Die Sinne und die Künste: Perspektiven ästhetischer Bildung [1. Aufl.] 9783839409107

In modernen Zeiten werden die Fähigkeiten der Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Konzentration ganz besonders herausgeforde

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German Pages 276 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Die Sinne, die Künste und die Bildung. Ein Vorwort
Grundlagen
Aisthesis
Schöne Mägde, nützliche Schwestern
Bildung in den Künsten
Die Klänge des Himmels. Über das Singen
(Literar-)Ästhetische Bildung. Lesen und Schreiben als Formen ästhetischer Erfahrung und personal-kultureller Selbstkonstruktion
Die Kunst, sich zu bewegen. Eine erziehungs- und bildungstheoretische Interpretation
Das Spiel mit der Welt. Über das Theaterspielen
Tanzen. Bewegungskunst im Zwischenraum von Leibespoesie und Körpertraining
Leitformel Leben. Eine Grundkategorie für die Theorie kultureller Bildung?
Die Kunst der Bildung
Unterrichtlicher Umgang mit neuer Musik und kultureller Bildung
Ästhetische Bildung und Schulentwicklung
Ästhetische Bildung in der Ganztagsschule
Netzwerken als künstlerisch-pädagogische Strategie
Autorenverzeichnis
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Die Sinne und die Künste: Perspektiven ästhetischer Bildung [1. Aufl.]
 9783839409107

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Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Die Sinne und die Künste

Ästhetik und Bildung | Hg. von Eckart Liebau und Jörg Zirfas | Band 2

2008-05-14 10-59-18 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 033b178714550340|(S.

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Editorial Die Reihe »Ästhetik und Bildung« will die historischen, theoretischen, empirischen und methodischen Grundlagen, die institutionellen Rahmenbedingungen sowie die unterschiedlichen Praktiken im Bereich von Ästhetik und Bildung darstellen und diskutieren. Vor diesem Hintergrund werden die Möglichkeiten ästhetischer Bildung als spezifische Modi der Weltwahrnehmung, des Umgangs mit Anderen und der Persönlichkeitsentwicklung in den Mittelpunkt gerückt. Ein besonderes Interesse gilt dabei den ästhetischen Dimensionen der Körperlichkeit, der Sinnlichkeit, des Geschmacks, der Bildlichkeit und des Performativen sowie den Prozessen ästhetischer Wahrnehmung, Gestaltung und ästhetischen Urteilens; darüber hinaus werden Fragen der Kulturpolitik, der sozialen Bedeutung ästhetischer Haltungen und Praxen sowie der praktischen Bedeutung ästhetischer Bildung in unterschiedlichen Institutionen untersucht. Die Reihe wird im Auftrag des Interdisziplinären Zentrums Ästhetische Bildung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg von Eckart Liebau und Jörg Zirfas herausgegeben.

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Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.)

Die Sinne und die Künste Perspektiven ästhetischer Bildung

2008-05-14 10-59-18 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 033b178714550340|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Sebastian Ruck, Jörg Zirfas Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-910-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt

Eckart Liebau & Jörg Zirfas Die Sinne, die Künste und die Bildung. Ein Vorwort .................... 7

Grundlagen Peter Bernhard Aisthesis .............................................................................................. 19 Johannes Bilstein Schöne Mägde, nützliche Schwestern ............................................. 35

Bildung in den Künsten Peter Bubmann Die Klänge des Himmels. Über das Singen ................................... 59 Volker Frederking (Literar-)Ästhetische Bildung. Lesen und Schreiben als Formen ästhetischer Erfahrung und personal-kultureller Selbstkonstruktion ................................ 73 Jürgen Funke-Wienecke Die Kunst, sich zu bewegen. Eine erziehungs- und bildungstheoretische Interpretation ....... 105 Jörg Zirfas Das Spiel mit der Welt. Über das Theaterspielen ....................... 129 Leopold Klepacki Tanzen. Bewegungskunst im Zwischenraum von Leibespoesie und Körpertraining .......................................... 149 Max Fuchs Leitformel Leben. Eine Grundkategorie für die Theorie kultureller Bildung? ....... 171

Die Kunst der Bildung Peter W. Schatt Unterrichtlicher Umgang mit neuer Musik und kultureller Bildung .................................... 191 Eckart Liebau Ästhetische Bildung und Schulentwicklung ............................... 215 Luise Winterhager-Schmid Ästhetische Bildung in der Ganztagsschule ................................ 227 Wolfgang Zacharias Netzwerken als künstlerisch-pädagogische Strategie ................ 249

Autorenverzeichnis ......................................................................... 273

Eckart Liebau & Jörg Zirfas

Die Sinne, die Künste und die Bildung Ein Vorwort

Die Sinne sind für Menschen zunächst eine Lebensnotwendigkeit. Denn dank der Sinne findet sich der Mensch in der Umwelt zurecht, da sie Informationen in Form von Reizen aufnehmen, diese verschlüsseln und an das Gehirn weiter senden. Man differenziert im Allgemeinen die Fernsinne Sehen, Hören und Riechen von den Nahsinnen wie Schmecken und Tasten, da bei den beiden letzteren die entstehende Empfindung im Sinn selbst verortet wird. Darüber hinaus gibt es die Sinnesorgane im Körperinneren wie das Gleichgewichtsorgan, den Blutdruckfühler, den Dehnungsfühler von Muskeln, Sehnen etc. Insofern wird der gesamte menschliche Selbst- und Weltbezug wesentlich über die Sinne vermittelt, deren Bedeutung dann besonders hervortritt, wenn sich Störungen zeigen. Doch die Sinne sind auch wesentlich für die ästhetische Bildung. Das soll im Folgenden umrissen werden. Verfolgt man die Geschichte der Thematisierung der Sinne im Abendland, so erlebt man eine sehr verwickelte und aufregende Geschichte, in der den Sinnen diverse Fähigkeiten und Wirkungen zugeschrieben werden. Seit der Antike, namentlich mit Demokrit (460-370 v. Chr.), werden im Abendland – und dies gilt nicht für alle Kulturen – fünf Sinne unterschieden. Während Demokrit als erster diese „vollständige“ Auflistung vornahm und den Organen zugleich kognitive Funktionen zuwies, sprach Platons (427-347 v. Chr.) Ideenphilosophie dem Auge den Primat unter den Sinnen zu (die „Idee“ eidos ist vom griechischen Wort für „sehen“ abgeleitet); Aristoteles (384-322 v. Chr.) schrieb dann die Hierarchisierung der Sinne fest in der absteigenden Reihenfolge: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Über die Jahrhunderte hinweg differenzierte man zwischen einer aktiven und passiven, mittelbaren und unmittelbaren, inneren und äußeren, nützlichen und angenehmen Wahrnehmung. Vor allem das christliche Mittelalter problematisierte und verdammte die Sinnlichkeit, insofern diese

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VORWORT

eine moralische Gefährdung des Menschen zur Folge haben konnte. Komplementär dazu wird ebenso darauf verwiesen, dass die Sinne einen gottgewollten Zweck verfolgen und nur durch sie die gottgegebene Schönheit und Ordnung der Welt erfahrbar wird, so dass der richtige Gebrauch der Sinne als das Fundament von Gesellschaft, Politik und Religion gelten kann. Über Platon bis hin zur Moderne werden die Sinne mit dem Undeutlichen, Dunklen und Unklaren in Verbindung gebracht und von der klaren und deutlichen Erkenntnis abgegrenzt. Aristoteles widmet dann als erster Philosoph den Sinnen eine grundlegende Betrachtung, indem er ihre Eigenschaften und Fähigkeiten untersucht. Daß die Sinne einen Logos haben und damit eine theoretische und praktische Relevanz besitzen, hat Aristoteles als erster festgehalten. Gleichwohl hat diese Nobilitierung des Sinnlichen ihre Verkürzung darin, daß sich in ihr schon die Übermacht des Rationalen und eine rationalistische Funktionalisierung der Sinnlichkeit andeutet; eine Tendenz, die sich im Christentum verstärkt, dem die freie Sinnlichkeit lediglich als eine des Teufels erscheint. Die Sinnlichkeit ist für Aristoteles nur der Beginn des Wissens, da sie lediglich das Einzelne, aber nicht das Allgemeine erfassen kann. Die Sinne haben aber nicht nur eine auf Erkenntnis hin angelegte Dimension, sondern sie haben auch eine vitale, empfindsame, eine phatische, lustvolle bzw. leidensvolle Seite. Sinnlichkeit meint auch lust- bzw. schmerzvolles Erleiden. Im Wahrnehmen selbst finden wir Attraktivitäten, Wertorientierungen, Auf- und Abwertungsprozesse, das „Ja und Nein des Gaumens“ (Nietzsche). Und wir streben nach Dingen bzw. fliehen sie, weil wir sie als lustvoll bzw. leidensverursachend erfahren und wahrgenommen haben. Dieses Streben wird in existentiellen Situationen menschlicher Bedürfnisbefriedigung besonders deutlich, nämlich dort, wo es um Nahrung und Sexualität geht. Hier ermöglicht nach Aristoteles die Wahrnehmung der Lust zu erfahren, was einem naturgemäß ist, denn Lust ist die Sprache der Natur oder anders: die Natur kommt in der Lust zu sich selbst. Wobei Aristoteles zwischen den Lustarten differenziert und somit Niveauunterschiede einführt: der eher tierhaften haptischen Lust wird der humane gegenstandsbezogene Geschmack gegenübergestellt. Der schon mit Aristoteles verbundene Niveauunterschied in den Sinnen macht die häufig stattfindende Ineinanderblendung 8

ECKART LIEBAU & JÖRG ZIRFAS: DIE SINNE, DIE KÜNSTE UND DIE BILDUNG

des Aisthetischen mit dem Ästhetischen deutlich: Die Sinne sind die Orte der ästhetischen Erfahrung. Wobei das Ästhetische hier auf eine Distanzierung und eine Abwertung des SinnlichVulgären zugunsten einer höheren und besseren Form des Sinnlichen zielt. Das Sinnliche steht somit in Spannung zum Ästhetischen, welche als seine Vollendungsform gelten kann, da in ihm Momente des Kosmetischen, Schönen und der Versöhnung aufgehoben sind. Diese Spannung von Sinnlichkeit und Ästhetik wird dort besonders deutlich, wo sie im 18. Jahrhundert pointiert dargestellt wird, wie z.B. bei Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762), der mit seiner lateinischen Schrift „Aesthetica“ (2 Bde. 1750-58) eine Neuorientierung und -bewertung der sinnlichen Wahrnehmung intendiert. Denn die Sinnlichkeit kann nur dann als eigenständiges, irreduzibles Vermögen erscheinen, wenn die Rationalität neu bewertet wird, was historisch betrachtet in der Umstellung von metaphysischen Vernunftkonzepten auf Philosophien des Bewußtseins verbunden war. Diese Umstellung kommt eben bei Baumgarten noch nicht vollständig zum Ausdruck, wenn es heißt: „Aesthetica [...] est scientia cognitionis sensitivae“ – „Ästhetik ist die Erkenntniswissenschaft des Sinnlichen“ (§ 1) bzw. „Aesthetica nostra sicuti nostra logica“ – „Unsere Ästhetik ist wie eine Logik“ (§ 13). So wird bei Baumgarten der Schönheitsbegriff mit dem der Wahrheit vermischt, wobei für den Bereich des Sinnlichen eine spezifische Erkenntnis zuständig ist, die immerhin „sensitive Erkenntnis“ genannt wird. Erst Immanuel Kant (1724-1804) trennt die von Leibniz bis zu Baumgarten gültige Konzeption des graduellen Unterschieds von Sinnlichkeit und Verstand, indem er diese als zwei unabhängige Stämme der Erkenntnis begreift. Wie auch immer die Stellung Kants zur Sinnlichkeit bestimmt werden kann, deutlich ist, daß er Sinnlichkeit und Ästhetik auseinanderreißt und so die Autonomie der Ästhetik begründet, die nach ihm als Beschäftigung mit dem Schönen, Erhabenen, der Kunst und der ästhetischen Rezeption in Verbindung gebracht wird. Spätestens mit Kant verliert die sinnliche Erkenntnis in der Ästhetik an Einfluß. Die Trennung von transzendentaler Ästhetik, Anthropologie der Sinne und Urteilskraft, wie sie in der „Kritik der Urteilskraft“ (1790) vorgeführt wird, erfährt dann über Nietzsche und seiner Idee des Leibes als großer Vernunft und Husserls Einsicht in die Abhängigkeit der 9

VORWORT

Erkenntnis von einem vorbegrifflichen, aisthetischen Wissens wiederum eine Neubewertung. Zugleich führen die mit der Industrialisierung verbundenen Oppositionen gegen traditionelle Vorstellungen der Schönheit dann Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer von herkömmlichen Kategorien der Ästhetik freien „Aisthesiologie der Sinne“, wie bei Plessner oder Simmel. Denn nirgendwo wird die kulturelle kollektive Veränderung der Sinnlichkeit deutlicher als dort, wo gewohnte Wahrnehmungsmuster in Frage stehen. Die Erfahrungen mit der ersten industriellen Revolution, des näheren mit der verkehrstechnischen Innovation der Eisenbahn im 19. Jahrhundert, stellen einen deutlichen Schnitt in die kulturellen Wahrnehmungsmuster dar, der mit Schivelbusch auf die Formel der Zerstörung von Wahrnehmungen der Raum- und Zeitstrukturen gebracht werden kann: Desorientierung der Reisenden durch die Entrückung der Landschaft; Verzerrung der Natur durch den Blick aus dem Abteilfenster und die Telegraphenmasten, die als Schriftzüge in der panoramatischen Landschaft wahrgenommen werden; Verlust des Vordergrundes durch die Geschwindigkeit; Ermüdung der Sinne durch stundenlange Fahrtzeiten; Ersetzung der Kommunikation im Abteil durch die Reiselektüre; Passivitätsund Isolierungserfahrungen; Dekonzentrations- und Zerstreuungserscheinungen; extreme Angst- und Schockerlebnisse bei Eisenbahnunfällen. Hier werden kulturelle Reizschutzmechanismen der sinnlichen Wahrnehmung durch technische Entwicklungen durchbrochen. In der Neuzeit zeigen sich mehrere Tendenzen der Sinnlichkeit: In den Kulturwissenschaften wird fast unisono von der Dominanz des Gesichtssinns und dessen diversen Blicken ausgegangen, z.B. dem (ärztlichen) Röntgenblick, dem männlichen Blick, dem Kino- bzw. Fernseh-Auge und dem Überwachungsblick. So bewirkte schon der Umgang mit dem Fernglas, dem Mikroskop oder der camera obscura eine technisch unterstützte Vorherrschaft des Auges und die Handhabung der Kamera die Erfahrung eines bewaffneten Auges, das Bilder schießen kann und somit eine Osmose von Wahrnehmungs-, Kamera- und Kriegstechnologien zustande bringt. Und nicht zuletzt führt der Umgang mit dem Computer zu Wahrnehmungsneuorientierungen durch die Verschriftlichung und Verbildlichung der Welt, deren Charakter sich dank der mit dem Computer verbundenen Zeitbeschleunigung und 10

ECKART LIEBAU & JÖRG ZIRFAS: DIE SINNE, DIE KÜNSTE UND DIE BILDUNG

Raumschrumpfung als programmierbares, kontrollierbares und virtuelles Paradies entpuppt. Andererseits wird auch konstatiert, dass dem Hören (Handy) in letzter Zeit wieder größere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Umstritten ist, ob die Nahsinne wie Tast- und Geschmackssinn (der Geruch), insgesamt an Gewicht verloren haben, oder ob gerade sie uns die „feinen Unterschiede“ (Bourdieu) der verschiedenen Klassen und Schichten verdeutlichen. Umstritten ist auch, ob man kulturkritisch eine zunehmende Disziplinierung, Regression, Nivellierung und Homogenisierung der Sinnlichkeit konstatieren und inwiefern man von einer Entmaterialisierung der Sinne durch die neuen Körpertechnologien sprechen kann, deren Maschinen den Augen Bilder, den Ohren Töne usw. liefern. Hier wird die Zukunft zeigen, inwieweit digitale, computergesteuerte Prozesse die Sinneseindrücke der Sinnensorgane komplimentieren, virtualisieren oder ersetzen können. Unter ästhetischer Bildung wollen wir nun diejenigen Prozesse und Resultate von reflexiven und performativen Praxen verstehen, die sich aus der Auseinandersetzung mit kunstförmigen und als ästhetisch qualifizierten Gegenständen und Formen ergeben. Dabei ist in der Ästhetik die Inhaltsfrage immer auch eine Formfrage, was die Bedeutung der Wahrnehmungsprozesse unterstreicht, denn die Frage, was wir wahrnehmen ist abhängig davon, wie wir wahrnehmen. Ästhetische Bildung wird hier einerseits verstanden als reflektierende und in Urteilen sich präsentierende Bildungsform, die in besonderer Weise die prozessualen Möglichkeiten für Übergänge, Verknüpfungen und das In-BeziehungSetzen von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Imaginationen auf der einen und Kunst, Schönheit und die mir ihr verbundenen Zeichen und Symbole auf der anderen Seite betrifft. Ästhetische Bildung betrifft andererseits die mit der performativen Praxis verbundenen Veränderungen in den Handlungsvollzügen, den Inszenierungsformen und Handlungspraktiken mit Bezug auf als ästhetische geltende Gegenstände, Formen und Kunst. Warum aber ist die Kunst in der Bildung der Sinne so wichtig? Otto Friedrich Bollnow ist dieser Frage phänomenologisch nachgegangen. Er schreibt: „Die in der menschlichen Leibesorganisation gegebenen Sinnesorgane [werden] erst durch die menschliche Arbeit, worunter hier vor allem die

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VORWORT

Werke der Kunst zu verstehen sind, zu eigentlich menschlichen Sinnen. Erst durch das Hören der Musik wird das Ohr zu einem für die Schönheit der Musik empfindlichen Organ. Erst durch die Betrachtung der Werke der bildenden Kunst wird das Auge zu einem für die Schönheit der Form und der Farbe aufgeschlossenen Organ“ (1988: 31).

Oder allgemeiner: „Erst durch die Beschäftigung mit den Werken des objektivierten Geistes, in diesem Fall mit den Werken der Kunst als Erzeugnissen menschlicher Gestaltung, werden die Sinne zu Organen einer differenzierten Auffassung“ (ebd.). Der Mensch ist erst dann „im vollen Sinne Mensch, wenn er die ganze Breite der bisher verkümmerten Sinne zur Entfaltung gebracht hat“ (ebd.: 32). Es ist ein „Kreisprozess“ zwischen gestalteter Wirklichkeit und Entwicklung der entsprechenden Auffassungsorgane im Menschen: „Die gelungene Gestaltung einer bisher ungestalteten oder weniger gestalteten Wirklichkeit entwickelt im Menschen ein ihr entsprechendes Organ des Auffassens, und so leben wir in einer Welt, wie die Kunst uns sie zu sehen gelehrt hat“ (ebd.). In dieser knappen Formulierung – „Wir leben in einer Welt, wie die Kunst uns sie zu sehen gelehrt hat“ – ist ein höchst komplizierter Verweisungszusammenhang eingefangen, der nicht nur das phänomenologische Glaubensbekenntnis umfasst – wir leben eben nicht in einer Welt, wie sie ist, sondern in einer Welt, wie wir sie sehen und die sich damit, als unsere, von allen anderen Welten unterscheidet –, sondern zugleich auf überraschende Weise den Lehrmeister eingrenzt: nicht der Alltag, nicht die Arbeit, nicht die Wissenschaft gibt hier den Lehrmeister, sondern die Kunst. Die menschliche Entfaltung der Sinne kann nur in der Auseinandersetzung mit der entfalteten Kunst gelingen. Die Entwicklung der Sinne, der Sinnlichkeit, ist kein bloßes Naturereignis, das natürlichen Entwicklungsgesetzen folgt, sondern die Entwicklung der Sinne ist ihrerseits kulturell konstituiert. Das Auffassungsvermögen entsteht und entwickelt sich erst in der Begegnung und der Auseinandersetzung mit den kulturellen Objektivationen. Klaus Mollenhauer (1996) und seine Mitarbeiter haben empirisch gezeigt, dass für eine substantielle ästhetische Bildung der Bezug auf die Kunst konstitutiv und unverzichtbar ist. Dies gilt übrigens nicht nur für die domänenspezifischen Kompetenzen, sondern auch für die allgemeinen Schlüsselkompetenzen, Kreati-

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ECKART LIEBAU & JÖRG ZIRFAS: DIE SINNE, DIE KÜNSTE UND DIE BILDUNG

vität, Wahrnehmungsfähigkeit etc., die in der Moderne immer wichtiger werden. Die Künste bieten, so Matthias Winzen (2007), die differenzierteste Form der Wahrnehmung der Wahrnehmung; allein damit ließen sie sich als pädagogisch notwendig begründen. In der klassischen pädagogischen Anthropologie finden sich die entsprechenden Argumentationsmuster (z.B. Bollnow 1988, Meyer-Drawe 1987). Denn die Kunst hat im Vergleich zu Alltagsgegenständen vielfältige strukturelle Vorteile. Im Umgang mit der Kunst sind wir – in der Regel – von existentiellen Sorgen, von objektiven Wahrheitsinteressen und auch von pragmatischen Handlungsinteressen befreit. Zweckfreiheit der Kunst lautet der diesbezügliche Sachverhalt. Der Umgang mit der Kunst spannt uns zweitens ein in die Dialektik von Bezug- und Distanznahme: Wir lassen uns auf Kunstwerke so ein, dass wir gleichwohl – mehr oder weniger bewusst – vergegenwärtigen, dass und wie wir uns auf sie einlassen. Kunstwerke lassen für Wahrnehmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten Spielräume. Das bedeutet drittens, dass uns Kunstwerke und kunstspezifische Handlungsformen in einer spezifischen Weise vor uns selbst bringen, da in ihrer Erfahrung der alltägliche Weltbezug aufgehoben ist. In diesem Sinne sind Kunstwerke ein besonderer Ausdruck der Erfahrungsfähigkeit des Menschen, die mit ihrer modellhaften Intensität eine besondere Relevanz für das Subjekt besitzen. Und das wiederum bedeutet viertens: Kunstwerke verdichten Wahrnehmungen und erzeugen somit Erfahrungen der Offenheit, Mehrdeutigkeit, Differenzierung und Kontingenz. Obwohl sich ästhetische Wahrnehmungen und Erfahrungen auch an nicht künstlerischen Gegenständen gewinnen lassen, besitzen kunstförmige Gegenstände also insofern eine erhöhte bildungstheoretische wie -praktische Bedeutsamkeit, als sie in der Lage sind, ein verdichtetes Spiel von Erscheinungen und Bedeutsamkeiten zu evozieren. Diese Einschätzung trifft sowohl auf die antike wie mittelalterliche Idee der Kunst als techne (ǕƾǘǖLj) – als ein praktisches, auf Herstellung zielendes Wissen, ein regelorientiertes Handwerk – wie auf die neuzeitliche Kunstvorstellung, als kreatives, dem Neuen, Originellen und Irritierenden verpflichtetes Schaffen, zu (vgl. Ullrich 2005). Denn seit dem Beginn der Neuzeit hat die Kunst nicht mehr (nur) die Funktion, das Zweckmäßige und Notwendige hervorzubringen, sondern auch diejenige, die Möglichkeiten des Lebens zu vervielfältigen. Während der Kunst 13

VORWORT

in der Antike und dem Mittelalter Verbindlichkeit, Strenge, Kodifizierung und Verpflichtung zukam, wird die Kunst in der Moderne oftmals mit dem Veränderlichen, Möglichen, Virtuellen und Originellen in Verbindung gebracht. Heute versteht man unter Kunst in der Regel nicht die aus der Praxis ableitbaren Regeln oder die Mimesis der wahren Wirklichkeit, sondern Kunst hat mit Kreativität, Erneuerung, Expressivität und Schöpferischem zu tun. Dass Kunst Menschen in einer, mit kaum einer anderen Lebenspraxis zu vergleichenden, Intensität zu bilden imstande ist, haben Erzieher zwar seit Platons Zeiten immer wieder gefürchtet, aber auch in ihrem Sinne instrumentell zu nutzen gewusst. Kunstwerke und kunstspezifische Handlungsformen sind immer auch Ausdruck und Reflexion eines, je nach historisch-kultureller Situation, spezifisch gestalteten menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses, das in seiner Gestaltung, Wahrnehmung und Erfahrung für die Pädagogik immer – und auch und gerade in ihren kunstkritischen und -negierenden Tendenzen – hoch bedeutsam war. Denn Kunst hat es von Hause aus mit Wahrnehmung, Ausdruck, Gestaltung und Darstellung, eben mit Sinnlichkeit zu tun. Bedanken möchten wir uns an dieser Stelle recht herzlich bei Herrn Sebastian Ruck, der die redaktionellen und satztechnischen Arbeiten dieses Bandes betreut hat.

Literatur Barck, Karlheinz u.a. (Hg.) (1990): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam. Böhme, Gernot (2001): Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München: Fink. Bollnow, Otto-Friedrich (1988): Zwischen Philosophie und Pädagogik. Aachen: Weitz. Bourdieu, Pierre (1979): La distinction. Critique sociale du jugement. Paris: Édition de Minuit. Burckhardt, Martin (1997): Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Geschichte der Wahrnehmung. Frankfurt a.M./New York: Campus. Ehrenspeck, Yvonne (1998): Versprechungen des Ästhetischen. Opladen: Leske + Budrich. Jütte, Robert (2000): Geschichte der Sinne. München: Beck.

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ECKART LIEBAU & JÖRG ZIRFAS: DIE SINNE, DIE KÜNSTE UND DIE BILDUNG

Liebau, Eckart u.a. (Hg.) (2005): Grundrisse des Schultheaters. Pädagogische und ästhetische Grundlegung des Darstellenden Spiels in der Schule. Weinheim/München: Juventa. Merleau-Ponty, Maurice (1945): Phénoménologie de la perception. Paris: Gallimard. Meyer-Drawe, Käte (1987): Leiblichkeit und Sozialität. 2. Aufl. München: Fink. Mollenhauer, Klaus u.a. (1996): Grundfragen ästhetischer Bildung. Weinheim/München: Juventa. Mollenhauer, Klaus/Wulf, Christoph (Hg.) (1996): Aisthesis/ Ästhetik. Zwischen Wahrnehmung und Bewußtsein. Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Paragrana (1995): Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Band 4: Aisthesis. Berlin: Akademie. Serres, Michel (1985): Les cinq sens. Philosophie des corps mêlés 1. Paris: Grasset. Schivelbusch, Wolfgang (1989): Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Fischer. Ullrich, Wolfgang (2005): Was war Kunst? Biographien eines Begriffs. Frankfurt a.M.: Fischer. Welsch, Wolfgang (1987): Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre. Stuttgart: Klett-Cotta. Winzen, Matthias (2007): „Eine eigene Form der Wissenschaft: Kunst“. In: Bilstein, Johannes u.a.. (Hg.): Curriculum des Unwägbaren. Ästhetische Bildung im Kontext von Schule und Kultur. Oberhausen: Athena, S. 133-156 Zirfas, Jörg (2000): Aisthesis. In: Der Blaue Reiter 12: Schön Sein. Journal für Philosophie. Stuttgart: Omega, S. 70-72.

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Grundlagen

Peter Bernhard

Aisthesis

Einleitung Wie vielfältig Bildung, Kunst und Sinnlichkeit miteinander verflochten sind, zeigt sich im Laufe der Geschichte erst allmählich. Dies ist nicht zuletzt auf den Bedeutungswandel des Wahrnehmungsbegriffes zurückzuführen. Ursprünglich besitzt das heute mit „Wahrnehmung“ übersetzte griechische „aisthesis“ eine breitere Bedeutung: Einerseits meint es „Sinn“ und „Sinnesorgan“, andererseits ist es bezüglich der Wahrnehmung nicht auf das sinnliche Erfassen beschränkt, sondern kann jegliches Gewahrwerden (auch in der Bedeutung von innerem Empfinden) bezeichnen. Das aus der Alltagserfahrung stammende, vorreflexive Verständnis von Wahrnehmung beruht vor allem auf einer organspezifizierenden Klassifikation, in der Wahrnehmen als mentale Funktion bestimmter körperlicher Organe gilt. Danach wird das Sehen den Augen, das Hören den Ohren, das Riechen der Nase, das Schmecken der Zunge und das Fühlen der Haut zugeordnet. Dieses Grundverständnis lässt sich mit variierenden Spezifikationen für jede Kultur nachweisen (vgl. Classen 1993). Daneben findet sich noch eine qualitätsidentifizierende Einteilung, in der Wahrnehmung als ein Instrument zur Erfassung unterschiedlicher Qualitäten gilt und die Rede von „Druckwahrnehmung“, „Temperaturwahrnehmung“, „Schmerzwahrnehmung“ usw. erlaubt. Diese beiden Modelle bilden lange Zeit die unhinterfragte Folie der meisten Wahrnehmungstheorien. Die gegenwärtigen wissenschaftlichen Definitionen bestimmen Wahrnehmung als einen psychophysischen Prozess, so dass sie unter zwei Aspekten expliziert wird: einerseits psychologisch als die von einem Organismus gebildete Repräsentation von dessen Umwelt und dessen eigenem Körper (bzw. Teilen davon), andererseits physiologisch als derjenige Vorgang, bei dem die Sinnesorgane physikalisch-chemische Energien erzeugen, die in elektrische

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GRUNDLAGEN

Impulse transformiert, bestimmte Regionen des Gehirns erregen. Daneben existiert ein dritter, informationstheoretischer Ansatz, wonach Wahrnehmung als der Sinnengebrauch zum Zwecke der Gewinnung von Information bezüglich der Außenwelt bestimmt wird. Da diese Bestimmungen große Interpretationsspielräume besitzen, gestatten sie ein breites Spektrum zeitgenössischer Wahrnehmungstheorien, wobei gegenwärtig auch Ansätze diskutiert werden, die diesen Explikationen gänzlich widersprechen. Die Vielfalt nicht nur der historischen, sondern gerade auch der aktuellen Positionen, lässt die theoretische Tragfähigkeit der Aisthesis fragwürdig erscheinen, eröffnet aber zugleich die Chance, sie einer Ästhetik anzuverwandeln, die sich gegen jede unmittelbare Bestimmbarkeit wendet, auch bezüglich ihrer eigenen Komponenten. Demnach wäre Wahrnehmung nicht auf eine vorgefundene Fähigkeit, sondern auf eine interaktiv erschlossene Kompetenz zurückzuführen, deren Taxierung um so besser gelänge, je mehr von ihrem gesamten Bedeutungspotential in diesen Konstitutionsprozess einflösse.

1. Historischer Abriss Sinneswahrnehmung wird in der Antike zumeist als passives Rezipieren begriffen, d. h. als eine durch äußere Objekte verursachte Affektion der Sinnesorgane. So spricht Empedokles von Ausflüssen, die Atomisten Leukipp und Demokrit (und ähnlich Epikur) von Bildern, die von den Dingen ausströmen oder sich davon ablösen, um durch die Poren der Sinneswerkzeuge zu treten, bzw. – wie bei den Stoikern gelehrt – dort einen Abdruck zu erzeugen, wobei jedes Organ als nur für bestimmte dieser Einwirkungen empfänglich vorgestellt wird. Die Abwertung des Wahrnehmungsvermögens und der sich darauf berufenden Erkenntnisansprüche bildet ein wesentliches Moment griechischer Philosophie. Bereits Parmenides begründet ein lange Zeit gültiges Paradigma, als er strikt zwischen dem sinnlichen und dem gedanklichen Erfassen einer Sache unterscheidet, doch allein dem Zweiten zugesteht, das stets gleich bleibende Sein erfassen zu können und somit sicheres Wissen (epistéme) zu erwerben. Dagegen sei die Sinneswahrnehmung ausschließlich auf das Werden der sich permanent verändernden Dinge gerichtet, weshalb sie zu bloßer Meinung (doxa) führe (es wird also nicht auf die Falschheit, sondern

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PETER BERNHARD: AISTHESIS

auf die Nichtigkeit des durch die Wahrnehmung Vermittelten abgestellt). Platon präzisiert diese Gedanken dann, indem er den Bereich des Werdens mit den sinnlich wahrnehmbaren Körperdingen und den Bereich des Seins mit den nur rein geistig erfassbaren Ideen identifiziert. Es ist wohl diese allgemein anerkannte Geringschätzung (zu der es auch Ausnahmen gibt; Empedokles etwa betrachtet die Sinneswahrnehmung als eine eigenständige, wenn auch dunkle Form der Erkenntnis und Epikur erhebt sie sogar zum primären Wahrheitskriterium), die detaillierte Wahrnehmungstheorien bei den Griechen verhindert. So existiert ein über Generationen andauernder Streit darüber, ob beim Wahrnehmungsakt Gleichartiges durch Gleichartiges oder durch Entgegengesetztes aufgenommen wird (z.B. das Warme in den Dingen durch das Warme oder das Kalte in uns). Die gewichtige Ausnahme bildet Aristoteles, der die erste wissenschaftliche Wahrnehmungstheorie der Antike liefert (vgl. Welsch 1987). Zwar bestreitet auch er die Möglichkeit, durch Wahrnehmung unmittelbar Wissen zu erlangen (da sie nur Einzelnes und nicht Allgemeines erfasst), konstatiert jedoch ebenfalls, dass mit Wahrnehmung das Wissen beginnt. Dabei stellt er eine vierfache Relativität in Rechnung, wonach sich eine Wahrnehmung je nach Lebewesen, Zeitpunkt, Sinnesorgan und den spezifischen Umständen verändern kann. Ebenso modern mutet Aristoteles’ Feststellung an, dass das Wahrnehmen eine (durch Erfahrung und Gedächtnis vermittelte) Interpretationsleistung darstelle. Im Mittelalter (in dem die naturphilosophischen Schriften des Aristoteles zunächst unbekannt sind) wird dem scholastischen Systematisierungsdrang entsprechend vor allem die Verortung und Klassifikation der einzelnen Wahrnehmungsvermögen vorangetrieben und auf diese Weise ein recht umfängliches Detailwissen angehäuft. Zu der von der Antike übernommenen epistemologischen Geringschätzung tritt nun noch ein moralisch motiviertes Misstrauen gegenüber der Wahrnehmung, da die ganz dem Irdischen verhaftete Sinnlichkeit mit ihrer Nähe zur Sinnenfreude als das Haupteinfallstor sündhafter Versuchung gilt (auch hier gibt es freilich Ausnahmen; so ist die sinnlich erfahrbare Schönheit der Schöpfung ein immer wiederkehrendes Motiv für die Lobpreisung Gottes).

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GRUNDLAGEN

Die Berechtigung dieser fundamentalen Wahrnehmungsskepsis wird erst im Zuge eines neuen Wissenschaftsethos zu Beginn der Neuzeit bestritten. Am Anfang dieser Entwicklung steht Francis Bacon, der in seinem Novum Organum eine Abkehr von der empiriefeindlichen Praxisferne der Scholastik zugunsten einer ebenso erfahrungsgesättigten wie anwendungsorientierten Forschung fordert (wie naiv sich diese Forderung im Detail auch darstellt). Von da ab bildet der an das Wahrnehmungsvermögen anknüpfende Empirismus eine dauerhafte erkenntnistheoretische Position, die im Sensualismus John Lockes (nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu) und George Berkeleys (esse est percipi) ihre vorläufigen Extrema erreicht. Auch auf Seiten der vermeintlichen Gegenposition des Rationalismus wird der Wahrnehmung eine zumindest untergeordnete Rolle für die Erkenntnis zugestanden. So sieht Leibniz in der Wahrnehmung eine durch verschiedenste Ursachen verunreinigte und deshalb verworrene Erkenntnisform, die erst mit Hilfe des Verstandes eine Klärung erfährt. Kant bringt schließlich den Streit zwischen Empiristen und Rationalisten zu einem vorläufigen Abschluss, indem er die Wahrnehmung (bei ihm auch „Anschauung“ oder „Empfindung“) zu einer Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt erklärt und dabei zu dem berühmten Dictum gelangt, dass Gedanken ohne [empirischen – P. B.] Inhalt leer und Anschauungen ohne Begriffe blind sind. Im Zuge dieser funktionalen Ausdifferenzierung von Sinnlichkeit und Verstandesleistung führt Kant die Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Erfahrung bzw. zwischen Wahrnehmungsurteilen und Erfahrungsurteilen ein (vgl. Kant 1977: §§16–20; Bernhard 2003). Danach bildet ein Wahrnehmungsurteil eine Selbstauskunft über gemachte Wahrnehmungen, die keinerlei Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erhebt. Werden die Wahrnehmungen jedoch „unter einen Verstandesbegriff subsumiert“, d. h. als notwendig miteinander verknüpft vorgestellt, dann liegt ein Allgemeingültigkeit beanspruchendes Erfahrungsurteil vor. So ist die Aussage „Ich sehe, dass die Sonne den Stein bescheint und fühle, dass er warm wird“ ein Wahrnehmungsurteil. Setzt man die beiden Wahrnehmungen in ein Ursachenverhältnis (d.h. subsumiert man sie unter den Begriff der Kausalität), so entsteht das Erfahrungsurteil „Wenn die Sonne den Stein bescheint, dann wird er warm“ (dabei ist zu beachten, dass es nicht auf die sprachliche, sondern allein auf die logische Form der Urteile ankommt, dass in 22

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diesem Falle also die Form „Ich bin X und Y wahrnehmend“ von der Form „X ist Y verursachend“ zu unterscheiden ist). Die im Anschluss an Kant einsetzenden Bemühungen, die aufgeworfenen transzendentalen Fragestellungen mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden zu bearbeiten, führen zur Gründung von Sinnesphysiologie und -psychologie als eigenständige Disziplinen, die vor allem von Johannes Müller, Hermann von Helmholtz und Wilhelm Wundt geprägt werden. Diese breite Forschungsströmung übt einen nachhaltigen Einfluss auf die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konstituierenden künstlerischen Avantgarden aus und legt die Fundamente für verschiedene, noch heute aktuelle wahrnehmungstheoretische Positionen. So formuliert etwa Müller 1826 das „Gesetz der spezifischen Sinnesenergien“, wonach jedes Sinnesorgan auf qualitativ unterschiedliche Reize immer mit der gleichen Empfindungskategorie reagiert (das Auge z.B. reagiert auch auf Druck mit einer Lichtempfindung, dem sog. „Sternchensehen“). Wenngleich schon in der antiken Philosophie auf die systematische Bedeutungsgenerierung beim Wahrnehmen hingewiesen wird, so ist es doch Müllers Arbeit, die diese Einsicht in der modernen Sinnesphysiologie verankert. Es vergehen dann noch einmal rund hundert Jahre, bis in der Gestalttheorie vermeintliche Modifikationen der Wahrnehmung als unreduzierbare Ganzheiten beschrieben werden und weitere fünfzig Jahre, bis der von Ernst von Glaserfeld begründete radikale Konstruktivismus Wahrnehmung insgesamt nicht als ein Abbilden, sondern als ein subjektives Konstruieren (im Sinne von neurophysiologischem Errechnen) der Realität erklärt und somit die Möglichkeit für „objektives Wissen“ grundsätzlich verwirft. Unterstützt wird dieser erkenntnistheoretische Relativismus von einer Biologie, die an das Darwinistische Verständnis von Wahrnehmung als lebensdienlicher Selektion anknüpfend das Organismus-Umwelt-Verhältnis als einen passiv-aktiven „Funktionskreis“ beschreibt, in welchem die Wahrnehmung die Funktion der sensorischen Einpassung in das Milieu erfüllt. Aus einem naturwissenschaftlichen Sensualismus entwickelt sich ab den 1870er Jahren auch der Empiriokritizismus von Ernst Mach und Richard Avenarius. Deren Grundannahme, dass alle Körper lediglich als relativ stabile, aber doch zeitlich begrenzte „Empfindungskomplexe“ (d. h. als Ansammlungen von simultan Wahrgenommenem) anzusehen sind, wird zur These zugespitzt, 23

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dass die sinnliche Erfassung (als überhaupt einzig mögliche Erfassung) der Umwelt als Teil der Selbsterkenntnis zu gelten hat (da man sich bei allen Wahrnehmungen (teilweise) auch selbst wahrnimmt). Die daraus gefolgerte Überwindung der Subjekt-ObjektSpaltung veranlasst Mach zu der viel zitierten Feststellung „Das Ich ist unrettbar“, womit das Postulat auch der letzten metaphysischen Substanz – des Subjekts – aufgegeben ist (vgl. Mach 1911). In seinem Einfluss auf die verschiedenen Kunstrichtungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Empiriokritizismus kaum zu überschätzen. Er wirkt sowohl unmittelbar auf Einzelpersonen wie Robert Musil, der 1908 mit der Arbeit Beiträge zur Beurteilung der Lehren Machs promoviert, als auch mittels institutionalisierter Formen, wie über die von Richard Avenarius’ Bruder Ferdinand herausgegebene Zeitschrift Der Kunstwart oder den von Alexander Bogdanov gegründeten Proletkult, der seit 1905 in Russland tätigen Organisation zur Schaffung einer spezifisch proletarischsozialistischen Kultur, der sich viele osteuropäische Avantgardekünstler anschließen (vgl. Bernhard 2005). In der Philosophie wird die sensualistisch fundierte Antimetaphysik des Empiriokritizismus weitergeführt vom logischen Empirismus, der sich in Wien 1928 im Verein Ernst Mach breitenwirksam institutionalisiert. Der logische Empirismus radikalisiert die empiriokritizistische Position durch die Aufstellung eines sog. Sinnkriteriums, das jede Aussage, die sich nicht auf eine Aussage über Sinneswahrnehmungen zurückführen lässt, als sinnlos verwirft. Zugleich wird eine Intersensualitätsthese vertreten, wonach jede wissenschaftlich relevante (d.h. intersubjektiv zugängliche) Information durch prinzipiell jedes Sinnesgebiet (das optische, das taktile, das akustische usw.) gewonnen werden kann. In diesem Sinne sollten wissenschaftliche Aussagen „qualitätsfrei“ sein, d. h. auf Aussagen über Wahrnehmungen jedes Sinnesgebietes zurückgeführt werden können (vgl. Neurath u.a. 1929). Im Umfeld des logischen Empirismus (vor allem bei Russell und Moore) wird auch der im älteren Empirismus gängige Term der „Empfindung“ (engl. „sensation“) bzw. des „Eindrucks“ (engl. „impression“) mit Hilfe des Begriffs des Sinnesdatums (engl. „sense-datum“) präzisiert (vgl. Price 1932). Während der Empfindungsbegriff zugleich Akt- und Objektbedeutung besitzt, so dass „Empfindung“ sowohl das Wahrnehmen als auch das Wahrgenommene bezeichnen kann, bezieht sich „Sinnesdatum“ aus24

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schließlich auf das in der Wahrnehmung Gegebene. Damit sind Sinnesdaten auch eindeutig gegen die (evtl. die Wahrnehmung verursachenden) Objekte der Außenwelt abgegrenzt. Im Gegensatz zu älteren Autoren wir Locke, Hume oder Berkeley sieht bereits Mach diese Ambiguitäten, tut sie jedoch als metaphysisch ab und setzt „(Sinnes-)Empfindung“ mit „Element“ gleich. Der Begriff des Sinnesdatums beansprucht allerdings metaphysische Neutralität. Er bietet die Möglichkeit, zwischen den sinnlich gegebenen Daten und den äußeren, materiellen Gegenständen zu unterscheiden und damit Phänomene wie Sinnestäuschungen oder Halluzinationen auf einfache Weise zu beschreiben (als die Nichtübereinstimmung von Sinnesdatum und Außenwelt). Dabei wird vorausgesetzt, dass nur die aus den Sinnesdaten gefolgerten Eigenschaften der Gegenstände einer Korrektur zugänglich sind, nicht aber die Sinnesdaten selbst. Mit dem Sinnesdatenbegriff lassen sich auch die verschiedenen Wahrnehmungstheorien klassifizieren, etwa anhand der Frage, welche Natur sie den Sinnesdaten zusprechen, oder wie sie das Verhältnis von Sinnesdaten und äußerer Welt bestimmen. Trotz dieser Vorteile ist die Sinnesdatentheorie nach wie vor umstritten. So teilt sie zwar mit der Phänomenologie die These von der Intentionalität der Wahrnehmung, derzufolge man beim Wahrnehmungsakt immer auf etwas bezogen ist (d.h. man kann nicht nur wahrnehmen, sondern kann nur etwas wahrnehmen). Aber bereits Husserl kritisiert die mit jedem „Datensensualismus“ einhergehende Hypostasierung von Bewusstseinsinhalten. Die jüngste und bislang radikalste Kritik stammt von der sog. Adverbialtheorie der Wahrnehmung (vgl. Ducasse 1951). Auch sie spricht sich dagegen aus, Sinnesdaten als (wie auch immer beschaffene) mentale Objekte aufzufassen, was durch die grundlegende Unterscheidung von Wahrnehmungsakt und Wahrnehmungsobjekt schon vorgezeichnet ist. Im Gegensatz zu Phänomenologie und Sinnesdatentheorie lehnt sie deshalb die Intentionalitätsthese gänzlich ab. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass man sich beim Wahrnehmen eben nicht in einer bestimmten Beziehung, sondern in einem bestimmten Zustand befindet. Die Wahrnehmung äußerer Gegenstände gleicht somit der „inneren Wahrnehmung“: Ein bei der Konstatierung „Ich habe Zahnschmerzen“ angenommenes Objekt namens „Zahnschmerz“ gilt als ebenso metaphysisch wie die Unterstellung des Objektes „Baum“ auf25

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grund der Feststellung „Ich sehe einen Baum“. Damit wird die von Thomas Reid eingeführte und allgemein akzeptierte Unterscheidung zwischen Empfindung (engl. „sensation“) und Wahrnehmung (engl. „perception“) für ungültig erklärt (vgl. Reid 1764). Reid bemerkt bereits Mitte des 18. Jahrhunderts, dass die identische grammatische Struktur von Sätzen, die Empfindungen ausdrücken (z.B. „Ich fühle einen Schmerz“) und Sätzen, die Wahrnehmungen konstatieren (z.B. „Ich sehe ein Haus“) dazu verführt, die darin geäußerten Sachverhalte zu analogisieren: zum einen bezüglich des sich darin artikulierenden Vermögens (so dass eine „äußere“ und eine „innere Wahrnehmung“ postuliert würde) und zum anderen bezüglich der Befindlichkeit des sich äußernden Subjektes (das in beiden Fällen als ein gerichtetes gelte). Der Sprachgebrauch gebe jedoch nur den Wahrnehmungsfall korrekt wieder. Im Falle des Empfindens läge dagegen eine sprachlich nicht vermittelte Identität von Empfindung und Empfundenem vor (so sei „einen Schmerz empfinden“ gleichbedeutend mit „geschmerzt sein“ usw.). In der Adverbialtheorie wird nun auch die sprachliche Adäquatheit für den Wahrnehmungsfall bestritten. Will man demgemäß das Wahrnehmen in der entsprechenden grammatischen Form beschreiben, dann muss man Adverbialkonstruktionen bilden. Aus „Ich sehe blau“ würde etwa „Ich sehe blauhaft“ bzw. „Ich sehe auf blaue Weise“; aus „Ich sehe Schemen“ würde „Ich sehe schemenhaft“ usw. Sprachliche Analogien lassen sich durchaus bei anderen Tätigkeitsbeschreibungen finden. So meint z.B. „Ich tanze Walzer“, dass man in einer bestimmten Art und Weise tanzt. Eine grundsätzliche Umorientierung wird zunehmend auch aus einer kulturkritischen Position heraus gefordert, die eine „Gleichberechtigung aller Sinnesvermögen“ einfordert und deshalb den spezifischen Gehalt jedes einzelnen Sinnes herausstellt. Ausgangspunkt der Kritik ist die im abendländischen Denken vorherrschende „Visual-Dominanz“, wogegen eine Kultivierung bislang vernachlässigter Sinnessphären, oder gar eines neuen „Leitsinnes“ zu setzen sei, die mit der Umstellung der gesamten Kultur einhergehen bzw. diese einleiten solle. Prominente Vertreter bzw. Vordenker solcher Programme lassen sich in der Neuzeit für jeden Sinn finden. So konstatiert Condillac, dass allein der Tastsinn den Menschen zum Selbstbewusstsein befähigt, da nur durch diesen Sinn der eigene Körper in Abgrenzung zu anderen 26

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Körpern wahrgenommen werden könne. Nietzsche hingegen empfiehlt gegen die „Tyrannei des Auges“ eine Kultivierung des „dritten Ohres“ zur Hinführung auf eine Musikalisierung aller Wahrnehmung. Aktuell treten z.B. Wolfgang Welsch für eine „akustische Kultur“ (vgl. Welsch 1993) und, vor allem medientheoretisch motiviert, Derrick de Kerckhove für „die Wiederentdeckung des Tastsinnes“ ein (vgl. Kerckhove 1993). Die bislang umfassendste Begründung für eine Analyse der sinnlichen Eigenarten gibt Helmuth Plessner. Für ihn erhellt sich damit das Phänomen sinnlich vermittelter Sinngebung, das nicht nur für die Ästhetik, sondern auch für die grundsätzlichere Frage nach der Verfasstheit des Menschen von zentraler Bedeutung ist. Seine daraufhin konzipierte „Ästhesiologie des Geistes“ als eine Wissenschaft von den materialen Bedingungen unserer Werturteile soll deshalb sowohl der Ästhetik als auch der Philosophischen Anthropologie dienen, indem sie einerseits der Frage nach der Determination des ästhetischen Eigensinns durch das Aisthetische nachgeht und andererseits den Weg für die Überwindung des Leib-Seele-Problems vorzeichnet (vgl. Plessner 1981). Aufgrund dieser Tragweite versteht Plessner die Ästhesiologie als eine Kritik der Sinne, die das Komplement zu Kants Kritik der Vernunft bilden soll. Damit wäre ein gewisses Gleichgewicht zwischen mundus intelligibilis und mundus sensibilis erreicht.

2. Grundlegende Unterscheidungen Neben den unmittelbaren Erklärungsansätzen hat es immer wieder Versuche gegeben, das Wahrnehmungsphänomen mittels verschiedener Ausdifferenzierungen näher zu bestimmen. So konstatiert Gilbert Ryle, dass es im Wortfeld von Wahrnehmung zwischen „Unternehmenswörtern“ und „Erfolgswörtern“ zu unterscheiden gilt (vgl. Ryle 1949). Die ersteren bringen eine Art des Beschäftigtseins, bzw. eine Bemühung, die zweiten den Erfolg einer solchen Bemühung, bzw. allgemein ein Ergebnis zum Ausdruck. Ein damit einhergehendes Unterscheidungsmerkmal ist das jeweils kontextualisierte Zeitverhältnis: Das durch Unternehmenswörter Bezeichnete findet in einem Zeitraum statt, das durch Erfolgswörter bezeichnete hingegen zu einem Zeitpunkt. Verdeutlichen lässt sich Ryles Distinktion z.B. mit dem Satz „Hans horchte, bis er den Wagen hörte“: Während „horchte“ eine länger andau-

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ernde Tätigkeit von Hans beschreibt, wird mit „er hörte den Wagen“ der unmittelbar einsetzende Erfolg dieser Tätigkeit beschrieben. Die in diesem Satz verwendeten Verben „horchen“ und „hören“ bezeichnen also nicht zwei verschiedene Tätigkeiten desselben Typs, sondern zwei Aspekte ein und derselben Sache, die im Verhältnis von Versuch und Erfolg zueinander stehen. Dementsprechend ist die Feststellung „Ich schaue und sehe“ nicht analog zu dem Satz „Ich spaziere und singe“ aufzufassen, sondern eher wie der Satz „Ich fische und fange“ zu verstehen. Für Untersuchungen des Wahrnehmungsphänomens ergeben sich daraus vor allem zwei erkenntnistheoretisch relevante Konsequenzen: Zum einen können Bestimmungen, die mit Unternehmenswörtern auftreten, nicht zur Spezifizierung eines Wahrnehmens als Ergebnis verwendet werden. So lässt sich zwar sagen „Ich musterte die Hecke langsam/systematisch/aufs Geratewohl usw.“, nicht aber „Ich erblickte das Nest langsam/systematisch/aufs Geratewohl usw.“. Zum anderen gilt, dass nur die mit Unternehmenswörtern beschriebenen Tätigkeiten beobachtbar sind: Ich kann mich (oder andere) beim Schauen beobachten – z.B. bei dem Versuch, einen Vogel zu sehen oder ihn im Auge zu behalten – nicht aber mein Erblicken des Vogels. Bei Ryles Unterscheidung ist hervorzuheben, dass viele Wörter sowohl in der einen als auch in der anderen Bedeutung verwendet werden können, dies jedoch nie zugleich – die Unschärfe ist also eine der Sprache und nicht der Sache. Ryle vermeidet es deshalb, über seine Beispiele hinausgehend, einen entsprechenden Katalog aufzustellen. Dies versucht aufgrund einer ähnlichen Differenzierung Friedrich Harms im 19. Jahrhundert. In seiner Psychologie unterscheidet Harms zwischen einer Empfindung ohne und einer Empfindung mit Aufmerksamkeit, welche er als „Wahrnehmung“ bezeichnet. Dabei konstatiert er, dass Empfinden mit „sehen“, „hören“, „riechen“, „schmecken“ und „fühlen“ beschrieben wird, während „anschauen“, „horchen“, „spüren“, „kosten“ und „tasten“ als Wahrnehmen vorgestellt wird. Eine andauernde Empfindung ist nach Harms eine „fortgehend entstehende Empfindung“ (Harms 1897: 105). Das mit Harms’ Vokabular beschreibbare Phänomen, dass man mehr empfindet als man wahrnimmt, ist in der Psychologie in die Erörterung unbewusster Wahrnehmung eingegangen, in der Philosophie in die Überlegungen zum „sinnlichen Bedeu28

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tungsüberschuss“ von Wahrnehmung. Danach nehmen wir stets mehr wahr, als wir wissen, ja wofür wir überhaupt Begriffe haben. Diese These stützt die Annahme der Existenz „nichtepistemischer Wahrnehmung“: ein Wahrnehmen, das in keiner Weise begrifflich strukturiert ist (und somit auch solchen Wesen möglich ist, die über keinerlei Begriffe verfügen wie Tiere oder Kleinkinder). Bestritten wird die Existenz solcher Wahrnehmungen von den verschiedenen Spielarten des Konzeptualismus, deren gemeinsamer Nenner in der Formel besteht, dass unsere Begriffe unsere Wahrnehmung prägen (d.h. wir nehmen nicht einfach etwas wahr, sondern wir nehmen immer etwas als etwas wahr). Im Zuge dieser Debatte ist die Unterscheidung zwischen „Dingwahrnehmung“ und „Faktenwahrnehmung“ wichtig geworden (vgl. Dretske 1969). Unter Dingwahrnehmung versteht man die sinnliche Erfassung eines (komplexen oder einfachen) Gegenstandes, wie es in den Sätzen „Ich sehe die Stadt“ oder „Ich höre den Zug“ zum Ausdruck kommt. Bei der Faktenwahrnehmung hat das sinnlich Erfasste die formale Struktur „x ist F“, wobei x ein Gegenstand (im weitesten Sinne) und F eine Eigenschaft (im weitesten Sinne) bezeichnet, so dass „Ich rieche, dass die Milch sauer ist“ ebenso eine Faktenwahrnehmung beschreibt, wie „Ich sehe, dass das Auto zu schnell fährt“ (= „dass das Auto (momentan) die Eigenschaft hat, zu schnell zu fahren“). Konzeptualisten bestreiten, dass Dingwahrnehmungen eine selbstständige Form der Wahrnehmung bilden. Für sie handelt es sich dabei um verkürzt dargestellte Faktenwahrnehmungen (so soll „Ich höre einen Zug“ eigentlich „Ich höre, dass ein Zug vorbeifährt“ meinen usw.). Dass dies nicht nur für alltägliche, sondern auch für wissenschaftliche Kontexte gilt, sollen die wissenschaftshistorischen Untersuchungen Thomas Kuhns belegen. Dort werden wissenschaftliche Revolutionen als Paradigmenwechsel vorgestellt, welche sich bis in die Wahrnehmungsstruktur hinein auswirken. Laut Kuhn war man z.B. erst nach der Entdeckung der Pendelgesetze durch Galileo in der Lage, eine Pendelbewegung als solche wahrzunehmen, statt wie zuvor darin einen behinderten freien Fall zu erblicken. Konzeptualistische Positionen finden sich auch in denjenigen Medientheorien, die technische Apparate als materialisierte Begriffe auffassen. Im Gegensatz zu „unvermittelten Wahrnehmungen“ gelten demnach durch künstliche Geräte (vom Hörrohr bis 29

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zum Kameraüberwachungssystem) vermittelte Wahrnehmungen als theoriegeladen. Letztere sind aus medientheoretischer Perspektive seit dem 20. Jahrhundert einer dialektischen Dynamik unterworfen: Einerseits hat das apparative Wahrnehmen zu einer immensen Steigerung der Leistungsfähigkeit der Sinne geführt; andererseits geht die Symbiose von Technisierung und Kommerzialisierung mit einer immensen Steigerung des Wahrzunehmenden einher, dessen Authentizität nicht mehr gewährleistet ist. Angesichts dieser Situation fordert Paul Virilio eine „Wahrnehmungsethik“, die lehrt, sich mit dem eigenen Blick zu der medialen „Bilderflut“ zu verhalten und dabei ein Seinen-Augen-nichtmehr-trauen als „Verweigerung aus Gewissensgründen“ anerkennt (vgl. Virilio 1994). Aus einer ganz anderen Tradition, die sich bis zu Plotin zurückverfolgen lässt, stammt eine Unterscheidung, die der Psychologe Erwin Straus mit dem Begriffspaar „gnostisch/pathisch“ benennt (vgl. Straus 1930). Dabei soll unter „gnostischer Wahrnehmung“ das Was des gegenständlich Gegebenen und unter „pathischer Wahrnehmung“ das Wie des Gegebenseins verstanden werden. Ersteres konzentriert sich demnach auf das durch die Sinne vermittelte Erfassen einer Sache, während Letzteres auf das Erleben abstellt, welches den gesamten Leib des Wahrnehmungssubjektes mit einbezieht. Die damit verbundene Vorstellung des „innerlichen“ (körperlichen) Bewegtseins in Anbetracht einer Sache lässt Theodor Lipps von „ästhetischer Mechanik“ sprechen (die manche Autoren physiologisch auf „Organempfindungen“ zurückführen). Ein zu Lipps’ Zeiten dazu häufig angeführtes Beispiel ist die erhebende, als wortwörtlich zu nehmende aufrichtende Wirkung eines gotischen Domes mit seinen schlanken, hoch aufsteigenden Säulen und Spitzbögen. Seither wird die These von der „pathischen Leiblichkeit“ der Wahrnehmung in zwei Versionen vertreten: Die schwächere Version geht davon aus, dass das Körpergefühl jede Wahrnehmung färbt. Dagegen behauptet die stärkere Version, dass jedes Wahrnehmen mit einem bestimmten Körpergefühl identisch ist. Dementsprechend ist der oder die Wahrnehmende von dem Wahrgenommenen nicht geschieden, so dass sich das Wahrgenommene auch nicht zu einem konkreten Ding (oder Ereignis) verdichten lässt – es ist atmosphärisch. Verdeutlichen lässt sich eine solche Wahrnehmungssituation mit der Aussage „Mir ist kalt“, die eben nicht mit der Aussage „Ich spüre (die) Käl30

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te“ wiederzugeben ist. In Folge dessen wird von den Vertretern des pathischen Wahrnehmungsmodells eine Neubestimmung der Ästhetik gefordert, in der die erkenntnisleitende Frage lautet, wie der Mensch die Qualitäten seiner Umgebung am eigenen Leib spürt (vgl. Böhme 2001). Von den beiden bislang dominierenden Ästhetik-Konzeptionen, der Werk-, bzw. Produktionsästhetik, die das Kunstobjekt, bzw. dessen Herstellung zum Ausgangspunkt ihrer Analysen nimmt und somit Ästhetik als Philosophie der Kunst betreibt und der Rezeptionsästhetik, die sich als eine Theorie ästhetischer Erfahrung betrachtet, ist die Werkästhetik in den letzten Jahren verstärkt unter Rechtfertigungsdruck geraten. Die Gründe hierfür sind, dass die Anknüpfung an den Kunstwerkbegriff eine schwere metaphysische Hypothek bedeutet und sich zunehmend dem Vorwurf eines unzeitgemäßen Elitarismus ausgesetzt sieht, vor allem aber, dass die Kunst selbst das Kunstwerk allem Anschein nach längst restlos destruiert hat. Innerhalb der Rezeptionsästhetik lassen sich noch einmal zwei Positionen voneinander unterscheiden: Die eine begreift ästhetische Erfahrung als eine Erfahrung sui generis. Ästhetik (als Lehre vom Schönen) wird damit als autonome Disziplin eingeführt, neben Ethik (als Lehre vom Guten) und Logik, bzw. Erkenntnistheorie (als Lehre vom Wahren). Die andere Position versteht unter ästhetischer Erfahrung die gewöhnliche Erfahrung spezieller, nämlich ästhetischer Gegenstände oder Eigenschaften und fasst Ästhetik dementsprechend als Wahrnehmungslehre (vgl. Lohmar 2005). Diese Position sieht sich einerseits in der Tradition von Baumgarten, der in seiner Gründungsschrift der Ästhetik – der 1750 veröffentlichten Aesthetica – beide Aspekte noch zusammendenkt und die neue Disziplin zum einen als „ars analogis rationis“ (eine Kunst, des dem rationalen Denken analogen Erkennens), zum anderen als „theoria liberalium artium“ (eine Theorie der freien Künste) einführt (freilich unter der Voraussetzung, Schönheit als „die Vollkommenheit in der sinnlichen Erkenntnis“ zu fassen), andererseits im Verbund mit verschiedenen Strömungen der modernen Kunst, die seit dem 19. Jahrhundert die Ergebnisse von Sinnesphysiologie und -psychologie in ihre Kunstproduktion einfließen lassen und im 20. Jahrhundert unter der Vorgabe einer Synthese von Kunst und Leben Sinnesschulung als die allein mögliche (und nötige) ästhetische Bildung proklamieren. Die philosophische Motivation für die 31

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Entdifferenzierung von Ästhetik und Aisthetik – also von der Lehre vom Schönen und der Erkenntnistheorie – besteht in dem Programm, den traditionellen Vernunftbegriff um eine spezifisch „ästhetische Rationalität“ zu erweitern (vgl. Welsch 1996). Eine solche aisthetische Ästhetik soll sich ebenfalls als Fundament für eine Ethik des gelingenden Lebens eignen (vgl. Seel 1993). Vor diesem Hintergrund argumentieren auch Pädagogen, die eine bildungspolitische Umstellung von der „musisch-ästhetischen Erziehung“ hin zu einer „ästhetisch-aisthetischen Erziehung“ fordern (vgl. Aissen-Crewett 2000).

Literatur Aissen-Crewett, Meike (2000): Ästhetisch-aisthetische Erziehung. Zur Grundlegung einer Pädagogik der Künste und der Sinne. Potsdam: Universität Potsdam. Bernhard, Peter (2003): Kants Prolegomena. Eine Lesehilfe. Wien: Passagen. Bernhard, Peter (2005): „Die Einflüsse der Philosophie am Weimarer Bauhaus“. In: Wagner, Christoph (Hg.): Das Bauhaus und die Esoterik: Johannes Itten – Wassily Kandinsky – Paul Klee. Bielefeld: Kerber, S. 29-34. Böhme, Gernot (2001): Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München: Wilhelm Fink Verlag. Classen, Constance (1993): Worlds of Sense. Exploring the Senses in History and Across Cultures. London: Routledge. Dretske, Fred (1969): Seeing and Knowing. Chicago: Chicago University Press. Ducasse, Curt John (1951): Nature, Mind, and Death. La Salle: Open Court. Harms, Friedrich (1897): Psychologie. Leipzig: Th. Griebens Verlag. Kant, Immanuel (1977): Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Kerckhove, Derrick de (1993): „Touch versus Vision: Ästhetik Neuer Technologien“. In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen. München: Wilhelm Fink Verlag, S. 137168.

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PETER BERNHARD: AISTHESIS

Lohmar, Achim (2005): „Die Mystifikation ästhetischer Erfahrung“. In: Perspektiven der Philosophie – Neues Jahrbuch 31, S. 23-46. Mach, Ernst (1911): Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Jena: Gustav Fischer, 6., erw. u. erg. Aufl. (Erstaufl. 1886). Neurath, Otto u.a. (1929): „Wissenschaftliche Weltauffassung – Der Wiener Kreis“. In: Haller, Rudolf/Rutte, Heiner (Hg.): Neurath, Otto: Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, S. 299-336. Plessner, Helmuth (1981): Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes. In: Ders., Gesammelte Schriften III. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 7-315. Price, Henry Habberley (1932): Perception. London: Methuen. Reid, Thomas (1764): An Inquiry into the Human Mind, on the Principles of Common Sense. Alexander Ewing: Dublin. Ryle, Gilbert (1949): The Concept of Mind. London: Hutchinson. Seel, Martin (1993): „Zur ästhetischen Praxis der Kunst“. In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen. München: Wilhelm Fink Verlag, S. 398-416. Straus, Erwin (1930): „Die Formen des Räumlichen. Ihre Bedeutung für die Motorik und die Wahrnehmung“. In: Der Nervenarzt 3, S. 633-656. Virilio, Paul (1994): „Das Privileg des Auges“. In: Dubost, JeanPierre (Hg.): Bildstörung. Gedanken zu einer Ethik der Wahrnehmung. Leipzig: Reclam, S. 55-71. Welsch, Wolfgang (1987): Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre. Stuttgart: Klett-Cotta. Welsch, Wolfgang (1993): „Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens?“. In: Langenmaier, Arnica-Verena (Hg.): Der Klang der Dinge. Akustik – eine Aufgabe des Designs. München: Verlag Silke Schreiber, S. 86-111. Welsch, Wolfgang (1996): „Ästhetik außerhalb der Ästhetik – Für eine neue Form der Disziplin“. In: Ders. (Hg.): Grenzgänge der Ästhetik. Leipzig: Reclam, S. 135-177.

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Johannes Bilstein

Schöne Mägde, nützliche Schwestern

1. Die Lehre des nicht Lehrbaren Etwas wissen, etwas können – und schließlich klug und angemessen handeln: Diese Fähigkeiten erwirbt man sich an vielerlei Orten, und zu den interessantesten gehören sicherlich die Kunstakademien. Dort werden Fertigkeiten erworben, die sich gar nicht so genau beschreiben und benennen lassen, und die für jedes Nachdenken und Reden über die Vermittlung von Kompetenzen von hohem Interesse sind. Anders ausgedrückt: Was in den KunstHochschulen angestrebt wird und die Art und Weise, wie es angestrebt wird, das lässt wichtige Rückschlüsse zu auf die BinnenLogik und auf die immanenten Spannungen bei allen Bildungsprozessen (vgl. Bering u.a. 2003). Dabei ist an den Kunstakademien ein Lehrplan, ein festes Curriculum oder Ähnliches nur schwer zu erkennen. Zwar gibt es viele sinnvolle und nützliche Angebote: Aktkurse zum Beispiel und Schweißlehrgänge, Lehrgänge zum Ausglühen von Schamottformen, zur Verwendung von Duroplaste und Thermoplaste, zur Restaurierung abblätternder Grundierungen, und vieles mehr. Kunst aber ist das alles nicht. Die wird in den Künstlerklassen ausgeübt, vielleicht auch gelehrt, vielleicht auch gelernt. Spätestens mit der Einführung des Werkstätten- und Klassensystems in der Wirkungsgeschichte der Nazarener findet die Lehre der Kunst an den Akademien über die schwer zu organisierende und kaum zu systematisierende Auseinandersetzung zwischen Personen statt – zwischen den Schülern und ihren Meistern. Und diese per Amt ausgewiesenen Meister der Kunst, sind ganz traditionell auf merkwürdige Weise stolz auf ihr Tun. Einerseits nämlich werden sie schon in den ersten KünstlerBiographien dafür gerühmt, dass sie ihre Kunst von niemandem erhalten und gelernt haben. „Nullo doctore nobilis fuit“ preist schon Plinius den Bildhauer Silanion: ohne Lehre wurde er zum berühmten und edlen Künstler. Und im weiteren Verlauf der Ge-

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schichte betonen die Künstler immer wieder, dass gerade dies sie zu echten und wahren Künstlern mache: keine Lehrer gehabt zu haben, alles Können und alle Kunst aus sich und nur aus sich selbst zu schöpfen (vgl. Bilstein 1998; 2006). Die Berufung auf ein mit Stolz betontes Autodidaktentum gehört bis heute zu den wichtigsten Standard-Klischees aller Künstler-Geschichten. Auf der anderen Seite aber wird es gerade den allein aus sich heraus entstandenen Künstlern immer wichtiger, selbst wiederum Schüler zu haben. Gerade diejenigen, die ihre eigene Herkunft aus aller historischen Kontinuität herausnehmen wollen, die darauf bestehen, in einer Art Jungfernzeugung sich die eigene Form gegeben zu haben, ist es dann wichtig, selbst wiederum zeugend zu wirken. Und so gehört dieses merkwürdig paradoxe Lob zum festen Repertoire künstlerischer Selbstverständigungsmuster: dass man, ohne gemacht worden zu sein, andere machen will. Ein alloplastisch ambitioniertes Autoplastentum, eine bemerkenswerte Variante von Väterlichkeits-Imaginationen (Thurn 2000; Bilstein 2006). Einen solchen Anspruch zu institutionalisieren, ist nicht ganz einfach, doch in den damit verbundenen Schwierigkeiten spiegelt sich ein allgemeineres, letztlich anthropologisch begründetes Problem. Schon seit sokratischen Zeiten wird beim Nachdenken und Reden über Erziehung immer wieder vermutet, dass man Menschen eigentlich gar nicht machen und formen kann, dass man ihnen allenfalls helfen könnte, sich selbst zu machen. Die Lehre der Kunst bietet da nichts anderes als einen höchst interessanten Sonderfall für die Kunst der Lehre (vgl. Bilstein 1992; 2007a; 2007b). Allerdings sind mit dem Hinweis auf eine solche anthropologische Relevanz der künstlerischen Lehre die damit verbundenen Widersprüche und Probleme keineswegs beseitigt. Es bleiben Fragen: Ob man in der Kunst überhaupt irgendetwas lehren kann, was das dann sein, und vor allem: wozu das dann gut sein könnte, was man da lernt. Hier hilft vielleicht ein Blick in die Geschichte der KünstlerAusbildung und des künstlerischen Selbstverständnisses. Lange bevor in der Wirkungsgeschichte Pestalozzis ein „wahrhaft bildender Zeichenunterricht“ Einzug in die Volksschulen hält, auch lange vor der reformpädagogisch begründeten Etablierung des Kunstunterrichts in den Schulen des 20. Jahrhunderts, finden sich in den akademischen Traditionen der Kunst-Lehre, in den Varia36

JOHANNES BILSTEIN: SCHÖNE MÄGDE, NÜTZLICHE SCHWESTERN

tionsformen künstlerischen Selbstverständnisses und in den Legitimationsdiskursen über das jeweils notwendige Wissen und Können Argumentationsmuster, die auch für gegenwärtige Problemlagen einigen Aufschluss versprechen.

2. Nützlichkeit und Schönheit Wer bis zum 16. Jahrhundert in Europa das Malen oder Bildhauern, das Schnitzen oder Zeichnen lernen will, der muss in die Lehre gehen. Die Schüler leben in der Regel bei ihren Meistern, müssen – gerade bei den großen – häufig beträchtliche Summen an Lehrgeld bezahlen und sich zumeist für viele Jahre auch über den Ablauf der Lehrzeit hinaus an diese Meister binden. Bei Vasari und van Mander, den großen Künstler-Biographen, finden wir dazu eine Vielzahl von Belegen. Die jungen Knaben – Frauen kommen in dieser Geschichte zunächst nicht vor – unterliegen den strengen Regelungen der Zünfte und Gilden, sind auch in ihrer Lebensführung auf das Genaueste reglementiert: bis hin zur Heiratsordnung und zur Kleidung. Neben den Zünften bilden sich dann – ausgehend von Italien – in ganz Europa kleine Vereinigungen von Zeichnern und Malern, die gemeinsam arbeiten und üben, die versuchen, auf sozusagen privater Grundlage unabhängig und ungebunden von den einengenden Zunft-Regeln zu arbeiten – und die sich durchgängig „Akademien“ nennen (Pevsner 1940: 91-92; Mander 1617: Bd. II: 228-229). An diesen sind zunächst keine jungen Künstler zu finden, im 16. Jahrhundert jedoch entsteht ein europaweit wirksamer Trend, der diese außer-zünftigen Maler-Akademien immer öfter mit der Ausbildung auch des künstlerischen Nachwuchses betraut. Diese Akademien sich recht freie Veranstaltungen – im Guten wie im Bösen. Von den Zünften und deren strikter LebensOrdnung sind sie unabhängig, auch an das soziale und organisatorische System eines Hofes sind sie nicht direkt gebunden. Dafür schlägt ihnen aber auch Einiges an Misstrauen entgegen: von Seiten der Höfe, von Seiten der Handwerker-Zünfte und von Seiten des sich etablierenden Bürgertums. Trotz aller Widersprüche jedoch wird in den zwei Jahrhunderten zwischen 1600 und 1800 in Europa eine große Zahl von – zunächst eher privaten, dann fürstlichen, später staatlichen – Kunstakademien gegründet, die alle der Ausbildung junger Künstler

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verpflichtet sind, die den Beginn von Künstler-Karrieren zunehmend standardisieren und formalisieren und die bald mit einem ganz konventionalisierten Fächerkanon arbeiten: der ist um die Disziplinen Aktzeichnen und Antiken-Kopien, Perspektivzeichnen und Gipsplastik herum gruppiert (Pevsner 1940: 39-139). Diese neuen Akademien bekommen eigene, zum Teil prächtige Häuser und die einzelnen Fächer des Kanons werden hier nun auch räumlich und personell voneinander getrennt: das in ihnen vermittelte Wissen wird segmentiert und formalisiert. Wie man sich das vorzustellen hat, kann man beispielhaft an der Berliner Akademie sehen. Ab 1694 entwirft der Holländer Augustin Terwesten einen Plan für die räumliche Gestaltung und das Lehrprogramm dieses Hauses (Bilstein 2001), und dabei sind die schönen und die nützlichen Künste gleichermaßen vertreten. Als der Lehrbetrieb dann 1696 eröffnet wird, spiegeln sich in dem für alle Schüler verbindlichen Lehrplan die räumlichen und programmatischen Vorgaben des Holländers wieder: „Montag 2-4 Uhr Perspektive; Dienstag 10-12 Uhr Geometrie und Fortifikationskunde; ... und so geht es weiter bis ... Freitag 10-12 Uhr Geometrie und Fortifikationskunde, 2-4 Uhr Zeichnen, 4-5 Uhr Anatomie, 57 Uhr Aktzeichnen; Samstag 2-4 Uhr Architektur“ (Pevsner 1940: 340, zit. n. Müller 1896).

Hier sind Geometrie und Fortifikationskunde, also Festungsbau, noch fester Bestandteil des Lehrplanes – immerhin zweimal die Woche kommen diese zu damaligen Zeiten höchst nützlichen Künste an die Reihe. Das liest sich im Übrigen nicht zufällig wie der Tagesplan eines Philantropins. In der Tat laufen ja die Etablierung der Kunstakademien und die – nicht zuletzt aus merkantilistischem Interesse heraus betriebene – Etablierung des Zeichenunterrichtes für Laien parallel zu dem allgemeinen Prozess von Verschulung und Verfleißigung im gerade entstehenden öffentlichen Unterrichtssystem. Den jungen Künstlern geschieht – kaum dass sie aus der direkten und quasi-familiären Abhängigkeit der LehrlingsVerhältnisse befreit sind – nichts anderes als allen anderen: Ihre Ausbildung wird vereinheitlicht und auf breiter Ebene standardisiert, sie werden gefördert und gehoben, gleichzeitig aber auch reglementiert und neuen Formen von abstrakter Disziplin unter-

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worfen (vgl. Kemp 1979: bes. 149-174; Dreßen 1982: bes. 115-207; Oelkers 1992). Sie erlernen ein immer genauer spezifiziertes Können, das auch immer genaueren Formen von Kontrolle unterworfen ist.

3. Müde Mägde und geschiedene Schwestern Will man diese Entwicklung genauer verstehen, dann muss einen Blick auf die Entwicklung des Kunst-Begriffes werfen (vgl. Kristeller 1952; Pochat 1986: bes. 207-359; Meder 1919: bes. 207-250; Dickel 1987: 51-64.). Denn immerhin gab es ja einmal eine ganze Reihe von Künsten, und immerhin waren die einmal gar nicht alle schön (Curtius 1948: 46-49; Pochat 1986: bes. 97-98). Begriffsgeschichtlich muss man da auf die griechischen „technai“ zurückgehen, und bei denen steht zumindest sprachlich der „tekton“ am Anfang: der Zimmermann, der mit seinen handwerklichen Fähigkeiten Lebens- und Alltagsnöte wendet (Kube 1969: 913). Ursprünglich nämlich sind mit „techné“ all die Tätigkeiten benannt, die zum Errichten eines Holzhauses gehören, also das Flechten, das Behauen, das Zubereiten und Zusammenfügen des Holzes, das Bauen (Heyde 1963; Welskopf 1985: bes. Sp. 18101857; Schneider 1989: bes. 11-51). Eine Erinnerung an diese flechtende Arbeit des tekton ist im Übrigen bis heute im Begriff des „Textes“ enthalten: die „Textur“, das ist das sprachliche Flechtwerk der Rede, etymologisch zurückgehend auf den griechischen tekton. Und dies: das besondere Geschick, das besondere Wissen, die besondere Art rationaler Planung, die techné also, wird dann mit der Zeit auch allen möglichen anderen Tätigkeiten unterstellt. Gemeint sind damit immer häufiger intellektuelle, kombinatorische und planerische Fähigkeiten, gemeint ist – z.B. bei Homer – die List des Verstandes, die bloßer Kraftanstrengung überlegen ist. Techné hat eine breite, verallgemeinerte Bedeutung gewonnen, und am Ende des 5. vorchristlichen Jahrhunderts hat dann jedes nur denkbare Gebiet seine eigene techné – auch die Erziehung (Kube 1969: 32). Vor allem in der sophistischen Traditionslinie stellt man sich dabei vor, dass diese technai in einem Kreis organisiert und zusammengestellt sind (vgl. Marrou 1948: 108-114; Lichtenstein 1970: 47-69; Ballauff 1969: Bd. I: 46-57; Müller 1976: Sp.

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1457-1365, bes. Sp. 1358-1362). Sie verkörpern den Anspruch einer universalen, enzyklopädischen Bildung, der „enkyklios paideia“. Es gibt also eine Vielfalt einzelner Künste, die es zu vermitteln gilt, und sie alle fügen sich zu einem Kreis zusammen. Enkyklios paideia wird zu einem zentralen Begriff in der Kultur des Hellenismus, stets diskutiert und inhaltlich durchaus umstritten, bald aber von entscheidender Bedeutung für die Selbstdefinition der griechisch-lateinischen Kultur. Und so, im sprachlichen und ideengeschichtlichen Zusammenhang mit der enkyklios paideia, kommen die technai dann zu den Römern. Die nämlich übernehmen dieses Fremdwort „enkyklios“ von den Griechen und übersetzen es wörtlich: einen Kreis (lat. orbis) von Bildungsgütern sehen sie, von Einzeldisziplinen und Einzel-Fähigkeiten, die sich zu einem gerundeten System zusammenfügen – den „artes liberales“. Cicero, Seneca, Plinius und Quintilian bringen den Begriff – mit Rückverweis auf Hippias – in die philosophische Diskussion, beziehen ihn ausdrücklich auf die enkyklios paideia. So schreibt – ein Beispiel für viele – Seneca an entscheidender Stelle von den „artes“, die bei den Griechen „enkyklios“ bei den Römern aber „liberales“ heißen (Seneca ca. 62: ep. XI, 88,23, 311; vgl. Henningsen 1966: 276-284). Aus den technai im Kreis der Bildung sind nun die freien Künste geworden, und als solche werden sie institutionalisiert und im sich entwickelnden organisierten Bildungswesen fest verankert; sie werden mit einem theoretischen Gewicht ausgestattet, das sie zum Kernbereich eines entstehenden europäischen Lehrplans und geradezu zum Definitionsmerkmal von „humanitas“ werden lässt (Lichtenstein 1970: 60f.; Ballauff 1969: 184-227; vgl. Dolch 1971). Viele Künste also sind es, und immer mal wieder versucht jemand aufzuräumen. Immer wieder werden die Künste geordnet, gegliedert und systematisiert, bald werden sie auch als Frauen allegorisiert. Da stehen die freien (artes liberales) den mechanischen Künsten (artes mechanicae) gegenüber, da wird zwischen schönen und nützlichen, zwischen gewöhnlichen und schmutzigen oder eben auch kindlichen Künsten unterschieden (Seneca ca. 62: ep. XI, 88, 21-23, 311; Pochat 1986: 54). Und seit Martianus Capella im 5. Jahrhundert nach Christus werden sie auf eine Siebenzahl festgelegt. Sieben Damen sind es nun, in einer Vielzahl von Abbildungen oft als Schwestern dargestellt, in einer Vielzahl von Ge40

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schichten und Legenden gegeneinander ausgespielt (Curtius 1948: 46-49; Dolch 1971: 70-71; Ballauff 1969: 202-203; Kristeller 1952: 166-172). Und diese Damen müssen dienen. Immer weiter werden – in letztlich philosophisch-platonischer Tradition – die artes mit Misstrauen betrachtet, auf Verselbständigungstendenzen hin überwacht und als Helferinnen und Zulieferinnen disqualifiziert: sie stehen alle unter dem Primat der Philosophie, haben bestenfalls vorbereitenden, propädeutischen Charakter. Sie sind „ancillae“, Mägde, und so geraten sie unter die Christen. Man braucht nämlich die Vorherrschaft der Philosophie nur durch die Theologie zu ersetzen – und schon sind aus den einstmals antiken Damen fromme Mägde geworden. Geradezu lyrische beschreibt Josef Dolch deren Schicksal: „Müde verlassen die klugen Dienerinnen die alten Götter, um als herrenlos von der christlichen Theologie in Dienst genommen zu werden“ (Dolch 1971: 71; Dierse 1977: 915). Ob sie nun müde waren oder nicht – auf jeden Fall ordnen sich die sieben freien Künste in die christlich bestimmte Entwicklung des mittelalterlichen Denkens ein, werden da zum untergeordneten aber ernsthaften Gegenüber der Theologie. Und das ändert sich wiederum, als die ersten Universitäten errichtet werden, als sich mit diesem Institutionalisierungsschub die neuen und eigenständigen Lehrfächer Philosophie, Medizin, Jurisprudenz und Theologie etablieren. Was nun folgt, ist die Emanzipation der einstigen Mägde. Nicht mehr dienen wollen sie, sondern jede für sich will und soll nun auf ihre Weise zum Fortschritt der Menschheit und zur Vervollkommnung der Welt beitragen: Es beginnt ein Prozess der Ausdifferenzierung und Absonderung einzelner Bereiche, die einst unter dem Oberbegriff der artes versammelt gewesen waren: ein Prozess, der dann letztlich zu der – auch institutionalisierten – Selbständigkeit von Künsten, Schönen Künsten und Wissenschaften führt. Eine Zeitlang existieren nun ganz unterschiedlich verstandene Künste in schwesterlicher Eintracht nebeneinander. Sie werden mit der Entwicklung des modernen Wissenschafts-Systems immer mehr, und auch die „Erziehungskunst“ findet in diesem Schwestern-Reigen vorübergehend ihren Platz (Schöhl 1974: bes. 40-55; Ballauff 1978: 71-85). Dabei aber bleibt es nicht. Auf die Dauer ist 41

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die Gemeinsamkeit von Kunst und Gebrauch, von Nützlichkeit und Schönheit nicht zu halten. Spätestens mit der HochKonjunktur des Genie-Begriffes im 18. Jahrhundert entwickeln sich die Künste immer mehr auseinander – und das, innere Unvereinbarkeiten sozusagen, führt letztlich zur Trennung. „Es entstand aber bald Streit zwischen den Schwestern, sie mußten sich scheiden“(Grimm 1873: Sp. 2673; vgl. Kristeller 1952: bes. 164-175). Und von der einen, der nützlichen Hälfte der Schwesternschar ist – außer der Kochkunst – nicht viel übrig geblieben. Von Nützlichkeit und Flechtkunst und auch von der Fortifikation oder der Geometrie ist nicht mehr die Rede.

4. „Und kommt doch kein Maler heraus“: Die Wahrheit der Kunst und das reine Herz Stattdessen wird von Wahrheit gesprochen. Wie sich diese Entwicklung im Einzelnen und im Bewusstsein der Künstler abgespielt hat, kann man an der Gruppe der „Deutschrömer“ besonders deutlich und schön erkennen. In der Zeit um 1800, ein gutes Jahrhundert also nach dem auf Nützlichkeit und Schönheit zugleich gerichteten Entwurf Terwestens, präsentieren sich viele der europäischen Kunstakademien als zugleich verschlampte und erstarrte Anstalten, in denen jugendliche Studenten im Gebrauch konventionalisierter Bildrhetorik trainiert werden. Wohl mehr als an irgendwelchen anderen Institutionen hat dort die Kenntnis rhetorischer Topoi überlebt. Wer um 1800 an einer Akademie studiert, der muss zunächst einmal ständig und unablässig kopieren, abmalen und abzeichnen und sieht sich dabei mit einem festen Repertoire an Szenen aus der europäischen Mythologie und Geschichte konfrontiert: er muss fest kanonisiertes Wissen und ein weitgehend standardisiertes Können anhäufen. Erst spät, nach Jahren der nachahmenden Einübung, darf er sich dann an einer eigenständigen Komposition aus diesen Elementen versuchen, darf er selber eine Medea oder einen Laokoon, einen David oder eine Aeneas-Gruppe malen. Und wer einigermaßen emsig kopiert hat, kann das dann auch, der weiß dann, welche Figuren er einzusetzen hat, und der kann mit dem ihm antrainierten Apparat an Motiven sicher und vielleicht sogar ein wenig witzig umgehen. Die Kunstakademien um 1800, das sind Anstalten zur Aufbewahrung und zur Weiter-

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gabe bildrhetorischer Versatzstücke, bilderbestückte Gedächtnistheater, das sind Institutionen zur Akkumulation streng modularisierten Wissens und Könnens (vgl. Pevsner 1940: bes. 187-235; Bredekamp 1993: bes. 77-98). Das gefällt nicht allen, und so gehören chronische Unzufriedenheit und mehr oder weniger heftige Schüler-Revolten seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zum normalen Leben der Akademien, sei es in Rom, Florenz oder Paris (vgl. Hess 1934: bes. XIX-XXI; Bilstein 1994). Das gilt auch für die altehrwürdige Wiener Akademie nach 1805. Sie wird beherrscht und geleitet von gutmütigautoritären Historienmalern, die hauptsächlich für den Habsburger Hof arbeiten, ihren Studenten ein endloses Ausmaß an kopierender Übung für Auge und Hand abverlangen und im Übrigen auch versuchen, den Wiener Markt für ihre Produkte einigermaßen unter Kontrolle zu halten. Einige der Studenten jedoch stört das sehr. Mit durchaus zeitgenössisch-romantischen Ambitionen aus Deutschland nach Wien gekommen, sind sie auf der Suche nach etwas ganz Anderem, das ihnen ihre Professoren nicht bieten können: Wahrheit. Die finden sie auch – allerdings nicht in der Akademie, sondern in alten Werken vor-barocker Meister, in Bildern von Michelangelo, Raffael und den altdeutschen Malern. Dort sehen sie, was ihnen fehlt. Nicht mehr Medeen, sondern Madonnen begeistern die jungen Künstler, von dieser alten, mittelalterlichen Kunst erhoffen sie sich Rettung aus konventionalisierter Langeweile. „Das sklavische Studium führt zu nichts. [...] Man lernt einen vortrefflichen Faltenwurf malen, eine richtige Figur zeichnen, lernt Perspektive, Architektur, kurz alles; und doch kommt kein Maler heraus“ (Overbeck 1808: 71).

Das ist das entscheidende Argument: Alles technische Können, alles mechanische Wissen nutzt nichts, führt auf jeden Fall nicht zu dem, was sich die jungen Wilden erhoffen: reine und wahre Kunst. Gegen diese Unfruchtbarkeit der akademischen Sklaverei hilft nur eines: ein reines Herz und es gibt nur ein Mittel dies zu erlangen: „Durch Religion, durch Studium der Bibel, die einzig und allein den Rafael zum Rafael gemacht hat“ (ebd.).

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So formuliert das Friedrich Overbeck, einer der Wortführer der Unzufriedenen, die sich am 10. Juli 1809 zu einer Bruderschaft zusammentun. „Wir gaben uns die Hände und ein Bund war geschlossen, der hoffentlich fest bestehen soll. Dabei wurden wir einig, jedes Gemälde, das wir verfertigten, so gut es anginge den versammelten Mitgliedern vorzustellen: fänden sie es nach einer unparteiischen Untersuchung für würdig, so sollte es mit einem Zeichen versehen werden. Dieses ist ein Blättchen, worauf ein heiliger Lukas ist, welches auf die Rückseite des Bildes befestigt ist“ (Pforr 1886: 86; vgl. Howitt 1886: 102).

Es sind insgesamt sechs junge Männer, die sich regelmäßig treffen, ihre Bilder wechselseitig korrigieren und einen regen auch theoretischen Austausch pflegen – sie gründen eine Art GegenAkademie außerhalb der etablierten Institution, unternehmen die erste Sezession der Kunstgeschichte (Lossow 1984: 200; vgl. Howitt 1886: 77-114; vgl. Schindler 1982: 18-22). Dass sie ihr Bundeszeichen einer Heiligenlegende entnehmen, ist dabei nicht zufällig, sondern Ausdruck eines gewollten Bezuges auf eine Wahrheit, die sich auf ein Jenseits von Technik und Wissen stützt und die sie aus der Vergangenheit herüberholen. Dort nämlich, in der vorreformatorischen christlichen Geschichte, wollen sie ihre Gewissheit finden, die ihnen wiederum Rettung vor allen Übeln der Zeit bringen soll – seien sie nun künstlerischer oder gesellschaftlicher Natur. Dazu reicht den Lukas-Brüdern die ästhetische Orientierung an den alten Meistern bald nicht mehr aus, auch allein religiöse Rückbesinnung ist ihnen zu wenig, sie wollen auch im Alltag so leben und arbeiten, wie sie glauben, dass ihre verehrten Vorbilder gelebt und gearbeitet haben: fromm, in mönchischer Askese, brüderlicher Gemeinschaft und in Werkstätten. Von der Werkstatt, in der künstlerische Werke mit handwerklichem Können gefertigt werden und in der Schüler und Meister gemeinsam arbeiten, erhoffen sie sich zugleich den WiederAnschluss an vormoderne, nicht individualistische, „wahre“ Arbeitsverhältnisse und eine Garantie für Qualität und ideelle Übereinstimmung ihrer Werke. Romantische Begeisterung für alles Mittelalterliche, kulturkritische Abwehr aller Elementarisierungstendenzen und die Sehnsucht nach einem gemeinsamen Lebens-

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Projekt – all das verdichtet sich für sie in der Werkstatt (vgl. Bilstein 1997; Voß 1990; Thurn 1990; Büttner 1981; Krapf 1981). Aber es zieht die Lukas-Brüder auch nach einem anderen Ort, an dem sie sich eine größere Nähe zu ihrer Wahrheit versprechen: nach Rom, und nach den Wirren der napoleonischen Besetzung Wiens brechen sie schließlich am 15. Mai 1810 auf. Hinter sich lassen sie eine verhasste und in ihren Augen verdorbene Kultur, deren Wissen in kanonisierten Formen erstarrt und deren Können sich technoid verselbstständigt hat. Dieser Aufbruch vollzieht sich – durchaus mit dem Einverständnis der Eltern – als reine JugendBewegung, als Versuch, im Neuen die Rettung durch das Alte zu finden: durch den Rückbezug auf ehrfurchtswürdige Väter und einen glaubenswerten Gott. Alte Kunst und frommes Leben, schöne Ruinen, echtes Volk und unverstellte Natur, gesunde Familienverhältnisse und sinnesfreudige Vitalität, ein altchristliches Szenario und „biblische Zustände im Ambiente zeitenthobener Krippenkunst“ (Metken 1981: 35) – alles, wovon die deutschen Romantiker träumen, finden sie in ihrem Rom. „Könnte ich mit Euch eine Wanderung durch die entlegeneren Teile Roms oder das Sabiner- oder Latiner-Gebirge machen, ihr würdet Euch wundern, die alte Welt so entschieden in lebenden Bildern vor Euch zu sehen. Mir ist oft auf solchen Streifzügen (wenig Störendes abgerechnet), als wenn ich in den Zeiten Abrahams und Josephs lebte. Ich sehe die Menschen so handeln und sich bewegen, wie ich sie dort geschildert finde, bis auf kleine Züge: selbst die bürgerliche und politische Verfassung trägt das Gepräge jener Zeiten, und die Überfeinerung unserer Tage ist unter das Dach des hiesigen gemeinen Volkes noch nicht gedrungen“ (Führich, zit. n. G. Metken 1981: 35f.).

So berichtet Joseph von Führich noch in den 1820er Jahren seinen Eltern, was er in Rom erlebt. So ungefähr dürfte auch das Rom aussehen, das die Lukasbrüder zehn Jahre früher suchen und finden. Am 20. Juni 1810 kommen sie dort an und richten sich bald darauf höchst pittoresk in einem alten Kloster ein. Als noch rousseauistisch und schon historistisch inspirierte Alternativ-Touristen stillen sie in der ewigen Stadt ihren Durst nach Schönheit und ihre Sehnsucht nach dem richtigen und wahren Leben: Störendes wird abgerechnet (vgl. Metken 1981). Wegen ihres wild-verwegenen, Albrecht Dürer imitierenden Aussehens; weil sie so fromm sind und sich von den Frauen fernhalten; weil sie, wenn die anderen 45

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ihre Feste feiern, lieber in den Klosterzellen bleiben, „...um in süßer Einsamkeit mit der geliebten Braut, der Kunst zu buhlen“ (Overbeck 1814): aus all diesen Gründen erhalten sie von den anderen, eher klassizistisch orientierten Deutschrömern den Spottnamen Nazarener. Das aber beirrt sie nicht besonders, sie sind immer weiter von ihrer Absicht erfüllt, ein voraufklärerisches und vorreformatorisches Christentum auf ihren Bildern wie in ihrem Leben zu re-inszenieren. Andachtsbilder und historisierende Fresken wollen sie im christlichen Sinne und im Stil der altdeutschen oder altitalienischen Meister erneuern. Wenn man sie in der alten, auf Horaz zurückgehenden Spannung zwischen „ingenium“ und „studium“ verorten will (vgl. Flaccus ca. 15 v. Chr.: 288308, bes. S. 306, V. 408 ff.), so versuchen sie, gegen die Wildheiten der Genie-Ästhetik ihr ingenium auf dem Studium früherer Meister zu begründen (vgl. Schindler 1982: 23-28) und den genialen Gestus durch den Rückgriff auf historisch kanonisiertes Können zu ersetzen. Diese Rückgriff freilich ist an Charisma und unwägbare Persönlichkeits-Elemente gebunden: Nur von Meister zu Schüler, ohne einen festen Lehrplan, wird das wahre Wissen weitergegeben. Neu ist diese Mission allerdings auch 1810 gar nicht. Wie ein solcher Aufbruch in die Erinnerung, ein solcher Rückgriff auf früheres und für wahr gehaltenes Wissen aussehen könnte, das war bereits 15 Jahre vorher in Wackenroders „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders“ nachzulesen. Dieser frühromantische Bestseller von 1796, den die Lukasbrüder schon in Wien mit Begeisterung studiert haben, breitet ein ausführliches Programm romantischen Weltverständnisses aus, das die meisten der Elemente enthält, aus denen sich der Lebens- und Arbeitsstil der Nazarener nun in Rom zusammensetzt: Das Mittelalter – gemeint ist pauschal die Zeit Dürers und Raffaels – wird romantisierend umbewertet, christlich-mittelalterliche Legenden werden programmatisch an die Stelle der antik-griechischen Mythologie gesetzt. Albrecht Dürer wird als „ehrwürdiger Ahnherr“ idealisiert (Wackenroder/Tieck 1796: 50-60), Raffael wird verehrt als „allervortrefflichster Maler“, der „natürlich“ und „lebendig“ malt wie kein anderer, dessen Werke von „himmlischer Schönheit“ überfüllt sind, so dass sie dem sehnsüchtigen Betrachter „heiße Tränen der Begeisterung, der reinsten Ehrfurcht“ entlocken, ihn „himmlischtrunken“ machen (ebd.: 20-24, 26, 59) und individuelle 46

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und kollektive Kindheit zur „Heimat aller unserer Gefühle“ wird (Assmann 1978: bes. 99, 106). Dabei spielt die Gottesmutter Maria eine entscheidende Rolle. Während seiner Studienzeit in Erlangen nämlich macht eine fälschlich Raffael zugeschriebene Madonna in Schloss Weissenstein auf den jungen Wackenroder einen so tiefen Eindruck, dass er von nun an weiß, wie eine Maria zu malen ist (Wackenroder/Tieck 1796: 7-11; vgl. Littlejohns 1987: 40-72). In den „Herzensergießungen“ beschreibt er das dann, und nicht zuletzt unter diesem Madonnen-Eindruck findet der Titelheld den Weg von aufklärungs-kritischer, pietistisch geprägter Empfindsamkeit zur einen wahren Kirche, der katholischen. Die Konversions-Szene – sie ist wohl Tieck zuzuschreiben und bei ihm autobiographisch unterlegt – wird breit geschildert und wirkt für die vielen späteren Re-Katholisierungsbewegungen der Romantiker wie eine literarisch-fiktionale Urszene: „...und der ganze Tempel ward lebendig vor meinen Augen, so trunken hatte mich die Musik gemacht. In dem Moment hörte sie auf, ein Pater trat vor den Hochaltar, erhob mit einer begeisterten Gebärde die Hostie und zeigte sie allem Volke – und alles Volk sank in die Knie, und Posaunen, und ich weiß selbst nicht was für allmächtige Töne, schmetterten und dröhnten eine erhabene Andacht durch alles Gebein. Alles, dicht um mich herum, sank nieder, und eine geheime, wunderbare Macht zog auch mich unwiderstehlich zu Boden, und ich hätte mich mit aller Gewalt nicht aufrechterhalten können“ (Wackenroder/Tieck 1796: 84f.; vgl. Kemper 1993: bes. 25-72; Littlejohns 1987: 34-39; Bollacher 1983: bes. 9-10, 43-59).

Musik und Mönche, Ergriffenheit vor dem präsentierten Heiligen und unverfälschte Volkstümlichkeit: all das bietet die katholische Subkultur dem fiktiven jungen Maler aus dem Norden, der dann auch bald zum Klosterbruder konvertiert, und all das bietet sie auch den realen Lukas-Brüdern in Rom. Was die in San Isidoro, ihrem Kloster-Werkstatt-Domizil, inszenieren, liest sich auf weite Strecken wie der Versuch, Wackenroders Herzensergießungen in Wirklichkeit umzusetzen, und viele von ihnen folgen Wackenroders Kunstfigur auch auf ihren eigenen, konfessionell-spirituellen Wegen. Am Palmsonntag des Jahres 1813 tritt – ein Beispiel für viele – Overbeck zum katholischen Glauben über, um sich von

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nun an immer ausschließlicher religiösen Themen zu widmen (vgl. Howitt 1886: 95-96; Esner 1989). Er entwickelt ein künstlerisches Weltbild, das alle aus der Aufklärung hervorgegangenen Autonomie-Postulate vor allem der Genie-Ästhetik zurückweist. Kunst ist nicht für sich da, sondern zum Hinweis und zur Erinnerung an frühere, voraufklärerische Weltordnungen, und damit kommt den Künsten und den Kunstwerken die neue, letztlich pädagogische und bildungspropagandistische Funktion zu, im religiösen und öffentlichen Leben Wahrheit, Glaube und die Einheit von Kunst und Leben zu demonstrieren (vgl. Büttner 1990: bes. 269-280.). Eine gewollt naiv gemalte Vergangenheit wird der unglücklichen Gegenwart vorgehalten. Eine Vormoderne zweiter Hand, eine selbst konstituierte künstlerische und weltanschauliche Generationenfolge, soll die Zeitgenossen aus den Wirren von Industrialisierung, Verstädterung, Proletarisierung und sozialer Marginalisierung zu einer Wahrheit jenseits von Wissen und Können leiten. Dieser historistische Blick aufs Frühere gibt vor, Anamnesis zu leisten, und so wird nicht nur die Kunst historisiert, sondern auch der Umgang mit ihr: sie wird eingebaut in das Gesamtgebäude einer säkularen Ersatzreligion (Büttner 1990: 268f., 276ff.). Dafür findet sich im 19. Jahrhundert vielerlei aristokratische Unterstützung, dieses Programm fällt aber auch sehr früh schon dem Spott und dem Anachronismus-Verdikt der intellektuellen Avantgarde anheim (vgl. Heilmann 1981: 58-61; Schindler 1982: 68-74; Blühm 1989). Die Nazarener, das sind von Anfang an auch Verspätete, die sich der zeitgenössischen Auseinandersetzung um neue Formen malerischen Wissens und Könnens entziehen. Aber sie haben bleibenden Einfluss, vor allem in Deutschland und England. In Deutschland übernehmen einige der Nazarenischen Brüder als Akademiedirektoren, Sammlungsleiter oder Hofkünstler wichtige Funktionen im Kunstbetrieb. Der bis heute an den deutschen Akademien vorherrschende Unterricht in Künstler-Klassen geht direkt auf die Reform zurück, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den Nazarener-Direktoren initiiert wurde. Die „geheime, wunderbare Macht“, die einst den kunstliebenden Klosterbruder in die Knie zwang – sie wird nun in den Akademien pädagogisch säkularisiert (Pevsner 1940: bes. 203228).

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Auf England wiederum wirken sowohl die nationalpolitischreligiöse als auch die bruderschaftlich-kommunitäre Orientierung der Deutschrömer und ihr Modell einer ästhetisch historisierenden Malerei. Sie sind umstritten, werden verehrt und gehasst (Lottes 1984: bes. 52-56), wirken aber als Vorbilder für die Weiterentwicklung der Historien-Malerei. Die Künstler-Bruderschaft der Präraffaeliten bezieht sich in Selbstverständnis und Programmatik ausdrücklich auf die Nazarener und wirkt dabei streckenweise wie die Re-Inszenierung einer Re-Inszenierung. In den späten 1840er Jahren wird in der Weltstadt London ein Künstlerbund geschlossen, der sich den Abschluss eines ähnlichen Bundes in Wien knapp vierzig Jahre früher zum Vorbild nimmt – eines Bundes, der wiederum ein christlich verstandenes und idealisiertes Mittelalter wiederzubeleben versucht (vgl. Metken 1974: bes. 9-14; Lottes 1984: 48-75). In einigen wichtigen Grundorientierungen jedoch unterscheidet sich der englische Künstlerbund von den Deutschen in Rom: Nicht nur sind Frauen Mitglieder und zum Teil Protagonistinnen des Bundes – was zu einigen Turbulenzen führt (Metken 1974: 11f.) – sondern auch der Blick auf die umgebende Gesellschaft folgt einer anderen Perspektive. Immerhin ist London im Jahre 1848 nicht ein religiöses Freilichtmuseum wie Rom, sondern die hoch industrialisierte Hauptstadt des britischen Empire und das intellektuelle Zentrum der Kritik an den neuen Zeiten. Spätestens mit der Weltausstellung von 1851 kristallisiert sich eine breite anti-industrialistische, anti-kapitalistische und anti-kolonialistische intellektuelle Szene, die in dem neuen Londoner Glaspalast ein gut taugliches Symbol für technoide Überheblichkeit, für die Misere von Massenfertigung und für das damit verbundene Elend breiter Bevölkerungsgruppen findet (vgl. Kemp 1983: bes. 173-179; Kirsch 1983: bes. 44-48). Viel mehr und viel eindeutiger als die Werke der Nazarener ist denn auch die künstlerische Arbeit der Präraffaeliten auf die Kritik der Gegenwart gerichtet. Zum Teil sozialistisch orientiert und organisiert, wollen sie sich in ihren Bildern mit Armut, Hunger, Vertreibung und Sittenverfall auseinandersetzen, behalten aber den nazarenischen Blick auf ein idyllisch verklärtes Mittelalter als Regulativ bei (Schiff 1970; Hönnighausen 1971: bes. 52-76.). Einer ihrer wichtigsten Vorläufer, Lehrer und Mitstreiter ist Ford Madox Brown (1819-1893), der zum Freund und Mentor der jüngeren Präraffaeliten wird, in ihren 49

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Werkstätten arbeitet und der auch als wichtigste Verbindungsfigur zu den Nazarenern in Rom fungiert. Er besucht den alten Overbeck noch nach 1845 in Rom, ist von dessen persönlicher Erscheinung – „Wie eine Figur aus dem 15. Jahrhundert“ (Brown 1888) – beeindruckt und entwickelt nicht zuletzt unter diesem Einfluss ein eigenes Konzept von Historienmalerei, die das sich wandelnde und sich problematisierende Verhältnis zum Neuen und zum Alten deutlich wie sonst kaum zur Sprache bringt (vgl. Bilstein 1999). In diesem Verständnis von Kunst spielen ästhetischer Realismus, moralischer Impetus und sozialkritische Intention ineinander, hier wird auch eine neue, diesmal historisch-sozialreformerische Nützlichkeit angestrebt: Kunst wird wieder brauchbar, diesmal aber im Sinne einer höheren Wahrheit, die zwar nicht auf Gott – wie bei den Nazarenern – wohl aber auf eine als weltbestimmend verstandene Geschichte zurück geht: die durchaus eschatologischen Intentionen der Nazarener sind säkularisiert und in die diesseitige Verbesserung der Welt übersetzt. Im Umkreis der Präraffaelilten entwickelt sich eine künstlerische Argumentationslinie, die nach den genialistischen Autonomie-Ansprüchen und gegen sie der Kunst eine neue Funktion und Nützlichkeit zuschreibt: sie vereint die Künste und das handwerkliche Können, „arts and crafts“, und arbeitet so mit an der Verbesserung des menschlichen Lebens. Dieser Anspruch wird dann zum Ende des 19. Jahrhunderts europaweit wirksam und nicht zuletzt in der deutschen künstlerischen Avantgarde neue Impulse für eine Verbindung von Schönheit und Nutzen, Wahrheit und Zweckmäßigkeit in Gang setzen (Bilstein 2000).

5. Paradoxer Nichts-Nutz Der Blick auf zwei Wendepunkte in der Geschichte des KunstVerständnisses und in der Geschichte der Kunst-Lehre hat gezeigt, dass und auf welche Weise die mit der Kunst verbundenen Nützlichkeits-Hoffnungen sich verschoben und verändert haben – und wie diese Verschiebungen immer auf das Engste mit Veränderungen des Kunst-Verständnisses selbst verbunden gewesen sind. Diese Veränderungsprozesse sind keineswegs beendet – im Gegenteil. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich die Ver-

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bindung von Kunst und Nützlichkeit mehr und mehr gelöst, hat die Kunst vielmehr zunehmend argumentative und imaginäre Gegenpole in einer Welt herausgebildet, die von Ertrags- und Zweckmäßigkeitserwägungen geprägt ist. Das mit den Künsten verbundene Wissen und Können hat sich den direkten Notwendigkeiten unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit entgegen gestellt: gerade die Künste sind an vielen Stellen zu den letzten Residuen von Muße geworden (Bilstein 2007c). Dies ist eine programmatisch unklare Lage: Die schönen Kammern, Zimmer und Gelasse Terwestens sind angesichts unübersehbar gewordener Weltverhältnisse kaum mehr vorstellbar, stattdessen steht am Anfang aller Kunst immer mehr Verunsicherung und Irritation, eine Art „Abgrund an Leere“ (Böhringer 1994: 733). Das bringt bei jeder Art von Lehre gerade der Kunst eine konstitutionelle Vorsicht mit sich, eine bewusste und gewollte Unsicherheit über das Woher und Wohin – und genau darin könnte ein Stück sehr nützlichen Wissens enthalten sein. Denn seit den Zeiten der artes und den Zeiten Terwestens hat sich ja Entscheidendes geändert: Beweglicher, flexibler, unsicherer und weniger kalkulierbar ist die Welt geworden, Fortifikationen werden nicht mehr gebraucht, Festungsanlagen sind altertümliche Klötze geworden, um die jeder einfach herumkurven kann, und die allenfalls noch touristischen Wert haben. In Zeiten forcierter Modernisierung, in denen die gesellschaftlichen und kulturellen Zukunftsentwürfe immer mehr pluralisiert sind, in denen die jüngere Generation nur sehr undeutliche Bilder von ihrem künftigen Schicksal geboten bekommen kann: in solchen Zeiten braucht man Befestigungen am allerwenigsten, da sind andere Kompetenzen von Nöten (Bilstein 2003). Stattdessen könnte in solchen Zeiten die Einübung in Unabwägbarkeiten, könnte eine Art Training im Umgang mit Unsicherheit, könnte die Habitualisierung von Bescheidenheit sich als geradezu überlebens-nützlich erweisen. Vielleicht kann die Lehre der Kunst: unmöglich und doch nötig, fragwürdig und nie zu vereindeutigen, dazu ein wenig beitragen. Sie wäre dann nützlich für die Bereiche des Lebens, die nicht in der Eindeutigkeit von Schlüssel und Schloss beschrieben werden können. Jenseits der vereinfachend-tröstlichen Vorstellung von einem Haus (des Lernens), an dem es Türen, Schlösser, Schlüssel und dementspre51

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chend auch irgendwie aufschließend wirkende Qualifikationen geben könnte – jenseits einer solch tröstenden Vorstellung wäre die Lehre der Kunst dann vor allem eine Lehre im Ungenauen und Ungefähren, im Abgründigen – und im Aushalten des Ungenauen und Ungefähren. Und gerade das könnte nützlich sein. Befestigungs-Anlagen: feste Burgen und starke Wälle, wird man kaum mehr errichten können, sie werden auch nicht mehr gebraucht. Was man aber zu bauen versuchen kann, das sind wandelbare und vom Stolz auf die eigene Fragwürdigkeit durchdrungene Fortifikations-Systeme des Nichts-Nutzigen.

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Bildung in den Künsten

Peter Bubmann

Die Klänge des Himmels Über das Singen

Vorbemerkung „…davon ich singen und sagen will“. Was uns innerlich im Tiefsten bewegt, woran unser Herz hängt, das drängt nach außen. Schreiend äußern Säuglinge ihre Bedürfnisse, grölend demonstrieren Schlachtenbummler, wie ihnen zumute ist, und singend wenden sich Gläubige ihrem Gott zu. Es ist die Stimme, die das Gemüt offenbart und uns emotional ausdrucksfähig werden lässt. Anders als alle Instrumente ist sie Teil des eigenen Leibs, eng verwoben mit unbewussten und bewussten Eigenschaften der Persönlichkeit. Der Atem bringt die Stimmbänder zum Schwingen. Viele Muskelstränge haben indirekt Einfluss auf den dabei entstehenden Klang. Haltung und seelische Gestimmtheit wirken sich unmittelbar aus. Singen bedeutet intensiviertes Menschsein: Expressives Gestalten von Ton und Klang und zugleich waches Hören auf sich und andere – Kommunikation und Selbsterfahrung in einem.

1. Ich singe, also bin ich Ich singe, also bin ich – ich bin, also singe ich. Wenn mein Leben sich verdichtet, wenn es besonders intensiv wird, muss ich singen: Vor Freude, wenn mir etwas Schönes gelingt; im Glück, wenn mein Mund voll Lachens ist; aus Dank, wenn ich auf mein Leben zurückblicke; im Schmerz, wenn jemand stirbt, den ich liebe. Ich erhebe die Stimme und höre mich und mein Leben: im Jauchzen und Seufzen, im Jubeln und Klagen begegne ich mir selbst – intensiver als es sonst geschieht. Ich singe, also bin ich. Doch: Wer ist diese Stimme, die ich dann höre, welches Selbst wird da laut? Ich singe, also werde ich mir fremd. Wir kennen den kleinen Schock, wenn wir die eigene Stimme von einer Tonaufnahme hö59

BILDUNG IN DEN KÜNSTEN

ren. Die Begegnung mit der eigenen fremden Stimme untergräbt meine Selbstgewissheit. Offenbar bin ich anders als ich mich empfinde. Meine Stimme und mein Singen gelten Anderen als Ausweis meiner Unverwechselbarkeit. Allerdings: Meine „Individualität bildet sich im fremden Ohr“ (Meyer-Drawe 2003: 128), dem eigenen Hören hingegen bleibt sie fragil und unsicher. Ich singe, also werde ich ein anderer, eine andere. Ich singe und falle dabei aus der Rolle. Ich erhebe die Stimme und überschreite meinen Alltag. Das ist schon so bei den Fans im Fußballstadion. Sie grölen und gönnen sich damit eine Auszeit. Aber nur im sportlichen Ritual und im Rausch erlauben sie sich das. Sonst würden sie es nie wagen, einfach zu singen. Ein starkes Tabu hält sie davon ab. Vielleicht ist das Singen einfach zu gefährlich: Ich weiß ja nicht, wer ich nach dem Singen bin. Bin ich noch derselbe, oder habe ich mich verwandelt? Bin ich ein anderer geworden? Wissenschaftlicher formuliert: Singen bringt Identität zum Ausdruck und spielt mit ihr. Das Singen ist expressives Medium von Identitätsfindungsprozessen. Im Singen erschließt sich SelbstBewusstheit – körperlich-sinnlich und geistig. Aber es bleibt auch eine Fremdheit der eigenen Stimme gegenüber. Die stimmliche Identität bedarf immer des Hörens Anderer. Im Stimmklang lassen sich die Lebensgeschichte und die gegenwärtige Befindlichkeit wahrnehmen. Ich höre dich singen und weiß, wie es um dich steht. Im Singen verdichtet sich die Existenz. Singen ist Lebensbeweis. Cogito ergo sum? Nein, die Wirklichkeit wird nicht erst durch unser Denken zum Lebensraum und zur Gewissheit. Wer je mit geistig Behinderten gesungen hat, weiß dies. Es ist unsere Stimme und darin der Klang des ganz anderen, die uns sicher sein lassen, dass wir leben. Das beginnt schon mit dem Schreien des Neugeborenen. Ich singe, also bin ich. Ich bin, also singe ich. Psychoanalytische Theorien verstehen das Singen als „kunstvolle musikalische Differenzierung und oft auch mimische Übertreibung des ursprünglichen Schreiens und Lallens“ (Klausmeier 1978: 39f.). Während das Schreien triebhafte Bedürfnisse zum Ausdruck bringt, drängt im Lallen überschüssige Energie hervor und bewirkt lustvolles Wohlbefinden.

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PETER BUBMANN: DIE KLÄNGE DES HIMMELS

Babys lernen das Singen durch Imitation von Klangmustern, die sich ihnen bieten. Kleinkinder improvisieren gerne und verwenden dazu gehörtes Liedmaterial. Das „saubere“ Singen hingegen ist ein Ergebnis eines komplexen Enkulturationsprozesses, der über die ganze Kindheit reicht und durchaus ambivalent ist, weil dabei die unmittelbare Lust am spontanen Singen verloren gehen kann. Die Dialektik aller Bildungsbemühungen zeigt sich so verdichtet im Singen: Das, was gefördert und entwickelt werden soll, kann durch kulturelle Überformung und restriktive Methodik auch erstickt werden. Deshalb sind Singen wie die Bildung überhaupt auf Freiräume des Spielens und Experimentierens angewiesen. Das Orff’sche Instrumentarium, Jazz, Pop und HipHop haben dafür neue Räume eröffnet. Sie sollten genutzt werden (vgl. Bubmann/Landgraf 2006b).

2. Ich singe und begegne mir als Geheimnis Ich singe und in mir klingt mehr, als ich bisher war. Da schwingt etwas mit, das mein armseliges Selbstbewusstsein übersteigt. Meine Stimme bringt in mir zum Klingen, was verborgen war. Mein Singen offenbart mir das andere meiner selbst. Mein ganzer Körper gerät in Schwingung. Versunkene Klänge werden wachgerufen. Die zärtliche Stimme meiner Mutter, sie mischt sich ein in mein eigenes Singen. Wiegenlied und Gute-Nacht-Kuss, sie bilden Unter- und Nebenstimmen meines Stimmklangs. Singen bringt mich mit meiner eigenen Vergangenheit in Verbindung und mit dem tradierten Sinnkosmos unserer Gesellschaft. Beides lagert sich ab in meinem Stimmklang. Aber es sind auch Zukunftsklänge ins Singen hineinkomponiert, Wünsche und auch Ängste. All das, woran das Herz hängt. Singen kann beruhigen und ruhig stellen: durch archaische Regressionen ins kindliche Lallen oder durchs Einfügen ins gesellschaftlich Normale. Im antiken China und auch bei Platon wurde der Musik primär eine solche gesellschaftsstabilisierende Bedeutung zugeschrieben. Und auch heute bei uns wird mancherorts die Musik als konservatives Therapeutikum der Systemstabilisierung angepriesen. Diese Funktion kann sie in der Tat erfüllen. Der Rückgriff auf Vergangenes muss aber nicht diese Wirkung haben.

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BILDUNG IN DEN KÜNSTEN

„In der Verschmelzung von Fremden und Eigenem wächst Identität, die keiner nur aus sich selbst bezieht, sondern immer auch in Anknüpfung an seine Herkunft, und sei’s in Abgrenzung. Tradition ist das Reservoir unserer Identität. Singen ist deshalb immer auch Rollenhandeln, mit dem wir etwas uns Heutigen Fremdes darstellen, etwas repräsentieren, das zurück- oder vorausliegt“ (Leube 2005: 18).

Singen ist daher auch ein Medium des Überschreitens und Transzendierens. Mit meiner Stimme und meinem Singen überschreite ich gesellschaftliche Konventionen, erkunde Neues und Ungewohntes. Singen wird so zum Medium des Progressiven, der neuen Wege und Experimente. Utopien werden zum Klingen gebracht. Die Klänge der Zukunft, die sich in mein Singen mischen, sind stark durch meine persönliche Biographie geprägt, durch meine Überzeugungen, Sehn- und Hörsüchte. Diese können religiös geprägt sein. Dann sind es die Klänge des Himmels, die meinen Gesang dynamisieren. Als Klänge der endzeitlichen Liebe und Herrlichkeit Gottes sind sie mir klanglich voraus. Ich ahne nur, wie es dort einmal klingen könnte. (Karl Barth hingegen war sich sicher, dass die Engel im Himmel Mozart spielen, wenn sie unter sich sind – und Bach, wenn Gott-Vater in der Nähe weilt.) Wie auch immer: Im Hören auf transzendente Klänge mischen sich bestenfalls Himmels-Ahnungen ins eigene Singen ein. Es können aber auch die Klänge der Erde, die Rhythmen der Schöpfung sein oder rhythmisch-archaische Laute der Ekstase, die im Singen das kleine Ich überschreiten lassen. Ich singe und entdecke dabei neue Lebensräume. Theologisch bzw. religionsphänomenologisch mit dem Praktischen Theologen Manfred Josuttis gesagt: Singen ist ein „Verhalten mit transzendenter Tendenz“ (Josuttis 1991: 178). 1 1

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Josuttis (ebd.) konzentriert diese transzendierende Funktion dabei einseitig auf die Erfahrung fundamentaler Lebensordnungen: „Singen ist also mehr als Freizeitbeschäftigung oder Kunstgenuß, Singen ist archaische Praxis des Lebens. Auf präverbale Weise gestalten Körper, Seele und Geist in der Ordnung der Töne die Einsicht, daß die Welt letztlich in Ordnung ist. Im Akt des Singens findet Vereinigung statt, Integration innerhalb des singenden Menschen, Kommunikation mit anderen bei Arbeit und Spiel, Initiation in das symbolische Universum der jeweiligen Gesellschaft. Diese Vereinigung geschieht im Medium der Leiblichkeit, aber anders als in der sexuellen Begegnung bleibt die Distanz zwischen den beteiligten Men-

PETER BUBMANN: DIE KLÄNGE DES HIMMELS

3. Ich singe, also bilde ich mich Karl Adamek beschreibt das Singen in seiner Studie zum „Singen als Lebenshilfe“ als „effektive psychische Bewältigungsstrategie“ (Adamek 2003: 40) und empfiehlt es als elementares Bildungsgut. Singen diene zur Spannungsabfuhr und zur Energiegewinnung gleichermaßen und könne „die Selbstentfaltung bis hin zur spirituellen Dimension“ (ebd.: 231) fördern. Man kann die Bildungsbedeutung des Singens also empirisch-psychologisch ausweisen. Aber auch philosophisch lässt sich die Bildungsbedeutung des Singens erheben: Bestimmt man den Kerngehalt des Ästhetischen als Zeitgestaltung, als Formgebung der Zeit, so trifft dies für die Musik, und also auch für das Singen in besonderer Weise zu. Das Lied etwa als Urgattung des Singens ist eine Miniatur zeitlicher Formgestaltung: Durch Wiederholung und Variation werden Liedmotive erinnert, verändert, überraschend weiterentwickelt. Singen ist ästhetische Gestaltung der Zeit par excellence. Was aber ist der Ertrag des Singens im Zusammenhang ästhetischer Bildung? Ästhetik ist hierbei nicht auf eine Lehre vom Kunst-Schönen einzuengen. Sie meint (im Anschluss an Immanuel Kant) vielmehr eine spezifische Weise der Vernunft und der Weltwahrnehmung, die sich grundsätzlich von der theoretischen und ethischen Vernunft unterscheidet. Sie ist ein eigener Erkenntnisvollzug des Inder-Welt-Seins. Entsprechend wichtig ist die ästhetische Erziehung im schulischen und außerschulischen Kontext. Nach der Analyse von Eckart Liebau soll sie: „dazu beitragen, Wahrnehmungen zu erweitern, Vorstellungen und Denken zu öffnen, das Urteilen anzureichern, neue Handlungsmöglichkeiten und neue Ausdrucksformen zu erschließen, um sublimere Formen des Lebens zu ermöglichen. Die ästhetische Praxis ist eben nicht nur Spiel als Selbstzweck, [...] die ästhetische Praxis ist vielmehr in einem elementaren Sinn grundlegend für die Entwicklung einer kultivierten Zivilisation“ (Liebau 1999: 132). schen erhalten. Im gemeinsamen Singen erweitern sich die Ich- und die Gruppengrenzen, ohne daß, wie in den obsessiven Erlebnissen der Ekstase, das Bewußtsein ausgelöscht wird. Singen ist ein Verhalten mit transzendenter Tendenz.“ Dass solches Transzendieren auch die Überschreitung oder Zerstörung überkommener Ordnungsstrukturen implizieren kann, wäre deutlicher zu benennen.

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BILDUNG IN DEN KÜNSTEN

In und durch Musik allgemein und durch Singen im Besonderen wird die ästhetische Vernunft aktiviert und ereignet sich ästhetische Bildung. Grundvollzüge der ästhetischen Vernunft sind dabei Wahrnehmung, fühlende Wertschätzung, kommunikativ-kognitive Beurteilung ästhetischer Prozesse und eigene kreative Gestaltung.

Hören und Fühlen (Wahrnehmung) selbst Singen, musizieren und Musik gestalten (Kreativität)

Staunen und Genießen (Geschmacksund Gemütsbildung)

Deuten, Versteh en und Würdigen (Analyse und Interpretation)

Die elementare Grundlage dieser ästhetischen Praxis und der ästhetischen Bildung ist das Hören. Das Ohr ist der für das Singen entscheidende Wahrnehmungssinn. Singen ist auf das Hören angewiesen. Im Wahrnehmen des eigenen Stimmklangs wird eine Rückkoppelung und damit eine bewusste Gestaltung des eigenen Stimmklangs erst möglich – so fremd er notwendigerweise bleiben muss. Das Hören ist auch entwicklungspsychologisch die primäre Sinneswahrnehmung und beginnt schon vor der Geburt. Die mütterliche Stimme spielt dann in den ersten Lebensmonaten eine entscheidende Bedeutung beim Aufbau einer Vertrauensbeziehung zur Mutter (und damit zur Welt überhaupt) sowie bei den ersten Differenzierungsversuchen zwischen dem Selbst und dem Nicht-Selbst. Nimmt das Kind die Folgen des eigenen Schreiens wahr, entwickelt sich durch den Rückkoppelungseffekt ein erstes Selbst-Gefühl. In der sich stärker ausmodulierenden Stimme der 64

PETER BUBMANN: DIE KLÄNGE DES HIMMELS

Mutter, im spielerischen stimmlichen Verfremden lernt der Säugling Fremdes und Distanziertes bei gleichzeitiger affektiver Wärme kennen und bewältigen (vgl. Harz 1982: 74-88). Das Hören trägt also wesentlich zum frühen Erwerb des Ur- und Selbstvertrauens bei. Die hörende Wahrnehmung und das Singen führen zu emotionalen Berührungen bzw. zu Gestimmtheiten. Musik stimuliert Gefühle und trägt so zum Erleben der eigenen Gefühlswelt bei. Darin liegt bereits eine wichtige gemütsbildende Funktion. Kinder, die sonst nichts zu lachen haben, können durch Musik Gefühle der Freude erfahren. Jugendliche, die kein Verhaltensrepertoire zum Trauern besitzen, finden in Klängen einen Weg der Trauerverarbeitung (etwa nach Katastrophen wie dem Erfurter SchulMassaker). Sprachbehinderte (u.U. sogar Autisten) entdecken über musikalische Prozesse neue Kommunikationswege. „Rhythm is it“ – ja unbedingt! Aber es gilt eben auch: „singing is it“! Elementare Grundvollzüge des ästhetischen Erlebens sind dabei das Staunen und Genießen. Im differenzierten Erfassen eines musikalischen Werkes oder im vollständigen Hineingesogenwerden in eine musikalische Dynamik (in der Popmusikforschung redet man von Involvement) steigert sich das eigene Lust- und Glücksempfinden. Die Anteilhabe an gelingender musikalischer Gestaltung, das Miterleben musikalischer Erfindung und Kreativität führt bestenfalls ins Staunen über die Schöpferkraft, die sich darin kundtut. Ästhetische Bildung hat drittens damit zu tun, Gestaltwerdung zu erkennen und zu verstehen. Das gilt nicht allein für die große Kunstmusik, die sich erst im verstehenden Nachvollzug erschließt. Auch die anspruchsvolleren Kleinkunstwerke der Popund Rockmusik (etwa bestimmte komplexe Video-Clips) erfordern Sachwissen, musikalische Analyse und Formkenntnisse. Wenn Lernende ästhetische Gestaltungsprozesse erkennen, verstehen und nachvollziehen, kann ihnen das helfen, tragende kulturelle Traditionen gegenwärtig zu halten und neue zu erschließen. Musikalische Werke zu prüfen und zu würdigen ist Teil der kulturellen Selbstvergewisserung. Darin liegt der hermeneutische Auftrag der kulturpädagogischen Arbeit in der Schule wie in aller Bildungsarbeit. Alle, die in Chören singen, wissen, dass sich die Werke der Kunstmusik wie der Popmusik am besten dadurch erschließen, dass man sie selbst mitsingt. Das Singen fördert also 65

BILDUNG IN DEN KÜNSTEN

musikalische Prozesse des Verstehens. Jemand, der die h-mollMesse als Jugendlicher mitgesungen hat, kann dieses Hauptwerk Johann Sebastian Bachs ganz anders würdigen als diejenigen, die es lediglich einmal hören. Wer in einer Band selbst singt, weiß viel genauer, welche Popmusik gut, und welche schlecht gemacht ist. Ästhetische Bildung im Medium der Musik erreicht ihren Höhepunkt schließlich und viertens dort, wo die Kinder, Jugendliche und Erwachsene Musik selbst gestalten, singen, spielen oder musizieren. Singen hilft einmal dazu, den eigenen Emotionen eine Form zu geben, ihnen Ausdruck zu verleihen. Die expressiven Möglichkeiten werden erweitert und differenziert. Gleichzeitig sind im Singen Spannungsabfuhr (Energieintegration) und Energiegewinnung möglich. Und durch beides hindurch ereignet sich SelbstBewusstwerdung, werden Bewusstseinsprozesse angeregt und kann sich das Individuum entfalten (vgl. Adamek 2003: 199-202, 211-213). Doch wird zu Recht auch vor verordnetem Singen in „Zwangsaggregaten“ wie der Schule gewarnt (vgl. ebd.: 204f.). Daher ist nochmals auf das freie Spielen und Improvisieren zu verweisen. Es eröffnet Freiräume zur musikalischen Selbsterfahrung. Freiheit zur eigenen Gestaltung und der Reiz von Ordnungsmustern werden so ästhetisch erlebt. Das beginnt in der musikalischen Früherziehung im Kindergarten (oder zuhause) mit Hilfe des Orff’schen Instrumentariums und kann sich in improvisierenden Anteilen der Chorarbeit und den verschiedenen Formen der kulturellen Jugendarbeit fortsetzen. Dass das Singen zur schulischen Bildung dazugehört, war in Deutschland lange Zeit selbstverständlich. Vor allem durch Martin Luther und die Reformation wurde das Singen deutschsprachiger Kirchenlieder zu einem Hauptinhalt christlicher Frömmigkeit und fand Eingang in den Schulunterricht. Im 19. Jahrhundert pries der Pädagoge Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg das Singen als vortreffliches, tiefwirkendes Bildungsmittel, welches positiv auf sittliche Gesittung, Erkenntnis und religiösen Sinn wirke (vgl. Pirner 1999: 186f.). Das Gesangbuch blieb entsprechend bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eines der Hauptmedien des (Religions-)Unterrichts. Die Erwartungen an das Singen fanden ihre höchste Steigerung in den Ideen der Jugendbewegung bzw. der musischen Bildung, bevor seit den 1960er Jahren ein rascher Verfall der Singkultur eintrat. Auch im Religionsunterricht 66

PETER BUBMANN: DIE KLÄNGE DES HIMMELS

wurde und wird seit den 1970er Jahren immer weniger gesungen. In den religionspädagogischen Leittheorien der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts treten Singen und Kirchenlieder zugunsten existentialer Bibelerschließung und problemorientierten kognitiven Unterrichts zurück. Das Verschwinden des Singens aus Öffentlichkeit und Schule hat vor allem gesellschaftliche Gründe. Das früher der Oberschicht vorbehaltene Ideal der leisen, stets kontrollierten Stimme hat sich als Zeichen der Gefühlskontrolle gesamtgesellschaftlich ausgebreitet. Lautes Singen im öffentlichen Raum wirkt daher in der Regel peinlich. Nur unter klar umgrenzten und geregelten Ausnahmebedingungen ist gemeinsames Singen in der Öffentlichkeit noch denkbar: beim Karneval, im Popkonzert, beim Gottesdienst und im Fußballstadion. Die Tabuisierung des Singens hat in Deutschland darüber hinaus zu tun mit der ideologischen Belastung „völkischen“ Singens und mit dem gebrochenen Bezug zu eigenen Volksliedtraditionen. Singhemmend wirkt sich aber auch der starke Einfluss der Rock- und Popkultur aus. Mit dem Sound popmusikalischer Stimmen und ihrer technischen Bearbeitungen hat sich ein neues Stimm-Ideal etabliert. Es lässt das herkömmliche Volkslied- und Chor-Singen als überholt und „uncool“ erscheinen. Zwar existieren im Kontext der Popszenen neue Formen des (Mit-)Singens. Die diversen Stilrichtungen der Popmusik sind jedoch zwischenzeitlich so stark ausdifferenziert, dass gemeinsames Singen fast nur noch in homogenen Fan-Gemeinden denkbar erscheint. Vielen Menschen gilt Musik überhaupt als individuelle Verschluss-Sache, die privat, und ungeteilt, nämlich mit dem Discman oder mp3-player konsumiert wird. Hier teilt die Musik das Schicksal der Religion: Beide werden in private Reservate abgedrängt. Die Verdrängung des gemeinsamen Singens wie der Religion aus dem Raum der Öffentlichkeit ist zugleich ein Bildungsverlust. Tradierte Formen der Lebenskunst sterben ab. Es kommt zu drastischen Einbußen traditioneller Frömmigkeitsformen und damit auch des gemeinsamen geistlichen Singens. Der Verlust des Hymnischen trifft dabei die Religion ins Mark: Gefährdet sind die lobende und klagende Hinwendung zu Gott, die Möglichkeit spiritueller Erfahrung (etwa von Trost), die Vergewisserung bekennender Gemeinschaft und die Verkündigung in Lied und Gesang. 67

BILDUNG IN DEN KÜNSTEN

Singen wie Religion sind und bleiben jedoch für eine lebendige Kultur unerlässlich. Denn beides sind Formen, der eigenen Identität und tragenden gemeinsamen Werten Ausdruck zu verleihen – und dem ganz Anderen zu begegnen. Stimm- und Hörbildung gehören daher zur ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung notwendig dazu. Die Beschneidung des Ästhetischen in der auf Leistungsmaximierung getrimmten Schule zerstört den Humus der Humanität und Religiosität gleichermaßen. Daher ist es unerlässlich, das gemeinsame Singen wiederzugewinnen: als Übung der Eigenwahrnehmung wie der kulturellen Verständigung, als Angebot der Sinn- und Transzendenzerschließung.

4. Wir singen und bilden so Gemeinschaft Wir singen, also bilden wir eine Gemeinschaft. Das geschieht in Chören, Popkonzerten wie in den Süd- und Nordkurven der Fußballstadien. Der Ende 2005 in die Kinos gelangte Film „Wie im Himmel“ zeigt, welche gemeinschaftsstiftende Kraft das Singen besitzt. Aus einem zusammen gewürfelten Haufen unterschiedlichster Menschen entsteht eine fast himmlische Gemeinschaft. Das Singen begeistert und schweißt zusammen, ohne zu uniformieren. Die soziale Dimension des Singens wurzelt darin, dass Embryo und Säugling die Stimme der Mutter bzw. der Hauptbezugsperson als Teil der eigenen Existenz verstehen und etwa beim Hören von Wiegenliedern die Erfahrung symbiotischer Einheit machen. Was hier ursprünglich im Hören der mütterlichen Stimme geschieht, setzt sich später im gemeinsamen Singen fort. Es erzeugt eine Nähe, ein Verschmelzen im gemeinsamen Klang, die die Möglichkeit sprachlicher Interaktion weit übersteigt. Allerdings: Stimmen durchdringen, nehmen ein, und können daher auch vereinnahmen. Stimmen wollen bestimmen. Stimmgewalt kann faszinieren und tyrannisieren. „Gewaltsam wird die Stimme, wenn sie unbedingtes Zuhören, Gehorchen und Hörigkeit verlangt, wenn selbst dem Schweigen seine Aktivität bestritten wird. Gewalt verschließt die Möglichkeiten des anderen, der zur puren Passivität gezwungen wird. Stimmgewalten künden vom

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PETER BUBMANN: DIE KLÄNGE DES HIMMELS

Majestätischen wie vom Grauen. Der Zauber der Stimme ermöglicht sie beide“ (Meyer-Drawe 2003: 129).

Wir singen, also bilden wir Gemeinschaft. Das ist in Deutschland seit 1945 aus genau diesem Grund verdächtig. Theodor W. Adorno hat den Gemeinschaftsgesang der damaligen musischen Bildung mit einem braunen Pauschalverdacht belegt (vgl. Adorno 1982) – und dabei die möglichen positiven Bildungspotentiale unterschlagen. Allerdings: Der Spruch „Wo man singt, da lass dich nieder, böse Leute haben keine Lieder“ ist seit den Gesängen der Nazis nachweislich falsch. Deshalb ist Singen nicht von sich aus ein ethisch und pädagogisch fruchtbares Geschehen. Auch in neuen rechtsradikalen und okkulten Szenen wird gesungen. Also gehört die Prüfung des Singens mit zur ästhetischen Bildung. Wer ästhetisch gebildet ist, singt nicht alles mit. Ästhetische Bildung bedarf daher zugleich der kritischen Reflexion. Zwar können wir unter heutigen Denkvoraussetzungen kaum noch den Satz der mittelalterlichen Ontologie nachsprechen, das Schöne sei identisch mit dem Wahren und Guten. Aber das Ästhetisch Gehaltvolle kann sich auch nicht völlig vom ethisch Guten und Gerechten trennen. Ästhetische Erfahrung und ethische Reflexion sind aufeinander verwiesen und können sich gegenseitig stimulieren (vgl. Bubmann 2006a; 1993).

5. Wir singen, und die Welt klingt neu „Warum interessieren wir uns für Sänger? Worin liegt die Macht der Lieder?“ so fragt Salman Rushdie in seinem Roman „Der Boden unter ihren Füßen“ (1999: 29). Wenige Zeilen später bietet er eine Antwort: „Unser Leben ist nicht das, was wir verdienen, es ist, einigen wir uns darauf, auf vielerlei schmerzliche Art mangelhaft. Der Gesang verwandelt es in etwas anderes. Der Gesang zeigt uns eine Welt, die unseres Sehnens würdig ist, zeigt uns unser eigenes Ich, wie es sein könnte, wenn wir dieser Welt würdig wären.“

Die Wirkungskraft des Gesangs führen zahlreiche Mythen darauf zurück, dass Gesang und Musik Gaben der Götter sind. Hesiod (ca. 700v. Chr.) weiß sich in seinem Gesang durch die göttlichen

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BILDUNG IN DEN KÜNSTEN

Musen inspiriert. Und der mythische Sänger Orpheus (ein Halbgott als Sohn der Muse Kalliope) nutzt die Zaubermacht seines Gesangs, um Menschen, Tiere und Pflanzen zu beeinflussen. In den meisten Kulten und religiösen Festen der Erde wird gesungen, um den (heiligen) Ort der Zeremonie akustisch zu markieren, die Dramaturgie der Veranstaltung zu steuern, heilige Atmosphären herzustellen oder religiöse Texte zu transportieren. Juden, Christen und Moslems erheben ihre Stimme zum Gesang, um zu beten und zu verkündigen. Wer singt, hofft auf Gehör bei Gott und den Menschen. Deshalb ist für Martin Luther die Musik, und hier besonders das Singen, die wichtigste Kunst. Dem Singen spricht er transformatorische Kraft zu: „... Hie kann nicht sein ein böser Mut, wo da singen Gesellen gut, hie bleibt kein Zorn, Zank, Haß noch Neid, Weichen muß alles Herzeleid, Geiz, Sorg und was sonst hart anleit, fährt hin mit aller Traurigkeit. Auch ist ein jeder des wohl frei, daß solche Freud kein Sünde sei, sondern auch Gott viel bas [= besser] gefällt, denn alle Freud der ganzen Welt. Dem Teufel sie sein Werk zerstört und verhindert viel böser Mörd...“ (WA 35,483f.)

Das ist wohl etwa zu viel erwartet vom Singen. Aber dieses hochfliegende Lob der Musik erinnert doch an wichtige Wirkkräfte des Singens. Im ältesten Lied der Bibel haut die Prophetin Mirjam auf die Pauke, tanzt und singt: „Lasst uns dem Herrn singen, denn er hat eine herrliche Tat getan, Ross und Mann hat er ins Meer gestürzt“ (Ex 15,21). Gottes Rettungswunder und das Singen gehören zusammen. Wenn Juden und Christen von Gottes Befreiungstaten singen, wenn sie Christus im Munde führen, dann ist in ihrem Singen die Zukunft des Reiches Gottes bereits anfangshaft da. Das Loblied bleibt nicht ohne Folgen. Die Singenden werden verwandelt, umgestimmt und neu eingestimmt auf Gottes gute Lebensordnung. Wer sich Gott singend nähert, sieht die Welt mit neuen Augen und hört den Klang des verheißenen Reiches Gottes. Das 70

PETER BUBMANN: DIE KLÄNGE DES HIMMELS

kann sogar in großer Not geschehen. Dietrich Bonhoeffer notierte im Gefängnis an der Jahreswende 1944/1945: „Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet, so lass uns hören jenen vollen Klang der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, all deiner Kinder hohen Lobgesang.“ (Ev. Gesangbuch EG 65,6)

Es ist der Lobgesang der Kirche, der für Bonhoeffer in diesem Vers seines bekannten Liedes „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ eine neue unsichtbare Welt schafft. Diese neue Welt bricht sich im Sagen und Singen ihre Bahn: „davon ich sing’n und sagen will“ (EG 24,1) heißt es in Luthers Weihnachtslied. Singen verwandelt die Welt und gibt wenigstens eine Ahnung von der neuen besseren Welt. Nach dem Anschlag auf das World Trade Center stimmte Jocelyn B. Smith am 14. September 2001 am Brandenburger Tor zum Gedenken der Terroropfer vor Tausenden versammelter Menschen und vor Millionen am Bildschirm völlig unbegleitet „Amazing Grace“ an. Gewiss, sie konnte das Grauen nicht ungeschehen machen. Aber in ihrem Gesang klang eine Zuversicht durch, dass die Gnade Gottes vor dem Tod nicht kapituliert. Es war der tröstlichste Moment aller Gedenkfeiern. Noch einmal: Im Singen steckt ein Geheimnis. Theologisch gesagt: Im Singen klingt die Zukunft Gottes schon jetzt in uns an. Da ahnen wir, dass es wirklich eine Macht gibt, die unser Leben trägt und immer wieder erneuert. Da erfahren wir, dass unser Leben Sinn macht, auch wenn es nicht immer erfolgreich oder glücklich verläuft. Im Singen kommen uns die Klänge des Himmels nahe. Wenn ich singe, kann ich entdecken, was mich unbedingt angeht. x Ich singe, also bin ich. x Ich singe und begegne mir als Geheimnis. x Ich singe, also bilde ich mich. x Wir singen und bilden so Gemeinschaft. x Wir singen, und die Welt klingt neu. All diese Stimm-Bildungsprozesse gehören zur ganzheitlichen Bildung dazu. Sie sind wichtige Vollzüge ästhetischer Bildung. Deshalb sollten Schulen und andere Bildungseinrichtungen wieder zu Orten der Stimmbildung und des Singens werden. 71

BILDUNG IN DEN KÜNSTEN

Literatur Adamek, Karl (2003): Singen als Lebenshilfe. Zur Empirie und Theorie von Alltagsbewältigung. Plädoyer für eine „Erneuerte Kultur des Singens“. 3. Aufl., Münster/New York: Waxmann. Adorno, Theodor W. (1982): „Kritik des Musikanten“. In: Ders. (Hg.): Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt. 6. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 62-101. Bubmann, Peter (2006a): „Musik und Friedenserziehung“. In: Hausmann, Werner u.a. (Hg.): Handbuch Friedenserziehung: interreligiös – interkulturell – interkonfessionell. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 418-422. Bubmann, Peter (1993): „Tönend bewegte Freiheit? Musik und Politik“. In: Ders. (Hg.): Menschenfreundliche Musik. Politische, therapeutische und religiöse Aspekte des Musikerlebens. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, S. 35-57. Bubmann, Peter/Landgraf, Michael (Hg.) (2006b): Musik in Schule und Gemeinde. Ein Handbuch für die religionspädagogische Praxis. Grundlagen, Methoden, Ideen. Stuttgart: Calwer Verlag. Harz, Frieder (1982): Musik, Kind und Glaube (Calwer Theologische Monograhien 9). Stuttgart: Calwer Verlag. Klausmeier, Friedrich (1978): Die Lust sich musikalisch auszudrücken. Hamburg: Rowohlt. Leube, Bernhard (2005): „Singen“. In: Fermor, Gotthard/Schroeter-Wittke, Harald (Hg.): Kirchenmusik als religiöse Praxis. Praktisch-theologisches Handbuch zur Kirchenmusik. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, S. 14-19. Liebau, Eckart (1999): Erfahrung und Verantwortung. Werteerziehung als Pädagogik der Teilhabe. Weinheim/München: Juventa. Meyer-Drawe, Käte (2003): „Stimmgewalten“. In: Liebsch, Burkhard/Mensink, Dagmar (Hg.): Gewalt Verstehen. Berlin: Akademie Verlag, S. 119-129. Pirner, Manfred (1999): Musik und Religion in der Schule. Historisch-systematische Studien in religions- und musikpädagogischer Perspektive (Religionspädagogische Arbeiten 16). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Rushdie, Salman (1999): Der Boden unter ihren Füßen. München: Kindler.

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Volker Frederking

(Literar-)Ästhetische Bildung Lesen und Schreiben als Formen ästhetischer Erfahrung und personal-kultureller Selbstkonstruktion

Vorbemerkung Ästhetische Bildung gehört zum Kern klassischer Bildungsdimensionen. Entsprechend nimmt sie auch im Kerncurriculum moderner Allgemeinbildung von Jürgen Baumert (2002) eine exponierte Stellung ein. Dabei ist innerhalb der fachspezifischen Diskurse relativ unstrittig, dass ästhetische Bildung in unmittelbarem Bezug zur Identität eines Menschen steht. Im Hinblick auf Lese- und Schreibprozesse haben sich drei Disziplinen – Psychologie, Literaturwissenschaft und Deutschdidaktik – in besonderer Weise um eine Aufarbeitung dieses Wechselverhältnisses bemüht. In jeweils zwei Grundpositionen sollen diese fachspezifischen Zugangsweisen exemplarisch in ihrem Erkenntnisstand befragt werden, um auf dieser Basis den weitergehenden Forschungsbedarf reflektieren zu können.

1. Ästhetische und personal-kulturelle Dimensionen des Lesens und Schreibens aus psychologischer Sicht Ästhetische Dimensionen von Lese- und Schreibprozessen werden innerhalb der langen Tradition psychologischer Ästhetiktheorien vor allem in zwei Ansätzen in differenzierter Form reflektiert: in der semiotischen Ästhetik George Herbert Meads und in der narrativen Psychologie Donald E. Polkinghornes, Dan P. McAdams und Kenneth J. Gergens. 1.1 Die semiotische Ästhetik George Herbert Meads Es mag auf den ersten Blick erstaunen, im Rahmen literarästhetischer Fragestellungen George Herbert Mead zum Ausgangspunkt einer theoriegeschichtlichen Spurensuche zu machen. Schließlich

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BILDUNG IN DEN KÜNSTEN

hat Mead vor allem durch seine interaktionistische Identitätskonzeption Bekanntheit erlangt. Doch schon für Meads Schüler und Schriftenherausgeber Charles Morris war evident, dass Meads Sozialpsychologie „eine fruchtbare Grundlage für eine Theorie der Ästhetik“ (Morris 1934: 34; vgl. auch Mead 1927/30: 327f.) bietet. Tatsächlich hat Mead als erster die ästhetischen Dimensionen der Identitätsproblematik systematischer aufgearbeitet. Theoretischer Ausgangspunkt ist eine spezifische Wahrnehmungsdimension, die Mead als „ästhetische Haltung“ (Mead 1926: 351) definiert. Diese manifestiert sich in einem grundlegenden Perspektivwechsel, einem radikal gewandelten Selbst- und Weltverhältnis: „Wer seine gewöhnliche Arbeit und Mühe unterbricht, um die Verläßlichkeit seiner Kollegen, die Loyalität seiner Helfer, die Reaktion der Öffentlichkeit bewußt zu erleben […], wer innehält, um in Whitmannscher Manier die Gemeinschaft allen Daseins zu spüren, dessen Haltung ist ästhetisch. […] Sie adelt Nützlichkeit und schenkt der Handlung Poesie“ (ebd.).

Die „ästhetische Haltung“ realisiert sich mit anderen Worten in einem veränderten Blick auf sich und die Welt. Das Reich der Notwendigkeit wird perspektivisch erweitert um das Reich der Freiheit, die Welt des Zweckgebundenen mit der Welt des Zweckfreien versöhnt. Die ästhetische Haltung ist dabei keinesfalls eine spezifische, nur den künstlerisch Schaffenden vorbehaltene Option. Sie steht allen Menschen offen. Das Ästhetische wird somit aus den abgeschlossenen Bezirken der Künste in den Bereich der anthropologischen Grunddispositionen überführt. Vor diesem Hintergrund aber wird evident: Lange vor den aktuellen Diskursen um einen wahrnehmungstheoretisch fundierten Ästhetikbegriff hat Mead die perspektivische Verengung der ästhetischen Tradition durchbrochen und den ursprünglichen Bedeutungsraum von „aisthesis“ als Wahrnehmungsdimension wieder freigelegt. Doch nicht nur darin liegt ein besonderes Verdienst Meads. Gleichzeitig gelingt ihm auf dieser Grundlage nämlich eine wahrnehmungstheoretische Erschließung der ästhetischen Dimensionen von Kunst, die den aktuellen Debatten durchaus neue Impulse geben kann. Nach Mead nimmt künstlerische Produktivität ihren Ausgang von einer ästhetischen Haltung und einer ästheti-

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VOLKER FREDERKING: (LITERAR-)ÄSTHETISCHE BILDUNG

schen Erfahrung, die potentiell jedem Mensch zugänglich sind. Das Spezifische des Künstlers liegt allein darin begründet, dass er die aus der ästhetischen Haltung entstehende ästhetische Erfahrung künstlerisch verarbeitet und ihr dadurch Dauer verleiht. Dieser Deutungsansatz erweist sich für das Verständnis der ästhetischen Dimensionen von Schreib- und Leseprozessen als überaus fruchtbar, wie Meads psychologische Deutung der ästhetischen Grundlagen lyrischen Schreibens verdeutlicht: „Der Lyriker hat eine Erfahrung der Schönheit in Verbindung mit einer emotionellen Erregung, und als Künstler, der Wörter verwendet, sucht er nach jenen Wörtern, die seinen emotionellen Haltungen entsprechen und die in anderen die eigenen Haltungen hervorrufen werden. Er kann das Ergebnis nur an sich selbst prüfen, indem er herauszufinden versucht, ob diese Wörter in ihm die Reaktion auslösen, die er in anderen auszulösen wünscht“ (Mead 1927/30: 190). Diese durch John Dewey (1931) beeinflusste These rückt die identitätstheoretischen Implikationen der beiden Grundtypen ästhetischer Erfahrung ins Blickfeld – der Produktion und der Rezeption von Kunst. Gehen wir diesen beiden Aspekten systematischer nach. Künstlerischer Produktion – im oben angeführten Beispiel das Schreiben lyrischer Verse – liegt nach Mead ästhetische Erfahrung zugrunde. Beide sind durch eine zeitliche und damit perspektivische Distanz getrennt. Denn sowohl ästhetische Erfahrung als auch ästhetische Produktion ereignen sich zwar in der Gegenwart – aber in ihrer je eigenen. Erstere basiert auf unmittelbarem augenblicklichem Erleben, letztere auf dessen vergegenwärtigender Erinnerung. Ästhetisch-kreatives Schaffen hat mit anderen Worten den erinnernden Rückbezug auf ästhetische Erfahrung zur Voraussetzung. Die unmittelbare, erlebnisdichte künstlerische Wahrnehmung wird dabei im schöpferischen Prozess der Vergänglichkeit des Augenblicks entrissen und erhält Dauer. Dabei leisten sowohl die ästhetische Erfahrung als auch ihre ästhetisch-produktive Verarbeitung im Akt des Schreibens einen Beitrag zur kulturellen Selbstkonstruktion des bzw. der künstlerisch Schaffenden, wie sich mit Bezug auf Meads Unterscheidung zwischen den zwei zentralen Polen bzw. Phasen der Identität plausibilisieren lässt, dem „I“ und dem „Me“, der personalen und der sozialen Seite der Identität. Das „I“ ist in der Gegenwart verankert und Zentrum aller Erfahrungen, auch der ästhetischen, das 75

BILDUNG IN DEN KÜNSTEN

„Me“ konstituiert sich im erinnernden Rückbezug auf Vergangenes, das reflexiv verarbeitet wird. Dies schließt künstlerische Aneignungsprozesse ein, ohne dass das „Me“ dazu allerdings aus sich heraus fähig wäre. Dieser Sachverhalt erklärt sich aus den Spezifika der beiden von Mead unterschiedenen Polen der Identität. Das „I“ stellt die personale, spontane und kreative Seite des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses dar. Im „I“ und seinen Reaktionen auf die Erwartungshaltungen der Umwelt liegt die Freiheit des Individuums begründet. Demgegenüber wird das „Me“ als die Haltung des „verallgemeinerten Anderen“ (Mead 1927/30: 196) definiert. Das „Me“ lässt sich in diesem Sinne als Zentrum internalisierter gruppen- bzw. gesellschaftsspezifischer Normen, Werte und Rollenerwartungen verstehen. Mead spricht von der organisierten „Gruppe von Haltungen anderer, die man selbst einnimmt“ (ebd.: 218). Ich-Identität entwickelt sich in der stetigen Oszillation zwischen diesen beiden Polen der Identität (Mead 1927/30: 221). Dabei repräsentieren „Me“ und „I“ Extremformen unterschiedlicher Persönlichkeitstypen. Eine vorrangige Ausrichtung am „Me“ manifestiert sich in einem eher konventionellen und fremdbestimmten Charakterprofil, der primär durch sein „I“ bestimmte Mensch entspricht dem Idealbild einer selbst bestimmten kreativen Persönlichkeit. Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, dass der Künstler, der ein Gedicht oder einen Roman schreibt, nach Mead in starkem Maße durch sein „I“ geprägt ist. Dies gilt sowohl für die ästhetische Erfahrung selbst, die per se eine Domäne des „I“ ist, als auch für deren künstlerische Verarbeitung. Denn obschon diese aufgrund des zugrunde liegenden erinnernden Rückbezugs eher im Einflussbereich des „Me“ erfolgt, sind dessen typische Erscheinungsweisen – Konventionalität und Vergangenheitsorientierung – im künstlerischen Schaffensakt auf ein Minimum reduziert. Zwar basiert der künstlerische Prozess durchaus auch auf Formen und Mustern, die das „Me“ auf der Grundlage symbolvermittelter Interaktionen internalisiert hat und nun bereitzustellen vermag. Gleichzeitig besteht die Besonderheit des künstlerisch tätigen „I“ in der Fähigkeit zur kreativen Veränderung und Aneignung dieser Vorlagen bzw. Einflüsse. Obwohl gewöhnlich die Beschaffenheit des „Me“ den Ausdruck des „I“ maßgeblich prägt (ebd.: 254), wird im künstlerischen Prozess „das Element der Neuheit bis zur äußersten Grenze betont“ (ebd.: 253). Auf diese Weise wird der 76

VOLKER FREDERKING: (LITERAR-)ÄSTHETISCHE BILDUNG

Künstler zum Musterbeispiel für die potentielle Autonomie des Individuums gegenüber gesellschaftlichen Zugriffen und das Kunstwerk zum Beleg für die potentielle Veränderbarkeit von Welt – jenseits aller konventionellen Vorgaben. Das Schreiben eines lyrischen oder epischen Textes lässt sich in diesem Sinne nicht nur als künstlerische Verarbeitung ästhetischer Erfahrungen verstehen, sondern auch als individuelle und kreative Form kultureller Selbstkonstruktion jenseits kollektiver Passformen. Doch nicht nur die Produktion, auch die Rezeption von Kunst besitzt einen unmittelbaren Einfluss auf die Ausbildung von Identität. Sowohl Schreib- als auch Leseprozesse eröffnen nach Mead Möglichkeiten zur kulturellen Selbstvergewisserung. Dieser Sachverhalt lässt sich bereits mit dem Schaffensprozess selbst erklären. Denn der künstlerisch Schreibende zielt nach Mead darauf ab, beim Leser nach Möglichkeit „die eigenen Haltungen hervorrufen“ (ebd.: 190) zu können und in ihm jene ästhetische Erfahrung – zumindest in Ansätzen – lebendig werden zu lassen, die ihn selbst erfüllt hat. In diesem Horizont wird Kunst als Sonderform menschlicher Kommunikation erkennbar. Denn wie bei normalen Kommunikationsprozessen rekurriert der künstlerisch Schaffende auf basale Bestandteile symbolvermittelter Kommunikation, so genannte „signifikante Symbole“ (ebd.: 111). „Normale“ symbolvermittelte Interaktion enthält dabei sowohl eine intellektuelle als auch eine emotionale Dimension. Der künstlerisch Schreibende trifft nach Mead eine spezifische Auswahl: „Ein Dichter stützt sich auf die letztere; für ihn ist die Sprache reich und voll von Werten, die wir anderen vielleicht völlig ignorieren. Beim Versuch, eine Botschaft in weniger als zehn Worten auszudrücken, möchten wir nur einen bestimmten Sinn übermitteln, während der Dichter sich mit lebendem Gewebe befaßt, dem emotionellen Pulsschlag im Ausdruck selbst“ (ebd.: 114f.).

Gleichwohl liegt Meads Deutungsansatz kein simples SenderEmpfänger-Modell zugrunde. Denn die symbolvermittelte Interaktion zwischen Produzent und Rezipient verläuft nicht in einem „einfachen Reiz-Reaktions-Schema einbahnartig, sondern der Sender zeigt dasselbe, was er dem Empfänger anzeigt, auch sich an. Dadurch wird es möglich, daß die Zeichengebung, und zwar von beiden Seiten, als Zeichengebung erfahren wird, statt daß das

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BILDUNG IN DEN KÜNSTEN

Zeichen nur produziert oder darauf reagiert wird“ (Tugendhat 1979: 251). Die Rezeption einer künstlerischen Botschaft ist deshalb zugleich mit der Produktion von Sinnhorizonten und Deutungsansätzen verbunden. Gleichzeitig ist jede Rezeption Ausgangspunkt symbolvermittelter kultureller Selbstvergewisserung. So verändert sich auch das Selbst- und Weltverhältnis des Lesenden. Denn diesem eröffnet sich im Akt der Rezeption die künstlerisch verarbeitete ästhetische Erfahrung eines fremden Menschen. Diese Horizonterweiterung verändert den Blick auf sich und die Welt. In den Worten Meads: „Wenn wir Werke großer Künstler ästhetisch verstehen, ziehen wir daraus Genusswerte, die unsere eigenen Lebens- und Handlungsinteressen erfüllen und interpretieren. Kunstwerke haben dauerhaften Wert, denn sie sind die Sprache der Freude, in welcher die Menschen den Sinn ihrer eigenen Existenz ausdrücken können“ (Mead 1926: 353). Schreiben wie Lesen können mit anderen Worten die Identität nachhaltig beeinflussen. Das Selbst- und Weltverhältnis des Kunstproduzenten wie des Kunstrezipienten erfährt in der ästhetischen Erfahrung eine grundlegende Wandlung. 1.2 Ästhetische sprachliche Selbstkonstruktion im Horizont der narrativen Psychologie Die identitätstheoretischen Implikationen dieser Erkenntnis lassen sich mit der so genannten narrativen Psychologie noch deutlicher bestimmen. Im Zentrum dieses von Jerome S. Bruner (1986, 1990, 1998), Dan P. McAdams (1993), Jürgen Straub (1998a, 1998b), Donald E. Polkinghorne (1998) oder Kenneth J. Gergen (1998) geprägten Ansatzes steht die Ausdifferenzierung des bereits von Mead herausgearbeiteten Zusammenhangs zwischen Sprache und Identität. Hatte Mead davon gesprochen, dass Identität sich dort präsentiert und manifestiert, wo „Kommunikation im Sinne signifikanter Symbole“ erfolgt, d.h. „ nicht nur an andere, sondern auch an das Subjekt selbst gerichtet ist“ (Mead 1927/30: 181), insofern das Subjekt sich im Akt der Selbstreflexion und Kommunikation zum Objekt macht, versteht die narrative Psychologie ganz analog Identität als über Sprache, genauer über Narrationen, konstituiertes Selbst- und Weltverhältnis. Dazu Donald E. Polkinghorne: „Narrative Psychologen meinen, dass Identität eine ge-

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VOLKER FREDERKING: (LITERAR-)ÄSTHETISCHE BILDUNG

schichtenförmige Konstruktion ist und als Selbst-Erzählung einer Person präsentiert wird. Selbst-Narrative dienen funktional der Integration menschlichen Lebens, indem sie disparate Erinnerungen vergangener Geschehnisse, aktuelle Überzeugungen und Erfahrungen sowie zukünftige, imaginierte und antizipierte Handlungen miteinander verknüpfen“ (Polkinghorne 1998: 33). Diese „Selbst-Erzählungen“ sind Momentaufnahmen, Konstruktionen im Augenblick, die stets aufs Neue hinterfragt, modifiziert und aktualisiert werden müssen. Sie unterliegen einer permanenten Abfolge von „Konstruktion, Erosion und Rekonstruktion“ (ebd.). Denn neue Informationen, Einflüsse, Kontakte, Kontexte, Adressaten, Ereignisse, Erfahrungen, Perspektiven etc. relativieren alte Selbst-Erzählungen und machen narrative Neu-Konstruktionen notwendig. Überdies sind natürlich lebensphasenspezifische Veränderungen von Bedeutung. Die narrative Identitätskonstruktion eines Menschen im Kindesalter unterscheidet sich von der in der Adoleszenz, in der Postadoleszenz, im berufstätigen Erwachsenenalter oder im hohen Lebensalter. Dan McAdams hat diese generationenspezifischen narrativen Identitätsmuster durch alle Lebensphasen hindurch aufgearbeitet. Nach McAdams verläuft die sprachlich gestützte Identitätskonstruktion in drei Entwicklungsstufen, der pränarrativen, der narrativen und der postnarrativen Phase. In der pränarrativen Phase, die sich von der Kindheit bis zum Beginn der Adoleszenz erstreckt, bildet sich beim Heranwachsenden ein „verbales Selbst“ (McAdams 1993: 46) aus, das in der narrativen Phase, der Phase der Adoleszenz, zu SelbstNarrativen ausgebaut wird, d.h. zu einem „persönlichen Mythos“ (ebd.: 7). Dieser aus Selbst-Geschichten bestehende persönliche Mythos wird im Erwachsenenalter, der dritten, so genannten postnarrativen Phase, verfeinert, um- und neu gebildet – im Horizont einer sich allmählich abschließenden Selbst-Erzählung, die Lebensgeschichte heißt und die beim reifen Erwachsenen ihre Erfüllung mit dem „Generativitätsskript“ (ebd.: 258) finden kann. Darunter versteht McAdams ein sich keinesfalls bei allen Menschen findendes Narrationsmuster, eine „innere Erzählung“ vom Selbst, die „den individuellen persönlichen Mythos mit den kollektiven Geschichten“ (ebd.: 258f.) verbindet und so einen überpersonalen Beitrag leistet zur Geschichte der Menschheit. Dabei ist nach McAdams Fremd- wie Selbsterkenntnis nur auf der Grund79

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lage des tiefer gehenden Verständnisses des persönlichen Mythos eines Menschen als Summe seiner Selbst-Erzählungen möglich: „Um mich zu erkennen, musst du meine Geschichte kennen; denn meine Geschichte definiert, wer ich bin. Um mich selbst zu erkennen, um Einblick in den Sinn und die Bedeutung meines Lebens zu gewinnen, muss ich selbst meine Geschichte kennen. Ich muss die Erzählung des Selbst in all ihren Besonderheiten erkennen, den persönlichen Mythos, den ich insgeheim, unbewusst im Laufe der Jahre geschaffen habe. Es ist eine Geschichte, die ich fortwährend revidiere und mir selbst (und manchmal anderen) zu meinem Leben erzähle“ (ebd.: 7).

Was McAdams nicht differenzierter theoretisch ausführt, was aber theorieimmanent angelegt ist und sich deshalb unschwer ergänzen lässt: Diese Selbst-Erzählungen manifestieren sich auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Formen des Sprachgebrauchs – personal als innere Sprache im Sinne Lew S. Wygotskis (1964) oder im schriftsprachlichen Selbstausdruck (Tagebuch, Autobiografie etc.), sozial im Gespräch oder in schriftsprachlich-dialogischer Form als Brief, Weblog etc. All diese narrativen Selbstkonstrukte lassen sich als sprachlich basierte ästhetische Artefakte verstehen, die sich nur in den Kategorien von Produktion und Rezeption respektive Autor- und Leserschaft hinreichend erfassen lassen. Dazu McAdams: „Der persönliche Mythos ist ein Akt der Imagination, der versinnbildlicht erinnerte Vergangenheit, wahrgenommene Gegenwart und antizipierte Zukunft integriert. Wir sind zugleich Autor und Leser unseres Mythos. Und als Autor und Leser lernen wir unseren Mythos schätzen ob dem [sic] Schönen, das er enthält, und ob seiner psychosozialen Wahrheiten“ (McAdams 1993: 8).

Vor diesem Hintergrund wird erkennbar: Schreib- und Leseprozesse sind im Verständnis narrativer Psychologie auch in Form von Selbst-Narrationen möglich. Diese sind auf den Aufbau bzw. das Verstehen des persönlichen Mythos bezogen und Bedingung von Selbst- bzw. Fremderkenntnis. Dass diese Selbst-Narrationen nicht nur personal, sondern auch sozial verankert sind, steht für McAdams (ebd.: 290) außer Frage. Noch deutlicher wird dieser Aspekt bei Kenneth J. Gergen,

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der aus dem Blickwinkel seines sozialkonstruktivistischen Ansatzes heraus das Moment des Kommunikativ-Diskursiven betont: „Als diese oder jene Person identifiziert zu werden (als Kurt, Sarah oder Wilfried), das Objekt verschiedener Attribute zu sein (‚höflich‘, ‚ehrlich‘, ‚ernsthaft‘), sich selbst-referentiell zu verhalten (‚ich sagte …‘, ‚ich ging …‘) – all das muss in der Sprache verwirklicht werden. Vorwiegend durch das Medium des Diskurses gelangen wir zu der Auffassung, ein individuiertes Selbst mit bestimmten Eigenschaften und der Fähigkeit zu selbstreferentiellem Verhalten zu sein“ (Gergen 1998: 188f.).

Identitätskonstruktion vollzieht sich nach Gergen sprachlich, aber keinesfalls nur in personaler, sondern auch in sozialer Verankerung. Dabei spielen formale Passformen dieser Selbst-Narrationen eine zentrale Rolle. Eine identitätskonstituierende Selbst-Beschreibung erfolgt immer im Kontext sprachlicher und narrativer Traditionen. In einer Wittgenstein-Paraphrase konstatiert Gergen (ebd.: 190) deshalb: „Die Grenzen unserer narrativen Traditionen sind die Grenzen unserer Identität.“ Dies schließt diskursiv-narrative Formen der Entwicklung moralischer Werte und kultureller Handlungsnormen mit ein (ebd.: 195ff.). Schreib- und Leseprozesse, die der narrativen Selbst-Konstruktion dienen, stellen in diesem Sinne Formen literarästhetischer Selbstvergewisserung dar, die in spezifischen sprachlichen, kulturellen und philosophischen Traditionen verankert sind und mit denen ein Individuum sein personales und soziales Selbst- und Weltverhältnis zu einem persönlichen Mythos verdichtet. Literaturproduktion und -rezeption erweisen sich im Theorieraum narrativer Psychologie als eine spezielle, gleichsam artifiziell ausdifferenzierte Form der narrativpersonalen Mythenbildung bzw. -entschlüsselung.

2. Ästhetische Erfahrung und kulturelle Selbstvergewisserung aus literaturwissenschaftlicher Sicht Die Auseinandersetzung mit ästhetischen Fragen hat auch in der Literaturwissenschaft eine lange Tradition. Zwei Ansätze sollen nachfolgend differenzierter aufgearbeitet werden, weil sie das Verhältnis von ästhetischer Erfahrung und Identität im Zusammenhang mit Schreib- und Leseprozessen besonders grundlegend

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behandelt haben: Die Theorien Umberto Ecos und Hans Robert Jauß’. 2.1 Die semiotische Ästhetik Umberto Ecos Die Bedeutung Umberto Ecos für ein Verständnis der literarästhetischen Dimensionen des Lesens und Schreibens und ihrer identitätstheoretischen Facetten ergibt sich aus seiner Theorie des ästhetischen Reizes (Eco 1962: 77ff.) und den von ihm herausgearbeiteten drei Intentionstypen – der „intentio lectoris“, der „intentio operis“ und der „intentio auctoris“ (Eco 1990: 35ff.). Ecos Theorie des ästhetischen Reizes basiert auf einem spezifischen Verständnis des ästhetischen Zeichens. In Übereinstimmung zur Literaturtheorie Roman Jakobsons (1961) unterscheidet Eco in seiner Semiotik sechs Funktionen der Sprache: die referentielle, die emotionale, die imperative, die phatische, die metasprachliche und die ästhetische Funktion. Ästhetisch ist die Funktion der Sprache, wenn sie zwei- oder mehrdeutig strukturiert und autoreflexiv ist (vgl. Eco 1972: 145f.). Dabei ergibt sich die Zwei- oder Mehrdeutigkeit des „ästhetischen Zeichens“ aus dem spezifischen Wechselverhältnis von Signifikant und Signifikat: „Beim ästhetischen Reiz kann der Empfänger keinen Signifikanten isolieren, um ihn in eindeutiger Weise auf sein denotatives Signifikat zu beziehen: Er muss das Gesamt-Denotativum erfassen“ (Eco 1962: 80). Die Autoreflexivität, nach Eco die von der ästhetischen Botschaft beim Empfänger evozierte Wahrnehmung oder Reflexion ihrer eigenen Form (Eco 1972: 145), verstärkt diesen Effekt. Der Leser eines ästhetischen Zeichens findet sich nach Eco folglich in einem ästhetischen Reizfeld wieder. In diesem stehen individuelle Dispositionen und formale sprachliche Konventionen in einem besonderen Verhältnis. Dabei sind für den Leser trotz der prinzipiellen Offenheit des Kunstwerks (Eco 1962, 1990, 1992) und der damit verbundenen „semantischen Pluralität“ (Eco 1962: 87). Deutungsansätze literarischer Texte nur innerhalb der im ästhetischen Zeichen angelegten Sinnstrukturen möglich. Damit hat Eco einer Rehabilitation des Textsinns, verstanden als „Kohärenz des Textes“ (Eco 1990: 49), theoretisch den Weg bereitet. Literarästhetisches Verstehen bedeutet in diesem Sinne, aus Gelesenem eine plausible Textdeutung herzustellen. Im Unterschied zu den ausschließlich leserorientier-

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ten Ansätzen im Konstruktivismus (vgl. z.B. Scheffer 1992) und den antihermeneutischen Theoremen im Poststrukturalismus bzw. Dekonstruktivismus (vgl. z.B. Foucault 1973, 1974; Derrida 1972) hält Eco ein Verstehen der „ästhetischen Botschaft“ (Eco 1972: 145ff.) in der „ästhetischen Rezeption“ (Eco 1962: 82) für möglich. Allerdings ist eine ästhetische Botschaft nicht im Rekurs auf die so genannte Autorintention, die „intentio auctoris“, zugänglich, sondern allenfalls in der impliziten Textintention, der „intentio operis“ (Eco 1990: 35ff.). Diese erschließt sich unter Einbeziehung sprachlicher, kultureller und historischer Hintergründe eines Textes, indem der vom Text implizierte exemplarische Leser vom empirischen Leser rekonstruiert wird (ebd.: 49). Eine zentrale Rolle spielt dabei der „Idiolekt“, nach Eco „der private und individuelle Code eines einzigen Sprechers“ (Eco 1972: 151). Bedeutung besitzt außerdem das „strukturale Schema [eines Werkes], das in allen seinen Teilen herrscht“ (ebd.: 152) und das der Interpret wieder zu finden und zu entschlüsseln sucht. Dabei ist es nach Eco zwar nicht möglich, die beste Interpretation zu bestimmen, wohl aber eine schlechte bzw. inadäquate zu identifizieren: „Zwischen der unergründlichen Intention des Autors und der anfechtbaren Intention des Lesers liegt die transparente Textintention, an der unhaltbare Interpretationen scheitern“ (Eco 1992: 87). Doch so sehr sich Eco mit seiner „Verteidigung des wörtlichen Sinnes“ (ebd.: 40) zum Anwalt des Textes macht, so deutlich ist zugleich der Freiraum des Rezipienten und so unzweifelhaft bleibt die Offenheit des Kunstwerkes. Für Eco (1962: 85) steht außer Frage: „Die Offenheit ist […] Bedingung für jeden Kunstgenuss, und jede als ästhetisch organisiert auffassbare Form ist ‚offen‘. Und zwar […] auch dann, wenn der Künstler nicht Mehrdeutigkeit, sondern eine eindeutige Botschaft anstrebt.“ Diese Offenheit ermöglicht dem Leser Deutungsspielräume im Rahmen der „semantischen Pluralität“ (ebd.: 87) eines ästhetischen Textes. In den „Grenzen der Interpretation“ spricht Eco in diesem Sinne von der „intentio lectoris“ als legitimem Bestandteil einer interpretatorischen Trias, die durch die „intentio operis“ und die „intentio auctoris“ komplettiert wird. In diesem Modell erschließen sich theoretische Begründungszusammenhänge für die Möglichkeit einer personalen Annäherung an einen Text und damit Ansätze zu einer Verbindung von Identitäts- und Ästhetik-Diskurs. Obschon diese nicht im Zentrum 83

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von Ecos Forschungsinteressen steht, leistet er insbesondere mit seiner Abgrenzung von Lesertypen und Erschließungsintentionen einen wichtigen Beitrag zum Verständnis ästhetischer Lese- und Deutungsprozesse. Wenn Eco (1990: 43) nämlich zwischen semantischer und kritischer Interpretation unterscheidet, d.h. zwischen ersten sinnfüllenden Deutungsansätzen und solchen, die zu klären versuchen, „aufgrund welcher Strukturmerkmale der Text diese (oder andere) semantischen Interpretationen hervorbringen kann“, so sind damit zugleich Niveaustufen im Lese- und Verstehensprozess markiert, die Maßstäbe setzen. Gleiches gilt für die Distinktion zwischen den Rezeptionsakten „Interpretieren“ und „Benutzen“ (ebd.: 47). Während das Benutzen von Texten ganz im Horizont der „intentio lectoris“ verbleibt und zwar legitim, aber eben nicht wissenschaftlich ist, vollzieht das Interpretieren den perspektivischen Übergang von der „intentio lectoris“ zur „intentio operis“ und erweist sich damit als alleinige Basis adäquaten ästhetischen Verstehens. 2.2 Poiesis, Aisthesis und Katharsis. Die Theorie des ästhetischen Genusses nach Hans Robert Jauß Während mit Ecos ästhetischer Semiotik die textuellen Grundlagen und Spezifika ästhetischer Prozesse transparent werden, eröffnet die Ästhetiktheorie von Hans Robert Jauß (1982) einen neuen Blick auf den in der Geschichte des Abendlandes immer wieder wirkungsvoll diskreditierten ästhetischen Genuss und seine Bedeutung für ästhetisches Verstehen. Im offenen Gegensatz zu der von Adorno (1970) behaupteten Inkompatibilität von Genießen und Erkennen definiert Jauß ästhetische Erfahrung als „Einheit von verstehendem Genießen und genießendem Verstehen“ (Jauß 1982: 85) - in Anknüpfung an die in der Antike verbreitete Vorstellung einer Zusammengehörigkeit von „delectare“ und „prodesse“. Dabei beeinflusst ästhetisches Genießen das Selbst- und Weltverhältnis des Rezipienten nachhaltig. Ästhetischer Genuss ist „Selbstgenuß im Fremdgenuß“ (ebd.). Dies gilt für alle drei Grundkategorien ästhetischer Erfahrung – Poiesis, Aisthesis und Katharsis. Dazu Jauß: „Ästhetisch genießendes Verhalten, das zugleich Freisetzung von und Freisetzung für etwas ist, kann sich in drei Funktionen vollziehen: für

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das produzierende Bewusstsein im Hervorbringen von Welt als seinem eigenen Werk (Poiesis), für das rezipierende Bewußtsein im Ergreifen der Möglichkeit, seine Wahrnehmung der äußeren wie der inneren Wirklichkeit zu erneuern (Aisthesis), und schließlich – damit öffnet sich die subjektive auf intersubjektive Erfahrung – in der Beipflichtung zu einem vom Werk geforderten Urteil oder in der Identifikation mit vorgezeichneten und weiterzubestimmenden Normen des Handelns (Katharsis)“ (ebd.: 88f.).

Damit treten drei Modi des Literarischen ins Blickfeld: Produktion (Poiesis), Rezeption (Aisthesis) und Kommunikation (Katharsis). In allen drei Bereichen stehen Identität und ästhetische Erfahrung in einem unmittelbaren Bezug miteinander, wie Jauß zeigt (vgl. ebd.: 55, 82). Schon die Rezeption eines Textes und die Reflexion und Kommunikation über diesen in den Bereichen Poiesis und Katharsis leiten nach Jauß eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst- und Weltverhältnis ein. Denn die Identität eines Individuums ist stets berührt, wenn der durch die Rezeption eines Textes ausgelöste ästhetische Genuss mit Reflexion verbunden ist und diese das genießend-reflektierende Subjekt selbst zum Gegenstand macht. Dementsprechend stellt Jauß fest, dass ästhetische Erfahrung „in den Prozeß einer ästhetischen Bildung der Identität einbezogen werden [kann], wenn der Leser seine ästhetische Tätigkeit mit der Reflexion auf sein eigenes Werden begleitet“ (ebd.: 90). Die Rezeption eines ästhetischen Gegenstandes ermöglicht mit anderen Worten zweierlei - die genießende Reflexion einer fremden Gedankenwelt und die Möglichkeit eines durch Reflexion und Kommunikation veränderten Bezuges zu sich und zu anderen (vgl. ebd.: 85). Damit bestätigt Jauß aus literaturwissenschaftlich-ästhetischer Perspektive, was Mead aus identitätstheoretischer Sicht entwickelt hat: Literarisches Lesen kann einen wesentlichen Beitrag zur Förderung von Selbstreflexion, Weltverstehen und Identitätsfindung leisten. Denn bei jedem Versuch, einen literarischen Text zu verstehen, ist nach Jauß die Identität des Rezipienten im Handlungsrahmen von Aisthesis und Katharsis beteiligt. Verstehendaneignende Leseprozesse sind nur innerhalb des Selbst- und Weltbildes und der Wert- und Normvorstellungen des rezipierenden Subjekts möglich. Im kommunikativen Austausch und in

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der gemeinsamen Diskussion über Rezeptionseindrücke lässt sich dieser Prozess vertiefen. Doch nicht nur Lese-, sondern auch Schreibprozesse lassen sich mit Rekurs auf Jauß und seine Überlegungen zur Poiesis in ihrer ästhetischen und personal-kulturellen Dimension literaturwissenschaftlich begründen. Zentrale Bedeutung besitzt in diesem Zusammenhang das Theorem der „produktiven“ (vgl. Jauß 1970) bzw. „verjüngenden Rezeption“ (vgl. Jauß 1982: 795). Diesem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass jede Auseinandersetzung mit einem literarischen Text auf der Basis von Fragen und Antworten erfolgt. So vermag das klassische Werk „aus der erkannten Ferne erst wieder zu uns zu sprechen, wenn es auf eine Frage antworten kann, die zwischen dem Horizont vergangener Erfahrung und dem Interesse einer neuen Gegenwart die Brücke schlägt“ (ebd.: 796). Damit wandelt sich die Rezeption zum produktiven Akt. Dieser kann einen Grad erreichen, in dem „das vollendete Werk in der fortschreitenden Aisthesis und Auslegung eine Bedeutungsfülle [entfaltet], die den Horizont seiner Entstehung bei weitem übersteigt“ (ebd.: 89). So ist es möglich, dass Aisthesis und Katharsis im Akt der Rezeption in Poiesis münden. Denn ein Rezipient kann „ein ästhetisches Objekt als unvollendet ansehen, aus seiner kontemplativen Einstellung heraustreten und selbst zum Mitschöpfer des Werkes werden, indem er die Konkretisation seiner Gestalt und Bedeutung vollendet“ (ebd.: 89). Während bei Jauß diese produktive Rezeption auf die analytisch-imaginative Ebene beschränkt bleibt, hat die so genannte handlungs- und produktionsorientierte Literaturdidaktik (vgl. z.B. Haas 1997; Waldmann 1998) dieses rezeptionsästhetische Theorem im Sinne schöpferisch-künstlerischer Produktivität weiterentwickelt. Aber auch die personale Dimension ästhetischer Schreibprozesse besitzt Anknüpfungspunkte in der Jaußschen Ästhetik. Zentrale Bedeutung besitzt dabei der Topos „ästhetische Identität“. In diesem Ausdruck finden die identitätstheoretischen Implikationen ästhetisch-künstlerischer Produktivität ihren begrifflichen Niederschlag (vgl. dazu 3.1). Ästhetische Identität entsteht in der „Möglichkeit, sich selbst zu erzählen“ (Jauß 1982: 43f.), d.h. sich ästhetisch-künstlerisch schreibend seiner selbst zu vergewissern. Lange vor den schreibtheoretisch ebenfalls gut applizierbaren Ansätzen der so genannten narrativen Psychologie hat Jauß

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damit sehr eindrucksvoll aus literaturwissenschaftlicher Sicht die personalen Potentiale ästhetischer Schreibprozesse freigelegt.

3. Ästhetisches Lesen und ästhetisches Schreiben als Formen personaler und kultureller Selbstkonstruktion aus Auch innerhalb der Deutschdidaktik nehmen Fragen des ästhetischen Lesens und des ästhetischen Schreibens als Formen personaler und kultureller Selbstkonstruktion eine zentrale Stellung ein. Allerdings sind diese - dem disziplinären Aufgabenfeld entsprechend – auf unterrichtliche Lehr-Lern-Prozesse bezogen. Zwei besonders einschlägige Diskurse – der identitäts- und der kreativitätstheoretisch akzentuierte – sollen nachfolgend in argumentativen Grundlinien erläutert werden. 3.1 Identität und ästhetische Lese- und Schreibprozesse im Deutschunterricht Den Zusammenhang zwischen literarästhetischen und identitätsorientierten Fragestellungen hat im Rahmen der Literaturdidaktik als erster Jürgen Kreft in umfassender Weise aufgearbeitet. Da Identitätsbildung bei Heranwachsenden in hochkomplexen Industriegesellschaften in seinem Verständnis nicht mehr per se erfolgt, ist Schule im Allgemeinen und Deutschunterricht im Besonderen verpflichtet, Kindern und Jugendlichen Raum zu geben für die Arbeit an der eigenen Identität. Literarästhetische Handlungsräume sind dazu in besonderer Weise geeignet. So ermöglicht im Urteil Krefts insbesondere der Literaturunterricht, „daß literarische (ästhetische) Kommunikation qualitativ, extensiv und intensiv so stattfindet, daß sowohl die Ich-Entwicklung überhaupt, vorab die Individuierung, dann der Erwerb der interaktiven und ästhetischen […] Kompetenz wünschenswert weit gefördert bzw. gelingen würde“ (Kreft 1977: 218). Krefts Konzeption eines identitätsorientierten Literaturunterrichts, die im Rahmen eines 4-Phasen-Modells der Literaturbegegnung in spezifischer Weise zwischen den personalen Perspektiven des Schülersubjekts und den komplexen Verstehensangeboten des textlichen Gegenstandes zu vermitteln sucht (ebd.: 379ff. ), ist in diesem Sinne auch als Bei-

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trag zu einer fachspezifischen Theorie (literar-)ästhetischer Bildung zu verstehen. Grundlegend ist in diesem Zusammenhang auch Norbert Hopster mit seiner Definition des Literaturunterrichts „als Feld personenvermittelter literarisch-ästhetischer Handlungen“, das den „Aufbau einer Identität“ zum Ziel hat (Hopster 1984: 92, 89). Damit rückt die Vermittlung von historisch-ästhetischer und personal-ästhetischer Dimension in das Zentrum literaturdidaktischer Aufmerksamkeit: „Gefordert ist ein Literaturunterricht, in dem die in vielen didaktischen Rezeptionsmustern auseinanderklaffenden Dimensionen des Historischen und des Ästhetischen von Texten wieder zusammengebracht werden. Er setzt auf Seiten der Schüler den lebensgeschichtlichen Lernprozeß voraus, sich selbst als Teilhaber einer nichtchronologischen, qualitativ-dynamischen Historie zu begreifen. Erst so kann die ästhetische Vermitteltheit historischer Erfahrungen, die Literatur ausmacht, rückübersetzt werden in den eigenen, produktiven Prozeß erfahrungsgeleiteter Rezeption“ (ebd.: 83).

Mit anderen Worten: Hopster geht es um die Re-Integration des subjektiven Momentes in unterrichtlich organisierte ästhetische Lese- und Verstehensprozesse – aber nicht zulasten der historischen Dimension, sondern als Voraussetzung ihrer Erschließung (vgl. auch Zabka 2003). Schreibdidaktisch werden identitätsfördernde Potentiale ästhetischer Prozesse vor allem in Gundel Mattenklotts Ansätzen zu literarischer Geselligkeit (1979), Kaspar H. Spinners Theorie eines identitätsorientierten Deutschunterrichts (1980) und Dietrich Bouekes und Frieder Schüleins Konzept des „personalen Schreibens“(1985) einflussreich entfaltet. Mattenklott hat in ihrem 1979 erschienenen Buch „Literarische Geselligkeit – Schreiben in der Schule“ auf der Grundlage eines umfassenden geistesgeschichtlichen Rekurses auf die Tradition der literarischen Geselligkeit vor allem in der Klassik und Romantik ein Schreibkonzept vorgestellt, das das Ziel hat, „Formen der Selbstverwirklichung in spielerischer Arbeit und ästhetischem Genuß [zu ermöglichen], die den Einzelnen mit den andern vermittelt, statt ihn von ihnen zu trennen“ (Mattenklott 1979: 5).

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Spinner hat auf der Grundlage der Meadschen Identitätstheorie das besondere Interesse des Deutschunterrichts an schriftsprachlichen Möglichkeiten der Identitätsförderung kenntlich gemacht. Wenn nämlich Sprache tatsächlich von entscheidender Bedeutung ist für die Entwicklung von Ich-Identität, wie Meads Theorie impliziert, können insbesondere identitätsorientierte Schreibarrangements eingesetzt werden, um Heranwachsende beim Aufbau eines reflektierten Selbst- und Weltverhältnisses zu unterstützen. Denn Schreiben ermöglicht Selbstobjektivation, wie Spinner zeigt. Auf diese Weise wird Selbstgewissheit gestärkt. Das Ich erlebt sich als Subjekt seiner Erlebnisse, Gedanken und Gefühle. Ein Selbstreflexionsprozess wird initiiert, in dem der Schreibende als Leser zum Adressaten seiner eigenen Äußerungen wird und sich so selbst zumindest für Augenblicke anders wahrnehmen lernt (vgl. Spinner 1980: 74f.). Folgerichtig sollten Schüler(innen) in einem identitätsorientierten Deutschunterricht immer wieder Gelegenheit erhalten „von eigenen Erlebnissen, Erfahrungen, Wünschen, Träumen in unterschiedlichen Situationen und Formen schriftlich zu berichten“, um sich im Medium des schriftsprachlichen Selbstausdrucks „des eigenen Bedürfnis-Ichs, des Rollenverhaltens und der Wertvorstellungen bewußt zu werden“ (ebd.: 75). Freiwilligkeit in einem notenfreien Interaktionsraum ist für diese Art identitätsorientierten ästhetischen Schreibens unverzichtbar. Boueke und Schülein haben in diesem von Spinner und anderen – z.B. Joachim Fritzsche (1980) oder Gerhard Sennlaub (1980) – entwickelten schreibdidaktischen Konzept ein neues „Paradigma der Aufsatzdidaktik mit einem spezifischen, unverwechselbaren Profil“ (Boueke/Schülein 1985: 295) gesehen und unter dem Oberbegriff „personales Schreiben“ subsumiert. Darunter verstanden sie „eine Form des Schreibens […], in der das schreibende ‚Ich‘ selber im Mittelpunkt steht und seine Wahrnehmungen von sich selber, seine Wahrnehmungen von der Welt und seine Wahrnehmungen von den anderen im Schreibprozeß formuliert“ (ebd.: 277). Es geht ihnen mithin um Schreibarrangements, in denen den Schüler(inne)n eine unmittelbare Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst- und Weltverhältnis ermöglicht wird. In den neunziger Jahren haben diese literatur- und sprachdidaktischen Ansätze vor dem Hintergrund der sich steigernden Modernisierungsdynamik und ihrer identitätsspezifischen Konse89

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quenzen Weiterentwicklungen gefunden. Ulf Abraham verortet ästhetische Erfahrung in der Oszillation zwischen Fremdem und Eigenem: „Literarische Fiktionen sind als Versuche zu verstehen durch Aktivierung der Einbildungskraft die Grenze unserer Erfahrungsräume zu überschreiten. […] Das Fremde, als das uns der Text zunächst gegenübersteht, wird im ästhetischen Prozess gleichsam herübergesetzt in ein Eigenes“ (Abraham 2000: 14f.).

In diesen Überlegungen wird der prinzipielle Zusammenhang zwischen ästhetischer Erfahrung auf der einen und der Möglichkeit von Identitäts- und Alteritätserfahrungen im Umgang mit literarischen Gegenständen auf der anderen Seite sichtbar. Ich selbst habe mit Bezug auf Mead und Jauß psychologische und literaturwissenschaftliche Fundamente der personalen Implikationen ästhetischer Erfahrung aufzuzeigen versucht (vgl. Frederking 2004). Unter Einbeziehung neuerer Identitätstheorien – u.a. aus Postmoderne, Kommunitarismus, Genderforschung, Medientheorie, Narrationspsychologie – treten zunehmend Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer ästhetischen Förderung von Identitätsbildung im Horizont von Individualisierungs-, Pluralisierungs- und Medialisierungsprozessen ins Blickfeld (Frederking 2001). Wahrnehmungs- und erfahrungsorientiert argumentiert Kaspar H. Spinner. Er definiert ästhetische Bildung als „Wahrnehmungsbildung“ (Spinner 1998: 47) und betont die Bedeutung einer ausgebildeten ästhetischen Wahrnehmungskompetenz für das Selbst- und Weltverhältnis von Heranwachsenden. Eine fächerverbindende Perspektive bietet sich hierfür in seinem Urteil in besonderer Weise an (vgl. Kirchner/Schiefer Ferrari/Spinner 2006). 3.2 Kreativität und ästhetische Lese- und Schreibprozesse im Deutschunterricht Ein zweiter fachspezifischer Diskurs konzentriert sich auf den Zusammenhang von Kreativität und ästhetischer Bildung. Jutta Wermke hat diesen als eine der ersten wegweisend aufgearbeitet und unter Einbeziehung identitäts- bzw. persönlichkeitstheoretischer Fragestellungen für die Begründung fachspezifischer Bildungsprozesse fruchtbar gemacht. Für sie stand außer Frage, dass 90

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oberstes Ziel ästhetischer Erziehung die „kreative Persönlichkeit“ (Wermke 1981: 15) ist. Gleichzeitig hat Wermke das Blickfeld erweitert, indem sie nicht nur literarästhetische, sondern auch mediale ästhetische Aspekte in ihre Betrachtung mit einbezogen hat: „Die zentrale Frage nach dem Beitrag Ästhetischer Erziehung zu einer allgemeinen Förderung von Kreativität bezieht sich […] darauf, ob die Schulung von Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit an verbalen, piktoralen, auditiven Texten der herkömmlichen wie der Massenmedien zur Ausbildung überdauernder Persönlichkeitsmerkmale führt“ (ebd.: 20).

Pionierarbeit hat Jutta Wermke überdies mit der empirischen Untersuchung von Möglichkeiten der Kreativitätsförderung im Literaturunterricht geleistet. Für diese gilt: „Nicht Texte und Techniken haben im Mittelpunkt eines kreativitätsfördernden Unterrichts zu stehen, sondern der Schüler“ (Wermke 1989: 17). Auf welchen fachinternen und fachexternen Fundamenten diese Maxime basiert und wie fruchtbar sie für Lehr-Lern-Prozesse ist, zeigt Wermke in ihrer zweibändigen Studie in beeindruckender Weise auf (vgl. auch 1989: 584). Weitere Impulse hat der Kreativitätsdiskurs durch die Konzeption des kreativen Schreibens erhalten. Wegweisend war in diesem Zusammenhang u.a. die von Gabriele Rico entwickelte „Clustering“-Methode (1983), ein „nichtlineares BrainstormingVerfahren, das mit der freien Assoziation verwandt ist“ (1983: 27). Dieses befördert nach Rico in besonderer Weise bildhaftes Denken. Ein konzeptionelles Stadium hat das kreative Schreiben mit Kaspar H. Spinners Verortung des Ansatzes im aufsatzdidaktischen Diskurs erhalten – im Vergleich zum freien, personalen und prozesshaften Schreiben – und mit seiner Synopse von psychologischen Bezugstheorien – Tiefenpsychologie, Gestalttherapie, Gehirnforschung, Wygotskis Konzept der inneren Sprache und Winnicotts Kreativitätstheorie (Spinner 1993: 17ff.). Das methodische Spektrum ist dabei breit. Besondere Beachtung finden imaginations- und empathiefördernde Techniken: „Für die Aktivierung der Imaginationskraft gibt es in der Didaktik des kreativen Schreibens eine Reihe von Verfahren: besonders typisch sind das automatische Schreiben (écriture automatique), das Meditieren zu

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inneren Vorstellungen und Erinnerungen oder zu Gegenständen (z.B. zu einem Stein, den man in der Hand hält), das Clustering und das Schreiben zu künstlerischen Ausdrucksformen (Bildern, Musik, literarischen Texten)“ (ebd.: 21).

Vor einer Verabsolutierung kreativer Schreibdidaktik hat hingegen Ulf Abraham wenige Jahre später zu Recht gewarnt, insofern es, wie er zeigt, eigentlich „kein unkreatives Schreiben“ gibt und die „Rede vom Kreativen Schreiben […] unsere sonstigen Schreibaufgaben als unkreativ denunziert“ (Abraham 1998: 32). Trotz dieser Einschränkung aber steht außer Frage, dass kreatives Schreiben ästhetische Prozesse in besonderer Weise gefördert und ein Umdenken in der Aufsatzdidaktik und – in Teilen – auch im schulischen Deutschunterricht eingeleitet hat. Empirische Arbeiten sichern die didaktischen Hypothesen im Bereich der fachspezifischen Kreativitätsforschung dabei teilweise ab. So konnte Claudia Winter auf der Grundlage ihrer Ergebnisse zeigen, dass nicht ein einseitiger Methodengebrauch die fruchtbarsten Ergebnisse bringt, sondern sich ein Methodenpluralismus im Bereich ästhetischer Schreibformen empfiehlt, der „kreatives Schreiben und traditionellen Aufsatzunterricht“ (Winter 1998: 201) verbindet. Demgegenüber hat Alexandra Beer-Scharwächter (2007) empirisch nachgewiesen, wie fruchtbar und leistungssteigernd sich ein kreativer Deutschunterricht gerade unter Einsatz ästhetischer Schreibprozesse sogar in leistungsschwachen Lerngruppen wie einer Hauptschulklasse mit hohem Migrantenanteil auswirken kann. Ihr Fazit: „Die Ergebnisse der Studie sprechen dafür, dass das kreative Schreiben eine Chance für alle Hauptschüler darstellt, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit der Sprache zu verbessern. Eine sinnvolle Kombination von traditionellem Deutschunterricht und kreativen Schreibaufgaben scheint dazu eine geeignete Möglichkeit zu sein“ (ebd.: 246).

4. Schlussfolgerungen, Desiderata und Forschungsfragen Lässt man die in den drei vorangegangenen Kapiteln in einigen Grundlinien exemplifizierten Diskurse zum Zusammenhang von Identität und (literar-)ästhetischer Bildung innerhalb der Psychologie, der Literaturwissenschaft und der Deutschdidaktik Revue

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passieren, wird erkennbar: Trotz fachspezifischer Unterschiede gibt es prinzipielle Übereinstimmungen in der Fragestellung, in der Analyse und in den Schlussfolgerungen. Dass diese Diskurse zu Fragen der Ästhetik gleichwohl zumeist ohne Kenntnis (-nahme) voneinander geführt wurden und werden, ist bedauerlich und besitzt kein fundamentum in re. Im Gegenteil: Die Entwicklung eines interdisziplinären Kooperationsverbundes zur gemeinsamen Erforschung von Fragen ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Bildung, wie ihn das an der Universität Erlangen-Nürnberg gegründete „Interdisziplinäre Zentrum Ästhetische Bildung“ darstellt, erweist sich als unmittelbare Konsequenz aus der Sache selbst – und als Chance für die Geisteswissenschaften insgesamt. Denn interdisziplinäre Netzwerke erweitern den Horizont und können überdies auch noch wertvoll sein in Zeiten knapper Kassen und verschärfter Legitimitätsanfragen. Für die von mir vertretene Disziplin, die Deutschdidaktik, sehe ich vor diesem Hintergrund im Hinblick auf weitergehende Forschungen drei primäre Ansatzpunkte: 1. Zum einen scheint es mir dringend geboten, die theoretischen Fundamente deutschdidaktischer Konzeptionen zur ästhetischen Erfahrung bzw. ästhetischen Bildung sowohl im Bereich der Lese- als auch der Schreibprozesse in transdisziplinärer Perspektive zu erweitern und zu vertiefen. Dies bedeutet, literatur- und sprachwissenschaftliche, psychologische, pädagogische und philosophische Forschungsansätze in die eigenen Theorieentwicklungen noch expliziter mit einzuarbeiten und als solche auszuweisen, als dies bislang geschehen ist. So stellen die eingangs im Rahmen dieses Beitrags skizzierten fachexternen ästhetischen Ansätze im symbolischen Interaktionismus, in der narrativen Psychologie, in der semiotischen Ästhetik und in der Rezeptionsästhetik in meinem Urteil besonders geeignete Anknüpfungspunkte dar, deren deutschdidaktische Applikation sich als fruchtbar erweisen könnte – ohne dass diese Nennungen exklusiven, andere Positionen ausschließenden Charakter haben (vgl. dazu Frederking 2004). Darüber hinaus wird der Zusammenhang zwischen ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Bildung noch sehr viel eingehender und vor allem unter Einbeziehung der in dieser Hinsicht einschlägigen pädagogischen Diskurse und Theorieansätze zu reflektieren sein (vgl. z.B. Staudte 1991; Mollenhauer 1996; Liebau im vorliegenden Band). 93

BILDUNG IN DEN KÜNSTEN

2. Ein weiterer wesentlicher Ansatzpunkt gegenwärtiger und zukünftiger Forschungsarbeit ergibt sich meines Erachtens in mediendidaktischer Perspektive. Damit ist erst in zweiter Linie an einen im Zuge des medialen Wandels prinzipiell zu erweiternden Grundansatz gedacht, demzufolge deutschdidaktische wie pädagogische Konzepte zur ästhetischen Bildung piktorale, auditive, audiovisuelle und multimediale ästhetische Formen mit einschließen müssen (vgl. Wermke 1997; Spinner 2004; Frederking 2004; Frederking/Krommer 2006). Dies ist prinzipiell richtig und hat insbesondere auch für die Synästhetik multimedialer Gesamttexte Gültigkeit (vgl. Frederking 2006). Im Kontext der spezifischen, auf literarästhetische Dimensionen bezogenen Fragestellung dieses Artikels zielt das Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung mediendidaktischer Aspekte allerdings in erster Linie auf den eingeschränkten Bereich der hier thematisierten Lese- und Schreibprozesse ab. Auch für diese hat die Mediatisierung weitreichende Konsequenzen und macht ein erweitertes Verständnis ästhetischer Bildung notwendig. So sind Lese- und Schreibprozesse längst nicht mehr nur auf das Trägermedium Papier beschränkt, sondern erfolgen heute in vielfältigen Formen digital. Dabei ist evident, dass das Lesen literarischer Texte in digitalen Kontexten per se etwas Anderes ist als das Lesen im Printmedium. Während reine Übertragungen von Printvorlagen auf Literatur-CD-Roms oder ins Internet keinen ästhetischen Mehrwert besitzen, sieht dies für hypertextuell bzw. hypermedial aufbereitete literarische Texte natürlich anders aus. Ein digital auf CD-Rom oder im Internet zugänglicher literarischer Text, der mit auditiven oder audiovisuellen Verarbeitungen verlinkt ist, eröffnet per se erweiterte ästhetische Rezeptionshorizonte (vgl. Berghoff/Frederking 2002; Jonas 1997; 1998; Kepser 2004; Frederking 2006). Gleiches gilt für interaktiv gestaltete Internetliteratur (Kepser 2000; Maiwald 2001). Auch Schreibprozesse im Rahmen eines Textverarbeitungsprogramms oder im Netz, bei denen die vielfältigen grafischen Gestaltungsoptionen themenspezifisch genutzt werden - beispielsweise indem ein selbst verfasstes Gedicht farblich oder bildlich illustriert oder durch eine eigene, digital gespeicherte, dem Gedicht hinzugefügte und per Link zugängliche Lesung ergänzt wird – erweitern das Spektrum ästhetischen Schreibens erheblich. Gleiches gilt für interaktive und hypermedial angelegte Schreibprozesse im Netz oder Formen virtueller Theatralik (Maiwald 2004; Frederking/ 94

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Krommer 2006). All diese Optionen sind zwar theoretisch erschlossen und in ihren praktischen Potentialen exemplifiziert, eine Verortung in einem umfassender angelegten Konzept ästhetischer Bildung aber steht noch aus. 3. Hinzu kommen die offenkundigen Desiderate im Bereich empirischer Forschung. In Bezug auf ästhetische Erfahrung und ästhetische Bildung sind diese besonders eklatant. Hier sind wir innerhalb der Deutschdidaktik – mit Ausnahme des Kreativitätsdiskurses - bislang über ein heuristisches, hypothesengeleitetes Stadium noch nicht hinausgekommen. Dies gilt auch und gerade in Bezug auf kompetenztheoretische Fragestellungen, die nach Einführung der Bildungsstandards von zentraler Bedeutung sind für die Stellung eines Lernbereichs im Deutschunterricht der Gegenwart und der Zukunft. Ästhetische Dimensionen drohen so im Spektrum unterrichtlichen Handelns an den Rand gedrängt zu werden, gelingt es nicht, zumindest in Ansätzen eine auch empirisch gestützte Theorie ästhetischer Kompetenz zu entwickeln. Macht der Ausbau der theoretischen Fundamente, wie gezeigt, eine stärkere Einbeziehung der Germanistik, der Psychologie und der Pädagogik als Bezugswissenschaften notwendig, ergibt sich mit den empirischen Desideraten ein trans- und interdisziplinärer Kooperationsbedarf mit der empirischen Bildungsforschung. Dass dies keinesfalls im Sinne eines einseitigen Wissens- und Kompetenztransfers erfolgen muss bzw. darf, belegt das Beispiel der ästhetischen Erfahrung in besonderer Weise. Kein geringerer als der Kognitionspsychologe Walter Kintsch, dessen Textverstehensmodelle für den Lesekompetenztest der PISA-Studie neben den Modellierungen Irwing Kirschs (1995, 1998; 2002) eine zentrale Rolle gespielt haben, hat nämlich konzediert: „Zur literarischen Produktion gehört ein kreativer Aspekt, zum literarischen Verstehen ein ästhetischer. Die kognitiven Verstehensmodelle haben derzeit weder zur Kreativität noch zur Ästhetik etwas beizutragen“ (Kintsch 1994: 44f.; vgl. dazu auch Krommer 2003). Was Kintsch hier für die Kognitionspsychologie konstatiert, gilt allgemeiner. Es gibt in der Psychologie zwar viel versprechende Ansätze zur empirischen Erforschung ästhetischer Prozesse im akustischen und vor allem im visuellen Bereich (vgl. Leder et al. 2004), die sich auch für die Untersuchung der ästhetischen Dimension von Lese- und Schreibprozessen als fruchtbar erweisen könnten. Literarästhetische Zusammenhänge wurden bislang al95

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lerdings nicht systematischer erhoben. Neben den prinzipiellen Schwierigkeiten einer empirischen Erfassung personaler emotionaler Verarbeitungsprozesse (vgl. Kintsch 1994: 49) kommt im Bereich der Literarästhetik die Polyvalenz bzw. Ambiguität des literarischen Kunstwerks hinzu, die ja bereits im Zusammenhang mit Eco (1962: 11) differenzierter herausgearbeitet wurde. Aufgrund dieser Mehrdeutigkeit des „ästhetischen Reizes“ (ebd.: 77ff.) ist es schwieriger als bei Sachtexten, distinkte Kategorien und Niveaustufen für einen gelingenden (bzw. misslingenden) Umgang mit literarästhetischen Texten zu bestimmen und empirisch zu erheben. Wie aber sind distinkte Aussagen über literarästhetische Wahrnehmungen und Erkenntnisse möglich? Diese Frage ist Ausgangspunkt eines Forschungsprojekts, das ich gemeinsam mit Christel Meier, Axel Krommer und Lydia Steinhauer auf deutschdidaktischer Seite in interdisziplinärer Kooperation mit der empirischen Bildungsforscherin Petra Stanat und dem Pädagogischen Psychologen Oliver Dickhäuser im Rahmen eines DFG-Forschungsprojekts im Schwerpunktprogramm „Kompetenzmodelle zur Erfassung individueller Lernergebnisse und zur Bilanzierung von Bildungsprozessen“ angehen werde (Frederking 2007). Dabei können wir aus methodischen Gründen den emotional-personalen Bereich zunächst nur streifen und werden uns folgerichtig auf die kognitiv-analytischen Bereiche ästhetischer Leseprozesse beschränken. Entwickelt und untersucht wird in diesem Sinne „literarästhetische Urteilskompetenz“. Drei Ebenen des literarästhetischen Urteilens werden dabei auf der Grundlage der semiotischen Ästhetik Ecos zunächst heuristisch unterschieden und theoretisch modelliert: 1. Semantisches literarästhetisches Urteilen; 2. Idiolektales literarästhetisches Urteilen; 3. Kontextuelles literarästhetisches Urteilen. Auf der Grundlage eines mehrstufigen Erhebungsverfahrens wird dieses Drei-EbenenModell in Anlehnung an die in PISA angewendeten Verfahren eine Cognitive Laboratory Prozedur durchlaufen und auf dieser Grundlage empirisch erhoben werden. Dennoch wird auch dieses Projekt nur ein bescheidener erster Anfang sein können in der unserer gesamten Disziplin gestellten Aufgabe, den Bereich literarästhetischer Bildung in einer Weise zu untersuchen, die wissenschaftlich verlässliche Aussagen ermöglicht und Entscheidungen in pädagogischen Praxisfeldern fundiert. Dabei darf sich empirische Forschung nicht auf die leichter 96

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zu erhebenden kognitiv-analytischen Urteilsprozesse beschränken. Denn um ästhetische Bildung in ihren zentralen Bereichen wirklich zu erfassen, ist es unerlässlich, geeignete theoretische und methodische Modellierungen zu entwickeln, die es ermöglichen, auch die emotional-personale Wahrnehmungsdimension zumindest in Ansätzen empirisch mit zu erheben. Dies wird die eigentliche Herausforderung zukünftiger empirischer Forschung im Bereich ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Bildung sein. Interdisziplinäre Kooperationen sind hierfür Bedingungen der Möglichkeit.

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Jürgen Funke-Wienecke

Die Kunst, sich zu bew egen Eine bildungs- und erziehungstheoretische Interpretation

Vorbemerkung Ich verwende im Folgenden sehr einfach gehaltene Begriffe. „Bildungstheoretisch“ soll heißen, Gedanken und Argumente einzubringen, die den Sinn des Sich Bewegens aus der Perspektive der Bildung bestimmen und erläutern. „Erziehungstheoretisch“ nenne ich alle Überlegungen dazu, welche erzieherischen Handlungen und Umgangsformen den erklärten Sinn tragen und vermitteln können. „Sich Bewegen“ besagt, dass ich von der menschlichen Bewegung als einer sinnvollen Handlung spreche, die eine bestimmte Person mit Absicht vollzieht. „Kunst“ drückt schließlich aus, dass dieses Sich Bewegen, trotz seiner alltäglichen Geläufigkeit und Unauffälligkeit, eine Meisterung, eine Eroberung darstellt und darüber hinaus auch noch als eigenes Thema zu unglaublicher Virtuosität entwickelt werden kann. Referenzen für diese Begriffsbestimmungen finden sich in der Theorie der Allgemeinen Pädagogik bei Benner (1991a: 19-89; 1991b: 107-164), für die Bewegungstheorie bei Tambour (1979) und Trebels (1992) und für die Kunsttheorie bei Lenk (1985: 114-122) und Zur Lippe (1987: 339-436).

1 . S i c h B ew e g en , e i n e K u n s t Eine anschauliche Vorstellung davon, dass es tatsächlich schwierig ist, sich zu bewegen und es um eine wirkliche Meisterschaft geht, wenn diese Schwierigkeit überwunden wird und Absicht und Vollzug sich kongruent zueinander entfalten, kann jeder bekommen, der versucht, etwas, das er mehr oder weniger gut kann – wie einen Stein in ein Ziel werfen oder zum Hüpfen auf der Oberfläche eines Wassers bringen, sich die Haare kämmen oder die Nägel schneiden oder einen Faden in ein Nadelöhr fädeln – mit der Hand zu tun, die nicht seine Vorzugshand ist. Dann wird er gewahr, wie wortwörtlich linkisch er sich bewegt. Die Hand er105

BILDUNG IN DEN KÜNSTEN

füllt kaum oder gar nicht, was sie soll. Das, was getan wird und wie es getan wird, fühlt sich schlecht an und die Sperre im Leib führt zu Wut oder Resignation. Selbst der feste Wille, es zustande zu bringen, führt nicht geraden Wegs und unmittelbar zum Ziel. Er hilft allenfalls, wenn er nicht im blockierenden Zieldrang mündet, sich auf den Weg des Übens zu begeben und trotz der Rückschläge, die den enthusiastisch begrüßten Fortschritten unangekündigt und unsteuerbar folgen, dabei zu bleiben. Auf diese Weise rückt wieder ins Bewusstsein, was im selbstverständlichen Können untergegangen ist: dass wir unser Bewegen im Altersund Entwicklungsgang nicht geschenkt bekommen, sondern es uns – mehr oder weniger mühsam – aneignen, ja erobern müssen und dass uns dieser Weg in die persönliche Bewegungskunst nicht ausschließlich und oft gar nicht wesentlich nur motorisch herausgefordert hat, sondern in Akten der Selbstordnung bestand, die uns bis in die Tiefe unseres Wesens hinein berührt und beschäftigt haben. Dieses durch seine Schwierigkeit sich als Kunst erweisende Sich Bewegen wird kulturell in Kanons gefasst, den Sport, die Artistik, den Tanz, das Spiel, das Handwerk. In jedem Kanon ist für sein Thema enthalten, was nach Erfahrung und Überlieferung, auch nach Geschmack der Zeit, das Menschenmögliche an seinen Grenzen beschreibt: Die „Bananenflanke“ des großartigen Fußballers, die auf fantastisch krummem Weg ihr Ziel findet; der dreifache Salto mit simultanen Schraubenbewegungen, den jemand vom Brett springt, können sportliche Beispiele dafür sein. Das gleichzeitige Werfen und Fangen von sieben Gegenständen ist eine vergleichbare Kunst aus der Artistik. Eine Choreographie von Jiri Kylian, Susanne Linke oder Sasha Waltz mögen als Exempel der hohen Tanzkunst gelten, das Formen einer dünnwandigen Vase aus einem Erdklumpen auf der selbst angetriebenen Drehscheibe für die Handwerkskunst stehen. Im Spiel kann ein Beispiel das lautlose Schleichen sein, das es einem Versteckspieler erlaubt, sich so dicht an das Freimal zu bewegen, dass er seinem Fänger mit raschem Schritt oder Sprung zuvorkommen kann. Im Weiteren werde ich vor allem den Kanon des Sports und des Bewegungsspiels im Auge haben. Die Kanons enthalten jedoch nicht nur die Vorbilder des virtuosen, die Grenzen berührenden Sich Bewegens, an denen der ungewisse, erst nur dumpf empfundene Drang nach Lebenserwei106

JÜRGEN FUNKE-W IENECKE: DIE KUNST, SICH ZU BEWEGEN

terung der Kinder und Jugendlichen sich in begreif- und verstehbaren Sehnsuchtsbildern vergegenwärtigen und Halt finden kann. Sie enthalten auch – und das macht dann den nächsten Kunstbegriff aus, der uns in der Rede von den „Regeln der Kunst“ noch geläufig ist – eine Ordnung der Kunststücke, die im jeweiligen Thema bekannt sind und für bedeutsam erachtet werden. Wiederum anschaulich kann man sich das an einem historischen Kanon, der „Deutschen Turnkunst“ von Jahn und Eiselen klar machen. „Im Sommer 1812 wurden zugleich mit dem Turnplatz die Turnübungen erweitert. Sie gestalteten sich von Turntag zu Turntag vielfacher und wurden unter freudigem Tummeln im jugendlichen Wettstreben auf geselligem Wege gemeinschaftlich ausgebildet. Es ist nicht mehr auszumitteln, wer dies und wer das zuerst entdeckt, erfunden, ersonnen, versucht, erprobt und vorgemacht hat. Alle und jegliche Erweiterung und Entwicklung galt als Gemeingut“ (Jahn/Eiselen 1961: V/VI).

Zur Dokumentation dieser Übungsfülle wird in der „Turnkunst“ eine Klassifikation gewählt, die schon GutsMuths eingeführt hatte und die jede Bewegung dem „Schema“ zuordnet, aus dem sie stammt („generische Ordnung“): Gehen, Laufen, Springen, Schweben, Werfen, Klettern, Ziehen, Heben, Tragen, Ringen. Dem wird von Jahn und Eiselen eine Ordnung nach Turngeräten beigesellt, die die reine generische Gliederung durchbricht: Übungen am Barren, am „Schwingel“ (dem Turnpferd), am Reck. Extra aufgeführt werden weiterhin die Turnspiele. In jeder einzelnen Klasse besteht dann das Prinzip, eine Reihenfolge aufsteigender Schwierigkeit herzustellen, die bereits den Vermittlungs- und Aneignungsgang berücksichtigt: „Vorübungen“ werden von „Grund-“ und „Hauptübungen“ gefolgt. Diese werden „hoffentlich so umständlich und deutlich beschrieben, dass sie auch einem gar nicht mit der Sache Bekannten dieselbe klar machen können. Die spätern und schwerern Übungen, so man erst bei größerer Fertigkeit erlernen kann, sind kürzer auseinander gesetzt, so wie die kleinen Abänderungen nur angedeutet – weil sie für den Anfang entbehrlich sind. Wer die ersten Übungen fertig kann und genau kennt, wird auch diese Beschreibung verstehen“ (Jahn/Eiselen 1961: XIII).

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Mit diesem ordnenden Werk wird die Kunst zugleich didaktisch. Im Kanon ist aufgezeigt, wie die Kunst schrittweise erworben werden kann. Es hat insbesondere die zeitgenössische Sportpädagogik stark beschäftigt (Dietrich/Landau 1990; Trebels 1985; Frankfurter Arbeitsgruppe 1994; Fritsch 1988 für die Tanzpädagogik; Beiträge von Grupe und Krüger in Nationales Olympisches Komitee 2004; Söll 2000; Naul 2007) inwieweit die aktuellen Kanons überhaupt zur Erleuchtung des absichtsdunklen Bewegungsbildungsdranges der Kinder und Jugendlichen taugen und in der Folge damit ihre Bewegungskunst motivieren und fördern können. Während die einen, affirmativ, dem Programm einer „Olympischen Erziehung“ oder traditionellen Schulsportarten das Wort redeten, sahen die anderen die freie Entwicklung durch den Sportkanon geradezu behindert, weil er das gute, noch unverdorbene, entwicklungsoffene Potential des Menschen in feste Bahnen zwingt – Bahnen, die es auch ideologisch fesseln in dem Befangensein des Sports in Konkurrenzdenken, Überbietungsdrang, Kommerzialisierung und der Instrumentalisierung des Leibes zum maschinenhaften Körper. In den Entgegensetzungen von Bewegungstechnik und eigener Problemlösung, von Nachahmung der Form und Nachahmung der Absicht, von offenem und geschlossenem Unterricht, von affirmativem und kritischem Regellernen, von „Leistungssport“ und „Ökologie des Leibes“ (Moegling 1991) oder „Weiblichkeitszwang“ und Freiheit der eigenen Identitätsbildung (Kugelmann 1996) kam diese Reflexion zum Ausdruck. Sie war, nicht zuletzt wegen ihrer besonderen Nähe zu gesellschaftskritischen Analysen, von einem gewissen Rousseauismus geprägt, von dem ich mich selbst nicht ausnehmen möchte: Unterschieden wurde dem Prinzip nach, wenn auch nicht wörtlich, die Bildung des Bewegungs„menschen“ von der Ausbildung des Sport„bürgers“ (vgl. zur Rousseauinterpretation Hentig 2003) und ein klares Urteil galt der Verwerflichkeit der zuletzt genannten Absicht, in der die Erzeugung einer leiblich vermittelten, mechanischen Solidarität mit den herrschenden Umständen vermutet wurde. Ganz und gar falsch war diese Vermutung sicher nicht. Sie verkannte aber in ihrem notwendigen Widersprechen gegen eine allzu affirmative Sportpädagogik, die sich aufs hartleibige Leugnen jeglicher Problematik einer Sporterziehung verlegte, dass der Kanon nicht nur Anpassungsdruck ausübt, sondern auch 108

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im Vorgang seiner kunstgerechten Aneignung selbst Reibungsflächen und Ansatzpunkte für Überschreitungen bietet. Wenn gefordert wurde, auf keinen Fall bereits bekannte Praktiken des Sports auf vorgeordneten Wegen, die sich der Erfahrung und ihrer gedanklichen Ordnung verdanken, nachzuvollziehen, sondern authentisches Sich Bewegen aus sich selbst heraus in freiem Umgang mit Material und persönlicher Bewegungsphantasie zu schöpfen (Frankfurter Arbeitsgruppe 1994), dann schwingt das Pendel hin zu einer Art romantischem Kunstbegriff, der den Menschen abhebt von seinen Bezügen und ihn als Genie ohne Vorbild und Beispiel hypostasiert. Ich möchte daher, zusammengefasst, keinen Gegensatz konstruieren, sondern das Sich Bewegen als Kunst in der Spanne bestimmen, die sich durch all drei Verständnisse ergibt: die Schwierigkeit einer Bewegungsweise, die jemand übend überwindet, das kollektive, kulturelle Bewegungsgedächtnis der Kanons, das zu seinem Nachvollzug auffordert, und eine, von der Imitation der bekannten Absichten und Praktiken zwar ausgehende, aber sie auch überschreitende, Bewegungserfindung.

2 . D e r B i l d u n g s s i n n d e r B ew e g u n g s k u n s t Mit dem Hinweis darauf, dass die unvoreingenommene Selbsterfahrung bereits intensiv darüber belehrt, dass Sich Bewegen Lernen nicht bloß einen, irgendwie abgegrenzten Bezirk des Menschlichen berührt, also nicht rein „körperlich“ oder „motorisch“ ist, habe ich den wesentlichen Gedanken für die Bildungsbedeutung schon angezeigt. Dem notorischen Skeptiker, der in der Meisterung eines zielsicheren, verlässlich wiederholbaren Werfens eines Basketballs auf den Korb nur unnütze Verschwendung von Lebenszeit und Energie erkennen will, die besser verausgabt wären für eine stillsitzend angeeignete und für Pisa qualifizierende Parabelberechnung, die den Ballweg virtuell mathematisch-physikalisch modelliert, sei damit entgegengehalten, dass er – in der Entgegensetzung von Körper und Geist befangen – den Wandel der Person in allen ihren Bezügen und Sphären unterschätzt, der mit der Kultivierung des Werfens in Gang gesetzt und voran gebracht wird. Dieser Wandel kann als der erzieherische Sinn gelten, um den es geht.

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Das ästhesiologische Bildungsdenken, das einen bedeutenderen Einfluss auf die Allgemeine Pädagogik zu nehmen scheint (Meyer Drawe 1984; Mollenhauer u.a. 1996; Müller 1997; Rumpf 1986, 1987), kann für diesen Wandel als eine erste Referenz in Anspruch genommen werden. Müller schreibt: „Erziehungs- und Bildungsprozesse werden zumeist als etwas thematisiert, das sich in der Sphäre der seelisch-geistigen Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt ereignet. Dabei wird häufig unbeachtet gelassen, dass an diesen Vorgängen immer auch in irgendeiner Form die Leibdimension der menschlichen Existenz beteiligt ist. Erziehung und Bildung beruht – im weitesten Sinne – auf Erfahrung; und an der Konstitution von Erfahrungen sind wir immer auch mit den Empfindungen unserer Sinne, den Wahrnehmungen unseres Bewusstseins und der Haltung oder den Bewegungen unseres Körperleibs beteiligt. Verschiedene Denk- und Forschungstraditionen, wie etwa die philosophische Anthropologie, die Leibphänomenologie, die psychologische Gestalttheorie, die kulturhistorisch-soziologischen Studien von Elias, Foucault und Bourdieu oder auch unterschiedliche Symbol- und Kunsttheorien verweisen darauf, dass diese Leibkomponente unseres Daseins nicht etwas ist, das lediglich als ,Rohmaterial‘ unserem strukturierenden Verstand dient, sondern dass es selbst schon strukturierend auf die Erfahrungssachverhalte in unserem Bewusstsein einwirkt“ (Müller 2007).

Abgesehen von dem verwirrenden Begriff des „Körperleibs“, in dem sich wohl etwas davon ausdrücken soll, was ich im Folgenden mit den verschiedenen „Welten“ erklären möchte, in denen der Mensch als ein homo mundanus nach Einsicht der Philosophischen Anthropologie lebt, ist hervorzuheben, dass es zunächst nur („in irgendeiner Form“) um eine allgemeine Bestätigung des Grundsatzes der Verschränkung von Leib, Gefühl, Gespür, Bewegung, Wille, Sozialität und Verstand geht. Das bestätigt auch die historisch-systematische Studie Müllers zur Ästhesiologie der Bildung (Müller 1997). Insofern kann gesagt werden, dass es für die Mathematisierung des Wurfes zur Parabel nicht belanglos ist, ob derjenige, der diese Abstraktion lernen und begreifen soll, diesen Wurf im Zusammenspiel von Spüren und Bewirken je zustande gebracht hat und bringt. Gleichzeitig verbietet sich jedoch der Kurzschluss, wer nicht werfen könne, sei schwerlich in der Lage, Mathematik zu verstehen, oder bessere Werfer wären auch die potentiell besseren Mathematiker. Gerade wenn man – der Daseins110

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erfahrung angemessen – anerkennt, dass die bildungsbedeutsame Verschränkung von Leib und Verstand, Gefühl und Vernunft in gewissem Maße undurchsichtig ist und bleibt und trotzdem nicht geleugnet oder gering geschätzt werden sollte, kommt man der Sache näher. Diese Verschränkung lässt sich eben nicht nach den bequemen Begriffen von Ursache und Wirkung auseinandersortieren. Nicht alles, was diesen Denkstrukturen nicht genügt, ist deshalb eine Einbildung. Aber auch der Rekurs auf eine diffuse Kategorie der „Ganzheitlichkeit“, die im Gegenschlag zum Dualismus in der Sportpädagogik häufiger ins Feld geführt wird (zur kritischen Einschätzung vgl. Moegling 2001; Bockrath 2005), kann ebenso wenig befriedigen. Um den Sinn des Sich Bewegens in der Erziehung nicht nur so allgemein zu bestimmen, sondern ihn konkreter als einen Wandel der Person darzulegen, bediene ich mich der Methode der Interpretation von Erfahrungsskizzen. Referenzpunkt dieser Interpretation ist eine Auffassung von Ganzheit, die dem Problem der bloßen Beschwörung von „Ganzheitlichkeit“ entgeht. Ich folge Meinberg, der schreibt: „Die Philosophische Anthropologie […] zerlegt […] die Menschenwelt in eine Pluralität von Sonderwelten“ und kommt „dadurch zu einer überaus originellen Idee vom ‚ganzen Menschen‘. […] Denn man kann argumentieren: Der Homo mundanus [der in die Welt eingelassene Mensch] ist Sinnbild des ‚ganzen Menschen‘, weil er das Ganze der Sonderwelten repräsentiert“ (Meinberg 1988: 274).

Außenwelt, Kulturwelt, Mitwelt und Innenwelt beschreiben diese Sonderwelten im Einzelnen. In der Ausbildung von Bewegungskunst zeigt sich dies so: Ein kleines Kind lernt laufen. Es richtet sich mit Halt an einem Gegenstand auf, steht, löst den Halt und bewegt sich in den freien Raum. Die Schritte sind noch staksig, das Kind schwankt, fällt bald nach hinten auf den Po. Es krabbelt wieder zu einem Halt, richtet sich auf, usw. Aus vielem Aufrichten, Hinfallen, Vorwärtsgehen wird allmählich ein sicherer Gang. Das weitgreifende Pendeln wird geringer bis unmerklich, die Schritte elastischer, das Aufstehen geschieht zügig ohne weiteren Halt. Das Ganze zieht sich über Tage, ja Wochen hin, immer werden Phasen des intensiveren Übens unterbrochen von anderen Tätigkeiten, Ruhe, ja

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sogar zuweilen einem Vergessen oder einer Interesselosigkeit – so will es jedenfalls scheinen.

Kommen wir mit jenem am „homo mundanus“ orientierten Blick, dann können wir bemerken (und natürlich vor allem interpretierend vermuten): Es drängt das Kind innerlich dazu, zu laufen, es will das tun, es zeigt dabei sein Temperament und seine seelische Gestimmtheit und entwickelt beide auch: Mut, Ungeduld, Geduld, Freude, Stolz, Niedergeschlagenheit. Seine Mitwelt, Eltern, Geschwister, Verwandte, freuen sich über sein Tun als ein Zeichen seiner natürlichen, gesunden Entwicklung, hüllen es ein in eine Atmosphäre des Lockens, Ermutigens, Beifallgebens oder auch des ängstlichen Besorgtseins. Sie spiegeln unwillkürlich das schwankende Gehen, indem sie selbst ansatzweise schwanken, spontan die Hände strecken, um das hingefallene Kind aufzuheben, oder sich, für das feine Gespür des Kindes, seine tonische Empfindlichkeit bemerkbar, innerlich mitzubewegen. Die Kulturwelt formt das Geschehen durch die Art der Lernhilfen (Gitterstäbe des Laufstalls, Schrankwände, allerlei Sitzfahrzeuge), sie ist maßgeblich für den Erwartungshorizont, wann es soweit sein sollte, sie sorgt für die Orientierung über die „richtige“ Kleidung, die „richtige Art“ des Helfens oder Lassens. In ihr ist der ärztliche Rat verankert, den sich die Eltern versichernd holen, zur Knochenstärke, zum Gewicht, zur Ernährung. Und schließlich begegnet das laufende Kind einer ganz anderen Außenwelt – mit neuen Flächen, die Halt geben oder rutschig sind, einer Draufsicht auf die Dinge, die es bisher nur liegend, sitzend oder krabbelnd kannte. Es stößt sich an Kanten, die es so bisher nicht gab, spürt das ungeheure Gewicht der Schwerkraft, wenn es sich langsam aufrichtet. Alles, was es tut, wirkt in seinen Organen und seinem Nervensystem, verändert Körperbau, Muskulatur, Strukturen des Gehirns. Kurz: In allen Sphären wandelt, verwandelt sich das Kind durch sein Laufen Lernen, wird nicht nur ein laufendes, sondern ein anderes, neues Kind, dem nun neue Absichten, Gewohnheiten, Willensäußerungen, Beziehungen zu anderen, innere Stimmungen, kulturelle Erfahrungen und organische Strukturen zukommen und zur Verfügung stehen. Und es sieht so aus, als ob sich dies nicht in einer logischen Reihe ergäbe: Erst wird laufen gelernt und dann verändert sich alles, sondern als ob beides miteinander stän-

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dig und untrennbar einhergeht, als ob der Wandel das Lernen und das Lernen der Wandel sei. Prüfen wir das Gesagte am Sich Bewegen Lernen im Sport, wie es sich bei einem Erwachsenen, einer gestandenen und – wie man annimmt – gefestigten Persönlichkeit darstellt. Es geht um das Golfspielen, zu dem sich ein etwa fünfzigjähriger Mann entschließt. Er steht mit seinem Schläger über einem Ball am Rande eines Übungsfeldes und soll ihn „abschlagen“, d.h. möglichst weit weg schlagen und so, dass er den Weg in einem schönen Bogen durch die Luft nimmt und nicht am Boden rollt. Der Mann schlägt, die Fehlschläge überwiegen seine Treffer, die unzureichenden Treffer überwiegen seine gelungenen. Immer wieder stellt er sich ein, prüft Stellung zum Ball, Griffart und Griffhöhe am Schlägerschaft, Schwungrichtung des Schlägerkopfes. Er nimmt sich vor, ganz genau hinzusehen, wie der Schlägerkopf auf den Ball trifft, ruhig stehen zu bleiben, parallel zu schwingen und nicht zu verziehen. Er zählt sich die Ratschläge auf, die er bereits bekommen hat. Viele hundert Bälle später gelingt ihm dann, nach manchen Auf und Abs, was ihm zunächst unmöglich schien: Den Ball immer zu treffen und fliegen zu lassen. Er kann nun sicher abschlagen und steckt sich neue Ziele: Immer mindestens 100 m weit oder weiter schlagen. Die Aufmerksamkeit hat gewechselt: Er konzentriert sich mehr darauf, den Ball in einer bestimmten Weise zu treffen, statt überhaupt, beachtet den Wind und sucht ihn zu nutzen, vergewissert sich nicht ständig über Stellung und Lage seines Körpers, sondern sucht nach einem gewissen Gesamtgefühl und einem für ihn stimmigen Rhythmus aus leichten und schweren, festen und lockeren Bewegungsmomenten. In Analogie zu einem Klavierspieler könnte man sagen, er achtet nicht mehr so sehr darauf, wie er schlägt, sondern welche Melodie er spielt und wie sie klingen soll. Zu all dem geht ihm oft die Zunge über, es drängt ihn, anderen von seinen Erlebnissen, seinen kleinen Heldentaten, aber auch den Niederlagen zu erzählen. Ein gewisser Missionsgeist überkommt ihn und er möchte anderen diesen Sport auch nahe bringen, sie einladen, sein Erleben zu teilen.

Wir können nun daran sehen oder vermuten, wie sich seine Innenwelt dehnt und zusammenzieht, wie die Freude über ein Gelingen ihn weitet und das Misslingen ihn einschnürt, wie jeder Schlag mit seinen spontanen Gefühlen und Wertungen verbunden ist, wie es an ihm zerrt, wie er um Fassung, Ruhe, Gelassenheit

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ringt und sich selbst in die Schule der Selbstbeherrschung nimmt, wie ihn die Sehnsucht nach dem Wiedererleben des schon Gelungenen beflügelt und weiter treibt. Es ist seine Sache, um die es geht und sein Tun, das er ganz aus freien Stücken um seiner selbst willen betreibt und übend voran bringt. Wir bemerken, wie seine Mitwelt diese Tätigkeit wahrnimmt, kommentiert, unterstützt oder auch – wegen der zunehmenden Besetzung, die ihm widerfährt – ernste Zweifel am Sinn der Sache und der Veränderung seiner Lebensführung, etwa einer Vernachlässigung seiner Partnerschaft, äußert. Und wir können bemerken, wie er sein Tun in dieser Mitwelt vertritt, für es wirbt (oder es auch ganz schlicht vor ihr verbirgt). Es ist klar, dass er sich mit seinem Sport im gesellschaftlich-kulturellen Milieu bewegt – in Sitte, Regel, Kleidung des Golfclubs – in einem Rahmen also, dessen Einzelheiten, geschriebene und ungeschriebene Gesetze er sich erst zu eigen machen, deren Einhaltung er immer wieder bei sich selbst prüfen muss. Er ist insoweit nicht frei, nur so zu sein, wie er ist, sondern übt Selbstkontrolle aus, indem er sich im Spiegel der Anderen und ihrer Erwartungen betrachtet und sich seiner Unauffälligkeit in dieser Hinsicht versichert. Sein Abschlagen ist nicht nur geprägt von seinem Bewegungsgefühl und seinen Absichten, sondern er ist angefüllt mit dem Bild anderer, besserer Golfer und den Ratschlägen und Anweisungen seines „Pro“, zu dem er pflichtgemäß in die Schule geht. Schließlich gehören auch hier die dinglichen Gegebenheiten zu seinem Tun – die muskulären Anpassungen, die Veränderung seiner Wahrnehmung, die physiologischen Begleitumstände konzentrierten Übens. Es ist also sicher nicht überzogen zu sagen, dass auch hier, im Ganzen gesehen, eine Verwandlung stattfindet, aus einem Erwachsenen bestimmter Art wird ein Golfspieler, der, anders als vorher, im Rahmen einer kulturellen Etikette Bälle trifft, sich selbst regiert, seinen Körper verändert und ein anderes, mehr auf Golf zentriertes Leben führt. Damit kann das Sich Bewegen Lernen, zumindest am Beispiel, gleich ob noch im weitgehend vorsprachlichen Bereich bei der Eroberung einer spezifisch menschlichen Basisfähigkeit oder im sprach- und bilddurchwirkten, mit Konzepten und Lehre voll ausgebauten Bereich des Erwerbs einer wählbaren, aber nicht verbindlichen Kulturtechnik jeweils grundlegend als ein Sich-Ändern in allen Sphären des Menschlichen beschrieben werden. Wer lernt, positioniert sich neu und anders zu sich selbst, zu den anderen 114

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und in der Kultur und er unterliegt den dieser Positionierung entsprechenden körperlichen Veränderungen, bzw. führt sie ausdrücklich herbei. Methodisch gleichartig angelegte Untersuchungen aus dem Schulsport und dem Sportunterricht können diese Meinung weiter stützen und dessen bildungsbedeutsame Funktion belegen (Funke-Wieneke 1997). Aber auch anders ermittelte Erkenntnisse können im Lichte dieser Auffassung interpretiert werden. Wenn Prohl/Möser 1996 feststellen, dass sich das Schulklima in Schulen, die dem Sport besonderes Gewicht einräumen, deutlich positiv von dem anderer Schulen unterscheidet, die weniger Zeit und Personal in diesen Bereich investieren oder ihn sogar ganz vernachlässigen, dann scheint etwas vom Wandel in der Sphäre der Mitwelt auf, die im Sich Bewegen im erläuterten Sinne als Möglichkeit angelegt ist.

3 . W i e d e r S i n n d e r B ew e g u n g s k u n s t vermittelbar wird Wie schon gesagt, sind die Kanons, die dem Kunststreben Halt und Absicht geben, selbst „didaktisch“. Sie enthalten nicht nur, was man machen kann, sondern auch eine zeitgemäße Vorstellung davon, welche Lehrkunst der Sache angemessen ist. In ein dicht geknüpftes Netz von Qualifizierungsmaßnahmen und Zertifizierungen eingebunden, werden so zum Beispiel die Übungsleiter und Trainer mit den Standards der sportgerechten Vermittlung vertraut gemacht. In dieses Netzwerk fließen die Expertisen der Hochschulen ein, die ihrerseits wiederum für die Lehrerbildung zuständig sind, sodass auch hier enge Beziehungen bestehen, die sich auch noch dadurch verstärken, dass nicht wenige Studierende der Lehrämter im Fach Sport zuvor eine Sportvereinskarriere gemacht haben und als Übungsleiter ausgebildet und tätig sind. Gleichwohl können die auf diese Weise generierten und tradierten Regeln der Kunst, den Sport richtig zu lehren, gleichgültig ob innerhalb oder außerhalb der Schule, nicht als in sich völlig homogen und widerspruchsfrei gelten. Zwar kann man, einer Unterscheidung Müllers (1997: 13) folgend, von einer gewissen Dominanz „mechanistischer“ Konzepte sprechen, die dem naturwissenschaftlichen Zug der Trainingswissenschaft und der Motorikforschung geschuldet sind. Aber auch „organologische“ Konzepte

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sind bekannt und in Gebrauch, vor allem dort, wo im Primarbereich der Einfluss der „Motologie“ oder „Psychomotorik“ groß ist (Zimmer 2007) oder – für die älteren Schülerinnen und Schüler – dort, wo die Zeitschrift „Sportpädagogik“ mit ihren ausführlichen Unterrichtsmodellen oder andere auf ihren Spuren wandelende Publikationen intensiver rezipiert werden. Widerstreit in didaktischen Fragen wird nicht selten so wahrgenommen, dass er beseitigt werden müsse und in der einen oder anderen Richtung aufzulösen sei. Dem möchte ich nicht folgen. Angesichts der Tatsache, dass die Beziehung von Lehren und Lernen im denkbequemen Schema von Ursache und Wirkung eher missverstanden wird und ein angemesseneres Verständnis darin besteht, es als ein Gefüge von wechselseitigen Erwartungen, Aufforderungen, Stellungnahmen und Abstandnahmen und also als eine vielfältig gebrochene, interpretierte menschliche Begegnung zu betrachten, heißt der beherzigenswerte Grundsatz: Alles lehrt – unter der Voraussetzung, dass jemand sich belehren lassen möchte – mechanistisch Konzipiertes ebenso, wie Organologisches. Der prinzipiell bedeutsamste Unterschied besteht nicht zwischen den einzelnen Lehr- und Vermittlungsweisen (diese Unterschiede gibt es und sie haben auch eine Bedeutung), er besteht im Engagement der Personen, die lehren, zwischen solchen, die konsequent und stetig eine Förderung verfolgen, und denen, die das nicht oder nur unstet tun (vgl. dazu und zum Folgenden Funke-Wieneke 2007: 138-161). Deshalb möchte ich hier lieber einen Blick auf das durch die verschiedenen Methoden anzuregende und zu unterstützende Lernen selbst werfen. Wie dem Phänomen des Lernens dann erziehungstheoretisch gerecht zu werden ist, mag von da aus zwar keiner prinzipiellen, aber doch einer begründeten persönlichen Entscheidung besser zugänglich werden. Nachahmen Um vom Nichtkönnen zum Können zu gelangen, vom Krabbeln zum Gehen, vom Rasen zerstörenden Fehl- zum glatten, freien Abschlagen des Golfballes, tun die, die das lernen wollen, das Naheliegende: Sie ahmen die nach, die es können. Selbst dort, wo didaktische Arrangements, ganz anderes wollen und veranstalten: ein „programmiertes“, ein „instruktionsgeleitetes“, ein „entde-

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ckendes“ oder „problemlösendes“ Lernen zum Beispiel, geschieht es trotzdem. Es geschieht, weil das Nachahmen dem leiblichen Charakter des Sich Bewegens durchaus angemessen ist, weil es jenes Lernen ist, das wir sehr früh erlernen und beherrschen und es damit zu den elementaren Vorgängen des Lernens zählt und weil es einen sehr kurzen, ohne weitere sprachliche Erklärungen auskommenden Weg ins Können darstellt. Es geschieht auch deshalb, weil die Lernenden in der Regel nie allein sind, sondern sich in Situationen mit anderen Menschen befinden, die sich um sie herum gekonnt bewegen, auf Skipisten, Fußballfeldern, Tennis- und Golfplätzen, in Turn- und Sporthallen und zumeist auch noch andere da sind, die ebenfalls lernen und es so interessant ist, zu sehen, wie sie es machen und sich mit ihnen zu vergleichen. Dabei sehe ich noch ganz ab von den vielen Möglichkeiten, das begehrte Können in Filmen und auf Bildern zu betrachten, die unsere Medien so schmackhaft anbieten. Kurz: Ich möchte von der Unausweichlichkeit und Allgegenwart des Nachahmens sprechen und damit sagen, dass seine Bedeutung kaum zu überschätzen ist. Für die nachfolgenden Charakterisierungen folge ich im wesentlichen Rumpf. Wer nachahmt, so sagt er, öffnet sich aus eigenem Interesse für ein Sich Bewegen eines anderen Menschen, er „schmiegt sich ihm ein“, überlässt „seine eigenen Regungen und Tätigkeiten der Regie des Nachgeahmten“, gibt seine „Selbststeuerung preis“ (Rumpf 1987: 67). „Die strikte Grenzziehung zwischen Subjekt und Objekt löst sich gewissermaßen auf: Man lässt sich vom Anderen ergreifen, beeindrucken und drückt dies im eigenen Bewegen und Sich-Halten aus“, schreiben Becker und Fritsch (1998: 94) und weisen damit auf das gleiche Phänomen hin (vgl. auch das Prinzip von „Eindruck und Antwort“ bei Tholey 1987: 104). Ich erinnere mich gut daran, als Fünfjähriger einige Male an einem Tennisplatz vorbeigekommen zu sein und zugeschaut zu haben. Eine prägnante Bewegung erregte dabei meine besondere Aufmerksamkeit und Bewunderung: Die Spieler hoben die verspielten Bälle wieder auf, indem sie sie zwischen Fuß und zum Boden zeigendem Schlägerkopf kurz einklemmten und dann rasch mit dem gleichzeitigen Heben von Bein und Schläger in die Luft beförderten. Freigegeben sprang der Ball einmal auf und konnte dann mit dem Schlägerkopf leicht aufgefischt werden. Jedes Mal, wenn ich zuschaute, wartete ich sehnsüchtig darauf,

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dass diese Szene sich wiederholte. Nach Auskunft meiner Eltern zuckte ich mit Fuß und Arm dabei, als wollte ich die Tennisspieler dazu bringen, es zu tun. Die Geste blieb mir – obwohl ich sie nie vollständig ausgeführt hatte. Und so ziemlich das Erste, was ich tat, war – als 13Jähriger Balljunge in dem Besitz eines Schlägers und zum Privileg des Betretens eines Tennisplatzes gekommen – endlich dieses Ballaufheben zu praktizieren, das schon so lange von mir Besitz ergriffen hatte.

Das Lernen in dieser Form ist eher als ein Vergegenwärtigen und Zum-Ausdruck-Bringen als ein Begreifen zu betrachten. Bildhafter Eindruck wird umgewandelt in bildhaften Ausdruck. Die nachgeahmte Bewegung „beschreibt“, was am Vorbild vorging und Interesse erzeugte. Diese Umwandlung kann verstanden werden als eine „Mimesis von innen nach außen“. Der Begriff der Mimesis soll ausdrücken, dass es sich beim Nachahmen nicht nur um einen rezeptiven, empfangenden Vorgang handelt, sondern auch um einen aktiven Vorgang, einen hervorbringenden, kreativen Akt, in dem nicht abgebildet sondern neugebildet wird, was Ähnlichkeit besitzt. In diesem Sinne lässt sich nun sagen, dass das innere Bild, „weil es nicht als totes Ding, sondern als Energiezentrum zu verstehen ist – seinerseits aktiv werden und Nachahmungen hervorrufen“ kann, „die sich jetzt ihm, dem inneren Bild, akkomodieren“ (Rumpf 1987: 73). Mit anderen Worten: Das innere Bild wird – nachahmend – äußerlich wieder erschaffen, vielleicht unzulänglich zunächst, nicht so treffend und prägnant, wie man das möchte, aber dann im Verlauf der weiteren Versuche doch klarer, richtiger, ähnlicher. Auch dazu ein anschauliches Beispiel: Zwei Knaben, 7 und 9 Jahre alt, schon einige Zeit vertraut mit dem Skifahren, entdecken, dass das Snowboardfahren sehr viel „jugendgemäßer“ – neudeutsch „cooler“ – zu sein scheint. Sie schauen den Snowboardern hinterher, die sie treffen, imitieren schon auf Skiern das Springen von kleinen Buckeln und Schanzen. Betrachten jedes abgestellte Board an jeder Hütte genau, bewundern ihre Besitzer, wie sie lässig wieder einsteigen, mit einem gelösten Fuß den Weg zum Lift oder über eine kurze Ebene „rollern“ oder sich in den Schnee fallen lassen, um die Bindung zu öffnen. Nun geben die Eltern ihrem Drängen nach und erlauben ihnen, für einen Vormittag ein Board samt Schuhen zu leihen. Im Nu verwandeln sich die beiden in Gang und Haltung – „zwei coole Typen“, die so gehen, wie Snowboarder, sich das Board unter den Arm klemmen, wie Snowboarder und in allen Gesten zeigen, dass sie sich

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ähnlich gemacht haben und dazugehören. Sie sind sich auch gewiss, dass sie fahren können und den vorsichtigen Anregungen der Eltern, es zunächst im flachen Gelände zu versuchen, folgen sie zwar – aber mehr notgedrungen als wirklich überzeugt. Dass es dann doch schwierig ist, sie stürzen, und einiges mehr erleiden müssen, als sie beeinflussen können, stört sie wenig: Die innere Haltung dringt mehr und mehr nach außen und entledigt sich ihrer Fesseln und das Können, das schon da ist im Energie spendenden inneren Bild, bricht sich seine Bahn. Es ist wie ein Nebel, den sie – wenn auch nicht mühelos – wegwischen, weil sie das Bild schon kennen, das sich zeigen soll.

Nachahmungen sind nie „subjektneutral“, sondern stellen, auch wenn sie einen allgemeinen Zug imitieren, das Hineinschlagen des Golfballes in das Loch, das diagonale Treiben des Balles über den Tennisplatz, die distinktiven Gesten des Snowboarders usw., in jedem Fall auch persönlich einzigartige Ausdrücke und Leistungen dar. „Dieses interionisierte Bild, in dem gewissermaßen die Nachahmungsbewegungen wie in einer gespannten Feder aufbehalten sind, enthält individuelleres Material als die viel stärker von der allgemeinen Gesellschaft gezeichnete und daher entindividuierte Sprache“ (Rumpf 1987: 73). „Das geistige Bild bleibt individuell“, sagt Piaget, auf den sich Rumpf maßgeblich stützt, „weil es dem Individuum allein eigen ist und nur dazu dient seine persönlichen Erfahrungen wiederzugeben [...]“ (Piaget 1969: 96). Die vergleichbare Einsicht vertreten Gebauer und Wulf (1998: 35), wenn sie auf das Aktive der Nachahmung hinweisen und hinzufügen, dass die „Ergebnisse singuläre subjektive Aspekte enthalten.“ Suchen So schwer es ist, das Nachahmen in seiner Bedeutung für die Bildung der Bewegungskunst zu unterschätzen, es kommt in der Bildungsbewegung noch etwas Entscheidendes hinzu: Wenn Kleinstkinder das Nachahmen lernen, dann ahmen sie nach Piagets Beobachtungen zunächst nur solche Bewegungen nach, die sie bereits können – sie passen sich mit dem, was sie können, einem Vorbild an. Und als vorbildlich fällt ihnen nur das auf, was in ihrem Vermögen schon grundlegend vorhanden ist (Piaget 1969: 45). Auch künftig wird ein inniger Zusammenhang zwischen der möglichen „Ausbeutung“ des Vorbildes und dem bereits entwi119

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ckelten Können bestehen bleiben. Wenn ich mehr kann, „lese“ ich das Vorbild anders als vorher, entdecke Merkmale, die mir bisher bedeutungslos erschienen oder gar nicht erst aufgefallen sind. Im Zuge dieses – nennen wir es jetzt – Suchens nach hilfreichen Eindrücken vermischen wir auch Vorbilder zu einem persönlichen inneren Bild. Ich habe selbst erlebt, wie wichtig und bedeutsam mir das Vorbild ganz verschiedener eleganter Parallelschwinger auf meinem Weg zum Skifahren-Können gewesen ist. Ich war wie vernarrt in die Schönheit der Form, mit der diese österreichischen Skilehrer über die Piste schwebten, und ich bemühte mich um nichts so sehr als darum, dass ich genauso aussähe, bzw. es bei mir genauso aussähe. Ich war also sozusagen hemmungslos auf die Nachahmung der Form aus und verfolgte sie, wo immer sie sich zeigte: Bei vorbeifahrenden Skilehrern, anderen Könnern, die ihnen gleichkamen, auf den Reihenfotos der Skibücher und in irgendwelchen Skifilmen. Aber immer entdeckte ich an ihnen etwas anderes: Zuerst, noch im Pflugstadium herumkrebsend, wurde mir klar, dass es ein fortlaufendes Hoch- und Tiefgehen war, das das richtige Fahren auszeichnete. (Eine Bewegung, die mir aus der turnerischen Gymnastik wohl vertraut war.) Parallel-offen fahrend, bemerkte ich, dass sie den Stock zu Hilfe nahmen und ihn in einer ganz bestimmten Art und Weise einsetzten. Schließlich – schon manchmal im Kombinieren des energischen Hoch-Tief mit Stockunterstützung eng fahrend – entdeckte ich, dass diese Teufel einfach ihre Ski leicht im Bogen über den Schnee rutschen ließen, etwa so, wie man mit einem Messer die Butter aufs Brot streicht, um sie dann plötzlich, allerdings fast unmerklich, energisch einzukippen und einen Schnitt durch die Butter ins Brot legen, woraus sie einen Stoß erhielten, der es ihnen erlaubte, sich abzudrücken und ein neues Buttermesser-Gleiten einzuleiten. Ich weiß noch genau, dass ich – 20 Jahre alt – dies in Bayrisch-Gmain an einem Tag nach Weihnachten an einem eleganten Skifahrer sah, der an einem steileren Hang über mir auf mich zuschwang – keine lange Präsentation, prägnant für mich nur in drei oder vier Hin- und Her-Bewegungen, aber unvergesslich und meinen Wandel zum sicheren parallelen und engen Wedelkünstler ausschlaggebend fördernd. Heute ist diese Fahrweise der Lächerlichkeit verfallen, alle fahren anders – ich auch. Aber darum geht es hier nicht – sondern um das mimetische Prinzip, dass die Vorbilder ihr „Gesicht“ ändern, wenn das Können wächst und auch darum, dass die Vorbilder sich mischen, manchmal tritt eines hervor, um dann wieder einzugehen in die andern.

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Allein aus dem Nachahmen gewinnen wir also kein vollständiges Bild über das, was Menschen tun, wenn sie vom Nichtkönnen zum Können gelangen wollen. Der Lernende weiß aus dem Vorbild des Andern, dass es geht, er hat vielleicht ein inneres Bild oder eine innere Haltung entwickelt, worin schon ansatzweise beschrieben ist, wie es geht. Aber das bleibt in den meisten Fällen, in allen, die nicht spontan, „auf Anhieb“ gelingen, doch nur eine hoffnungsvolle Hypothese. Die wirkliche Schwierigkeit wird im Versuchen erst offenkundig – und das führt zum Suchen nach den Haltungen, Bewegungen, Eingriffen, die das gelingen lassen. Wer je versucht hat, mit einem Einrad zu fahren, wird wissen, was gemeint ist. Man kann das tausendmal gesehen haben, es sich ganz lebhaft als Mitgefühl einbilden und all seine mimetischen Kräfte darauf wenden – gehen wird es trotzdem nicht. Dieses Lernen als aktives (Ver-)Suchen wird in der Forschungsliteratur unter verschiedenen Begriffen abgehandelt und – das sei hervorgehoben – in seiner ganz außerordentlichen Bedeutung unterstrichen (Scherer 1999: 36). Vor allem wird auch mit dem Begriff des Erfahrungslernens darauf Wert gelegt, dass der Suchende für das, was er beabsichtigt, schon auf etwas zurückgreift, was er kann. Jedes „Neue“ wird angegangen im leiblichen Verständnis vorausgegangener Erfahrungen. Wer zum ersten Mal ein Paddel in die Hand nimmt, den erinnert seine Erfahrung vielleicht an einen Löffel, mit dem man etwas zerteilt und schöpft, der Tennisschläger heißt nicht ohne vergleichbare Gründe in der Umgangssprache „Kelle“ und wer als Turnerin den Diagonalschritt im Skilanglauf erlernt, der wird in vielen Fällen Standwaagen auf einem Bein als Gleitphasen versuchen. Wie gesagt, das ist vor allem ein leibliches Erinnern, das aus vorhergehenden Erfahrungen unwillkürlich aufsteigt und den ersten Suchbewegungen etwas Halt und Führung gibt. Außerdem wird mit dem Begriff des Erfahrungslernens ein ganz bestimmter Zusammenhang von Eindruck (Erlebnis), Wiederholung und Reflexion unterstellt, den es zu beachten gilt. Die einmalige Sensation ist danach nur „Ereignis“. Erfahrung entwickelt sich aus Wiederholung, Variation und Gewissheit. Das „problemorientierte Lernen“ (Brodtmann 1984) hebt hervor, dass dem Lernen ein Widerstand, ein Nichtkönnen gegenübersteht, eine zu erkundende und aufzulösende Schwierigkeit. Damit soll beschrieben werden, dass der Such-Weg erfolgreich über das Erkennen und Verfolgen des Problems über Pro121

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blemverständnis und Problemdifferenzierung führen wird und dass eine erfinderisch-experimentelle Einstellung dafür nützlich ist. So wird man mit dem festen Willen, schnurgeradeaus fahren zu wollen, weniger Erfolg beim Einradfahren haben, als mit dem Entdecken der Schlangenlinienbewegung der Radspur und dem Versuch, dieser Entdeckung hinterher zu gehen. Im Begriff des „Schema-Erwerbs“ nach Piaget wird unterstrichen, dass das Ergebnis des Lernens in der widersprüchlichen Einheit von Verfestigung und Verflüssigung von bedeutungsvollen Handlungseinheiten liegt – dem ersten Greifen mit Daumen und Zeigefinger folgt in der weiteren Lerngeschichte das Einbeziehen der ganzen Hand, die Einbettung des Greifens in Handlungsketten, Greifen – Halten – Werfen, die Differenzierung in der flexiblen Anpassung an die verschiedensten Gegenstände vom dünnen, zerbrechlichen Glas bis zum dicken, schweren, robusten Ball. Wesentlich für das Suchen ist aber nicht, in welcher Lernform es sich abspielt, sondern was thematisch wird. Was wird gesucht? Womit ist der Lernende beschäftigt, welches ist sein Thema? Arbeitet er daran, beim Handstandüberschlag nicht auf den flachen Rücken zu fallen – und geht er deshalb immer wieder in die Rollhaltung oder lässt sich erst gar nicht hoch genug in das Handstehen hinaustragen? Will er unbedingt mehr Schwung erzeugen, um in einen höheren und freieren Stand – und nicht nur in die Hocke zu kommen? Oder ist es etwas noch ganz anderes, vielleicht gar keine funktionelle, sondern eine ästhetische Thematik? In das themengebundene Suchen nimmt der Lernende dann natürlich all das hinein, was ihm nützlich zu sein scheint: Er denkt sich, wie Dinge zusammenpassen könnten – schnelleres Anlaufen mit größerem Schwung – er versucht bestimmte Gefühleindrücke zu bekommen und festzuhalten oder zu verändern, er hört sich an, was andere zu ihm sagen und vermeinen, er spricht mit sich selbst, und formuliert, was er sich vornimmt, er schaut sich nach Beispielen und Vorbildern um – und er verschließt sich auch, um ganz für sich, sich auf das konzentrieren zu können, was ihn gerade angeht. Kurz: Er trennt nicht zwischen Gefühlssuche und Einsichtsgewinn, sondern saugt aus allen Quellen, die er bekommen kann und die ihm bedeutungsvoll erscheinen. Die Bedeutung ist damit das Nächste, was das thematische Suchen auszeichnet. Manchmal hat dasjenige mehr Bedeutung, was eine Bedrohung mindert (eine weiche Matte) als was die funktionelle Einsicht 122

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stärkt (Schwungbeineinsatz, fester, weit offener Arm-RumpfWinkel). Manchmal steht die Beziehungsbedeutung vor alledem: Wenn die Nähe zu einem Andern, der einen hält oder bewundert, gesichert wird, kann das wichtiger sein, als das Streckgefühl zu erlangen. Und nicht selten geht es um die Herstellung eines erhebenden, befriedigenden Bewegungsgefühls, einem Schwingen und Springen, das sich selbst genügt und nicht nach weiterer Einsicht in funktionelle Zusammenhänge oder Rückhalt in der Beziehung zu andern sucht. Eine dritte Bestimmung des Lernens als Suchen erkennen wir, wenn wir – wie das beim Turnen besonders deutlich wird – die Suchrichtungen näher betrachten. Daran kann klar werden, dass das Suchen mehr vom Ziel und vom Sinn der Bewegung, von dem Endzustand her, der erreicht werden soll, bestimmt ist, als von der Zeitfolge der Bewegung, wie sie vom Anfang her verläuft. Jemand, der nicht abspringt, tut das ggf. nicht, weil er den Absprung nicht beherrscht, sondern weil ihn das drohende Ende lähmt: Abgestürzt hinter dem quergestellten Pferd zu liegen, oder – im Wasserspringen – auf den Rücken geknallt zu sein. Das entspricht ziemlich genau der Einsicht Palagyis (1901), der über die eingebildete (virtuelle) Bewegung sagte, dass das Wahrnehmen kein Registrieren, sondern ein reichhaltiges Fühlen der verschiedenen Qualitäten sei und dann die besondere Bedeutung der vorweggenommenen (antizipierten) Ereignisse so hervorhob: „Wenn jemand vor einem Graben steht und in Einbildung über ihn hinwegsetzt, so ist dieser in der Phantasie vollzogene Sprung aus rein praktischen Gesichtspunkten betrachtet so gut wie ein Nichts. […] Wer sich aber klargemacht hat, dass ein in der Phantasie vollzogener Sprung über den Graben ebensolch einen realen Nervenprozess erfordert, wie der wirkliche Sprung, der begreift auch sofort, dass auch den eingebildeten Empfindungen reale Nervenprozesse entsprechen. Indem nämlich eine Person in der Einbildung versucht, über einen Graben hinwegzusetzen, erwachen in ihr entweder solche Einbildungsempfindungen, wie sie dem Erreichen des jenseitigen Ufers entsprechen, oder vorwiegend solche Phantasieempfindungen, wie sie mit der Unfähigkeit des Hinübergelangens und dem Hinabstürzen in die Tiefe etc. verbunden sind“ (ebd.: 169).

Beim Lernen liegt in der Regel eine unzureichende oder ungenaue Abschätzung der Konsequenzen vor – der Lernende weiß nicht 123

BILDUNG IN DEN KÜNSTEN

genau, was passieren wird, oder er fürchtet mehr, als tatsächlich eintritt. Das lässt seine Suchbewegung vorsichtig, tastend werden und erst mit zunehmender Sicherheit über die Folgen, wird er mutiger und freier (Gröben/Maurus 1999: 112). Erziehungstheoretische Konsequenzen Das Lehren als methodisch geordnete Unterstützung des Lernens bezieht sich auf zwei wesentliche Vorgänge, in denen der Lernende seinen Wandel vollzieht: Nachahmen und Suchen. Wer nachahmt bringt im Wechsel von Einbildung und Ausdruck, innerem Beschreiben und äußerem Bild in selbständiger Weise seine Bewegungskunst hervor. Gebraucht wird dafür etwas, das solche nachahmenswerten Bilder und Bewegungsweisen vor Augen stellt. Wer sucht, so haben wir gesehen, ist in einer Weise bestimmt, dass er nach „etwas“ sucht. Sein Wahrnehmen ist geleitet durch eine Phantasie, eine Hoffnung, eine Vorstellung. Dies führt dazu, dass er nicht alles wahrnimmt, sondern das, was aus seiner Erwartung heraus wichtig und auffällig ist, eine Relevanz hat. Wer im Sich Bewegen nach einer Lösung, einer Möglichkeit sucht, ist aber zugleich auch unbestimmt oder unterbestimmt. Gerade dann, wenn andere anwesend sind, wenn ein Lehrer oder eine Lehrerin, die vertrauenswürdig sind – und das sind sie vor allem durch den Beweis von angemessenen Umgangsformen und sachlichem Können – dann öffnet sich der Lernende einem Eingreifen in das, was er tut. Er öffnet sich, solange er bedürftig ist und dann so weit, dass der Lehrende durchaus sehr direkte Ergebnisse in der Veränderung des Sich Bewegens bewirken kann – eben deshalb, weil es der Lernende gestattet, es ihm ein Bedürfnis und eine Hilfe ist und er möglichst genau und verlustfrei tun möchte, was der andere ihm rät und zeigt. Am nächsten kommt diesen Einsichten in den Charakter des Bewegungslernens eine Haltung des Vermittelns, die ich als bewegungszentrierte Verständigung bezeichnen möchte. Dies ist keine bestimmte Methode, sondern – wie gesagt – eine Haltung, in der methodische Möglichkeiten situativ und persönlich angemessen eingebracht und auf das, was sich zeigt hin, angeboten, befragt, verändert werden.

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Jörg Zirfas

Das Spiel mit der Welt Über das Theaterspielen

Einleitung Im Folgenden soll ausgehend von einer pädagogischen Spielkonzeption verdeutlicht werden, welche Möglichkeiten ästhetischer Bildungsformen das Schultheater für individuelle Entwicklungen wie für gesellschaftliche Erwartungen bereithält. Damit steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit ästhetische Bildungsprozesse im Darstellenden Spiel für die Entwicklungen und Lebensläufe von Kindern und Jugendlichen in modernen Gesellschaften von Bedeutung sind. Nun ist das Spiel eines der Grundphänomene des menschlichen Daseins, das sich wohl deshalb nicht definieren lässt und das hier deshalb auch nicht definiert werden kann, weil man zwar eine Reihe von differentiae specificae, aber kein genus proximum angeben kann. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein, dem ich hier folgen will, meinte jedenfalls, dass die Frage, die man unbedingt vermeiden sollte, lautet: Was ist ein Spiel? Darüber hinaus soll hier auch ungeklärt bleiben, ob die Kultur letztlich aus dem Spiel heraus entstanden, der Mensch also wesentlich ein homo ludens ist – so Johan Huizinga (1997), und auch ob der Mensch nur Mensch ist, wenn er spielt – so Friedrich Schiller (1984). Ungeklärt bleibt auch, ob das Spiel mit den von Roger Caillois (1982) rekonstruierten Formen des Wettkampfes (Agon), des Zufalls (Alea), der Maskierung (Mimikry) und dem Rausch (Illinx) zutreffend und hinreichend erfasst ist, oder ob man es doch besser mit dem Englischen hält und das play, das freie Spiel, vom game, dem institutionalisierten Regelspiel, vom match, dem Ereignisspiel oder schließlich vom gamble, dem Zufallspiel unterscheidet. Zieht man die Etymologie des dt. „Spiel“ zu Rate, so geht dieses vor allem auf das gotische laikan, auf das Springen bzw. (in moderner Version) auf die rhythmische Bewegung oder auch auf das gotische lâc bzw. lâcan, das den Tanz oder die körperlichen

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BILDUNG IN DEN KÜNSTEN

Übungen meint, zurück; darüber hinaus finden sich auch Zusammenhänge zum altsächsichen plegan und zum althochdeutschen pflegan, d. h. zum Zeitvertreib, Vergnügen, Saitenspiel, Würfelspiel (vgl. Huizinga 1997: 50; Bilstein/Winzen/Wulf 2005). Dass Spielen vor allem ein Tanzen ist, verweist auf Bewegung, auf Zweck- und Ziellosigkeit, auf Spaß und Lust, auf Unbestimmtheit, Vages und Flüchtiges. Um den Gang durch die diversen Etymologien und Kulturtheorien des Spiels abzukürzen, soll hier behauptet werden, dass eine der überzeugendsten, wenn nicht die überzeugendste pädagogische Theorie des Spiels überhaupt 1954 von Hans Scheuerl in seinem Buch „Das Spiel. Untersuchungen über sein Wesen, seine pädagogischen Möglichkeiten und Grenzen“ vorgelegt wurde. 1 Scheuerl versucht in diesem Buch nicht das Wesen des Spiels zu definieren, sondern es anhand von Wesensmerkmalen zu rekonstruieren und zwar durch: Freiheit, Unendlichkeit, Schicksalhaftigkeit, Ambivalenz, Geschlossenheit und Gegenwärtigkeit. Da nach meinem Kenntnisstand die Parallelen dieser Spieltheorie mit dem Schultheater noch niemand herausgearbeitet hat – auch Scheuerl argumentiert weitgehend ideengeschichtlich –, soll hier ein erster Versuch dazu unternommen werden. Dieser Versuch interpretiert die angegebenen Kategorien in denen für die theatrale Bildung bedeutsamen Momenten, die gelegentlich den von Scheuerl vorgegebenen Rahmen überschreiten. Im Anschluss an die Darstellung der sechs Spielmomente des Schultheaters soll in einer abschließenden und zusammenfassenden These dann die dramatic literacy als zentrale Kompetenz des Schultheaters hervorgehoben werden. 1

Eine in den Kultur- und Sozialwissenschaften noch häufiger zitierte und sich mit dem Versuch von Scheuerl überschneidende Spieldefinition stammt von Huizinga (1997: 22; im Org. kursiv): „Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel also zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als ,nicht so gemeint‘ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders von der gewöhnlichen Welt abheben.“

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Unter ästhetischer Bildung verstehe ich dabei im Folgenden ganz allgemein die Bildung der Empfindsamkeit gegenüber Mensch und Natur, die Entwicklung der Einbildungskraft, des Geschmacks und des Genusses, die Befähigung zu Spiel und Geselligkeit, zur ästhetischen Alphabetisierung, Urteilskraft und Kritik, die Erschließung von (neuen) Ausdrucksformen und Handlungsperspektiven und auch die Zivilisierung des Lebens (vgl. z.B. Klafki 1996: 30ff.; Mollenhauer 1996; Liebau 1999: 110ff.). Ästhetische Bildung ist Grundbildung. Sie umfasst in ihrer aktiven wie rezeptiven Komponente alle Formen der Bildung durch ästhetische Aktivitäten und Darstellungsformen, Kenntnisse von Kunst und Kultur und die Reflexion künstlerischer und kultureller Prozesse und Resultate.

1. Freiheit Mit der Freiheit des Spiels meint Scheuerl, dass das Spielen keinen Zweck verfolgt, der außerhalb des Spiels liegt. Kinder und Jugendliche, die Theater spielen, so lässt sich diese These übersetzen, lernen zunächst und zumeist Theaterspielen, indem sie von den pragmatischen Sorgen des Alltags suspendiert sind. Das Theaterspielen entlastet und befreit von unmittelbaren Bedürfnisbefriedigungen, von utilitaristischen Überlegungen, von wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen, vom Ernst des Lebens. Wenn man Theater spielt, so hält man sich einem Schonraum auf, der Konsequenzen vermindernd und veranwortungsentlastend wirkt. Im Unterschied zu realen Menschen, die reale Folgen ihrer Handlungen erfahren, kann Schauspielern, die sich als Schauspieler verstehen, nichts Wirkliches passieren. Das Theater ist Kunst, das Leben Realität. Das Theater ist nicht die Welt, sondern bedeutet sie bloß und wir haben mit ihm die Freiheit, ihr verschiedene Bedeutungen zu verleihen. Nimmt man den Spielcharakter des Theaters ernst, so ist das Theaterspiel ein Spiel mit Grenzen und Bedeutungen, das sich konkreten realen Lösungen versagt. Freiheit ist allerdings ein dialektischer Begriff, insofern man die Freiheit von etwas von der Freiheit zu etwas unterscheiden kann. Zwar befreit das Schultheater primär von lebensweltlichen Konsequenzen, doch ist es deshalb nicht zwecklos. Immanuel Kant definierte das Schöne als „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ – ein Gedanke, der sich auf das Schultheater bezogen, folgenderma-

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ßen umsetzen ließe: Was wir im Schultheater erfahren können ist primär äußere Zwecklosigkeit und innere Zweckhaftigkeit. Einer kruden Funktionalisierung des Schultheaters im Sinne einer moralisch-pädagogischen Anstalt, wie sie paradigmatisch im Schultheater des 18. Jahrhunderts vorhanden war, ist zunächst entschieden entgegenzutreten. Denn dass man unmittelbar auf die zukünftige Nutzung des bildenden Wertes des Theaterspielens für das alltägliche Leben schließen kann, indem man durch die Nachahmung der tugendhaften wie durch die Verkörperung der lasterhaften Haltungen, etwas über diejenigen Handlungspraktiken lernen kann, die für das richtige Leben moralische Geltung besitzen, ist nicht nur aus Sicht der Pluralisierung und Individualisierung von Moral, sondern auch aus pädagogischen und theaterwissenschaftlichen Gründen zweifelhaft geworden. Die mit diesen pädagogischen Theatermodellen verbundenen außerästhetischen Begründungen in Form von notwendigen Qualifikationen oder wünschenswerten Einstellungen sozialisierter Bürger werden hier gegen die Eigenständigkeit der Erzeugung und Gestaltung einer szenischen Kunstrealität ausgespielt, die sich pädagogischen Wunsch- und Zielvorstellungen durchaus versagen kann. Hierzu sollte festgehalten werden: Die Bildungsprozesse des Schultheater sind nicht primär als soziale und moralische Pädagogisierung durch das Theater, und auch nicht als Didaktik der Kunsterziehung zum Theater, sondern zunächst als ästhetische individuelle wie soziale Bildungsprozesse im Theater zu verstehen. An dieser Stelle sei auch an Wilhelm v. Humboldt (1985: 5) erinnert, für den die Bildung als Entwicklung menschlicher Fähigkeiten zu einem „höchsten und proportionirlichsten Ganzen“, auf Freiheit als „erste und unerlaßliche Bedingung “ angewiesen ist. Indem das Theaterspiel „Regel und Zufall aufeinander bezieht, liefert es ein ,Programm‘, dass auf ein einheitliches und verbindliches Zentrum verzichten muss, um in den geregelten Ablauf die Dimension der unendlichen Verweisung aufzunehmen, an der jede eindeutige Referenz scheitern muss. [...] Das ist es, was das Spiel zu denken gibt, als Möglichkeit, aber auch als Erfahrung, als ästhetische Erfahrung, wenn man sich auf das Spiel einlässt“ (Wetzel 2005: 251).

Indem wir Theater spielen, entfernen wir uns so von unserer Lebenswelt, dass wir uns ihr im spielerisch geschaffenen distanzier-

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ten Raum der Möglichkeiten umso intensiver wieder widmen können. Wie nichts praktischer ist als eine gute Theorie, wäre hier zu formulieren: Es ist nichts lebenspraktisch zweckmäßiger als die spielerische ästhetische Bildung, als die Freiheit der zwecklosen Zweckmäßigkeit im Schultheater.

2. Unendlichkeit Wenn Scheuerl von Unendlichkeit spricht, so verweist er darauf, dass das Spielen einen Ewigkeitscharakter hat, auf ständige Wiederholung und auf möglichste Ausdehnung in der Zeit angelegt ist: Man kann sich nicht satt spielen. Oder anders formuliert: Man geht im Spiel, im Theaterspiel auf. Zwar wissen Kinder und Jugendliche, dass das Theaterspielen einen Anfang und ein Ende hat – und gelegentlich interessieren sie sich nur dafür, dass es mit dem Spielen zu einem Ende kommt –, doch wird mit dem Gedanken der Unendlichkeit des Spiels ein wichtiger struktureller Gedanke ästhetischer Bildung deutlich: Spiel und Bildung können nur dem gelingen, der tendenziell die Lebenswelt mit ihren zeitlichen und räumlichen Beschränkungen hinter sich lässt, der sich im Spiel verliert und dabei selbstvergessen agiert. Eckart Liebau (2005: 131) sagt dazu: „Nicht der Spieler, das Spiel steht im Mittelpunkt; der Spieler ist nur interessant als Medium des Spiels. Das gilt für alle Beteiligten.“ Das Spiel wird zum Subjekt, das Individuen und Kunst so miteinander in Beziehung setzt, dass nicht nur das Individuum bereichert wird, sondern auch die Welt als reichere erscheint. Spielen ist in einem Zwischenraum zu situieren, der sich einerseits einer strikten Intentionalität der Spielenden verschließt und ihnen andererseits Handlungs- und Ausdrucksmöglichkeiten bietet (Forster/Zirfas 2005). Somit ist das Spiel nur begrenzt intentional pädagogisch instrumentalisierbar, entzieht es sich doch aufgrund seiner spezifischen unfunktionalen Funktionalität eindeutigen Lern- und Bildungsprogrammen. Spielen ist durch Unberechenbarkeit, Kontingenz, Offenheit, Ambivalenz und Prozessualität zu kennzeichnen (Wetzel 2005). „Der ursprüngliche Sinn von Spielen ist der mediale Sinn“ (Gadamer 1990: 109): denn Spielen ist weder aktiv noch passiv, d.h. es geschieht in einem Zwischen, in dem es durch die Spielenden erscheint: Die Spieler sind zugleich die Gespielten. Das Spielgeschehen selbst ist ein Zwischen, in dem der Spielende und der Gegens-

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tand bzw. der Mitspielende miteinander eine Bewegung vollziehen. Das Schultheater dient in diesem Sinne als ein bewegendes Erfahrungs- und Verständigungsmedium, als ein ästhetischer Resonanzraum, in dem man selbstbezügliche und nicht präjudizierende Erfahrungen über seine Erfahrungsmöglichkeiten von Selbst, Welt und Anderen machen kann (Westphal 2005). Das aber, was in die Unendlichkeit des Theaterspiels eingebracht wird, ist vor allem die Sinnlichkeit und Körperlichkeit des Spielers. Der Körper bildet in diesem Zusammenhang die entscheidende Basis der Möglichkeit spielerischer Rollenverkörperung (Becker u.a. 2002). Theaterspielen heißt zugleich, eine Rolle oder Figur verkörpern, diese Rolle oder Figur reflektieren und mit den für sie und für den Darsteller möglichen Präsentationsformen zu experimentieren. Aufführungen hinterlassen eine körperliche Signatur, Bildungs- und Lernprozesse werden hier abgespeichert. Aufführungen kreieren aber auch neue Körperstile, experimentieren mit vielfältigen, potentiell unendlich vielen Körperformen und -prozessen. Damit Bildung wirklich gelingen kann, müssen alle Sinne, d.h. Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten ins Spiel kommen, müssen unterstützt, intensiviert, stabilisiert, transformiert, differenziert oder zu synästhetischen Konstellationen verdichtet werden. Berücksichtigt man stärker den performativen Charakter des Theaterspielens, so erscheint das Theater nicht nur als Darbietung für die Fernsinne Auge und Ohr, sondern auch als Bildungsraum für die oftmals „übergangenen Sinnlichkeiten“, sowie für den Zusammenhang von Körperlichkeit, Räumlichkeit, Zeitlichkeit und mimetischen Verhältnissen, die Bildung von Atmosphären und das Zusammenspiel von Darstellern und Zuschauern und das ikongraphische Geschehen auf der Bühne. Wenn das Schultheater Kinder und Jugendliche in die Lage versetzen soll, Kriterien für unseren Geschmack zu entwickeln und eine Ästhetik zu entwerfen, die die Gründe dafür angibt, warum wir etwas als schön oder hässlich beurteilen, so sollte hierbei nicht nur den Fernsinnen, sondern auch den Nahsinnen verstärkt Aufmerksamkeit zugewendet werden. Und weil auch in der Bildungstheorie in der Regel nur von den Fernsinnen Auge und Ohr die Rede ist – vielleicht ein später Nachklang der klassischen Ästhetik, der nur dasjenige als schön galt, das man in Zahlenverhältnissen ausdrücken, was man wie in

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Malerei und Musik messen konnte – ein paar Bemerkungen zum Riechen, Schmecken, Tasten im Schultheater (vgl. Zirfas 2005a): Die Bedeutung der Leistungen des Geruchs für eine ästhetische Bildung im Rahmen des Schultheaters bestehen vor allem in drei Momenten. Zum einen in der Wahrnehmung, Interpretation und Bewertung von Gerüchen in einem engeren aisthesiologischen Sinne, der uns mit dem Raum und der Atmosphäre verbindet; zum anderen erscheint er in einem sozialen Sinne von Belang, bilden doch Geruchswelten immer auch soziale und kulturelle Welten und damit die Gelegenheit sowohl gemeinschaftsbildend wie sozial diskriminierend zu wirken. Und drittens bildet der Geruch ein eminentes Medium der Erinnerungs- und Gedächtnisleistungen, die für jede Form von ästhetischer und kultureller Bildung von Belang ist. Tasten und Berühren lässt uns die Gegenstände unmittelbar empfinden. Mit der Hand vergewissern wir uns der Welt, wir begreifen sie. Die Hand macht uns die Grenze von Ich und Welt, von Selbst und Anderem erfahrbar. Im Bewusstwerden der Widerständigkeit geht das Bewusstwerden der Gegenständlichkeit mit ein; die Materialität der Menschen und Gegenstände verweist uns auf und weist uns in unsere Grenzen. Besonders die taktile Kommunikation mit anderen Menschen lässt uns nicht bloß deren Existenz gewahr werden, gehen im Berühren und Berührtwerden doch immer auch emotionale und soziale Qualitäten mit ein. Zudem spielt bei Berührungen in Form von sozialen Gesten eine große Rolle: wer, wen, wo, wie, wie oft und wie lange berührt bzw. berühren kann. Und selbst das Essen spielt eine Rolle. Nimmt man nicht nur die Vorbereitungen zum theatralen Prozess, also Training, Proben und Workshops in die pädagogische Betrachtung mit hinein, sondern auch die Pausen und die Nachbereitung, so zeigen sich ebenfalls körperliche Bezüge, die mit dem Theater als oraler Kultur zu tun haben (Schechner 1990: 28, 189). Das gemeinsame Essen, Trinken und Feiern in und vor allem nach der Vorstellung sind Teil des theatralen Projekts; hier lassen sich Formen des wechselseitigen Wahrnehmung und einer leiblichen Vergemeinschaftung ausmachen, die sich über kollektive Geschmackswelten erzeugen.

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3. Scheinhaftigkeit Identifiziert man als Scheinhaftigkeit nicht negativ illusionäres Zu-Sein-Scheinen oder bloße Einbildung, sondern positiv die Bedeutung „Schein des Schönen“ (Kamper/Wulf), den „farbigen Abglanz des Lebens“ (Goethe) oder auch theaterwissenschaftlich wie kultursoziologisch Aufführung und Inszenierung, so erscheint die Scheinhaftigkeit des Theaterspiels geradezu als ein fundamentales lebenspraktisches Propädeutikum. Denn in sog. modernen Inszenierungsgesellschaften lassen sich Prozesse der Theatralisierung nicht nur an den ihn angestammten Schauplätzen finden und auch nicht mehr nur in Zusammenhang mit dem eigens dafür ausgebildeten Theatermachern, sondern buchstäblich überall: nicht nur Rituale und Feste, Zeremonien und Sportveranstaltungen oder politische und mediale Veranstaltungen genießen einen theatralen Charakter, auch das Alltagsleben entgeht mittlerweile den Inszenierungen nicht, alsdann alltägliche Bewegungen, Interaktionen, Haltungen, Gestiken usw. einen inszenatorischen Anstrich bekommen (vgl. Müller-Dohm/Neumann-Braun 1995; Willems/Jurga 1998; Früchtl/Zimmermann 2001). Moderne Individuen müssen die symbolischen Inszenierungsspielregeln kennen und verstehen können, um sich gekonnt und aktiv in Szene setzen und die Repräsentationsleistungen anderer sinnvoll decodieren zu können. Moderne Individuen sind nicht dabei nicht nur Darsteller, sondern vor allem Selbstdarsteller. Die hiermit verbundene Individualisierung biographischer Verläufe ist gekennzeichnet durch eine anwachsende Rollenkomplexität und Rollenspezialisierung. Man bewegt sich im Raum einer permanenten Selbstdeutungs- und -findungsprozedur, die die Identität, die Authentizität und die Autonomie gegenüber sich selbst und den anderen in Szene setzen muss. Die Enttraditionalisierung und Pluralisierung von Lebenslagen und die Individualisierung der Lebensführung verweisen auf für die für die Menschen notwendigen Inszenierungsräume, um ihre Identitäten und Lebensentwürfe ausprobieren zu können. Expressivität wird zu einem zentralen Medium, Authentizität oftmals zum zentralen Ziel von Bildungsbemühungen im Gesellschaftstheater. So gilt für moderne, funktional ausdifferenzierte Gesellschaften, dass man seine Rollen spielen muss, und dass es keine Rolle spielt, wer man außerdem, als Mensch oder anderer Rollenträger, eigentlich ist und

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dass man sich dann kennt und vertraut, sofern man die Rolle kennt, die der andere spielt. Bildungspraktische Grundlage des Schultheaters ist das Rollen- bzw. das Figurenspiel. Die theatrale Ausgestaltung von Rollen und Figuren macht deutlich, dass das Individuum einen persönlichen Stil entwerfen kann, der sich nicht den Konventionen fügt. Damit ist ein Grundgedanke angesprochen, der in der Bildungstheorie wurzelt: Dass die Darstellung eines Menschen nicht nur die Nachahmung einer Rolle impliziert, sondern eine individuelle Figur kreiert, die als individueller Ausdruck menschlicher Möglichkeiten verstanden werden muss. Theaterspielen ist ein Bildungsmedium, das körperliche und reflexive Prozesse der Selbst- und Welterkenntnis mit konkreten, pragmatischen Gestaltungsmöglichkeiten in Verbindung bringen kann (vgl. Hentig 1996: 118). Im und durch das Theaterspielen lässt sich der Handlungs- und Interpretationsspielraum der Kinder und Jugendlichen vergrößern, und so Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl, Konzentration, Kommunikation, Kooperation und Kreativität erweitern. Die bedeutsame spezifische Differenz, die das Theaterspiel von anderen pädagogischen Feldern unterscheidet, liegt aber nicht primär im kognitiven, sondern eher in einem aisthetischkörperlichen Bereich des probehaften Rollenhandelns. Denn im Theaterspielen haben wir die Möglichkeit, eine fiktive Biographie auszuprobieren. Wir können Rollenprozesse so vollziehen, dass sie nicht wirklich von uns vollzogen werden. Die damit verbundene Selbstdistanz ermöglicht die Reflexion wie das Ergriffenwerden durch die Rolle gleichermaßen (Henrich 2001: 132). Man kann im Theaterspielen einen virtuellen Möglichkeitsraum eröffnen, der in seiner Uneigentlichkeit seine ihm eigenen Wirklichkeiten und Wirkungen auf die Spielenden entfaltet.

4. Ambivalenz Mit Ambivalenz bezeichnet Scheuerl den Sachverhalt, dass das Spiel einen Zwischenzustand darstellt. Spiel ist eine Praxis des Zwischen, die von fundamentalen Spannungen durchzogen ist: Für das Schultheater können mehrere Spannungen genannt werden: a) Spannung von Stoff und Form, b) Spannung durch Dramaturgie, c) Spannung zwischen Produzent, Material und Produkt, d) Spannung von kulturellen Symbolsystemen und individuellen

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Aneignungen, e) Spannung von Entwicklungsprozessen und konkreten Rollenmustern. Einige Anmerkungen zu den letzten drei Ambivalenzen: x Kinder und Jugendliche erfahren sich im Schultheater, und das ist bildungstheoretisch wie -praktisch höchst relevant, in der Spannung von stilisierendem Produzenten, körperlichem Material und inszeniertem Produkt des theatralen Prozesses. Im Schultheater geht es also zentral um Leibesübungen: Um den Sinnenleib, der als Organ der Wahrnehmung und des Bewusstseins gebildet wird, um den Werkzeugleib, der die Basis und Material des Handelns darstellt und um den Erscheinungsleib, der als Medium der Selbst- und Rollendarstellung dient (Bittner 1990). Ästhetische Bildung wird hier als rezeptive und als performative verstanden, als eine solche, die sich im gestalterischen Vorgang hervorbringt und vollzieht. x Ästhetische Bildung vollzieht sich dabei als doppelter Prozess: Als Objektivierung des Subjektiven und als Subjektivierung des Objektiven, als Kulturation des Individuums und als Expressivität des Individuellen (Adorno 1985: 169ff.). Hierzu führt Otto Friedrich Bollnow aus: „Erst durch die Beschäftigung mit den Werken des objektivierten Geistes, in diesem Fall mit den Werken der Kunst als Erzeugnissen menschlicher Gestaltung, werden die Sinne zu Organen einer differenzierten Auffassung“ (Bollnow 1988: 31). So wird durch das Hören von Musik das Ohr für die akustische Schönheit empfänglich, durch Betrachten von Kunstwerken das Auge für Formen und Farben geschult und durch das Theaterspielen der Körper für Darstellungspraktiken gebildet. Theatrale Prozesse sind Bildungsprozesse, die Übergänge zwischen Körper-Haben und Körper-Sein, zwischen Sinn und Sinnlichkeit, zwischen Realität und Fiktionalität ermöglichen. Gerade diese am eigenen Leib erfahrenen und durch ihn konstituierten Übergangserfahrungen der szenischen Darstellung ermöglichen theatrale Gestaltungen wie Bildungserfahrungen gleichermaßen (vgl. Hentschel 1996: 162, 191, 244). x Das Schultheater bewegt sich dabei als Form der ästhetischen Bildung in einem Schnittfeld: Zwischen dem Bewusstwerden der eigenen Sinnlichkeit, den individuellen Empfindungs- und Wahrnehmungsqualitäten auf der einen Seite und dem kulturell bedeutsamen Symbolrepertoire der Ästhetik einer Kultur, 138

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den sozialen und kulturellen Codes auf der anderen Seite. Eine Didaktik des Schultheaters muss sich daher in einer Verbindung der Eigenlogik theatraler semiotischer und performativer Prozesse einerseits und pädagogischer, d.h. auf die Unterstützung von theatralen Lernprozessen und den mit ihnen verbundenen Ansprüchen andererseits situieren.

5. Geschlossenheit Die Bestimmung der Geschlossenheit weist nach Scheuerl darauf hin, dass die spielerische Welt eine Welt für sich darstellt. Sie hat ihre eigenen Raum- und Zeitstrukturen, ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten und Regularien, ihre spielerische Eigenlogik. Durch die Eröffnungen eines Spielrahmens wird zugleich eine Grenzziehung wie eine Öffnung vollzogen, die es erlaubt, mit dem Gegebenen und Gewöhnlichen – der Welt – anders umgehen zu können. Das Theaterspielen ist als Eigenwelt dennoch von dieser, der herkömmlichen Welt. Es bezieht sich ja durchaus auf die Ordnungen, Werte und Normen der jeweiligen Gesellschaft, in der es gespielt wird. Es zeigt uns, welche Entscheidungen hier getroffen werden, welche Machtstrukturen hier entscheidend sind und wie das Denken hier strukturiert ist. Kurz, das Spiel ist eine mimetische Welt (Gebauer/Wulf 1998). Und diese mimetische Welt ist eine Zeichenwelt, denn wir können die Wirklichkeit nicht „an sich“ darstellen, sondern haben die Welt nur in Zeichen, Metaphern und Symbolen. Die Spielwelt bedeutet Welt und sie deutet die Welt um. Kurz: Theater ist die Darstellung von Darstellungen. Ob man die Geschlossenheit des Schultheaters heute noch mit dem Begriff einer „als ob Wirklichkeit“ zutreffend beschreiben kann, ist angesichts der Theatralisierung der Gesellschaft – wie oben beschrieben – fragwürdig geworden. Denn es ist gelegentlich kaum mehr nachvollziehbar, ob das Theater die Welt oder die Welt das Theater nachbildet. Sinnvoller erscheinen Versuche, den Begriff des Frames, Rahmens, der von Gregory Bateson (1983) und Erving Goffman (1977) entwickelt wurde, für diese Geschlossenheit zu verwenden (vgl. Schoenmakers 2005: 220ff.). Rahmen sind Organisationsprinzipien für Ereignisse bzw. Situationsdefinitionen, die die individuelle und soziale Anteilnahme an spezifischen Situationen klären. Das Theaterspiel schafft sich seine eigene geschlossene Realität, indem es bestimmte Markierungen verwen-

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det, die zur Rahmung der Situation als Theater führen: hierzu dienen Organisationsmerkmale, Räume, Zeiten etc., die zur metakommunikativen Heraushebung führen: „Das ist ein Spiel“. Vor allem Bateson macht darauf aufmerksam, dass die Spielhandlung durch die Rahmung ein Paradox entfaltet: Ein Kuss im Theaterspiel ist ein Kuss, und doch kein Kuss, er ist Realität und ist doch nur dargestellte Realität. Spiele sind paradoxe Gebilde, da sie Handlungen in Geltung setzen und zugleich die Konstruiertheit dieser Geltungen betonen. Für das Theater bzw. Schultheater bedeutet dies, so Leopold Klepacki (2004: 38), „dass der Spielende sowohl als Darsteller einer bestimmten Figur handelt als auch in dieser Figur erlebt und somit die Gleichzeitigkeit von Lebensrealität und Spielrealität in sich vereinigen muss“ – was für die beteiligten Schülerinnen und Schüler gelegentlich zu Irrungen und Wirrungen führen kann. Außerdem kommt hinzu, dass die gerahmte Situation von Darstellern und Zuschauern geteilt werden muss. Spieler und Zuschauer schaffen die theatrale Welt gemeinsam: die Spieler, indem sie die Rolle verkörpern, die Zuschauer, indem sie – neben den Personen – die Rollen wahrnehmen. Hierin liegt eine doppelte mimetische Sozialität vor, da die von den Schülern gemeinsam geschaffene theatrale Realität in der Aufführungssituation von den Zuschauern nachgeschaffen werden muss. Vor diesem Hintergrund erscheinen Aufführungen im Schultheater nicht nur aus Gründen der Entwicklung von Schulkultur sinnvoll. Denn die Erfahrungen, die die Schüler dann mit den Erfahrungen der Zuschauer machen können, müssen sich nicht nur auf einem oftmals eingespielten Gestus des Wohlwollens beziehen, sondern können auch der ästhetischen Bildung dienen, insofern sie Entwicklungsund Reflexionsprozesse von Wahrnehmungs- und Darstellungsformen ermöglichen.

6. Gegenwärtigkeit Mit dem Titel „Gegenwärtigkeit“ ist nach Scheuerl die Kehrseite von Zweckfreiheit, Unendlichkeit und Scheinhaftigkeit gemeint, nämlich die Zeitenthobenheit, die stehende Bewegtheit des Spiels. Damit sich Kinder in einer besonderen Weise bilden, d.h. sinnvoll oder sinnstiftend zu ihrer eigenen Erfahrung eines kulturellen Geflechts symbolischer Ordnungen verhalten können,

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braucht es Zeit. Nicht nur die Zeit der Entwicklung, sondern auch die spezifische Zeit einzelner Erfahrungen. Die besondere Bedeutsamkeit von ästhetischen Erfahrungen im Schultheater liegt in der Vergegenwärtigung des Selbstvollziehens von sinnstiftenden Wahrnehmungen und ästhetischen Prozessen, in der die Zeit in einer besonderen Form von Gegenwärtigkeit entfaltet wird. Das Spiel, so fasst Friedrich Schiller diese These, sei dahin gerichtet, „die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren“ (Schiller 1984: 178, 14. Brief). Ein weiterer bedeutsamer pädagogischer Theoretiker in diesem Zusammenhang ist Friedrich Schleiermacher, für den das Spiel die Möglichkeit bietet, Gegenwart und Zukunft miteinander zu verknüpfen. Bildung ist gleichsam der Gang einer fortschreitenden Entwicklung, die ihren Ausgangspunkt in der befriedigenden Gegenwart des Spiels nimmt und die durch die an der Zukunft orientierte Übung weiter verläuft. Spielen bedeutet nach Schleiermacher, seinen Tätigkeiten freien Lauf lassen (Schleiermacher 1983: 217) und eröffnet somit nicht nur die Möglichkeiten der Selbsterfahrung und des Selbstbewusstseins, sondern auch die Möglichkeit der Erfahrung des Andersseins und der Entgrenzung. Spielerische Erfahrungen vermitteln mir, dass ich es bin, der dieses Leben zu führen hat, dass ich es bin, der es zeitlich strukturiert, dass ich es bin, der dieser Strukturierung Bedeutung verleiht und dass ich es bin, der hierbei eine Veränderung erfährt. Im Spielen kommt somit eine schöpferische Zeit zum Ausdruck, die die Vergangenheit mit der Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft verknüpft, weil sich in ihm der Zusammenhang von Erinnerung, Vergegenwärtigung und Vorahmung entfalten lässt. Ulrike Hentschel (1996: 248) fasst diesen Zusammenhang so: „Die Fähigkeit, sich mit einem Teil des Ichs auf das Erleben des Augenblicks einzulassen und gleichzeitig die Erfahrungen des Vorausgegangen und das Wissen um die zukünftige Entwicklung zu bewahren.“ Die aisthetischen Erfahrungen des Spiels betonen die Momente des Zeitlichen und Werdenden, der Veränderung und des Übergangs und den fragilen Charakter von Entwicklungsprozessen. Theaterspielen macht eine intensive Zeit möglich, in der sich das Zeitigen der Zeit erfahrbar werden lässt (Zirfas 2004). Gelingen im Schultheater Zeit vergegenwärtigende und Zeit entfaltende Augenblicke, so lässt sich von „fruchtbaren Momenten“ (Copei) äs141

BILDUNG IN DEN KÜNSTEN

thetischer Bildung sprechen. Zwar gibt es mit Sigmund Freud und Johannes Bilstein (2005) gute Gründe zu sagen, dass der Glückliche nicht spielt, doch wenn er spielt, so stellen sich gelingende Bildungsaugenblicke durchaus ein: Und solche Bildungsmomente sind nur ein anderer Name für Glück.

7. Dramatic Literacy: Ein Vorschlag Fassen wir nun die spieltheoretischen Überlegungen zum Schultheater zusammen: die Freiheit der primären Selbstzweckhaftigkeit, die Unendlichkeit der umfassenden sinnlichen und körperlichen Bildung, die Scheinhaftigkeit des kreativen Rollenspiels, die Ambivalenzen der vielfältigen Spannungen zwischen Individualität und Kultur, die Geschlossenheit der sozialen Konstruktionen von Realitäten und schließlich die Gegenwärtigkeit der Zeitentfaltungsmöglichkeiten, so erscheint das Schultheater als ein ungemein komplexes Feld der ästhetischen Bildung. Von hier aus möchte ich die Frage stellen: Wäre es nicht an der Zeit zu überlegen, ob und inwiefern das Konzept der dramatic literacy, das bislang im Sinne der Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten über das Theater als Bestandteil unserer Kultur verwendet wurde nicht als eine grundlegende ästhetisch-kulturelle Fähigkeit zu entwickeln ist? (vgl. Zirfas 2005b) Das hier propagierte Modell der dramatic literacy dient nicht nur zur Erweiterung der gleichnamigen im engeren Sinne theaterwissenschaftlichen oder auch theaterpädagogischen Konzepte, sondern auch zur Neuakzentuierung der aktuellen Theorien der diversen literacies. Mit der PISA-Debatte wird der z. Zt. gebräuchliche Terminus literacy vor allem auf die folgenden Momente bezogen (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2002; Ecarius/Friebertshäuser 2005): auf die Fähigkeiten der Informationsgewinnung und -nutzung; auf die Teilhabe an schriftbasierten Kulturen; auf soziale, mediale und wissenschaftliche Lese- und Schriftpraxen; auf Möglichkeiten eines erfolgreichen persönlichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Lebens; auf Fähigkeiten zum logischen Denken, historischem Bewusstsein und kritischer Einschätzung; auf Voraussetzungen zur Weiterbildung und Entwicklung. Dramatic literacy bezeichnet hier nicht die Übertragung dieser Formen der Literalität auf Kontexte der Inszenierung und Darstellung – wie sie sich in analoger Form bei mathematischer, wissen-

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schaftlicher, medialer etc. Literalität finden lässt. Dramatic literacy zielt auf den körperlich-spielerischen Umgang mit diesen Kompetenzen. So lässt sich z.B. die von PISA skizzierte Lesefähigkeit als Fähigkeit des inhaltlichen, intentionalen und formalen Verstehens von Texten, ihres sinnstiftenden Einordnens, und ihrer Nutzung in persönlicher und sozialer Hinsicht (Deutsches PISA-Konsortium 2001: 22f.) insofern pädagogisch fruchtbar machen, als sich Schüler Lesekompetenz durch Theaterspielen kreativ erarbeiten und zugleich umgestalten können. In der dramatic literacy geht es um die Inszenierung und Aufführung und damit um die Aneignung und Reflexion von Literalität; d.h. um Fähigkeiten, Formen von Literalität wahrzunehmen, sie darzustellen und auszudrücken, mit ihnen spielerisch-kreativ umzugehen, sie zu revidieren und weiterzuentwickeln. Hiermit ist durchaus intendiert, den subjektiven Bildungsprozessen, dem spielerischen Experimentieren, den individuellen Ausdrucksmöglichkeiten, den kritisch-distanzierten wie ironisch-subversiven Praktiken und damit den ästhetischen, körperlichen und sozialen Bildungsprozessen in der Schule mehr Raum einzuräumen. Folgt man der These der zunehmenden Inszenierung des Alltagsverhaltens und der Ästhetisierung und Theatralisierung von Wirklichkeit, so erscheint eine über die Theaterpädagogik hinausgehende Bildungsbewegung mit der sozialen Realität im Hinblick auf kreative, ästhetische und körperliche Prozesse verschränkt: Das Schultheater kann Aufmerksamkeitsrichtungen und Empfänglichkeiten für das Decodieren und Kreieren von Stilen, für die Gegenwart der Körper und Dinge, für Atmosphären und die raum-zeitliche Koordination von Phänomenen entwickeln. Es entwickelt Ich-Kompetenzen, Sozialkompetenzen, Methodenkompetenzen und ästhetische Kompetenzen (Reiss 2003). Und es kann Menschen für das Rekonstruieren von sozialen Konstruktionen faszinieren. Dramatic literacy erscheint als Fähigkeit, gestische, emblematische und symbolische Vorgänge identifizieren und reproduzieren zu können und zugleich als Fähigkeit, die Regeln, nach denen diese Vorgänge verlaufen, angeben, reflektieren und anwenden zu können. Angesichts einer Kultur der zweiten Mündlichkeit, Phänomenen der doppelten Halbsprachlichkeit oder des Analphabetismus, aber auch angesichts der funktionalistischen Engführung der Literacy-Konzeptionen auf einen „neuen Begriff von Intelligenz“ (Ste143

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phan Sting), kommt dem Konzept der dramatic literacy in ihrem rezeptiven und produktiven Umgang mit Literalität eine wichtige Bedeutung zu. Denn nicht nur aus ökonomischer und politischer Sicht lässt sich konstatieren, dass es Kindern und Jugendlichen nicht nur an Grundwissen, sondern oftmals an Selbständigkeit, Problemlösungsstrategien, selbstregulierten Lernfähigkeiten sowie an konstruktiver Phantasie und Kreativität mangelt. Bildungsprozesse mit Bezug auf dramatic literacy müssen daher in mindestens zwei Richtungen verlaufen: mit Blick auf eine Kunst der Rezeption, auf das Lesen und Analysieren theatraler und inszenierter Prozesse und Praktiken, also eine aisthetische Wahrnehmungsschulung als Erfassung und Beurteilung von gezeigter, dargestellter Wirklichkeit; und sie müssen mit Blick auf die Produktion und den Entwurf dieser Handlungsmöglichkeiten, mit Blick also auf ein Können der Selbstdarstellung konzipiert werden. Hier geht es um das Erlernen verschiedener Zeichensysteme- und -codierungen, um das Kommunizieren und den Umgang mit konventionellem Verhalten bis hin zum spielerischen Einsatz, zur ironischen Brechung und subversiven Persiflage von Handlungsmustern. Dramatic literacy lässt sich somit als Kompetenz der Selbststilisierung und Interpretation von Fremdinszenierungen verstehen, als Möglichkeit eines reflexiven Spielraums mit Darstellungsformen und als hermeneutisches Repertoire von Decodierungsschlüsseln. Schultheater ist in einem fundamentalen Sinne ein vielfältiges Zwischenreich, ein liminales Sinnen- und Kunstmedium, das eine Fülle von Zuständen „betwixt and between“ (Turner) erzeugen kann (vgl. Seitz 2003). Im Schultheater werden theatrale Bildungsprozesse und bildende theatrale Prozesse gleichermaßen und miteinander verschränkt zur Darstellung gebracht. Für Hartmut von Hentig (1996: 117) stellt daher das Schultheater neben den sciences den zentralen Ort der Bildung dar: „als ein Mittel, die eigene Person zu überschreiten, ein Mittel der Erkundung von Menschen und Schicksalen und ein Mittel der so gewonnenen Einsichten.“ Denn die „allgemeinste, regeste und freieste Wechselwirkung mit der Welt“ – eine weitere Definition Humboldts für Bildung (ebd.: 25) – gelingt nur dem, der sich auf vielfältige Weise mit der Welt verbindet. Das Schultheater bietet eine ausgezeichnete Möglichkeit in der Bildung von diversen Kompetenzen, die Wahrnehmung und Darstellung, Differenzierung und Distanzie144

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rung, Reflektion und Kreativität, Sozialität und Identität, Ambiguität und Ambivalenz, Paradoxie und Kontingenz betreffen, d.h. von Kompetenzen, die die „allgemeinste, regeste und freieste Wechselwirkung mit der Welt“ umsetzen können. Denn im Schultheater darf man mit der Welt spielen.

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Leopold Klepacki

Tanzen Bewegungskunst im Zwischenraum von Leibespoesie und Körpertraining

Einleitung Gibt man in Wikipedia den Suchbegriff „Tanz“ ein, so erhält man einen recht umfangreichen Artikel, der, nach einer knappen etymologischen Herleitung des Wortes „Tanz“, mit folgender Definition beginnt: „Tanzen ist ein Ritual, ein Brauchtum, eine darstellende Kunstgattung, eine Berufstätigkeit, eine Sportart, eine Therapieform, ein Gefühlsausdruck und nach Aussage vieler Tänzer ‚das schönste Hobby zu zweit‘. Die Komposition eines Tanzes nennt man Choreographie.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Tanz; abgerufen am 26.12.06).

Die kursiv gedruckten Begriffe sind verlinkt mit den dementsprechenden Artikeln. Die Beschäftigung mit dem Tanzen eröffnet augenscheinlich sofort ein weites und polydimensionales Bezugsfeld. Man kann das Tanzen offenbar unter vielen verschiedenen Aspekten betrachten. An dieser Stelle sollen natürlich ein pädagogischer oder besser gesagt ein bildungstheoretischer sowie ein ästhetischer Standpunkt eingenommen werden. Die obenstehende Definition ist zugegebenermaßen keine Definition in einem präzisen Sinn, sondern eher eine Aufzählung möglicher Foki auf den Gegenstand „Tanzen“. Genau deshalb erscheint sie jedoch als interessant, da sie einen sowohl anthropologischen, als auch kulturtheoretischen, kunsttheoretischen und pädagogischen Horizont eröffnet. Ein Ausgangspunkt zur Beschreibung des Phänomens „Tanzen“ ist hier also zumindest möglich: Tanzen als, wie auch immer im Einzelnen beschaffene, Bewegung des Körpers, stellt einen besonderen, signifikant differenzierbaren menschlichen Handlungsmodus dar, der zunächst einmal durch einen performativen und/oder einen semiotischen Aspekt gekennzeichnet ist. Tanzbewegungen werden im Allgemei149

BILDUNG IN DEN KÜNSTEN

nen als hervorgehoben, als aufführend und als bedeutungstragend wahrgenommen. Je nach situativem und historischem Kontext und je nach Form des Tanzes kann dabei entweder die Tatsache des subjektiven performativen Handlungsvollzugs oder die Bedeutungsdimension der Tanzbewegungen im Vordergrund stehen. Die tänzerische Bewegung kann somit gleichermaßen als in semiotischen Kontexten gebunden und als selbstreferentielle autonome Bewegung beschrieben werden. I.d.R. sind beide Ebenen des Tanzes geprägt durch eine enge Verbindung zur Musik. Das zentrale Verbindungselement stellt hierbei der Rhythmus der Musik dar, der normalerweise Anfang und Ende, Dauer, Intensität, Richtung usw. der tänzerischen Bewegungen initiiert. Rein auf den Vorgang des Transformierens von Musik in visuell wahrnehmbare körpergebundene Zeichen ist das Tanzen jedoch mitnichten zu reduzieren. Der Ausdruckstanz beispielsweise ist nicht unbedingt auf eine musikalische Rückbezogenheit angewiesen, sondern versteht sich als strukturell eigenständige Körper-Bewegungs-Kunst. Der Tänzer selbst ist unübersehbar sein eigenes Werkzeug. Die vollzogenen Tanzbewegungen sind nicht vom Körper des Tänzers abstrahierbar. Aus diesem Grund benötigt der Tänzer-Körper auch eine Ausbildung, Training und Pflege. Der Körper muss tauglich und dienlich gemacht werden für den Tanz. Sportlichkeit und Kunstförmigkeit verbinden sich beim Tanzen aus diesem Grund auf einer strukturell-konstitutiven Ebene. Das, was während des Tanzens mit dem Tänzer geschieht, ist nicht nur rein körperlicher Natur, es ist vor allem auch ein leiblicher (Selbst-) Erfahrungsprozess. Nicht nur der Tänzer gestaltet und vollzieht Bewegungen, nein, auch der Tanz formt den Tänzer. Im Ballett beispielsweise ist das auf eine ganz herausgehobene Art und Weise erkennbar. Hier setzt auch die Idee der vollkommenen tänzerischen Bewegung und des idealen Tänzers an. Tanzen kann schließlich als Prinzip des approximativen Strebens nach Überwindung physikalischer Grenzen in der Bewegung und somit als systematisch unabschließbares Projekt des Auslotens möglicher dynamischer und statischer Körper-Raum-Zeit-Konstellationen verstanden und beschrieben werden. Vor dem Hintergrund des Fokussierens von Momenten bzw. von Dimensionen ästhetischer Bildung beim bzw. durch oder im Rahmen von Tanzen und in Anbetracht des eben Dargelegten, sol150

LEOPOLD KLEPACKI: TANZEN

len im Folgenden nun fünf Felder zur Erörterung kommen: Erstens soll Tanz in einer allgemeinen Weise als kulturelles oder genauer gesagt als kulturtragendes und kulturschaffendes Phänomen beschrieben werden, zweitens soll ein genauerer Blick auf den Zusammenhang von Körper und Bewegung geworfen, drittens die Bedeutung von Raum und Zeit für die physischen Bewegungen dargestellt, viertens Tanz als Leibespoesie konzipiert werden und abschließend fünftens die Frage nach der Bedeutung der vollkommenen tänzerischen Bewegung und des idealen Tänzers erörtert werden.

Tanz als kulturelles Phänomen Der Vorgang des Tanzens im Sinne einer kulturellen Erscheinung lässt sich zwischen den Polen Tanzritual, Tanzfolklore, Tanzkunst, Gesellschaftstanz und Tanzsport verorten. Ausgehend von dem Begriff des Rituals (vgl. Wulf/Zirfas 2004) besteht die Möglichkeit, Tanzen grundlegend als performativ-kulturelles Handeln zu begreifen, das einerseits auf die Kulturalität des Menschen, also auf den Umstand, dass Menschen „Symbol gebrauchende Wesen [sind], [...]die für ihre Sinnverständigung auf eben diese Symbole angewiesen sind“ (Liebau 2004: 133), rekurriert und andererseits gleichzeitig als Form menschlicher Expression selbst kulturschaffend ist. Von besonderem bildungstheoretischem Interesse sind hierbei die transformativen, kinästhetischen und synchronisierenden Momente des Tanzens. Betrachtet man den Tanz als „cultural performance“ (Wulf/Zirfas 2004: 27), so fällt auf, dass während des Tanzens nicht nur Kommunikations- und Interaktionsprozesse generiert und strukturiert werden, sondern dass der Tanz vor allem eine habituelle Transformation der Tanzenden selbst bewirkt. Im Prozess der physischen Hervorbringung tänzerischer Bewegungen vollzieht sich unter dem Eindruck inszenatorischer, aisthetischer und ästhetischer Momente eine Potenzierung körperlicher Präsenz der Tanzenden, die sich für das einzelne Subjekt in der Unabdingbarkeit der Kinästhesie der Bewegungen sowie in der Notwendigkeit der zeitlichen (z.B. mit Musik) und intersubjektiven (mit den Mit-Tanzenden) Synchronisation ebendieser Bewegungen äußert. Tänze stellen unter diesem Gesichtspunkt kontrollierte Interaktionssituationen dar, deren „performance script“ (vgl. Schechner 1990: 32ff.) von den Beteiligten erst inkor-

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BILDUNG IN DEN KÜNSTEN

poriert und transformiert werden muss, damit sie in manifestierter Form aufgeführt werden können. Tänze erfordern daher ein praktisches, performatives Wissen (vgl. Wulf/Zirfas 2004: 30) als Basis der körperlichen Bewegungen. Den Horizont dabei bildet stets die Rückgebundenheit der Bewegungen im Repertoire jeweiliger kultureller Symbolsysteme im Sinne eines sozialen und historischen Rahmens. Sowohl der Körper als auch die Sinne des Tanzenden müssen also thematisch ausgerichtet werden auf die Bedürfnisse des Tanzes, der als Struktur zwar unabhängig von den tanzenden Subjekten existiert, als konkretes in Erscheinung tretendes kulturelles Phänomen jedoch erst in einer je unwiederholbaren Art und Weise performativ im Präsens der jeweiligen Aufführung hervorgebracht werden muss. Dabei ist es wichtig, herauszustellen, dass es im Kontext aktueller Tanzforschung dezidiert nicht um eine einseitige Reduktion von Bewegung auf „authentischen Ausdruck menschlicher Subjektivität“ (Siegmund 2006: 37) und nicht um eine simplifizierende Verengung von Tanz auf den symbolischen Ausdruck „allgemeiner und tiefer menschlicher Wahrheiten, die sich mit Hilfe der Sprache nicht ausdrücken lassen“ (ebd.) geht. Vielmehr ist hier die kulturelle, historische und soziale Geprägtheit von Tanz und Bewegung von Interesse. Klassisches Ballet, Turniertanz und BreakDance sind nicht „nur“ unterschiedliche Formen des Tanzens, sondern spiegeln verschiedene sozial geprägte und historisch gewachsene Verständnisse von Körperlichkeit, von Bewegung, von Schönheit, von Kunstförmigkeit wider. Darüber hinaus stehen sie aber auch paradigmatisch für unterschiedliche Motive und Motivationen, zu tanzen. Alle drei Varianten des Tanzes stellen zweifelsohne symbolisch-expressive Bewegungsmuster dar. Das „Was“, also die Zeichen- bzw. die Bedeutungsebene, und das „Wie“, also die performative Ebene, sind jedoch höchst different. Die Wahrnehmungen und Erfahrungen der einzelnen Tänzer mit und in den verschiedenen Tanzformen werden deshalb auch unterschiedlicher Natur sein. Sowohl aus pädagogischer als auch aus ästhetischer Sicht heraus sind ihnen jedoch, bei allen Unterschieden in Techniken, Intentionen und Rahmungen, strukturelle Gemeinsamkeiten zu eigen, die dem Tanzenden entweder als Fragen oder Problemkonstellationen entgegentreten, an denen er sich physisch und kognitiv 152

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abzuarbeiten hat oder die ihm aus der Tanzbewegung heraus als Modi des Selbst-Bewusstseins bzw. des Selbst-Bewusstwerdens erscheinen. An Ursula Fritsch (1999: 36ff.) anschließend sind subjektive Tanzwahrnehmungen, Tanzerfahrungen und Tanzbedeutungen im Kern geprägt durch eine offenkundige körperlichsinnliche Ebene und durch eine latente soziale (Be-) Deutungsebene, die in ihrem Zusammenwirken für den tanzenden Menschen Möglichkeiten der Selbstordnung und der Fremdorientierung im Sinne einer subjektiven Vergewisserung kulturell konnotierter symbolischer Interaktions- und Bewegungsmuster, Körperbilder, Raumwahrnehmungen usw. bereiten.

Körper und Bewegung Der Tanz ist von der Physikalität des Körpers abhängig. Ohne einen anwesenden Körper kann die Tanzbewegung nicht gedacht werden. Gleichzeitig ist es aber auch so, dass der Vollzug der Bewegungen den Körper erst zum Tanz-Körper werden lässt. Genauso, wie sich der Tanz also erst in der körpergebundenen Bewegung manifestiert, wird der Tanz-Körper erst in der Bewegung hergestellt. Die Bewegung kann daher als Medium (vgl. Jeschke 2000: 47) zwischen den subjektiv-körperlichen und den objektivstrukturell-abstrakten Dimensionen des Tanzens erachtet werden. Die Konstitution des Körpers „als tänzerisches Bewegungsinstrument“ (Aissen-Crewett 2000: 20) ist jedoch sehr voraussetzungsreich. Versteht man ganz allgemein körperliche Bewegungen als „soziale und individualgeschichtliche Kategorien“ (Gebauer 1997: 501), in denen sich, wie Gunter Gebauer es darstellt, „das Natürliche und Gesellschaftliche, das Individuelle und Allgemeine“ (ebd.) vor dem Hintergrund subjektiver mimetischer Anähnlichungsprozesse überschneiden, dann bedeutet das für Tanzbewegungen als intentional expressive Bewegungen einerseits die Notwendigkeit eines speziellen Körper-Trainings im Hinblick auf Kondition, Beweglichkeit, Spannung, Gleichgewicht, Koordinationsfähigkeit usw. und andererseits auch die Aneignung des oben bereits angesprochenen praktischen Bewegungs-Wissens. Als pädagogisch relevant erscheint dieser Umstand, wenn man die Bedeutung des Körpers als einem ästhetischen Konstrukt vor dem Hintergrund der sich seit geraumer Zeit vollziehenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse bedenkt. Das Schlag-

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wort der Körperversessenheit als Folge der von Baudrillard beschriebenen „Massenkultur des Körpers“ (vgl. Siegmund 2006: 22ff.), in der er es in letzter Konsequenz nur noch um KörperBilder geht, und als Effekt des Wunsches nach Schönheit und Expression eröffnet ein polares Spannungsfeld zwischen natürlicher Körper-Materie und künstlicher Körper-Inszenierung (vgl. Fleig 2000: 11ff.), das den menschlichen Körper in einem spielhaften Verbindungsraum von natürlicher Physikalität und artifizieller Zeichenhaftigkeit erscheinen lässt. Der Tänzer-Mensch kann hierbei als ästhetisches Paradigma erachtet werden. Die aktuelle Popularität von Tanz, angefangen bei tänzerischer Früherziehung über Kinderballett oder Musical-Dance Workshops für Teenager bis hin zum Aufblühen von traditionellen Tanzschulen und Tanzvereinen ist im Zusammenhang dieser Entwicklungen zu betrachten und zu werten. Beim Tanzen inszeniert man seinen Körper explizit in der Bewegung und unterstreicht die Inszenierung zusätzlich mit spezieller Kleidung, speziellen Schuhen, speziellen Requisiten und auch einer speziellen Mimik, die der subjektiven und sozialen Bedeutungsdimension des Tanzens gerecht wird, d.h. entweder mit einem plakativen Ausdruck von Freude (wie z.B. beim Musical- oder Showtanz) oder einer tiefen Ernsthaftigkeit (wie z.B. beim Ballett oder beim Modern Dance). „Jeder Tanztechnik liegt eine bestimmte Vorstellung eines Körpers zugrunde. Sie ist ein Werkzeug, um imaginäre Körper zu erzeugen, Körper, die wie Freud gezeigt hat, nicht der geregelten Anatomie entsprechen, sondern Wunschkörper sind, die das Begehren des Subjekts symptomatisch artikulieren“ (Siegmund 2006: 196). Um den jeweiligen Vorstellungen nachzukommen, bedarf es für den einzelnen Tänzer einer Schulung des Körper- und des Bewegungssinnes (vgl. Laban 2001: 126ff.). Unkoordinierte, zufällige oder verwaschene Bewegungen zerstören den Tanz genauso wie eine fehlende Sensibilität des Tanzenden für den Zusammenhang von Rhythmus, Form und Raum. Eine große Herausforderung liegt für den Tanzenden daher im permanenten Versuch, der Vervollkommnung des „kinästhetische[n] Wahrnehmungsvermögen[s]“ (ebd.: 127). Der Erwerb eines Wissens sowohl über den persönlichen Bewegungsstil als auch über allgemeine elementare Bewegungsvorgänge spielt dabei für den performativen Ausdruck im Tanz neben dem Aufbau des körperlichen Handwerkzeuges eine grundlegende Rolle. Als zentralen Bezugspunkt dieser sub154

LEOPOLD KLEPACKI: TANZEN

jektiven Bildungsprozesse führt Rudolf von Laban in seinen methodischen und analytischen Schriften zur Bewegung die Dimensionen der Schwerkraft, des Raumes, der Zeit und des Bewegungsflusses an (vgl. ebd.: 39ff.), zu denen sich der Mensch mittels seiner psychischen, kognitiven und physischen Kräften permanent in Beziehung zu setzen habe. Der Tanz erfordere erstens die Bewusstmachung dieser Wirkungsgeflechte und zweitens einen reflektierten und elaborierten Umgang mit ihnen. Dass Tanzen also eine Bildung des Körpers gerade im Sinne eines Formschaffungsprozesses in der aktiven Auseinandersetzung mit dem Fremden, dem Ungekannten sowie eine Bildung der Sinne, insbesondere des kinästhetischen Bewegungssinnes – den Laban in Abgrenzung zum Seh-, Hör- und Riechsinn als nicht in einem bestimmten Teil des Körpers lokalisierbar beschreibt (vgl. ebd.: 127) –, bedeutet, zeigt sich hier deutlich. Laban weist jedoch noch auf ein drittes, ein intellektuelles Element tänzerischer Bildung hin, das den Tanz in kulturelle Bezugssysteme integriert. Es ist dies das „Denken in Bewegungsbegriffen“ (ebd.: 131), also die Entwicklung der Fähigkeit, die körperlichen Bewegungen im Symbolsystem Sprache zu erfassen und zu reflektieren und mittels eines „Bewegungsvokabular[s]“ (ebd.: 131) über das Bewegungsgeschehen zu kommunizieren. Die Entwicklung eines Körper- und Bewegungsgedächtnisses durch und im Tanz wirft aus einer bildungstheoretischen Perspektive zwei Fragen auf: Erstens die Frage nach dem Verhältnis des Körpers zu den Bewegungen und zweitens – damit zusammenhängend – die Frage nach der Möglichkeit von Körper-Identität im Tanz. Die v.a. pädagogisch immer wieder proklamierte Erfahrung von Ganzheitlichkeit im Tanz erscheint nicht zuletzt unter dem Eindruck postmoderner Tanz-Phänomene als zumindest relativierungsbedürftig. Natürlich vollzieht immer der ganze Körper eine Tanzbewegung, so wie bei jeder Bewegung der gesamte Körper tätig wird. Tanzen meint jedoch auch Körper-Verfremdung, Körper-(Zer-)Gliederung und Körper-(Re-) Konstruktion (vgl. Brandstetter 2000: 14ff.). Genau an diesem Punkt setzt auch das Körpergedächtnis des Tänzers an, da es beim Tanzen eben gerade nicht um Bewegungen des Alltags geht, sondern um präsentative Bewegungen, die den Körper sensibilisieren für das Fremde in der eigenen Bewegung, für die Frage nach der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit von Be155

BILDUNG IN DEN KÜNSTEN

wegungen, für eine Schärfung des Blickes auf den eigenen Körper, der dadurch zugleich zum Objekt wird. Die gekonnte oder besser gesagt die geglückte tänzerische Bewegung ist aufgrund ihrer Flüchtigkeit zugleich eine vorgestellte und immer schon eine erinnerte. Sie macht deutlich, dass „das Gedächtnis nicht als ein verlässliches Instrument der Reproduktion von Bewegung dient“ (ebd.: 26) und demzufolge die Fähigkeit der kinästhetischen Steuerung der Bewegung als einem leiblichen, also sowohl physisch als auch kulturell fundierten, Prinzip zum eigentlichen Zentrum des Bewegungsgedächtnisses wird. Dadurch, dass der tanzende Körper schließlich „nicht als einheitliche Gestalt fixierbar“ (ebd.: 16) ist, kann er vom Tänzer wie vom Zuschauer nur als je einmalig in der unwiederholbaren Bewegung erfahren werden.

Raum und Zeit Tanzen benötigt Raum, in aller Regel einen leeren. Wenn man tanzt, füllt man einen Raum mit seinen Körperbewegungen aus. Die dynamische Aufladung eines statischen Raumes mit Bewegung heißt für den Tanzenden aber auch immer die Erfahrung der Unhintergehbarkeit der Raumgesetze. Im Tanzen wird die Tatsache, dass jeder Körper permanent von Raum umgeben ist, bewusst gemacht und daran anschließend die Relativität von Bewegungen herausgestellt. Eine Bewegung kann sich, bedingt durch ihre räumliche Gebundenheit, nur als Verlagerung des Körpers oder zumindest eines Körperteils von einer Position im Raum zu einer anderen vollziehen (vgl. Laban 2001: 99ff.). Eine Besonderheit des Verhältnisses zwischen Körper, Bewegung und Raum stellt Laban heraus, indem er den Begriff der „Kinesphäre“ (ebd.: 100) einführt, mit dem derjenige Teil eines Raumes bezeichnet wird, der als Bewegungsraum unmittelbar mit dem Körper bzw. mit Armen und Beinen erreichbar ist, d.h., der von der körpergetragenen Bewegung ausgefüllt wird. „Außerhalb dieses unmittelbaren Umraums liegt der größere oder ,allgemeine‘ Raum, in den man nur eintreten kann, wenn man sich vom ursprünglichen Standort wegbewegt. Man verlagert dabei seinen ,persönlichen‘ Umraum [...] an eine andere Stelle im allgemeinen Raum. So verlässt man in Wirklichkeit nie seine eigene Kinesphäre [...]“ (ebd.).

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Bezieht man dieses Verhältnis von Körper, Bewegung und Raum auf die Subjektivität des Tanzenden, dann lassen sich zwei Dimensionen der Raum-Erfahrung ausmachen: Erstens die Reflexion der Tatsache des Im-Raum-Seins und zweitens die Bewusstwerdung des Raum-Habens. Die Ausprägung eines Raumbewusstseins geschieht durch die tänzerische Bewegung jedoch nicht nur in physikalischer und damit in analytischer bzw. reflexiver Hinsicht (vgl. Postuwka 1999: 101ff.), sondern auch in atmosphärischer Hinsicht. Das tanzende Subjekt erfährt sich in seinen Bewegungen neben seiner Integration in eine syntagmatische raumzeitliche Ordnungsdimension gleichfalls als leibhafter Gestalter des Raumes, da die Bewegung als, wenn auch flüchtige, Formschaffung im Raum und somit als dessen Modifizierung, angesehen werden kann. Jede räumliche Veränderung eines Körpers benötigt auch Zeit. Die durch die Bewegungsabläufe vollzogenen Formkonfigurationen im Raum lassen sich deshalb auch temporal beschreiben. Jede Bewegung nimmt eine bestimmte Zeitspanne in Anspruch und steht in einer zeitlichen Beziehung zu der vorangegangenen und der darauf folgenden Bewegung. Dieses Verhältnis von Bewegungen nennt Laban „Zeit-Rhythmus“ (Laban 2001: 108). Je nach Art des Tanzes ist der performativ-subjektive oder der choreographisch-objektive Zeitrhythmus von stärker strukturierender Bedeutung. Während man beispielsweise im modernen Tanz „ sog. externe zeitliche, rhythmische und bewegungsstrukturierende Faktoren“ (Postuwka 1999: 107) zu überwinden suchte, um dem Tänzer einen Freiraum zu schaffen, in dem er sich selbst mit der Bedeutung der Zeit konfrontieren konnte, mit dem Ziel, ein Bewusstsein für den Zusammenhang von Zeit, Raum und Bewegung zu entwickeln, ist im klassischen Ballett hingegen das Streben nach 100%iger Erfüllung vorgegebener zeitlicher Strukturen ein zentraler Bestandteil der Kunst. In beiden Fällen ist für den Tanzenden aber die Einsicht entscheidend, dass jede Bewegung zugleich durch eine Raumform und eine Zeitspanne definiert werden kann. Im Regelfall bedeutet die Praxis des Tanzens auch eine Notwendigkeit musikalischer Grundbildung, da, wie bereits angedeutet, ein Großteil der Tanzbewegungen zu Musik ausgeführt wird und dadurch der musikalische Rhythmus Zeitstrukturen bedingt. Ausschlaggebend für Konzeption und Vollzug von tänzerischen 157

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Raumformen vor dem Hintergrund eines Musikstückes sind in der Tat weniger die Melodien oder die Harmonien sondern der Takt bzw. der Rhythmus als Aspekte der Sequentierung, der Betonung, d.h. Hervorhebung, und der zyklischen Wiederholung. Das als Bedingung für ein gelingendes Tanzen oftmals angeführte „Rhythmusgespür“ hängt hier offenbar auch mit einer elementaren Form von Gehörbildung zusammen. Dass Tanzen nicht nur subjektive Expression darstellt, sondern auch konstitutiv an außenweltliche Impressionen gebunden ist, zeigen die raum-zeitlichen Bedingungsfaktoren des Tanzens sehr deutlich auf. In der performativen Bewegung kann nunmehr ein Element der dynamischen Welterfahrung ausgemacht werden, das im modus operandi des Tanzens begründet liegt. Der Mensch erhält die Chance, sich in der Körperlichkeit des Tanzes als Schlüsselstelle kultureller Systeme in Szene zu setzen, diese subjektiv zu erfahren und sie zur Schau und damit zur Diskussion zu stellen. Tanzen wird zu einem ästhetisch-performativen Weltzugang.

Tanz als Leibespoesie Tanzen bedeutet immer eine Inszenierung, eine Stilisierung oder eben eine Poetisierung des eigenen Körpers. In den Tanzbewegungen tritt der Körper als ästhetisches Medium einer flüchtigen Kunst in Erscheinung. Die Poetisierung (vgl. Schlegel 2000: 124ff.) des Körpers, in Anlehnung an die romantische Tradition verstanden als ästhetisch-artifizielle Transformation und damit Neuhervorbringung von physischer Wirklichkeit, vollzieht sich zwar im Sinne der Manifestierung von Tanzbewegung auf einer körperlich-physikalischen Ebene, die subjektive Erfahrbarkeit dieses Vorganges sowie die mit der Bewegung verbundenen, kollektiven wie individuellen, Assoziationen, Bedeutungen, Erinnerungen usw. lassen das Tanzen jedoch zu einer leibgebundenen Kunst werden. Unter Rückgriff auf Plessners Differenzierung von Körper haben und Leib sein (vgl. Plessner 1975) sowie bezugnehmend auf die Aspekte der Leiblichkeit, wie sie von Günther Bittner (vgl. Bittner 1990: 63ff.) und in dessen Folge von Jürgen Funke-Wieneke (vgl. Funke-Wieneke 1995: 95ff.) ausformuliert wurden, besteht die Möglichkeit, Tanzen eben auch als leibliches Phänomen zu

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verstehen. Bittners Trias des menschlichen Sinnen-, Werkzeugund Erscheinungsleibes sowie Funke-Wienekes Erweiterung dieser Aspekte durch die Kategorien des Symbol- und des Sozialleibes lassen es darüber hinaus zu, die bildungstheoretisch bedeutsamen Dimensionen des Tanzens noch einmal präzise zu fokussieren: In der sich im Tanz vollziehenden Potenzierung von Körperlichkeit und Bewegung kann das Subjekt sich selbst als Hervorbringer von Wirklichkeit und Bedeutung erfahren. Die spannungsgeladene Dynamik von Präsenz und Flüchtigkeit, in der die Bewegung selbst als Dispositiv körperlicher Erscheinung fungiert, lässt die werkzeughafte Selbstkultivierung des Tanzenden augenscheinlich werden. Der Werkzeugleib steht also für die Möglichkeit, selbst etwas zu realisieren, was immer mit dem Überwinden von Widerständen, der Überschreitung von Grenzen, der Auseinandersetzung mit dem Fremden, und zwar mit dem Fremden im Anderen und dem Fremden im Eigenen, und mit Übung zu tun hat (vgl. Funke-Wieneke 1995: 95). Selbstkultivierung, und auch das wird im Tanz in besonderer Weise deutlich, beinhaltet folglich beides, Selbstdisziplinierung und Selbstentfaltung. Der Tänzer tritt in einer herausgehobenen Art und Weise in Erscheinung, die nicht nur durch die körperliche Fitness und eine spezielle physiologische Gestalt geprägt ist, sondern ebenfalls durch die kulturelle Symbolisierungsfähigkeit seines Leibes. Durch die sich in der schöpferisch-kunstförmigen Bewegungskonstitution mimetisch 1 vollziehende Bezugnahme auf kulturelle Praktiken und Konventionen, auf soziale Interaktionsmuster und -bilder beginnt der Tan1

Der Begriff der Mimesis bzw. der mimetischen Handlung verweist auf die orientierende Bezugnahme einer Handlung auf andere Handlungen. Mimesis ist jedoch keine bloße Kopie, sondern eine eigenständige Handlung, die auf einem performativen, einem praktischen, körpergebundenen Handlungswissen aufbaut. Unter Bezugnahme auf Vorausgehendes schaffen mimetische Prozesse etwas Neues. Mimesis geht also weit über die kopierende Aneignung und Reproduktion hinaus. Vielmehr handelt es sich um Abläufe „kreativer Anähnlichung an andere Welten“ (Wulf 2001: 257). Daher ist auch nur eine bestimmte Gruppe sozialer Handlungen als mimetisch klassifizierbar, nämlich körperliche Bewegungen, die einen Darstellungs- oder Zeigeaspekt besitzen und die man als eine eigenständige, aus sich heraus verständliche Handlung mit einem Bezug auf andere Akte oder Welten auffassen kann.

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zende eine doppelte Gerichtetheit seiner Aufmerksamkeit zu entwickeln: auf das Es der Bewegung und auf das Ich des performativen Vollzuges. Im Tanz wird der Mensch durchlässig, auf einer ersten Ebene offenbar für die Wirkung von Raum, Schwerkraft und Zeit auf die Körperbewegung, auf einer zweiten Ebene, sozusagen dahinterliegend, dafür, sich selbst symbolleiblich „für ein Anderes im Empfinden und Ausdrücken wirksam werden zu lassen“ (ebd.: 96). Denkt man nun die Leibgebundenheit des Tanzens, die Schaffung ästhetischer Wirklichkeiten in der potenzierten Bewegung und den mimetischen Rückbezug auf kulturelle und soziale Muster im Tanz vor dem Hintergrund des Gedankens der subjektiven Selbst-Entfremdung in der Humboldtschen Bildungstheorie 2 (vgl. Humboldt 1960: 237ff.) zusammen, dann lassen sich unter Berücksichtigung von Gabriele Kleins Ausführungen „Zur Konstruktion leiblicher Wirklichkeiten in Mediengesellschaften“ (vgl. Klein 2000: 96ff.) folgende pädagogisch relevante Gedanken festhalten: x Tanz ist ein kulturell, historisch und sozial geprägtes Phänomen subjektiver ästhetischer Expression. Im Vorgang des Tanzens sind diese Dimensionen dadurch wirksam, dass der Tanzende in mimetischen Prozessen leiblich darauf Bezug nimmt und sie im Akt der schöpferischen Hervorbringung leibhaftig erfahrbar werden lässt. x Tanzen bedeutet die Bewegung und die Inszenierung des Körpers. Als leibliches Phänomen kann Tanz deshalb erachtet 2

Für Humboldt findet sich im Begriff der Entfremdung ein qualitatives Kriterium zur Beschreibung der bildenden Wechselwirkung zwischen Mensch und Welt. Es können nur solche Tätigkeiten bildend wirken, „die eine Hinwendung zu Fremdem, noch Unbekanntem so gestatten, daß wir uns selber fremd werden und Neues so lernen, daß von dem Neu-Erfahrenen Anregungen zu fortschreitender Entfremdung und Weltaneignung ausgehen können“ (Benner 1990: 107). Die Rückkehr aus der Entfremdung aber ist von eben solcher Bedeutung. Sie geschieht durch das Bewusstsein über die subjektive Tätigkeit an der fremden Welt. „Das Ich als Objekt der Denktätigkeit [kann] mit sich selbst als Subjekt der Welttätigkeit in Wechselwirkung treten“ (ebd.: 100). In der denkenden Tätigkeit fallen Subjekt und Objekt der Betätigung im eigenen Ich, das über sich nachdenkt, zusammen; in der handelnden Tätigkeit an der Welt werden Subjekt und Objekt der Handlung jedoch geschieden: in das handelnde Subjekt und in die, diesem Subjekt gegenübergesetzten, Dinge der Welt.

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werden, weil sich in ihm eine doppelte Aspektuierung von Bildlichkeit konstituiert. Der Tanzende wird zum Bild der Auseinandersetzung mit dem Fremden der Bewegung im Fremden von Raum und Zeit. Gleichzeitig meint Tanzen jedoch auch das Sich-selbst-ähnlich-machen mit diesen Bewegungen. Dadurch wird der Tanz zu einem Prinzip der Wahrnehmung und Erfahrung des Fremden im Anderen und des Fremden im Eigenen. x Das dichotome Verhältnis von flüchtiger Bewegung und präsentem Körper führt im Tanz aber auch zu einem Bruch der Bildlichkeit. Der Körper ist beim Tanzen das Medium der Bewegung und somit ihr Ort der Verbildlichung. Wahrnehmbar und erfahrbar ist die Bewegung letztlich ausschließlich im Moment ihrer Hervorbringung. Sie ist nicht festzuhalten und damit einmalig. An dieser Stelle bewirkt Tanz keine Verbildlichungen kultureller Hintergründe und Prägungen sondern die Hervorbringung eines konkreten, individuellen Leibes, der nur im Präsens der Bewegung existiert. x Tanz ist auf Vollkommenheit ausgerichtet. Zumindest kann das als Zuschreibung an die Tanz-Kunst erachtet werden. Den Horizont tänzerischer Selbstdisziplinierung und Selbstkultivierung markiert dann das approximative Streben nach absoluter Durchdringung von Raum und Zeit und nach absoluter Beherrschung der Bewegung. Der Tanzende verkörpert das Ideal eines kollektiven Wunsches nach Erschaffung eines wohlgeformten Körpers und nach Schönheit in der Bewegung.

Der ideale Tänzer Der vollkommene Tänzer kann als Idealbild in doppelter Hinsicht gelesen werden: als ästhetisches und als bildungstheoretisches. Nicht ohne Grund taucht das Motiv des absoluten Tänzers immer wieder in Konzeptionen bzw. in Utopien der Bühnenkunst auf. Die zwei berühmtesten, Heinrich von Kleists Abhandlung „Über das Marionettentheater“ von 1810 (vgl. Kleist 1980) und Oskar Schlemmers Idee des Tänzermenschen in seinem Aufsatz „Mensch und Kunstfigur“ aus dem Jahre 1925 (vgl. Schlemmer 1965) sollen im Rahmen der hier angestellten Betrachtungen abschließend durchdacht werden. Kleists Dialog „Über das Marionettentheater“ ist nicht von vornherein und schon gar nicht ausschließlich als Utopie des idea161

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len Tänzers zu lesen. Ebenso gut ist es möglich und angemessen, diese Schrift als anthropologische Grundlegung, als Thematisierung der Positionierung des Menschen zwischen der Natur und Gott und als Kritik an der Gesellschaft des beginnenden 19. Jahrhunderts im Rahmen der romantischen Suche nach Ganzheit zu verstehen, sie als Dekonstruktion idealistischer Philosophie, oder, im Hinblick auf das Verhältnis des Marionettenspielers zur Puppe, als Theorie der Einfühlung des Schauspielers in die Rolle zu lesen. Dennoch ist es in der Geschichte der „erste[...] Tänzer der Oper“, der die Eigenschaften der Marionette rühmt. „Ruhe, Leichtigkeit und Anmut“ zeichne sie in ihren Bewegungen aus. Aufgrund ihrer Aufhängung an den Steuerfäden besitzt die Puppe einen Schwerpunkt, aus dem heraus sie alle Bewegungen vollzieht und der dafür sorgt, dass „alle übrigen Glieder [das sind], was sie sein sollen, tot, reine Pendel“ (Kleist 1980: 7, 10, 11), die ausschließlich physikalischen Gesetzen folgen. Die Glieder der Marionette sind also folglich immer genau und unumgänglich dort, wo sie aufgrund der Notwendigkeit einer spezifischen Bewegung natürlicherweise sein sollten. Eine Reflexion über die Bewegung, eine künstliche Einstudierung von Gesten und Bewegungsabläufen wird somit überflüssig und die Marionette wird niemals Gefahr laufen, der Ziererei anheim zufallen. „Denn Ziererei erscheint, [...] wenn sich die Seele (vis motrix) in irgendeinem anderen Punkt befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung“ (ebd.: 10). Darüber hinaus sei ein weiterer Vorteil der Gliederpuppe dem menschlichen Tänzer gegenüber die Mühelosigkeit der Bewegungen. Dadurch, dass Marionetten nicht der Schwerkraft ausgeliefert sind, benötigen sie den festen Boden nicht, um ihren Körper darauf auszuruhen, sondern nur als Teil des Tanzes, was letztlich die Befähigung zur Aufführung des absoluten Tanzes bedeutet. Transformiert man nun diese Beschreibung der Eigenschaften einer Gliederpuppe in eine idealistische Anthropologie des Tänzers, dann kann zu aller erst die Forderung nach einer charakteristischen Beziehung des Tänzers zu seinen Bewegungen ausgemacht werden: Es ist dies das Postulat von der Identität des Tänzers mit seiner Bewegung. Die Subjektivität des Tänzers soll in der Objektivität der Bewegung aufgehen. Den daraus resultierenden Zustand der Wahrheit und Ganzheit einer Figur in ihren Bewegungen bezeichnet Heinrich von Kleist mit dem Prinzip der Anmut. Direkt damit zusammen hängt die Ansicht, die Bewegungen 162

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der Marionette seien deshalb anmutig bzw. graziös, – Kleist verwendet die Begriffe synonym – weil zwischen ihrem Schwerpunkt und ihren Gliedern gesetzmäßige Beziehungen existieren, die eine unmittelbare und gänzliche Umsetzung der Notwendigkeiten einer Bewegung ermöglichen können. Es mag auf den ersten Blick offensichtlich sein, dass diese Vorstellung von Ganzheitlichkeit mit aktuellen, postmodernen Konzeptionen von Tanz nicht mehr in Einklang zu bringen sind. Das Zerbröckeln der Ganzheit vollzieht sich in den darstellenden Künsten seit geraumer Zeit, das Wissen über die Unmöglichkeit synthetisierender Handlungen oder Bewegungen auf der Bühne ist zu mächtig, als dass man noch von Identität sprechen könnte, die Begriffe von Anmut und Grazie sind zu idealistisch; eine Erfassung artifizieller körpergebundener performativer Handlungen erscheint mit ihnen nicht mehr adäquat. Zumindest ist das so, wenn man von postmodernem Tanztheater, Tanz-Performances, Modern oder New Dance (vgl. Fleischle-Braun 2000: 145ff.) usw. spricht. Im klassischen Ballet hingegen sind all diese Aspekte von noch ungebrochener Bedeutsamkeit und zwar sowohl im Hinblick auf die auszuführenden, regelhaften Bewegungen, als auch auf die Erscheinung des Tänzer-Körpers. Gerade unter einem pädagogischen Blickwinkel entwickelt die hier erkennbare Koexistenz der Dekonstruktion von Ganzheitlichkeit und ihrer Stilisierung ein bildungstheoretisch relevantes Muster: Die subjektive Suche nach Orientierung innerhalb der ein umfassendes Kontingenzbewusstsein evozierenden offenen, postmodernen kulturellen Spielräume ist in Anlehnung an Thomas Ziehe (1991: 126ff.) geprägt durch die individuelle Sehnsucht nach Expressivität, Authentizität und Ästhetizität. Im Tanzen sind diese Wünsche behandelbar. Gefühlte Ganzheitlichkeit und Echtheit sowie die Vervollkommnung des Eigenen (des eigenen Ausdrucks, des eigenen Körpers, der eigenen Bewegungsfähigkeit) sind dabei von enormer Bedeutung für den einzelnen Menschen. Das Begehren, einem Idealbild nahe zu kommen, ist dabei evident. Tanzen hat etwas mit Schönheit zu tun. Dadurch, dass Anmut im Sinne Heinrich von Kleists eine Form wahrhaften Selbstausdrucks darstellt, der ausschließlich aufgrund des Vorhandenseins eines körperlichen Gleichgewichts in Form eines natürlichen Schwerpunktes zum Vorschein kommen kann, hat Kleists Vorstellung von Anmut nichts mehr mit 163

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dem klassischen Schönheitsideal zu tun. Während bei Schiller die Anmut im Sinne von Schönheit nicht durch die Natur, sondern durch das Subjekt hervorgebracht wird, ist bei Kleist das Verhaftetsein des Menschen in organischen Zusammenhängen eine grundlegende Bedingung für eine anmutige Erscheinung, weil sich der Mensch nur dann noch nicht von seinem Schwerpunkt gelöst hat. In vielen tanzpädagogischen oder tanztherapeutischen Konzeptionen stellt das auch heute die Grundmotivation tänzerischer Selbstbetätigung dar. Die Natürlichkeit der Bewegung sowie ihre artifizielle Transformierbarkeit werden beim Tanzen augenscheinlich. Man kann sich selbst mit seinem ganzen Körper erfahren und man kann daran arbeiten, seinen subjektiv stimmigen, originären Körperausdruck zu finden. Man kann sich in einer zum Großteil medial vermittelten Wirklichkeit im Tanz als leiblich ganzheitliches Wesen erfahren. Oskar Schlemmer bezieht sich in seinen Ausführungen zum Menschen als Darsteller körperlicher Geschehnisse im Raum explizit auf Kleists Marionetten-Konzeption (vgl. Schlemmer 1965: 18); jedoch argumentiert Schlemmer vor einem anderen Hintergrund und in Anbetracht eines anderen Ziels. Unter dem Primat der im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in der Kunst bedeutsam werdenden Begriffe von Abstraktion und Mechanisierung beschreibt Oskar Schlemmer die Möglichkeiten der Betrachtung des Menschen als „Gliederpuppe“, als „technischen Organismus“, als „wandelnde Architektur“ sowie als „entmaterialisierte Ausdrucksform“ (vgl. ebd.: 16ff.). Den Hintergrund dieser Typologie bildet das Bestreben, eine Grammatik der körperlichen Bewegung im Raum zu konzipieren, gleichsam einer tänzerischen Mathematik. „Schlemmer verfolgt dabei [...] zunächst die abstrakte Idee einer universalen Ordnung aus einer subjektiven Idee heraus, die eine objektive Raum-Zeit-Ordnung modelliert“ (Siegmund 2000: 160). Um jedoch die Funktions- und Bewegungsgesetze sowie die Geometrie des Menschen in reiner Form auf die Bühne zu bringen, bedarf es für Schlemmer einer Umwandlung bzw. einer äußeren Verwandlung des menschlichen Körpers. Diese „wird ermöglicht durch das Kostüm, die Verkleidung. Kostüm und Maske unterstützen die Erscheinung oder verändern sie, bringen das Wesen zum Ausdruck oder täuschen über dasselbe, verstärken 164

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seine organische oder mechanische Gesetzmäßigkeit oder heben sie auf“ (Schlemmer 1965: 15). Die Kostüme sollen dabei so konzipiert sein, dass sie „die flüchtigen Bewegungslinien eines Körpers im Raum durch Fixierung am Kostüm sichtbar“ (Siegmund 2000: 160) machen. Die Vergänglichkeit der Bewegung soll also im Kostüm manifestiert werden. Für die Verwandlung des menschlichen Körpers im Sinne dieser Bühnenkostüme können nach Schlemmer (1965: 16ff.) grundsätzlich folgende Faktoren bzw. Dimensionen bestimmend sein: x Die Gesetze des den Menschen umgebenden kubischen Raums. x Die Funktionsgesetze des menschlichen Körpers in Beziehung zum Raum. x Die Bewegungsgesetze des menschlichen Körpers im Raum. x Metaphysische Ausdrucksformen als Symbol der Glieder des menschlichen Körpers. Je nachdem, welche dieser vier Dimensionen nun als bestimmend angesehen werden, wird der Mensch, wie oben bereits angedeutet, entweder auf das Prinzip einer wandelnden Architektur (1), auf eine Gliederpuppe (2), einen technischen Organismus (3) oder auf entmaterialisierte Ausdrucksformen (4) reduziert. In all diese Grundprinzipien sei schließlich am ehesten der Tänzermensch eingebettet. „Er folgt sowohl dem Gesetz des Körpers als dem Gesetz des Raums; er folgt sowohl dem Gefühl seiner selbst wie dem Gefühl vom Raum“ (ebd.: 15). Trotz Kostümierung ist der sich im Raum bewegende Tänzer jedoch immer noch dem Gesetz der Schwerkraft unterworfen. Wollte man zu einer reinen Künstlichkeit gelangen, so müsste man nach Schlemmer, da der Mensch nie völlig aus seinen Bindungen zu lösen sei, den lebendigen Organismus durch mechanische Kunstfiguren ersetzen. Dies wären in konsequenter Vollendung dieses Gedankens für Schlemmer entweder die Automaten E.T.A. Hoffmanns oder Kleists Marionette. Es ist die Beschäftigung mit den Gesetzmäßigkeiten von Raum und Bewegung, die zergliedernde Analyse der Bewegungsformen und Bewegungsmuster des Menschen im Verhältnis zum Raum und die sich aus den Grundkonstellationen ergebenden Möglichkeiten imaginärer Symbolisierung sowie das Zusammendenken von Flüchtigkeit und Präsenz, die Schlemmers Ansatz auch päda165

BILDUNG IN DEN KÜNSTEN

gogisch interessant werden lassen. Schlemmer verbildlicht in seinen Figurinen die Konstruktion von Körper, Raum und Zeit im Tanz. Dass Tanzen neben einem Körper- und Raumwissen auch immer eine leibliche Beschäftigung mit metaphysischen Ausdrucksformen meint, wird hier ebenfalls herausgehoben. In Anbetracht von Schlemmers und Kleists Konzeptionen tänzerischer Idealität wird hier am Ende deutlich, dass Tanzen als menschliche Bewegungsform in ihren bildungstheoretischen Potentialen weit über einen Aspekt pädagogischer Verzweckung – „tanzen um zu...“ – hinausgeht. Vielmehr bereitet der Tanz einen Ort zur idealtypischen und damit fassbaren Aufarbeitung von Grundkonstanten körperlich-leiblicher Existenz in einer vierdimensionalen Welt. Dass der menschliche Körper immer ein bewegter ist und er deshalb weder räumlich noch zeitlich statisch zu denken ist, stellt eine methodische und ästhetische Grundkategorie von Tanz dar. Tanzen heißt deshalb auch, eine Fähigkeit zum Denken in konkreten bewegten Bildern in Form eines Körpergedächtnisses zu entwickeln. Während des Tanzens vollzieht sich eine qualitativ eigenständige Genese des Subjekts vor dem Hintergrund einer artifiziellperformativen Konstitution von Ich und Welt. Der dabei ablaufende Prozess einer Entstehung neuer Selbst- und Weltbilder, neuer Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Denkweisen ist verortet einerseits in der Entfaltung subjektiver Expressivität im Kontext der bewussten Aufnahme raum-zeitlicher Strukturen, die ebenso wie die zu vollziehenden Bewegungen als kulturell und sozial konnotiert erkenntlich werden und andererseits in der notwendigen Reflexion des Zusammenhangs von subjektiver leiblicher Symbolisierungsfähigkeit und objektiven Aspekten von Bildlichkeit und Metaphorik. Im Angesicht von Kleists Marionette und von Schlemmers Tänzermensch wird die Gebundenheit des Menschen an die Gesetze von Raum und Zeit sowie an die physischen Gegebenheiten des Körpers überdeutlich. Gleichzeitig weisen diese Idealbilder auf die Möglichkeit hin, die Idee tänzerischer Vervollkommnung zuzulassen, sie sozusagen zu einer produktiven Funktionsstelle werden zu lassen. Vielleicht ist in diesem Zusammenhang der wichtigste Punkt die Erkenntnis, dass Tanzen zwar sehr viel mit Übung und Technik zu tun hat, Tanzen jedoch nicht technologisierbar ist. Es ist immer das einzelne Subjekt, dass sich selbst im Tanz bewegt und dass durch den Tanz auf eine je ein166

LEOPOLD KLEPACKI: TANZEN

zigartige Weise bewegt wird. Tanzen kann somit nur als subjektiver leiblicher Ausdruck im Zwischenraum von körperlicher Individualität und kultureller Objektivität verstanden werden.

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Max Fuchs

Leitformel Leben Eine Grundkategorie für die Theorie kultureller Bildung?

Vorbemerkung Jede gute Praxis braucht eine Theorie. Beides, die Praxis und die Theorie, müssen Menschen überzeugen. Hilfreich ist es dabei, wenn man „griffige“ Formulierungen findet, die diese Überzeugungsarbeit leisten können. Der Bildungsbegriff ist im pädagogischen Kontext zwar unverzichtbar, doch trägt er – gerade in der deutschen Sprache – die Last von Jahrhunderten tiefschürfender Reflexionen. In diesem Beitrag geht es daher darum, diesen schwierigen Begriff dadurch zu entlasten, dass man ihm einen vielleicht eingängigeren, aber theoretisch anspruchsvollen Begriff zur Seite stellt. Dieser Versuch wird mit dem Begriff des Lebens unternommen.

1. Eine kleine Theorie der Leitformeln Wissenschaft strebt nicht nur nach Wahrheit und lässt ausschließlich diese als Geltungskriterium für Thesen, Behauptungen und Theorien zu. Wissenschaft ist auch Teil der Gesellschaft, muss sich – gerade heute – vielfältig legitimieren und ihren Nutzen für unterschiedliche Verwendungskontexte belegen. Aus diesem komplizierten Abstimmungsprozess heraus, in dem sehr unterschiedliche Handlungsrationalitäten zusammentreffen, ergeben sich von Zeit zu Zeit bestimmte Begriffe, die das schwierige Geschäft einer Vermittlung immanenter Wahrheitsansprüche mit gesellschaftlichen Legitimationswünschen leisten können. Niklas Luhmann nennt solche Verbindungsglieder zwischen (autopoietisch arbeitenden) Subsystemen und der Außenwelt „Kontingenzformeln“. In der Pädagogik waren es etwa in früheren Zeiten „Emanzipation“ oder „Lernfähigkeit“. Heute wird das „Lernen des Lernens“ vor allem im EU-Kontext durchzusetzen versucht. Man kann bei solchen Leitformeln vier Begründungsmöglichkeiten unterscheiden. Eine erste Begründungsweise ergibt sich aus 171

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der pragmatischen Dimension des Begriffs: seinem inner- und außerwissenschaftlichen Gebrauch. Diese Begründungsdimension kann man Legitimation, d.h. die Akzeptanz durch möglichst viele, nennen. Eine zweite Begründungsdimension lässt sich aus dem Bezug auf eine empirisch zu erfassende Realität gewinnen: Taugt ein Begriff zu deren Erfassung? Eine dritte Dimension ergibt sich daraus, dass Begriffe nur im Rahmen eines bestimmten Theoriegebäudes, also einem Netzwerk vieler Begriffe, relevant sind, die untereinander in logischen und widerspruchsfreien Ableitungszusammenhängen stehen. Und üblicherweise braucht man – gerade bei interdisziplinär arbeitenden Wissenschaften – eine Anschlussfähigkeit an andere Theorien, vor allem an Theorien benachbarter Disziplinen. Eine Leitformel muss also eine gewisse Anschlussfähigkeit sicherstellen. Beispiele für solche Leitformeln, die gleich alle vier Begründungsweisen erfüllen, gibt es einige: „Identität“ ist ein solcher Begriff, neuerdings ist es – vor allem in der internationalen Kulturpolitik – „kulturelle Vielfalt“. Offensichtlich erfüllt ein Begriff die Funktion einer Leitformel immer nur auf Zeit. Dies hängt damit zusammen, dass alle vier Begründungskontexte, also die Verwendungszusammenhänge: der legitimatorische Rahmen, der empirisch zu untersuchende Gegenstand, die Theorienlandschaft in der eigenen Disziplin und die anderen Bezugsdisziplinen immer in Bewegung sind. Paradigmenwechsel etwa können dazu führen, dass bislang taugliche Begriffe an Überzeugungskraft verlieren. Man kann sich einmal überlegen, wann und warum „Emanzipation“ seine Wirksamkeit verloren hat. Der hier wohl ausschlaggebende Einfluss von Moden gilt nicht nur für einzelne Begriffe, er gilt mit Abweichungen auch für ganze Disziplinen. Vielleicht ist die Erziehungswissenschaft besonders anfällig für solche Moden. So gab es Zeiten, in denen die eher technische Steuerungswissenschaft Kybernetik die pädagogische Theorienbildung beeinflusste. Heute starrt man voller Bewunderung auf die Naturwissenschaft Neurobiologie. Auch hier gilt, dass man sich theoretisch wie gesellschaftlich-legitimatorisch auf der sicheren Seite glaubt, wenn man zur Stützung eigener Argumente auf solche Theorieimporte setzt (und dabei zu überprüfen vergisst, was die dortige Modellvorstellung „Gehirn“ mit dem gleich lautenden Organ, mit dem die eigene Zunft arbeiten muss, zu tun hat). 172

MAX FUCHS: LEITFORMEL LEBEN

Im Zuge der Konjunkturen, denen Wissenschaften ausgesetzt sind, kommt es immer wieder zu überraschenden Neuentdeckungen. So erfreut sich der Kulturphilosoph Ernst Cassirer seit etwa 15 Jahren in der Philosophie und noch mehr in einzelnen Kulturwissenschaften mit seiner Philosophie der symbolischen Formen einer wachsenden Beliebtheit. Andere versuchen, andere Denkschulen oder Autoren wieder in Erinnerung zu rufen. Oft sind solche Versuche begleitet und begründet durch Defizitbehauptungen. Dies geschieht etwa in zwei Überblicksartikeln zur Rolle der Kultur in der Pädagogik (Helmer 2004) bzw. zur kulturwissenschaftlichen Pädagogik (Meyer-Drawe 2004), die beide die über 2000-jährige Geschichte des Kulturbegriffs Revue passieren lassen, und dabei philosophische, ethnologische und soziologische Ansätze erwähnen, um zu dem Schluss zu kommen, dass vor dieser reichhaltigen Geschichte im Umgang mit „Kultur“ die zur Zeit als Kulturpädagogik firmierende Disziplin, die sich in der Tat auf ein begrenztes Praxisfeld bezieht, nur abfallen kann. Dabei wird in beiden Fällen die Argumentation noch dadurch unterstützt, dass man die Entwicklung der Kulturpädagogik in den letzten 15 Jahren völlig ignoriert. Immerhin: „Kultur“ ist auf dem besten Wege, eine Leitformel quer durch verschiedene Ansätze zu werden, so dass ein Ringen um das Deutungsrecht verständlich ist. Allerdings wird es gerade bei Neuauflagen von Begriffen, die bereits einmal eine Rolle gespielt haben, notwendig, seinerzeitige Diskurskontexte mit zu reflektieren. „Kultur“ als pädagogische Leitformel muss dabei zumindest zwei Traditionen zur Kenntnis nehmen: Zum einen den Streit im späten 19. Jahrhundert über das Konzept der „Sozialpädagogik“, bei dem es darum ging, ob es sich hierbei um eine spezialisierte Bereichsdisziplin oder eine umfassende Grundlegung der Pädagogik schlechthin handeln soll (vgl. Winkler in Benner/Oelkers 2004). Und zum andern die ähnliche Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg, als Spranger und Troeltsch „Kulturpädagogik“ akademisch etablieren wollten. „Kultur“ war dabei Teil eines durchaus wohlmeinenden Programms einer Sinnstiftung von oben durch den Staat und zielte professionspolitisch auf die angehenden Gymnasiallehrer. Dass ein solcher Ansatz einer reglementierten Sinnstiftung durchaus auch heute noch politisch denkbar erscheint, kann man an den immer wieder aufflackern-

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BILDUNG IN DEN KÜNSTEN

den Debatten über eine „Leitkultur“ und der neuen Aktualität eines „Kanons“ erkennen.

2. Leitformel „Leben“? Leitformeln haben also eine wichtige kommunikative Funktion, sie sind Teil einer Begriffspolitik, sie haben allerdings auch ihre Tücken. Gerade diese sind zu berücksichtigen bei dem vorsichtigen und explorativen Versuch, die Kategorie des „Lebens“ in Hinblick auf ihre Qualität als tragende Kategorie der Kulturpädagogik zu überprüfen. Denn es ist wahrlich nicht das erste Mal, dass „Leben“ eine Rolle in der Geschichte der Wissenschaften und der Philosophie spielt. In der Philosophie gab es gleich mehrere Ansätze, eine Philosophie des Lebens, eine Lebensphilosophie zu entwickeln. Die Biologie als wichtige Bezugswissenschaft einer solchen Unternehmung hat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine dynamische Entwicklung durchgemacht, so dass führende Biologen sich gerne auch als Zeitdiagnostiker betätigten. Als ein gängiger Mechanismus kann gelten, dass Experten in einem abgrenzbaren Feld sich zu eigentlich nicht vertretbaren Verallgemeinerungen weit über ihr Forschungsfeld hinaus bemüßigt fühlen und auf der Basis ihres Spezialgebietes plötzlich umfassende Weltdeutungen vorlegen. Gegenüber einem solchen naturwissenschaftlich inspirierten Anspruch auf ein umfassendes Deutungsrecht entwickelte Dilthey seine geisteswissenschaftliche Philosophie des Lebens, auf die sich später viele bezogen. Gegen das naturwissenschaftliche „Erklären“ entwickelte er seine Methode des „Verstehens“ mit stark antirationalen Zügen. Diese waren so stark, dass Georg Lukacs (1983/84) alle diese Ansätze als „Zerstörer der Vernunft“ in Bausch und Bogen verdammt und zur Vorgeschichte des Faschismus rechnete. Natürlich wird dieses harte Urteil heute abgelehnt. Doch sollte man nicht die Augen vor den Gefahren einer radikalen Vernunftfeindschaft verschließen. Der Weg von einer berechtigten Kritik an einer Auffassung vom Verstand, die Emotionalität, Spiritualität und Sinnlichkeit als irrelevant abtut, hin zu einer irrationalistischen Position einer Blut- und Boden-Ideologie ist recht kurz, wie insbesondere das Schicksal vieler ehrenwerter Denker der Weimarer Zeit aufzeigt. Gerade im Kontext der kulturellen und ästhetischen Bildung ist diese Gefahr zu beachten.

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MAX FUCHS: LEITFORMEL LEBEN

Denn die Rehabilitation der nichtrationalen Dimension des Menschseins muss sich der möglichen politischen Implikationen, die in der Geschichte der „Musischen Bildung“ in vielen Fällen Realität geworden sind, bewusst sein. Die Beschäftigung mit Cassirer zeigt, wie stark sich dieser mit der Lebensphilosophie und vor allem mit Bergson befasst hat. Eine Lebensphilosophie, die sensibel ist für die Ganzheitlichkeit des Menschen, wird heute von Feldmann erneut ins Gespräch gebracht. Auch auf der politisch-praktischen Ebene ist in den letzten Jahren die Relevanz des Lebens erkannt worden. So spricht man von den „Lebenswissenschaften“, proklamiert sogar ein Jahr der Lebenswissenschaften und gibt entsprechende Anstöße für die Forschung. Allerdings gehen diese Impulse oft in eine problematische Richtung rund um die Gentechnologie, die nunmehr ökonomisch genutzt werden soll, um die berühmt-berüchtigten Lissabon-Ziele der EU-Staats- und Regierungschefs umzusetzen. „Leben“ ist also – das zeigen bereits diese wenigen Hinweise – eine schwierige Kategorie. Es ist zunächst einmal zu fragen, ob sie die eingangs vorgestellten vier möglichen Begründungsweisen einer Leitformel erfüllt. Im Hinblick auf die pragmatische Dimension („Legitimation“) ist „Leben“ – wie angedeutet – zurzeit ausgesprochen aktuell. Pädagogik in dieser Situation als spezifische Lebenswissenschaft in die Debatte einzubringen kann sowohl auf erziehungswissenschaftliche Traditionen, aber auch auf eine große Akzeptanz bei unterschiedlichen Nutzergruppen hoffen. Wird „Leben“ zudem in einer Weise qualifiziert, wie es rund um die (NussbaumSenschen) Debatten über Lebensqualität und eine schwache Anthropologie geschieht (s.u.), dann kann eine derart auf der Grundkategorie „Leben“ aufgebaute (Kultur-)Pädagogik neue Aspekte in den Diskurs über Leben einbringen. Die zweite Begründungsweise ist der (empirische) Bezug auf einen Wirklichkeitsausschnitt. An einem solchen Bezug besteht kein Mangel. Leben in all seinen Erscheinungsformen – als gelingendes oder misslingendes, als glückliches, beschädigtes, unvollständiges – bietet der Wissenschaft, der Philosophie, den Medien und den Alltagsgesprächen jede Menge an möglicher Empirie. „Leben“ ist zudem – und dies ist die dritte Begründungsweise – ausgesprochen anschlussfähig, kann also einer Zusammenführung unterschiedlicher Disziplinen unter einer gemeinsamen Per175

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spektive dienen. Man muss natürlich berücksichtigen, dass Medizin, Psychologie, Biologie oder die Philosophie unterschiedliche Lebensbegriffe haben. Es ist außerdem nötig, eine genuin pädagogische, in sich konsistente Theorie des Lebens zu entwickeln, damit „Leben“ zu einem „einheimischen Begriff“ (Herbart) wird. Denn diese ist die Basis für die drei anderen Begründungsweisen. Gibt es möglicherweise bereits eine solche Theorie? Schaut man in einem beliebigen Wörterbuch der Pädagogik nach (hier: Lenzen 1989), so findet man zwar keinen speziellen Artikel über Leben, wohl allerdings einen Beitrag über Lebenslauf und Lebenswelt (von K. Meyer-Drawe). Man findet eine Pädagogik der Lebensalter (von D. Lenzen), man findet in der Kulturpädagogik ein Ringen um den Begriff der Lebenskunst (BKJ 1999, 2000, 2001). Deutlich wird, dass der Lebensbegriff unterschiedlichen pädagogischphilosophischen Schulen unterschiedlich nahe ist. Im Kontext der phänomenologisch inspirierten Pädagogik ist er quasi ein zentraler Grundbegriff. Recht nah am Lebensbegriff arbeiten auch Ansätze einer evolutionären und stärker biologisch orientierten Pädagogik. Wichtig wäre es, aus der Sicht anderer philosophischpädagogischer Ansätze eine solche Theorie-Arbeit zu unternehmen. Auch wenn dies möglicherweise noch nicht befriedigend geschehen ist, lässt sich absehen, dass „Leben“ die Qualitätsprüfung aller vier Begründungsweisen besteht, also als Leitformel tauglich sein könnte.

3. Leben, Lebenskunst und kulturelle Bildung Volker Gerhardt (1999: 148ff) zeigt die Schwierigkeiten einer Philosophie, die zwar Anwalt des Ganzen sein will, aber in ihrer Kritik an der (tatsächlichen oder vermeintlichen) einseitigen Hochschätzung der Intellektualität in der europäischen Philosophie diese nunmehr völlig vernachlässigt: „So denkt sich die Lebensphilosophie in die Rolle eines Anwalts des Ganzen hinein. Doch indem sie Partei gegen prominente Teile dieses Ganzen ergreift, gibt sie den Ganzheitscharakter des Lebens preis“ (ebd.: 151). Die Herausforderung besteht also darin, die menschliche Existenz tatsächlich ganzheitlich zu erfassen. „Leben“ taugt hierzu. Denn: „Leben ist der anfänglichste und gleichwohl in sich reichhaltigste Begriff für den Zusammenhang, in dem wir sind. Verglichen mit ihm sind

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die Begriffe des Seins, der Wirklichkeit oder der Welt abstrakt; was sie bedeuten, können wir bezeichnenderweise nur vom Leben her bestimmen. […] Denn Leben ist nicht nur in der belebten Natur außer uns, sondern in elementarer Weise in uns selbst“ (ebd.: 148).

Leben erleben wir unmittelbar, zum Leben gehört die Binnenperspektive, Leben ist – nicht nur etymologisch – aufs engste mit „Leib“ verbunden. Leben ist entscheidendes Moment der Individualität (Gerhardt 2000). Wenn „Leben“ derart zur Grundkategorie der praktischen Philosophie wird – und diese ist das primäre Erkenntnisinteresse des Moralphilosophen Gerhardt –, dann ist daran zu erinnern, dass Pädagogik vor ihrer wissenschaftlichen Verselbständigung Teil dieser praktischen Philosophie war. Es ist daher möglicherweise mehr als eine Mode oder eine Lust auf eine neue Begrifflichkeit, wenn in der pädagogischen Debatte der letzten Jahre Begriffe wie „Lebenskompetenz“ (Münchmeier 2000) oder „Lebenskunst“ (BKJ 1998, 1999, 2000) als vielleicht eingängigere Begriffe als der historisch hoch belastete Begriff der „Bildung“ eine zunehmend wichtige Rolle spielten. Dies gilt insbesondere für die heutige Kulturpädagogik, die sich nicht nur einer „Ganzheitlichkeit“ als Leitprinzip verpflichtet fühlt, sondern die in diesem Kontext die Relevanz der nicht-rationalen Dimensionen des Menschseins gerade im Tanz oder im Theater mit der Kategorie des Leibes hervorhebt. Vielleicht ist Kulturpädagogik in diesem Sinne schon längst eine „Lebenspädagogik“, nämlich eine praktisch gewordene „Lebensphilosophie“. Ich will einige Hinweise dazu geben, wieso eine solche Sichtweise zumindest als heuristischer Versuch lohnen könnte. Dabei kann auf andere Ansätze einer philosophischen Pädagogik (etwa Meyer-Drawe 1984) nicht explizit eingegangen werden. Ein erster Schritt geht zurück zu den Ursprüngen der Menschwerdung. Helmuth Plessner als Biologe und Philosoph ist hier mit seiner Anthropologie eine geeignete Bezugsperson. Das Geheimnis der Menschwerdung ist bei ihm wesentlich in der Identifikation der „exzentrischen Positionalität“ begründet: Der Mensch ist ab einem gewissen Entwicklungsstadium in der Lage, aus der Selbstverständlichkeit eines Lebens „aus der Mitte“ herauszutreten und sich selbst aus dieser „exzentrischen Position“ heraus zum Gegenstand von Betrachtungen zu machen. Reflexivität als äußerst leistungsfähige Zugangsweise im Kontext seiner Lebens-

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bedingungen wird somit möglich, wobei der Prozess des Betrachtens des Betrachtens des Betrachtens etc. nach oben unabschließbar ist. Bewusstheit entsteht und somit die Möglichkeit, ein selbst gestaltetes Leben zu führen. Diese neu gewonnene „Freiheit“ von instinktgesteuerten Lebensprozessen wird allerdings zur Pflicht: Nunmehr muss der Mensch sein Leben führen. Menschliches Leben als bewusstes Verhältnis zu sich, seiner Umwelt, seiner Zukunft und Vergangenheit wird im komplementären Verhältnis von Welt- und Selbstgestaltung erkennbar. Offensichtlich ist mit dieser Formulierung eine klassische Definition von „Bildung“ gegeben. „Bildung“ kann damit als individuelle Disposition verstanden werden, sein Leben wunschgemäß zu führen: Das zu bewältigende „Gegenüber“ von Bildung ist das Leben. Die Rede von „Bildung als Lebenskompetenz“ ist daher nichts anderes als das Weiterdenken eines anthropologischen Grundtatbestands. In diesem bewussten Überlebensprozess entwickeln sich im Menschen unterschiedliche „Energien des Geistes“, um die Welt (und sich selbst) zu erfassen. Ernst Cassirer nennt die so entstandenen Weltzugangsweisen „symbolische Formen“, und er gibt gleich einen ganzen Katalog solcher Werkzeuge bzw. Medien an: Sprache, Mythos und Religion, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, Politik und nicht zuletzt die Kunst. Die Gesamtheit dieser symbolischen Formen nennt er „Kultur“. Ist Bildung gelebte Lebensbewältigung – im Sinne Cassirers: mit dem Ziel einer wachsenden Selbstbefreiung des Menschen –, dann ist dies nur über einen souveränen Umgang mit diesen symbolischen Formen möglich. Auf dieser allgemeinen Ebene ist damit ein Kanon der Lebensbewältigung formuliert, ist die Unterstützung, die der Mensch zu dessen Aneignung braucht, „Kulturpädagogik“ in einem weiten Sinn. So gesehen haben die eingangs erwähnten Kritiker des heutigen engen Verständnisses von „Kulturpädagogik“ Recht, da diese aus diesem „Kanon“ lediglich zwei oder drei (Sprache, Technik, Kunst) herauslöst und sich auf deren Vermittlung konzentriert. Denn wenn man Kulturpädagogik im Sinne des weiten (Cassirerschen) Kulturbegriffs versteht, dann werden Religionspädagogik, politische Bildungsarbeit oder Wirtschaftspädagogik ebenfalls zu besonderen Varianten oder Spezialisierungen einer derart weit gefassten Kulturpädagogik. „Kulturpädagogik“ in diesem weiten Sinne ist nämlich die gesamte Pädagogik. Da es in der Praxis je178

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doch auch darum geht, Professionalitäten auszubilden, kann ein solch weites Konzept leicht als anmaßend angesehen werden. Denn wer hat schon in allen existentiellen Dimensionen des Lebens die notwendige Kompetenz? Daher ist eine Eingrenzung des „Zuständigkeitsbereichs“ sinnvoll und notwendig, selbst wenn dann eine ungeliebte Bindestrichpädagogik entsteht, die nur einen Teil der umfassenden „Kultur“ erfasst. Von dieser enger verstandenen Kulturpädagogik ist im Folgenden die Rede. Ein zweiter Schritt muss uns in die Gegenwart hoch entwickelter moderner Gesellschaften führen. Denn anthropologische Erwägungen haben aufgrund ihres allgemeinen Charakters und einer angestrebten universellen Gültigkeit durchaus ihren Sinn als Grundlagentheorie; sie können durchaus auch als Messlatten für eine konkrete Situation herangezogen werden (so etwa der Ansatz von Nussbaum/Sen mit ihrer „schwachen Anthropologie“ im Rahmen einer weltweiten Armutsbekämpfung), doch ersetzen sie nicht den Blick in die Realität moderner Gesellschaften. Wie also ist selbst gesteuertes Leben unter heutigen Bedingungen möglich und welche Unterstützungsleistungen braucht der Mensch, um dieses zu realisieren? Als ein Charakteristikum ist dabei der Aspekt der Selbststeuerung zu reflektieren. Denn dieses „Selbst“ bezieht sich auf den Einzelnen. Angesichts vieler Studien zur Genese der Individualität (Dülmen 1997, siehe auch Fuchs 2001) ist dieser Gedankengang heute leicht zu verstehen. Schwierig wird es dort, wo Individualität in die Erosion von sozialem Zusammenhang umschlägt, so wie es die Individualisierungsthese von Ulrich Beck behauptet. Leben in der modernen Gesellschaft ist Leben in der Klassengesellschaft und hat daher mit ungleichen Chancen sowie damit zu tun, dass subtile Mechanismen den Einzelnen im sozialen Raum so verorten, so dass er die dahinter stehenden Machtstrategien der Unterdrückung überhaupt nicht mehr wahrnimmt. Das Mittel einer solchen „Gewalt“ ist die ästhetische Praxis, so Pierre Bourdieu (1987), der unter der Vielzahl soziologischer Theoretiker auch deshalb ein geeigneter Gewährsmann in diesem Exposé ist, weil er sich als Soziologe der symbolischen Formen explizit in die Tradition von Ernst Cassirer stellt. Gesellschaft ist keine Ansammlung von „Dingen“, sondern ein dynamisches System von Beziehungen (Relationalität). Die wichtigste Lernform geschieht ganzheitlich und en passant durch die Entwicklung ei-

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nes Habitus, der den Einzelnen – bezogen auf seinen gesellschaftlichen Ort – mit dem Ganzen vermittelt. Kulturpädagogik, die „kulturelle Bildung für alle“ zum Ziele hat, hätte in dieser soziologischen Theorie angesichts des ehernen Gesetzes des Strukturerhalts der Gesellschaft wenige Chancen. Allerdings setzt der Politiker und Pädagoge Bourdieu – durchaus in einem gewissen Gegensatz zu dem Soziologen Bourdieu – auf die verändernde Kraft der Bildung, weswegen er mit seinen Kollegen des Collège de France einen staatlichen Lehrplan entwirft, der insbesondere die strukturkonservative Kraft ästhetischer Sozialisationsprozesse brechen will: Durch Vermittlung ästhetischer Codes als Teil der Gewinnung von kulturellem Kapital. Eine solche („Kultur-“)Pädagogik wird zu einer mächtigen Kraft der Emanzipation, indem sie Souveränität im Umgang mit dem wichtigsten Werkzeug der Machterhaltungsstrategie, der alltäglichen ästhetischen Praxis, vermittelt. „Leben“ heißt in diesem Sinne Befreiung, so dass man einen Ableitungszusammenhang herstellen kann, der von der anthropologischen Grundlegung durch Cassirer/Plessner über eine soziologische Analyse der Bedingungen des Aufwachsens im Sinne von Bourdieu nunmehr zu einer Pädagogik der symbolischen Formen als Kulturpädagogik gelangt. Auch wenn diese Kulturpädagogik sich in der heutigen Praxis von ihrem Anspruch her beschränkt, so lässt sie sich dennoch an den großen Kategorien einer „zunehmenden Selbstbefreiung“ (Cassirer) messen. Natürlich gibt es zahlreiche andere Anthropologien, Kulturphilosophien und auch Gesellschaftstheorien als die hier zugezogenen. Man hat daher die Last des Nachweises, dass die verschiedenen Stütz-Theorien untereinander kompatibel sind. Dazu einige weitere Hinweise. In einem weiteren Buch lotet Gerhardt (2000: 8) „die Stellung des Menschen im Zusammenhang des Lebens aus“. Menschliches Leben ist Leben in Individualität. Die Welt des Individuums wird gemäß unterschiedlicher Dimensionen ausgelotet: Wissen, Welt, Leben, Kultur, Politik, Moral, Kunst. Wer diese Auflistung mit der Liste der symbolischen Formen von Cassirer vergleicht, wird eine weitgehende Übereinstimmung feststellen. Das ist natürlich kein Zufall, da man in der mehrtausendjährigen Reflexion des Menschen über seine eigene Befindlichkeit („Erkenne Dich selbst!“, 180

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hieß es in Delphi) das Spektrum der Welt- und Selbstverhältnisse weitgehend ausgelotet hat. Hilfreich ist, dass Ansätze zur Bestimmung der Lebensqualität (etwa der von Sen/Nussbaum) über das sich bloß auf materielle Indikatoren stützende Konzept des „Lebensstandards“ aus der Mitte des letzen Jahrhunderts (Bruttosozialprodukt pro Kopf) hinausgegangen sind und inzwischen qualitative, u.a. auch kulturelle Indikatoren mit einbeziehen. Dies gilt auch für das vielleicht bekannteste Ranking im Feld der Armutsforschung, den Human Development Index (HDI) des Weltentwicklungsberichts des UNDP (United Nations Development Programme). Man versucht hierbei, Qualitätsmaßstäbe für ein Menschsein unter Berücksichtigung unterschiedlicher völkerrechtlicher Instrumente und Konventionen und dabei auch präzisierte Angaben für notwendige Ressourcen für ein „menschgemäßes“ Leben zu finden. Auf der nationalen Ebene ist der zentrale Begriff in diesem Zusammenhang der Begriff der Menschenwürde. Die Entwicklung der Verfassungsgrundlagen hat dabei den Weg von dem Ziel der Sicherheit, das die Integrität des Lebens gegenüber dem Staat sicherstellen sollte, hin zu Fragen einer „gerechten“ Ressourcenausstattung genommen, wobei durchaus Umverteilung als Mittel zur Herstellung von Gerechtigkeit vorgesehen ist. Der Staat fühlt sich in dieser Denktradition also verantwortlich für ein anspruchsvolles Konzept von Leben. In pädagogischer Hinsicht ist die UN-Kinderrechtskonvention relevant, die nicht nur von einem (Menschen-)Recht auf Kunst und Spiel spricht, sondern die auch eine materielle, geistige und kulturelle Grundversorgung fordert. „Leben“ als menschliches Leben ist in allen genannten Konventionen nämlich weitaus mehr als bloß biologisches Überleben. Ein weiterer Aspekt, der oft als das entscheidende Charakteristikum des Menschen gesehen wird, ist sein Wissen um seinen Tod, um die Endlichkeit des Lebens. Fragen des Sinns, der Spiritualität und der Orientierung sind hiermit unmittelbar verbunden (vgl. Fuchs 2006).

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4. Zur pädagogischen Relevanz der Reflexion über das Leben Diese allgemeinen Überlegungen haben Relevanz für die Pädagogik: x Die Perspektive des Lebens führt dazu, einen – etwa auch in der Kritischen Psychologie (Holzkamp 1983) praktizierten – methodischen Dreischritt zu unternehmen, der die naturgeschichtliche Genese des Lebens bis zur menschlichen Stufe (Anthropogenese), die selbst gemachte Geschichte des Menschen bis in die heutige Zeit (und damit die Verwobenheit des individuellen Lebens mit je vorhandenen gesellschaftlichen Verhältnissen) und zuletzt die Ontogenese als Aufwachsen des Einzelnen – wiederum unter je vorfindlichen konkreten Bedingungen – unterscheidet. x Auf diese Weise können zwanglos eine anthropologische und kulturphilosophische Fundierung der Pädagogik, die historische Genese pädagogischer Probleme und die Einheit von Sozialisation, Enkulturation und Persönlichkeitsentwicklung in das pädagogische Denken einbezogen werden. x Aus der Debatte über Lebensqualität, über notwendig zu fordernde Ressourcen, über die Menschenrechte auf soziale, politische und kulturelle Teilhabe und auf die Entfaltung der Persönlichkeit lassen sich Maßstäbe für die Rahmenbedingungen und Maßstäbe eines gelingenden Aufwachsens entwickeln. Denn immer geht es hierbei darum, die Besonderheiten menschlichen Lebens zu respektieren. Alle Entwicklungen der politischen Philosophie und Realität, etwa die Umsetzung der klassischen Forderungen bürgerlicher Revolutionen auf Integrität des Lebens, auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind insofern auf „Leben“ bezogen, als es um die Verbindung des je individuellen „Projektes des guten Lebens“ mit der Idee einer „wohlgeordneten Gesellschaft“ geht. Beides wurde in der Antike bereits einmal zusammengedacht. Die „Entzweiung der Moderne“ hat auch hierbei zu einer Trennung der beiden Perspektiven, der individuellen und der gesellschaftlichen Sicht, geführt. Gelingendes Leben braucht aber beides: den Blick auf den Einzelnen, aber auch dessen Einbindung in das Soziale und Politische.

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x

Der skizzierte Zugang begründet eine Sichtweise aus der Perspektive des einzelnen Subjekts und seiner Stärken in Hinblick auf das je individuelle Projekt des guten Lebens, ohne die politische Dimension zu vernachlässigen (Gerhardt 2007).

Damit lässt sich auch aufzeigen, worin der Mehrwert einer Leitkategorie „Leben“ bestehen könnte: Ganzheitlichkeit, die weder die Verstandes- noch die Emotionsseite vernachlässigt, die Sinnlichkeit und Kreativität unter der Perspektive des „Leibes“ einbezieht, wird unter der Perspektive des Lebens zwangsläufig zu einem fundierten Prinzip. Das Leben selbst zeigt reduktionistischen Ansätzen ihre Begrenztheit, da das Leben als erste Gestaltungsaufgabe auf keine der möglichen Fähigkeiten der Menschen verzichten kann. Normative Fragen können auf der Basis der reichhaltigen Debatte über Lebensqualität – zumindest ein Stück weit – geführt werden, ohne zu schnell auf weltanschauliche, ideologische und nicht weiter begründbare Thesen zurückgreifen zu müssen. Die Kulturpädagogik (im heutigen, eingeengten Sinne) kann bei aller Notwendigkeit ihrer Begrenzung die weite Perspektive einbeziehen, die der Kulturbegriff verlangt. Ihre spezifischen Weltzugangsweisen, insbesondere die Künste, nehmen stets das Ganze in den Blick, freilich – wie Cassirer es sagt – unter einem spezifischen Brechungswinkel. Das derart entstehende ästhetische Selbst- und Weltverhältnis kann durch kein anderes ersetzt werden, gehört zur Vollständigkeit des Lebens dazu, kann aber wiederum keine andere Weltzugangsweise – etwa die der Wissenschaften – ersetzen. Eine derartige Kulturpädagogik braucht daher den anthropologischen und den soziologischen Kulturbegriff nicht zu scheuen. Allerdings ergibt sich hieraus eine Verpflichtung: Verengungen, wie sie im Kulturbereich und speziell in der Musischen Bildung mit z. T. verheerenden politischen Folgen stattgefunden haben, zu vermeiden (vgl. Lepenies 2006). „Bildung“ als individuelle Disposition, sein Leben entsprechend der „Auftragstellung“ der Anthropogenese bewusst zu führen, wird so als komplementärer Begriff zu „Kultur“ verstehbar. „Kulturelle Bildung“ ist zwar – philosophisch betrachtet – eine wenig gelungene Wortschöpfung, weil sie letztlich nur eine Verdopplung desselben Tatbestandes ist. Betrachtet man jedoch die vorliegenden Theorien und lässt sich 183

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auf die dort ausgebreitete inhaltliche Füllung dieses Konzeptes ein, dann muss man sich nicht weiter mit bloß philologischen Mäkeleien aufhalten: Sowohl als Theorie- als auch als Praxisfeld ist der Begriff und sein Umgang ausgesprochen lebendig. Nicht zuletzt kann die Perspektive des Lebens in der Pädagogik dazu führen, immer wieder aufbrechenden publizistischen und/oder wissenschaftlichen Moden Widerstand entgegenzusetzen. Zurzeit sind es die Neurowissenschaften (zusammen mit anderen „Lebenswissenschaften“), die mit naturwissenschaftlichen Modellvorstellungen von Gehirn und Geist einen Universalanspruch auf das Deutungsrecht in allen Fragen des Lebens erheben. Neu ist dies nicht. Die Idee der Geisteswissenschaften ist im 19. Jahrhundert aus der damaligen Maßlosigkeit der Physik, Chemie und vor allem der Biologie entstanden. Ein Jahrhundert zuvor entstand der Humanismus gegen technokratisch anmutende mechanizistische Vorstellungen vom Menschen und seiner Erziehung bei den Philanthropen. Vor einigen Jahren war es die Kybernetik, die alle verzauberte. Daraus folgt, dass eine Leitformel Leben auch den Anspruch mit sich bringt, gegen Schrumpfformen des Lebensbegriffs in Wissenschaft, Philosophie und in der Praxis vorzugehen. Unter dieser Perspektive ließe sich also ein neuer Humanismus begründen, der in seinen Grundlagen der alte wäre: Nämlich wie Ernst Cassirer trotz widrigster Lebensumstände an dem Ziel der Selbstbefreiung des Menschen festzuhalten.

5. Ein kurzer Blick in die Praxis Die vorstehenden Überlegungen zielten auf eine theoretische Grundlegung der Kulturpädagogik. Nun sind bekanntlich Begriffe ohne Anschauung leer. Anschauungsmaterial gibt es jedoch in großer Fülle. So hat es sich bewährt, kulturelle Bildungsarbeit unter der Perspektive der „Lebenskunst“ zu betreiben, sich also sehr konkret auf die Frage einzulassen, was eine ästhetisch-künstlerische oder spielerische Praxis dazu beiträgt, sein Leben selbst gestalten zu können. Dies wurde in einem mehrjährigen Modellprojekt im Rahmen der Bundesvereinigung Kulturelle Kinderund Jugendbildung erprobt. Im Ergebnis hatte dieser praxisbezogene Modellversuch dazu geführt, dass zwar die Überzeugung in die Wirksamkeit dieser spezifischen pädagogischen Praxis be-

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MAX FUCHS: LEITFORMEL LEBEN

gründet war, dass es allerdings erhebliche Defizite bei den Fachkräften gab, die stattfindenden Entwicklungsprozesse bei den beteiligten Kindern und Jugendlichen angemessen zu beschreiben. Daraus entstand die Idee eines „Kompetenznachweises Kultur“, der nunmehr methodisch ausgereift im größeren Umfang in der Praxis etabliert wird. Eine Kulturpädagogik als Pädagogik ausgewählter symbolischer Formen kann daher ihr Anliegen unter Nutzung der Kategorie des Lebens – als angewandte und pädagogisch zu unterstützende Lebenskunst – formulieren.

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Die Kunst der Bildung

Peter W. Schatt

Unterrichtlicher Umgang mit neuer Musik und kultureller Bildung

Einleitung Vor dem Hintergrund tiefgreifender konzeptioneller und inhaltlicher Probleme hinsichtlich der Zukunft des Musikunterrichts an allgemeinbildenden Schulen öffnet der Begriff „kulturelle Bildung“ – unlängst auch von offizieller Seite in den Diskurs eingeführt – Perspektiven in zwei Richtungen. Bedenkt man nämlich einerseits, dass der Kulturbegriff insbesondere von offiziellen Instanzen ebenso regelmäßig wie unreflektiert meist dann bemüht wird, wenn es primär um den Erhalt von Traditionen in Bezug auf Werte und Inhalte geht, bedenkt man ferner, dass der Begriff „Kultur“ in solchen Zusammenhängen den Charakter einer zum Mythischen zumindest tendierenden Erzählung von unantastbaren Objektivationen – so genannten „Kulturgütern“ – erhält (Schatt 2004c), und sieht man dies vor dem Hintergrund einer Diskussion, in der primär Musik-Lehren als „Vermittlung“ von „Kompetenzen“ (kritisch dazu vgl. Scharf 2003) in Verbindung mit einer „Kulturerschließung“ favorisiert wird, in deren Horizont Kultur als eben eine derartige Objektivation erscheint (Bähr u.a. 2003), so ist zu befürchten, dass Bildung in einseitiger, normativer, schlimmstenfalls gar doktrinärer Ausrichtung auf die von so genannten „Kulturträgern“ vertretenen Inhalte, Normen und Wertvorstellungen gesehen werden könne: vertreten von Angehörigen eines Hochkulturmilieus, die – ausgestattet mit institutioneller Macht – ihren Ansprüche gegen jenen der Träger anderer Teilkulturen zur Durchsetzung zu verhelfen pflegen. Durch die rigorose und prozedural wie inhaltlich wenig reflektierte Einführung des Zentralabiturs auch im Fache Musik und die im Zusammenhang damit intendierte Installation eines „Bildungskanons“ wird eine solche Befürchtung nicht gerade entkräftet.

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DIE KUNST DER BILDUNG

Andererseits muss „kulturelle Bildung“ nicht nur ein Schlagwort sein; um den Begriff aber fruchtbar zu machen, bedarf es einiger Bemühungen: Es ist der Zusammenhang zwischen Kultur und Bildung zu klären, um das nahezu pleonastische Moment des Begriffs (vgl. Mollenhauer 1989: 907) aufzulösen; mit Blick auf die Frage nach der Aufgabe von Musikunterricht wäre insbesondere der Bezug zwischen der unterrichtlichen und der außerunterrichtlichen Praxis hinsichtlich des Inhalts Musik so zu bestimmen, dass in ihm die kulturrelevanten Momente von Bildung und die bildungsrelevanten Momente von Kultur deutlich werden. Im Folgenden soll dies am Beispiel der neuen Musik unternommen werden: an Hervorbringungen einer Teilkultur, die ihre Existenz einem Spannungsfeld von Überlieferung, Aktualität und Innovation verdanken, das zugleich als konstitutiv für jene Prozesse des Lernens und Lehrens zu gelten hat, von denen hier angenommen wird, dass sie grundlegend für den wechselseitigen Bezug zwischen Kultur und Bildung sind. Unterricht wird daher in den folgenden Ausführungen nicht als Spiegel oder als komplementäres Gegenbild kultureller Praxis, sondern selbst als deren Verwirklichung modelliert. Darauf zielt bereits der Begriff des „unterrichtlichen Umgangs“: Anders als „Auseinandersetzung mit neuer Musik“, „Lernen neuer Musik“, „Introduktion in Musikkultur“ weist er jene Offenheit auf, die notwendig ist, um die für unterrichtliche wie für außerunterrichtliche Prozesse gleichermaßen in Anschlag zu bringenden handlungsrelevanten interaktiven und kommunikativen Momente subjektiver und intersubjektiver Intentionalität mit Blick auf die Ermöglichung von Bildung und Kultur zum Tragen kommen zu lassen.

1. Unterrichtlicher Umgang mit neuer Musik als Spiegel kultureller Praxis Das Verhältnis zwischen der auf neue Musik gerichteten Teilkultur und allgemein akzeptierter – oder besser: verwirklichter – Musikkultur entspricht der Relation zwischen der Dringlichkeit und Hartnäckigkeit, mit der die einen fordern, neue Musik zum Gegenstand schulischen Musikunterrichts zu machen, und der Zurückhaltung der anderen, die ihr bestenfalls einen marginalen, vor einschlägigen Lehrplänen gerade noch verantwortbaren Platz zu-

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PETER W. SCHATT: UNTERRICHTLICHER UMGANG

billigen möchten: Was die einen für ein repräsentatives, ja zentrales Moment aktueller Musikkultur halten, gilt den anderen bestenfalls als eine von wenigen Querulanten getragene Option. Dies ist nicht verwunderlich, wenn man sich die Gemeinsamkeiten von neuer Musik, Kultur, Unterricht und sogar Lernen vergegenwärtigt: Sie sind damit befasst, die Entstehung von Neuem zu reflektieren und zu ermöglichen, und zwar vor dem Hintergrund von Reflexionen und Entscheidungen darüber, was mit dem Bestehenden geschehen solle. So, wie die Hervorbringung neuer Musik ohne eine Differenzerfahrung, beruhend auf einer wie auch immer gearteten Auseinandersetzung mit der tradierten Musik sowie mit den Bedingungen dieser Tradierung nicht denkbar ist, beruht die Intentionalität von Unterricht auf der Wahrnehmung einer Differenz zwischen einem bestehenden Zustand und einem, der sein soll, sowie den einschlägigen Entscheidungen über Inhalte und Maßnahmen zu dessen Veränderung. Sie unterscheidet sich darin nicht von der Intentionalität des Lernens, und letztlich dürfte die Erfahrung von Differenz auch das entscheidende Movens für Entwicklungen im Zusammenleben von Menschen sein, die als kulturelle zu bezeichnen wir uns angewöhnt haben. Von zentraler Bedeutung ist, was das Gemeinsame von Musik, Unterricht, Lernen und Kultur fundiert: In allen vier Bereichen sind Entscheidungen zu fällen, die auf Wertvorstellungen beruhen. Dabei werden Kriterien für Qualität in Anschlag gebracht oder entwickelt, und von diesen hängt ab, was erhalten, entwickelt oder verändert, verworfen oder neu auf den Weg gebracht wird. Die Weise, wie dies geschieht und die Inhalte, um die es sich handelt, sowie die Ergebnisse, die so entstehen, bilden den Inbegriff dessen, was hier als Kultur bezeichnet wird. Damit hat Kultur nicht nur die Eigenart eines „dicht gewebten Netzes von Bedeutungsstrukturen, das den einzelnen umfängt“ (Wehler 1998: 9), sondern besteht vor allem auch aus Wertvorstellungen, die mit diesen unweigerlich verknüpft sind und die jedwede Handlungsregel fundieren. Dieses Netz indessen „umfängt“ den Einzelnen nicht einfach; vielmehr ist der Einzelne in dem Maße in das Netz von Bedeutungsstrukturen, Wertvorstellungen und Handlungsnormen dadurch verwoben, dass Bedeutung, Wertschätzung und intentionales Handeln von ihm – freilich in Kom-

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munikation und Interaktion mit den Anderen – erst hervorgebracht werden. Der Begriff „Kultur“ hat damit nicht als Material-, sondern als Handlungsbegriff zu gelten, und kulturelle Unterschiede dürften – wie alle Handlungsdifferenzen – auf Unterschiede hinsichtlich der Verbindlichkeit der Wertvorstellungen zurückzuführen sein. Daher ist besonders in unterrichtlichen Zusammenhängen zu fragen, was von wem aus welchen Gründen erwünscht ist und aus welchen Gründen und in welchen Hinsichten dieses Erwünschte auch für andere so relevant sein könnte, dass es als sinnvoll, wünschenswert oder notwendig gelten kann, diese mit jenem zusammenzuführen. Unterricht an allgemeinbildenden Schulen als eine Veranstaltung, die u.a. den Schülerinnen und Schülern Selbstbestimmung in sozialer Verantwortung ermöglichen soll, hat durchaus die Aufgabe, diese Fragen zu stellen und ihre Beantwortung zu ermöglichen. Mag auch das ästhetische Paradigma zur theoretischen Legitimation von Unterricht in Musik unerlässlich sein (vgl. Kaiser 1998, insb.: 102), so ist doch der Rekurs auf die skizzierten kulturtheoretisch zu beschreibenden Zusammenhänge notwendig, um all jene Inhalte von Musikunterricht zu begründen, die mit Musizierpraxis alleine nicht zu realisieren sind. Das hier zugrunde gelegte Verständnis des Kulturbegriffs als Handlungsbegriff ermöglicht es, die Differenz zwischen dem ästhetischen und dem kulturtheoretischen Paradigma zu überbrücken, da in seinem Horizont Kultur keine zu erschließende, sondern eine immer schon erschlossene ist – fraglich ist nur, welche Kultur für wen als in welcher Hinsicht erschlossen zu gelten hat. Die oben skizziert Differenz hinsichtlich der gesellschaftlichen Positionierung neuer Musik wie auch der musikpädagogischen Positionen beruht auf Differenzen hinsichtlich solcher Wertvorstellungen. Michael Custodis hat die gegenwärtige gesellschaftliche Einschätzung neuer Musik und die Selbsteinschätzung der für sie Verantwortlichen, ferner auch deren Genesis überzeugend charakterisiert: Neue Musik habe sich dauerhaft in einer versorgten Nische des kulturellen Lebens etabliert, und sie „lebt trotz, mit, von und in ihrer sozialen Isolation“ (Custodis 2004: 238). Zentrale Ursache für die Isolation ist das, was den „Kernpunkt des eigenen Selbstverständnisses“ (ebd.: 9) ausmacht: nicht nur ihre Abgrenzung als neue von einer tradierten Musik, sondern die 194

PETER W. SCHATT: UNTERRICHTLICHER UMGANG

Mittel und Techniken, mit denen diese Abgrenzung bewirkt wurde, die Haltung, mit der diese Abgrenzung vorgetragen und durchgesetzt wurde sowie deren Zusammenhang mit massenmedialen, demographischen, ökonomischen und gesellschaftspolitischen Gegebenheiten und Prozessen. In dem Maße, wie u.a. aus Angst vor politischer, medialer, theoretischer oder musikalischer Vereinnahmung der Imperativ der Kompromisslosigkeit es unmöglich machte, ihre Rezeption im Rekurs auf tradierte bzw. erworbene Wahrnehmungsschemata zu vollziehen, wuchs mit der Differenz zwischen ihr und einer Musik, die eben solchen Vereinnahmungsweisen sich andiente oder zumindest anbequemte, die Kluft nicht nur zwischen den Freunden dieser und jener Musik, sondern auch die Emphase, mit der man sich ihr zu- oder von ihr abwandte. Dieser Emphase ist von musikpädagogischer Warte aus zunächst in durchweg positiver Weise Rechnung getragen worden. Zeugten die Gründung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung und dessen Tagungen von Nachholbedarf und regem Interesse, die Arbeiten Michaels Alts von dem Bewusstsein der Notwendigkeit einer zwar vorsichtigen, aber gründlichen Auseinandersetzung mit dem Neuen, so bezog das musikdidaktische Schrifttum der mittleren und späten 1970er Jahre emphatisch positive Positionen bis hin zu der Absicht, den gesamten Musikunterricht von der neuen Musik aus neu zu konzipieren (gemeint ist das Unterrichtswerk „Sequenzen“; vgl. Schatt 2000). Die Verweigerung gegenüber neuer Musik, die sich seit Beginn der 1980er Jahre im Musikleben als Nachlassen jedweden Engagements des Publikums immer deutlicher abzeichnete, fand ihr Korrelat im musikpädagogischen Bereich im Schrifttum wie in der Unterrichtspraxis. Dieter Zimmerschied hat dies nicht nur beschrieben und zu analysieren und zu begründen versucht, sondern hat die Absage in diesem Versuch auch selbst vollzogen (Zimmerschied 1986): Hatte er noch 1974 als Herausgeber der maßgeblichen Schrift „Perspektiven Neuer Musik“ fungiert, konstatierte er 1986 deren Irrelevanz und rechtfertigte die musikpädagogische „Verweigerung“ gegenüber neuer Musik mit ihrer eigenen Verweigerung gegenüber vereinheitlichenden Rezeptionsstrukturen. Solche aber suchte Zimmerschied in Anschlag zu bringen: So sind es vorwiegend Probleme mit der Analyse, die im Zusammenhang mit einer Musik unlösbar scheinen, welche sich anderen als mu195

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siktheoretisch erfassten Gestaltgebungsprozessen verdankt, und Probleme der Interpretation, die in dem Maße wachsen, wie Musik sich einem anderen als dem auf bekanntem Wege zugänglichen Denken verdankt, die von Zimmerschied als zu akzeptierende Gründe für die gesellschaftliche wie musikpädagogische „Verweigerung“ genannt werden. In der Tat liegt genau hier eine zentrale Schwierigkeit jeden Unterrichts, der dem Neuen gewidmet sein soll: In dem Maße, wie die zu erarbeitenden Inhalte sich einem Denken verdanken, dessen Kern darin besteht, vertraute Wege zu verlassen und in ungeahnte Räume von Freiheit – etwa in Form musikalischer Indeterminiertheit oder entlegener philosophischer Ansichten – vorzudringen, geraten die pädagogischen Prinzipien aufbauenden, kontinuierlichen Lehrens und Lernens, die damit verbundene Suche nach Gewissheiten und der berechtigte Wunsch auch nach eindeutigen Ergebnissen auf Treibsand. Der Hiatus zwischen solcher Pragmatik von Unterricht einerseits und dem in neuer Musik exemplarisch und emphatisch ästhetisch verwirklichten, auf das Unbekannte, vom Alten sich lösende Neue gerichtete Impetus anderseits ist allerdings auch Ergebnis differierender Wertsetzungen: Das Bewährte steht gegen das Gewagte, das gesichert Tradierte gegen das Ungesicherte. Werner Klüppelholz hat 1981 genau in Letzterem den auch pädagogisch relevanten Wert Neuer Musik gesehen: in ihrer Potenz, einen historischen Dissens zu vergegenwärtigen, der Zeichen einer Kultur des Aufbruchs im Kontext restriktiven Denkens war. Die gegenwärtige Diskussion über unterrichtlichen Umgang mit neuer Musik hat sich nicht nur mit dem Werteproblem auseinanderzusetzen. Eine damit verbundene, aber andere Problematik entsteht durch die Diversifikation und Pluralität des Gegenstandsbereichs. Längst ist die Rede von „der“ neuen Musik obsolet geworden (vgl. Ballstaedt 2003; Schatt 2004a) – so, wie kaum noch von „der“ Kultur die Rede sein kann (vgl. Schatt 1998, 2004b) –, und ebenso wenig steht die Eigenart des Neuen fest, besteht Einigkeit über dessen Wert – und damit über seine Legitimation und Eignung, an Gegenständen oder Inhalten von schulischem Unterricht vertreten und damit zum potenziellen Gehalt von Bildung zu werden.

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2. Das Besondere in der kulturellen Praxis einer Minderheit Das Besondere an neuer Musik ist allerdings nicht in den sozialen Implikationen und deren Auswirkungen auf kulturell relevante Strukturbildungen – die Herausbildung einer Teilkultur „neue Musik“ – zu sehen: dies hat eher als das Allgemeine an diesem Phänomen zu gelten. Es ist vielmehr in der Eigenart dessen zu suchen, wodurch sie sich von anderer Musik unterscheidet bzw. wodurch ihre Vertreter und Befürworter sich von anderen abgrenzen, in dem nämlich, was den Inhalt – oder genauer: den an den Inhalten erfahrenen bzw. erfahrbaren Gehalt – der kulturbildenden Strukturen ausmacht. Im Begriff des Neuen durchdringen sich in eigentümlicher Weise temporale und qualitative Erfahrungen im Horizont subjektiver und intersubjektiver Einschätzungen. Die Emphase, mit der das Neue vertreten wurde, war lange Zeit mit dem Anspruch begründet, etwas anderes zu überwinden, das damit zugleich zum Alten gehörte – einem Alten, das im Zuge einer dominierenden Fortschrittsideologie fast unmittelbar mit dem Veralteten gleichgesetzt wurde. Insoweit ist der von Thomas Mann in seinem Roman „Doktor Faustus“ vorgetragenen Position zuzustimmen, das Neue sei nur dann angemessen zu würdigen, wenn es im Zusammenhang und vor dem Hintergrund des Alten rezipiert werde – eine Position, die sich unmittelbar mit Theodor W. Adornos Überzeugung berührt, das Material der Musik sei „geschichtlich durch und durch“ (Adorno 1970: 223). Und insofern erscheint die musikpädagogische Position Gottfried Küntzels obsolet, man könne mit der Neuen Musik auch die gesamte alte haben (vgl. Küntzel 1969): Was man allenfalls „haben“ kann, ist eine positivistische Bestimmung der reinen materiellen Oberfläche des Erklingenden, nichts aber von dem, was das Neue oder das Alte als solches auszeichnet. Küntzels Vorstellungen können als Ergebnis eines „naturalistischen Kurzschlusses“ aus einer Bestimmung des Neuen in der neuen Musik verstanden werden, die Carl Dahlhaus zu danken ist. Diese vermerkt das entscheidende Kriterium nicht oder nur begrenzt in der materialen Beschaffenheit des Gegenstands und sie verweist zugleich auf den oben bereits skizzierten Zusammenhang zwischen den Phänomenen und deren Zusammenhang mit

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DIE KUNST DER BILDUNG

einem Denken, dessen Gehalt in charakteristischer Weise ein kultureller ist: „Neue Musik ist weniger ein Reservoir von Materialien und Techniken, deren Gebrauch oder Vermeidung darüber entscheidet, ob ein Komponist ‚dazugehört‘ oder nicht, als vielmehr eine Idee und Institution“ (Dahlhaus 1981: VIII). Während das institutionelle Moment in der Mentalität der Künstler, in der sozialen Situierung des Publikums, in öffentlichen Einrichtungen und Unternehmungen zu suchen sei, kristallisiere sich die Idee im „Wagnis der Rückhaltlosigkeit“ (ebd.) heraus. Demnach ist die Entscheidung darüber, ob etwas neue Musik sei oder nicht, nicht nur von den Begründungen der kompositorischen Akte des Urhebers, sondern vor allem vom ästhetischen Urteil derer, die über hinreichende Erfahrungen mit musikalischer Produktion in Vergangenheit und Gegenwart verfügen, von den diskursiv in Anschlag gebrachten Kriterien und deren Begründung abhängig. Offenbar handelt es sich also bei der Bezeichnung „neue Musik“ um einen auf die Phänomene angewendeten Relationsbegriff, bei dem die ehemals subjektive Erfahrung von Eigenschaften an intersubjektive Erfahrung angeschlossen und mit intersubjektiv geteilten Ansprüchen an die Funktion des Erklingenden, ein Spannungsverhältnis zur Tradition erlebbar werden und zugleich künftige Wege aufscheinen zu lassen, aufgeladen wurde (vgl. Schatt 2001). Paradigmatisch für eine derartige Vorstellung von neuer Musik ist die „imperative“ Verwendung des Begriffs durch Theodor W. Adorno (vgl. Ballstaedt 2003: 25 ff.). In dieser verallgemeinernden Wendung des Individuellen zum historisch und gesellschaftlich Relevanten liegt das für Kultur Verbindliche und das Kultur und neue Musik Zusammenbindende. Das inhaltliche Moment der „Rückhaltlosigkeit“ hat nämlich neben der ästhetischen und historisch Seite auch eine soziale Implikation: Wer auf Rückhalt im Tradierten, Bewährten, gegenwärtig Anerkannten und Gültigen verzichtet, dokumentiert damit sein Ungenügen an dem, was verlassen werden soll und muss mit der Ablehnung derer rechnen, die sich in diesem vergewissern und absichern – kann freilich zugleich auf die Zustimmung und Solidarität derer bauen, die jene „Rückhaltlosigkeit“ ebenfalls befürworten. So, wie das Material der Musik „durch und durch“ geschichtlich ist, hat neue Musik demnach als durch und durch sozial zu gelten. Hier ist an eine Einsicht Adornos zu erinnern: „Die Isolierung der radikalen modernen Musik rührt nicht von ihrem 198

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asozialen, sondern ihrem sozialen Gehalt her, indem sie durch ihre reine Qualität und um so nachdrücklicher, je reiner sie diese hervortreten läßt, aufs gesellschaftliche Unwesen deutet, statt es in den Trug der Humanität als einer bereits schon gegenwärtigen zu verflüchtigen“ (Adorno 1958: 124). In dem Zusammenhang zwischen qualitativen, kompositorisch-inhaltlichen und sozialen Momenten und seiner Begründung ist das Allgemeine zu finden, das neue Musik auszeichnet: Es liegt in der diskursiven Auseinandersetzung über das, was nicht mehr sein und was an seine Stelle treten soll. Das Besondere ist in der jeweiligen Begründung für das auf das Neue wie auf das Alte gerichtete kompositorische Handeln und in der Eigenart dessen, was dadurch jeweils neu konstituiert wird, fasslich. Freilich erschließt sich dieses diskursive, nach Adorno auf Humanität in Form von Freiheit gerichtete Moment eines dem „Stand des Materials“ adäquaten musikalischen Schaffens keineswegs jedem und nicht dem, was Hans Heinrich Eggebrecht das „ästhetische Verstehen“ nannte (vgl. Eggebrecht 1995): „[…] nicht das sinnliche Hören, sondern erst die begrifflich vermittelte Erkenntnis der Elemente und ihrer Konfiguration versichert sich des gesellschaftlichen Gehalts der großen Musik“ (Adorno 1958: 123). Demnach aber ist die kulturelle Praxis, um die es hier geht – eine Praxis, in der um das Gültige, Angemessene, Wahre gerungen wird – eine Praxis der Wenigen, die über einschlägige Qualifikationen und Kompetenzen, d.h. über einschlägige Bildung verfügen, mag es auch eine Praxis sein, deren Allgemeines eigentlich alle angehen sollte. „Durch und durch“ geschichtlich und sozial dürften Material und daraus geformte aufgeführte Musik im emphatischen Sinne nur für den sein, der beides – Material und Musik – erkennend versteht; die anderen bleiben ausgeschlossen von den Inhalten der Erfahrung, die durch dieses erkennend verstehende Denken ermöglicht wird, zugleich aber angeschlossen an das, was immer schon war – sei es auch an den von Adorno beschworenen gesellschaftlichen „Verblendungszusammenhang“, dem sich zu entziehen das Neue ein geeignetes Mittel sein mag. Nimmt man freilich die „Rückhalte“ in den Blick, die im Laufe des 20. Jahrhunderts außer Kraft gesetzt wurden – die Tonalität, das Ganze dessen, was musikalisches Material werden kann, poetische Ansichten darüber, wie etwas entstehen könne, was die Bezeichnung Musik zu Recht trage, der Werkbegriff, das Verhältnis 199

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zur Geschichte – und bedenkt man die Weise, in der diese Positionen entwickelt wurden – nämlich keineswegs sukzessiv, sondern simultan und in völlig unterschiedlichen Konfigurationen, so ergibt sich kein allgemeinen Leitideen zuzuordnendes, sondern ein eher verwirrendes Bild voller Komplexität und Widersprüchlichkeit, dem auch nicht die Vorstellung, alles habe in irgend einer Weise dem „Fortschritt“ gedient, einen gemeinsamen Nenner zu geben vermag. Ihm ist nicht einmal ohne weiteres das Phänomen zuzuordnen, dass im Rahmen der musikalischen Produktion am Ende des letzten Jahrhunderts durchaus das außer Kraft Gesetzte umstandslos und „rückhaltlos“ wieder eingesetzt wurde – man denke nur an den Minimalismus, an die Arbeiten Arvo Pärts, an die „neue Einfachheit“ –, mithin also auch auf den Rückhalt in jener „Rückhaltlosigkeit“ verzichtet wurde, ohne dass feststünde, ob das Ergebnis in einer gealterten neuen Musik, in einer neuen alten Musik oder vielmehr in etwas ganz Neuem bestehe. Gegenwärtig stellt sich auch das Neue an der neuen Musik als ein „geschichtlich sich verändernder Gehalt“ (vgl. Lehrplan NRW 1999: 10) dar. Es ist Gegenstand eines Diskurses, der eher von Bricolage als von Teleologie gekennzeichnet ist, eines Diskurses, in dem ästhetische und sozial-psychologisch zu beschreibende Faktoren sich komplementär durchdringen, ein Diskurs, in dessen Kontext Ideen der Rückhaltlosigkeit, der Überwindung, des Fortschritts zwar virulent, aber nicht verbindlich, sondern quasi rhizomartig so miteinander verbunden sind, dass sich im Konnex ebenfalls mit Momenten des Rückgriffs, der Vergewisserung Inseln, Nischen oder „Plateaus“ des Neuen bilden, die sich durch Gemeinsamkeiten im Unterschiedlichen und durch Differenzierungen des Gemeinsamen ausweisen (vgl. dazu Deleuze/Guattari, 1992).

3. Das Problem des „adäquaten“ Umgangs Eine Bestimmung der Inhalte musikalischer Bildung war und ist in dem Maße problemlos, wie musikalische Produktion ihren „Rückhalt“ in Gestaltungsregeln suchte und fand. Eine solche Bezüglichkeit bzw. Beziehbarkeit von Musik konnte die von Theodor W. Adorno ins Recht gesetzte Idee des „adäquaten Hörens“ fundieren. Zu ihrer Legitimation bedarf es lediglich des Minimalkonsenses darüber, dass Gerechtigkeit gegenüber Anderem und

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Anderen, gegenüber dem, was einem ästhetischen Produkt an Bedeutung zugemessen werden kann und in welcher Weise und in welchem Maße es für andere wichtig ist, walten möge. Das Verstehen, auf das ein derartiges denkendes Hören als Mit- und Nachvollzug der erklingenden Elemente sich richtet – und zwar unter der Maßgabe, zugleich die Gründe dafür zu erschließen, dass sie so und nicht anders erklingen –, kann aus heutiger Sicht als ein Akt quasi interaktiver Bedeutungszuweisung im Kontext von Analyse bzw. daran orientiertem Hören beschrieben werden. Dabei wird – folgt man dem von Alfred Schütz entwickelten Gedankengang – dem polythetisch erscheinenden Phänomen Musik im Zuge monothetischer Akte Sinn in Form von Gestaltvorstellungen und den dazu gehörigen, aus der Analyse stammenden Begriffe zugewiesen (vgl. Schütz/Luckmann 1979: 155ff.), und zwar in der Absicht, zumindest virtuellen Konsens mit anderen herzustellen: mit dem Komponisten, mit anderen Rezipienten. Dies stellt die Voraussetzung für den ästhetischen Genuss, aber auch für die Beurteilung von ästhetischer Gelungenheit und historischem Stellenwert dar. Auf ein solches verstehendes Hören – und nicht auf nebelhafte ästhetische Erfahrungen – muss Musikunterricht sich in dem Maße richten, wie es ihm ein Anliegen ist, Ausdruck kommunizierbar, Bedeutung hervorbringbar werden sowie Geschichte entstehen zu lassen und Gebrauch von Musik verständlich zu machen, um so dem Menschen zur Kulturfähigkeit zu verhelfen: durch als sinnvoll anerkannte Aufnahme von Welt zu seiner Bildung beizutragen. Der dazu unausweichlich notwendige Rekurs auf abrufbare kognitive Schemata ist dazu lediglich Voraussetzung, nicht aber Endzweck: Dieser liegt nicht im Vorbewussten des neuronalen Vollzugs, sondern im Bewusstsein der Vernetzung des derart Abgerufenen mit Anderem. Zum Problem wird eine derart auf Adäquatheit gerichtete pädagogische Intentionalität, wenn auf „Rückhalt“ in regelpoetischen Vorstellungen verzichtet oder eine kompositorische Verfahrensweise angewendet wird, die dazu dient, etwas entstehen zu lassen, dessen Wahrnehmung der Technik seiner Hervorbringung gerade nicht inne werden kann oder soll, Kompositionen also vorliegen, denen „strukturelles Hören“ gerade nicht angemessen, sondern unter der Prämisse einer wie auch immer begründeten Analyse aufgezwungen wäre. 201

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So hätte etwa für Arvo Pärts Komposition „Tabula rasa“ ein adäquates Hören zum einen die kognitiven Schemata, die den musikalischen Elementen und ihrem zeitlichen Verlauf Sinn zuzuweisen möglich machen, erst herauszubilden, und es hätte zum anderen deren „Notwendigkeit“ in doppelter, und zwar paradoxer Sinnhaftigkeit zu deuten: als Ergebnis zwar einer rationalen Operation, die Zahlen auf Tonveränderungen (An- und Abwesenheit, Lage, Richtung, Dauer, Intensität der Töne) bezieht, damit aber einen Freiraum für eine ästhetische Praxis entstehen lässt, die ins Irrationale zielt: ins Kontemplative, in eine nur das Subjekt betreffende Korresponsivität – so jedenfalls ist Pärts eigene Aussage zu deuten, seine Komposition sei ein „Symbol, und jeder Hörer hat das Recht, diese symbolische Fläche entsprechend dem vollzuschreiben, wer er selber ist, welche Probleme er gerade hat" (Pärt, zit. n. Schatt 2004b: 164). Bei einem Werk wie Giacinto Scelsis „Pranam II“ dagegen – um einen anderen Fall heranzuziehen – hätte adäquates Hören der Entfaltung von Musik als einem naturhaft-organischen (und nicht kulturhaft-reflektierten) Klangprozess zu folgen. Bereits eine Analyse und Interpretation, die aufdeckte und bewiese, dass die Musik Ergebnis eines selbstgenügsamen, autonomen ästhetischen Spiels ist und zugleich Anlass für eine solches Spiel sein soll, Anlass zur Praxis des „reinen Geschmacks“ (Bourdieu), wäre „barbarisch“ und der Intention des Komponisten nicht angemessen – wenn auch adäquat der übergeordneten kommunikativen Situation des Werks im Horizont von Gesellschaft und Geschichte. Solche Phänomene neuer Musik machen – vor dem Hintergrund der hier explizierten Bestimmung von Unterricht – auf die Notwendigkeit aufmerksam, aus pädagogischer Sicht den Begriff der „Adäquatheit“ mit anderem als dem von Adorno gedachten Sinn zu füllen. Bei der Frage nach Angemessenheit kann nicht nur der Maßstab des erklingenden oder komponierten Etwas angelegt werden, sondern ist auch der kulturellen Situation des Menschen Rechnung zu tragen. Mithin zählt nicht die Fähigkeit des Mit- und Nachvollzug musikalischen Sinns alleine, sondern die Fähigkeit, diesen in Auseinandersetzung mit Anderen begründet an Phänomene der Welt anzubinden. Dem Vorgang des Komponierens adäquat wäre ein Akt des Mit- und Nachvollzugs, der sich der Muster des Wahrnehmens, Orientierens, Denkens, Fühlens, Wertens und Handelns, denen das Gehörte sich verdankt, inne ist als 202

PETER W. SCHATT: UNTERRICHTLICHER UMGANG

Gegenstand einer Auseinandersetzung, die der Entstehung von Neuem galt: Ein solcher Akt der Bedeutungszuweisung wäre den Modalitäten der Prozessualität angemessen, in der Kultur sich artikuliert. Ein Unterricht, der solche Akte ermöglicht und fördert, wäre wissenschaftspropädeutisch ausgerichtet: Sofern sich nämlich – folgt man einem Worte Max Webers – die Wissenschaften auf die Deutung der Welt und nicht bloß auf deren Anschauung richten, sind primär nicht die „sachlichen Zusammenhänge der Dinge, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme“ (Weber 1904/1988: 180 f.) ihr Thema. Der unterrichtliche Umgang mit Musik – in Rezeption wie in Produktion – in der oben skizzierten Form wäre geeignet, deutlich werden zu lassen, als Lösung welchen Problems sie jeweils zu gelten hätte und könnte sie somit in einer Weise, die sowohl ihrer Genesis als auch ihrer Geltung – und zwar in subjektbezogener und in wissenschaftlicher Hinsicht – adäquat ist, nicht nur als Objektivation, sondern auch als Inhalt von Kultur erscheinen lassen.

4. Vom kulturellen Wert des ästhetischen Experiments Mit dem hier explizierten Kulturverständnis gewinnt Michael Alts Forderung von 1968 an Gewicht, die Entwicklung der neuen Musik im Auge zu behalten und ihre „Entwicklungstendenzen und Schaffensmodelle“ im Unterricht zu berücksichtigen, um „die Jugend auf das Jahr 2000 zu erziehen“ – und zwar dadurch, dass ihr „der grundsätzliche Wandel der Komposition ebenso wie die neuen Wege der Musikauffassung, insbesondere aber das Prinzip der historischen und pluralistischen Vielstimmigkeit der Musikanschauung aufgegangen sein“ sollte (Alt 1968: 232). Geht man davon aus, dass „Musikanschauung“ eine auf den spezifischen Gegenstand Musik gerichtete Spielart des „Zeitgeistes“ – des gemeinsamen Nenners von Wertvorstellungen, Intentionen und Handlungsnormen in einem begrenzten räumlichen und zeitlichen Rahmen – ist, so plädierte Alt offenbar für ein auf gleichermaßen an synchroner wie diachroner Sichtung musikalischer Phänomene beruhendem Musikverstehen als einem bestimmten Modus der Teilhabe an Musikkultur. Ungelöst bleiben dabei zwei Probleme: zum einen das Problem der Befähigung zum hörend-

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verstehenden Mitvollzug von etwas, das als Ergebnis eines „grundsätzlichen Wandels“ in Erscheinung tritt; zum anderen das Problem der Auswahl von Musik, an der die „historische und pluralistische Vielstimmigkeit“ im Unterricht zur Geltung gebracht werden kann. Alts Lösungsvorschlag für Letzteres – der Rekurs auf das Exemplarische, Typische und Repräsentative – kann in Anbetracht der Verfasstheit gegenwärtiger Musikkultur noch weniger greifen als schon zu seiner Zeit: Insoweit für sie eine vielfältige Diversifizierung im Spannungsfeld konträrer, sich in der Haltung mehr oder weniger fundamental und erst recht in der materialen Ausgestaltung phänomenal widersprechender Richtungen typisch ist (vgl. Schatt 2004a), mag zwar noch die Kategorie des Exemplarischen, nicht aber die des Repräsentativen relevant sein. Insofern sind auch jene didaktischen Ansätze, die sich mehr oder weniger einseitig einer bestimmten Haltung verpflichteten, nicht mehr tragfähig – sei es der von Werner Klüppelholz entfaltete, der das revolutionäre Potenzial in einschlägigen neuen musikalischen Hervorbringungen als Modell für weit über den Unterricht hinausreichendes gesellschaftliches und politisches Denken ins Werk zu setzen trachtete (vgl. Klüppelholz 1981), sei es die in „Sequenzen“ vertretene Position einer ahistorischen, auf zeichentheoretischer Grundlage Musik „entschlüsselnden“ und so erschließenden Wahrnehmung (vgl. Frisius 1972). Eine Lösung zeichnet sich dagegen in denjenigen Vorschlägen ab, die subjektive Hörerfahrung und intersubjektive Musikerfahrung – kondensiert zu (musik-)ästhetischen und (musik-)geschichtlichen Positionen – gleichermaßen und in einem durch Unterricht herzustellenden Zusammenhang zu berücksichtigen und zu ermöglichen suchen. Hier ist zu allererst an den freilich betagten, aber keineswegs irrelevanten Entwurf von Heinz Antholz zu denken, der Unterricht in Musik als Veranstaltung zur Ermöglichung von Musikkultur – er nannte dies „Introduktion in Musikkultur“– formatierte (vgl. Antholz 1972). Antholz unterschied dabei zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Musikkultur. (Geht man davon aus, dass als „objektive Musikkultur“ das zu bezeichnen wäre, was Menschen einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Raum im Zusammenhang mit Musik zu tun für sinnvoll halten sowie die Gegenstände, an denen diese Sinnhaltigkeit sich bewährt, so wäre besser von intersubjektiver Musikkultur die Rede.) „Subjektive Musikkultur“ wird nach 204

PETER W. SCHATT: UNTERRICHTLICHER UMGANG

Antholz durch „Hörwissen“ und „Hörgewissen“ konstituiert. Als „Hörwissen“ hat aus heutiger Sicht das spezifisch im Medium des Erklingenden, das musikalisch Gelernte zu gelten, das nach Antholz durch „hörendes Werken“ und „Werkhören“ (damit alle angeblich neuartigen aktuellen Vorschläge für „Grundmusikalisierung“ (vgl. z.B. Bähr u.a. 2001) vorwegnehmend) zu erwerben ist. Im Begriff des „Hörgewissens“ ist bei Antholz in hellsichtiger Weise der zentrale Gehalt dessen, was heute gerne mit „Kulturerschließung“ bezeichnet wird – einem irreführenden Begriff, setzt er doch die Differenz zwischen dem zu Erschließenden und dem Erschließenden voraus (vgl. Schatt 2004 c) – aufgehoben. Antholz‘ Begriff bringt Bewertungen, Maßstäbe, Regeln und Ordnungen in Zusammenhang mit Hören. Versteht man nämlich unter Gewissen die Fähigkeit, gut und schlecht, richtig und falsch beurteilen zu können, so handelt es sich um eine Kategorie, die ästhetische Qualität mit ethischem Denken verknüpft, eine Kategorie, zu deren Verwirklichung die Verknüpfung von formalen und inhaltlichen Aspekten notwendig ist: Die Realisierung von Hörgewissen setzt Bildung voraus – eine Bildung, die sich in dessen Erwerb konstituiert. In dieser Kategorie stellt sich das Problem der Werte. War es für Antholz noch im Rekurs auf eine als „objektiv“ verstandene Musikkultur lösbar, so wird es heute zwar in dem Maße schwierig, wie normative Poetiken nicht mehr verbindlich sind und „der“ Stand des „Materials“ – im Sinne Adornos – bestenfalls in seiner Unbestimmtheit zu bestimmen ist, bleibt aber in dem Maße relevant, wie Musik für Unterricht auszuwählen ist und damit – implizit oder explizit – als wertvoll bzw. verbindlich in den kommunikativen Kontext gerät. Dies gilt auch für „hörendes Werken“, das heute – sofern es sich nicht auf Einübung von Bekanntem, sondern auf Hervorbringung von Neuem richtet – als „musikalische Gestaltungsarbeit“ wiederzufinden ist. Nicht erst Ortwin Nimczik, sondern bereits Gertrud Meyer-Denkmann hat den doppelten Sinn – die Hervorbringung musikalischen und sozialen Sinns durch gemeinsames musikalisches Gestalten – erkannt. Grundlage für diese Einsicht war für Letztere eine kulturelle Erfahrung: „Die Formfrage kann nicht absolut gesehen werden, sie schließt nicht nur die Frage nach geschichtlicher und kompositorischer Relevanz ein, sondern auch die nach einem gesellschaftlichen Bewußtsein“ (Meyer205

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Denkmann 1972: 60). Während sich bei ihr die Frage nach dem, was im gesellschaftlichen Bewusstsein und in historischer wie kompositorischer Hinsicht als wertvoll darstelle, aus der bloßen Existenz einschlägiger Kompositionen beantwortet – die Klangarbeiten also in normativer Weise auf nichts Anderes als auf den Nachvollzug dessen ausgerichtet sind, was in Kompositionen bereits vorliegt –, bleibt sie bei Nimczik prinzipiell offen, weil alle Entscheidungen letztlich von den Schülern zu treffen und zu verantworten sind. Damit kann dasjenige, was hervorgebracht wird, den Charakter eines nicht nur ästhetischen, sondern im Zusammenhang damit auch kulturellen Experiments gewinnen. Der Gehalt derartiger Experimente besteht in der Ermöglichung dessen, was den Kern der ursprünglichen Wortbedeutung, enthalten noch im „expiriri“, ausmacht: durch Erkundung eine Erfahrung zu machen. Voraussetzung allerdings ist, dass die Gestaltungsaufgaben von Problemen ausgehen, die auf eingefahrenen Wegen nicht zu lösen sind. Soweit es bei Gestaltungsaufgaben also nicht um die einfache Realisierung von tradierten Ordnungen, sondern um die Auseinandersetzung mit ihnen und die Konstituierung von neuen geht, unterliegt das Produkt in dem Maße dem Experiment der Gelungenheit, wie der Rückhalt im Bewährten zugunsten der Ermöglichung der Emergenz von Neuem aufgegeben wird. Dazu allerdings wäre eben jener Diskurs im Unterricht in Kraft zu setzen, dem außerhalb der Schule die Kraft für die Hervorbringung von Neuem zu danken ist: ein Diskurs, der Möglichkeiten statt Notwendigkeiten akzeptiert, der dafür plädiert, unbekannte Wege zu gehen statt nur auf sichere Ergebnisse zu zielen, der Bewegtheit statt Stagnation befürwortet und für den Veränderung Ausdruck eines fundamentalen menschlichen Potenzials ist. Ein solcher Diskurs im Zusammenhang mit Gestaltungsexperimenten wäre „Introduktion in Musikkultur“ insofern, als er subjektive Hörkultur im Horizont von Hörwissen und Hörgewissen an intersubjektiv gültige Musikkultur durch argumentative Auseinandersetzung um die Gelungenheit des Hervorzubringenden anschlösse.

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5. Unterricht in neuer Musik als kulturelle Praxis Eine der Differenzen zwischen Musikunterricht und Musikkultur scheint darin zu bestehen, dass Unterricht Sorge für gerade jenen Rückhalt zu tragen hat, auf den zu verzichten das Wagnis neuer Musik darstellt. Die Differenz ist aber eine scheinbare, bezieht sich doch der „Rückhalt“, zu dessen Herausbildung Unterricht betragen soll, auf die kognitive Fundierung der Kompetenzen von Lernenden, während der Verzicht, der das im emphatischen Sinne „Neue“ garantieren soll, sich auf in Material und Technik greifbare Phänomene sowie deren historische und gesellschaftliche Implikationen richtet. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass Musikunterricht nicht identisch ist mit Musik-Lernen bzw. -Lehren. Und am Beispiel neuer Musik zeigt sich, dass durch Bildungsprozesse gerade dasjenige wieder fraglich oder fragwürdig erscheinen kann, was durch Lernen angeeignet wurde. Im Innersten allerdings hängt beides, der kulturelle und der unterrichtliche Prozess, zusammen: So, wie der Mensch des Rückhalts in der Erfahrung musikalischen Materials bedarf, bedarf Unterricht des Rückhalts in der Erfahrung von Musikkultur – sei es auch in deren Verzicht auf Rückhalte. Und so, wie der Verzicht auf Absicherung in bewährtem Material und tradierter Technik in neuer Musik zum Wagnis wird, weil damit gerechnet werden muss, dass der musikalische Sinn einer derartigen Komposition unverstanden bleibt, da dem Publikum die kognitive Ausstattung zu einer angemessenen, den Gang der Klänge mitvollziehenden Rezeption fehlt, hat Unterricht die Möglichkeit, einem derartigen Unverständnis vorzubeugen, indem er unter anderem dazu beiträgt, für eben jene Ausstattung zu sorgen, die ein Verstehen ermöglicht. Alles, was passiert, wenn die Fähigkeit zum sinngebenden Mitvollzug von Musik – sei es in der Öffentlichkeit, sei es im Unterricht – nicht gegeben ist, ist nur partiell vorherzusehen, ist Gegenstand eines ästhetischen Experiments. Die Durchführung derartiger Experimente gehört zu den Praktiken, mit deren Hilfe Werte und darauf beruhende Normen auf den Prüfstand gestellt werden, mit denen Veränderungen hervorgebracht werden, aus denen neuer Sinn des Zusammenlebens entstehen kann – Praktiken, in denen Kultur im ästhetischen Handeln verwirklicht wird. Wenn auch zu fragen ist, ob bzw. in welcher Form eine derartige

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DIE KUNST DER BILDUNG

Praxis der Veränderung und experimentellen Problematisierung in den Unterricht gehöre, also an junge Menschen herangetragen werden solle, die nach dem noch suchen, was von anderen bereits in Frage gestellt wird (vgl. dazu Schmidt 1975), so ist doch festzuhalten, dass ein derartiger Unterricht nicht der Widerpart kultureller Praxis, sondern deren Vorbereitung – mehr noch: deren Ort wäre. Geht man davon aus, dass es zu jener „verständigen Musikpraxis“, in die eine „usuelle“ überführt werden soll (Kaiser 2001: 95), gehört, auch das Selbstverständliche in seiner Bedeutung und Bedeutsamkeit für das Subjekt und für Andere zu verstehen, und zwar u.a. als etwas, das zu ändern möglich und vielleicht sinnvoll ist, so kann Unterricht sich als Veranstaltung konturieren, die sich als Pendant und zugleich in komplementärer Weise zu „Kultur“ entfaltet: indem in ihm Kultur reflektiert und zugleich durch die Weise, wie dies geschieht, verwirklicht wird. Renate Girmes hat auf einen engen Zusammenhang zwischen Innovation – ihr ist die Hervorbringung neuer Musik per se zutiefst verpflichtet –, Kultur und Unterricht aufmerksam gemacht. Im Kontext einer Situation, in der das Zusammenleben der Menschen und die Regeln, nach denen sie diese gestalten – eben ihre Kultur –, von der Möglichkeit, „auf alles an Wissen, Können, Traditionen zuzugreifen, was weltweit existiert, und Wissen, Können und Traditionen aus allen Regionen der Welt auf vielfältigste Weise neu zu verknüpfen“ (Girmes 2002: 4), zugleich aber von einer umfassenden Wertunsicherheit gekennzeichnet ist (vgl. Bildungskomission1995: 105), weist sie mit Recht auf die Notwendigkeit hin, die Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung zu fördern: „Eine heutige Gestaltung von Lernen und Lehren, von Wissensaneignungs- und Bildungsmöglichkeiten wird – wenn sie auf der Höhe ihrer Aufgaben sein will – die Übernahme dieser Verantwortung der Menschen für sich selbst unterstützen müssen. Und sie wird einen Weg finden müssen, die verfügbaren Traditionen und Wissensbestände den Lernenden zu vermitteln, ohne sie darunter zu ‚begraben‘“ (ebd.). Für den Musikunterricht hieße dies, dass in ihm die Erfahrung der Verantwortung des Einzelnen für den Wert und den Zweck des eigenen musikalischen Handelns im gesellschaftlichen Kontext, also in Kooperation und in begründeter Auseinandersetzung mit Anderen, ermöglicht werden muss. Mit Blick auf die gegen208

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wärtige und zukünftige Verfasstheit von Musikkultur ist dies die Verantwortung für die Sicherung und Erhaltung einer DiskursKultur mit aller nötigen Offenheit, aber auch mit Rücksicht auf die gerade bei dieser Offenheit für ein verständiges Handeln notwendige Begründbarkeit der einzelnen Positionen. Musikunterricht hätte demnach bei allem Verzicht auf normative und dogmatische Ästhetik die Restnorm zu befolgen, dass er jene Diskurs-Kultur, der neue Musik sich verdankt, in materialer wie formaler Hinsicht in sich aufzunehmen hat. Ein Mittel dazu ist der oben skizzierte Rekurs auf das ästhetische Experiment in Produktion wie Rezeption von Musik, bei dem der Weg, sich aufmerksam und (selbst-) reflektierend dem Anderen zuzuwenden und dabei erste Bedeutungszuweisungen zur Disposition zu stellen in der Gewissheit, im Ungesicherten nicht ungesicherten Bewertungen ausgesetzt zu sein, das Ziel, Offenheit für die Qualität des Ästhetischen als Bereicherung des Lebens zu gewinnen, zumindest näher rücken lässt. Was für die Umgangsweise der Produktion von Musik gilt, ist auch für die Rezeption zu bedenken. Eine thematische Akzentuierung des auf Veränderung zielenden Moments des Neuen – an einem Werk und mit Blick auf die Schülerinnen und Schüler – kann dessen Herausforderung an die Rezeptionsmöglichkeiten und -gewohnheiten – und damit auch die Chancen, neue Erfahrungen positiver Art nicht nur zu machen, sondern auch kategorial zu erfassen – den Schülerinnen und Schüler bewusst werden lassen.

6. Ausblick: Zur Bildungsrelevanz kultureller Praxis im Musikunterricht Das Neue, das Schülern vermittels einer ihnen neuen Musik erscheint, ist etwas Anderes als das an neuer Musik Neue: Konturiert es sich hier durch intersubjektive Geltung im Horizont von Geschichte und deren Beurteilung und Bewertung im Konsens über Kriterien und Ansprüche an Material, Form und Gehalt, so wird es dort aufgrund subjektiver Geltung im Horizont des Bekannten und der entsprechenden kognitiven Schemata konstituiert. Bildung hat die Funktion und den Inhalt, den Austausch zwischen den Bereichen des Subjektiven und des IntersubjektivGesellschaftlichen zu vollziehen, und zwar durch Verständigung zwischen Subjekten. In der Form schulischen Unterrichts ist diese

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Verständigung institutionalisiert. Will er seinem Auftrag gerecht werden, hat er die Strukturen, die im intersubjektiv-gesellschaftlichen Bereich relevant sind, in sich aufzunehmen. Dazu gehört an zentraler Stelle die argumentative Auseinandersetzung mit ästhetischen Wertvorstellungen und den daraus resultierenden normativen Vorgaben für das musikalische Material und seine Gestaltung. In dem Maße, wie im Unterricht selbst subjektive Praxen auf intersubjektive bezogen und das jeweils als gültig Erkannte nach Maßgabe möglicher Konsensbildung erörtert wird, kann er selbst zum Ort einer Musikkultur werden, deren Verpflichtung auf Kunst und deren Bezug zur Gesellschaft Thomas Mann seinen Protagonisten Adrian Leverkühn in hellsichtiger Weise folgendermaßen umreißen ließ: „die Zukunft wird in ihr, sie selbst wieder in sich die Dienerin sehen an einer Gemeinschaft, die weit mehr als ‚Bildung‘ umfassen und Kultur nicht haben, vielleicht aber eine sein wird“ (Mann 1947: 323).

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Eckart Liebau

Ästhetische Bildung und Schulentwicklung

1. Die Kultivierung des Lernens Im Mittelpunkt der öffentlichen Debatten über die allgemeinbildende Schule steht meist ein einziges Argument: Schule soll für Beruf und Studium vorbereiten; sie soll die Schüler dazu qualifizieren, sich den künftigen Arbeitsanforderungen einschließlich der mit ihnen verbundenen Lernaufgaben stellen zu können. Die Schule soll also ökonomisch nützliche Qualifikationen erzeugen; die Anforderungen der (Erwerbs-)Arbeitsgesellschaft stehen eindeutig im Zentrum. Unter Bedingungen der Modernisierung verschieben sich dabei zwar die Akzente – heute wird nur noch selten mit den klassischen Sekundärtugenden, umso häufiger dagegen mit den neuen Arbeitstugenden, den Schlüsselqualifikationen argumentiert –, aber der funktionale Zusammenhang zwischen Schule und Gesellschaft wird davon kaum berührt: Nach wie vor geht es um selektive Qualifikation im Interesse einer möglichst optimalen Passung zwischen – künftig erwartbaren im Kern ökonomisch bestimmten Qualifikationsanforderungen und schulischen Qualifikationsleistungen. Vor dem Hintergrund allfälliger Standortdebatten in der globalisierten internationalen Konkurrenz zählt in dieser Debatte nur der Qualifikationsoutput. Diese Argumentation steht ganz in der Tradition der Aufklärung, insbesondere im Sinne ihrer Nützlichkeits- und Brauchbarkeitstradition der Befleißigung und Verselbstständigung des Bürgers (vgl. Mack 1999). Auch dieses utilitaristische Ansinnen hat sein Recht, bis heute. Aber die Schule als der Ort, in dem und an dem man etwas zum ersten Mal lernen kann und soll, muss für die Lebensführung und Lebensbewältigung insgesamt qualifizieren: für die produktive und rezeptive Teilhabe an Arbeit, Politik, Kunst und Kultur, Wissenschaft, Religion und Alltag und für den Umgang mit dem, was einem dabei unvorgesehen geschieht und geschehen kann. 215

DIE KUNST DER BILDUNG

Genau das heißt: „Leben lernen“. Damit kommen zugleich die anderen, die nicht-utilitaristischen Begründungsmuster der modernen Schule wieder stärker ins Spiel, also die politischemanzipatorische Tradition der Aufklärung, der Bildungsidealismus und die romantische Tradition der Entfaltung des inneren Menschen (vgl. Liebau 1999). Erziehungstheoretisch, also in der Tradition der Aufklärung, interessiert dabei der Weg von der Unmündigkeit des Kindes zur Mündigkeit und Brauchbarkeit des Erwachsenen; bildungstheoretisch, in der Tradition des idealistischen Neuhumanismus, interessiert die Förderung der Bereitschaft zu lebenslanger Arbeit an der Differenz zwischen objektiver und subjektiver Kultur; entfaltungstheoretisch, in der Tradition der Romantik, interessiert die Förderung der je individuell unverwechselbaren Subjektivität und der subjektiven Ausdrucksmöglichkeiten. Zwar lassen sich die Theorien nicht ohne weiteres den gesellschaftlichen Praxisfeldern zuordnen. Dennoch lassen sich Schwerpunkte ausmachen: das Erziehungskonzept der Aufklärung hat offensichtlich eine große Nähe zu den Bereichen Arbeit, Politik und Wissenschaft, das Bildungskonzept des Neuhumanismus betrifft besonders die Bereiche Politik, Kunst und Kultur sowie Wissenschaft, das romantische Konzept der Entfaltung der Person ist besonders eng mit den Bereichen Kunst und Kultur, Religion und Alltag verknüpft. Die Antwort auf die Frage nach der Kultivierung des Lernens fällt je nach zugrunde gelegtem Paradigma anders aus: x Dass der Bezug auf die berufliche Praxis in der Schule sträflich vernachlässigt werde, ist ein alter Topos der pädagogischen Diskussion in der utilitaristischen Linie der Aufklärungstradition. Die politische Erziehung wird seit eh und je in der emanzipatorischen Linie dieser Tradition angemahnt; der Aufklärungsrationalismus führt darüber hinaus konsequenterweise zur Forderung und Förderung wissenschaftlicher bzw. wissenschaftsorientierter Bildung. Politische und ökonomische Autonomie des Bürgers können nur vor dem Hintergrund selbstständigen Verstandes- und Vernunftgebrauchs gedacht werden: dieser soll durch Erziehung ermöglicht werden. Die bürgerlichen Zwecke stehen also im Mittelpunkt. Mit der erreichten Mündigkeit und Brauchbarkeit des Erwachsenen ist die Erziehung dann auch beendet. Heute ist dieses Verhältnis prekär, die Brauchbarkeit muss arbeitslebenslang erneuert 216

ECKART LIEBAU: ÄSTHETISCHE BILDUNG UND SCHULENTWICKLUNG

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werden. Was das für die Mündigkeit heißt, ist eine durchaus offene Frage. Das politische Bildungsziel des Neuhumanismus ist allgemeiner; hier steht das Humanitätsideal im Zentrum. Nicht nur die Politik, auch Kunst und Kultur und die Wissenschaft sollen auf dieses Ideal verpflichtet werden. Die Schule soll nur die ersten Schritte auf dem Weg zur allgemeinen Menschenbildung eröffnen: Bildung ist in diesem Konzept ein lebenslanger Vorgang der Vervollkommnung im ästhetischen und politischen Sinn, hat also kein definierbares Ende. Das ist etwas vollkommen anderes als die zumeist rein utilitaristischen, qualifikationsbezogenen Konzepte lebenslangen Lernens. Die bürgerlichen Zwecke in Ökonomie und Politik werden zwar durchaus als nun einmal gegebene Notwendigkeiten anerkannt; sie haben jedoch nicht mehr als dienende Funktion für die übergeordneten Ziele der Beförderung der Humanität – und dies keineswegs nur auf der Ebene der universal gedachten Kultur, sondern auch auf der Ebene des Alltags, in der sozial die Kultivierung von Geselligkeit, Freundschaft, intellektuellem Austausch, individuell die proportionierlich-harmonische Ausbildung aller Kräfte (Humboldt) die eigentlichen Motive bilden. Das romantische Konzept rückt demgegenüber die Innenwelt des Menschen, die Entwicklung und Entfaltung der Seelenkräfte in den Mittelpunkt. Die frühen Romantiker sehen den durch Erziehung und Bildung bewirkten Verlust der Vollkommenheit des Kindes; sie sehen die Zerstörung des kindlichen Paradieses und begeben sich deshalb auf die Suche nach der zweiten Kindheit, dem Glück und dem Paradies – und zwar in der Gegenwart und der Gegenwärtigkeit. Im Kind suchen sie den vollständigen, den nicht-entfremdeten, gesellschaftlich nicht deformierten Menschen. Dementsprechend rückt das Spiel des Kindes als ästhetisches Phänomen in den Mittelpunkt des romantischen Nachdenkens über die menschliche Entwicklung und ihre Idealität. Es thematisiert dabei die unverwechselbare Eigenheit, die einzigartige, an den Leib gebundene Individualität jedes einzelnen Menschen als eine zentrale pädagogische Herausforderung. Kunst und Kultur, Religion und Alltag stehen hier im Dienst der Entfaltung des

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inneren Menschen. Nicht zufällig ist mit Schleiermacher ein Romantiker der zentrale Denker der „Zeit“ in der Pädagogik. Es ist offensichtlich, dass diese Paradigmen auch die gegenwärtigen Auseinandersetzungen über den Sinn und die Aufgaben der Schule und die in ihr zu vermittelnde Bildung bestimmen. Je nach Grundoption rücken die Erziehung, d.h. Qualifizierung zur Arbeit, zur Politik und zur Wissenschaft (Aufklärung), die allgemeine Menschenbildung, d.h. die am Ideal der Humanität orientierte ästhetische, wissenschaftliche und politische Bildung (Idealismus), oder die Entfaltung der Person, d.h. die Wahrnehmung der Gegenwärtigkeit und die Entwicklung des inneren Menschen und seines Glücks (oder auch: Unglücks) (Romantik) in den Mittelpunkt. Zu den Paradigmen passend haben sich im Lauf der Zeit auch korrespondierende erziehungswissenschaftliche Forschungs- und Reflexionsformen ausgebildet: zum Aufklärungsparadigma passen insbesondere die (quantitative) empirische Bildungsforschung, sei es als Qualifikations-, sei es als Institutionsforschung oder auch als Sozialgeschichte; im Zentrum stehen die Gesellschaft und ihre Institutionen. Zum Bildungsparadigma passen insbesondere die Erziehungs- und Bildungsphilosophie und kulturpädagogische Konzeptionen sowie geistes- und kulturgeschichtliche Ansätze; im Zentrum stehen die objektive und die subjektive Kultur sowie die Entwicklung ihres Verhältnisses. Dem romantischen Paradigma entsprechen am ehesten die anthropologisch, entwicklungspsychologisch oder psychoanalytisch orientierten, subjektzentrierten qualitativen Ansätze in der Sozial- und Kulturforschung; im Zentrum steht der einzelne Mensch und seine Entwicklung einschließlich seiner unbewussten, ambivalenten und unberechenbaren affektiven Haltungen, seiner Sehnsucht, Hoffnung, Wünsche und Ängste, seiner aggressiven Impulse, Gewaltpotentiale etc. Jede Position kritisiert dabei prinzipiell jede andere; das Ergebnis kann also immer nur eine je historisch spezifische Balance sein, je nach Stand der Kräfteverhältnisse. Man kann das auf der Ebene allgemeiner pädagogischer und bildungspolitischer Auseinandersetzungen ebenso verfolgen wie auf der Ebene der Entwicklung der Lehrpläne oder auf der Ebene konkurrierender Di-

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daktiken. Man könnte die Geschichte der neuen Pädagogik jedenfalls in Deutschland als Kampf der drei Linien rekonstruieren. Mit der Modernisierung der Gesellschaft verändern sich auch die Aufgaben der Schule: die politische Erziehung, die allgemeine Menschenbildung und die Entfaltung der Person gewinnen in dem Maße stärkere Bedeutung, in dem das nur auf die Qualifikation zur Arbeit zielende utilitaristische Begründungsmuster an Plausibilität verliert. Dass dieses Muster völlig unzureichend ist, ist evident. Wenn die Schule für das Leben bilden soll, kann und darf sie sich nicht nur auf einen einzigen, zwar gewiss zentralen, aber für die Mehrheit der Bevölkerung inzwischen doch nur noch recht begrenzten Teil der Lebenszeit und der Lebenspraxis beziehen (v. Hentig 1993). Was sollen die Menschen eigentlich in den schon rein quantitativ weit überwiegenden Teilen ihrer außerberuflichen Lebenszeit tun? Und was sollen die tun, die gar nicht in das System der Arbeit integriert werden oder aus den verschiedensten Gründen aus ihm herausfallen? Allein diese Fragen verdeutlichen bereits, dass gerade die bisher vernachlässigten Ziele besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Denn es ist klar, dass die außerberufliche Lebenszeit viel stärker als bisher in den Horizont der Bildungsaufgaben rücken muss: Familie und private Lebensformen, soziales und politisches Engagement auch in Ehrenämtern, Kunst und Kultur, Freizeit und Geselligkeit, Sport und Gesundheit, Kindheit, Jugend und junges und altes Alter. Dafür braucht man insbesondere ästhetische und politische Bildung. Die Ästhetische Bildung kann nur durch Praxis, nur durch Erfahrung ermöglicht werden, produktionsästhetisch durch eigene Produktion, rezeptionsästhetisch durch aktive Rezeption, werkästhetisch durch die Auseinandersetzung mit der Qualität und der Bedeutung von Kunstwerken. Auch dazu ist die Schule da. Die Aufgabe besteht also nicht nur in der pädagogischen Kultivierung des Lernens, sondern zugleich in der pädagogischen Kultivierung der Schule.

2. Die Kultivierung der Schule Sieht man sich die Schulentwicklungsdiskussion an, so findet man in ihr eindeutig eine Dominanz des Aufklärungsparadigmas in der utilitaristischen Version. Es geht um Aufklärungs- und Innovationsprozesse, deren Hintergrund organisationssoziologische

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Theorien, insbesondere Theorien der lernenden Organisation, konstruktivistische didaktische Konzepte und schließlich systemtheoretisch orientierte bildungspolitische Steuerungskonzepte bilden. Die Hoffnungen richten sich darauf, dass Organisationsentwicklung, Personalentwicklung und Unterrichtsentwicklung in einem Prozess der zugleich institutionellen und personalen Selbstveränderung zusammenfließen und insgesamt zu einer entscheidenden Qualitätsverbesserung der Schule führen. Dabei soll der Selbstaufklärung mittels Evaluation zentrale Bedeutung zukommen (Rolff 2000). Man muss sich nur diesen theoretischen und konzeptionellen Hintergrund vor Augen führen, um zu erkennen, dass ein solcher Ansatz für eine pädagogische Kultivierung der Schule völlig unzureichend bleibt, auch wenn er für manche Teilaspekte durchaus nützlich sein kann. Denn auch bei der Kultivierung der Schule kommt es auf die Verbindung und Vermittlung der drei Paradigmen an. In der Schulpraxis finden sich dementsprechend in der Regel ziemlich bunte, von Schule zu Schule unter Umständen stark differierende Mischungen. Die pädagogische und didaktische Schul- und Unterrichtsentwicklungsdiskussion hat ihren Niederschlag in zahlreichen, meist reformpädagogisch inspirierten Konzepten mehr oder – überwiegend – weniger neuer Vermittlungs- und Aneignungsmethoden gefunden, die, bei im einzelnen unterschiedlicher Akzentuierung, ausnahmslos auf eine Stärkung produktiver und eine Schwächung rein rezeptiver Lernformen hinauslaufen. Praktisches Lernen, handlungs-, erfahrungs-, projekt- oder schülerorientierter Unterricht, offener Unterricht, Lernen durch Lehren bilden hier prominente Ansätze. Immer geht es darum, die Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit der Schüler zu fördern. Über die Grenzen der Schule hinaus weisen Ansätze der Community Education. Die Schule gewinnt an Bedeutung als Ort der ökonomischen und politischen Bürgererziehung, als wissenschaftlicher Ort bildender Erkenntnis, als ästhetischer Ort der Entfaltung der Subjektivität (Fauser u.a. 1983; Flitner 1992; v. Hentig 1993; Liebau 1999; Riegel 2005 u.v.a.). Solche Ansätze bieten nicht nur eine unerschöpfliche Fülle praktischer Anregungen, sondern sie sind auch systematisch im Blick auf die Kultivierung der Schule wichtig: x Sie orientieren sich ästhetisch. Die Entwicklung der Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen durch und im Medium der Künste stellt ein zentrales Merkmal der schulischen Arbeit dar. 220

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Sie fragen nicht nur nach der Zukunft der Schüler, sondern vor allem nach der Gegenwart; sie wollen gegenwärtiger Lebensund Erfahrungsraum sein und den Alltag kultivieren. Hier ist das Lernen so weit, wie überhaupt möglich, in sinnvolle Verwendungs- und das heißt auch: Verwertungszusammenhänge eingebunden. Sie zeigen ausnahmslos einen neuen Umgang mit Raum und Zeit in der Schule; sie verweisen auf qualitativ neue Umgangsformen, tendenziell auf die Ganztags- und die Ganzraumschule.

Es ist hier nicht der Ort, näher auf die Einzelheiten einzugehen. Aber die Botschaft ist deutlich: Nur dort, wo die Kultivierung der Schule auch die ästhetischen Dimensionen mit der nötigen Klarheit einbezieht, kann sich auch insgesamt eine gute Lern- und Leistungskultur entwickeln. Gewiss sind die neuen handlungs- und erfahrungsorientierten Ansätze inzwischen in allen Schularten und in allen Fächern im selbstverständlichen schulischen Alltag angekommen. Gewiss sind auch in der Schulpädagogik, der Allgemeinen Didaktik und den Fachdidaktiken in den letzten beiden Jahrzehnten die entsprechenden Leitbilder und ihre Begründungen extensiv entfaltet worden (Meyer 1997); eine unübersehbare Fülle von praktischen Beispielen ist dokumentiert und – mehr oder weniger – untersucht worden. Auch die Bildungspolitik orientiert sich immer stärker an den Formen selbsttätigen produktiven Lernens; hier werden sie zum Ziel der gewünschten Schulentwicklung. Die heutigen Konsensformeln der Bildungspolitik zitieren bis in die Wortwahl hinein die in den siebziger und achtziger Jahren in der Kooperation von Wissenschaft und Praxis entwickelten pädagogischen Ansätze und Programme (Stiftung Bildungspakt Bayern 2005). Aber die nötigen Konsequenzen werden bisher nicht gezogen. Die Schule hat dafür zu sorgen, dass möglichst viele Schüler möglichst guten Lernerfolg haben, und zwar in allen relevanten Dimensionen. Das schließt die Sorge für die Bedingungen ein. Dabei bleibt es durchaus sinnvoll, Allgemeinbildung nicht nur als Bildung im umfassenden Sinn, sondern auch in einem schlichten, eher utilitaristischen Sinn als Qualifikation zu verstehen – es geht auch um in der und für die Praxis in den verschiedenen Bezugsbereichen relevante und insofern brauchbare Fähigkeiten und Fer221

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tigkeiten. Der große Vorteil des Allgemeinbildungskonzepts gegenüber allzu anspruchsvollen Ansätzen, die den „ganzen Menschen“ und seine „Identität“ in den Mittelpunkt stellen wollen, besteht in der Tatsache, dass Allgemeinbildung sich an praktischen und performativen Zielen orientiert und orientieren muss, die zu einsichtigen und überprüfbaren Ergebnissen führen können. Die Schule tut gut daran, sich realistische und nach aller Erfahrung mit einiger Wahrscheinlichkeit erreichbare Ziele zu setzen. Ob ein Zögling Englisch so gelernt hat, dass er oder sie sich in der Fremdsprache mündlich und schriftlich ausdrücken und verständigen kann, ist ebenso für ihn wie für andere überprüfbar – sogar einigermaßen „objektiv“, wenn man das denn für nötig hält; was diese Qualifikation indessen zum Beispiel für seine Identität gegenwärtig oder künftig bedeuten mag, entzieht sich glücklicherweise der schulischen Prüfung. Es geht also im Blick auf die Ziele auch um begrenzte, auf bestimmte Bereiche bezogene Wahrnehmungs-, Urteils-, Denk- und Handlungskompetenzen. Entscheidend ist aber, dass der weitere Horizont der Bildung und der Entfaltung der Person den Rahmen und die Perspektive darstellt. Die zentrale Aufgabe des Lehrers liegt unverändert in der Vermittlung des notwendigen gesellschaftlichen Wissens und Könnens an die gesellschaftlichen Neulinge und in der Weiterentwicklung der dafür nötigen Bedingungen. Daraus folgt die notwendige Arbeit an der Kultivierung des Schulalltags, an Lernund Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche, die diesen nicht nur die Aneignung des nötigen Wissens, des nötigen Könnens – oder allgemeiner gesprochen: der nötigen Kompetenzen – erlauben müssen, sondern die darüber hinaus von diesen auch als sinnvoll, interessant und zum Lernen herausfordernd erfahren werden können. Die pädagogische Situation gibt, wo sie gelingt, durch die gemeinsame Auseinandersetzung von Erwachsenen und Kindern bzw. Jugendlichen mit "Sachen" (Aufgaben, Problemen, Fragen, Zielen etc.) Hilfen zum Erwachsenwerden (Erziehung), zur Erfahrung der Welt im Medium der Kultur (Bildung) und zur Persönlichkeitsentwicklung (Entfaltung), nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dafür werden Lehrerinnen und Lehrer gebraucht, die das können. Das führt zum dritten, abschließenden Punkt.

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3. Die Kultivierung der Lehrerinnen und Lehrer Natürlich ist das eine provokante Formulierung. Aber sie ist ernst gemeint. Denn schon die schlichte Differenz zwischen den von wissenschaftlicher Pädagogik, Bildungspolitik, großen Teilen der Öffentlichkeit und engagierten Lehrern getragenen Leitvorstellungen zur guten Schule und zum guten Unterricht, die sich am produktiven Lernen orientieren, und der alltäglichen Schulpraxis ist nach wie vor ernüchternd groß: Noch immer bildet die "gelungene Unterrichtsstunde" in der Beurteilung der Lehrer während des Referendariats, aber auch für die späteren beförderungsrelevanten dienstlichen Beurteilungen das Maß aller Dinge (Rosenbusch 1994). Noch immer bildet der Klassenunterricht in Form von Frontalunterricht vollkommen unangefochten die Normalform des schulischen Unterrichts in den Schulen der Sekundarstufen. Noch immer sind Stundentafeln und Stundenpläne der Sekundarschulen auf der vom Einzellehrer erteilten Fachstunde aufgebaut. Und selbst wenn die beurteilenden Schulräte inzwischen häufig reformpädagogische Unterrichtsformen sehen wollen, so ändert dies doch wenig daran, dass diese neuen Formen im Schulalltag dennoch als Sonntagspädagogik angesehen werden, besonders in vielen Gymnasien. Und dabei ist von ästhetischer Bildung noch nicht einmal die Rede. Freilich brauchen Lehrer für gewünschte neue Praxis die notwendigen neuen Kompetenzen. Aber der Kompetenz-Begriff hat nicht zufällig die schöne Doppelbedeutung von Fähigkeit und Befugnis. Fähigkeiten entwickeln sich dort, wo auch Befugnisse gewährt werden oder zu erwarten sind. Wenn Lehrern also z.B. organisatorische und inhaltliche Befugnisse vorenthalten werden, braucht man sich nicht zu wundern, wenn es dann entweder auch an den entsprechenden Fähigkeiten fehlt oder aber die Fähigkeiten nur in außerberuflichen Zusammenhängen aktiviert werden. Wo die Zeitorganisation von Schulen nur dem traditionellen Stundenplan folgt, können Lehrer mit zusammenhängenden Lernzeiten oder gar Epochenunterricht nicht umgehen. Wo die soziale Organisation lediglich der Amtsverfassung folgt, ist die Fähigkeit zu alltäglicher Kooperation nicht zu erwarten. Wo die ökonomische Organisation der Schule sich auf den ordentlichen Umgang mit marginalen staatlich zugewiesenen Haushaltstiteln

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beschränkt, ist ökonomische Kompetenz nicht zu erwarten usw. Kompetenzentwicklung ist nur zu erwarten, wenn auch Befugnisse verantwortlich ausgefüllt werden müssen. 1 Das gilt auch für den gesamten Bereich der ästhetischen Bildung: wenn sie nicht umfassend gefördert wird, wird sie sich auch nicht entwickeln. Wenn es also die Aufgabe von Lehrern ist, das Lernen und die Schule im Sinne der ästhetischen Bildung zu kultivieren, so besteht ihre erste Aufgabe darin, sich selbst in diesem Sinne zu kultivieren. Was für das Lernen der Schüler und was für die Schule gelten soll, muss auch für die Lehrerinnen und Lehrer gelten. Sie werden nur dann ihrer Aufgabe gerecht werden können, wenn sie selbst einen umfassenden, auf die drei zentralen Paradigmen gestützten Bildungsprozess erfahren haben. 2 Die bildungspolitische Schlussfolgerung ergibt sich daraus von selbst: Wenn es stimmt, dass Unterrichten und Erziehen mehr mit Kunst als mit Wissenschaft zu tun hat, ist ästhetische Bildung ist nicht nur eine Aufgabe für die Schüler, sondern auch für die Lehrerinnen und Lehrer. Die Künste (Literatur, Musik, Bildende Kunst, Sport und vor allem Theater etc.) gehören also in die Lehrerbildung, in erheblichem Umfang, für alle Lehrer, in allen Phasen: in die universitäre Ausbildung, in das Referendariat und in die Lehrerfortbildung. Sie sind kein überflüssiger Luxus, sondern – gemeinsam mit den Wissenschaften – das zentrale, definierende Element einer angemessenen Lehrerbildung. Der Umgang mit den Künsten bildet ein zentrales Merkmal der Qualität von Schule. Dementsprechend muss dafür gesorgt

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Auf die Doppeldeutigkeit des Kompetenz-Begriffs hat insbesondere Pierre Bourdieu hingewiesen (vgl. Liebau 1987). Selbstverständlich ist damit die nötige Qualifikation von Lehrern nicht zureichend beschrieben. Hingewiesen sei hier nur auf fünf zentrale Qualifikationsmerkmale guter Lehrer: 1. Sie müssen Kinder und Jugendliche mögen und verstehen. 2. Sie müssen ihre Schulfächer und die Schule im Ganzen mögen (Dass sie die Fächer auch fachlich beherrschen müssen, dürfte ja wohl selbstverständlich sein.). 3. Sie müssen Humor haben. 4. Sie müssen auf den verschiedenen Schulbühnen (im Klassenzimmer, im Lehrerzimmer, im Elterngespräch, in der Öffentlichkeit etc.) auftreten und etwas und zugleich sich selbst darstellen können. 5. Sie müssen gesund sein und wissen, wie sie gesund bleiben können. – Einiges davon müssen sie von vornherein schon ins Studium mitbringen; anderes können sie im Studium und danach lernen.

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werden, dass bei der internen und externen Bewertung der schulischen Praxis (Evaluation) diese Dimension einen zentralen, den Wissenschaften gleichwertigen Stellenwert gewinnt. Das gilt auch für die Evaluation der Lehrerinnen und Lehrer selbst, gemeinhin als Prüfung oder Beurteilung bekannt. Denn die Kultivierung des Lehrers durch die Künste bildet eine zentrale Voraussetzung für die Entwicklung der Lehrkunst; Wilhelm Dilthey und seine Schüler wussten das noch. Ohne kultivierte Lehrer gibt es keine kultivierte Schule. Ein entscheidender Schlüssel zu einer substantiellen pädagogischen Schulentwicklung liegt daher in der Lehrerbildung: das in den 1920er Jahren entwickelte Modell der Bildnerhochschule erweist sich hier als erstaunlich aktuell (Spranger 1919; Becker 1926). Es wäre der Mühe der Edlen wert, hier eine moderne Adaptation zu entwickeln. Vielleicht bietet ja der unüberhörbare Ruf nach polyvalenten Schlüsselqualifikationen auch hier den entscheidenden Hebel, durch den sich der Tanker in Bewegung setzen lässt.

Literatur Becker, Carl Heinrich (1926): Die Pädagogische Akademie im Aufbau unseres nationalen Bildungswesens. Leipzig: Quelle und Meyer. Fauser, Peter/Fintelmann, Klaus-J./Flitner, Andreas (Hg.) (1983): Lernen mit Kopf und Hand. Weinheim/Basel: Beltz. Flitner, Andreas (1992): Reform der Erziehung. Impulse des 20. Jahrhunderts. München: Piper. Hentig, Hartmut von (1993): Die Schule neu denken. München/ Wien: Hanser. Liebau, Eckart (1987): Gesellschaftliches Subjekt und Erziehung. Zur pädagogischen Bedeutung der Sozialisationstheorien von Pierre Bourdieu und Ulrich Oevermann. Weinheim/München: Juventa. Liebau, Eckart (1999): Erfahrung und Verantwortung. Werteerziehung als Pädagogik der Teilhabe. Weinheim/München: Juventa. Mack, Wolfgang (1999): Bildung und Bewältigung. Vorarbeiten zu einer Pädagogik der Jugendschule. Weinheim: Deutscher Studien-Verlag.

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Meyer, Hilbert (1997): Schulpädagogik I: Für Anfänger. Berlin: Cornelsen Scriptor. Meyer, Hilbert (1997): Schulpädagogik II: Für Fortgeschrittene. Berlin: Cornelsen Scriptor. Riegel, Enja (2005): Schule kann gelingen! Wie unsere Kinder wirklich fürs Leben lernen. Frankfurt/M.: Fischer. Rolff, Hans-Günter u.a. (2000): Manual Schulentwicklung – Handlungskonzept zur pädagogischen Schulentwicklungsberatung. Weinheim/Basel: Beltz. Rosenbusch, Heinz (1994) : Lehrer und Schulräte. Ein strukturell gestörtes Verhältnis. Berichte und organisationspädagogische Alternativen zur traditionellen Schulaufsicht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Spranger, Eduard (1919).: Gedanken über Lehrerbildung. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. III. Heidelberg 1970: Quelle und Meyer, S. 27-73. Stiftung Bildungspakt Bayern (2005): MODUS 21. Das Programm – Die Maßnahmen. Berlin: Cornelsen.

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Luise Winterhager-Schmid

Ästhetische Bildung in der Ganztagsschule

Einleitung Die Ganztagsschule wird gegenwärtig in Deutschland gleichsam neu erfunden. Obwohl bereits seit 1968 Empfehlungen des Deutschen Bildungsrats „Zur Einrichtung von Schulversuchen mit Ganztagsschulen“ vorliegen, wurden sie damals allenfalls an Gesamtschulen, gelegentlich auch an Hauptschulen eingeführt. Im Gesamt des Schulsystems blieb die Halbtagsschule – anders als in vielen EU-Ländern – als Regelschule unbestritten. Starke bundespolitische Impulse für mehr Ganztagsschulen gingen im Jahre 2003 mit dem 4-Mrd.-Euro-Investitionsprogramm ZBB „Zukunft – Betreuung – Bildung“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung aus, mit dem Ziel, sie als weiteres Regelangebot im öffentlichen Schulwesen zu institutionalisieren. Allerdings fällt es schwer herauszufinden, was eine Ganztagsschule ist. Die Kultusministerkonferenz definierte 2004 drei Grundformen der Ganztagsschule: Die voll gebundene Form: Hier müssen alle Schülerinnen und Schüler mindestens sieben Zeitstunden lang an mindestens drei Wochentagen in der Schule anwesend sein und verpflichtend an den Angeboten der Schule teilnehmen. Die teilweise gebundene Form: In ihr gelten die genannten Verpflichtungen nur für einen Teil der Schülerschaft. Die übrigen nutzen die Schule als Halbtagsschule. Die offene Form: In ihr ist der „Aufenthalt“ der Schüler verbunden mit einem offenen Bildungs- und Betreuungsangebot über sieben Zeitstunden. Die Teilnahme am Nachmittag ist nur für je ein Schulhalbjahr verpflichtend und danach wieder kündbar (Appel/Rutz 2004; Burk/Deckert-Peaceman 2006: 16f). Diese sehr volatile Bestimmung dessen, was eine Ganztagsschule ist, spiegelt das mehr oder weniger ausgeprägte Engagement der Bundesländer für die neue Schulform. Allein die zeitli227

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che Ausdehnung des Schultags auf sieben Zeitstunden kann letztlich als gesichertes Kriterium für die Unterscheidung von Ganzund Halbtagsschulen gelten. In der offenen Form ist sogar dieses Merkmal „weich“ gehalten, handelt es sich doch bei der „offenen Ganztagsschule“ um eine Halbtagsschule mit wenigen freiwilligen Angeboten bei sehr begrenztem Verpflichtungscharakter (Wentzler 2004; Rother 2003). – Von der Öffentlichkeit eher unbemerkt ist jedoch in einigen Bundesländern an den auf acht Jahre verkürzten Gymnasien eine neue Form ganztägiger Beschulung entstanden, die offiziell nicht als Ganztagsschule bezeichnet wird, obwohl sich hier die Schülerinnen und Schüler zum Teil länger als sieben Zeitstunden in der Schule aufhalten In der pädagogischen Diskussion werden die Unklarheiten der Definition zu Recht als Symptom ihrer Konzeptlosigkeit kritisiert. Wenn Ganztagsschule nur heißt, sich sieben Zeitstunden in einer Schule aufzuhalten, lassen sich pädagogische Standards zur Qualität von Ganztagsschulen nur schwer entwickeln (Burk/DeckertPeaceman 2006: 19). Seit 2003 gibt es pädagogische Fachpublikationen und Praxisberichte, die über pädagogische Konzepte und Erfahrungen mit ganztägiger Beschulung von Kindern und Jugendlichen informieren. Im aktuellen öffentlichen Diskurs werden solche fachinternen Argumentationen jedoch überlagert von außerfachlichen Begründungen zur Notwendigkeit von Ganztagsschulen. Drei übergreifende Begründungslinien und Motivkomplexe zur Einrichtung von Ganztagsschulen sind erkennbar (Rother 2003): • Bevölkerungspolitisch-demographische Motive • Sozialpolitisch-kompensatorische Motive • Schulpädagogische Begründungen zur Modernisierung des Unterrichts. Im Folgenden werden diese Motivkonstellationen kritisch untersucht unter der Fragestellung, welches Gewicht künftig der ästhetischen Bildung an Ganztagsschulen zukommen soll. Dazu sind schließlich einige grundsätzliche Überlegungen zum Stellenwert ästhetischer Bildung in einer ganztägigen Bildungsschule unumgänglich. Zuvor sei eine grundsätzliche Klärung vorangeschickt. Die deutsche historische Entwicklung des allgemein bildenden staatlichen Schulwesens in der Zeitstruktur der Halbtagsschule ging mit Selbstverständlichkeit davon aus, dass neben der schuli228

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schen Bildung am Vormittag den Schülerinnen und Schülern Erweiterungen und Ergänzungen ihrer Sozialisation und Bildung am Nachmittag möglich sein sollten. Kinder-und Jugendangebote der Sportvereine, Musik- und Kunstschulen, kirchliche und kommunale Jugendarbeit verstehen sich in diesem Zeitarrangement als wichtige Räume der Sozialisierung und der Bildung. Zudem lässt die Halbtagsschule Kindern und Jugendlichen Freiräume für alltagskulturelle Praxen in der Peerkultur der Gleichaltrigen, für Freundschaften, Hobbies oder auch für kleine Jobs zur Aufbesserung des Taschengeldes. Die Halbtagsschule verpflichtet also Kinder und Jugendliche nur für einen Teil ihrer Lebenszeit auf die Anstaltsrolle und Lebensform des Schüler-Seins. Weil sie ergänzend eine freiere Gestaltung von Lebenszeit am Nachmittag vorsieht (sofern diese nicht – missbräuchlich – durch Hausaufgaben vollständig verknappt ist), ermöglicht sie Kindern und Jugendlichen außerhalb der Lebensform „Schüler-Sein“, sich auch als Akteure in selbst gewählten Erfahrungsräumen sportlich, musischästhetisch oder alltagskulturell zu erproben. Der freie Nachmittag wird von Seiten der Schulpädagogik jedoch eher als eine Zone der Gefährdung wahrgenommen; wogegen Vertreter der außerschulischen Bildung (mit Verweis auf die vielfältigen Forschungen zur Kinder- und Jugendkultur) vor allem dessen günstige sozialisierende und bildende Wirkungen hervorheben (Deutsches Jugendinstitut 1992). Mit der Zunahme von mehr voll gebundenen Ganztagsschulen dehnt sich in dieser Schulform das schulische Zeitregiment über die Lebenszeit des Tages sehr viel weiter aus. Wo Kinder und Jugendliche überwiegend unter der Verregelung des „Schüler-Seins“ leben, verringern sich Erfahrungs- und Selbsterprobungsräume jenseits der Schule ganz erheblich (Giehl 2004). Diese hegemoniale Tendenz sollte Ganztagsschulen dazu zwingen, sich in besonders verantwortlicher Form – durch ihre Attraktivität – vor den Schülerinnen und Schülern, vor deren Eltern und schließlich auch vor den Einrichtungen der außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit zu legitimieren. Im derzeitigen Diskurs zur Ganztagsschule bleibt diese konzeptionelle „Bringschuld“ jedoch ausgeklammert. Stattdessen wird mit Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, Kinder und Jugendliche heute brauchten vor allem ein Mehr an Betreuung und „Lernen“ in der Ganztagsschule (Holtappels 2004). Beide Rechtfertigungen für eine ganztägige Beschulung greifen jedoch pädagogisch zu kurz. Um Ganztagsschu229

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le pädagogisch zu legitimieren, muss sie sich sehr viel mehr Gedanken zu Bildungs- und Anregungsqualitäten machen, um ihre längere Inanspruchnahme der Lebenszeit von Heranwachsenden in der Schule pädagogisch zu rechtfertigen.

1 . D a s d e m o g r a p h i s c h e M o t i v: „ M e h r M u t z u Kindern“ durch Betreuung in der Schule Demographische Motive zur vermehrten Gründung von Ganztagsschulen begründen sich aus den statistischen Prognosen der statistischen Landesämter zu den erwartbaren Folgen eines anhaltend erheblichen Rückgangs der Geburten. Dieser „demographische Faktor“ trifft nicht nur Deutschland, sondern gleichermaßen auch viele EU-Länder. Die Folgen sind absehbar: Das Verhältnis zwischen Geburten- und Sterbezahlen verkehrt sich dramatisch; der Rückgang der Zahl Heranwachsender bedroht die Zukunft des generationalen solidarischen Sozialversicherungs- und Rentensystems; qualifizierter Nachwuchs aus dem einheimischen Arbeitskräftepotential droht zu schwinden. Dem soll politisch begegnet werden durch Anreize, die jungen Frauen „Mut zu mehr Kindern“ machen. Zum Anreizsystem gehören neben einem geplanten lohnersetzenden Elterngeld für (qualifizierte) junge Mütter die verstärkte Einrichtung und Förderung von Kinder-Betreuungseinrichtungen: Kinderkrippen, Ganztags-Kindergärten und Ganztagsschulen. Der Vorstoß zur Einrichtung von mehr Ganztagsschulen geschieht hier also nicht primär aus pädagogischen Motiven, vorrangig sind vielmehr demographische Steuerungsabsichten einer für Frauen und Familien freundlicheren Bevölkerungspolitik, weshalb in jüngster Zeit die Wortführerschaft dazu vor allem bei der Bundesfamilienministerin liegt. Junge Eltern sollen für die Ganztagsschule gewonnen werden mit dem Versprechen einer „verlässlichen Betreuung“ ihrer Kinder in öffentlichen Betreuungseinrichtungen; dazu sollen auch ganztägig geöffnete Schulen gehören. Die Adressaten denen Mut zu mehr Kindern gemacht wird, sind vor allem gut qualifizierte junge Frauen. Ihnen soll auf diesem Wege die Vereinbarkeit von Familienarbeit mit ambitionierter Berufsarbeit erleichtert werden. Gesellschaftlich akzeptierter wird allmählich ein bürgerliches Frauenbild mit neuen Prioritäten. Damit ist ein Abnehmerkreis der Ganztagsschule angesprochen, der vermutlich hohe Erwartungen an Bildungsex-

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LUISE W INTERHAGER-SCHMID: GANZTAGSSCHULE

zellenz und pädagogische Leistungsfähigkeit von Ganztagsschulen herantragen dürfte. Dazu wird auch der Wunsch nach Angeboten der ästhetischen Bildung gehören. Ganztagsschulen hatten bis vor kurzem in Deutschland nur geringes Ansehen und daher auch – außer an Gesamtschulen – nur eine geringe Nachfrage. Lange wurden (und werden) sie in Teilen der Öffentlichkeit als Notbehelfsschulen für Sozialwaisen eher gering geschätzt. Auch fürchtet man einen zunehmenden Funktionsverlust der Familienerziehung, wenn die Schule sich bis weit in den Nachmittag hinein erstreckt. Für den Imagegewinn von Ganztagsschulen bei hochqualifizierten berufstätigen Frauen spielt jedoch ein Versprechen eine wichtige Rolle: das Versprechen einer „verlässlichen Betreuung“ in der Schule. Sich auf eine verlässliche Betreuung verlassen zu können, zählt – so scheint es auf den ersten Blick – zu den obersten Prioritäten der Erwartungen an ganztägige pädagogische Einrichtungen, sei es ein Ganztags-Kindergarten oder eine Ganztagsschule. Aus pädagogischer Sicht ist dieses Versprechen, vor allem wenn es sich auf Schulkinder bezieht, jedoch nicht unproblematisch, war doch der pädagogische Begriff der „Betreuung“ für Schulen bisher unüblich. Von „Betreuung“ wurde üblicherweise ausgegangen, wenn die pädagogische Arbeit mit kleinen Kindern gemeint war, betont „Betreuung“ doch vor allem die kustodiale Seite erzieherischer Tätigkeit als „Wartung“, Behütung und Versorgung kleiner Kinder vor dem Schulalter. In diesem vorschulischen Sektor wurde der Betreuungsbegriff inzwischen jedoch weitgehend abgelöst durch das sehr viel anspruchsvollere Ziel der frühkindlichen Bildung. Dass der in der Kleinkindpädagogik fast überwundene kustodiale Betreuungsbegriff nun herangezogen wird zur Gestaltung von Ganztagsschulen, lässt erstaunen, bezeichnet er doch nur ein Minimum an pädagogischer Verantwortlichkeit. Das Programm der Bundesregierung versprach 2003 mehr als nur Betreuung: es lautete „Zukunft – Betreuung – Bildung “. Dieser Auftrag umfasste also ursprünglich weit mehr als nur Betreuung, sondern ließe Raum für eine kulturelle, sach- orientierte und sozial-emotionale Persönlichkeitsbildung von Kindern und Jugendlichen an Ganztagsschulen. Dass die Ganztagsschule auch einige Betreuungsfunktionen zu übernehmen hat, etwa in der Garantie eines warmen Mittagsessens, ist zweifellos richtig. Aber auch diese pädagogische Situa231

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tion des gemeinsamen Mittagessens ist mehr als Betreuung, auch sie sollte als eine Chance der (inter-)kulturellen, ja der ästhetischen Bildung gesehen werden, damit diese Schulen ihrem Bildungsauftrag durch ihre die Persönlichkeit bildende größere Anregungsqualität gerecht werden. Unschwer lässt sich ja schon jetzt prognostizieren, dass besonders ambitionierte, gut qualifizierte Mütter und Eltern außer einem warmen Mittagessen künftig nicht nur Betreuung, sondern auch anregungsreiche Bildung von der Ganztagsschule erwarten werden. Nicht nur soll sie eine Schule sein, die die Familien vom Elend der Hausaufgaben befreit, sondern auch eine Schule, in der Heranwachsende und Jugendliche sich wohl fühlen und mit Spaß und Freude viel lernen sollen. Eltern mit hohem sozialen Status, daran interessiert ihren sozialen Status und den ihrer Kinder über eine breite Bildung abzusichern, werden zudem erwarten, dass Ganztagsschulen auch Angebote der musisch-ästhetischen oder der sportlich-leiblichen Bildung vorhalten, vor allem solche, die diese Eltern ihren Kindern in der Halbtagsschule durch den selbst organisierten Besuch von Musikund Kunstschulen oder Sportvereinen ermöglichen. An einer Ganztagsschule, deren Gestaltungsspielraum auf das Minimum kustodialer Betreuungsfunktionen beschränkt bliebe, ließen sich jedoch vertiefte musisch-ästhetische Angebote kaum realisieren, bräuchte man dafür doch entsprechende Profilierungen, Fachleute, Räume und Ausstattungen. Im Horizont berechtigter Bildungs-Erwartungen kann eine öffentliche Ganztagsschule, soll sie denn für bürgerliche Eltern attraktiv sein, nur dann „mehr Mut zu Kindern“ machen, wenn sie mehr ist als eine bloße Betreuungsschule. Sie muss daher als ganztätige, gebundene Bildungsschule gestaltet werden, in der vertiefte musisch-ästhetische Bildung für alle Schülerinnen und Schüler ihren festen Platz hat. Nur bei einem in diesem Sinne vielseitigen Bildungsangebot wird die öffentliche Ganztagsschule für das gut qualifizierte Klientel künftig attraktiv genug sein, um im schon jetzt heraufziehenden Konkurrenzkampf mit den ganztägigen Angeboten privater Träger bestehen können.

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2. Das sozialpolitisch-kompensatorische M o t i v: D i e B r e n n p u n k t s c h u l e a l s Betreuungsschule Mit dem Argument der verlässlichen Betreuung versuchen die Befürworter derzeit sehr unterschiedliche soziale Milieus für die Ganztagsschule zu gewinnen. Eine zweite Begründungsebene, die zur vermehrten Einrichtung von Ganztagsschulen mit Betreuung aufruft, greift das historische Motiv der Armenschule für Sozialwaisen auf. Das sozialpolitische Interesse richtet sich hier vorrangig auf eine ganztägige Schule, die durch Betreuung und Versorgung eine Kompensation sozialer Defizite bei Kindern und Jugendlichen aus sozial schwächeren Bevölkerungsgruppen leisten soll. Insbesondere in Baden-Württemberg wurden aus diesem Grund Bewerbungen von 4-tägigen Ganztagschulen in sozialen Brennpunkt-Stadtteilen mit hohem Deprivationspotential bevorzugt (Kultusministerium Baden-Württemberg 2002). In den dazu erlassenen Eckdaten heißt es: „Die Angebote des Schulträgers umfassen die Betreuung der Schüler/innen beim Mittagessen, in der Mittagsfreizeit sowie sonstige Betreuungsangebote“ (ebd., Hervorh. L.W.-S.). Die Brennpunkt-Ganztagsschule als Betreuungsschule wird auch für den Schulerfolg sozial Benachteiligter, d.h. als Reaktion auf die mangelhaften Ergebnisse internationaler Vergleichsstudien, vor allem der PISA-Studien propagiert. Zur Problemkumulation dieser Schulen trägt bei, dass hier auch der schwierige Enkulturationsauftrag der Integration von Kindern mit Migrationshintergrund geleistet werden muss. – Häufig wird in diesem Zusammenhang der Slogan „Keiner darf verloren gehen“ (no child left behind) zitiert; der ursprünglich in der (amerikanischen) Tradition einer sozialpolitisch motivierten, kompensatorischen Milieu-Pädagogik steht. Milieupädagogische Ansätze versuchen Schulen als öffentlich verantwortete soziale Gegenmilieus zu stärken. Zugleich aber impliziert die Häufung depravierter Kinder und Jugendlicher in einer kompensatorischen Betreuungsschule zusätzliche Gefahren ihrer sozialen Stigmatisierung und Exklusion, spiegelt die Schülerschaft dieser Schulen doch häufig nur die Ghettosituation ihres stadträumlichen Milieus wider, in denen die prekären Lebenslagen der Erwachsenen ursächlich dafür sind, dass „soziale Brennpunkte“ auffällig werden. Für die professio-

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nelle, kompensatorische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in belasteten Lebenslagen sah sich bisher weniger die Schule sondern die Sozialpädagogik in der Zuständigkeit. Im Professionsdenken der Sozialpädagogik hat dazu in den letzten Jahren ein Umdenken stattgefunden, das wegführt von fürsorgerischer Betreuung hin zu einem sozialpädagogischen Bildungsverständnis ihrer Angebote. Dass die Schulpädagogik parallel dazu zurückgreift auf einen Betreuungsbegriff, der nicht nur in der frühkindlichen Bildung sondern auch in der Sozialpädagogik als fachlich überholt gilt, macht es Sozialpädagogen schwer, sich als Schulsozialarbeiter professionell in einem auf „Betreuung“ reduzierten Aufgabenspektrum zu verorten (Akademie Loccum 2006). Der Brennpunkt-Ganztagsschule geht es nicht um ein Schulangebot für Kinder und Jugendliche aus sozial gut situierten Elternhäusern, sondern um Heranwachsende aus Elternhäusern in prekären Lebenslagen. Ihnen soll eine versorgende, beaufsichtigende und schützende Ganztagsschule bessere Bildungschancen geben. Deshalb ist der Brennpunkt-Ganztagsschule auch ein kinderpolitischer Armutsdiskurs inhärent, der den Zusammenhang von Armutslagen, Perspektivenverlust und Schulversagen ernst nimmt (Butterwege 2004). Bei verpflichtendem ganztägigem Aufenthalt in der Schule könnte – so die Hoffnung – die BrennpunktGanztagsschule das Gesamt ihrer Schülerschaft besser immunisieren gegen milieubedingte Entwicklungsgefährdungen. Diese Hoffnung kann sich, denke ich, nur dann erfüllen, wenn auch sie voll gebundene Ganztagsschule nicht nur „Betreuungschule“, sondern darüber hinaus eine vielseitige Bildungsschule wird. Für Schülerinnen und Schüler aus benachteiligten Lebenslagen kann Schule durchaus ein attraktiver Lebens- und Ereignisraum, gleichsam ein Heimatbereich werden, in dem man gern länger bleibt, weil man mit Gleichaltrigen Interessen teilen, neue Interessen entdecken und weiter entwickeln kann. Deshalb ist es gerade für die Brennpunktschule wichtig, dass sie als vielseitige Bildungsschule ihren Schwerpunkt auf die Weckung vielseitiger Interessen legt, durch Angebote wie Musikgruppen, Foto-AGs, Spiele-AGs, Zirkus- und Theatergruppen, Schülerbands, Tanz- und Bewegungsangebote, Schüler-Ateliers zum Malen und Plastizieren, mit (festlichen) Veranstaltungen zu Ausstellungen, Präsentationen und Preisverleihungen, zu naturwissenschaftlich-technischen Projekten, um hier nur einige mögliche Beispiele zu nennen. Als eine 234

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verlässliche Bildungsschule könnte auch die Brennpunktschule ein attraktiver Lebens- und Lernort werden und somit nicht nur den Immunisierungsanspruch erfüllen, schulisches Gegenmilieu zu sein, sondern auch Aktivitäts- und Erfahrungsräume der Selbsterprobung eröffnen, zu denen ihr Klientel bisher häufig kaum Zugang hatte. In den pädagogischen Angeboten von Brennpunkt-Ganztagsschulen finden sich jedoch derzeit ästhetisch-musische Angebote nur selten. Es dominieren vor allem „Hilfen zum Lernen“, Hausaufgabenbetreuung, Computerkurse und sportliche Anbote (für Jungen), dazu eine Versorgung am Mittag. Zudem bieten Brennpunktschulen häufig Trainings zur „Streitschlichtung“ und AntiGewalt-Trainings. Dazu und zur allgemeinen Betreuung werden Schul-Sozialarbeiter(innen) herangezogen, deren pädagogische Aufgabe und Stellung im hierarchischen Gefüge der Schule jedoch oft prekär bleibt (Otto/Coelen 2004; Winterhager-Schmid 2006). Ganztagsschulen müssen sich von Halbtagsschulen – unabhängig von ihrem Anspruchsniveau – konzeptionell unterscheiden. Es ist sinnvoll, dass besonders diese Schulform sich Kindern und Jugendlichen als ein Ort der Verlässlichkeit anbietet, auch weil Familien solche Orte nicht immer bieten können. Schulen als Orte der Verlässlichkeit zu planen, bedeutet jedoch erheblich mehr als nur Betreuungsschule zu sein. Eine verlässliche Schule ist nicht nur Lernort, sonder auch Lebensort. Als solcher ist Schule immer auch als Entwicklungskontext (Fend) und Kulturzentrum (Liebau) zu verstehen. Um individuelle Entwicklung und Enkulturation zu fördern, muss die Ganztagsschule als vielseitiger, anregungsreicher Ermöglichungsort erlebbar werden. Dieses anregungsreiche Schulangebot sollte zunächst einmal verlässliche Beziehungen zu verantwortlichen Erwachsenen bieten. Über den Kontakt zu ihnen können individuelles Lernen, anregungsreiche Förderung vielfältiger Interessen, leibliche und ästhetische Bildung sowie auch informelle Erfahrungen in der Peerkultur wirksam werden.

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3 . D a s s c h u l p ä d a g o g i s c h e M ot i v: „Mehr Zeit zum Lernen“ durch Modernisierung des Unterrichts Die bisher untersuchten Begründungsebenen zur vermehrten Einrichtung von Ganztagsschulen finden sich nur randständig in den schulpädagogischen Begründungen für Ganztagsschulen wieder. Schulpädagogische Konzeptionen imponieren auch nicht mit allzu großen Betreuungsversprechen (Holtappels 1999), sondern mit Entwürfen zur Modernisierung des Unterrichts (Holtappels 1994; 1999). Schulpädagogen favorisieren die Ganztagsschule vor allem, weil ein ganztägig verpflichtender Schultag von sieben bis acht Zeitstunden den Schülern „mehr Zeit zum Lernen“ gibt (Appel 2004). Auch hier werden Konsequenzen aus den unbefriedigenden Ergebnissen der PISA-Studien diskutiert. Ganztagsschulen scheinen besonders geeignet, neue schulpädagogische Konzepte zur „Öffnung der Schule“ zur realisieren (Holtappels 1994). Diese Schul-Öffnungskonzepte streben jedoch nicht eine Öffnung des Schulunterrichts an, etwa durch eine Erweiterung der Lern- und Erfahrungsorte hin zum Stadtteil, in die Natur, ins Museum, in Stadt-Bibliotheken, Musikschulen, Kunstschulen, zu Sportvereinen oder zum Kinder- und Jugendtheater. Im Gegenteil: die schulpädagogische Öffnungsmetapher begrenzt Öffnung auf die methodische Öffnung des traditionellen Unterrichts, eine Überführung formeller Unterrichts- in informelle Lernformen, beides über den verlängerten Schultag verteilt. Der vom Lehrer gesteuerte „Frontal-Unterricht“ soll durch methodisch vielfältige, anregungsreichere Angebote mit informellen schulischen Lernsituationen ergänzt, wenn nicht gar weitgehend ersetzt werden. Dafür brauchen Schülerinnen und Schüler in der Tat mehr Zeit, die sie in einer „rhythmisierten“ ganztägigen Schule verbringen sollen. Ziel ist es, durch diese Informalisierung des Unterrichts zu einer verbesserten Lehr- und Lernkultur zu kommen, um Schulleistungen zu verbessern und die Selbstständigkeit der Schüler beim Lernen zu erhöhen. Neben dem älteren Leitbegriff des von Lehrkräften gestalteten und verantworteten „Unterrichts“ tritt verstärkt das individualisierte Lernen der Schülerinnen und Schüler. Der „rhythmisierte“ Schultag bietet deshalb in der Ganztagsschule Zeitfenster für individuelle Frei-Arbeitsphasen, für „Wochenplan-

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arbeit“ oder „Lernen in Projekten“, für Hausaufgabenbetreuung und individuelle Förderarrangements (Holtappels 1995). Die Verminderung des lehrergesteuerten InstruktionsUnterrichts ermöglicht den Lehrkräften ein Zeitbudget, um als „Lernbegleiter“ und Moderatoren zu agieren. Ziel ist es, die Schülerinnen und Schüler zu mehr „selbst gesteuertem“ Lernen zu veranlassen. – Festzuhalten ist: Im schulpädagogischen Öffnungskonzept der Schule liegt die Priorität nicht bei verlässlicher Betreuung, auch nicht ausdrücklich in der Kompensation sozialer Defizite durch eine schützende, anregende, fürsorgerische Schulumwelt. Allgemeine, vielseitige inhaltliche Bildungsaspekte werden selten expliziert. Der Bildungsbegriff wird ersetzt durch den Zentralbegriff „Lernen“. Gemeint ist ein konstruktivistischer Lernbegriff, der durch neurowissenschaftliche Ergebnisse der Hirnforschung als legitimierbar erscheint. Dieser Lernbegriff zielt im Wesentlichen auf das, was im Fachjargon als PISA-Fähigkeiten bezeichnet wird. Schule soll sich daher konzentrieren auf den Erwerb von Lernstrategien, auf formale Kompetenzen zum „Lernen des Lernens“. Trainiert wird im informellen Lernen vorrangig ein Typus der Aufgabenbewältigung, der dem Erwerb von Strategien des formalen Lernens den Vorrang einräumt vor der inhaltlichen Auseinandersetzung. Formales Lernen - so wichtig es ist - verhält sich zu den Inhalten prinzipiell eher gleichgültig. Deshalb sind formale Lernstrategien wenig geeignet für Bildungserfahrungen, die durch ihren inhaltlichen Aufforderungscharakter nachhaltige Interessen und Identifikationen in Schülern wecken können. Besonders die musisch-ästhetische Bildung entzieht sich dem Zugang formaler Lernverfahren weitgehend, ist sie doch angewiesen auf das subjektive Erleben, Wahrnehmen, Gestalten ästhetischer Phänomene. Dieser zentrale Relevanzbereich kultureller Bildung als Teil der Persönlichkeitsentwicklung droht unter der Dominanz bloßen Lernens verstellt zu werden. Die sinnlich-affektive, subjektive Eigen-Art, das Spielerische und zugleich Leidenschaftliche der Künste sind in der Vielfalt ihrer musischen und bildnerischen Aktivitäten oft eher produktiv verstörend; sie versperren sich einem Modus der nur lernenden Wissensaneignung. Ob das Konzept der Individualisierung durch Informalisierung des Unterrichts mit seiner starken Akzentuierung des selbst gesteuerten individuellen Lernens gerade denjenigen weiter hilft, die in den PISA-Studien als Schulversager auffallen, muss mit 237

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Nachdruck bezweifelt werden. Solide Studien zu den LehrLernerfolgen der Modernisierung des Unterrichts durch Informalisierung und Individualisierung fehlen noch. Man kann davon ausgehen, dass es Kindern und Jugendlichen aus bildungsnahen Schichten leichter fallen wird, ihr Lernen in der Schule individuell selbst zu steuern. Gleiches ist für potentielle Schulversager jedoch nicht anzunehmen. Selbststeuerung beim Lernen setzt gerade solche Fähigkeiten und Mentalitäten voraus, die viele Kinder und Jugendliche gerade in Brennpunktschulen nicht schon mitbringen: Ein stabiles Selbstwertgefühl, waches und ausdauerndes Interesse, Anstrengungsbereitschaft, Zielstrebigkeit, Konzentrationsbereitschaft, Frustrationstoleranz und die Fähigkeit, primäre Bedürfnisbefriedigung aufzuschieben, alles das sollten diese Schülerinnen und Schüler mit Hilfe der Schule erst erwerben können. Selbstgesteuertes Lernen vertraut darauf, dass die „Lern-Sachen“ der Schule, die Lernmaterialien selbst schon genug Aufforderungscharakter haben, um sich mit ihnen zu beschäftigen. Aus bildungstheoretischer Sicht sind daran erhebliche Zweifel anzumelden. Exkurs über Bildung Bisher wurde hier der „Betreuungsschule“ die anspruchsvollere Idee einer vielseitigen, auch musisch-ästhetischen „Bildungsschule“ entgegengesetzt. Bevor im Folgenden Begründungen zur bildenden Bedeutung musisch-ästhetischer Bildung an Ganztagsschulen entfaltet werden, sei knapp ein Exkurs zur Bedeutung des Fachbegriffs „Bildung“ auf der Basis bildungstheoretischer Überlegungen vorgeschaltet. – Bildung findet statt in explorierenden Prozessen der Selbst-Weltbegegnung. Unsere gesamte kulturell geformte Umwelt samt den uns dazu begegnenden Deutungsmustern wird dabei als „das Außen der Welt“ aufgefasst, zu der wir unser „Inneres“ individuell in ein Verhältnis setzen müssen, um die Welt in ihrer Vielfalt sinnverstehend, sachlich begreifend in uns aufzunehmen. Um „Welt“ verstehend zu begreifen, brauchen wir individuelle Vorstellungskraft, dazu begreifende gedankliche Zugänge zum kulturellen System der symbolischen Repräsentationen, in denen „Welt“ sich komprimiert: Elementar die Schrift, das System der Zahlen, dazu die Fähigkeit unsere Wahrnehmungen und Empfindungen in Sprache oder in klanglichen oder bildlichen

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Sprachen auszudrücken. Bildung ermöglicht und begründet kulturelle Teilhabe (Liebau 1992). Das bewusste, reflektierte Wahrnehmen, Erkennen, Begreifen der „Sachen“ (von Hentig 1985) der Welt stärkt zugleich unser Selbst, d.h. unser Selbstbewusstsein, unser Selbstvertrauen, das Leben in der Welt meistern zu können. Solche Bildungsprozesse brauchen Anleitungen zu einer aktiven, wachen, interessierten Wahrnehmung der Vielfalt dessen, was uns als „Welt“ begegnet oder widerfährt. Wenn wir die „Sachen“ der Welt wahrnehmend aufnehmen, wenn wir in diesem Vorgang zugleich auch die in uns ausgelösten, begleitenden Gefühle und Empfindungen sinnverstehend integrieren, verändern und erweitern sich bisherige Denkstrukturen und Selbstauffassungen. Dieser Prozess hat zur Voraussetzung, dass wir die Vorstellungsmöglichkeiten, unser Potential des wachen Interessiertseins, nicht abstumpfen, nicht verkümmern lassen. Schule beachtet diesen Aspekt in ihrer Tätigkeit oft nicht genug, was dazu führt, dass das „Lernen“ oft „keine Produktivität in der Lebensgeschichte entfalten“ kann; die wiederkehrenden Zyklen der Schultage und -Jahre dann werden zur „leeren Zeit“, die sich nur noch im Vergehen erfüllt (Giehl 2004: 282). Oft bleibt Lernen nur bis zur nächsten Klassenarbeit relevant, wird damit lebensgeschichtlich zur „leeren Zeit“. Wenn aus Lernen Bildung werden soll, hat es das Selbst in seiner Subjektivität stärker zu berücksichtigen, weshalb Bildung dafür sorgen will, dass das Individuum sich zu den „LernSachen“ in ein produktives inneres Verhältnis setzen kann. Produktiv in der eigenen Lebensgeschichte können die „Lern-Sachen“ werden, wenn sie nachhaltig Interesse wecken, wenn sie einen hinreichenden Aufforderungscharakter für unser Denken, Fühlen und Begreifen haben. Dann „lohnt“ es sich dafür Lebenszeit aufzuwenden. Die Schule ist der prominenteste Ort, an dem Interesse am Verstehen und (Er-)Kennen der Welt Grund gelegt wird, weshalb dort die Fähigkeiten (und die Unfähigkeit) zur Stärkung des Selbst-Weltverhältnisses langfristig angelegt werden. Insofern ist die Schule viel mehr als „Betreuung“ oder „Lernen“. Sie ist selbst eine kulturelle Tatsache und zugleich ist Schule ein Ort, der kulturelle Tatsachen schafft (Winterhager-Schmid 2002). Attraktiv für Kinder und Jugendliche wie auch für deren Eltern bleiben solche Schulen, welche Sachen und Menschen nicht nur im Lernen und Betreuen behüten und verwalten, sondern über Bildungsprozesse die Voraussetzungen für die kulturellen Praxen der nachwachsenden Ge239

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neration schaffen. Aus dieser Perspektive gewinnt auch das Anliegen einer humanisierenden Selbststärkung Heranwachsender durch die sinnliche, musisch-ästhetische Dimension der Bildung in allen Schularten erheblich an Gewicht.

4. „Mehr Zeit für Ästhetische Erfahrung“: P l ä d o ye r f ü r e i n e e n t w i c k l u n g s f ö r d e r n d e ästhetische Bildung an Ganztagsschulen Ästhetische Bildung ist vor allem eine Schule der Vorstellungsfähigkeit und der individuellen Wahrnehmungsfähigkeit. Die ästhetische Wahrnehmung ist unser eigentliches, sinnliches Erkenntnisorgan, ist Erkenntnis im Medium des Eigensinns der Sinne (Mollenhauer 1988). Sie bleibt nahe an den Phänomenen, die unsere Sinne nicht nur aufnehmen, sondern wahr-nehmen; ästhetische Bildung soll uns helfen, unseren Sinnen etwas zuzutrauen. Ästhetischer Bildung geht es deshalb vor allem um eine Sensibilisierung der Wahrnehmungskräfte, eine Entwicklung und Stärkung auch der intuitiven Kräfte des Spürens und Fühlens über eine bewusstere Inanspruchnahme unserer Sinnesempfindsamkeit. Kultivierung des ästhetischen Erkenntnisvermögens wendet sich daher gegen das Phlegma, die Abstumpfung und Abwehr differenzierter Wahrnehmungsfähigkeit. Die ist nötig, um unsere innere Vorstellungswelt lebendig, phantasievoll und aufnahmebereit, empfindungsfähig zu erhalten. Dazu braucht es gerade die elementaren sinnlich-leiblichen Erfahrungen: genaues Hinsehen, Hinhören, Anfassen um zu erfassen, Ertasten um zu spüren; letztlich geht es um das Spüren von Differenz. – Ästhetisches Wahrnehmen ist zunächst immer subjektiv. Gunter Otto spricht deshalb von der Ästhetik als einer „Subjektarbeit“ (Otto 1992). Ästhetische Bildung ermöglicht uns, als Subjekte Welt als Wahrnehmende bewusster zu erfahren, lehrt uns also, auch unsere Subjektivität als Erkenntnisorgan und Erfahrungsgrundlage wertzuschätzen und zu nutzen. Bewusstes Wahrnehmen ist ein wesentlicher Anstoß für denkendes Begreifen. Indem zunächst bewusst gespürt und wahrgenommen wird, was dann durch Nach-Denken begriffen werden kann, sollen sich Empfindungsfähigkeit und Denkfähigkeit erweitern. Letztlich baut auch die empathische Einfühlung in andere darauf auf, dass wir sensibel werden für das, was wir an unseren Mitmenschen und an uns selbst wahrnehmen.

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Ästhetische Bildung kann sich deshalb nicht genügen allein in kultureller, gleichsam kunstreligiöser Traditionspflege. Es geht im Bildungsprozess vielmehr um drei Modalitäten der ästhetisch-sinnlichen Erfahrung: Rezeptivität, Spontaneität und gestaltende Aktivität. Rezeptiv setzt sich ästhetische Bildung mit den überlieferten „kulturellen Objektivationen“ der Künste auseinander. Deren Rezeption schult uns, zum Beispiel eine Vielfalt musikalischer oder gestalterisch-bildender Muster des symbolischen Ausdrucks zu erkennen, um im Wiedererkennen am Spiel der Künste mit allen möglichen Varianten Genuss zu finden. Im Modus der Spontaneität ästhetischer Wahrnehmung entdecken und reflektieren Erwachsene wie auch Kinder und Jugendliche eher das (für sie) Neue, lernen sie Ausdrucksformen des Ungewohnten in ihrer Wirkung auf sich selbst ernst nehmen. Irritierendes, Befremdliches, schwer Zugängliches kann somit über interessiertes Staunen, aber auch bei Empfindungen wie Ärger, Interesse wecken. Das Befremdende kann durch vertiefte Wahrnehmung ent-fremdet werden. Die eigene Faszination, auch das Gewahrwerden der eigenen Abstoßungsreaktionen gegenüber bestürzenden klanglichen, sprachlichen oder optischen Erscheinungen werden somit reflexiv begreifbar, verstehbar, kommunizierbar. Der ästhetische Bildungsprozess fügt also dem spontanen, reaktiven Erleben eine reflektiertere, aktivere Fremd- und Selbstwahrnehmungsbereitschaft hinzu, er regt an zur produktiven, ergebnisoffenen Reflexion im Modus von Ähnlichkeit und Differenz (Hörster/Müller 1992). Im spontanen Modus ästhetischer Erfahrung geht es also nicht um wohlgefälliges bildungsbürgerliches Kunst-Betrachten; der Wahrnehmungsmodus der Spontaneität reicht weit hinein in die (oft nur scheinbar) triviale Alltagskultur, sei es in Design, in alltäglich medial vermittelte Klangwelten, bis hin in die bizarren oder gar obszönen sprachlichen und bildlichen „Kunstwerke“ der Werbung. Über die Spontaneität der Wahrnehmung können sich alltagskulturelle ästhetische Phänomene des Geschmacks, der Moden, Tischsitten und Wohnkulturen erschließen, sie können gestaltend verfremdet werden und damit Anlass reflexiver Erkenntnis sein. Besonders für BrennpunktGanztagsschulen bietet sich auch darin ein reichhaltiges ästhetisches Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Gestaltungsfeld, wenn diese Schulen sich nicht nur „mehr Zeit zum Lernen“, sondern 241

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mehr Zeit für die ästhetische Bildung der Schülerinnen und Schüler nehmen. Ästhetische Bildung braucht schließlich performative Erfahrungen im ästhetisch- gestaltenden aktiven Handeln. Dabei geht es auch um Selbsterprobungen anderer sprachlicher, klanglicher, bildlicher Ausdrucksformen. Wie erzeugt man mit Worten, mit der Stimme Stimmungen, wie aus einem Instrument Töne, die im Glücksfall Musik werden können, wie kann man schreibend, malend oder in anderen darstellenden Formen etwas aus der eigenen Vorstellungswelt zum Ausdruck bringen, weshalb kann man an diesen Versuchen auch scheitern? Die kreativen Kräfte des Performativen lassen sich auch erfahren in der Trommelgruppe wie beim Posauneblasen, in der Schülerrockband, beim Entwerfen und Vorführen von Kleidern und Kostümen, beim Einstudieren eines Tanzes, beim Töpfern und Glasieren, beim Malen, Basteln, Chor-Singen, Videos drehen usw. Auch geht es darum, Variationen des eigenen sprachlichen Vermögens zu erproben: Gut erzählen oder vortragen zu lernen; Variationen des (kreativen) Schreibens an (Liebes-)Briefen, Geschichten, Gedichten selbst auszuprobieren. Ästhetische Bildung in diesem erweiterten Sinne ist nicht gebunden an einen engen Kulturbegriff. In solchen Reflexionen und Hervorbringungen ästhetischer Phänomene wird Kindern und Jugendlichen ermöglicht, den Künsten auch mit handwerklichem Respekt zu begegnen. Auch dazu kann die Kultur einer Schule viele Bildungsanlässe bieten: Kulturelle Praktiken des (sich) Schmückens führen zu Fragen des Wandels von Geschmack und Benehmensmustern; gestaltete Umformungen von Raumumgebungen können auf ihre Wirkungen reflektiert werden; Praktiken der Selbststilisierung in der Mode, im Umgang mit Masken, Kostümierungen eröffnen Spielräume zu kreativen, reflektierten Verfremdungen. Fulbert Steffensky plädiert zudem in seinem Aufsatz „Rituale als Lebensinszenierungen“ (1994) dafür, ästhetische Inszenierungen und Habitualisierungen durch Rituale in die Schule einzubringen, sie als Rahmung gegen „ Struktur- und Konturlosigkeit“ des Zeiterlebens in der Schule zu nutzen. Rituale leiten sich her aus performativen Grundformen des dramatischen Gestaltens, sie sind zur Form geronnene markante Akzentuierungen des Zeiterlebens. Zur Vergemeinschaftung der Individuen im Sozialen sind sie zwar nicht unproblematisch, aber an Schulen auch nicht überflüssig. 242

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Eine besonders Entwicklung fördernde performative Form ästhetischer Bildung bietet Jugendlichen das Theaterspiel mit seinen explorativen Möglichkeiten, mit verfremdenden Probe-Identifikationen spielen zu dürfen (Liebau u.a. 2005). Anders als andere ästhetische Spielformen lebt das Theater vor allem von VerKörperungen. Theatertexte müssen gestisch-mimisch in Körpersprache umgesetzt werden. Jugendliche lernen im Darstellenden Spiel deshalb, ihren Körper als ein differenziertes Medium der Wahrnehmung und der Kommunikation bewusster wahrzunehmen. Jugendliche sind „Menschen in Entwicklung“, sie brauchen nicht nur Wissen und Können, sondern auch das Spiel mit SelbstEntwürfen. Das bietet sich ihnen auch beim Eintauchen in Rollen, die sie im Alltag so nie spielen könnten, die aber im Probehandeln der Bühne „wahr“ sind. Das Spiel mit fremden Rollen und eigenen Selbstentwürfen kann gelingen, wenn Jugendliche durch Phantasie und Wahrnehmungsschulung zu mehr Sinnverstehen kommen und dadurch auch ihr mimetisches, körperliches Ausdrucksvermögen entwickeln. – Jedem harten Rationalisten gilt die Phantasie als ein schwer zu kalkulierendes Element der Unberechenbarkeit. Zugleich muss auch der Rationalist zugeben, dass der Verstand ohne den Eigensinn der Sinne, ohne Vorstellungskraft, Phantasie wie auch ohne die spielerische Erfahrung mit Selbstdisziplin schwerlich imstande ist, kreativ Neues zu denken und zu erschaffen.

5. Ganztagsschule als Bindungsort der Verlässlichkeit und der Bildung Wenn Kinder und Jugendliche einen längeren Schultag in der Schule verbringen, so sollte die Schule für sie das sein, was Siegfried Bernfeld als eine „Affektstätte“ bezeichnet hat (Bernfeld 1929: 223). Als Affektstätten müssen Schulen soziale Orte sein, die affektiv bindende Wirkung für die Schülerinnen und Schüler haben, so dass es sich deswegen lohnt, Lebenszeit in ihr zu verbringen. Andernfalls – so Bernfeld – besteht die Gefahr, dass Jugendliche einen Ort, dem sie sich emotional zu wenig verbunden fühlen, durch innere oder äußere Fluchten vermeiden. – Besonders innere Fluchten sind an Schulen oft Symptome einer als „leer“ empfundenen, unbelebten Lebenszeit. Man erkennt sie in Schulen am gelangweilten, desengagierten Herumsitzen, am zeitweiligen länge-

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ren Schuleschwänzen, am Absorbiertsein an Außerschulisches wie Jobs, ausgiebige Feten oder an exzessivem Musikhören, um nur einige (harmlosere) Beispiele zu nennen. Dabei handelt es sich nicht um genuine Verwahrlosungsphänomene, sondern um Symptome einer mangelnden inneren Bindung an die Schule und an das, was dort an Bindung erhofft wurde. Nimmt man diese und andere Symptome eines Mangels an Bindung ernst, so erweist sich die bindende Verlässlichkeit von Schulen als „Affektstätten“ als ein weiteres wichtiges Kriterium für ihre Wirksamkeit im Lernen, im Unterricht, in Bildung und Erziehung. Die pädagogische Attraktivität der Ganztagesschule wird sich letztlich daran entscheiden, ob ihre lebensweltlichen und kulturellen Orientierungen und Angebote eine nachhaltige bindende Wirkung für Schülerinnen und Schülern entfalten. Bindende Wirkungen werden durch ästhetische Eigen-Erfahrungen mit Gewissheit gestärkt. Freilich bedarf es dazu eines entsprechend erweiterten Kultur-Begriffs (Liebau 1992). Als „Subjektarbeit“ ist ästhetische Bildung geeignet, auch Erfahrungen einer sozial breiten, mündigen kulturellen Teilhabe zu vermitteln. Gerade die Ganztagesschule mit ihrem erweiterten Zeitrahmen ist – ähnlich wie das Internat – geradezu prädestiniert, dieses Ziel zu erreichen, wenn sie sich selbst entsprechende Ziele setzt. Gerade unter Deprivationsbedingungen darf die Ganztagesschule nicht nur ein „Haus des Lernens“ sein, in dem man nachmittags seine Hausaufgaben macht, seinen Wochenplan abarbeitet, vielleicht noch etwas Förderunterricht bekommt und danach – in der kurzen verbleibenden „Freizeit“ draußen noch etwas Fußball oder Volleyball spielt. Als ein kulturelles und sozio-moralisch affektiv bindendes (Gegen-)Milieu der wachen Interessiertheit sollten Ganztagsschulen sich auch außerschulische ästhetische Kompetenz aus Musikschulen, Kunstschulen, Sportvereinen, Jugendorchestern, Posaunenchören u.v.a. in die Schulen hineinholen, um damit den Raum der Schule zu den Angeboten der ästhetisch-musischen und sportlichen Bildung hin zu öffnen. Eine ganztägige Beschulung von Kindern und Jugendlichen, die nur Lernen und Betreuung verheißt, ohne mehr Chancen zur vertieften ästhetischen Bildung zu garantieren, eine solche Schule ist pädagogisch auf Dauer nicht zu verantworten!

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LUISE W INTERHAGER-SCHMID: GANZTAGSSCHULE

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Wolfgang Zacharias

Netzwerken als künstlerischpädagogische Strategie „Experimente, die als real gedacht wurden, haben reale Folgen.“ „Wenn Du etwas verstehen willst, dann versuche es zu verändern.“ Uri Bronfenbrenner 1981

Kulturelle Bildung – Lernen und Experimentieren in Möglichkeitsräumen Kulturelle Bildung ist – will sie, der Summe des „Ästhetischen“ angemessen, zur Entfaltung ihrer Potentiale, der Pluralität der Künste, Kulturen und Medien beitragen – auf Vernetzung und Kooperation angewiesen. Und vielleicht sind ja Künste und Kulturen, das ihnen zugeschriebene Kreative, Imaginative, Phantasievolle und Neugierde Generierende, Entgrenzende auch eine Art „Vorschule“ der „Kunst des Netzwerkens“ im zivilgesellschaftlichen Raum des Zukünftigen? Um Bezüge hier nur anzudeuten und ohne weiter darauf einzugehen: Das Ästhetische öffnet, und wenn zunächst nur als „Schöner Schein“, als Theater, Bild, Musikwerk, Tanz, Film, als reales und digitales Spiel, den „Raum der Notwendigkeiten“ in den „Raum der Möglichkeiten“ – und zwar „auf den Flügeln der Einbildungskraft“, z.B. im bildenden Spiel oder in den gestaltenden Künsten mit der Möglichkeit realer, politischer, weltverändernder Folgen. Das ist das „Schillersche Zentralmotiv“ in seinen „Briefen zur Ästhetischen Erziehung des Menschen“ (1793/2000). „Just imagine“ – so nahm John Lennon dieses Motiv auf. Netzwerke und ihre Akteure werden gerade auch durch „Möglichkeitsentwürfe“ für eine verbesserte Praxis und z.B. Bildungsstruktur zugunsten von Entwicklungsdynamik und Reforminteresse – ausgehend von den Ist-Zuständen bestehender, „real-existierender“ Notwendigkeiten – motiviert und auf freiwilliger Basis zur Handlungseinheit. Dies ist im Kern ihre nachhaltige „imaginative Kraft des Potentiellen“, die gegen die „normative Kraft des Faktischen“ steht, mit starken Verbündeten: Zukunft und Bildung, auch als eine Art evolutionärer „Ökologie der

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DIE KUNST DER BILDUNG

menschlichen Entwicklung“ in gemeinsam gestaltbaren Lern- und Lebensumwelten (Bronfenbrenner 1981). Kulturelle Bildung in der Spannweite der anthropologisch gegebenen sinnlichen Natur des Menschen bis zu den einzigartigen Symbolwelten und Abstraktionen von Kunst und Wissenschaft hat aktuell eine Herausforderung historischer Dimensionen zu bestehen – und eigentlich steuernd und leitend existenziell im Generationenverhältnis zu gestalten: Den computergestützten Umgang mit den neuen medialen und digitalen Welten und Netzen, etwa der konvergenten Handytechnologie und dem Internet, den Games und Communities dort als „künstliche Paradiese“ (Welsch 1996: 289): Möglichkeitsräume und Informations- sowie Kommunikationswelten immaterieller, aber auch zunehmend digitalinteraktiver Art und mit hochkomplexen Zeichenqualitäten (Text, Bild, Klang, Dramaturgie), sowie mit potentiell unendlichen Symbolsystemen, interaktiven Teilhabe- und Identifikationsangeboten. Das alles ist im Prinzip bzw. zumindest kunstnah und auf alle Fälle kulturdefinierend. Um im Jargon zu bleiben: Das mediale „Second Life“ als symbolische Möglichkeit ist ungeahnt offen für alle, das leibliche „First Life“ fällt zurück, zur Zeit und mit geradezu „soziokultureller“ Intensität und Idealität für (inter)aktive Teilhabe. Den Komplex insgesamt kann man auch „Cyberspace“ nennen als neuen, unsichtbaren, aber doch unendlichen und existenten Raum. Seit einiger Zeit spricht man zudem vom Web 2.0. – der digitalen Welt des 21. Jahrhunderts. Allerdings: Die leibliche, menschlich-soziale Welt gewinnt möglicherweise gerade dadurch an neuer Bedeutung als einmalig-authentische Erfahrungsbasis. „Revalidierung“ der materiell-körperlichen Wirklichkeit prophezeite Wolfgang Welsch bereits 1996. „Kultur verstehen“ wiederum nannte 2003 Gerhard Schulze die „Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts“. Kultureller Bildung kommt hier notwendigerweise und nicht nur möglicherweise, etwa in der Vermittlung, Vernetzung zwischen „Second life“ und „First Life“, eben auch als balancierende Revalidierung des Leiblichen, Authentischen, von Einmaligkeit und Artenreichtum eine weitgehende intergenerationelle (auch „interkulturell“ zwischen Alt und Jung zu interpretierende) Auftragslage, eigentlich Schlüsselrolle, zu.

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WOLFGANG ZACHARIAS: NETZWERKEN

Analog zum Label Web 2.0 gilt es eigentlich dann auch von einer Art „KuBi 2.0“ zu sprechen bzw. diese eben mit Bezug zur Realität und Symbolik des Webs 2.0 zu fordern und zu fördern. Eine Konsequenz ist der Vernetzungsimperativ für alle Bildungsakteure, für entsprechende Segmentierungen, politische und kooperations- und verwaltungsspezifische, aber auch soziale milieubedingte Grenzen: Bezogen auf Bedürfnisse und Möglichkeiten einer ganzheitlichen „Kultur des Aufwachsens“, können weder Familienpolitik, Jugendhilfe, Kunst und Kultur, noch Lebensumwelt, Medienwelten, Schule und Ausbildung alleine oder dominant ausschlaggebend sein. Hier „hängt alles mit allem zusammen“ – um einen Gemeinplatz zu zitieren, der aber deutlich macht, was zu tun ist, wie z.B. die PISA-Studie gezeigt hat: Schulerfolg, Bildungsbiographien sind von sozialen milieuspezifischen Familien- und Umweltbedingungen des Aufwachsens abhängig. Und da war Deutschland bekannterweise im Ranking der Chancengerechtigkeit entsprechend Bildungszugängen und Bildungserfolgen an letzter Stelle – woran immer wieder zu erinnern ist, gerade im Kontext kultureller Teilhabe, produktiv wie rezeptiv, real und digital im Verbund als Bildungsziel. Darüber hinaus geht es generell um den Beitrag der Künste und Kulturen, um die „Bildung kreativer Intelligenz“ in der Entwicklung der nachwachsenden Kinder und Jugendlichen in und außerhalb der jeweils real existierenden Schule: „Durch die Verwendung des Begriffs ‚Entwicklung’ betone ich, dass jedes individuelle Wachstum Abbild einer beständigen und dynamischen Interaktion zwischen einem Organismus mit seinen internen Anlagen und der Umwelt ist, deren Eigenschaften nie ganz vorherzusehen sind. Außerdem finden diese dynamischen Interaktionen während des Ganzen aktiven Lebens hindurch statt und geben der Existenz und den Leistungen eines Individuums Form und Sinn“ (Gardner 1999: 23). Dieser ganzheitlich-sozialökologische Erkenntnisansatz ist für Kultur und Bildung in einem weiten Verständnis eigentlich unhintergehbar. Vernetzendes Denken und Handeln ist deshalb eigentlich ein geradezu zwingender Handlungsansatz (kultur-)pädagogischer Qualifizierung und Entwicklung.

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DIE KUNST DER BILDUNG

Netzwerken = Bilden und Erziehen als Kunst? Es war einmal: Bis ins 18. Jahrhundert und entsprechen der griechisch-römischen Geistestradition galt „Erziehung“ als besondere Kunst, mit je spezifischen Techniken und Fertigkeiten und als eine der „schönen Künste“. Erziehen als Kunst ist dann in Teilen analog zu anderen Künsten lehr- und lernbar, braucht aber dann auch die besondere und subjektive Begabung, Einstellung, Begeisterung, Intuition und Imagination sowie „Engagement“. Erziehung verstand sich analog einer künstlerischen Professionalität mit Eigensinn und der Anmutung von Berufung, Mission zugunsten der „Formung“ von Menschen. Wie dies dann geht entsprechend Stilen und Regeln, Techniken und Verfahren als „Erziehungskunst“, das änderte sich natürlich im Lauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte immer wieder, auch das ist „kunstanalog“ zu denken und zu sehen (vgl. Langewand 1990). „Kunst“ als Paradigma auch von und für Erziehung generell und weit über „Kunsterziehung“ und „kulturelle Bildung“ hinaus gehört also durchaus in die abendländische Grundausstattung der Entstehung, Interpretation und Gestaltung pädagogischer Verhältnisse. Die Perspektive „Künstler als Erzieher, Pädagogen, Lehrmeister“ ist im Verhältnis dazu eher eine Variante, Zuspitzung, ein Sonderfall, die Vermittlung der unterschiedlichen Künste selbst und entsprechender spezifischer Kompetenzen. Allerdings: In der Diskussion um das Paradigma „Lebenskunst“, als Lernziel und als Chance der „ästhetischen Gestaltung des eigenen Lebens“, als „ästhetische Existenzform“ taucht das Motiv Ende des 20. Jahrhunderts eigentlich wieder neu auf (vgl. BKJ 1999). Daran ist durchaus und zugespitzt für eine „Kunst des Netzwerkens“ anzuknüpfen. Der die Erziehungswissenschaften anteilig grundlegende Friedrich Schleiermacher, Berliner Philosoph und Theologe, forderte deshalb auch, sozusagen vermittelnd, 1826 eine „Kunstlehre auf wissenschaftlicher Basis“ für das, was schon immer als Praxis eine Kunst war: Erziehung. „[…] und wenn die Theorie auch erst später entstand: so fehlte der erziehenden Tätigkeit doch nicht der Charakter der Kunst. Ist doch überhaupt auf jedem Gebiet, das Kunst heißt im engeren Sinne, die Praxis viel älter als die Theorie, so dass man nicht einmal sagen kann die Pra-

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xis bekomme ihren bestimmenden Charakter erst mit der Theorie. Die Dignität der Praxis ist unabhängig von der Theorie; die Praxis wird nur mit Theorie eine bewußtere“. Und: „Der eigentlich Charakter der pädagogischen Einwirkung“ ist „das Bilden“ (Schleiermacher, zit. n. Langewand 1990: 18).

Fast 100 Jahr später und im Verlauf der Etablierung eines systematisch-flächendeckenden Schulsystems nach standardisierten didaktischen Regeln, Ordnungsvorstellungen und Methoden in der Folge und Fortschreibung der Vorgaben von Johann Amos Comenius (Didacta magna, 1672) verliert sich der allgemeine Kunstbezug des Erziehungsgeschäfts zugunsten moderner Wissenschaftlichkeit und Empirie, auch wenn die Analogie Kunst/ Erziehung immer wieder, auch kritisch, bemüht wird. Beispielsweise Theodor Litt thematisiert erziehungswissenschaftliche Dialektiken wie „Erkenntnis und Erleben“, „Individuum und Gemeinschaft“, “Führen oder Wachsenlassen“, „Mensch und Welt“ und fragt: „Was macht das Tun des Erziehers demjenigen des Künstlers vergleichbar? Beide haben, allgemein gesprochen, einen ‚Stoff’ vor sich, den sie ‚bearbeiten‘ mit der Absicht, ihm eine gewisse Form zu geben. Nun setzt aber das formende Tun des Erziehers wie das des Künstlers ein bestimmtes Wissen um die Eigenart des zu bearbeitenden Stoffes voraus. Insofern ist zweifellos ein Erkenntnismäßiges, ein im weitesten Sinne Theoretisches auch auf der Seite des künstlerischen Schaffens im Spiele“ (Litt 1921/1969: 86).

Der Erzieher habe, so meint Litt dann später, mehr „Theorie nötig als der Künstler, weil die pädagogische Lebenspraxis nach einer solchen Theorie verlange“ (ebd.: 88). Erziehungswissenschaft ist heute eine Selbstverständlichkeit als geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplin. Erziehung, Bildung als – und durch – Kunst und Kultur, als Bildung, die ihren Ausgang von der Kunst und der Kultur nimmt, bzw. entsprechend einer unmittelbaren, auch unpädagogisierten Bildungsmächtigkeit des Umgangs mit Künsten und Kulturen ist im Horizont kulturell-künstlerischer Bildung neu zu diskutieren und zu realisieren – als eine Spielart bildender ästhetischer Erlebnisse und Erfahrungen, sowohl in produktiven wie rezeptiven Formen.

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DIE KUNST DER BILDUNG

Netzwerken als kulturell-künstlerisch analoge Gestaltungsform zugunsten sozialer, lebensweltlicher und pädagogischer Bildungswelten, Bildungslandschaften zu begreifen und zu praktizieren, ist gerade kultureller Bildung angemessen – und als theoriehaltige Praxis, bzw. praxisgenerierter Theorie ausbau- und entwicklungsfähig. Man kann dabei an Josef Beuys anknüpfen: Kunst arbeitet an einer „sozialen Plastik“, oder auch an die Documenta 12/2007 denken: Kunst per se als Vermittlung begreifen. Denn „eine Gesellschaftsordnung wie eine Plastik zu formen, das ist meine und die Aufgabe der Kunst“ – so eben Josef Beuys in den 70er Jahren auch im Kontext der Documenta Kassel (zit. n. Oman 1988: 9). Es geht um einen „erweiterten Kunstbegriff“, der gesellschaftliches, soziales, pädagogisches Handeln und Wirken einschließt, eigentlich anzielt, aber eben mit verallgemeinernden Gestaltungsstrategien des Künstlerischen in individueller Verantwortung. Dies ist dem Netzwerkparadigma durchaus affin.

Netzwerke Kultureller Bildung im „magischen Dreieck“ Jugend-Kultur-Schule – eine Option Als nach dem „Pisaschock“ 2001/2002 klar wurde, dass das deutsche Bildungswesens vor allem mit dem Focus auf Schule überraschend internationalen Standards nicht standhielt und dass es zudem bezüglich sozialer Selektion, die Inklusion und Exklusion von Bildungs- und damit von Lebens- und Berufschancen vom jeweiligen Milieuhintergrund abhängig macht, weltweit (soweit von der OECD erfasst) den peinlichen letzten Platz einnimmt, ist endlich Bewegung in die deutsche Bildungsreformdiskussion gekommen. Das dies zunächst einmal an sich positiv ist – darüber zumindest sind sich alle einig. Kulturelle Bildung – mit entsprechenden Chancen und Risiken – steckte unversehens und eher unvorbereitet mittendrin in dieser Bildungsreformdiskussion. Sie wurde, auch eher überraschend, deutlich aufgewertet, zumindest in den verbalen Appellen und Zuschreibungen von Politik, Kunst und Kultur allgemein. Allerdings hat sich dies materiell sozusagen noch nicht so recht ausgezahlt, im Wortsinn. Gerade wenn es um die Forderung nach „neuen Lernkulturen“ geht, wird vor Ort und in der Kooperationspraxis auf lokaler Ebene Kunst und Kultur beschworen und gebraucht, entspre-

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chend ihres vermutenden Innovationspotenziales zugunsten eines anderen, aktivierenden Lernens: „Diskussionen über Lernkultur markieren in der Geschichte der Pädagogik das ständige Bestreben, Lehren, Lernen und Schule mit Methoden neuen Lernens bzw. mittels erweiterter Formen des Lehrens und Lernens so zu gestalten, dass die Lernenden sich zu autonomen, kenntnisreichen und aktiv – gestalterischen Persönlichkeiten entwickeln können. Besonders in reformpädagogischen Traditionen spielten und spielen Lernkulturen als Gegenmodelle der jeweiligen pädagogischen Realität eine große Rolle“ (Meinert/Sander 2005: 3).

Wenn es neuerdings z.B. um “Schulkooperationen“ entsprechend den Untersuchungen, des Deutschen Jugendinstituts (z.B. BehrHeintze/Lipski 2005), um „Ganztägig lernen“ (vgl. z.B. Deutsche Kinder- und Jugendstiftung 2006), um die Perspektive „Schulen ans kulturelle Netz“ (vgl. Burmeister 2004), um „neue Verhältnisse von Jugendhilfe und Schule“ zugunsten von Zukunftsfähigkeit (vgl. z.B. BMFS/Bundesjugendkuratorium 2002; AGJ 2006) und um „Kultur in der Ganztagsschule“ (vgl. Keuchel 2007) geht, dann ist „Kulturelle Bildung“ explizit und implizit immer sozusagen „vorne mit dabei“. Denn sie verfügt über auch schulrelevante Inhalte, die nicht analog sozialer Arbeit primär und zunächst defizitorientiert sind, als Unterstützungs- und Dienstleistungssystem eben auch der Mängel des Schulsystems, über Unterricht und Wissensvermittlung hinaus. Sie verfügt über animativ-aktivierende Methoden im Mix von Produktion und Reflexion. Sie hat dazu und darüber hinaus einen deutlich subjektorientierten, aber durchaus nicht leistungsabstinenten Methodenansatz. Und sie ist entsprechend ihren Gegenstandsfeldern, den Künsten und Kulturen, zunächst auch jenseits pädagogisch-didaktischer Zurichtungen lebensweltlich verortet und vertreten z.B. durch Künstler und Kulturvermittler, durch Kunstorte und Kulturereignisse, durch Medien- und Spielwelten, die nicht per se der Welt der Schule angehören, sich nicht ihrer Logik unterordnen. Die entscheidende Stärke Kultureller Bildung ist es aber, in Bezug auf Vernetzung und Kooperation, dass sie per Definition zumindest Schnittmenge dreier Politikfeldbezüge ist: Jugend, Kultur und Schule.

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Dies zwingt Kulturelle Bildung geradezu, sich mit Kooperation und Vernetzung, aber auch mit Komplementarität und differenzierender Profilbildung und je entsprechenden Potentialen wie Schnittmengen zu befassen, entsprechend ihrer Fundierung eben im „magischen Dreieck“ (wie man so schön und beschwörend immer wieder hört) von Jugendhilfe und Sozialer Arbeit, Kunst und Kultur (Medien eingeschlossen) sowie Schule, Unterricht und Ausbildung. Kulturelle Bildung hat sich in den letzten Jahrzehnten entsprechend der Vielfalt ihrer Kunst- und Kulturbezüge, des Variantenreichtums ihrer Einrichtungstypen, Projekte und Arbeitsformen (vgl. Deutscher Kulturrat 1993; BKJ 2002), zunächst als „Kinderund Jugendkulturarbeit“, dann parallel im Prozess ihrer Professionalisierung – zumindest auf der Handlungsebene – als kulturpädagogische Praxis etabliert (vgl. Fuchs 1994; Zacharias 2001). Sie hat auch formale Grundlagen, wie etwa im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) als Basis des Bundesjugendplans und Vorgabe für föderale und kommunale Ausdifferenzierung, enthalten. Der Bundesjugendplan beschreibt Kulturelle Jugendbildung so: „Kulturelle Bildung soll Kinder und Jugendliche befähigen, sich mit Kunst, Kultur und Alltag phantasievoll auseinander zu setzen. Sie soll das gestalterisch-ästhetische Handeln in den Bereichen Bildende Kunst, Film, Fotografie, Literatur, elektronische Medien, Musik, Rhythmik, Spiel, Tanz, Theater, Video u.a. fördern. Kulturelle Bildung soll die Wahrnehmungsfähigkeit für komplexe soziale Zusammenhänge entwickeln, das Urteilsvermögen junger Menschen stärken und sie zur aktiven und verantwortlichen Mitgestaltung der Gesellschaft ermutigen.“

Im Rahmen der Kulturpolitik ist sie eines der Teilfelder, vor allem entsprechend kommunaler Zuständigkeiten. In diesem hier nur ganz kurz und knapp dargestellten Horizont war und ist das Paradigma Kooperation und Vernetzung als Organisationsform und operative Gestaltungspraxis des eigenen, eben komplex-vielgestaltigen kulturpädagogischen Feldes sozusagen „nichts Neues unter dem Himmel“.

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Ältere und neuere Netzwerkmodelle für kulturell-ästhetisches Lernen Kulturelle Bildung ist also nach 2002 entsprechend Wirkungshoffnungen und reformierenden Innovationsverheißungen bezogen auf Schulentwicklung, Öffnung und Ganztag einerseits und Überlebens- und Expansionsaussichten für außerschulische Praxis andererseits prominent geworden. Diese Aufwertung wird aber begleitet auch von der Gefahr des Verlustes ihrer Eigenart, ihres Profils und ihrer besonderen Bildungsqualität – in Differenz sowohl zum Zentralgeschäft des Schulischen wie dem der Sozialen Arbeit. „Kulturpädagogische Netzwerke“ haben ihre eigene Entstehungsgeschichte und Diskurstradition seit den 70er Jahren – wie in den folgenden Hinweisen kurz skizziert. Ergänzungsplan „musisch-kulturelle Bildung“ 1977 1977 wurde der Ergänzungsplan „Musisch-Kulturelle Bildung“ zum Bildungsgesamtplan der Bund – Länderkommission (BLK) veröffentlicht. Dort wurde ein Organisationskonzept für Kooperation und Vernetzung, der „Kulturpädagogische Dienst“ als einrichtungs- und verwaltungsübergreifendes Verfahren, vorgeschlagen – zugunsten der kommunalen, regionalen Kooperation von Kultur-, Bildungs- und Jugendeinrichtungen, freie Träger eingeschlossen. Es geht dabei auch um Qualifizierung, Professionalisierung kulturpädagogischer Aufgaben: „Die Kulturpädagogischen Dienste sollten unabhängig von ihrer Zusammensetzung und ihrer organisatorischen Angleichung die Interessen der Kulturpflege wie die der Bildungseinrichtungen in gleicher Weise berücksichtigen und deren Kooperation absichern können“ (BundLänder-Kommission 1977: 15). Und schon damals war klar: das kostet extra. Vielleicht war diese leider auf Länder- bzw. Kommunalebene nicht oder kaum realisierte Projektion eine Art „Urknall“ für das, was heute mit Netzwerken, Kooperationsagenturen und Kompetenzzentren, querschnittsorientierten Servicediensten u.a. propagiert und systematisch zu realisieren begonnen wird. Leider ebenfalls weitgehend folgenlos blieb der „Modellversuch Künstler und Schule“: 1977-1979 mit 65 Künstlern an 22 Or-

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ten in sieben Bundesländern und im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft (vgl. BMBW 1980). Eine BKJ-Initiative 1979 (1) Im „Jahr des Kindes“ 1979 legte die damals noch junge „Bundesvereinigung kulturelle Jugendbildung“ (BKJ), heute „Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung“, ein Programm auf, speziell zur Kinderkulturarbeit und dem Modell kommunaler Kinder-Kultur-Wochen als nachhaltigen Praxisimpuls: „Der Aspekt der Kooperationen unterschiedlicher Gruppen, Institutionen und Initiativen war für das Konzept der Kinder-Kultur-Wochen von großer Bedeutung. Er ist es auch langfristig, wenn es um die Initiierung von gemeinwesen-bezogener Kinderkulturarbeit geht“ (Kolland u.a. 1981: 76). Qualitätskriterien waren u.a. „Mitverantwortlichkeit der Beteiligten, Einbeziehung aller am Ort aktiven Kräfte, Verbesserung und Erweiterung des Angebots, Schaffung von Möglichkeiten langfristiger Arbeit“ (vgl. dazu auch: Bockhorst/Gondolf/Ortmann in BKJ 1983: 58). Kommunales Gesamtkonzept Kinder- und Jugendkulturarbeit, München 1990 Rund um 1990 entstanden, auch ausgelöst durch die „Konzeption Kulturelle Bildung Nr.1“ des Deutschen Kulturrats (1988), dann auf föderaler Ebene (z.B. das Projekt „Kinder- und Jugendkulturarbeit in Nordrheinwestfalen: Bestandsaufnahme–Perspektiven– Empfehlungen“, Unna 1994) und kommunaler Ebene (z.B. das „Kommunale Gesamtkonzept Kinder– und Jugendkulturarbeit“, München 1990) neue Konzepte. Sie waren ausgehend von Bestandsaufnahmen formuliert und enthielten auch politische Forderungen. Hier tauchte der Begriff „Kulturpädagogisches Netzwerk“ erstmals im Kontext von Bildungsnetzen explizit auf, soweit bekannt. Der Ganztagsbezug war selbstverständlich, entsprechend einer zeit-räumlichen Matrix und darauf bezogener Angebotsformate mit kultur- und sozialräumlichen Koordinaten und Zeitrhythmen entsprechend je spezifischer Situationen. Das Münchener kommunale Gesamtkonzept Kinder- und Jugendkulturarbeit wurde 1990 einstimmig vom Stadtrat beschlossen, eine Fortschreibung erfolgte 1999 (vgl. Stadtjugendamt München, 1999). „Kommunale Kinder- und Jugendkultur im Auf258

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wind?“ mit Untertitel „Urbane kulturpädagogische Netzwerke“ heißt die Dokumentation einer bundesweiten Tagung 1990 in München (Liebich/Mayerhofer/Zacharias 1991). Brigitte Schäfer (heute Brigitte Schorn, damals LKD Kulturpädagogische Dienste, Unna, heute BKJ Remscheid) befasste sich in diesem Zusammenhang mit „kommunalen Netzwerken für Spiel und Kultur“: „Kooperation und Vernetzung sind seid geraumer Zeit zu gängige Begriffen in Politik und innerhalb der Verwaltung geworden“ (ebd.: 55). Sie stellt drei begründende Aspekte heraus: „Suche nach neuen Konzepten“, „Aufhebung von Kinderghettos“ und die „Umwelt als Lernraum erschließen“. In einem ähnlichen Kontext, der Fachtagung „Ästhetische Bildung in einer technisch – medialen Welt“ 1989 in München, formulierte der damalige Staatssekretär im noch Bonner Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (BMBW), Norbert Lammert (2007 Bundestagspräsident) für die „90er Jahre“ folgenden „kultur- und bildungspolitischen Handlungsbedarf: „Der allgemeine Bildungsauftrag von Kultureinrichtungen, die mögliche Lernortdifferenzierung und Dezentralisierung kultureller Strukturen sind sinnvoll; sie bedürfen aber – insbesondere auf der kommunalen Ebene – der Zusammenfassung, der Kooperation und der Vernetzung zu einer kulturellen Infrastruktur, die die besonderen bildungspolitischen Chancen der einzelnen Lernorte zur Geltung bringt bzw. die Vorund Nachteile kompensiert. Der Finanzbedarf dieser auch in der „Konzeption kultureller Bildung“ für notwendig erachteten Entwicklungen von Grundlagen und Infrastrukturen kultureller Bildung wird auf rund 5 Prozent der gegenwärtigen öffentlichen Kulturausgaben geschätzt; er schließt die öffentlichen Förderung von Eigenverantwortung und Privatinitiative im kulturellen Bereich ein“ (Lammert, in Liebich/Mayerhofer/Zacharias 1991: 266).

Netzwerk Spielkultur am Prenzlauer Berg, 1990 Für den Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg und gleich nach der Wende haben die engagierten KollegInnen des Vereins „Spielkultur e. V.“ dort die Gunst der Stunde zur Neugestaltung der Lebens-, Spiel- und Bildungswelten der Kinder und Familien genutzt: Als „Netzwerk Spiel/Kultur“. Es ist auch heute noch beispielhaft effizient. „Zur Sache selbst“ schrieben die Initiatoren in ihrer ersten dokumentierenden Veröffentlichung bereits 1991:

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„Fast möchte man sagen, es geht weniger um ein „Netzwerk“ als beschreibbarer, existenter Zustand, sondern um den permanenten Prozess des „Netzwerkens“ – als politische, soziale, pädagogische Aktivität ohne fixierbare feste Form. Das hat Zukunft, als Idee und Praxis unentwirrbar ineinander verwoben“ (Kirchner/ Sorge/Wetzel 1991:17). Deutscher Kulturrat: Konzeption Kulturelle Bildung Nr. 2 (1994) Die „Konzeption Kulturelle Bildung Nr.2“ des Deutschen Kulturrats (1994 nach der ersten Variante von 1988) enthält im grundlegend-einleitenden Teil das Kapitel „Kooperation und Vernetzung in der kulturellen Bildungsarbeit“. Dort werden „kommunale bzw. regionale oder landesweite Koordinationsstellen für lokale Initiativen“ gefordert (Deutscher Kulturrat 1994: 65). Es wird auch auf die „unüberschaubare Vielfalt der einzelnen Ausprägungen“ hingewiesen. Als Bedarf und Potential kulturpädagogischer Netzwerke werden benannt: Defizitausgleich, Informations- und Erfahrungsaustausch, Methodenqualifizierung, gemeinsame Infrastrukturnutzung mit der Schlussfolgerung, Netzwerke in der kulturellen Bildungsarbeit zu verstärken und zu fördern, z.B. die „Schaffung kulturpädagogischer Dienste auf örtlicher und regionaler Ebene“ (ebd.: 69), wie es bereits 1977 die Kultusministerkonferenz formulierte. NRW vorn (1): Jugendkulturbericht 1993/1994 Im „Bericht Kinder- und Jugendkulturarbeit in NordrheinWestfalen“, eine Bestandsaufnahme mit Perspektiven und Empfehlungen im Auftrag des Sozial- und des Kultusministeriums NRW, erarbeitet von der LAG Kulturpädagogische Dienste/Jugendkunstschulen wird im schlussfolgernden Empfehlungsteil für „Kooperation und Vernetzung“ plädiert, sowohl auf Landes- wie auf kommunaler Ebene (MAGS/KM NRW 1994: 165). Im Vorwort schreiben die beiden damals zuständigen Minister Franz Müntefering (Arbeit/Gesundheit/Soziales) und Hans Schwier (Kultus): „Bei der weiteren Umsetzung des Konzepts Gestaltung des Schullebens und Öffnung von Schule (GÖS) können die im Bericht benannten Me-

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thoden, beispielsweise für die Projektarbeit, eine wesentliche Rolle spielen. Der Bericht bietet dazu eine Fülle von Anregungen, damit die Schule auch durch zusätzliche Kooperationspartner bei der Weiterentwicklung des Konzeptes die notwendige Unterstützung erhält“ (ebd. 3).

Für diesen NRW–Jugendkulturbericht wurde im Vorfeld die „Expertise 4: Kulturpädagogisches Netzwerk“ (Honig/Zacharias 1993) mit besonderer Betonung der „Rolle der Schule im kulturpädagogischen Netzwerk“ und der ausführlichen Darstellung des „Praxismodells: Münchens kommunales Gesamtkonzept Kinderund Jugendkulturarbeit“ von 1990 erarbeitet. BKJ 1997 (2) - Kultur macht Schule Akzentuiert auf die Kooperation und Vernetzung von „Kultur und Schule“, aber immer unter Einbeziehung von Jugendhilfe und Sozialarbeit hat sich die Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (BKJ) mit dem Vernetzungspostulat Kultureller Bildung befasst (vgl. BKJ 1997). Darin ist u.a. bereits die Forderung nach „verbindlichen Kooperationsvereinbarungen“ (ebd.: 13) enthalten, sowie nach „regionalen bzw. kommunalen“ Netzwerken, z.B. von Seiten der Kultusministerkonferenz (ebd.: 99) und des Deutschen Städtetags (ebd.: 52). Aber eigentlich stand das Motiv „Kooperation und Vernetzung“ in den 90er Jahren nicht allzu weit oben auf der Agenda Kultureller Bildung. Die „heißen“ Themen waren Evaluation, Qualitätssicherung und Produktorientierung, kulturelle Medienkompetenz und Lebenskunst. Das aber änderte sich deutlich um und nach 2002 und mit dem Beginn einer umfassenden Bildungsreformdiskussion. Kooperation und Vernetzung wurden für Kulturelle Bildung zum Top– Thema, weit über die bisherigen kinder- und jugendkulturellen, kulturpädagogischen Binnendiskurse hinaus. Deutscher Kulturrat: Konzeption Kulturelle Bildung Nr. 3 (2005) Die „Konzeption Kulturelle Bildung III“ des Deutschen Kulturrats enthält ein eigenes Kapitel zu „Kooperation und Vernetzung“, in dem es einleitend und den aktuellen Diskursstand zusammenfassend, heißt:

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DIE KUNST DER BILDUNG

„Sicherlich die schwierigste Aufgabe und mit den meisten Erwartungen behaftet, ist die Frage nach Kooperation und Vernetzung im Bereich der Kulturellen Bildung. An sich setzt Kulturelle Bildung per se Kooperationen im Sinne von Zusammenarbeit und Zusammenführung verschiedener Disziplinen voraus. Speziell der Bereich der Kulturellen Kinderund Jugendbildung ist im Schnittfeld von Kultur-, Bildungs- und Jugendpolitik angesiedelt. In der Kulturellen Bildung treffen unterschiedliche Handlungslogiken aufeinander […]“ (ebd.: 133).

Wobei hier eher missverständlich „Bildung“ für „Schule“ steht. Heute wird in der Regel und im Kontext Kultureller Bildung ein erweiterter, eben institutions- und politikfeldübergreifender Bildungsbegriff zu Grunde gelegt, analog eines erweiterten Kulturbegriffs. Der Fokus liegt dem Ästhetischen entsprechend auf gestalteten, auch interkulturellen Lebensweisen, auf sinnlicher Wahrnehmung und Erkenntnis. Er schließt alte und neue Medienwelten ein und geht weit über den„Sonderfall der Künste“ und deren innovativ-orientierende Qualitäten hinaus. Allerdings wird hier auch eine deutliche Warnung in Sachen „Netzwerke“ ausgesprochen: „Die verstärkte Kooperation von Schule und außerschulischen Trägern bedeutet nicht, dass die außerschulischen Träger in der Schule aufgehen dürfen. Zusätzlich zur Schule bedarf es weiterhin einer funktionierenden Infrastruktur außerschulischer Kultureller Bildung“ (ebd.: 137). Modellprojekt: Kultur macht Schule – Netzwerk für Kooperation BKJ 2003-2007 (3) „Kultur macht Schule – Netzwerk für Kooperation“ und mit Akzent auf „Ganztag“ hieß das Bundesmodellprojekt der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) 2004 – 2007 mit vielerlei Teilmodulen: Ländersynopse, Best-PracticeBeispiele, Qualitätsstandards, Rahmenvereinbarungsmuster/Kontraktformulierungen, Wettbewerb („mixed up“), Workshops, Arbeitstagungen, Beratung und Informationen (vgl. Kelb 2007). Diese Modelllinie wird mit Akzent „Kooperation in der Hauptschule“ auch nach 2007 fortgesetzt (vgl. http://www.kultur-machtschule.de).

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Offensive Kulturelle Bildung in Berlin Der „Rat der Künste“ in Berlin hat 2005 eine „Offensive Kulturelle Bildung“ gestartet und ist mit einem vom Berliner Senat geförderten „Projektbüro Künste & Partner“ in Richtung Schulkooperation und überregionale Kulturvernetzung aktiv geworden. Dorothea Kolland, 2006 Leiterin des Kulturamts Neukölln und Mitinitiatorin dieser Initiative des „Rats der Künste“ benennt in der Dokumentation der Werkstattkonferenz 2006 in Berlin-Kreuzberg ein Kernproblem von „Kooperation“, das eben auch professionellen Vernetzungsbedarf begründet: „Das Schulsystem wehrt sich gegen Kooperationen mit schulfremden Menschen und schulfremden Strukturen. Dies trifft KünstlerInnen wie künstlerisches Arbeiten, welches nicht in Stundentafeln pressbar ist, sondern Projektarbeit und Autonomie erfordert“ (Kolland, zit. n. Meyer/ Steinkraus 2007: 23). In Verbindung mit der jugendkulturellen (Landesvereinigung kulturelle Jugendbildung Berlin) und der Schulzuständigkeit ist hier vieles in Bewegung geraten, nur besteht immer noch Vernetzungs- und Kooperationsbedarf auf allen Ebenen, Feldern und entsprechenden unterschiedlichen Profilebenen, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten. Erweiterte Perspektive: Ganztagsbildung/Ganztagesschule Als ein Focus des Reform- und Innovationsinteresses Kultureller Bildung gilt die Perspektive „Ganztagsbildung“ (vgl. Otto/Coelen 2004). Dabei steht zunächst, natürlich impulsgebend, die Perspektive „Ganztagsschule“ im Mittelpunkt. Den Zusammenhang Kulturelle Bildung/Ganztagsschule hat Susanne Keuchel, Zentrum für Kulturforschung Bonn, empirisch untersucht (Keuchel 2007, gefördert vom BMBW). Eine defizitbedingte und auswertende Empfehlung bezieht sich auf die Infrastrukturen Kultureller Bildung an Ganztagsschulen, mit dem Hinweis, „wie diese entweder besser ausgestattet werden oder durch Kooperationen und Vernetzungen noch stärker auf die Räume von Theatern, Musikschulen etc. im Stadtteil zurückgreifen können“ (ebd.: 248). Im Kapitel „Vernetzung der Ganztagsschulen mit der kulturellen Infrastruktur von Stadtteilen, Kommunen und regionalen Gebieten“ heißt es bezogen auf außerschulische Kooperationspartner: „Zu nennen sind hier Künstler, Kulturpädagogen, außerschulische kulturelle

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Bildungseinrichtungen wie Musikschule und Jugendkunstschule, Theater, Museen, Orchester und viele mehr“ (ebd.: 226). Rahmenkonzept Kinder- und Jugendkulturarbeit in Hamburg und STEG: 2003/2004 STEG heißt die Stadterneuerungs- und Stadtentwicklungsgesellschaft, die seit 2003 in Hamburg gezielt auf die Vernetzung von Stadtteilen und Schule hinarbeitet, eingebettet auch in das beispielhafte Hamburger „Rahmenkonzept Kinder- und Jugendkulturarbeit“ (Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg 2004). Dieses kommunale und gleichermaßen föderale („Stadtstaat“) kulturpolitische und kinder- und jugendkulturelle Konzept für vernetzte, querschnittsorientierte Kulturelle Bildung ist eine politische Setzung, die „Akteure bündeln und Synergien schaffen“, „neue Zusammenarbeitsformen fördern und entwickeln“, „öffentliche Aufmerksamkeit“ herstellen, „Zugänge zu Kunst und Kultur erleichtern“ und die „Vielfalt pflegen“ sowie „Qualität sichern“ will (ebd.: 2). STEG mit dem Akzent „Ganztagsschule und Kooperation“ im Verbund mit dem Hamburger Rahmenkonzept orientiert sich wiederum an den erfolgreichen Erfahrungen und Konzepten der „community education“ z.B. in England und USA (vgl. DKJS 2006). Lokale Bildungslandschaften – ein ganzheitlicher Entwurf des DJI Die Perspektive „lokale Bildungslandschaften“ ist das aktuelle und sehr weitgehende Projekt (2007-2010) des Deutschen Jugendinstituts, mit Akzent „Ganztagsbildung“ und „Jugendhilfe“ auf der regionalen und kommunalen Ebene. Dazu sollte ein „öffentlich–verantwortetes und professionell–hauptamtlich zu moderierendes lokales Bildungsnetz“ entwickelt werden, mit institutionsübergreifenden lokalen Bildungsbüros, kommunalen Servicestellen mit „entsprechenden Steuergruppen“ zugunsten von „Wirksamkeitsdialogen“, „Qualitätszirkeln“ und Vereinbarungen „bildungsorientierter Kriterien zur Angebotszertifizierung“ (Stolz 2007: 18). Als Voraussetzung wird genannt, dass Kommunen eigenständige bildungspolitische Agenden mit formulierten Leitzielen und auch ausgewiesenen Investitionen entwickeln wollen und 264

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können – mit dem Problem „kontraproduktiver Strukturen auf der Bundes- sowie vor allem auf der Länderebene“ (ebd.: 18). Das spezifische Problem dieses plausiblen und ausgesprochen zukunftsfähig-komplexen Ansatzes scheint allerdings die Engführung „Schule/Jugendhilfe“ zu sein, die explizit kulturpolitische und kunstorientierte Kooperationen und Bildungspartnerschaften nicht sozusagen automatisch und systematisch in den Blick nimmt, obwohl eigentlich gerade hier besonders starke Vernetzungsinitiativen entstanden sind wie z.B.: „Kinder zum Olymp“, „NRW – Modellland für Kulturelle Bildung“ mit dem Projekt „Kultur und Schule“ und die „Offensive Kulturelle Bildung“ des Rat der Künste Berlin. Möglicherweise ist dies allerdings der auf der bundesweiten Jugendhilfe/Jugendarbeit basierten Auftragslage des Deutschen Jugendinstituts geschuldet. Für regionale, lokale, kommunale Bildungsnetze als Agenturen der operativen Gestaltung von Kooperation und Vernetzung im allseits beschworenen Dreieck Jugend/Kultur/Schule aber wäre diese Begrenztheit fatal, eigentlich ein Rückschritt auch entsprechend der Entwicklungen seit den 70er Jahren. NRW vorn: Modellland für Kulturelle Bildung, 2006 (2) Bleibt noch die kulturpolitische Initiative des „Modelllands Kulturelle Bildung NRW“ zu benennen, gestartet 2006. Es ist das wohl zurzeit aufwendigste, ambitionierteste und qualifizierteste Kooperations- und Vernetzungsprojekt. Es ist durchaus auf den Dreiklang „Jugend/Kultur/Schule“ bezogen – entsprechend landesministerieller Teilnahme und Verständigung, weitergegeben dann auch auf die kommunale Ebene. Es ist insgesamt auf der föderalen Ebene angesiedelt und nimmt das ganze Land in den Blick mit der Absicht: „In die Fläche kommen“. Hier wird tatsächlich, erst- und einmalig wirklich vergleichsweise viel, wenn auch immer noch nicht genug, „Geld in die Hand genommen“. Im Schuljahr 2006/2007 waren es, also zur Premiere, bereits 600 Projekte, die von Landesseite gefördert wurden. Eine eigene Broschüre erscheint viermal jährlich mit dem Titel „mag. _1/2/3/4...._ 07/08....“. Herausgeber ist die Staatskanzlei NRW, Produzent die Landesarbeitsgemeinschaft Kulturpädagogische Dienste NRW e.V./Unna. Neben Einzelprojektförderung, der Fortbildung für Künstler und Kulturvermittler, Beratung und Öf-

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fentlichkeitsarbeit wurde neu 2007 durch einen Wettbewerb die Bedeutung von infrastrukturellen, professionellen und kommunalpolitischen Kooperations- und Netzwerkkonzepten beispielhaft betont. Es geht um das Ziel: „Kommunale Gesamtkonzepte für Kulturelle Bildung“. „Die Landesoffensive zur Förderung der kulturellen Bildung hat gezeigt, dass Kommunikation und Kooperation der Akteure ‚vor Ort‘ wichtige Grundlagen sind, um das Handlungsfeld erfolgreich zu gestalten. Daher schreibt die Landesregierung erstmals einen Wettbewerb für die besten Konzepte zur Stärkung der Kulturellen Bildung aus. Kommunen, die zielorientiert an der Qualität der kulturellen Bildungsprozesse arbeiten, werden ausgezeichnet und auf ihrem Weg ermutigt“ (mag. 3.07: 18).

Die zur Wettbewerbsbeteiligung nötigen Voraussetzungen, die ein kommunales Gesamtkonzept auszeichnen, bzw. enthalten sollten, sind wie folgt beschrieben. Es ist dies eigentlich eine allgemeingültige Beschreibung dessen, was kulturpädagogische Netzwerke, Agenturen und Servicestellen im öffentlichen, lokalen bzw. kommunalen Auftrag und zugunsten Kultureller Bildung leisten sollen und können müssten, durchaus in aktualisierter Fortschreibung der Empfehlungen der Kultusministerkonferenz 1977 zugunsten „Kulturpädagogischer Dienste“ und des Kinder- und Jugendkulturberichts NRW von 1994. „Die Gesamtkonzepte sollen folgende Aspekte aufgreifen: x Stärkung der kulturellen Bildung im kommunalen Leitbild/Profil x Schaffung von Vernetzungsstrukturen für Akteure, Politik und Verwaltung aller angesprochenen Handlungsfelder x Öffnung der Kultureinrichtungen für Kinder und Jugendliche, ihre Belange und Interessen x Entwicklung von Projekten für die künstlerisch-kulturelle Bildung im Vorschulalter x Kooperation von Künstlern, Kultureinrichtungen/-initiativen mit Kindergärten, Schulen, Weiterbildungseinrichtungen x Aktivierung von Impulsen zur Kulturellen Bildung im Alltag von Kindern und Jugendlichen x Einbeziehung von Eltern, ehrenamtlich engagierten Bürgerinnen/ Bürgern und der lokalen Wirtschaft

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x x

Erarbeitung lokaler Angebote zur Qualifizierung der Beteiligten Festlegung/Einrichtung einer Koordinierungs-/Kontaktstelle für die Kulturelle Bildungsentwicklung in der Kommune“ (ebd.:19).

Zwischenbilanz: Vernetzungsbedarf und Vernetzungsimpulse zugunsten Kultureller Bildung Im Zeitraum von 1977 bis 2007 und mit deutlichen Impulsakzenten um 1990 und nach 2002 (Kontext „PISA“) hat sich Kulturelle Bildung, bzw. Kinder- und Jugendkulturarbeit und Kulturpädagogik intensiv mit Kooperation und Vernetzung befasst. Es wurden jede Menge „Best-Practice-Modelle“ erprobt und auch Infrastrukturen entwickelt, allerdings eher punktuell und politisch situativ. Die operativ zu gestaltende Querschnittsorientierung Kultureller Bildung ist ihr also geradezu systemisch inhärent, sowohl von ihren Gegenstandskontexten (Kunst, Kultur, Medien) her wie auch entsprechend ihrer pluralen, auch zeit-räumlich variantenreichen, inhaltlich vielgestaltigen (Kunstsparten, Kultur-/Jugendeinrichtungen) kulturellen Ausdrucksformen, Erscheinungsweisen auch im Horizont der neuen technologischen Vernetzungsdynamik zwischen „Sinne und Cyber“. Die Praxis und Professionalität Kultureller (Kinder- und Jugend-) Bildung, insbesondere bei der Neuordnung des Bildungswesens, der Öffnung und Reform der Schule setzt allerdings „Kooperations- und Netzwerkkompetenz“ voraus. Kulturpädagogisch tätige Einrichtungen und Projekte kulturell-künstlerischer Bildung, gleich ob mit kulturpolitischen, jugendpolitischen oder schulischen Kontexten, sind, wenn sie qualitativ auf der Höhe der Zeit („state of the art“) sein wollen, immer auch eine Art „Kompetenzzentrum für Kooperationsgestaltung und Grenzüberschreitung“, bzw. aktiv agierende, auch personalisierbare Netzwerkknoten. In diesem Sinne ist Netzwerkhandeln, bzw. sind daraus entstehende Projekte und Lernumgebungen notwendigerweise immer ein offener, auch kreativ-nichtlinearer, nicht-technologischer Gestaltungsprozess. Vernetzen bedeutet permanentes Experimentieren und entdecken von Möglichkeiten als auch eine Form des „Ungewöhnlichen Lernens und dessen Tradition“ (vgl. Ziehe/

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Stubenrauch 1981). Netzwerken als Teil von Erziehungs- und Bildungskunst, als „Kunst des Vermittelns“ in immer wieder neuen Situationen und Konstellationen ist analog eben auch als Chance für neue Lernkulturen für, mit, von Künstlern, Kindern und Jugendlichen zu werten. Für Kulturelle Bildung und Kulturpädagogik ist Kooperationsund Netzwerkkompetenz – neben fachlich-ästhetischer und pädagogisch-bildender Professionalisierung im Verbund – also eigentlich die zentrale professionelle Herausforderung oberhalb der Alltagsebene unmittelbarer Praxis z.B. mit Kindern und Jugendlichen. Es ist damit auch eine politisch-gesellschaftliche Herausforderung im Horizont von Zivilgesellschaft und bürgerschaftlichem Engagement. „Netzwerken“ mit Mustern von Natur bis Technologie, von Ökologie bis Ökonomie, von Lebenswelten, realen und medialen Spiel- und Lernwelten im Verbund ist die Kulturtechnik der Moderne – so der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme (in Barkhoff/Böhme/Riou 2004: 17.) Kinder- und Jugendkulturarbeit ist entsprechend der Vielfalt ihrer Bezüge und der Komplexität ihres Bedingungsgefüges, inhaltlich, methodisch und organisatorisch von ihrem Ansatz her „netzwerkaffin“: „Ihr Programm wird diskursiv begründet, geknüpft und festgemacht an Gesichtspunkten und Vorstellungen, die in der Öffentlichkeit für eine Kinder- und Jugendkultur relevant erscheinen. In den öffentlichen, auch für Kinder offenen Diskurs werden diese einbezogen und zur Teilnahme an einem Projekt bewogen. Jugendkulturarbeit erscheint somit als Netzwerkhandeln nicht allein im organisatorischen Sinne und bei der Erschließung von Ressourcen. Diejenigen, für welche die Arbeit geleistet wird, lassen sich gewissermaßen assoziativ gewinnen: durch Animation zu Erlebnissen, Werbung für Ideen (kreativer Betätigung), durch verstreut wirksame soziale Unterstützung (seitens der Eltern und anderer Bezugspersonen), durch zugkräftige Szenen, die junge Menschen beobachten oder von denen sie hören. Im Netz ihrer Erfahrung, das lokal und personal Anknüpfungspunkte findet, werden sie interessiert“ (Wendt 1991: 54).

Literatur Arbeitsgemeinschaft der Jugendhilfe (AGJ) (Hg.) (2006): Handlungsempfehlungen zur Kooperation von Jugendhilfe und Schule. Berlin: AGJ. 268

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Barkhoff, Jürgen/Böhme, Hartmut/Rion, Jeanne (Hg.) (2004): Netzwerke: Eine Kulturtechnik der Moderne. Köln/Weimar/ Wien: Böhlau. Behr-Heintze, Andrea/Lipski, Jens (2005): Schulkooperationen. Stand und Perspektiven der Zusammenarbeit zwischen Schulen und ihren Partnern. Schwalbach: Wochenschau Verlag. Bronfenbrenner, Urie (1981): Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta. Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (BKJ) (Hg.) (1983): Jugendkulturarbeit – Beispiele für Praxis und Planung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (BKJ) (Hg.) (1997): Kultur Macht Schule. (BKJ, Bd. 40) Remscheid. Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (BKJ) (Hg.) (1999): Lernziel Lebenskunst. Remscheid. Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (BKJ) (Hg.) (2002): Kultur leben lernen. Remscheid. Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (BMBW) (1980): Modellversuch: Künstler und Schüler, BMBW-Werkstattbericht Nr.23. Bonn. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2001): Zukunftsfähigkeit sichern! Bonn. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2002): Leipziger Thesen: Bildung ist mehr. Bonn. Bund-Länder-Kommission (BLK) (1977): Musisch-kulturelle Bildung - Ergänzungsplan zum Bildungsgesamtplan. (Bd.1/2). Stuttgart. Burmeister, Hans Peter (Hg.) (2004): Schulen ans kulturelle Netz. Loccum: Loccumer Protokolle. Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) (Hg.) (2006): Schule ist Partner. Ganztagsschule und Kooperation. Berlin. Deutscher Kulturrat (DKR) (Hg.) (1988): Konzeption Kulturelle Bildung. Bonn. Deutscher Kulturrat (DKR) (Hg.) (1994): Konzeption Kulturelle Bildung, Bd. 1/2. Essen. Deutscher Kulturrat (DKR) (Hg.) (2005): Kulturelle Bildung in der Bildungsreformdiskussion. Konzeption Kulturelle Bildung III. Berlin. Fuchs, Max (1994): Kultur lernen. Eine Einführung in die Allgemeine Kulturpädagogik. Remscheid: BKJ. 269

DIE KUNST DER BILDUNG

Gardner, Howard (1999): Kreative Intelligenz. Frankfurt a.M.: Campus. Honig, Christoph/Zacharias, Wolfgang (1993): Kulturpädagogisches Netzwerk. Expertise 4 Kinder- und Jugendkulturarbeit in NRW. Unna. Kelb, Viola (Hg.) (2007): Kultur macht Schule. Innovative Bildungsallianzen – neue Lernqualitäten. München: Kopaed. Keuchel, Susanne (2007): Kultur und Ganztag. Bonn: ARCult Media. Kirchner, Constanze/Sorge/Wetzel, Tanja (Hg.) (1991): Netzwerk Spiel – Kultur Prenzlauer Berg. Berlin. Kolland, Dorothea u.a. (1981): Stadtentdeckungsreise und Musikbaumgerassel. Regensburg: Bosse. Koordinationsforum Kinder- und Jugendkultur München (1999): Kommunales Gesamtkonzept Kinder- und Jugendkultur, Fortschreibung 1997/1998. Stadtjugendamt/Sozialreferat München. Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg (2004): Rahmenkonzept Kinder- und Jugendkulturarbeit in Hamburg. Hamburg. Lammert, Norbert (1991): „Kulturelle Bildung und Ästhetische Erziehung“. In: Zacharias, Wolfgang (Hg.): Schöne Aussichten – Ästhetische Bildung in einer technisch-medialen Zeit. Essen: klartext. Langewand, Alfred (1990): „Von der Erziehungskunst zur Erziehungswissenschaft“. In: Lenzen, Dieter (Hg.): Kunst und Pädagogik. Erziehungswissenschaft auf dem Weg zur Ästhetik? Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Liebich, Haimo/Mayrhofer, Hans/Zacharias, Wolfgang (Hg.) (1991): Kommunale Kinder- und Jugendkulturarbeit im Aufwind? München: Spielkultur, Pädagogische Aktion. Litt, Theodor (1921): „Das Wesen des pädagogischen Denkens“. In: Nicolin, Friedhelm (Hg.) (1969): Pädagogik als Wissenschaft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 268304. MAGS u.a. NRW (Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales/Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen) (Hg.) (1994): Bericht Kinder- und Jugendkulturarbeit in Nordrhein-Westfalen. Unna.

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WOLFGANG ZACHARIAS: NETZWERKEN

Meyer, Barbara/Steinkrauss, Nils (2007): Offensive kulturelle Bildung in Berlin. Berlin: kulturprojekte. Meyer, Meinert A./Sander, Uwe (2005): „Schwerpunkt: Neue Lernkultur“. In: ZfE 1/2005, S. 3. Oman, Hiltrud (1988): Joseph Beuys. Die Kunst auf dem Weg zum Leben. Weinheim/Berlin: Quadriga. Otto, Hans Uwe/Coelen, Thomas (Hg.) (2004): Grundbegriffe der Ganztagsbildung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Schiller, Friedrich (2000): Über die Ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Stuttgart: Reclam. Schulze, Gerhard (2003): Die beste aller Welten. München: Hanser. Stolz, Heinz-Jürgen (2007): „Das Rad nicht immer neu erfinden müssen: Die Ganztagsschule in der lokalen Bildungslandschaft“. In: DJI-Bulletin 1/2007, S. 17. Welsch, Wolfgang (1996): Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart: Reclam. Wendt, Wolf Rainer (1991): „Zur Ökologie sozialer Vernetzung und kultureller Netzwerke“. In: Liebich, Haimo/Mayrhofer, Hans/Zacharias, Wolfgang (Hg.): Kommunale Kinder- und Jugendkulturarbeit im Aufwind? München: Spielkultur, Pädagogische Aktion. Zacharias, Wolfgang (Hg.) (1991): Schöne Aussichten – Ästhetische Bildung in einer technisch-medialen Zeit. Essen: klartext. Zacharias, Wolfgang (2001): Kulturpädagogik, kulturelle Jugendbildung. Eine Einführung. Opladen: Leske + Budrich. Ziehe, Thomas/Stubenrauch, Herbert (1982): Plädoyer für ungewöhnliches Lernen. Reinbek: Rowohlt.

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Autoren verzeichnis PETER BERNHARD: Dr. phil., Professor (in Vertretung) am Institut für Philosophie und Mitglied des Interdisziplinären Zentrums Ästhetische Bildung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Arbeitsschwerpunkte: theoretische Philosophie, insbesondere Philosophie der Neuzeit, Ästhetik und Logik. JOHANNES BILSTEIN: Dr. phil., Professor für Erziehungswissenschaft an der Folkwang Hochschule in Essen. Vorsitzender der Kommission Pädagogische Anthropologie in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Ästhetische Bildung, Pädagogische Anthropologie, Erziehungs- und Bildungstheorien. PETER BUBMANN: Dr. theol., Professor für Praktische Theologie im Fachbereich Theologie und Mitglied des Interdisziplinären Zentrums Ästhetische Bildung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Nebenamtlich als Kirchenmusiker tätig. Arbeitsschwerpunkte: Grundfragen der Religions- und Gemeindepädagogik, ethische und ästhetische Bildung, Europa als Bildungsherausforderung, Kulturtheologie, insbesondere theologische Würdigung der Musik, Kirchentheorie. VOLKER FREDERKING: Dr. phil., Professor auf dem Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft „Medien im Deutschunterricht“ im Symposion Deutschdidaktik und einer der Leiter des DFG-Projekts „Literarästhetische Urteilskompetenz“. Arbeitsschwerpunkte: Fachspezifische Mediendidaktik, E-Learning im Deutschunterricht, Identitätsorientierte Deutschdidaktik, Leseförderung, ästhetische Bildung, Aufgabenentwicklung, Unterrichtsforschung. MAX FUCHS: Prof. Dr., Akademie Remscheid und Universität Duisburg-Essen. Vorsitzender der Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung und des Deutschen Kulturrates. Arbeitsschwerpunkte: Kultur- und Bildungstheorie, Bildungspolitik.

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DIE SINNE UND DIE KÜNSTE

JÜRGEN FUNKE-WIENECKE: Dr. phil., Professor am Fachbereich Bewegungswissenschaft der Fakultät Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Systematische Bewegungs- und Sportpädagogik und -didaktik. LEOPOLD KLEPACKI: Dr. phil., Akademischer Rat am Institut für Pädagogik und Mitglied des Interdisziplinären Zentrums Ästhetische Bildung an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg. Arbeitsschwerpunkte: Ästhetische Bildung, Pädagogische Anthropologie, Theateranthropologie, Kulturpädagogik. ECKART LIEBAU: Dr. phil., Professor am Institut für Pädagogik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (Lehrstuhl II). Sprecher des Interdisziplinären Zentrums Ästhetische Bildung. Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Pädagogik, Schulpädagogik, Kulturpädagogik. PETER W. SCHATT: Dr. phil., Professor für Musikpädagogik an der Folkwang Hochschule Essen. Vorstandsmitglied des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt. Arbeitsschwerpunkte: Musikpädagogik und Musikdidaktik unter interdisziplinären und kulturtheoretischen, insbesondere interkulturellen Aspekten; Musik des 20. Jahrhunderts. LUISE WINTERHAGER-SCHMID: Dr. habil., Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Arbeitsgebiete: Allgemeine und Historische Pädagogik, Psychoanalytische Pädagogik, erziehungswissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung. WOLFGANG ZACHARIAS: Dr. phil. Kunsterzieher, Kulturrat a.D. der LH München, Kulturreferat, Mitbegründer der Pädagogischen Aktion München; Honorarprofessor an der FH Merseburg; Vorstandsmitglied Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ). Arbeitsschwerpunkte: Kulturpädagogik mit Akzenten bildende Kunst, Museum und Medien sowie lokale und kommunale Netzwerke, Handlungsfelder kultureller Bildung, Kooperation und Vernetzung Jugendarbeit, Kultur und Schule.

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AUTORENVERZEICHNIS

JÖRG ZIRFAS: Dr. phil., Professor am Institut für Pädagogik und Schriftführer des Interdisziplinären Zentrums Ästhetische Bildung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Vorsitzender der Gesellschaft für Historische Anthropologie an der FU Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Pädagogische Anthropologie und Ethik, Erziehungs- und Bildungsphilosophie, Kulturpädagogik, Qualitative Bildungs- und Sozialforschung.

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Ästhetik und Bildung Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.)

Schönheit Traum – Kunst – Bildung 2007, 288 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-831-5

Die Schönheit kehrt mit Macht zurück – die Ästhetisierung der Lebenswelten in der Moderne schreitet fort. Welche Bedeutung kommt den Unterscheidungen zwischen dem Schönen und dem Hässlichen, dem Angenehmen und dem Unangenehmen heute zu? Sind sie nach wie vor – oder sogar mehr denn je – grundlegend für alles Wahrnehmen und Handeln? Die Beiträge dieses Bandes diskutieren die Schönheit als Glück verheißende Wunscherfüllung und als Traum von Unvergänglichkeit und Unwiderstehlichkeit – und die Künste als Orte der Erscheinung und Reflexion von Schönheit. Bildung wird dabei als rezeptive Erfahrung und Interpretation von Schönheit sowie als produktive Formung und Gestaltung des Schönen – nicht zuletzt des schönen Lebens – verstanden.

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de