägnanz organisieren kann. In der Pathosformel ist die Sinngebungsperspektive in die 24 Cassirer, E., Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt 1994 1 0 , S. 235

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direkte Einzelwahrnehmung integriert. Für Warburg ist bei der Orientierungsbemühung des konkreten Einzelnen die Suche nach den symbolisch prägnanten Phänomenen in der Kunst durch Ängste in ihrer Richtung vorbestimmt und entwickelt sich im Umfeld der aneignenden Handlungen; bei Cassirer scheint die >symbolische Prägnanz< trotz aller Betonung der >Ganzheit und Lebendigkeit des Lebens doch noch stark an die Konzeption des transzendentalen Subjekts gebunden zu sein. Die Frage nach der konkreten inhaltlichen Bestimmung hat bei der Konstellation Aby Warburg - Ernst Cassirer eine persönlich-politische Komponente. Eine Vermutung sei hierzu in Parenthese gewagt: Cassirers Hochschätzung der übernationalen europäischen Kultur der Renaissance und sein Misstrauen gegen jede Form des Nationalismus sind wichtige Elemente im Persönlichkeitsbild des liberalen kosmopolitischen Intellektuellen der Weimarer Republik. Seine Vorbehalte gegen das historisch gegebene Milieu, die ihn in der praktisch-politischen historischen Situation unempfänglich für den nationalen Sinn-Zwang einer Neudefinition im »völkischen Aufbruch< zwischen den Weltkriegen machten und zu einem der wenigen bekennenden Demokraten und Kosmopoliten der damaligen deutschen Gelehrtenwelt werden ließen, hat vielleicht seine Ergänzimg darin, dass er sich bei der Behandlung und Einschätzung partikularer kultureller Zusammenhänge nicht wirklich auf die gegebenen Situationen einlassen konnte oder wollte. Man kann sich vorstellen, dass hier ein weiterer Horizont den Blick für die allernächsten einzelnen Dinge unscharf werden ließ. Möglicherweise machte Cassirer seine Form des Internationalismus also auch weniger sensibel dafür, die Umsetzung von Bildungsidealen und abstrakten Konzeptionen in jeweils konkrete Kulturwirklichkeiten mit all ihren Besonderheiten zu verstehen. Hierher gehörte dann auch illustrierend die Charakterisierung Cassirers durch Marek als »apollinischer Denkerder dionysisch-tragisch-existentialistische< Zug fehlte.« 25 Darstellung und intellektueller Gestus seien geprägt von einer gewissen Glätte und Kühle, die nicht mehr den »heißen Kampf um die Prämissen selbst zum Ausdruck bringe·«, sondern sie »ein wenig dogmatisch an dem Material spielen< lasse.26 Wohlgemerkt geht es hierbei nicht um die psychologische Einschätzung oder gar »charakterliche Mängel·, sondern um die Frage, wie existentiell wichtig für Cassirer ein Verständnis jener Vorurteilsstrukturen werden konnte, deren epistemologischen Wert H.-G. Gadamer in seinen Arbeiten analysiert hat.27 Gadamer bestimmt die 25

Marek, S., Große Menschen unserer Zeit, Meisenheim am Glan 1954, S. 163 Ollig, H.-L., Der Neukantianismus, Stuttgart 1979 27 Gadamer, H.-G., Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 19906, S. 275 ff. 26

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Vorurteile als wichtiges Element der Grundgegebenheiten geschichtlich bewusster Individualität: »... Darum sind die Vorurteile des einzelnen mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins.«28 Zunächst die Herausbildung, aber später auch die bewusste Reflexion solcher Vorurteilsvoraussetzungen setzt (wie am Beginn des Kapitel angedeutet) ein Hineinwachsen in das Milieu einer spezifischen Kultur voraus. Uber Warburg wissen wir jedenfalls, dass er einer spezifischen Kultur, nämlich (wie viele assimilierte Juden) der des Kaiserreichs, so selbstverständlich verbunden war, dass er auch deren nationalistische Einseitigkeiten bis zu einem gewissen Grad teilte. Bernd Roecks Beschreibung der von Warburg in Baden verbrachten Militärzeit (>Karlsruher Utopiatief in der deutschen Hochkultur verwurzelten Nationalisten·«30. Eine sehr problematische Formulierung, die der Warburgschen Ambivalenz, die sich höchstens einmal in einer Verteidigimg des »Deutschtum [s] als rein geistige [r] Angelegenheit«31 äußert, nicht gerecht wird. Viele Nebenbemerkungen und Alltagseintragungen im Tagebuch der Kulturwissenschafidichen Bibliothek Warburg bieten hierzu Hinweise. Eines von vielen Beispielen ist die Kurzcharakterisierung von Besuchern, die beispielsweise so aussehen kann: »Frau Heydenreich habe ich gestern, weil sie der Typus feinster deutscher Weiblichkeit aus Offizierskreisen vor dem Krieg ist, sehr gerne >gefiihrtEinfuhlungsvermögen< zu begreifen suchte. Diese selten beleuchtete Seite des Warburgschen Wesens macht die psychologische Konstellation möglicherweise begreifbarer, aus der heraus er die Scham und Trauer darüber, dass das Deutsche Reich den Krieg verloren hatte, mit dem Arger über das Verhalten Italiens verband, das er als seine zweite Heimat empfand und das seiner Ansicht nach nie hätte in den Krieg gegen Deutschland eintreten dürfen. Die psychisch und politisch prekäre Warburgsche Gefiihlslage lässt sich auch an der Befriedigung ablesen, mit der er ganz selbstverständlich in einem wissenschaftlichen Problemzusammenhang zur Restitution deutscher Kunst aus französischen 28 29 30 31 32

ebd., S. 281 Roeck, B., Der junge Aby Warburg, München 1997, S. 81 ff. Chernow, R., Die Warburgs - Odysee einer Familie, Berlin 1994, S. 86 GS, Bd. VE, S. 205 ebd., Eintragung unter »9/VII 27«, S. 115

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Museen berichtet, wie pommersche Grenadiere hierbei »ihre Knochen zu rein künstlerischen Zwecken riskiert hatten«. 33 Diese Auffassungen - auch als Teil einer nationalen Vorurteilsstruktur drücken sich ebenfalls aus im Brief an den deutschen Botschafter in Rom, Bernhard Fürst von Bülow, dem er vom Ablauf einer Reise nach Italien (die Warburg als eine Art diplomatischer Mission betrachtet hatte) berichtet: »Im Übrigen habe ich hier bei meinen italienischen Freunden das gewohnte herzliche Entgegenkommen gefunden und sie schienen darauf zu warten, von Deutschland selbst etwas zu hören, wenn ich mir nicht schmeicheln darf, die Mehrzahl davon überzeugt zu haben, daß ζ. B. unser Kaiser den Krieg nicht wollte, oder daß Belgien garnicht auf das Privilegium der Neutralität Anspruch machen durfte.« 34 Diese Äußerungen, die Warburg als Vertreter einer zeittypischen Haltung und Gesinnung vorführen, sollen nicht den politischen Warburg in ein neues Licht rücken (obwohl dazu sicher auch Interessantes zu entdecken wäre), sondern verdeutlichen, wie selbstverständlich er eingebunden war in ein sehr spezifisches soziales und ideologisches Milieu, in dessen Schwerefeld er immer wieder Maßnahmen der Eroberung von entwickelte. Zugespitzt ausgedrückt: Er betrieb eine Eroberung rationaler Begrifflichkeiten und moderner wissenschaftlicher Methodik mit den Mitteln des deutschen Kaiserreichs im 19. Jahrhundert. Die Abhängigkeit seines Denkens und Fühlens von einer bestimmten Sozialisierung im Milieu des assimilierten großbürgerlichen Judentums wurde ihm zum Problem und machte ihn zugleich sensibel für die Spezifika weltanschaulicher Vorprägungen, für die Grenzen, die um jede lebendige Kultur gezogen sind. Deren ganz bestimmte und an konkreten Problemen orientierte Rationalität war für ihn der Ausgangspunkt bei der Bestimmung einer umfassenderen aufklärerischen Rationalität. Wenn wir den Warburgschen Rationalitätsbegriff zu den schon skizzierten philosophischen Referenzsystemen in Beziehung setzen wollen, könnten wir dies unter folgenden Schwerpunkten tun. - Transzendentale Sinnrationalität (Neukantianismus) - Methodische Handlungsrationalität (Max Weber) - Orientierungsrationalität, die durch konkrete Aneignungshandlungen in Bezug auf einen Sinnhorizont erworben wird (Aby Warburg) Es wäre überzogen, Aby Warburg einen eigenen geschlossenen Rationalitätsbegriff zu unterstellen. Sicherlich jedoch hat er Elemente anderer Konzeptionen integriert und die Voraussetzungen für Rationalitätsformen zu skizzieren versucht, ohne sie im Rahmen einer Anthropologie zusammenzufügen. Indem Aby Warburg in den bezeichneten Konstellationen Rationalitätsansätze beschreibt, die zur Bildung von Kultur beitragen, versucht er Kulturphilosophie auf 33 34

ASW, S. 107 zitiert nach: Diers, M., Warburg aus Briefen, S. 63

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der formalen Ebene zu ermöglichen. Wilhelm Perpeet hat die Unterscheidung zwischen dogmatischer Kulturkritik, formaler Kulturphilosophie und materialer Kulturphilosophie in seinem Beitrag für das >Archiv für Begriffsgeschichte< 1976 formuliert. Danach bezeichnet Kulturphilosophie der formalen Art eine solche Philosophie, die die Grundlagen und den Gegenstand kulturtheoretischer Untersuchungen näher zu bestimmen sucht. Sie ist Wissenschaft von der Wissenschaft der Kultur. »Sie thematisiert... die >knowledge of culture·«, treibt Logik und Erkenntnistheorie der Kulturwissenschaften.«35 In einer solchen Untersuchung von Wissenschaften der Kultur laufen auch die Warburgschen Bemühungen zusammen; wie weit Warburg nun auf seinem Weg zu einer solchen Wissenschaftsreflexion kam, sollen die folgenden Einzeldarstellungen zeigen.

35

S. 50

Perpeet, W., >KulturphilosophieDu lebst und tust mir nichts< an den Anfang gestellt. Ein Motiv der Notizensammlung ist die Entwicklung des Symbolbegriffs durch verschiedene Epochen der Kunstgeschichte und die Darstellung der psychologi3

Manuskript »Grundlegende Bruchstücke zu einer pragmatischen Ausdruckskunde/zu einer monistischen Kunstpsychologie< (GB), Vorbemerkung, o. S.

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sehen Dimensionen des Kunstschaffens, wobei die einzelnen Bewusstseinsformen allerdings seltsam unausgeführt erscheinen.

Zwischen Einfiihlungsästhetik und objektiven Stil Einerseits werden Schritte der individuellen kreativen Erfassung des künstlerischen Gegenstandes im Rahmen einer Einfiihlungsästhetik definiert, andererseits wird unbefangen über >die Materie< oder >das Leben< als Grundlage eines Zeitstiles verhandelt. »Je mehr ein Künstler bemüht ist, naturwahr zu schildern, desto mehr sucht er die äussere menschliche Erscheinung dort zum Vorwurf zu nehmen, wo das, was wir Ausdruck des Gesichtes nennen, eine durch eine überlegene Macht unmittelbar bewirkte Veränderung der Gliedmassen oder der Haut ist. Je weniger die dargestellte Person im Stande war, mit ihrem Bewusstsein zwischen Anstoß und Ausdruck (zu Bewußtsein zu kommen) zu treten, desto sicherer spricht aus ihm der übermässige Zwang der Zeit und des Raumes, das Leben.« 4 In der Unbewusstheit spricht sich das Wesentliche an den Distanzschaffungsprozessen einer Epoche am deutlichsten aus. Wir hatten schon gesehen, wie Warburg deshalb das Detail in den Mittelpunkt stellt. Das Detail unterliegt nach seinem Verständnis am wenigsten der geistigen Kontrolle des Künstlers. An ihm setzt eine Sinnvermutung deshalb notwendig an, am Zufälligen beweist sich nämlich, ob eine neue Epoche einen neuen Sinn bilden kann und wie sie diesen mit dem alten vergleicht. Am zufällig entstandenen Detail zeigt sich der Geist der Epoche am besten, und zwar der Geist des Vergleichs eigener sinngebender Entwürfe mit denen der neuen Zeit. Im Detail fand die Renaissance-Kunst Möglichkeiten des Abgleichs zwischen christlichem und heidnischem Lebensentwurf. Das Windelbandsche Konzept der retrospektiven Aneignung stochastischer Prozesse wird so in Lamprechtschen Denkstrukturen umgeschmolzen: Zufälligkeit wird neu gedacht, aber in einer Weise, die ermöglicht, dass die wesentlichen Dinge an der neuen Einstellung kulturtraditionsbildend zum »zufälligen Detail< werden können. Wie gezeigt, wird zwischen >dem Details >dem Ereignis< und >dem Zufälligem nicht immer klar unterschieden. Wichtig ist aber, dass der Mensch seine symbol- und traditionsbildenden Kräfte in einem ständigen Bemühen entfaltet, den Kontingenzen gerecht zu werden, Sinn im Unsinnigen zu finden. Ein ständiger Abwehrkampf wird hier mit einer Eindringlichkeit und unterschwelligen Dramatik beschrieben, die zeigt, dass Warburg ihn selbst immer wieder erfahren hat: »Zufällig nennen wir diejenigen Faktoren im Leben, die auf unser Aeusseres oder unsere Handlungen, unser Schicksal nur deshalb sichtbaren Einfluss haben, weil sie auf uns unvorhergesehene Weise (d. h. während wir ein Opfer der Zeit im Thun begriffen sind) einstürmen. Es sind solche Feinde, die, einzeln gegen uns anstürmend, uns weder Tod noch Wunden bringen können.« Und doch sind 4

GB, S. 3

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diese unsichtbaren Feinde ernstzunehmende Trainingspartner bei der Entdeckung von Sinnhorizonten und der Bereitschaft, sich in Phänomene der Symbolwelt einzuleben. In manchen Bemerkungen zu dieser Auseinandersetzung und den Aneignungsbemühungen dominiert die künstlerische Einfühlung, in manchen die quasi-naturwissenschafdich beschreibbare Stilnotwendigkeit qua Notwendigkeit der Sichtweise; Warburg findet »trotz der scheinbaren freiwilligen Selbständigkeit in der Auswahl des Vorbildes nur Ueberwiegen der organisierten Materie und Absorption der künstlerischen Besonnenheit durch dieselbe.«5 Die Antike hat auch hier den Status eines vorbildlichen Reservoirs, aus dem sowohl der individuelle Künstler, als auch das stilbildende Gesamtsubjekt einer Epoche Bereicherung erfahren: Sie hat als »Idealraum« oder »Idealhintergrund« stabilisierende Funktion for Epochenübergänge - »Loslösung vom real-stofflichen Milieu mit Hilfe d. Antike.«6 Dieser >Idealraum< ist aber in den Arbeiten des Menschen unsichtbar immer schon angelegt, erkennbar nur noch als stilbildendes Prinzip und an Details, die der rationalen Kontrolle des Künstlers nicht unterstanden. So werden »stilbildende Principien« zur »typisierenden Hintergrundsformation«7. Damit der menschliche Fortschritt weitergehen kann, müssen also neue Sinnhorizonte entworfen werden können, die mit den alten in Beziehung treten. Um diesen Prozess besser verstehen zu können, versucht sich Warburg an einer Ideologiegeschichte, die gleichzeitig Mentalitätsgeschichte sein soll. Er unterscheidet: »I. Was uns lenkt, kennen wir, aber wir furchten es a) Der Einzelegoismus sich selbst gegenüber gebrochen b) der Gesamtheit gegenüber nicht. - das Heidenthum stellenweise Angstopfer, kein Sicherheitsgefuhl - das Judenthum stete Angstopfer - Sicherheitsgefuhl. (Leben u. Arbeit als ungöttlich angesehen) Π. Was uns lenkt, kennen wir, aber wir furchten es nicht das Christentum stellenweise geistige Opfer - Sicherheitsgefuhl Leben ungöttlich, Arbeit göttlich ΙΠ. Was uns lenkt, kennen wir und wir furchten es nicht die naturwissenschaftliche Anschauung keine besonderen Opfer - Sicherheitsgefuhl (Leben und Arbeit, göttlich).«8 s 6

GB, S. 169/170 GB, S. 173

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GB, S. 172 GB, S. 7 f.

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Ihm gelten die religiösen Formen und die auf ihnen beruhende Sinnstiftung als notwendig fur jede Kulturkontinuität, ohne die abgesetzten Götter keine neue Inthronisation - und sei es von Rationalitätsidealen. Ohne sie auch keine Moral: »Moral Alterthum: Versuch im Leben Befriedigung zu finden Genuss oder Selbstvernichtung Mittelalter: Selbstvernichtung um den Preis zukünftigen persönlichen Lebens. Die Kirche hält die Idee u. d. That des Opfers wach. Der Genuss des Lebens sündlich: die Hölle. Neuzeit: Beschränkung im Genuss; Selbstvernichtung um d. Preis unpersönlichen ewigen Lebens.« 9 Die weltanschauliche Ablaufgeschichte wird nun nicht nur mentalitätsgeschichtlich angereichert, sondern auch mit der physiologischen Theorie über die Nachahmung gekoppelt. Die Kunstproduktion ist für Warburg »wenn sie Menschen bildet, oft nichts als der die Oberfläche der Dinge selbst wieder reproduzierende Causalitätsdrang« 10 Deswegen kann die Geschichte der Ästhetik nur begriffen werden, wenn sie nicht nur die soziologischen und psychologischen Voraussetzungen von kultureller Selbstdefinition einschließt, sondern auch den Menschen als Weltanschauungswesen, das unwillkürlich geistige Sicherungsbewegungen vollzieht. »Zur Gesch. d. Aesthetik. Die Aesthetik kann erst dann methodisch fortschreiten, wenn sie auch das zu charakterisieren lernt, was der Künstler unwillkürlich oder ohne seinen Willen (nachahmend) in seiner Technik materiell, b. Malerei durch Umriss oder d. Stimmung produziert.« 11

2. >Symbolismus aufgefasst als primäre Umfangsbestimmung< Das Manuskript 12 stellt sich im wesentlichen die Aufgabe, über die psychologischen und materialistisch-anthropologischen Beschreibungen hinaus, die Rolle des Symbols für eine Kulturtheorie zu bestimmen. Auf der Titelseite wird dem Symbolismus auch die Rolle der >Schwerkraft im geistigen Haushalt< zugeschrieben. Wieder ist das Bestreben klar, Symbole als Ergebnisse eines Prozesses des Symbolisierens zu fassen, also als Benennen und Abstrahieren im Rahmen der Gegenständlichkeit und Faktizität. Die Rolle der Schwerkraft kann der Symbolismus deshalb einnehmen, weil er gebunden ist an die GB, S. 12 GB, S. 20 11 GB, S. 97 f. 12 Archivkasten 45, Warburg Institut, London 9

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schwerfälligen und langsamen Orientierungen des Menschen in seiner realen Welt. Warburgs Symbole sind erdenschwer und haben nichts zu tun mit intellektualistischen Lichtbauten. Zunächst wird im Manuskript das Warburgsche Bestreben, den Symbolbegriff mit psychologischen Begriffen auszudifferenzieren, besonders deutlich. Schon in seinen Vorbemerkungen (>Dialectische Vorfrage·«) unterscheidet er zwischen dem »differenzierten Zeichen< und dem, was er als »absorbierenden Nährboden< oder >appercipierende Masse< bezeichnet. Letztere sei das Symbol. Hier wird mit Mitteln der Kollektivpsychologie eine Beschreibung der Voraussetzungen von Symbolisierungsleistungen versucht. Spricht Warburg über das Symbol, dann bedient er sich auffallend häufig einer Sprache, die an den Boden, den Untergrund, das Erdreich gemahnt, vom »Wurzelgeflecht< ist die Rede, vom >Humus< oder eben vom »NährbodenRichtungsbestimmungMNEMOSYNE. EINLEITUNG. Letzte FassungAalsuppenstilDistanzschaffen< bezeichnet (Al). 23 Wenn wir an den materialistdsch-biologistischen Ansatz denken, dem Warburg (inspiriert von Charles Darwin) folgte, dann ist hier sicherlich auch das Verharren vor der instinktmäßigen Reaktion gemeint, ein Verhalten, ein Innehalten. Geschehnisse, Dinge und Menschen bewegen uns nicht direkt, sondern wir können im Innehalten verschiedene Verhaltensmuster durchspielen und uns reflexiv zu den Verhältnissen der Welt stellen; so entsteht >DenkraumMaterie< und >Sophrosyne< bezeichnet werden. Der Mensch bewegt sich nach dieser Auffassung zwischen einem Einschwingen in die Materie< und einem »Ausschwingen in die Sophrosynesowohl der Kollektivpersönlichkeit wie des Individuums< koppelt Warburg zwei Erinnerungskonzepte, die er begrifflich weder sauber trennen noch glaubwürdig verschmelzen kann. Im VII. Kapitel habe ich kontrastierend Walter Benjamins Lösungsversuch vorgeführt. Benjamins Erinnerungstheorie 23 24

Manuskript >Mnemosyne. Einleitung. Letzte Fassung< (ME), S. 1 ME, S. 2

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enthält die Vorstellung von der Kollektivseele und vom messianischen Gehalt der Geschichte (»Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird«25). Durch diese Strukturelemente des Messianischen und des >träumenden Kollektivs< als geschichtlichem Wesen bringt Benjamin eine gewisse interne Stimmigkeit in seine Theorie, wenngleich die Integration der Theorieelemente oft mehr ästhetischer Natur ist. Warburg stellt eine solche Stimmigkeit nicht her. Wissenschaft und Kunst ergänzen sich bei ihm in noch nicht geklärter Weise darin, dem kollektiven wie individuellen Gedächtnisträger die Distanzräume zu erhalten. Damit ist einerseits der Gegensatz von Verstand und Gefühl angesprochen, andererseits aber auch der von Abstraktion und Konkretion beziehungsweise von Form und Inhalt. Zum ersten Gegensatzpaar: Die Wissenschaft dokumentiert die rationalen Orientierungsversuche des Menschen, wohingegen die Kunst (und die Religion, wie Warburg an verschiedenen Stellen andeutet) die emotionalen Orientierungsversuche ermöglicht und festhält. Zweitens ist die Wissenschaft (für Warburg oft stellvertretend >die Mathematik< -»[...] dem zwischen religiöser und mathematischer Weltanschauung schwankenden künstlerischen Menschen«) imstande, abstrakte Formeln und allgemeine Begriffe zur Verfügung zu stellen, während die Kunst den Ort artistischer Konkretion benötigt. Nur am einzelnen Kunstwerk nämlich vollzieht sich das Erleben und Wiederaktivieren alter Potentiale, die Wederentdeckung und Neuinterpretation schon eroberter Distanz. Das Werk muss bei der Kunst im Vordergrund stehen. (Es wäre daher auch faszinierend zu fragen, wie Warburg die Infragestellung der Werkästhetik bei späteren Formen moderner Kunst theoretisch integriert hätte.) Kunst wird geschaffen, weil man sich des konkret Vorhandenen affektiv und direkt versichern will: »Zwischen imaginäre(m) Zugreifen und begrifflicher Schau steht das hantierende Abtasten des Objekts mit darauf erfolgender plastischer oder malerischer Spiegelung, die man den künstlerischen Akt nennt.« (A3)26 Erfolgreich verlaufende Distanzschaffungsprozesse gehen in das über, was Warburg >ErbmasseEindruckserbmasseMneme< oder einfach auch >Gedächtnis< nennt. Wie in den Bemerkungen zur Darwin-Rezeption schon angesprochen, kann hierbei gezeigt werden, dass Warburg die Prinzipien der Evolutionslehre auf eigenwillige Art interpretiert hat: neben dem von ihm favorisierten Charles Darwin scheint auch das Denken Jean-Baptiste de Lamarcks, bei dem erworbene Erfahrungen direkt in das Erbgut übernommen werden, eingebunden.

25

Benjamin, W., Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart 1992 26 ME, S. 2

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In A4 leitet Warburg allmählich von den theoretischen Formeln zum eigentlichen bildnerischen Inhalt des Mnemosyne-Atlasses über: Illustriert werden sollen die angesprochenen kulturtheoretischen Behauptungen mit visuellem Material, das vor allem der Renaissancezeit entstammt. Zusammenfassend heißt es hier: »Der Atlas zur Mnemosyne will durch seine Bildmaterialien diesen Prozeß illustrieren, den man als Versuch der Einverseelung vorgeprägter Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens bezeichnen könnte.« (A5)27 Ein >Inventar< soll aufgestellt werden zur Erfassung der Formen, in denen die Renaissance Anregungen stilbildender Art fand; gleichzeitig sollen auch die Ergebnisse dieser Anregungen dokumentiert werden. (Bl).28 Zwei Aspekte der Kunstwerke werden deutlich: als Ergebnisse kreativer Prozesse wie als stilbildende Exempel menschlicher Anschauungsmöglichkeiten. Warburg erwähnt hier eine für sein Vorgehen wesentliche Arbeit - »die Schrift von Osthoff über das Suppletivwesen der indogermanischen Sprache«. Bei dem Erwähnten handelt es sich um Hermann Osthoff (1847-1909), der als Indogermanist vor allem in Heidelberg tätig war und der 1874/76 seine Forschungen im Gebiete der indogermanischen nominalen Stammbildung< veröffentlicht hatte. Ein Thema dieses Buches wurde dann in der kleinen Schrift >Vom Suppletivwesen der indogermanischen Sprachen·«29 vertieft, auf die sich Warburg bezieht. Warburg interessiert an den Osthoffschen Forschungen, dass Sprachformen sich stark verändern können bei Beibehaltung oder sogar Verstärkung ihrer inhaltlichen Bedeutung und intentionalen Ausrichtung. (B2)30 Er zieht die Parallele zur Kunst, wo in anderer Form inhaltlich identisch gedachte Figuren wieder auftauchen können: »wenn etwa die tanzende Salome der Bibel wie eine griechische Mänade auftritt, oder wenn eine fruchtkorbtragende Dienerin Ghirlandajos im Stil einer ganz bewusst nachgeahmten Victorie eines römischen Triumphbogens herbeieilt.« (B3)31 Bei näherem Hinsehen scheint die Parallele zu den Osthoffschen Arbeiten, für deren Relevanz Warburg sicherlich durch das Vorbild Usener sensibilisiert wurde, nicht ganz so glücklich gewählt. Schließlich weist Osthoff nach, wie sich die Wörter bis zu vollkommener Verwandlung ändern, während die mit ihnen verbundene Intention gleichbleibt, wo Warburg doch wohl mehr aufzuzeigen versucht, dass eine mächtige Grundintention (die der Bewahrung schon geschaffenen Distanzraumes) sich immer wieder ähnlicher Ausdrucksformen bedient. Nur deshalb kann bei ihm die ekstatisch tanzende Frau als Mänade oder Salome beziehungsweise die fruchtkorbtragende Frau als Victorie oder Dienerin figurieren. 27

ME, S. 3 ME, S. 3 29 Osthoff, H., Vom Suppletivwesen der indogermanischen Sprachen·«, Heidelberg 1899 30 ME, S. 4 31 ME, S. 4 f. 28

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Ein Hinweis sei hier eingeschoben: Warburg geht einem Zusammenhang zwischen den zeitgenössischen Forschungen zu Grammatik und Sprachgeschichte und einem möglichen Kulturentwicklungsmodell nach, den in anderem Umfeld auch Gottfried Semper sehr viel früher schon gekennzeichnet hatte. In seiner Schrift >Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten< weist Semper darauf hin, dass in der Grammatik wie der Kunstgeschichte >Urformen< ausgemacht werden müssten, von denen aus sich eine Entwicklung sinnvoll konstruieren ließe: »Wie nun die neueste Sprachforschung bestrebt ist, die verwandtschaftlichen Beziehungen der menschlichen Idiome zueinander nachzuweisen, die einzelnen Wörter auf ihrem Gange der Umbildung in dem Laufe der Jahrhunderte rückwärts zu verfolgen und sie auf einen oder mehrere Punkte zurückzuführen, woselbst sie in gemeinsamen Urformen einander begegnen, wie es ihr auf diesem Wege gelungen ist, die Sprachkunde zu einer ächten Wissenschaft zu erheben, sogar das bloss praktische Studium der Sprachen zu erleichtern und über das dunkle Gebiet der Urgeschichte der Völker ein überraschendes Licht aufzustecken, so eben lässt sich ein analoges Bestreben auf dem Felde der Kunstforschimg rechtfertigen, welches der Entwicklung der Kunstformen aus ihren Keimen und Wurzeln, ihren Uebergängen und Verzweigungen diejenige Aufmerksamkeit widmet, die ihnen ohne Zweifel gebührt.« 32 Es wäre eine lohnende Aufgabe, die Beeinflussung durch das Forschungsprogramm der damaligen Sprachgeschichte bei anderen Wissenschaftlern zu verfolgen. Zurück aber zu Warburgs Erörterungen über den Zusammenhang zwischen Einfühlung und Ausdruck. Hierzu sind besonders die folgenden, unter B4 zusammengefassten Thesen wichtig: »In der Region der orgiastischen Massenergriffenheit ist das Prägewerk zu suchen, das dem Gedächtnis die Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergriffenseins soweit es sich gebärdensprachlich ausdrücken lässt, in solcher Intensität einhämmert, dass diese Engramme 33 leidschaftlicher Erfahrung als gedächtnisbewahrtes Erbgut überleben und vorbildlich den Umriss bestimmen, den die Künstlerhand schafft, sobald Höchstwerte der Gebärdensprache durch Künstlerhand im Tageslicht der Gestaltung hervortreten wollen.«34 Es fallt auf, dass eine zwar expressive, aber doch gleichzeitig sich objektivistisch und unpersönlich gebende Sprache verwendet wird; Positivismus und persönliche Gesamtschau verbinden sich. Nicht um die individuelle Erinnerung oder um die individuelle Kreativität kann es gehen, sondern nach Warburgscher Vorstellung wirken allgemeine Kräfte durch den Künstler hindurch. Der Künstler sorgt nur 32

Semper, G., Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Frankfurt a.M. 1860 (Band I), S. lf. 33 Wie in Kapitel VII ausgeführt, hat Warburg diesen Ausdruck wohl von R. Semon übernommen; >Engramm< bezeichnet dann die Spur von Erlebnissen in der Erinnerung. 34 ME, S. 5

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dafür, dass >Höchstwerte der Gebärdensprache im Tageslicht der Gestaltung hervortreten^ Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, dass wiederum Distanzgewinnungsprozesse angezeigt werden sollen, beziehungsweise der Prozess der Distanzgewinnung in den Gebärden präsent gehalten werden soll. Sie werden vom Kunstschaffenden dargestellt in den Grenzen und mit den Mitteln, die ihm aus dem Vorrat des >Erbguts< zur Verfügung stehen. Im >Erbgut< wurden die Engramme >leidschaftlicher Erfahrung< abgelegt, einer scheinbar allgemeinen Erfahrung, da von individuellem Leid nicht die Rede ist. Konsequent geht Warburg dann auch von >orgiastischer Massenergriffenheit< aus, die erst >Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergriffenseins< prägt, welche Grundlage der Engramme sein können. Orgiastische Massenergriffenheit, wie sie Warburg an den Tänzen der Schlangenrituale bei den Indianern festmachte, wie er sie aber auch im Festwesen der italienischen Renaissance (in Anknüpfung an Burckhardt) fand, legt den Vorrat an Ausdrucksformen fest. Es mutet hier seltsam an, dass Formen des Aufgeklärtseins, des Denkraumgewinnes durch Distanz, sich im Rausch der emotionalen und mystischen Ekstase entwickeln sollen. Warum wird die >orgiastische Massenergriffenheit< nicht gerade als Gegenmacht zur aufklärerischen Reflexion aufgefasst? Die Betonung der Massenergriffenheit hängt mit der kollektiven Seite des Warburgschen Erinnerungsbegriffes zusammen. Eine Erkenntnis ist erst dann wirklich gewonnen, wenn sie Teil des allgemeinen Erfahrungsschatzes geworden ist, sich vielen verschiedenen Menschen eingeprägt hat. Erkenntnis ist - als formulierte, tradierungsfähige - immer kollektiv. Damit diese Erkenntnis in das Leben der Menschen integriert werden kann, muß sich deren Lebensform entsprechend ändern; sie müssen erschüttert und verwandelt werden, in der beschriebenen >orgiastischen Massenergriffenheit< beispielsweise. Aber diese kollektive Einverleibung von Erkenntnissen ist von Warburg nicht nur in >orgiastischem< Milieu gedacht worden. Es ist hier besonders an die volkspädagogische Seite in seinem Werk zu erinnern. Wiederholt hat Warburg kunstgeschichtliche Forschungsergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich und verständlich zu machen gesucht. Die von ihm mitgestaltete Ausstellung über Astronomie und Astrologie im Hamburger Planetarium sowie die verschiedenen Vorträge in Arbeiterbildungsvereinen gehören in diesen Zusammenhang. Solche Initiativen flössen zusammen mit seinem Einsatz für die Gründung einer Universität in Hamburg, der in den 20er Jahren dann auch tatsächlich Früchte trug. Dass sich Warburg dieser Verpflichtung einer aufgeklärten Bürgerschaft gegenüber bewusst war und zu ihr programmatisch bekannte, zeigen auch die folgenden Bemerkungen (B5)35, in denen er seine Arbeit klar abgrenzt von der der >hedonistischen Ästheten·«, die ein kunstgenießendes Publikum unterhalten, indem sie sich an der Oberfläche der Phänomene bewegen und diese ihren Zuhörern Oberflächenphänomene zurechtlegen. »Mag wer will sich mit einer Flora der wohl35

ME, S. 5

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riechenden und schönsten Pflanzen begnügen, eine Pflanzenphysiologie des Kreislaufs und des Säftesteigens kann sich aus ihr nicht entwickeln, denn diese erschließt sich nur dem, der das Leben im unterirdischen Wurzelwerk untersucht.« (B5) Kunstgeschichtlich konkreter wird daraufhin die Darstellung des Dionysos und seines Gefolges mit der eines römischen Triumphzuges verglichen. Motive unterliegen einem Prozeß der Umwidmung: Die Darstellung der Massenbewegung in der Gefolgschaft eines Menschen< wird im Laufe der Geschichte disziplinierter und mit staatlichen Ordnungs- und Eingrenzungsbildern vermischt (B6)36. Aber stets bleiben Hinwiese auf ursprünglichere Formen bestehen. So wie in den Reliefs Aspekte ursprünglicher Wildheit erhalten bleiben, so verweisen auch ganze Gebäudekomplexe inmitten ansonsten völlig gewandelter Stadtstruktur auf Bewusstseinszustände der Vergangenheit. Das römische Colosseum beispielsweise konnte so die Bewohner Roms auch noch in der Zeit des Mittelalters und der Renaissance an blutige heidnische Kultur erinnern:»[...] und bis auf den heutigen Tag bleibt Roma die unheimliche Doppelheit des Siegerkranzes des Imperators und der Märtyrer.« (B7)37 Am Beispiel der Rolle des Kaiserkultes und seiner Umdeutung beim Ubergang vom römischen Imperium zur Weltkirche will Warburg plausibel machen, dass die alten Formen neu interpretiert und verändert werden. Darstellungen Trajans werden durch die Konstantins ergänzt, die Kaisergeschichte erhält einen neuen Akzent, der es ermöglicht, die alten Zeugnisse weiter zu verwenden. Dies drückt sich zusätzlich in den erzählten Uberlieferungen aus, so beispielsweise darin, dass dem Kaiser Eigenschaften christlicher Nächstenliebe gegeben wurden, die den Anschluss durch Konstantin plausibel machen. Eine neue Deutung der Tradition wird angeboten, ohne dass die alten, in sich widersprüchlichen Formen gelöscht werden; die Deutung bedient sich also des disparaten Materials, ohne seine inhaltliche Widersprüchlichkeit zu zerstören: »In der berühmten Erzählung von der Pietä des Kaisers gegen die Witwe, die um Recht fleht, ist wohl der feinsinnigste Versuch gemacht, durch energetisch invertierte Sinngebung das imperatorische Pathos in christliche Pietät zu verwandeln; der dahersprengende Kaiser auf dem Relief im Innern, der einen Barbaren überreitet, wird zum Rechtsprecher, der seinem Gefolge Halt gebietet, weil das Kind der Witwe unter die Hufe der römischen Reiter gekommen war.« (B8)38 Solche Phänomene will Warburg aber nicht nur historisch-dokumentierend darstellen, sondern er will die anthropologischen Konstanten ausmachen, die sie ermöglichen. Er verwendet dabei (Cl) 3 9 den Ausdruck von »triebhafter Verflochtenheit des menschlichen Geistes mit der achronologisch geschichteten Materie«. >Achronologisch geschichtet< weist daraufhin, dass Geschichtlichkeit auf der Ebene der künstlerischen Produkte und der sie hervorbringenden kreativen Prozesse an36 37

ME, S. 6 ME, S. 6

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gesiedelt wird. Diese Prozesse gründen aber wiederum in einer ungeschichtlichen Mensch-Welt-Konzeption, die nur mit Begriffen philosophischer Anthropologie zutreffend beschrieben werden könnte. >Achronologisch< verweist ebenso auf die systematische, nicht zeitgebunden Problematik einer solchen Anthropologie. Warburg nähert sich einer solchen immer wieder an, beschreibt ihre Begrifflichkeiten aber nur unzureichend. So weicht er auch in der hier behandelten >Mnemosynedem tragischen ThiasosThiasos< wird eine griechische Kultgemeinschaft bezeichnet, die feiernde Gruppe, die sich im Kult um eine Gottheit vereinigt. Warburg greift dazu die Gegenüberstellung von Apollo und Dionysos auf, die in Friedrich Nietzsches Theorie eine so große Rolle spielt, sieht jedoch die beiden Gottheiten und die mit ihnen verbundenen mystisch-psychologischen Komplexe in einem unaufhebbaren Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit. >Sophrosyne< und >Extase< sollen als spannungsreich vereinigt gedacht werden, sie sollen in der organischen Einheitlichkeit ihrer polaren Funktion bei der Prägung von »Grenzwerten menschlichen Ausdruckswillens< begriffen werden (C2).40 In dieser Konstellation entsteht die Rhetorik der Leidenschaften, aus der nachwirkende Ausdrucksformen entspringen. Mit bildkräftiger Prägnanz drückt Warburg das so aus: »Der thiasosische Prägrand ist geradezu ein wesentliches und unheimliches Kennzeichen dieser Ausdrucksweite wie sie etwa auf antiken Sarkophagen zum Auge des RenaissanceKünstler sprachen.« (C3)41 Die Bilder, die der Renaissance-Künstler der antiken Kultur entnimmt und interpretiert, ermutigen ihn, den Geist seiner Zeit zum Ausdruck zu bringen, der alte Leidenschaftsausdruck weckt Kräfte für den Ausdruck aktueller Leidenschaften. Die neuen emotionalen und intellektuellen Motive werden aber gleich wieder in Formen gebracht, da man Leidenschaft in kunstvoller Form und in der Form der Kunst kennengelernt hat: Stil und Gefühl, Form und Inhalt sind so untrennbar verbunden. So wird nach Warburg dem künstlerischen Genius der seelische Ort angewiesen, »wo er seiner persönlichsten Formensprache dennoch zur Eigenausprägung verhelfen konnte.« (C4)42 In Dl 4 3 gerät der einzelne Künstler in den Blick, für ihn, so Warburg, bedeutet die Auseinandersetzung mit den vorgeprägten Ausdruckswerten die entscheidende Krisis. Solche Ausdruckswerte sind in den Zeugnissen der Renaissance zu finden, tauchen aber mit jener »symbolischen Deutlichkeit, wie sie uns nur die wirkliche Geschichte vergönnt« (Dl) 44 in den Darstellungen und Interpretationen der Gestalt Konstantins wieder auf.

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Der schon erwähnte Konstantinsbogen in Rom und Piero della Francescas Konstantinsschlacht in Arezzo liefern nun die Beispiele. Am Bogen werden die eigentlich trajanischen Reliefs ergänzt und uminterpretiert, in der Schlachtendarstellung stehen sich emotionale Ausdruckskraft, Leidenschaftsrhetorik und kriegerische Ekstase gegenüber. Hervorhebenswert scheint Warburg, dass die soldatische Leidenschaftsrhetorik alle anderen Subkonnotationen des Bildes erschlägt. Warburg spricht in Bezug auf diese Schlachtendarstellung von einem »Leerlauf der künstlerischen Formensprache«. Die Aneignung älterer Ausdruckswerte geht also keineswegs immer problemlos oder produktiv vor sich. Gerade das macht solche Ubernahmeprozesse aber auch philosophisch interessant: Von den Problemen, die sich bei einer strukturellen Deutung der Renaissancen und Wiederentdeckungen ergeben, lassen sich die Beziehungen zwischen einzelnen Kulturanalysen und übergreifend deutenden Kultursynthesen ableiten. Hat der Kulturwissenschaftler diesen Zusammenhang mehrfach in wechselnden Konstellationen begrifflich zu erfassen gesucht, dann ergeben sich systematische Festlegungen für die Rolle, die Kulturanalyse und Kultursynthese im Rahmen einer entfalteten Kulturphilosophie überhaupt spielen können. Warburg beschreibt hier auf psychologischer und soziologischer Ebene, was auch philosophisch-begrifflich formuliert werden kann. Er gibt eine Beschreibung der Ursprungssituation des Mythos vom reinen, klaren, affektharmonischen antiken Menschen. Wie entwickelte sich diese Deutung der Menschen des Altertums als >formenklare 01ympier< (Warburg)? Eine solche Deutung musste sich gegen zwei Darstellungssysteme durchsetzen, die mit ihren Formen auf eine andere Deutung der Antike verwiesen: »Diese zwei Masken sehr heterogener Herkunft, die jene humane Umrissklarheit der griechischen Götterwelt verdeckten, waren die nachlebenden monströsen Symbole der hellenistischen Astrologie und die im zeitgenössischen bizarren Realismus des Mienenspiels und der Tracht auftretende Gestaltenwelt der Antike alia Francese« (D3) 45 Die griechischen Götter hatten, so Warburg, eine Umdeutung erfahren, die sie zu einer >Rotte monströser Gestalten< verkommen ließ. Die Renaissance sah sich (wie Warburg an den Fresken des Palazzo Schifanoia in Ferrara zeigen konnte) mit der Aufgabe konfrontiert, aus diesen >Schicksalshieroglyphen< wieder das Pantheon der Götter zu erfinden, wobei in dieser Erfindung die astrologische Komponente und die aufklärerisch neugriechische amalgamiert sein sollten. Außerdem hatte sich der von Warburg beschriebene >Trachtenrealismus< in die Zeit der Renaissance gerettet, wie er auf flandrischen Bildteppichen oder in Buchillustrationen zu finden war. Damit sind Ubernahmen antiker Gewandformen, Verwendung antiker Gestik und Abbildung antiker Bauten in neuem Kontext gemeint. Vor allem an Details in der Darstellung der Gewänder hatte sich ja Werburgs Forschungsinteresse entzündet. 45

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Zwei Formen der Aneignung werden hier miteinander konfrontiert, die Umbildung und persönliche Aneignung der Götter zu astrologischen Schicksalssymbolen und die Kopie als dokumentierendes Zitat im >TrachtenrealismusBilderfahrzeuge< auf positivistischkunstgeschichtlicher Seite untermauert, spricht er über die anthropologischen Grundlagen der Wiederaneignung alter Bildinhalte nur wenig. In D8 49 erfahren wir, eine >Wiederherstellungssehnsucht< wurzele im >Urreich der heidnischen Religiosität, und durch das >Wunderwerk des normalen Menschenauges< bleibe im Steinwerk >gleiche seelische Stimmung< lebendig. Die Uberlieferung scheint nicht nur eine Form des menschlichen Lebens oder ein bestimmtes Lebensgefiihl zu tradieren, sondern Gegensätzliches: die Hingabe wie die Distanz, das Beherrschtsein wie die Beherrschimg. So hat die Hermeneutik der Pathosformel gleichzeitig die >aktivischen< wie >passivischen< Teile der Bildüberlieferung zu berücksichtigen: »In der Triumphalplastik feierte sich das Jasagen zum Leben in pomphafter Form, während die Sagen auf der (lies: dem) Relief der Heidensärge, der (lies: den) verzweifelten Kampf um den Aufstieg der Menschenseele zum Himmel in mythischen Symbolen vortrugen.« (El) 5 0 Tradition ist so nie ein eindeutiges und ideologisch homogenes Uberlieferungssystem, Geschichte immer die der Herrscher und der Beherrschten, auch der beherrschten wie der unbeherrschten Affekte. Mit kirchlicher Heilsbotschaft wird

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gleichzeitig heidnische Leidenschaft transportiert. Die Gegensätzlichkeit innerhalb der Tradition, die eine formale wie inhaltliche ist, in dauerhaft gültige Formen zu bringen, das ist nun die Aufgabe jeder neuen künstlerischen Epoche; die Renaissance hat hierbei Beispiele stilistisch gelungener Lösungen geschaffen. Die zentrale Rolle der Pathosformel erklärt sich daraus, dass sie dazu beiträgt, die gegensätzlichen Energien fiir Augenblicke in eine stabile Relation zu bringen. Sie zeigt an, wenn alte Lösungsversuche nicht mehr taugen und eine neue Balance gefunden werden muss; so ist sie gleichzeitig ein destruktives Element der Auflösung alter Selbstdefinitionen des Menschen und der Weg zu einer neuen Selbstdefinition. »Ihre Rolle als >Sprengmittel< gegen erstarrte künstlerische und kulturelle Normen kann eine Pathosformel nur erfüllen, wenn sie >energiegeladen< ist und so der nach >Ausgleich suchenden Menschenseele< eine Orientierung im kulturellen Kräftefeld bietet.«51 Solche gelungenen Lösungen finden sich nach Warburg nur dann, wenn geschichtliche Symbole konkret angeeignet worden sind, wenn im Rahmen konkreter menschlicher Subjektivität ein Sinnhorizont entstehen konnte, in dem die Formeln der Vergangenheit wieder sinnvoll dargestellt werden können. Wollte man diese Anregung aufgreifen, müsste man sie mit den Fehlstellen in Rickerts Werttheorie verknüpfen. Können die Warburgschen Anregungen den formalen Charakter einer Wertsetzungstheorie befruchten, ohne dass ein strikt verbindliches, >objektives< Wertsystem entsteht? Anders gefragt: welche Art von Wertsetzungskompetenz ist beim Menschen für die Entstehung von Sinnhorizonten zuständig?

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Barta-Fliedl, I., Chr. Geissmar-Brandi, N. Sato (Hrsg.), Rhetorik der Leidenschaften, S. 70 f.

X. Denkraum und Dynamisierung

» . . . und von diesen von mir so hochgeschätzten allgemeinen Ideen wird man vielleicht später sagen oder denken: diese irrtümlichen Formalideen haben wenigstens das Gute gehabt, ihn zum Herausbuddeln der bisher unbekannten Einzeltatsachen aufzuregen.« 1 Aby Warburg hat nicht nur >unbekannte Einzeltatsachen herausgebuddeltKulturphilosophie< genauer zu bestimmen. In der Antike hat man mit dem Wort >cultura< ein Weitergestalten schon vorhandener Dinge, einer Förderung wünschenswerter Entwicklungsprozesse verbunden, wie in der Landwirtschaft, für die der Ausdruck sehr früh nachgewiesen ist.2 Außer für die Arbeit an den natürlichen Ressourcen wurde der Ausdruck aber auch bald für die >Bewirtschaftung< der Ressourcen von Körper und Geist benutzt. Zu dem lateinischen Ursprungswort >colere< (pflegen, bebauen, würdigen) gehörte etymologisch aber eben nicht nur >culturacultuscultura Christicultura Christianae religioniscultura dolorumKulturphilosophieKultur der Bewegung-:, >EsskulturKultur des Straßenbauss >GesellschaftskulturKultur der Erotik< und anderem aus. Kulturphilosophie nun sollte immer auch über grundsätzlichere Probleme reden als über Feinunterscheidungen bei der Bestimmung des Verhältnisses der Künste untereinander. Sie muss imstande sein, die elementaren Sinnorientierungen des Menschen zu seinen Kulturfahigkeiten in Beziehung zu setzten, sein Weltbild und sein Selbstbild zusammenzudenken. In der nachantiken Entwicklung (von Kultur in unserem Sinne wird circa seit dem 17. Jahrhundert gesprochen) sind wesentliche Weiterentwicklungen des Kulturbegriffes entlang der Achse Kultur-Natur entstanden, hat sich das Verhältnis von Kultur und Natur sowie deren jeweilige Beschreibung im menschlichen Denken mehrmals radikal gewandelt. Ein Kernproblem im Zusammenhang mit der Verwendung des Kulturbegriffs ist dabei das (auch von Warburg untersuchte) Problem der >Natürlichkeit< von Kultur, d. h. die Frage nach den natürlich gegebenen Voraussetzungen und Notwendigkeiten, die Menschen kultivierend auf sich selbst und die Verhältnisse der Welt einwirken lassen. Aby Warburg parallelisiert - mit Rückgriff auf Darwin und materialistische Konzeptionen des Gedächtnisses - (in einer Weise, die ihn unmissverständlich als Kind des 19. Jahrhunderts ausweist) Entwicklungsprozesse im Tierreich wie die Herausbildung animalischer Ausdrucksformen mit menschlicher Kulturproduktion. Die Gesetzmäßigkeiten, die das Tier seine Lebensnische und das zugehörige Verhalten finden lassen und die die reaktiven Instinktmuster für eine komplexe Interaktion mit der Umwelt anschlussfahig machen, geben wesentliche Hinweise für die Orientierung des Menschen im natürlichen wie kulturellen Kosmos. Die Fähigkeit, Symbole zu verwenden (entwickelt aus der Ausdrucksfähigkeit des Tieres), schafft schließlich durch Distanzierung >Denkräume der Besonnenheit, wie Warburg sie nennt, die eine weitere reflexive Entwicklung ermöglichen. Die Ambivalenz des Symbols und seine Anbindung an elementare Orientierungsversuche des Menschen, dies alles vor dem Hintergrund einer Kulturtheorie, die sowohl Lamprechtschen als auch Burckhardtschen Vorgaben zu entsprechen sucht, das sind die spannungsreichen Voraussetzungen Warburgschen Denkens. Dass diese theoretischen Voraus3

Siehe: Halder, Α., Kunst und Kult, Freiburg 1964

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Setzungen nur teilweise amalgamiert werden konnten, lässt sich an der Theorie deutlich ablesen, macht unter anderem aber auch ihre Interpretationsfähigkeit und damit Wirkmächtigkeit aus. Zu den Phänomenen, die den Menschen in ihrer Unerklärlichkeit beunruhigt hatten, findet dieser schließlich ein Verhältnis, das von Warburg mit >Du lebst und tust mir nichts< charakterisiert wird. Damit ist das Unabgeschlossene der symbolischen Lösung mitgedacht; das Problem wird so nicht gelöst im Sinne von aufgelöst, sondern in ungefährlicher Weise auf Distanz, damit aber auch auf Dauer gestellt. Ohne philosophische Terminologie im strikten Sinne zu benutzen, diskutiert Warburg in den einschlägigen Schriften (so beispielsweise im >Schlangenritual-Text< oder den Vorbemerkungen zum Bilderatlas MNEMOSYNE) diese Problematik. Versuche, die Beziehung zwischen der Natur und der Kultur begrifflich aufzuhellen, sind zahlreiche gemacht worden; zur Klärung des Verhältnisses von Natur und Kultur wurden unter anderem Konzepte entwickelt, die eine Anlage zur Vernunft im Reich der Natur annehmen. Menschliche Kulturentwicklung ist beispielsweise bei Immanuel Kant nur möglich, da eine ursprüngliche Anlage zum Vernünftigsein sich unter Umständen der Freiheit entfalten kann. Kultur ist so nach Kant nicht Voraussetzung, sondern Ergebnis von Entscheidungen und Taten; sie ist als eine von freien Akten begründete gedacht. Diese einzelnen Akte der Vernunfteroberung (als künstlerische Akte werden sie von Warburg dokumentiert und interpretiert) können in eine Kulturtheorie aus dem Geiste der Handlungstheorie münden. Bei Warburg gibt es dies beim Ubergang vom Tier- ins Menschenreich, von der Flucht des erschreckten Tieres zum Ausmalen von Renaissance-Kirchen und Beschreibungen des Sternenhimmels. Keime der ursprünglichen Ausdrucks- und Distanzierungsfahigkeit werden von Warburg beschrieben, die sich unter den Bedingungen der freien Handlungsmöglichkeit zum selbstreflexiven Erobern von Sphären der Vernunft wandeln. Erst durch Entwicklung unter den Umständen der Freiheit, durch >Willen zu sich< (Vignoli), erst durch harte Arbeit sowohl an der Welt als auch an sich selbst (Carlyle) entstehen Muster rationaler Lebens- und Schicksalsbewältigung. Wie an diesem und anderen Beispielen wohl schon deutlich wurde, dienten mir Beispiele philosophischer Theorien von Kultur, Kultivierung und Rationalitätsgewinn als Referenzsysteme. Es wurde versucht, in der philosophischen Diskussion Schlüsselprobleme der Begründung von Kulturtheorie zu kennzeichnen und nach den Entsprechungen im Warburgschen Denken zu suchen. So sollten philosophische Dimensionen der Warburgschen kulturtheoretischen Arbeit aufgefunden werden, ohne ihn zum Philosophen umzudenken. Als Theoretiker hat Warburg ein erstaunlich feines Gespür für die Problembereiche der Fundierung von Kulturwissenschaft an den Tag gelegt, das heißt für die Begründungsschwierigkeiten und methodischen Unsicherheiten. Er schrieb zwar im Bemühen, über die Grundlegung einer Methodik zur Sicherung des kulturwissenschaftlichen Gegenstandsbereiches beizutragen, jedoch scheiterte er an wichti-

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gen Stellen. Diese Stellen sind aber eben tatsächlich die entscheidenden, sie stehen in Beziehung zum Begriff der Subjektivität und der Substantialität des Kulturbegriffs, man kann nachträglich nur noch respektvoll feststellen, welche denkerische Leistung schon allein darin lag, solche Sollbruchstellen kulturphilosophischer Ansätze ausgemacht zu haben. Jede Kulturphilosophie muss entweder in Leerformeln enden oder nur einen persönlichen Glauben formulieren, wenn sie nicht zwei Dinge vorgängig deutlich bestimmt: das kulturbildende Subjekt und seine faktische Erfahrungswelt. Warburg hat sich nicht mit der Feststellung dieser Tatsachen begnügt, sondern die Erkenntnisse in der Formulierung eines neuen Symbolbegriffs umzusetzen versucht. Sein Verständnis vom Symbol sollte die Handlungsnatur des Menschen ebenso berücksichtigen wie seine Deutungsnatur. Der Mensch ist nach Warburg ebenso ein Handlungswesen wie ein Weltanschauungswesen. In höchst missverständlicher Weise arbeitete er sich an dieser Doppelnatur mit dem materialistischen und evolutionistischen Begriffsapparat des 19. Jahrhunderts ab. So kommt es zu Formulierungen wie »Der künstlerische Styl als Product der Selbstinterpretation der organisierten Materie.« Mit diesen Begrifflichkeiten konnte er aber nicht auf der Höhe der eigenen theoretischen Bewusstheit über die Anforderungen von Kulturtheorie bleiben. Diese hätten gefordert, die Gedächtnistheorie genauer zu fassen und die Art der weltanschaulichen Hermeneutik zu beschreiben, die sich in seinen Texten zur Lutherzeit und zum Renaissancekaufmann Sassetti andeutet. Gerade über diese weltanschauliche Hermeneutik hätte sich verdeutlichen lassen, wie die sinnstiftenden Gesamtinterpretationen in der konkreten geschichtlichen Existenz zur strukturellen Klammer zwischen den Epochen werden. Völlig ungeklärt bleibt auch der Subjektbegriff, der so konturlos ist, dass Teile der Notizen zum Gedächtnis nur unverbindliche Rhetorik über >kollektives Gedächtnis< oder >Mneme< enthalten. Auch diese Unverbindlichkeit hat sich in die Diskurse der nachfolgenden Zeit übertragen und treibt, sowohl was wissenschaftliche Diskurse, als auch was Debatten im politischen Raum betrifft, seltsame Blüten. Dies alles hätte über eine Neubestimmung des Subjekts im kulturphilosophischen Prozess besser bestimmt werden können. So übernahm in meiner Arbeit gerade unter diesem Gesichtspunkt die neukantianische Theorie die Funktion eines Referenzsystems; wo deren begriffliche Bemühungen enden, beginnt der Bereich, fur den man Werburgs Denken spekulativ fruchtbar zu machen hätte. Bei der Darstellung und Diskussion des Neukantianismus schien mir vor allem auch das Problem der Beziehung vom transzendentalen zum empirischen Ich hervorhebenswert. Der Begriff des transzendentalen Ich ist nach Kant in der philosophischen Diskussion schnell unscharf und damit missbrauchbar geworden. Inwieweit diese Unschärfen schon im kantischen Gebrauch des Wortes angelegt waren, konnte hier nicht weiter geprüft werden. Die Beziehung zwischen dem transzendentalen und

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dem empirischen Ich, die problematische Entwicklung im allmählichen Verschleifen der Begriffe ist jedenfalls einer genaueren Betrachtung wert, da hier im Ich- und Subjekt-Begriff Prozesse des Sich-ins-Verhältnis-Setzens zur >objektiven Kultur< einerseits und subjektiven Kultur< andererseits vermittelt werden - unter Verlust wichtiger Bedeutungsnuancen. Angeknüpft wird so an Entwicklungen im spekulativen Denken des deutschen Idealismus, die Anfang des 2O.Jahrhunderts nochmals virulent wurden. Eduard Spranger führte in seinen >Problemen der Kulturmorphologie< bekanntlich schon an, wie die Entstehung kulturphilosophischer Arbeit an die Wendung des deutschen Idealismus von der Vernunftperson zur objektiven Vernunft gebunden sei. Ob man das kritische Potential, das in einer überpersönlich-objektiven Vernunft steckt, betont, oder im kulturellen Uber-Ich stets noch immer das >Ich< stark macht, ist hierbei entscheidend. »Daß das Vernunftsubjekt niemandem und nichts sich verdanken will als sich selbst, ist sein Ideal und Wahn zugleich. Dieser ist zu durchbrechen durch eine Archäologie der Phantasmen und Verdrängungen, die in die Geschichte des Subjekts eingeschrieben sind.«4 Ein unscharfer oder überfrachteter Ich-Begriff kann ein Selbstermächtigungsdenken in der Kulturphilosophie hervortreiben und zu einem Verständnis von Kultur als voraussetzungsloser Schöpfung aus sich selbst fuhren, wie es T. S. Eliot in seinen »Beiträgen zum Begriff der Kulturkonservative< Dimension des Warburgschen Denkens; auch für ihn wäre Zukunft ohne Herkunft nicht zu denken. Wie schon angeführt, muss Kulturtheorie, die stets auch Kultursynthese ist, ihren stillschweigend zugrundegelegten Kulturbegriff durchsichtig machen können. 6

Wolandt, G., Idealismus und Faktizität, Berlin/New York 1971, S. 157f.

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Es darf nicht zu einer vereinnahmenden begrifflichen Kulturdefinition kommen, die unterschiedliche lebensweltliche Kontexte unter abstrakten Etiketten zusammenzuspannen versucht. Ortega y Gasset kritisierte solche übereilten Kultureinheitskonzepte, die das Selbstverständnis einer kleinen Intellektuellenkultur verabsolutieren. Die Intellektuellen, so schreibt er, hätten theoretisch und praktisch eine Kultur geschaffen, die andere Schichten (die >MassenKultur der Ideen< zu schaffen. Es liegt auf der Hand, daß jede Kultur mit Ideen gemacht wird, doch müssen diese Ideen hauptsächlich Ideen von Dingen, von Gefühlen, von Normen, Unternehmungen, Göttern sein. Sie brauchen darum aber nicht notwendigerweise Ideen von Ideen zu sein. Und die Kultur der letzten Jahrzehnte ist in steigendem Maße intellektualistisch gewesen.« 7 Die Definitionsmacht der kulturbestimmenden Gruppen stützt sich in dem von Ortega y Gasset beschriebenen Fall auf >bloße BeschreibungenWende zur FaktizitätLebensform< als die >geistige Urschicht< zurückverfolgt werden müssen (...). Aber die ausdrückliche und systematische Aufhellung des Ursprungs der Denk- und Anschauungsformen aus der >Lebensform< ist gleichwohl nicht durchgeführt.« 8 Die Ablehnung der Verankerung in einem Konzept von Lebensform korrespondiert einer Uberschätzung der wissenschaftlichen, überpersonalen Methodik. Cassirer unterscheidet ein >natürliches< und ein >wissenschafitliches< Kulturverständnis. Im >natürlichen< Kulturverständnis bleiben die kulturellen Aneignungs-

7 Ortega y Gasset, J., Der Intellektuelle und der Andere, in: Gesammelte Werke, Band IV, Stuttgart 1978, S. 193 8 Heidegger, M., Kant und das Problem der Metaphysik, S. 266

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Denkraum und Dynamisierung

prozesse im vorreflexiven, vorbegrifflichen Rahmen. Intuitiv lebt der Mensch in und mit seinen Werkzeugen, seiner Ausdrucksfähigkeit, seiner Kultur; er lebt sich passiv und unreflektiert in seine Verhältnisse ein. Das >wissenschaftliche< Kulturverständnis hingegen macht die Kultur als Kultur zum Thema der Reflexion, es ermöglicht den Abstand, der aktives und kreatives Weiterentwickeln der kulturellen Formenweit ermöglicht. Wilhelm Perpeet erläutert den Cassirerschen Szientismus so: »Erst mit der Einnahme einer wissenschaftlich-gelassenen Haltung - dies ist ein genuin szientistisches Argument - gewinnt der Mensch die ausreichende Distanz zu den überkommenen Kulturgütern, um deren Formen auch als prägnante Ausdrucksund bestimmte Pathosformen jener konstanten Menschennatur< zu verstehen, die Cassirer übereinstimmend mit der von ihm so hoch geschätzten europäischen Aufklärungsphilosophie der Menschheitsgeschichte unterlegt. Mögen Werke und Formen auch unendlich differenziert sein, so entbehren sie doch nicht der einheitlichen Struktur^«9 Dadurch tritt auch die Bedeutung des einzelnen Werkes in den Hintergrund; es ist nur Teil des überhistorischen Diskurses aufgeklärter Geister. Sein Verstörungspotential, an das Warburg gerade die Traditionskontinuität geknüpft hatte, wird neutralisiert. Warburg bringt dagegen die symbolisierenden Leistungen des Menschen stärker als im kritisierten Cassirerschen Ansatz mit der faktischen Orientierung realer Subjektivität in einer Lebensform in Zusammenhang. Daher kann er nur auf Ansätze für einen symbolisierenden >Charakterzug< des Menschen verweisen, nur ein instinktives Bemühen zeigen, die Bedrohungen durch Angst, Verwirrung und Verzweiflung an der Vielgestaltigkeit der Welt zu verarbeiten. Das Konzept Warburgs ist aktivistischer, d. h. die heilende und sinnstiftende Handlung der Distanzierung und Rationalitätsgewinnung steht stärker im Vordergrund. »Athen will immer wieder aus Alexandrien zurückerobert werden«, so beschreibt Warburg die nie endende Notwendigkeit der handelnden Aneignung rationaler Methoden, der Erschließung von Sinnhorizonten in Landschaften historischer Bewusstheit. Solange der Mensch in diesem Sinne handelndes Wesen bleibt, fähig, sich ergreifen zu lassen, und ebenso fähig, zu ergreifen und zu begreifen, so lange steht ein endgültiger Rückzug von den Geschäften des Geistes, ein Zurücklehnen beim Betrachten des fertig vorgefundenen Kulturkosmos nicht in Aussicht.

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S.SS

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