Philosophische Bildung und Didaktik: Dimensionen, Vermittlungen, Perspektiven [1. Aufl.] 9783476051707, 9783476051714

Die Beiträge dieses Bandes betrachten die Verbindung zwischen bildungsphilosophischen und philosophiedidaktischen Themen

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German Pages IX, 299 [293] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Einleitung (Christian Thein)....Pages 1-5
Front Matter ....Pages 7-7
Kants Lehre vom ‚Ding, an sich selbst betrachtet‘ und ihre Bedeutung für die philosophische Bildung (Renate Engel)....Pages 9-36
Hegels Bildungsbegriff – Systematik und Entwicklungsphasen (Krassimir Stojanov)....Pages 37-49
Praktiken der Einverleibung – Merleau-Ponty, Foucault, Bourdieu (Käte Meyer-Drawe)....Pages 51-65
Das bildsame Selbst – Phänomenologisch-Anthropologische Überlegungen zu einer bildungstheoretischen Reflexionskategorie (Annette Hilt)....Pages 67-82
„Epistemologische Vielfalt“ – Bildungstheoretische Überlegungen (Kai Horsthemke)....Pages 83-101
„Alles, was man wissen muss!“ – Macht Bildung glücklich? (Volker Steenblock)....Pages 103-115
Front Matter ....Pages 117-117
Peirces pragmatistischer Handlungsbegriff als Grundlage eines philosophiedidaktischen Konzepts des handelnden Lernens (Klaus Feldmann)....Pages 119-133
Kompetenz – Philosophie – Bildung: Von notwendigen begrifflichen Klärungen mit praktischen Konsequenzen (Carsten Roeger)....Pages 135-149
Lebenswelt- und Problemorientierung – Zwei didaktische Formeln und einige Überlegungen dazu (Bodo Kensmann)....Pages 151-173
Narrative Ethik und ethische Bildung (René Torkler)....Pages 175-192
Zur objektiv-hermeneutischen Rekonstruktion eines Entwurfs von philosophischer Bildung im Praxissemester Philosophie (Kinga Golus)....Pages 193-201
Genderaspekte im Philosophieunterricht (Lisa A. Henke)....Pages 203-214
Front Matter ....Pages 215-215
Zur „Philosophiedidaktik der Praxis“ und ihren Grundlagen (Helge Kminek)....Pages 217-233
Freiheit im Hag – oder: Was uns die alten Meister lehren (Thomas Nisters)....Pages 235-243
Die Sprache der Mode: Anknüpfungsmöglichkeiten für ein lebensweltliches Philosophieren im Unterricht (Christian Krämer)....Pages 245-260
Filmwelten – Konzeptionelle Grundlegung einer Didaktik des Films im Philosophieunterricht (Claudia Gockel)....Pages 261-271
Empirische Untersuchungen zur Reflexivität und Performativität der „Genderfrage“ im Philosophieunterricht (Susanne Kunz, Christian Thein)....Pages 273-285
Glückvorstellungen von Kindern und Jugendlichen und ihre mögliche Verortung in der philosophischen Tradition: Philosophieren im Zeichen des Hermes – am Beispiel der Frage nach dem Glück (Leonie Teubler)....Pages 287-299
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Philosophische Bildung und Didaktik: Dimensionen, Vermittlungen, Perspektiven [1. Aufl.]
 9783476051707, 9783476051714

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ETHIK UND BILDUNG

Christian Thein (Hg.)

Philosophische Bildung und Didaktik Dimensionen, Vermittlungen, Perspektiven

Ethik und Bildung Reihe herausgegeben von René Torkler, Katholische Universität Eichstätt, Eichstätt, Deutschland

Die Ökonomisierung unserer Lebenswelt hat nicht nur zu tiefgreifenden Modifikationen unserer Bildungssysteme geführt, sondern auch unser Nachdenken über Erziehung und Bildung nachhaltig verändert. Eine philosophische Moderation dieser Prozesse scheint wichtig wie nie, da das Kernanliegen aller Bildungsbemühungen ja nicht nur dasselbe geblieben ist, sondern vor dem Hintergrund voranschreitender Veränderungen an Bedeutung sogar immer weiter zunimmt: Bildung gewinnt ihren Sinn aus der Herausbildung verantwortlicher und selbsttätig urteilender Personen. Dabei ergibt sich die paradoxe Situation, dass autonome Personen in einer komplexer werdenden Welt immer wichtiger werden, dem technischen Imperativ möglichst effizienter Produktivität aber selbst nicht unterworfen sein können, ohne ihren Status als solche einzubüßen. Bildungssysteme können nicht einfach in größerer Stückzahl und Effizienz Personen produzieren; vielmehr müssen die Kriterien der Beurteilung von Weltprozessen ja auf die Personen selbst zurückgehen. Dass die Ethik in diesem Zusammenhang eine unhintergehbare Rolle spielen muss, liegt also auf der Hand. Die Reihe „Ethik&Bildung“ versammelt Beiträge, welche durch das Ziel geeint werden, in einer philosophischen Reflexion zentraler Prozesse und Konzepte aus Didaktik und Pädagogik den ethischen Kern des Bildungsbegriffes sichtbar zu machen. Dabei kommt den Erziehungswissenschaften eine ebenso tragende Rolle zu wie auch den fachdidaktischen Diskussionen besonders der geisteswissenschaftlichen Fächer, sofern beide Bereiche mit Philosophie und Ethik in ein konstruktives Gespräch gebracht werden. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15434

Christian Thein (Hrsg.)

Philosophische Bildung und Didaktik Dimensionen, Vermittlungen, Perspektiven

Hrsg. Christian Thein Philosophisches Seminar Universität Münster Münster, Deutschland

ISSN 2569-331X ISSN 2569-3328  (electronic) Ethik und Bildung ISBN 978-3-476-05170-7 ISBN 978-3-476-05171-4  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Verantwortlich im Verlag: Frank Schindler J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Inhaltsverzeichnis

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Christian Thein Philosophie und Bildung Kants Lehre vom ‚Ding, an sich selbst betrachtet‘ und ihre Bedeutung für die philosophische Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Renate Engel Hegels Bildungsbegriff – Systematik und Entwicklungsphasen. . . . . . . . 37 Krassimir Stojanov Praktiken der Einverleibung – Merleau-Ponty, Foucault, Bourdieu. . . . 51 Käte Meyer-Drawe Das bildsame Selbst – Phänomenologisch-Anthropologische Überlegungen zu einer bildungstheoretischen Reflexionskategorie. . . . . 67 Annette Hilt „Epistemologische Vielfalt“ – Bildungstheoretische Überlegungen. . . . . 83 Kai Horsthemke „Alles, was man wissen muss!“ – Macht Bildung glücklich?. . . . . . . . . . 103 Volker Steenblock Philosophische Bildung und Philosophiedidaktik Peirces pragmatistischer Handlungsbegriff als Grundlage eines philosophiedidaktischen Konzepts des handelnden Lernens. . . . . . . . . . 119 Klaus Feldmann Kompetenz – Philosophie – Bildung: Von notwendigen begrifflichen Klärungen mit praktischen Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Carsten Roeger

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Inhaltsverzeichnis

Lebenswelt- und Problemorientierung – Zwei didaktische Formeln und einige Überlegungen dazu. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Bodo Kensmann Narrative Ethik und ethische Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 René Torkler Zur objektiv-hermeneutischen Rekonstruktion eines Entwurfs von philosophischer Bildung im Praxissemester Philosophie . . . . . . . . . . . . . 193 Kinga Golus Genderaspekte im Philosophieunterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Lisa A. Henke Philosophiedidaktik und philosophische Unterrichtspraxis Zur „Philosophiedidaktik der Praxis“ und ihren Grundlagen. . . . . . . . . 217 Helge Kminek Freiheit im Hag – oder: Was uns die alten Meister lehren. . . . . . . . . . . . 235 Thomas Nisters Die Sprache der Mode: Anknüpfungsmöglichkeiten für ein lebensweltliches Philosophieren im Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Christian Krämer Filmwelten – Konzeptionelle Grundlegung einer Didaktik des Films im Philosophieunterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Claudia Gockel Empirische Untersuchungen zur Reflexivität und Performativität der „Genderfrage“ im Philosophieunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Susanne Kunz und Christian Thein Glückvorstellungen von Kindern und Jugendlichen und ihre mögliche Verortung in der philosophischen Tradition: Philosophieren im Zeichen des Hermes – am Beispiel der Frage nach dem Glück. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Leonie Teubler

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Über den Herausgeber Prof. Dr. Christian Thein  ist Professor für Philosophie mit den Schwerpunkten Philosophiedidaktik sowie Sozial- und Bildungsphilosophie am Philosophischen Seminar der Universität Münster. Von ihm ist die Monografie Verstehen und Urteilen im Philosophieunterricht erschienen. Darüber hinaus forscht er zu Fragen der jüngeren Philosophiegeschichte, zur Kritischen Theorie und zur Demokratietheorie.

Autorenverzeichnis Dr. Renate Engel ist Lehrerin für Praktische Philosophie, Philosophie und Englisch am Keppler-Gymnasium in Ibbenbüren. Sie hatte die Leitung der Arbeitsstelle Praktische Philosophie sowie bis 2019 eine abgeordnete Lehrkraftstelle am Philosophischen Seminar der WWU Münster inne. Dr. Klaus Feldmann  ist als abgeordneter Studienrat am Philosophischen Seminar der Universität Wuppertal tätig. In 2019 hat er eine Professur für Fachdidaktik Philosophie an der JGU Mainz vertreten. Er hat 2015 in Philosophiedidaktik mit einer Dissertation zu Handelndes Lernen im Philosophieunterricht promoviert. Claudia Gockel  ist Lehrerin an einem Gymnasium in Köln und arbeitet seit vielen Jahren zu unterrichtsrelevanten Fragen der Filmphilosophie. Dr. Kinga Golus  ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin für den Bereich der Philosophiedidaktik in der Abteilung Philosophie der Universität Bielefeld. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der philosophischen Anthropologie, Fragen der Geschlechtergerechtigkeit und dem Forschenden Lernen. Sie wurde mit einer Arbeit zu Anthropologie, Kulturreflexion und Bildungsprozesse in der Philosophie unter Genderaspekten an der Universität Bochum promoviert. VII

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Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Lisa A. Henke  ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Mainz. Ihre Forschungs- und Interessenschwerpunkte liegen in der philosophischen Anthropologie, der Wissens- und Bildungssoziologie, der Philosophiedidaktik sowie den Geschlechtertheorien. Prof. Dr. Annette Hilt  ist Professorin für Philosophie an der Cusanus-Hochschule in Bernkastel-Kues. Sie hat zu anthropologischen, lebensphilosophischen und ethischen Fragen aus phänomenologischer und bildungsphilosophischer Perspektive gearbeitet. Zuletzt hat sie einen Sammelband zur Philosophischen Anthropologie und Lebensphilosophie im deutsch-französischen Gespräch mit herausgegeben. Dr. Kai Horsthemke  ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bildungsphilosophie und Systematische Pädagogik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Er arbeitet auf internationalem Feld zu Fragen der Human- und Umwelterziehung, zu interkulturellen und indigenen Wissenssystemen sowie zur afrikanischen Bildungsphilosophie. Dr. Bodo Kensmann war Lehrer für Philosophie und Sozialwissenschaften am Gymnasium in Emsdetten und lehrte Philosophiedidaktik an den Philosophischen Seminaren der Universitäten Münster und Mainz. Seine Interessenschwerpunkte liegen in der kritischen Gesellschaftstheorie, den ökonomisch-ökologischen Postwachstumstheorien sowie dem Philosophieren mit Filmen und Fotografien. Dr. Helge Kminek  ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Archiv für wissenschaftliche Kasuistik an der Universität Frankfurt. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt in der empirischen Erforschung des Philosophieunterrichts sowie der Nachhaltigkeitsethik. Er wurde mit einer Dissertation zu Philosophie und Philosophieren im Unterricht promoviert. Dr. Christian Krämer  wurde am Philosophischen Seminar der Universität Mainz mit einer Arbeit zu den Grundlagen der Philosophiedidaktik promoviert. Er ist Lehrer an einem Gymnasium in Bad Kreuznach sowie Lehrbeauftragter für Philosophiedidaktik. Susanne Kunz  hat an der Universität Mainz Philosophie studiert und innovative Forschungsergebnisse in der empirischen Unterrichtsforschung vorgelegt. Sie arbeitet als Lehrerin in den Unterrichtsfächern. Prof. Dr. Käte Meyer-Drawe  ist Professorin im Ruhestand für Theorien der Erziehung und Erziehungswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Sie hat maßgeblich phänomenologische Aspekte und Themen für die Pädagogik und Bildungstheorie erschlossen. Ihre Monografien Illusionen der Autonomie und Diskurse des Lernens gelten als Klassiker des erziehungswissenschaftlichen Diskurses. Prof. Dr. Thomas Nisters  ist außerplanmäßiger Professor für Philosophiedidaktik und Praktische Philosophie an der Universität zu Köln. Seine Schwerpunkte liegen in der Erforschung von Methoden des eigenständigen Philosophierens sowie der Begriffsarbeit im schulischen Philosophieunterricht. Von ihm ist eine einschlägige Monografie zum Thema Dankbarkeit erschienen.

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

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Dr. Carsten Roeger  ist als Studienrat in den Hochschuldienst an das Philosophische Institut der Universität Köln abgeordnet. Seine Dissertation Philosophieunterricht zwischen Kompetenzorientierung und philosophischer Bildung weist analytisch verschiedene Felder der philosophischen, didaktischen und pädagogischen Kritik am Paradigma der Kompetenzorientierung aus. Ebenso sind in jüngerer Vergangenheit von ihm Beiträge zur Didaktik der digitalen Medien erschienen. Prof. Dr. Volker Steenblock  war von 2004 bis 2018 Professor für Philosophiedidaktik und Kulturphilosophie an der Universität Bochum. Er war Mitherausgeber der „Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik“ sowie Herausgeber zahlreicher Publikationen zur Philosophiedidaktik, Bildungsphilosophie, Hermeneutik und Kulturphilosophie. Volker Steenblock ist am 6. November 2018 verstorben. Prof. Dr. Krassimir Stojanov ist Professor für Systematische Pädagogik und Bildungsphilosophie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Er hat gearbeitet zur Relevanz des Anerkennungsbegriffs für pädagogische Kontexte sowie zu Fragen der Bildungsgerechtigkeit. Zuletzt ist von ihm die Monografie Education, Self-consciousness and Social Action: Bildung as a Neo-Hegelian Concept ­ erschienen. Dr. Leonie Teubler  war Lehrkraft für Philosophiedidaktik am Philosophischen Seminar der Universität zu Köln und arbeitet als Lehrerin für das Unterrichtsfach. Von ihr ist eine Dissertationsschrift unter dem Titel Philosophische Gespräche in Schulräumen erschienen. Ein Interessenschwerpunkt liegt in der empirischen Erforschung des Philosophierens von jüngeren Schülerinnen und Schülern. Prof. Dr. Christian Thein  ist Professor für Philosophie mit den Schwerpunkten Philosophiedidaktik sowie Sozial- und Bildungsphilosophie am Philosophischen Seminar der Universität Münster. Von ihm ist die Monografie Verstehen und Urteilen im Philosophieunterricht erschienen. Darüber hinaus forscht er zu Fragen der jüngeren Philosophiegeschichte, zur Kritischen Theorie und zur Demokratietheorie. Prof. Dr. René Torkler  ist Professor für Geschichte und Didaktik der Ethik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Schwerpunkte seiner Arbeit liegen in der philosophischen Fundierung der Philosophie- und Ethikdidaktik, der Bedeutung von Narrativität für Bildungsprozesse sowie der Philosophie Hannah Arendts. Von ihm sind verschiedene Lehrwerke für den Schulunterricht im Bundesland Bayern erschienen. ­

Einleitung Christian Thein

Der vorliegende Sammelband enthält Beiträge, die im Rahmen von Kooperationen, Tagungen und Vortragsveranstaltungen zwischen 2014 und 2017 am Philosophischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz entstanden sind. Sie alle ziehen Verbindungslinien zwischen bildungsphilosophischen und philosophiedidaktischen Themenfeldern, jeweils mit unterschiedlicher Gewichtung. So versuchen die Beiträge des ersten Themenblockes unter dem Titel Philosophie und Bildung, aus der Philosophie heraus Konzepte und Ideen zu entwickeln, die für theoretische und praktische Fragen der Bildung von Relevanz sind. Am Leitfaden einer dezidiert epistemologischen Lesart von Kants Lehre vom ‚Ding, an sich selbst betrachtet‘ verfolgt Renate Engel mit ihrem Beitrag das Ziel, eine Theorie humaner philosophischer Bildung zu begründen. Kants Theorem gewährleistet Ansatzpunkte, um die zentralen Ansprüche des Philosophieunterrichts zu verwirklichen, die die Autorin in den zeitgenössischen Konzepten der Kompetenzorientierung gefährdet sieht: Mündigkeit und Autonomie. Krassimir Stojanov unternimmt mit seiner Studie eine systematische Rekonstruktion des Bildungsbegriffs von Hegel entlang einer Analyse der einschlägigen Passagen der Phänomenologie des Geistes, der Gymnasialreden und der Philosophie des Rechts. Er verfolgt den Anspruch, die Grundmerkmale von Hegels Bildungsbegriff kenntlich zu machen, indem er die Akzente und Entwicklungslinien dieses Begriffs durch eine synchrone und diachrone Perspektivierung von Hegels Werk miteinander verschränkt.

C. Thein (*)  Westfälische Wilhelms Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Thein, Philosophische Bildung und Didaktik, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_1

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C. Thein

Kai Horsthemke diskutiert und problematisiert in seinem Aufsatz die Bedingungen und Anforderungen der gegenwärtigen Pluralität von Epistemologien im Lichte bildungstheoretischer Überlegungen. Indem er die begriffliche Explikation epistemologischer Kategorien mit einer kritischen Reflexion auf die Herausforderungen zeitgenössischer Wissensansprüche zusammenführt, entfaltet er ein qualifiziertes Verständnis von Erkenntnis(theorie), das die Relevanz der historisch und soziokulturell variablen Erfahrungsbestände von Menschen ­einbegreift. Unter Rückgriff auf die philosophischen Theoreme von Merleau-Ponty, Foucault und Bourdieu untersucht und akzentuiert Käte Meyer-Drawe in ihrem Beitrag Status und Geltung des Leibes im Kontext menschlicher Selbsterfahrung und -werdung. Mit der dezidiert doppelsinnigen Genitiv-Attribuierung ihres Titels Praktiken der Einverleibung arbeitet sie im Ausgang ihrer Gewährsmänner ein differenziertes Verständnis von Leiblichkeit heraus – nicht zuletzt als konzeptuelle Ressource für einen erweiterten Vernunft- und Bildungsbegriff. Die phänomenologisch-anthropologische Überlegungen von Annette Hilt gelten dem Anspruch, die Denkfigur des bildsamen Selbst als eine bildungstheoretische Reflexionskategorie zu elaborieren. Einen probaten Zugang, um dieses komplexe Konstituierungsverhältnis des Selbst im Zuge seiner fortlaufenden Verhältnisbestimmung mit seiner Umwelt in sich auszudifferenzieren und zu verstehen, bahnen, wie sie in ihrem Beitrag herausstellt, die Konzepte der narrativen Identität. Vor dem Hintergrund eines differenzierten Begriffs philosophischer Bildung plausibilisiert Volker Steenblock mit Bezug auf philosophische und literarische Darlegungen von Peter Bieri zum einen die nicht nur glücksverheißende, sondern entschieden glückskonstituierende Qualität von Bildung; zum anderen nobilitiert er Bildung als eine jedwede Formen von Wissen übersteigende, gar der Gewissheit der eigenen Sterblichkeit trotzende Lebensform philosophischer Orientierung. Im zweiten Themenblock sind Beiträge versammelt, die das besondere Verhältnis von philosophischer Bildung und Philosophiedidaktik in den Blick nehmen. Der erste Beitrag von Klaus Feldmann greift die weit zurückreichende Diskussion über das Verhältnis von Theorie und Praxis in philosophischen Bildungsprozessen auf. Feldmann argumentiert dafür, beide als nicht gegeneinander ausspielbare Bestandteile philosophischer Bildung zu begreifen und führt zur Plausibilisierung dieser Verhältnisbestimmung den pragmatistischen Handlungsbegriff von Charles S. Peirce an. Peirces pragmatische Maxime als konzeptionelle Verbindung theoretischer und praktischer Elemente philosophischer Bildungsprozesse auslegend, erstellt Feldmann ein Konzept des handelnden Lernens für den Philosophieunterricht. Carsten Roeger problematisiert in seinem Beitrag die Vereinbarkeit von „Kompetenzorientierung“ und „philosophische Bildung“. Beginnend mit einer Schärfung der Begriffe „Kompetenz“, „Philosophie“ und „Bildung“, stellt Roeger didaktische Überlegungen an, wie sich die Bedeutung konstitutiver Merkmale des Philosophieunterrichts verschiebt, abhängig davon, ob man Philosophieunterricht nach dem Paradigma Kompetenzorientierung oder philosophischer Bildung konzipiert.

Einleitung

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Bodo Kensmann geht in seiner der Erörterung der beiden didaktischen Formeln von der Lebensweltanknüpfung und der Problemorientierung der Frage nach, wie und unter welchen Bedingungen es gelingen kann lebensweltliche Interessen der Schülerinnen und Schüler mit philosophischen Aussagen so in Verbindung zu bringen, dass das Verständnis fachphilosophischer Gedanken- und Argumentationsgänge erleichtert wird. Dabei liegt sein Fokus auf dem Einsatz von Filmen und der Frage, welche Rolle ideologiekritische Texte in diesem Kontext spielen können. Die unterrichtliche Relevanz eines ideologiekritischen Philosophierens mit Störfaktor zeigt er anhand einer Unterrichtseinheit zum Thema „Selfie-Machen“ auf. Inwiefern im Bereich der ethischen Bildung auf Positionen der narrativen Ethik zurückgegriffen werden kann oder sollte, diskutiert Rene Torkler unter Rückgriff auf die Theorien von Alasdair MacIntyre, Paul Ricœur und Martha Nussbaum. Die Auffassung vertretend, dass der Umgang mit narrativen Strukturen einen fundamentalen Beitrag zur ethischen Bildung leistet, zeigt er wie Erzählungen und Narrative als ethisch relevante Strukturen begriffen werden können. Kinga Golus stellt in ihrem Beitrag erste Ergebnisse einer ­ empirischrekonstruktiven Untersuchung von (De-)Professionalisierungsprozessen angehender PhilosophielehrerInnen im Praxissemester vor. An einem Fallbeispiel zeigt sie exemplarisch, welche implizite Vorstellung von philosophischer Bildung ein Lehramtsstudierender im Praxissemester nutzt, um seine eigene fachdidaktische Professionalisierung auszubilden. Die empirische Grundlage für die Untersuchung bildet eine Interviewpassage, die anhand der Methode der Objektiven Hermeneutik, mit dem Ziel subjektive Erfahrungen und Sinnkonstruktionen erkennbar zu machen, analysiert wurde. Den Fragen nach den Aspekten und Logiken von Geschlechterkonstruktionen und -dekonstruktionen in philosophischen Lernprozessen geht Lisa A. Henke nach und konzentriert sie hierzu auf die Frage, ob und inwiefern die Gendersituierungen der Schüler_innen Einfluss nehmen auf die Art und Weise des philosophischen Umgangs mit „Geschlecht“ im Unterricht. Zur Erörterung greift die Autorin mit bildungsphilosophischem und fachdidaktischem Interesse zurück auf gegenwärtige Debatten der gender studies. Der dritte Themenblock schlägt dann die Brücke von den fachdidaktischen Konzepten und Ideen in den konkreten Unterricht: Philosophiedidaktik und philosophische Unterrichtspraxis. Helge Kminek stellt methodologische und wissensschaftstheoretische Erwägungen zur Begründung eines neuen Forschungsansatzes in der Philosophiedidaktik vor. Die Philosophiedidaktik der Praxis versucht in Abgrenzung zu vorherrschenden Theorieschulen, vermittels der empirischen Erforschung von Unterrichtstranskripten die Strukturlogiken und -probleme des Philosophieunterrichts zu untersuchen. Hierbei steht die Konfrontation von Intentionen einerseits und Umsetzung sowie Vollzug andererseits im Blickfeld des Interesses. In einem weiteren Beitrag zeigt Thomas Nisters, dass sich die konträren Zielsetzungen von „philosophischer Unterweisung“ und „Philosophieren“ im konkreten Unterricht nicht ausschließen müssen. Weder absolute Rezeptivität noch

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C. Thein

absolute Spontaneität sind gefragt bei der Komposition eines problemerörternden Unterrichts, sondern ein Philosophieren „im Hag der Methode“, die auf ein eigenständiges und zugleich kontrollierbares Selbst-Philosophieren dringt. Christian Krämer zeigt in seinem Beitrag unterrichtsnah und zugleich philosophisch elaboriert eine konkrete Möglichkeit für ein lebensweltorientiertes Philosophieren im Unterricht auf: So kann das interessierende Phänomen der Mode im Unterricht einer komplexen Betrachtung unterzogen werden, die durch sozialphilosophische, anthropologische und semiotische Philosopheme angereichert wird. Der lebensweltorientierte Unterricht zeigt sich hier philosophisch ausgewiesen und zugleich werteorientiert angelegt. Das Ineinander von Filmphilosophie und einer methoden- und medienaffinen Didaktik der Philosophie wird von Claudia Gockel konzeptuell grundgelegt. Aus den diversen Schnittmengen zwischen Film und Philosophie entwickelt sie eine Theorie über Möglichkeiten des Einsatzes von „Filmen im Unterricht“, die deren Ganzheitlichkeit und ästhetische Struktur mit einbegreift, und somit nicht bei einer bloß funktionellen Integration von filmischen Elementen in ein ihnen äußerliches Lernszenario stehen bleibt. Susanne Kunz und Christian Thein nehmen wiederum einen forschenden Blick gegenüber den Unterrichtsprozessen ein. Anhand einer empirischen Untersuchung zeigen die AutorInnen die inverse Logik des Umgangs mit der Leitfrage Ist Geschlecht Kultur oder Natur? bei männlich und weiblich situierten Schülerinnen und Schüler auf, und berücksichtigen hierbei sowohl didaktische als auch pädagogische Dimensionen. Im abschließenden Beitrag widmet sich Leonie Teubler den Aspekten einer Förderung des philosophischen Selbstdenkens von Kindern im Spannungsfeld bestehender Konzepte und Entwürfe. Hierbei plädiert sie für den konkreten Rückgriff auf die Praxis, und demonstriert am Beispiel von „Glücksvorstellungen“, wie die Schülerinnen und Schüler zum einen ins Zentrum des Unterrichtsgeschehens rücken, und zum anderen in die Fußstapfen der großen Philosophen wie beispielsweise Epikur zu treten vermögen. Den Autorinnen und Autoren wurde die Entscheidung über Form und Ausgestaltung einer gendersensiblen Schreibweise selbst überlassen. Grundsätzlich ist bei dem Gebrauch von verallgemeinernden Bezeichnungen immer an alle Geschlechter und Geschlechtsidentitäten zu denken. Die Arbeit an der Fertigstellung des umfangreichen Manuskriptes war ertragreich und erforderte zugleich Ausdauer. Die Diversität der Beiträge spiegelt die unterschiedlichen Baustellen des philosophiedidaktischen Diskurses, dessen Dimensionen und Perspektiven mit dem vorliegenden Sammelband aufgezeigt werden sollen. Gedankt werden muss somit den Beiträgerinnen und Beiträgern, auch für ihre Geduld bezüglich der Zeitspanne zwischen der ersten Präsentation der Gedanken, der Fertigstellung des Manuskriptes und der Veröffentlichung.

Einleitung

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Ebenso sollen diejenigen erwähnt werden, die mich durch Korrekturen und Beratungen in der Zeit der Arbeit am Manuskript unterstützt haben: An der JGU Mainz waren dies insbesondere Jennifer Appiah und Martin Schmitt, und nach meinem Wechsel an die WWU Münster im April 2018 Nils Höppner und Lena Westerhorstmann, die ebenso diese Einleitung mitverfasst haben.

Philosophie und Bildung

Kants Lehre vom ‚Ding, an sich selbst betrachtet‘ und ihre Bedeutung für die philosophische Bildung Renate Engel

Anliegen der hier entwickelten Gedanken ist es, eine Theorie philosophischer Bildung epistemologisch zu begründen. Als Ausdruck humaner Rationalität soll eine solche Bildungstheorie autonomes, widerständiges und reflexives Denken ermöglichen und die Lebenswelt als den „Raum der Gründe“ öffnen, in dem Theorie und Praxis philosohischer Bildung in einem nicht-affirmativen Verhältnis zu einander stehen (1). Kant legt in der Kritik der reinen Vernunft die Grundlagen für eine Erkenntnistheorie, die den Erfordernissen einer solchen Bildungstheorie genügt. Entscheidend ist hier das Lehrstück vom Ding an sich selbst. Dieses lenkt den Blick über die Grenzen der Welt der Erscheinungen hinaus auf das Mögliche, auf Dimensionen des Erkennens und Handelns, die dem Verstand unverfügbar sind, z.B. auf das Bildungssubjekt, seine Potenziale, seine Kreativität, sein Selbstdenken im Raum der Gründe, seine Identität als freies Wesen. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, in welcher Lesart Kants erkenntnistheoretische Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich für die Bildungstheorie fruchtbar gemacht wird: ob als Zwei-WeltenTheorie oder als ­ Zwei-Betrachtungsarten-Theorie. Obwohl letztere, die wahre transzendental-philosophische Lesart der Ding-an-sich-Lehre, in der Philosophie fast unumstritten ist, degeneriert sie in den praktischen Anwendungsbereichen in Pädagogik und Didaktik zu oft zur Lesart einer unhaltbaren transzendent-metaphysischen Zwei-Welten-Theorie. Durch diese entsteht im Bildungsdenken eine metaphysische Hinterwelt, die nur scheinbar der offene Raum der Gründe ist. So ist der neuerliche Blick auf die sprachanalytische Rekonstruktion der ZweiBetrachtungsarten-Theorie durch G. Prauss geboten. Erst so lässt sich aufdecken, wo und warum die Weichen für eine ­nicht-affirmative Strukturbeziehung zwischen

R. Engel (*)  Westfälische Wilhelms Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Thein, Philosophische Bildung und Didaktik, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_2

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R. Engel

theoretischer Erkenntnis, transzendentaler Reflexion und bildender Praxis falsch gestellt werden (2). Als Konsequenz wird die Einübung der transzendentalen Reflexion mit Mitteln der Phänomenologie Husserls empfohlen, um zeitweilig Abstinenz von Begriffsbestimmungen zu üben. In einem denkerischen Schwebezustand wendet sich der Blick auf die eigenen Bewusstseinsphänomene. Er öffnet den Raum der Gründe, geprägt von individueller Daseinsgewissheit und existenzieller Identitätssuche im Denken. Dies bietet Ansatzpunkte für die didaktisch-methodische Förderung von bildenden Prozessen im Philosophieunterricht (3).

1 Grundmomente humaner philosophischer Bildung: Ein bildsames Subjekt als ‚Erscheinung‘ und ‚Ding an sich selbst‘, die Idee der Freiheit und das pädagogische Paradox Humane Rationalität unterstellt ein bildsames menschliches Subjekt, das sich als solches zu bilden in der Lage ist, indem es nach dem ‚humanum‘ sucht, einer universalen Menschennatur als dem Kern eines normativen Menschenbildes. Dabei stößt die Philosophie, so Julian Nida-Rümelin, zuerst mit Platon auf die autonome, verständigungsorientierte theoretische und praktische Vernunft (vgl. Nida-Rümelin 2013, S. 43–49) vor allem im Paradigma des Sokratischen Dialogs (vgl. Nussbaum 2012, 47–77). Die Philosophie entwickelt diesen Begriff von Rationalität zu einem, in dem das Subjekt als bildsames Subjekt und die Freiheit als Bildungsziel beschlossen liegen. Damit besteht die zentrale Aufgabe der Theorie der philosophischen Bildung in der Öffnung des „Raums der Gründe“ (Habermas 2012), eines Raums der Begründungen und Rechtfertigungen des eigenen Handelns und der Begründung eines nicht-affirmativen Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis (vgl. Horkheimer und Adorno 1986) der philosophischen Bildung. Die Idee der Freiheit, die sich in dem Ziel der Mündigkeit und Autonomie ausspricht, stellt eine besondere Herausforderung für ihre bildende Vermittlung dar: Sie kann nicht mittels kausalanalytisch bestimmter Medien und Methoden instrumentell-praktisch realisiert werden. Dazu bedürfte es eines theoretischen Begriffes von Freiheit. Ein solcher ist nicht möglich, weil die Freiheit die Grundbedingungen begrifflicher Bestimmbarkeit, formallogische Widerspruchsfreiheit und Anschaulichkeit, nicht erfüllt. Kant weist in der „Transzendentalen Dialektik“ seiner Kritik der reinen Vernunft, genauer in der „Auflösung“ des dritten von den vier Sätzen der Antinomie der Vernunft (A 532–558/B 560–586) die rationalistisch-dogmatischen Ansprüche auf eine „Kausalität durch Freiheit“ (KrV A 444–446/B 472–474) zurück. Denn diese verstoßen gegen die Einheit der gesetzlich verfassten Natur und der Naturwissenschaft, indem sie für die Annahme einer unbedingten Ersten Ursache argumentieren. Damit aber verneint Kant die Möglichkeit von Freiheit im kosmologischen Sinne nicht wie die Empiristen (vgl. KrV A 445–446/B 473–474). Er verteidigt die Möglichkeit von Freiheit. Er findet

Kants Lehre vom ‚Ding, an sich selbst betrachtet‘

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über die Unterscheidung zwischen den Arten, ein Ding zum einen als Erscheinung und zum anderen an sich selbst zu betrachten, den Weg, beide Positionen als vereinbar zu denken (vgl. Heidemann 2012, 55 f.). Es ist die Vereinbarkeit, die erzielt wird, wenn man einen Perspektivwechsel vornimmt von der Sichtweise des Verstandes und der Erfahrungserkenntnis auf den Menschen als ‚Erscheinung‘ oder empirischen Charakter hin zur Perspektive, in der er als intelligibler Character in seinen unbestimmbaren Potenzialen als freies und selbstdenkendes Wesen nur einsehbar, ‚intelligibel‘, wird. In diesem Denken wirkt nicht der Begriffe bildende Verstand, sondern die Ideen denkende Vernunft, die die transzendentale Idee der Freiheit und mit dieser die der Autonomiefähigkeit des bildsamen Subjekts entwirft. Dass es die praktische Philosophie ist, die das eigentliche Feld der Freiheit beleuchten muss, liegt daran, dass es wirkliche Freiheit nach Kant ausschließlich gibt, indem sie sich in der Praxis eines individuellen autonom handelnden Menschen vollzieht. Hier entfaltet sich die transzendentale Idee der Freiheit als regulative Idee (vgl. KrV A 642–668/B 670–696). Damit besteht die Herausforderung an die humane philosophische Bildung darin, dass sie die Bildsamkeit des Subjekts nicht bloß im empirisch-deterministischen Sinne versteht und in instrumentell-praktischen ­ methodischen und medialen Determinierungen der Schülerin, des Schülers realisiert, sondern auch die Perspektive vom Menschen als intelligiblem Charakter und von seiner möglichen Freiheit als Autonomie, von seinem Wesen als Zweck an sich selbst und von seiner Würde als Korrektiv einnehmen muss. So gelingt es ihr, Freiheit davor zu bewahren, in ein reines Phantasiegebilde verwandelt zu werden. In der berühmten Frage „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ (Päd, AA IX, S. 453) spricht Kant genau diese Herausforderung als das sogenannte pädagogische Paradox an. Er ruft uns in Erinnerung, dass wir eine Gratwanderung zwischen Mitteln der Kultivierung und Zivilisierung einerseits und andererseits der Idee der Freiheit, die zur autonomen Moralisierung führt, wagen müssen. Darum: Ob sich Freiheit als Autonomie und mit dieser die Autonomisierung des bildsamen Subjekts vollziehen und ob sie durch philosophische Bildung befördert werden kann, hängt primär von der epistemologischen Einsicht in die Grenzen sowohl des Verstandesbegriffs als auch der Vernunftidee im allgemeinen sowie in die für die Bildung zur Freiheit notwendigen Strukturverhältnisse zwischen Theorie und Praxis ab.

1.1 Die Vernunft, die transzendentale Reflexion, das n ­ ichtaffirmative Theorie-Praxis-Verhältnis und der bildende Philosophieunterricht Das genannte pädagogische Paradox macht klar, dass es gar nicht die theoretische Vernunft ist, die für die Realisierung von Freiheit zuständig ist, indem sie einen Freiheitsbegriff bestimmte, sondern die praktische Vernunft, die den menschlichen Willen durch die Freiheits- und die Bildsamkeitsidee reguliert.

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Diese Einsicht gewinnt die Vernunft, indem sie auf die Strukturen ihrer Erkenntnisvermögen reflektiert, um deren Verhältnis zu klären. Die beiden verschiedenen Synthesishandlungen durch Verstand und Vernunft entfalten eine jeweils eigene Form von Praktizität, zum einen die instrumentelle Umsetzung kausalanalytisch eruierter Zweck-Mittel-Relationen durch den Verstand nach Maßgabe hypothetischer Imperative, zum anderen die autonome Bestimmung des Willens durch die Vernunft über die regulative Idee der Freiheit nach Maßgabe des kategorischen Imperativs. Darin erkennt sie sich selbst als praktische Vernunft, als sich durch ihr eigenes Gesetz, das Sittengesetz, bestimmend, – als autonom. Dass sie all dieses bedenken kann, zeichnet die Vernunft im weiteren Sinne aus: Sie besitzt die Fähigkeit der transzendentalen Reflexion. Als solche macht sie einsichtig (intelligibel), in welchem Verhältnis sie insgesamt zu sich selbst in theoretischer und praktischer Hinsicht steht und öffnet den für die Freiheit notwendigen Raum der Begründungen und Rechtfertigungen. Kant spricht der praktischen Vernunft als Bewährung der Freiheit den Primat gegenüber der theoretischen und instrumentellen Vernunft zu. Dieser Primat der praktischen Vernunft wiederum entfaltet sich in der philosophischen Bildung, indem die Praxis des Philosophieunterrichts nicht einfach bejaht oder affirmiert was theoretische Begriffe von einem Philosophieunterricht ihr vorschreiben, sondern indem sie sich in ein kritisches, nicht-affirmatives Verhältnis zu jenen Begriffen setzt. Philosophische Bildung steht im Spannungsfeld von Theorie, Reflexion und Praxis, zwischen der Nutzung der instrumentellen Vernunft in Gestalt der durch die Theorie angeleiteten kausalanalytischen Auffindung geeigneter Methoden und Medien und deren Bestimmung in theoretischen Begriffen, und sie antizipiert als praktische Vernunft Freiheit und Mündigkeit in der Schülerin, im Schüler und erhebt diese in der Sichtweise auf den Menschen als intelligibler Charakter zu ihrer obersten Norm.

2 Die transzendentale Reflexion in Gestalt der kantischen Lehre vom ‚Ding, an sich selbst betrachtet‘ und humane Rationalität Die kantische Lehre vom ‚Ding, an sich selbst betrachtet‘ in Gestalt der sogenannten ‚Zwei-Betrachtungsarten-Theorie‘ stiftet das epistemologisch normative Bewusstsein der gegenseitigen Begrenzung von Theorie, Reflexion und Praxis, aus dem heraus ein nicht-affirmatives Verhältnis zwischen philosophischer Bildungsidee und philosophischer Bildungspraxis begründet werden kann. In dieser Lesart der Lehre vom Ding an sich entfalten einschlägige Lehrstücke der theoretischen und praktischen Philosophie Kants ihren humanistischen Kern und erweist sich Kants Begründung des Primats der autonomen praktischen Vernunft vor der instrumentellen theoretischen Vernunft als die notwendige Bedingung für eine humane Rationalität.

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Als Zwei-Betrachtungsarten- oder Zwei-Aspekte-Theorie ist sie die epistemologische Grundlage für Kants Strategie der Auflösung der Freiheitsantinomie. Er nutzt dafür die erkenntnistheoretisch unterschiedlichen Betrachtungsweisen oder Perspektiven, unter denen sich der eine Mensch zweifach betrachten kann: zum einen als empirisch bedingtes Wesen, zum andern als Wesen, das die Idee der Freiheit denken, danach handeln und sie in der nur intelligiblen (einsehbaren) noumenalen Dimension seiner selbst, seiner Identität als denkender Person, verankern kann (vgl. Allison 2004, 255–271; 272–295). Damit erhebt er sich selbst und seine Autonomiefähigkeit zum obersten Zweck seines Menschseins.

2.1 Die Lehre vom ‚Ding an sich‘ als ­‚Zwei-WeltenTheorie‘: ein Mythos Nach geläufiger Sichtweise macht Kant den Menschen mit dieser Unterscheidung aber zum Bürger zweier Welten. In der einen sei er frei, in der anderen determiniert. Diese Redeweise suggeriert einen Weltendualismus, der von Kant gar nicht intendiert ist, dennoch weiterhin ernsthaft diskutiert wird (vgl. Heidemann 2012, 51–56; Höffe 2011, 47 f.). Sie stellt eine metaphysische Hypothek dar, die das autonome Subjekt zu einem Mythos macht (vgl. Strawson 1966/1992) und es seiner autonomen praktischen Wirksamkeit beraubt. Sie pervertiert in der Folge die humane Rationalität in eine inhumane Rationalität, z. B. in Gestalt der Naturalisierung des Subjekts oder gar der Leugnung des Subjekts. Das ebnet der Totalisierung der instrumentellen Vernunft den Weg. vgl. Horkheimer 1986, 18 f. Die Subjektphilosophie insgesamt sieht sich stets dem Mythos-Vorwurf ausgesetzt. So z. B. seitens Donald Davidsons in seinem Aufsatz „Der Mythos des Subjektiven“ (Davidson 1993, S. 84–107). Lambert Wiesing erklärt Allgemeines zum Mythos-Vorwurf: Einer Philosophie, der vorgeworfen wird, ein Mythos zu sein, wird vorgeworfen, sie konstruiere eine Entstehungsgeschichte aus bloß ausgedachten Annahmen. Denn der Mythos will den wahren Hintergrund des vordergründig Unverständlichen, vielleicht sogar Absurden aufweisen; dafür erzählt der Mythos Geschichten von Mitteln, die die Phänomene so haben entstehen lassen, wie sie sind; Mythen machen sich Hintergedanken. Denn diese Mittel sind selbst keine erfahrbaren Ereignisse, keine erfahrbaren Phänomene, sondern Konstruktionen und Unterstellungen, mit denen sich beobachtbare Phänomene erklären lassen. (Wiesing 2015, S. 20). Solch eine Konstruktion und Unterstellung, könnte man meinen, sei die Kantische Unterscheidung zwischen den ‚Erscheinungen‘ und den ‚Dingen an sich‘. Aber das ist nicht richtig. Kants Rede von den Erscheinungen und Dingen an sich erzählt nur in der Version der Zwei-Welten-Theorie „Geschichten

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von Mitteln, die die Phänomene so haben entstehen lassen, wie sie sind […]“, womöglich die Geschichte von nicht empirischen Bewegursachen, nach der aus einer Hinterwelt heraus die Dinge an sich in einer Vorderwelt auf unerklärliche Weise zur Erscheinung kommen und kausale Wirkung ausüben und ein ‚Ich an sich‘ aus derselben Hinterwelt heraus in die Vorderwelt hinein agiert. Die ­Zwei-Betrachtungsarten-Theorie dagegen pflegt keine „Hintergedanken“ über Mittel der transzendenten Phänomen-Erzeugung oder gespenstischen Steuerung des Menschen durch transzendente Kräfte. Denn gerade Kant macht klar, dass das Bewirken von Phänomenen, also Kausalität, nur im verstandesbegrifflichen Erfassen von anschaulichen Ereignissen als tatsächlich stattfindenden Ereignissen erkannt wird. Diese Einsicht ist Ergebnis nicht einer metaphysischen Annahme einer empirischen Vorderwelt, die noch eine Hinterseite hat, sondern sie ist Ergebnis der transzendentalen Reflexion, dass die eine Welt und der eine Mensch zweifach thematisiert werden können, einmal als empirischer Gegenstand des Verstandes, zum andern in Hinsicht auf die transzendental reflektierten, nicht empirischen Strukturen der Weltund Selbsterkenntnis und der Ideen der Vernunft. Kausalität gehört zu diesen nicht empirischen Strukturen der Welterkenntnis. Sie ist als reiner Verstandesbegriff nur eine apriorische Bedingungsstruktur der empirischen Erkenntnis, ebenso wie die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit. Sie ist keine wie auch immer geartete Wirksamkeit einer geheimen Kraft in einer Hinterwelt. Wäre dies so, zerbräche einerseits die Einheit der Natur nach Gesetzen der Empirie. Andererseits wäre der Damm gebrochen, und der Verstand würde seine auf anschaulich gegebene Dinge begrenzte Fähigkeit, Begriffe von diesen Dingen zu bilden, entgrenzen und beanspruchen, Dinge in einer metaphysischen Hinterwelt zu bestimmen. Oder richtiger: Er würde sich aus Mangel an Anschauungen auf spekulative Eigenschaften stützen und mit unanschaulichen spekulativen Begriffsbildungen unanschauliche Ideen zu Hinterwelt-Dingen hypostasieren und damit erst eigentlich eine metaphysische Hinterwelt bauen. Der Mythos der Zwei-Welten-Lehre lebt davon, dass die Herrschaft des empirischen Kausalitätsgesetzes auf das Nichtempirische überspringt. Dies ist der systematische Grund, warum man die Annahme einer metaphysischen Hinterwelt, die mit der Lesart der Zwei-Welten-Theorie verbunden wird, mit Marcus Willaschek „fragwürdig“ finden und durch die Zwei-Betrachtungsarten-Theorie oder Zwei-Aspekte-Interpretation ersetzen muss. In systematischer Hinsicht ist diese vor allem durch das Bestreben motiviert, die kantische Theorie von der Festlegung auf eine fragwürdige metaphysische Hinterwelt zu befreien. (Willaschek 2001, S. 682). Das Versprechen, die beunruhigenden Sinnfragen nach Weltanfang, Unsterblichkeit der Seele, Freiheit des Willens und Gott, die Kant als transzendentale Ideen vorstellt (vgl. KrV A 405–461/B 432–489), stillzustellen in einer theoretischen Spekulationserkenntnis, ist ein falsches. Letztere würde insgeheim und verbotenerweise das für die empirische Verstandeserkenntnis allein gültige Kausalitätsgesetz auf eine metaphysische Hinterwelt anwenden, in der jene Denkgegenstände als ontologisch eigenständige ‚Dinge an sich‘ entstehen würden. Im

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Fall der Idee der Freiheit wie der des autonomen bildsamen Subjekts entstünde die abstruse Vorstellung eines ‚Subjekts an sich‘, das nur als Homunkulus vorstellbar wäre. Die Version der Zwei-Welten-Theorie verdunkelt und zerstört den Sinn von Kants epistemologischen Differenzierungen, die das praktische Autonomie- und Humanitätspotenzial begründen.

2.2 Die Lehre vom ‚Ding, an sich selbst betrachtet‘: eine elaborierte humanisierende Reflexion Die kantische Lehre vom ‚Ding, an sich selbst betrachtet‘ ist eine komplexe transzendentale Reflexion, keine transzendente Metaphysik – und kein Mythos. Sie stellt den Anspruch an den Menschen, Mehreres einzusehen, vor allem, dass es zwei Arten des Denkens gibt, erstens die theoretische Art der Verstandeserkenntnis, die zwar Erfahrungswissen hervorbringt, als solche aber per se nichts über die existenziellen Sinnfragen aussagen kann, und zweitens die transzendental-reflexive, die auch nichts über die Sinnfragen aussagen kann, weil sie nur die apriorischen Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung und des Handelns eruiert. Aus dieser Einsicht heraus gilt für den Sinnsucher: Er muss auf die Erfüllung seines existenziellen Beruhigungswunsches angesichts der unbeantworteten Sinnfragen so lange warten, bis er in der Lage und bereit ist, die mit den genannten Ideen erhobenen moralisch-praktischen Ansprüche in seiner individuell verantworteten Praxis selbst zu verwirklichen. An der Art, wie Kants Lehre vom ‚Ding an sich‘ verstanden wird, entscheidet sich, ob sich das Subjekt in einem nicht-affirmativen TheoriePraxis-Verhältnis sehen und seine praktische Vernunft bewähren kann. In ihrer Lesart als Zwei-Welten-Theorie gelingt ihr dies nicht; in der Lesart einer ­Zwei-Betrachtungsarten-Theorie dagegen gelingt es ihr. In dieser Lesart macht sie das Subjekt zu einem Unverfügbaren. Julian Nida-Rümelin nennt Kants Philosophie die nicht nur einflussreichste, sondern auch elaborierteste Fassung humanistischen Denkens. Sie reklamiere „die Idee einer Freiheit, die den Menschen etwas zutraut, nämlich die Fähigkeit zu reflektieren, Gründe abzuwägen und aus eigenen Gründen zu handeln“ ­(Nida-Rümelin 2013, S. 58, Kursivsetzung RE). Ich möchte hinzusetzen, dass Kants Humanismus im Kern darin besteht, den Menschen mit der Idee der Freiheit zugleich zuzutrauen, ihre Fähigkeit zu reflektieren noch einmal zu reflektieren. Dies, um die Grenze zwischen Verstandeserkenntnis und transzentraler Reflexion sowie das richtige Verhältnis beider zueinander und zur praktischen Vernunft einzusehen. Erst in einer transzendentalen Reflexion kann es gelingen, die notwendige Grenze zwischen Verstandesbegriffen und Vernunftideen zu sichern und Freiheit und Verantwortung zu essentiellen Momenten einer humanen Praxis zu machen. Es stellt ein Unglück dar, dass Kants epochale t­ranszendental-philosophische Abkehr in der Kritik der reinen Vernunft von der eigenen transzendent-metaphysischen Position seiner Dissertation von 1770, die die Zwei-Welten-Theorie

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noch im Titel führte („De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis“, AA II), bis heute missverstanden wird. Nach Gerold Prauss (1977, S. 27) sah Kant dieses Schicksal über seine Lehre vom ‚Ding an sich‘ noch kurz vor seinem Tod hereinbrechen. Im Opus Postumum findet sich zum Beleg folgender Gedanke, mit dem er sich bis zum Ende seiner Schaffenskraft gegen die transzendente Hypostasierung des ‚Dings an sich‘ wandte: „Die Unterscheidung des so genannten Gegenstandes an sich im Gegensatz mit dem in der Erscheinung […] bedeutet nicht ein wirkliches Ding, was dem Sinnengegenstand gegenübersteht.“ (AA XXII, S. 24) Gerold Prauss stellt heraus, dass die Rezeption der Kantischen Philosophie von ihren Anfängen an als der Prozess der Degenerierung seiner Lehre vom ‚Ding an sich‘ gelesen werden muss (Prauss 1977, S. 24–27), d. h. als ein Prozess, in dem die legitime transzendental-philosophische in die illegitime transzendent-metaphysische Interpretation des ‚Dings an sich‘ abgleitet (vgl. Engel 1996, S. 16–20; Dalbosco 2002). Im Folgenden sollen textkritische, systematische Erläuterungen dies belegen.

2.3 Die Rehabilitierung der Lehre vom Ding an sich: Die adverbiale Funktion des ‚an sich‘ im Ausdruck ‚Ding, an sich selbst betrachtet‘ Die genannte Hypostasierung des ‚Dings an sich‘ durch die Interpreten Kants ist nach Gerold Prauss das Resultat einer Fehldeutung der grammatischen Funktion des ‚an sich‘, welche Kant z. T. selbst provoziert hat, und zwar dadurch, dass er in der Mehrzahl der Fälle den Ausdruck ‚Ding an sich‘ in dieser seiner eigentlich unvollständigen Form verwendet. Die vollständige Form lautet nach Prauss ‚Ding, an sich selbst betrachtet‘. Unter Berücksichtigung des Partizips ‚betrachtet‘ leuchtet ein, dass das ‚an sich‘ nicht als adnominale Bestimmung zu ‚Ding‘, sondern nur als adverbiale Bestimmung zu ‚betrachtet‘ verstanden werden darf. Angesichts der Reflexion auf die adverbiale Funktion des ‚an sich‘ aber und darauf, dass das ‚an sich‘ die Art des Betrachtungsvollzugs charakterisiert und nicht den so betrachteten Gegenstand prädiziert, ist eindeutig: Der genuin neuzeitliche und von Kant in schwierigen und komplexen erkenntnistheoretischen Überlegungen errungene Sinn der transzendentalen Ding-an-sich-Lehre fordert, dass im Rahmen der transzendentalen Reflexion zwischen zwei Arten der Betrachtung eines Dings und nicht zwischen zwei Arten von Dingen, zwischen erfahrungsimmanenten und erfahrungstranszendenten Dingen etwa, unterschieden werden muss. Es ist zu unterscheiden zwischen der empirischen und der transzendentalen Betrachtung eines Dinges. Im ersten Fall ist es Gegenstand der begrifflichen Prädikation in der Bestimmung von etwas als etwas durch die Verstandessynthesis – es liegt sinnliches Datenmaterial zugrunde, das zur Prädikation berechtigt; im zweiten Fall ist das Ding nur Anlass, auf die apriorischen Möglichkeitsbedingungen seiner begrifflichen Prädikation transzendentalerweise zu

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reflektieren. Kant bestimmt die nicht-prädizierende Funktion transzendentaler Reflexion dadurch, dass er deutlich macht: in ihr kann nur die Verfasstheit des subjektiven Erkenntnisapparats rekonstruktiv erwogen werden. Es wird z. B. betrachtet, in welchem Verhältnis der uns in subjektiven Vorstellungen gegebene Erkenntnisgegenstand zu den beiden wesentlichen Erkenntnisquellen Sinnlichkeit (Rezeptivität) und Verstand (Spontaneität) steht: „Die Überlegung (reflexio) hat es nicht mit den Gegenständen selbst zu thun, um geradezu von ihnen einen Begriff zu bekommen, sondern ist der Zustand des Gemüthes, in welchem wir uns zuerst dazu anschicken, um die subjektiven Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen wir zu Begriffen gelangen können. Sie ist das Bewußtsein des Verhältnisses gegebener Vorstellungen zu unseren verschiedenen Erkenntnisquellen.“ (KrV A 260/B 316).

2.4 Die empirische Differenz zwischen ‚Erscheinung‘ und ‚Ding an sich‘ und die transzendentale Differenz zwischen ‚Ding, als Erscheinung betrachtet‘ oder ‚Phaenomenon‘ und ‚Ding, an sich selbst betrachtet‘ oder ‚Noumenon‘ In der Folge der falschen adnominalen Verwendung des ‚an sich‘ im Ausdruck ‚Ding, an sich selbst betrachtet‘ geriet nach Prauss in Vergessenheit, dass Kant ursprünglich im Rahmen und entsprechend des B ­ etrachtungsarten-Dualismus die transzendentale Erkenntnistheorie begründete auf einem Dualismus der Differenzen von ‚Erscheinung und Ding an sich‘. Er ging aus von einer empirischen Differenz zwischen ‚Erscheinung‘ und ‚Ding an sich‘ und einer transzendentalen Differenz von ‚Ding, als Erscheinung betrachtet‘ und ‚Ding, an sich selbst betrachtet‘ (vgl. Prauss 1977, S. 23). Zur besseren Unterscheidung der empirischen Erscheinung von der transzendental-reflexiven Erscheinung nennt Kant die transzendentalerweise reflektierte Erscheinung Phaenomenon, das transzendentalerweise reflektierte ‚Ding, an sich selbst betrachtet‘ Noumenon (KrV A 248 f.; Preisschrift XX, S. 2691; vgl. Prauss 1971, S. 18 f.). Kant schreibt an manchen Stellen dem ‚Ding an sich‘ empirische Eigenständigkeit zu, so in der Transzendentalen Ästhetik im Fall der Rose, die er „im empirischen Verstande […] ein Ding an sich selbst“ nennt (KrV A 29/B 45), und im Fall der Regentropfen bzw. des Regens „die Sache an sich selbst“, wobei er zur Bestätigung, dass es sich tatsächlich um die empirische Betrachtungsart, sprich empirische Erkenntnis, handelt, hinzusetzt, „welches auch richtig ist, sofern wir den letztern Begriff nur physisch verstehen“ (KrV A 45/B 63; Kursivsetzung RE).

1Eine ausführliche Darstellung der Beziehung zwischen den beiden Differenzen legt Gerold Prauss (1971) vor.

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Diese empirischen Gegenstände lösen „Veränderungen unseres Subjects aus, die sogar bei verschiedenen Menschen verschieden sein können“ (KrV A 29/B 45), und die je nach den „verschiedenen Lagen zu den Sinnen“, die sie einnehmen, „jedem Auge […] anders erscheinen“ (KrV A 45/B 63). Die empirischen Erscheinungen versteht Kant „als eine besondere Art von Gegenständen“, und zwar als subjektive Gegenstände. Eine empirische Erscheinung ist nach Kant „[d]er unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung“ (KrV A 20/B 34; vgl. Prauss 1971, S. 30 f.). Der subjektive Gegenstand verbleibt in der Dimension der bloßen anschaulichen ‚Gegebenheit‘. Er ist die Voraussetzung für die ‚Erkenntnis‘ des empirischen ‚Dings an sich‘ – nach Apperzeption und Deutung durch den Verstand (vgl. Prauss 1971, S. 35), deren Resultat der objektive Gegenstand ist. Für die hier von Kant angesprochene empirische Differenz von ‚Erscheinung‘ und ‚Ding an sich‘ gilt, dass es sich um zwei numerisch unterschiedene Gegenstände als Gegenstände in den beiden verschiedenen Phasen des empirischen Erkenntnisvorgangs handelt, zum einen in der Phase der ‚unmittelbaren Gegebenheit‘ (subjektiver Gegenstand oder empirische Erscheinung), zum anderen in der Phase der ‚vermittelten Erkenntnis‘ (objektiver Gegenstand oder empirisches Ding an sich). In beiden Phasen spricht Kant von ‚Gegenständen‘, wobei die ‚empirische Erscheinung‘ einer Rose im Sinne eines subjektiven Gegenstandes als etwas subjektiv Psychisches Gegenstand der empirischen Psychologie sein kann, die Rose als ‚empirisches Ding an sich‘ dagegen Gegenstand der Biologie. Die transzendentalphilosophische kritische Sicht auf die Grenzen und Möglichkeiten der Vernunft erfordert eine transzendentale Differenzierung, die über die empirische hinausgeht. Im Folgenden tut dies Kant, indem er die empirische Betrachtungsart die der Erfahrung nennt, die transzendentale Betrachtungsart die, in der man ‚bloß denkt‘, d. h. den empirischen Erkenntnisvorgang und dessen Komponenten transzendentalerweise reflektiert und seine apriorischen Möglichkeitsbedingungen rekonstruiert. Es geht Kant darum, „daß dieselben Gegenstände einerseits als Gegenstände der Sinne und des Verstandes für die Erfahrung, andererseits aber doch als Gegenstände, die man bloß denkt […] mithin von zwei verschiedenen Seiten betrachtet werden können“. (KrV B XX, Anmerkung; vgl. KrV A 45 f./B 62 f.). Diese Betrachtung der „Gegenstände der Sinne und des Verstandes […] von zwei verschiedenen Seiten“ erzeugt nun die transzendentale Differenz von ‚Ding, als Erscheinung betrachtet‘ und ‚Ding, an sich selbst betrachtet‘. Sie drückt im Gegensatz zur empirischen Differenz aus, dass ein Gegenstand auf zweifache Weise, in zwei Schritten, betrachtet wird. Der transzendentale Begriff der Erscheinung der Rose ist dadurch charakterisiert, dass er in einem ersten Schritt transzendentaler Reflexion den objektiven Tatbestand aufdeckt, dass ein Gegenstand als real in Raum und Zeit existierender dem subjektiven Erkennen nur in der Dimensionsbegrenzung auf seinen Erscheinungscharakter zugänglich ist. Diese kann als Phänomenalität bezeichnet werden. Dieser Begriff zeigt an, dass der Gegenstand nur in der Abhängigkeit vom subjektiven Erkenntnisapparat, d. h. a) der subjektiven Apperzeption der Anschauungen (als Gegenstand „der Sinne“)

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und b) der die Anschauungsapperzeption verobjektivierenden Verstandessynthesis zugänglich ist. In einem zweiten Schritt transzendentaler Reflexion auf den Befund des ersten Schritts erschließt sich die andere Dimension des Erkenntnisgegenstandes: seine Unabhängigkeit vom subjektiven Erkenntnisapparat und damit die Unmöglichkeit, ihn vollständig im empirischen Prädikationsakt zu erfassen. Indem man den subjektiven Erkenntnisapparat der transzendentalen Reflexion unterzieht und Anschauungsformen, Verstandesbegriffe und das ‚Ich denke‘, durch das sich die Vereinigung der Anschauungen in Begriffen vollzieht, als apriorische Möglichkeitsbedingungen von empirischer Erkenntnis bloß rekonstruiert, hält man nichts in Händen, was man nach Art empirischer Erkenntnis prädizieren könnte. Der transzendentale Begriff des ‚Dings, an sich selbst betrachtet‘ bezeichnet ein Noumenon. Dieses ist nur reflektierbar. Mittels der beiden transzendentalen Reflexionsbegriffe ‚Ding, als Erscheinung betrachtet‘ und ‚Ding, an sich selbst betrachtet‘ wird also ein Gegenstand einer zweistufigen Reflexion unterzogen. Er wird „mithin von zwei verschiedenen Seiten betrachtet […]“. Der Begriff des Noumenon soll noch etwas näher betrachtet werden. Die Einschränkung jeglicher Prädizierung auf die Bedingungen der sinnlichen Gegebenheit und die Zurückweisung einer intellektuellen Anschauung machen den transzendentalen Begriff Noumenon zu einem „negativen Grenzbegriff“ (KrV A 256, B 311). Die Einsicht in die Subjektunabhängigkeit eines Dings, das man an sich selbst betrachtet, d. h. die Einsicht in seine grundsätzliche Noumenalität, beschränkt die Reichweite der kategorialen Verstandeserkenntnis und entfaltet die Dimension „eines unbekannten Etwas“. Damit dieses aber nicht durch transzendente Prädikate widerrechtlich doch bestimmt wird, will Kant nur zulassen, die Dinge, wenn man sie an sich selbst betrachtet, „unter dem Namen eines unbekannten Etwas zu denken.“ Die Begrenztheit der Sprache und ihre sozusagen ‚naturwüchsige‘ Prädizierungstendenz gefährden, wenn man auch nur einen Augenblick das hier dargelegte Prädizierungsverbot für die Dinge, an sich selbst betrachtet, vergisst, den Ertrag dieser komplexen Überlegungen für die Öffnung eines Raums, in dem sich unbegrenzte Möglichkeiten des Denkens und Handelns auftun. Diese schließen Kritik, Überwinden von Vorurteilen und die Pflicht zur Selbstrechtfertigung eigener Handlungen ein. Der so geöffnete Raum der Denkmöglichkeiten steht der autonomen Realisierungen von Gründen und Rechtfertigungen des eigenen Denkens durch die praktische Vernunft offen. Diese Zusammenhänge sollen im Folgenden näher dargelegt werden.

2.5 Die transzendentalen Ideen der Freiheit, der Autonomiefähigkeit und der Bildsamkeit der Menschen und ihre Wirksamkeit als Denk- und Handlungsanreize In einer ersten Überlegung geht es um den epistemischen Status von transzendentalen Ideen wie der der Freiheit, die Kant neben den Ideen von

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Gott, der unsterblichen Seele und vom Anfang der Welt in der Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft (KrV A 532–558/B 560–586) thematisiert. Aufgrund der Merkmale dieser Ideen – sie thematisieren etwas Unanschauliches und darum etwas für die verstandesbegriffliche Erfassung Unverfügbares, und sie entspringen aus existenziellen Sinnfragen des Menschen -, lassen sich auch die Autonomiefähigkeit und Bildsamkeit der Menschen als transzendentale Ideen ansprechen. Diese haben „nicht den Status von Phaenomena in dem Sinne, dass sie abhängig wären vom Erkenntnisapparat des Subjekts. Sie entspringen den Sinnfragen des Menschen“ (KrV B 135). Ihrem epistemischen Status nach sind sie negativen Grenzbegriffe. Immer wieder aber setzt das Erkenntnisstreben sich über diese Einsicht hinweg, hypostasiert für die fehlende Anschauung den epistemischen Status der Noumenalität z. B. des freien Wesens zum An-sich-Sein dieses Wesens und bildet einen Begriff der Freiheit, der diese zerstört. Ehrlicherweise müsste gesehen werden, dass ein Anschauungsvakuum bleibt, denn das „An-sich-Sein“ ist kein Ersatz für Anschauungen. Tritt aber die transzendentale Reflexion hier nicht dem Verstand entgegen, füllt dieser die Lücke. Er gibt der Idee der Freiheit eine bestimmte begriffliche Form, indem er sie mit anschaulichen Qualitäten synthetisiert, welche empirisch fassbar sind. So tarnen sich anschauliche Heteronomisierungen als Freiheit, die ihren Ursprung darin haben, dass die Idee der Freiheit z. B. mit Suggestionen von Freiheitsgefühlen synthetisiert wird, die in Wahrheit vom bloßen Konsum von Gütern herrühren. Dagegen hilft im Hinblick auf die Erhaltung des Raums der Denkmöglichkeiten und Selbstrechtfertigungen des eigenen Handelns nur, dass das ‚An-sich‘ als „negativer Grenzbegriff“ gehandhabt wird. Denn nur als solcher ist er ein Movens der Autonomie. Dient das hypostasierte ‚An-sich-Sein‘ der Freiheit aber zum Ersatz für seinen Phänomen-Charakter, verliert es seine Qualität, ein Movens der Autonomie zu sein, weil es durch verstandesbegriffliche Erfassung stillgestellt wird. Um zu verhindern, dass fremde Mächte mit stillstellenden Verstandesbegriffen in das Vakuum der fehlenden Phänomenalität der Idee der Freiheit hineinwirken, muss dieses gefüllt werden mit existenziell motivierten und motivierenden Denk- und Handlungsanreizen, die zum praktischen Vollzug von Autonomie führen können. Diese an der Idee der Freiheit als Autonomie (vgl. Prauss 1983) angestellten Überlegungen lassen sich selbstverständlich auf alle praktischen Ideen wie die Idee Gottes und die der Unsterblichkeit der Seele und nicht zuletzt die Idee der Bildung des autonomiefähigen individuellen Subjekts nach W. v. Humboldt (vgl. Humboldt 2010) übertragen. Die transzendentale Reflexion über die Ideen birgt in sich also das epistemologische normative Moment, das Denken in permanenter Bewegung zu halten. Dieses normative Moment ist das ‚Gebot‘, das transzendentale Reflektieren der Möglichkeitsbedingungen von vergangenen und künftigen Denk- und Handlungsvollzügen niemals stillzustellen. Es zeigt an, dass die transzendentalen Ideen – anders als empirische Gegenstände – immer in dem epistemischen Status der Reflexionstätigkeit des ‚an sich selbst Betrachtens‘ zu halten sind. Daraus ist der

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Schluss zu ziehen, dass sie immer als Anreiz zu praktischem Autonomievollzug im Denken und Handeln wirken sollen. Im Hinblick auf die transzendentale Bildungsidee ist der Schluss zu ziehen, dass diese Idee nicht zu bestimmten Begriffen der Sinngebung bestimmter Lerninhalte, sondern nur zu Impulsen durch die bildende Lehrperson führen darf, die das individuelle Bildungssubjekt zur autonomen Ausfüllung des Phänomen-Vakuums anreizen, indem es die Lerninhalte hinterfragt, daraus sich nahelegende Handlungsoptionen bedenkt und vergleicht und diese vor sich selbst rechtfertigt. Nur indem den Schülerinnen und Schülern der Raum gegeben wird, in dem sich diese praktische Dimension des Noumenalen ihrer eigenen Existenz entfalten kann, wird der bildende Philosophieunterricht dem Anspruch gerecht, dass die Schülerinnen und Schüler aus eigener Sinngebung denken und handeln und sich darin selbst Rechenschaft zu geben lernen. In einer zweiten Überlegung muss nun auch das Subjekt, das Ich, das denkt und das die unterschiedlichen anschaulichen, verstandesbegrifflichen und transzendentalen Arten des Denkens unterscheiden und vollziehen soll, transzendentalerweise reflektiert werden. Es ist zunächst eine transzendentale Idee, die kein Phaenomenon, sondern Noumenon ist. Das ‚Ich denke‘ ist unanschaulich. Es entbehrt des epistemischen Status eines Phänomens. Es ist nur transzendentalerweise reflektierbar als die notwendige Instanz, die die mannigfaltigen Wahrnehmungen in der Apperzeption synthetisiert und die Identität des Ich in seinen Denkhandlungen garantiert. „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt als: die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.“ (KrV B 131 f.). Auch wenn das Ich von sich selbst in der Sukzession innerer Bewusstseinszustände affiziert wird (KrV B 153), liegt damit keine Anschauung vor, die das Ich als Autor des Denkens anschaulich und damit verstandesbegrifflich erfassbar machen würde. Es liegt damit nur die Anschaulichkeit des konkret gegebenen Ich vor, das in Abhängigkeit seines Phänomen-Charakters steht und zugleich als Noumenon, als „negativer Grenzbegriff“, reflektiert werden kann. Das Ich als Autor des Denkens, das sogenannte transzendentale Ich, ist dagegen nur als Noumenon reflektierbar. Es ist als Ursprung aller begrifflichen, ästhetischen und praktischen Synthesishandlungen deren nur reflektierend rekonstruierbare Möglichkeitsbedingung. Dass die Bemühungen um seine Wissbarkeit in einem Zirkel enden (vgl. Fichte 1971), stellt keinen Mangel dar, sondern eine Chance. Wird es in jenem epistemischen Status eines Noumenon belassen, ist es geeignet, als Anreiz zu wirken, Autor autonomer Bildungs- und Handlungsvollzüge zu sein. In ihm selbst eröffnet sich so der Raum der Denkmöglichkeiten. Aber kann dieses rein noumenale Ich überhaupt als solcher Anreiz wirken? Ist dazu nicht doch Phänomenalität vonnöten? Die Vermittlung solcher Anreize muss doch irgendwie – trotz aller epistemischer Vorsicht – erfahrbar sein. Kant räumt bei aller erkenntnistheoretischen Skepsis die Möglichkeit der Erfahrbarkeit des Ich denke ein: Auch wenn das Ich als Ursprung der empirischen Synthesis in keinem Verstandesbegriff erfasst werden kann, kann es dennoch dazu dienen, dass das Ich sich seiner Existenz in seinen Denkvollzügen bewusst ist: „Dagegen bin ich mir

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meiner selbst in der transcendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellung überhaupt, mithin in der synthetischen ursprünglichen Einheit bewußt, nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur, daß ich bin.“ (KrV B 157). Dieser Befund des „daß ich bin“ ist in Verbindung mit den hier dargelegten epistemologischen Überlegungen zu den Bedingungen, unter denen sich der Raum der Denkbegründungen öffnet, von zentraler Bedeutung für die konkreten bildenden Denkvollzüge der Schülerinnen und Schüler im Philosophieunterricht. Bevor die bildungstheoretische Bedeutung dieses Befundes in Abschn. 3 dargelegt werden wird, soll der Abschnitt über die Epistemologie beendet werden mit Kants Verhältnisbestimmung von theoretischer bzw. spekulativer und praktischer Vernunft, in der er den Zweck der ganzen kritischen Philosophie der Vernunft sieht und durch die die epistemologischen Überlegungen letztlich ihren praktischen Sinn erhalten.

2.6 Der Zusammenhang zwischen der Differenz von empirischer und transzendentaler Betrachtungsart mit dem Primat der praktischen vor der theoretischen Vernunft Der besondere epistemische Status von transzendentalen Ideen erzwingt den Primat der Praxis autonomer Handlungen und autonomisierender Bildungsprozesse vor deren theoretischen Bestimmung und instrumentellen Herstellung. Die Begründung dieses Primats hat nach Kant mit den einzelnen Interessen zu tun, die die Vernunft in ihren verschiedenen Ausprägungen hat (vgl. Kant, KpV AA Bd. V, S. 119 f.). Kant nennt in diesem Zusammenhang das Interesse „ihres speculativen Gebrauchs“ (ebd., S. 120). Es besteht „in der Erkenntniß des Objects bis zu den höchsten Principien a priori“. Zudem verfolgt die Vernunft insgesamt das Interesse „des praktischen Gebrauchs in der Bestimmung des Willens in Ansehung des letzten und vollständigen Zwecks“ (ebd.). Damit meint Kant den Zweck des Menschen, seine Vernunft für sich selbst praktisch werden zu lassen und Autonomie zu erlangen, indem er das eigene Gesetz der Vernunft, das der Sittlichkeit, befolgt. Dabei darf die Vernunft nicht „pathologisch bedingt“ (ebd.) sein, d. h. durch das „Interesse der Neigungen unter dem sinnlichen Princip der Glückseligkeit“ (ebd.) und damit durch bloß aus der Empirie gewonnene theoretische Verstandesbegriffe bestimmt sein. Denn das würde dazu führen, dass sich die Vernunft „allen Träumereien“ (ebd., S. 121) und dem Einfluss fremder Mächte hingäbe. Das Vermögen der theoretischen Verstandeserkenntnis und das Vermögen der über deren Grenzen hinaus spekulierenden Vernunft reichen nicht aus, um Sätze, die „unabtrennlich zum praktischen Interesse der reinen Vernunft gehören“ (ebd.), nämlich Sätze über die in den transzendentalen Ideen benannten existenziellen Sinnfragen nach Freiheit usw., zu bilden. Dieses sind Fragen, deren Beantwortung nur die praktische Vernunft übernehmen kann. Würde die

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spekulative Vernunft dennoch die Beantwortung übernehmen und Sätze zu Sinnfragen bilden, wären diese nur „ein ihr fremdes Angebot, das nicht auf ihrem Boden erwachsen […] ist“ (ebd.). Die spekulative Vernunft habe einzusehen, dass „dieses nicht ihre Einsichten, aber doch Erweiterungen ihres Gebrauchs in irgend einer anderen nämlich praktischen Absicht sind“ (ebd.). Die eine Vernunft, die in sich die theoretische Verstandeserkenntnis, die ‚überschwängliche‘ spekulative Vernunft und die dem letzten praktisch-existenziellen Zweck des Menschen verpflichtete praktische Vernunft vereinigt, hat ein Interesse, und zwar, dasjenige, „das in der Einschränkung des speculativen Frevels besteht […]“ (ebd.). Der „speculative Frevel“ wird eben darin begangen, dass die Unterscheidung der speziellen epistemischen Prinzipien, Wirkweisen und Interessen der Arten des Vernunftgebrauchs, d. h. die Unterscheidung zwischen der empirischen und der transzendentalen Betrachtungsart, missachtet wird. Um diesen „Frevel“ nicht zu begehen und das Denken nicht in Verstandesbegriffen und instrumenteller Vernunft stillzustellen, ist es nötig, diese Unterscheidung mit dem Primat der praktischen vor der theoretischen Vernunft zu besiegeln: „In der Verbindung also der reinen speculativen mit der reinen praktischen Vernunft zu einem Erkenntnisse führt die letztere das Primat […]“ (ebd.). Nun folgen Überlegungen, die sich aus den bisher dargelegten erkenntnistheoretischen Lehrstücken der Kantischen Philosophie für den bildenden Philosophieunterricht ergeben.

3 Die transzendentale Reflexion auf die Ideen des bildenden Philosophieunterrichts und des Bildungssubjekts als Bedingungen der Möglichkeit für die Öffnung des Raums der Gründe im Philosophieunterricht Der bildende autonomisierende Philosophieunterricht ist ein wesentliches Moment der praktischen Vernunft, der Kant den Primat zuspricht. In seinem Zentrum steht das bildsame autonomiefähige Subjekt, dem sich im Philosophieunterricht seine eigene noumenale Dimension als Raum der Gründe und Selbstrechtfertigungen und des kritischen und widerständigen Denkens erschließen soll. Wenn Kant von der Philosophie in „ihrem Weltbegriff“ und dem „Lehrer im Ideal“ spricht (KrV A 838 f./866 f.), meint er ein Philosophieren und ein Lehren des Philosophierens, denen es um „die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae)“ (ebd.) geht. Darunter hat man vor dem Hintergrund der Kantischen Philosophie insgesamt die praktische Autonomie des Menschen als eines Zwecks an sich selbst zu verstehen. Die oben erkenntnistheoretisch begründete noumenale Dimension des bildsamen autonomiefähigen Subjekts kann formal als dieser Selbst-Zweck-Charakter des autonomen vernünftigen Menschen verstanden werden. Soll der bildende Philosophieunterricht darauf

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verpflichtet werden, dürfen das Bildungssubjekt und der bildende Philosophieunterricht nur als transzendentale Ideen thematisiert werden. Erst im Bewusstsein dieses epistemischen Status kann der bildende Philosophieunterricht als Ausformung der schon genannten Art von Denk- und Handlungsanreiz und als Beitrag zu dem wesentlichen Zweck der menschlichen Vernunft praktiziert werden. Wendet man die oben explizierte doppelte Differenzierung von Erscheinung und Ding an sich, d. h. die oben dargelegten zwei Betrachtungsarten, auf das Ich an, so ist das Ich in der empirischen Betrachtungsart zunächst die unmittelbar anschauliche empirische Erscheinung des Ich, der subjektive Gegenstand. Im zweiten Schritt wird das Ich dann in der Synthetisierung der Anschauungen durch Verstandesbegriffe zum objektiven Gegenstand, zum empirischen Ding an sich. Reflektiert man dieses empirische Ding an sich auf seine apriorischen Möglichkeitsbedingungen hin, d. h. auf seine Abhängigkeit vom subjektiven Erkenntnisapparat, auf seinen Phänomen-Charakter hin, auf der einen Seite und auf seine Unabhängigkeit vom subjektiven Erkenntnisapparat, auf seinen Noumenon-Charakter hin, auf der anderen Seite und hat so in der transzendentalen Betrachtungsart vor sich das Ich, als Erscheinung betrachtet, und das Ich, an sich selbst betrachtet, öffnet sich in der letzteren Betrachtungsart der Raum der möglichen denkerischen, praktischen und bildenden Vollzüge des Ich. Die transzendentale Idee der Bildsamkeit ist dadurch charakterisiert, dass sie die noumenale Dimension der zukünftigen Möglichkeiten des bildsamen Individuums anspricht und aktiviert. Sie bewirkt als „negativer Grenzbegriff“ die Befreiung seines ‚An-sich-autonom-Seins‘ von den Grenzen, die ihm die phänomenale Dimension der bisher verwirklichten eigenen Möglichkeiten und der bisher begrifflich bestimmten Lerninhalte und Kompetenzbestimmungen durch einen Lehrplan setzen. Die noch unrealisierten Möglichkeiten des Denkens und Handelns sind denkbare, nicht angeschaute und somit begrifflich noch nicht gefasste Möglichkeiten, die letztlich den schon geschehenen und somit starren Verwirklichungen widerstehen und zukünftige Chancen des Denkens und Handelns verheißen. Diese gestalten sich als immer wieder neu zu betrachtende und abzuwägende Vollzüge von Begriffsbildungen, Argumenten und Schlüssen zu philosophischen Fragen und bieten die Chance der immer neuen Wahrheitssuche, des kritischen Hinterfragens und des widerständigen Denkens. In jenem ‚Immer wieder neu Betrachten‘ kann die Neigung, an einmal gefassten Begriffen festzuhalten und Vorurteile zu verfestigen, überwunden werden. Für den bildenden Philosophieunterricht heißt dies nun ausdrücklich, dass das Vakuum des unanschaulichen ‚An sich‘ der Idee des bildenden Philosophieunterrichts als normatives Moment nicht durch vorgefertigte Antworten und Lerninhalte gefüllt werden darf. Die ausschließliche Vermittlung von bestehendem Wissen und die unreflektierte Erwirkung vorformulierter Kompetenzen schließen den Raum, die die Respektierung der noumenalen Dimension des Bildungssubjekts öffnet. Der Philosophieunterricht darf nur Anreize vermitteln, das Denken immer wieder aus begrifflichen Verfestigungen herauszulösen und zu verflüssigen. Bei aller Notwendigkeit, die ‚Flüssigkeit‘ des Denkens durch die transzendentale Betrachtungsart zu erzielen, muss es aber ein konkretes, im Hier

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und Jetzt verankertes Subjekt sein, das dieses Denken vollzieht und das einer konkreten philosophieunterrichtlichen Einwirkung überhaupt zugänglich ist. So kommen wir zurück auf den oben (Abschn. 2.5) angedachten Komplex der Existenzgewissheit des im Denkvollzug befindlichen „Ich denke“. Es ist jener Befund des „daß ich bin“, der sich in jedem Denkvollzug einstellt (vgl. KrV B 157) und aufgrund dessen erst unterrichtliche Einwirkung und die Öffnung des Raums der Begründungen und Rechtfertigungen möglich ist. Didaktisch geht es darum, den Schülerinnen und Schülern Gelegenheit zur Entfaltung der eigenen Existenzgewissheit im Denken zu geben, so dass sie immer wieder neu in denkerische Schwebezustände durch das transzendentale Reflektieren eintreten, die man in Anlehnung an Edmund Husserls Unterscheidung von „Noesis“ und „Noema“ – Denkvollzug und Gedanke – auch noetische Schwebezustände der Reflexion nennen kann (Husserl, Hua II/1, S. 188 ff.). Das Denken selbst verankert das Ich im Hier und Jetzt und erweist es als eines, das der bildenden Freisetzung seiner Denk- und Handlungsautonomie zugänglich ist. Die Kunst des bildenden Philosophieunterrichts ist es nun, empirisch fassbare Methoden und Medien einzusetzen, die die noumenale Dimension der Bildungssubjekte immer neu als Existenzerlebnis im Denken aktivieren. Er muss den Anreizcharakter des Denkens und Reflektierens dadurch stimulieren, dass es verspricht, dass das Bildungssubjekt sich darin seiner Existenz gewiss werden kann. Diese zu erlangende Existenzgewissheit in Denk- und Reflexionsvollzügen ist die Grundlage dafür, dass das Ich als bildsames Subjekt das Selbstdenken gemäß der drei Kantischen Maximen des Selbstdenkens und seine persönliche Identität bilden lernt. (Vgl. Kants drei Maximen des Selbstdenkens: KU, AA V, S.  158; Anth, AA VII, S. 228, darüber hinaus in der „Maxime der niemals passiven Vernunft“, KU, AA V, S. 158). Dass dies gelingt, dazu ist eine Planung des Philosophieunterrichts erforderlich, die die bisher hier dargelegten Einsichten zur Zwei-Betrachtungsarten-Theorie der Kantischen Lehre vom Ding an sich berücksichtigt.

3.1 Der bildende Philosophieunterricht, angeleitet durch die Zwei-Betrachtungsarten-Theorie der Lehre vom Ding, an sich selbst betrachtet In der Planung ihres Philosophieunterrichts muss die Lehrperson sich zuerst bewusst sein, dass sie die relevanten Unterrichtsfaktoren so erfassen muss, dass sie diese der empirischen Differenzierung von Erscheinung und Ding an sich unterzieht. Dabei hat sie sich bewusst zu machen, dass Unterrichtsfaktoren wie eine Schülerbegabung, ein Förderbedarf, die sichtbare Motivationsstruktur bei einer Schülerin, einem Schüler, die Methoden und Medien oder die Lehrplanvorgaben zu Kompetenzerwartungen u. a. als empirische Erscheinungen zunächst ihre bloß subjektiven Gegenstände sind. Also solche verdanken sie sich dem unmittelbaren Anschauungsvermögen der Lehrperson. Die Lehrperson weiß, dass sie fortschreiten muss zu der objektiv gültigen Erkenntnis dieser subjektiven Anschauung,

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wodurch die genannten unmittelbaren empirischen Erscheinungen zu den vermittelten verstandesmäßig erkannten empirischen Dingen an sich werden. Sie treten ein in die Reihe der objektiven Sachbegriffe der bestehenden Lernvoraussetzungen auf der Seite der Schülerinnen und Schüler, der zu vermittelnden philosophischen Probleme und der bestehenden philosophischen Lösungsvorschläge. Hierzu zählen auch die Unterrichtsziele, wie sie in Lehrplänen formuliert sind, und die von der Lehrperson selbst gewählten Unterrichtsmethoden und -medien. Diese objektiven Sachbegriffe gehören in diesem Stadium der Planung zu den verstandesbegrifflich erkannten empirischen Dingen an sich. Deren Gesamtheit muss die Lehrperson im Sinne objektiver empirischer Wahrheit über Gegebenes zur Grundlage ihres didaktischen und methodischen instrumentellen unterrichtlichen Vorgehens machen. Dabei werden ihre anfänglich subjektiv bedingten spontanen Auffassungen über die relevanten Faktoren von Unterricht in ein in sich schlüssig durchdachtes pragmatisches Unterrichtskonzept überführt. Die Planungen gehören bis hierher in das Feld der Theorie. Soll ein solches Unterrichtskonzept dem bildenden Philosophieunterricht dienen, muss es zudem wirksam werden auf der Grundlage der transzendentalen Differenz von ‚Ding, als Erscheinung betrachtet‘ und ‚Ding, an sich selbst betrachtet‘. Erst in dieser Unterscheidung offenbart sich die noumenale Dimension des Bildungssubjekts als Bildsamkeit. Erst so entfaltet sich seine regulative Wirksamkeit mit dem Ziel, das Selbstdenken der Schülerinnen und Schüler zu aktivieren. So werden selbst die Unterrichtsziele als solche sichtbar, die offen sind für eine Vermittlung der in ihnen niedergelegten objektiven Ansprüche des Bildungsgangs mit den individuellen Wegen von Schülerinnen und Schülern, jene zu erreichen (vgl. Meyer 1997, 6–10). So erscheinen Unterrichtsziele als solche, die gewissermaßen auch eine noumenale Dimension bei sich führen, und zwar die ihrer offenen Realisierungsmöglichkeiten. Die Lehrkraft darf das sich im Zuge der transzendentalen Betrachtungsart herauskristallisierende Vakuum der fehlenden Phänomenalität des Bildungssubjekts und der Unterrichtsziele nun nicht einfach mit ihrem zuvor entwickelten pragmatischen Unterrichtskonzept füllen. Dieses darf sie nur als ersten Ansatzpunkt für die Strukturierung des Bildungsprozesses nehmen. Sie muss darüber hinaus das ‚An sich‘ aller Bildungsfaktoren als Anreiz dazu auffassen, dass sie sich selbst mit aller Wachsamkeit den spontanen Selbstdenkakten der Schülerinnen und Schüler widmet, die diese aus ihren jeweiligen Denkpotenzialen erzeugen. Sie muss jene Denkakte in das philosophische Problemfeld einordnen und deren Potenzial für die Weiterführung der Gedanken erkennen und die Schülerinnen und Schüler spontan mit geeigneten Denkimpulsen zu weiterem kritischen Denken herausfordern. Dass auch die Lehrkraft diese anreizenden Denkimpulse spontan geben muss, liegt auf der Hand. Die Spontaneität dieser Impulsgebung ist dabei nicht gemeint als eine im Sinne undurchdachter Direktheit. ‚Spontan‘ soll hier im Sinne der ursprünglichen Autorenschaft der Lehrperson verstanden werden, welche die Fähigkeit einschließt, ein ausreichend großes Terrain an Denkmöglichkeiten zu dem philosophischen Problem zu überblicken und daraus unmittelbar einen in der laufenden Unterrichtssituation passenden weiterführenden Denkanreiz zu wählen und zu formulieren.

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Der so angelegte bildende Philosophieunterricht entspricht auf besondere Weise dem oben schon genannten „Weltbegriff“ der Philosophie, den Kant von dem „Schulbegriff“ der Philosophie abgrenzt (KrV A 838 f./B 866 f.). Die Philosophielehrerin und der Philosophielehrer, die die oben genannten Planungen und Durchführungsschritte des Philosophieunterrichts vollziehen können, sind nun gewiss keine Personen, die Kant „Vernunftkünstler“ nennen würde. Sie würden der Art von Person nahe kommen, die Kant einen „Lehrer im Ideal“ und sogar einen „Philosophen“ nennt: „Der Mathematiker, der Naturkundiger, der Logiker sind, so vortrefflich die ersteren auch überhaupt im Vernunfterkenntnisse, die zweiten besonders im philosophischen Erkenntnisse Fortgang haben mögen, doch nur Vernunftkünstler. Es gibt noch einen Lehrer im Ideal, der alle diese ansetzt, sie als Werkzeuge nutzt, um die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft zu befördern. Diesen allein müßten wir den Philosophen nennen“ (KrV A 839/B 867). Auf dieser Grundlage ist das pädagogische Paradox keines mehr. Die Frage: Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? ist beantwortet. „Zwang“ soll hier verstanden werden als die Determination der Schülerinnen und Schüler durch das pragmatisch-schlüssige Unterrichtskonzept der Lehrkraft. Die Freiheit wird realisiert in den darin einzuarbeitenden Denkanreizen, die aus der Idee der Autonomisierung der Schülerinnen und Schüler erwachsen, zunächst in der Verantwortung der Lehrkraft, dann auch in der Verantwortung der Schülerinnen und Schüler selbst. So versöhnen sich Zwang und Freiheit, weil sie als bloße Perspektiven des immer beweglichen transzendentalen Denkens in Planung und Ausführung des Unterrichts wirken, nicht als feste Begriffe, die das Denken auf Seiten aller Handelnden im Klassen- und Kursraum stillstellen. So verstanden werden die Begriffe vom empirischen und intelligiblen Bildungssubjekt wie die von Zwang und Freiheit aufgelöst in die wechselnden Perspektiven des Denkens und Reflektierens über den Unterricht nach dem Vorbild der transzendentalen Zwei-Betrachtungsarten-Theorie.

3.2 Der vom Begriff der Kompetenz bestimmte Philosophieunterricht bringt den Raum der Autonomiebewährung zum Verschwinden Kompetenzorientierte Modelle des Philosophieunterrichts entsprechen eher dem „Schulbegriff“ der Philosophie und sind eher von konstitutiven Verstandesbegriffen von Bildungsstandards sowie insgesamt von einem instrumentellen Begriff des unterrichtlichen Handelns geprägt als vom „Weltbegriff“ der Philosophie und den epistemologischen Überlegungen der transzendentalen Zwei-BetrachtungsartenTheorie, in der die noumenale Dimension des Bildungsgeschehens ins Bewusstseins treten kann. Dies zeigt sich am Kompetenzbegriff nach Klieme (2004), der als ein funktionaler Begriff konkret-inhaltliche, kontextgebundene Fähigkeiten aufgrund von deren phänomenalen Dimension zu erfassen und das Manko früherer formaler Bildungsziele zu überwinden sucht. „Im Gegensatz zu früheren

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Formulierungen formaler Bildungsziele sind die Zielvorstellungen, von denen hier die Rede ist, nicht als verallgemeinerte, kontextfreie Fähigkeitsdimensionen gedacht, sondern sehr stark „funktional“, d. h. von den Anforderungen der Lebensund Arbeitswelt ausgehend.“ (Klieme 2004, S. 10) Die „früheren Formulierungen formaler Bildungsziele“ wie die Ausbildung der Individualität im Sinne Wilhelm von Humboldts (vgl. Humboldt 2010) und die Selbstzweckhaftigkeit des Subjekts nach Immanuel Kant werden zugunsten des erläuterten funktionalen materialen, lebens- und arbeitsweltlichen Ausbildungsziels ausrangiert. Damit fällt die Diskussion hinter den differenzierten Bewusstseinsstand neuhumanistischer Bildungstheorie und transzendentaler Erkenntnistheorie zurück. In der Definition von „Kompetenzen“ nach Weinert wird klar, dass die Überlegungen zum Erwerb von Kompetenzen auf der Stufe der empirischen Betrachtungsart stehen bleiben. Der Kompetenzbegriff wird anhand der logischen und empirisch-psychologischen Struktur der Anforderungen verstandesbegrifflich als etwas Phänomenales bestimmt: „First, this concept refers to the necessary prerequisites available to an individual or a group of individuals for successfully meeting complex demands. The (psychological) structure of a competency derives from the logical and psychological structure of the demands.“ (Weinert 2001, S. 62). Die Kompetenzorientierung ist epistemologisch gesehen aber etwas, das sowohl eine phänomenale als auch eine noumenale Dimension, bei sich führt. Dies geht aus folgender Definition hervor: ‚Kompetenz‘ bezeichnet „alle Fähigkeiten, die ein Mensch in seinem Leben erwirbt und zur Verfügung hat. Dies schließt alle Wissensbestände und Denkmethoden, ein individuelles Vermögen an Kompetenz, Befähigung und Potenzial ein.“ (http://www.business-on.de/ kompetenz-definition-kompetenz-_id42274.html, 03.04.2018). Die im Laufe des Lebens erworbenen Fähigkeiten stellen als empirisch verstandesbegrifflich erfasste oder erfassbare die phänomenale Dimension von Bedingtem dar. Ihre Koppelung an die „individuellen Vermögen an Kompetenz, Befähigung und Potenzial“ rückt ihre noumenale Dimension ins Bewusstsein, die sich einstellt, wenn die Kompetenz an sich selbst betrachtet wird. An sich selbst betrachtet ist eine ‚Kompetenz‘ eine transzendental reflektierbare regulative Idee der Vernunft eines Unbedingten, hier des Bildungssubjekts, das als ein Selbstzweck zu achten ist. Kompetenz ist in ihrer Potenzialität zu verstehen wie die transzendentale Idee des bildsamen Subjekts und die seiner Autonomiefähigkeit. Entsteht das Bewusstsein von der ‚Kompetenzidee‘, koppelt sich diese an die Idee des Subjekts und bewirkt, dass das Subjekt das auktoriale Zentrum der Bemühungen ist und bleibt, sich die in Begriffen vermittelten Kompetenzen als Mittel zum Zweck der eigenen Autonomisierung anzueignen und künftig zu nutzen. Nur diese Überlegung führt auf den notwendigen Gedanken, dass die in Begriffen gefassten Kompetenzen wie Begriffsklärung, Argumentieren und Schließen, Verstehen, Reflektieren und Urteilen, ebenso Wissensinhalte nur jene Mittel sind und nicht zu den letzten Zwecken des Unterrichts werden. Wenn aber ‚Kompetenz‘ nur in der empirischen Differenz von Erscheinung und Ding an sich bedacht wird, d. h. zunächst bloß als der subjektive „unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung“ (KrV A 20/B 34) in der anfänglichen

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Inaugenscheinnahme des Lehrplans durch die Lehrkraft, und dann als der durchgängig bestimmte objektive Gegenstand ihres Unterrichtens, und nicht zusätzlich der transzendentalen Betrachtung unterzogen wird, erfolgt die transzendente Hypostasierung zur „Kompetenz an sich“. Diese wird als transzendentes Ding an sich durch eine illegitime Begriffsbestimmung einseitig definiert, ihrer Dynamik als eines autonomen Denkvollzugs beraubt und der kritischen Reflexion entzogen. So vor allem dann, wenn sich ein Begriff von ihr einschleicht, der trotz aller Behauptung inhaltlicher Kontextualität doch nur die bloße Form der Kompetenz erfasst, z.B. die Formen logischen Argumentierens, und ihren Vollzug durch den Lernenden vom Inhalt abkoppelt, indem vorgegeben wird, welches Vorkommnis überhaupt ein philosophisches Problem darstellt. Ist der Denkende davon suspendiert, selbst über Inhalte zu urteilen und zu verstehen, was an ihnen ein Problem und was eine Problemlösung sein könnte und welche Relevanz beide für ihn haben, wird die Dialektik von Form und Inhalt einer solchen philosophsichen Problemstellung stillgestellt. Gerade diese aber ist es, die den Raum der Gründe öffnet und bildend wirkt. Dazu kommt, dass so die innere Beteiligung einer schematischen Anwendung von Denkkompetenzen auf Inhalte weicht und letztere für den Denkenden beliebig werden. Für ihn rückt die formal saubere Ausführung der Kompetenz im Kontext von Benotung, an der er ein höheres Interesse hat, zum Endzweck des Unterrichts auf. Die Messbarkeit des richtigen Denkens, das in vorgeprägten Denkschablonen verläuft, und die Operationalisierbarkeit dieses Denkens in beliebigen funktionalen Kontexten der Lebens- und Arbeitswelt werden zu Bestimmungsmerkmalen des kompetenzorientierten Denkens. Sie degradieren das Denken zu einer bloßen Mechanik der Denkmittel. Diese bergen die Gefahr, zu Mitteln in Händen fremder Funktionalisierungen zu werden. So wird deutlich: ob die Propagierung der Kontextgebundenheit von Kompetenzen in der Lebens- und Arbeitswelt zu autonomem Denken führt, entscheidet sich daran, ob die Kompetenzorientierung durch die transzendentale Betrachtung gegen die dargelegten Entgleisungen immunisiert wird und sich fremder Funktionalisierung entziehen kann. Jedenfalls trifft die Kritik der Kompetenzbefürworter an formalen Bildungszielen nicht. Die hierin reflektierte Formalität bedeutet nicht die Abkoppelung der Inhalte von der Form. Sie bedeutet, dass es das formgebende individuelle Bildungssubjekt ist, das seiner individuellen Vermittlung mit den Inhalten der Welt seinen Stempel aufdrückt. Und dies, weil die Idee einer solchen Vermittlung von Form und Inhalt einer transzendentalen Betrachtung des Bildungssubjekts entspringt und in ihrem epistemischen Status einer transzendentalen regulativen Idee seinen Denkraum offenhält. Wird die transzendentale Betrachtungsart gar nicht erst erwogen, schnappt die Falle transzendenter Metaphysik zu und eine verkürzende Hypostasierung eines inhaltsleeren Kompetenzbegriffs erzeugt eine undurchschaute Normativität des Faktischen. Es entsteht die Gefahr der heteronomen Verzweckung des Philosophieunterrichts (vgl. Roeger 2016, S. 180). Vor allem unter der Zielsetzung, im größtmöglichen Umfang im Philosophieunterricht ein übervolles Pensum an kleingerasterten Kompetenzen und Teilkompetenzen (vgl. Rösch 20112, S. 16) zu­

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vermitteln und zu erwerben, gerät das selbstdenkende bildsame und autonomiefähige Subjekt leicht unter die Räder der instrumentell-pragmatischen Bewältigung von Arbeitsaufgaben wie Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften der Schülerinnen und Schüler, Problemstellungen zu erfassen, darzustellen und zu erläutern, Lösungsansätze zu entwickeln, bestehende Lösungsansätze zu rekonstruieren, zu analysieren, aufeinander zu beziehen und in Anwendungskontexten zu erläutern, Begriffe zu klären und logisch zu argumentieren. Allein diese Menge macht, dass die Kompetenzen zu einer unübersehbaren Menge an Teilaufgaben geraten, deren innerer Zusammenhang oft unklar bleibt. Im emsigen Abarbeiten haben die Schülerinnen und Schüler faktisch nur sehr bedingt die Möglichkeiten für ein „Nachdenken und Vorausdenken“, das sie zu einer bildenden Lebensform kultivieren könnten (vgl. Mittelstraß 1989, S. 14–16). Das durch den verkürzten transzendenten Begriff der Kompetenz gesteuerte Subjekt entwickelt keine Abwehrkräfte dagegen, dass seine Kompetenzen zu Instrumenten subjektfremder Kräfte wie Industrie, Wirtschaft und Wissenschaftsbetrieb werden. Dem Bildungssubjekt selbst bleibt letztlich seine eigene noumenale Dimension, sein Raum der Begründungen und Rechtfertigen und sein Selbstzweckcharakter verborgen. Kants Maximen des Selbstdenkens finden keinen Eingang. Vor allem das noumenale Potenzial des Mit-sich-selbst-einstimmig-Denkens bleibt der Schülerin, dem Schüler gänzlich unverständlich, wenn es überhaupt in ihr oder sein Blickfeld tritt. Das alles bedeutet selbstverständlich nicht, dass ‚Kompetenzen‘ überhaupt nicht auf der Ebene der empirischen Betrachtungsart den philosophischen Bildungsgang anleiten dürften. Sie sind in dieser Betrachtungsart unverzichtbar für die instrumentell-pragmatischen Handlungen der Diagnostik und Unterrichtsplanung und der Leistungsbewertung. Denn sonst könnte die Lehrperson gar nicht die oben dargelegte pragmatische Unterrichtsplanung konzipieren. Immer muss der Lehrperson aber bewusst sein, dass dies nur den ersten Schritt des Bildungsgeschehens und ein bloßes Mittel, nicht den Zweck des Bildungsgeschehens darstellt. Der normative Charakter der noumenalen Dimension des philosophischen Bildungsgangs selbst muss bewusst gehalten werden und die Prozesshaftigkeit des Kompetenzerwerbs und seine Dynamik zwischen ‚Ist‘ und ‚Soll‘ des Bildungsganges muss im Zentrum der Unterrichtsplanung stehen.

3.3 Die didaktische Transformation der transzendentalen Reflexion zu einer Unterrichtsmethode – Transzendentalphilosophie und Phänomenologie Das wesentliche Erfordernis des bildenden Philosophieunterrichts, so kann man die bisherigen Einsichten zusammenfassen, ist es, das Denken nicht durch vorzeitige begriffliche Bestimmungen still zu stellen. Das Denken muss

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dynamisiert werden, damit sich der Raum der Denkmöglichkeiten und der Begründungen und Rechenschaften öffnet. Die transzendentale Reflexion der ­Zwei-Betrachtungsarten-Theorie führt das epistemologische Grundprinzip dieser Dynamisierung des Denkens vor Augen. Es wurde hier der Lehrperson als Prinzip ihrer Unterrichtsplanung und -ausführung anempfohlen. Das Augenmerk einer Lehrperson sollte aber nicht nur auf dieser transzendentalphilosophisch bewusst gemachten didaktischen Notwendigkeit der Verflüssigung ihres eigenen Denkens liegen, das sie in der genannten Art von Spontaneität und zum augenblicklichen Überblick über Denkmöglichkeiten, die den Schülerinnen und Schülern als „Werkzeuge“ weiterhelfen, entfalten sollte. Sie sollte sich auch bemühen, das Denken der Schülerinnen und Schüler selbst zu verflüssigen, um ihr Denken unter die Ägide des letzten Zwecks der menschlichen Vernunft, der Beförderung von Autonomie, zu stellen. Denkt man diesen Gedanken nun didaktisch konsequent weiter, so sollte das transzendentale Reflektieren auf die Möglichkeitsbedingungen von Empirie, Theorie und autonomer Praxis des Menschen als kopernikanische Wende des Denkens von den objektiven zu den subjektiven Bedingungen des Philosophierens transformiert werden in eine Unterrichtsmethode, die auch die Schülerinnen und Schüler selbst erlernen sollten. So steht am Ende der Überlegungen zur bildungsphilosophischen Relevanz der transzendentalen Lehre vom ‚Ding, an sich selbst betrachtet‘ der Vorschlag, die transzendentale Reflexion als Methode für den Philosophieunterricht der Sekundarstufe II in den Kanon der bisher genutzten philosophischen Methoden Phänomenologie, Hermeneutik, Analytik, Dialektik, Spekulation (vgl. Rohbeck 2000 und Martens 2012) aufzunehmen. Dabei gilt es zu bedenken, dass sie auch in der Sekundarstufe I und sogar für das potenzialorientierte inklusive Philosophieren (vgl. Engel 2019) eingeführt werden kann, wenn sie als präsentativ initiierte phänomenologische Beschreibung der eigenen Bewusstseinszustände eingesetzt wird (vgl. Engel 2018a, b). Zur didaktischen Transformation der transzendentalen Reflexion bietet sich die phänomenologische Blickwendung auf das „Universum des Subjektiven“ an, wie Edmund Husserl sie zum Ausgangspunkt der phänomenologischen Philosophie macht (Husserl: 2006, Hua-Mat, Bd. VIII, S. 125). So scheinen sich die kantische kopernikanische Wende von den objektiven zu den subjektiven Bedingungen der Erkenntnis und die phänomenologische Blickwendung in ihrer Reflexivität zu entsprechen. Will man aber Lehrstücke der Husserlschen Phänomenologie philosophiedidaktisch zu dem Zweck einsetzen, die kantische transzendentale kopernikanische Wende phänomenologisch erlebbar zu machen, gilt es zu legitimieren, dass zur Hinführung zur Apriorität der transzendentalphilosophischen Rekonstruktion von Möglichkeitsbedingungen das konkrete Erleben von Bewusstseinsprozessen dienen kann, dessen Beschreibung Husserl als unabdingbar für vorurteilsfreie Erkenntnis versteht. Hierbei erhält das oben genannte Lehrstück von der Daseinsgewissheit des Ich denke (vgl. hier Abschn. 2.5, KrV B 157) die Brückenfunktion. Auf den ersten Blick scheint es unüberwindliche Unterschiede zwischen beiden philosophischen Ansätzen zu geben. Aber dieser erste Blick ist getrübt

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durch die illegitime Interpretation der Kantischen Lehre vom Ding an sich als einer ­ Zwei-Welten-Theorie und die Verkennung der Tatsache, dass Kant den zuerst nur anschaulich gegebenen subjektiven Gegenständen auch schon einen Erkenntniswert zuteilt. Es sind die Hypostasierungen der noumenalen Dimension der Dinge zu dem transzendenten An-sich-Sein der Dinge, welche hier erklärt wurden, gegen die Husserl sich wendet, wenn er seinen Blick auf die Phänomene konzentriert. „Phänomen besagt hier also einen gewissen, dem betreffenden anschauenden Bewußtsein selbst einwohnenden Gehalt“ (Hua XXV, S. 70). Kant würde diese Art von Phänomen den subjektiven anschaulichen Gegenstand nennen. Auch nach Kant kommt diesem ein gewisser Erkenntniswert zu. Der Unterschied zwischen ihm und Husserl besteht nun darin, dass Kant die volle, d. h. objektiv gültige Erkenntnis erst erreicht sieht, wenn sich der subjektive Gegenstand in den objektiven Gegenstand verwandelt durch die Verstandessynthesis der Anschauungen. Husserl dagegen sieht die eigentliche Erkenntnis dann erreicht, wenn die Phänomene (wie er sie versteht) als zunächst nur erlebte Bewusstseinsgehalte im anschaulichen Bewusstsein bis in ihre komplexen Verbindungen untereinander so genau wie möglich beschrieben werden, wobei die gehaltvolle Anschauung im Bewusstsein den Kern der vorurteilsfreien Erkenntnis bietet. Der berühmte Ruf der phänomenologischen Bewegung, „zu den Sachen selbst“ zurückzugehen (Husserl 1984b; Hua Bd. XIX/2, S. 10), bedeutet die Aufforderung, in diesen gehaltvollen Bewusstseinsphänomenen die Sachen selbst zu erkennen. Die phänomenologische Blickwendung auf anschauliche Gehalte des Bewusstseins findet genau in Kants Lehre von der Daseinsgewissheit des Ich den methodischen Ansatzpunkt für die Anleitung zur transzendentalen Reflexion. In dem „Ich denke“, das „alle meine Vorstellungen [muß] begleiten können“ (KrV B 131 f., § 16), können wir unser Subjekt zwar nicht „nach dem, was es an sich ist, erkennen“, aber wir können uns in der inneren Wahrnehmung der Sukzession von Synthesisleistungen durch die Einbildungskraft im inneren Sinn der Zeit „so anschauen, wie wir innerlich von uns selbst affiziert werden“ (KrV B 156). Das Ich ist zwar ‚an sich‘ unverfügbar, auch im inneren Wahrnehmungsurteil (vgl. Prauss 1971, S. 119 f.). Aber es kann im Vollzug der ­Ich-denke-Spontaneität seiner Daseinsgewissheit inne sein (KrV B 157), und zwar in einem faktischen Existenzbewusstsein, wie es aus den Husserlschen Phänomenen als Bewusstseinserlebnissen hervorgeht. J.G. Fichtes Einsicht in die Zirkelhaftigkeit des Reflexionsmodells des Selbstbewusstseins (vgl. Fichte 1971, 91-98; Henrich 1966, 192–195)) tut der hier vertretenen Theorie von der Daseinsgewissheit des Ich in Denkakten keinen Abbruch. Verlangt Fichte von der Ich-Erkenntnis, dass sie ein Wissen ist, reicht es hier aus, sie als Zustand des Gemüts für bildende Prozesse in Anspruch zu nehmen, gerade mit Blick auf die Nutzung phänomenologischer Einsichten in prä-kognitive Bewusstseinsphänomenme. Nun zu den einschlägigen phänomenologischen Lehrstücken, die philosophiedidaktisch zu den hier dargelegten didaktischen Zwecken genutzt werden können. Das Erleben ihres eigenen Denkens ist die Voraussetzung dafür, dass die Schülerinnen und Schüler z. B. die phänomenologische Epoché vollziehen. Sie ist der erste Schritt der Reflexion.

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„In der Epoché habe ich das Weltbewusstsein und die bewusste Welt modifiziert, eben im Modus des Enthaltens vom natürlichen Welterleben in allen seinen Interessen. Ein neues Interesse soll betätigt werden, das Interesse am Universum des Subjektiven, worin Welt für mich ihren Seinssinn hat, worin also mein menschliches Sein selbst seinen Seinssinn gewinnt“ (Husserl 2006, Hua-Mat. Bd. VIII, S. 125).

Den Blick von der „natürlichen Geradehin-Gerichtetheit auf die Welt […] umzulenken“, auf „das Erlebnis selbst und sein Meinen“ (Husserl 2002, Hua, Bd. XXXIV, S. 130) kann methodisch angeleitet werden z. B. durch das Erlebnis, vermeintlich eine Münze auf dem Boden des Klassenzimmers zu finden, wobei sich bei genauerer Betrachtung die Münze als ein Kronkorken entpuppt. Die Schülerinnen und Schüler lernen, die Haltung der Epoché einzunehmen, indem sie die natürliche Einstellung des Bewusstseins, dass die Welt so da ist, wie sie sie wahrnehmen und dass sie grundsätzlich unumstößlich in ihrem Sein gesetzt ist so, wie sie sie beim ersten Anblick auffassen, überwinden (vgl. Husserl 1976, Hua, III/1, S. 62). Die eigene Sicht auf die Welt wird so modifiziert, indem sie sich der natürlichen Haltung zur Welt enthalten und sie nicht als gegeben nur hinnehmen (vgl. Husserl 2006, Hua-Mat. Bd. VIII, S. 125). Damit ist der erste Schritt zur Reflexion auf die subjektiven Bedingungen der Bewusstseinserlebnisse getan. Der zweite Schritt ist der der phänomenologischen Beschreibung. Dieser Schritt kann methodisch durchgeführt werden durch die Aufgabe, einen Tisch genau zu beschreiben oder abzumalen. Dabei werden die Schülerinnen und Schüler feststellen, dass sie selbst die nicht sichtbaren Hinter- und Seitenansichten durch eigene Vorstellungen ergänzen. Darin werden die wahren Strukturen zwischen dem Bewusstseinserlebnis und der Sache selbst aufgesucht und so gewinnt sich das Subjekt in seinem Selbstsein (vgl. ebd.) in der reflexiven Haltung der phänomenologischen Beschreibung. Als dritter Schritt sollte folgen, dass die Lehrperson die Schülerinnen und Schüler die eigene Intentionalität in der Erkenntnis von Dingen und im Nachdenken über philosophische Probleme erleben lässt. Die Haltung der Intentionalität bestimmt grundsätzlich alle Bewusstseinsakte, indem der Erkennende das Wahrgenommene, das Erinnerte, Phantasierte, Bezweifelte etc. stets in der „Etwas-als-etwas … wahrnehmen, erinnern, phantasieren, bezweifeln …“-Haltung vorstellt. Husserl nennt diese Vorstellungsvorgänge intentionale Akte mit unterschiedlichen Aktqualitäten (vgl. Husserl,1984a, Hua XIX/1, §§ 9–21; S. 454), eben denen von Wahrnehmen, Erinnern etc. Husserl sieht darin „innere Stellungnahmen“ gegenüber der vorgestellten Sache und dem bedachten Problem. Indem die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen intentionalen Akte als innere Stellungnahmen entdecken, vollziehen sie den dritten Schritt der transzendentalen Reflexion auf ihre eigenen Bewusstseinsvorgänge. Schließlich steigert sich im vierten Schritt die Abstraktheit der phänomenologischen Reflexion, so dass sie tatsächlich die transzendentale Rekonstruktion apriorischer Denk- und Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Phantasieakte darstellt. Diese intentionalen Bewusstseinsakte können in ihrem Vollzugscharakter als „noesis“ und in ihrem Produktcharakter als „noema“ verstanden werden. Noesen sind, so Husserl in seiner Ideen-Schrift, die Weisen des Intendierens wie

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­ ahrnehmen, Erinnern etc., Noemata sind die entsprechenden intentionalen W Korrelate, d. h. das Intendierte selbst wie das Wahrgenommene, das Erinnerte etc. (Husserl 1976, Hua III/1, S. 188, 200). Wesentlich in didaktischer Absicht ist nicht nur, dass in dieser Unterscheidung die Schülerinnen und Schüler den vierten Schritt zu einer phänomenologisch-transzendentalen Reflexion vollziehen, sondern auch, dass ­ ihnen darin die Verflüssigung des eigenen Denkens und damit die Offenheit für immer neue Möglichkeiten des Denkens, Wahrnehmens, Erinnern, Phantasierens etc. und zudem die eigene Autorenschaft dieser Denkmöglichkeiten vor Augen geführt wird. Darin klärt sich zudem der Vorrang des Denken-Lernens vor dem Gedanken-Lernen, wie es Kant in seiner Semesterankündigung von 19765/66 ­ erläutert (vgl. Kant: NEV, AA II, S. 306). Ein Philosophieunterricht, der sich in der hier dargelegten wahrlich komplexen Art der Aufgabe widmet, die Schülerinnen und Schüler dadurch das Denken zu lehren, dass er diese in die nichtempirischen Tiefendimensionen ihrer eigenen Möglichkeiten des philosophischen Denkens einführt, genügt in besonderem Maße den Anforderungen an die Bildung des Menschen. Er ermöglicht Bildung im Sinne einer performativen und reflexiven Verknüpfung von Kultur und Individualität. Er befähigt die Schülerinnen und Schüler dazu, „an ihren Erziehungs- und Bildungsbedingungen, mithin an ihren Selbst- und Weltverhältnissen selbst mitzuwirken, d. h. in der Lage zu sein, sich selbst eine Form geben zu können“ (Göhlich und Zirfas 2007, S. 15). Eine solche Orientierung an der noumenalen Dimension des bildsamen und autonomiefähigen Subjekts ist die Essenz des bildenden Philosophieunterrichts. Siglenverzeichnis. AA Akademie-Ausgabe Anth Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (AA VII) GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA IV) KpV Kritik der praktischen Vernunft (AA V) KrV Kritik der reinen Vernunft (Originalpaginierung A/B) KU Kritik der Urteilskraft (AA V) MSI De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (AA II) NEV  Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in Winterhalbenjahre von 1765–1766 (AA II) OP Opus Postumum (AA XXI und XXII) WA Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (AA VIII)

dem

Literatur Kants Werke, aus denen zitiert wurde: Kant, Immanuel (1900) Gesammelte Schriften, Hrsg. Bd. 1–22 Preussische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Berlin.

Kants Lehre vom ‚Ding, an sich selbst betrachtet‘

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Husserl, Edmund. 1984b. Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Text der 1. und 2. Auflage ergänzt durch Annotationen und Beiblätter aus dem Handexemplar. Husserliana (Hua) Gesammelte Werke Bd. XIX/2, Hrsg, Ursula Panzer. Den Haag: Martinus Nijhoff. Husserl, Edmund. 2002. In Zur phänomenologischen Reduktion. Texte aus dem Nachlass (1926– 1935). Husserliana (Hua) Gesammelte Werke, Bd. XXXIV, Hrsg, Sebastian Luft. Den Haag: Springer Netherlands. Husserl, Edmund. 2006. In Späte Texte über Zeitkonstitution (1929-1934). Die C-Manuskripte. Husserliana (Hua-Mat) Gesammelte Werke Materialien-Bände Hua-Mat, Hrsg. Dieter Lohmar, Bd. VIII. Den Haag: Springer. Klieme, Eckhard. 2004. Was sind Kompetenzen und wie lassen sie sich messen? Pädagogik 6:10–13. Martens, Ekkehard. 20123. Methodik und Didaktik des Philosophieunterrichts. Philosophieren als elementare Kulturtechnik. Hannover: Siebert. Meyer, Meinert A. 1997. Selbstbestimmt und selbstbewusst. Heinrich Schliemann als Sprachenlehrer. In Lernmethoden, Lehrmethoden: Wege zur Selbstständigkeit, Hrsg. Meinert A. Meyer, Ute Rampillon, Gunter Otto, Ewald Terhart, 6–10. Hannover: Friedrich. Mittelstraß, Jürgen. 1989. Glanz und Elend der Geisteswissenschaften, Ausgabe 27 der Oldenburger Universitätsreden. Nida-Rümelin, Julian. 2013. Philosophie einer humanen Bildung. Hamburg: Edition ­Körber-Stiftung. Nussbaum, Martha C. 2012. Not for profit. Why democracy needs the humanities. Princeton: Princeton University Press. Prauss, Gerold. 1971. Erscheinung bei Kant. Ein Problem der „Kritik der reinen Vernunft“. Berlin: De Gruyter. Prauss, Gerold. 19772. Kant und das Problem der Dinge an sich. Bonn: Bouvier. Prauss, Gerold. 1983. Kant über Freiheit als Autonomie. Frankfurt a. M.: Klostermann. Roeger, Carsten. 2016. Philosophieunterricht zwischen Kompetenzorientierung und philosophischer Bildung. Opladen: Budrich. Rohbeck, Johannes. 2000. Methoden des Philosophie- und Ethikunterrichts. In Methoden des Philosophierens, Hrsg. J. Rohbeck, 146–174. Dresden: Thelem. Rösch, Anita. 20112. Kompetenzorientierung im Philosophie- und Ethikunterricht. Entwicklung eines Kompetenzmodells für die Fächergruppe Philosophie, Praktische Philosophie, Ethik, Werte und Normen, LER. Berlin: LIT. Strawson, Peter Frederick. 1966. Bounds of Sense: An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason. London (Routledge). Deutsche Übersetzung von Ernst Lange, Michae. 1992. Die Grenzen des Sinns: Ein Kommentar zu Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Frankfurt a. M.: Hain. Weinert, Franz Emanuel. 2001. Concepts of coompetence: A conceptual clarification. In Definition and Selection of Competencies. Theoretical and Coneptual Foundation (DeSeCo), Hrsg. Dominique Simone Rychen und Laura Hersh Salganik, 44–65. Seattle: Hogrefe & Huber. Wiesing, Lambert. 2015. Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie. Berlin: Suhrkamp. Willaschek, Marcus. 2001. Die Mehrdeutigkeit der kantischen Unterscheidung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen. In Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant – Kongresses. Fünf Bände, Hrsg. Ralph Schumacher, Rolf-Peter Horstmann, Volker Gerhardt, Bd. 2, 679–690. Berlin: De Gruyter.

Hegels Bildungsbegriff – Systematik und Entwicklungsphasen Krassimir Stojanov

Dieser Aufsatz ist auf eine doppelte – synchrone wie diachrone – Zielsetzung ausgerichtet. Zum einen versuche ich, die Grundmerkmale von Hegels Bildungsbegriff mehr oder weniger systematisch zu rekonstruieren. Zugleich ordne ich diese Merkmale drei Werken von Hegel zu, welche aus unterschiedlichen Entwicklungsstadien seiner Philosophie stammen. In diesen Werken spielt der Begriff der Bildung eine zentrale Rolle, wobei sie diesen Begriff je unterschiedlich akzentuieren. Dadurch erlangt er in Hegels Philosophie eine gewisse Entwicklungsdynamik, die allerdings eher durch Kontinuität als durch Brüche gekennzeichnet ist: Wird Bildung in der Phänomenologie des Geistes vor allem als ein Vorgang der Selbst-Konstituierung durch eine „harte Entfremdung“ des Einzelnen von der politischen und wirtschaftlichen Gemeinschaft aufgefasst, widmen sich Hegels Gymnasialreden vor allem der pädagogisch-entdramatisierenden Überführung dieser Entfremdung in die Bereiche der Imagination und des (begrifflichen) Denkens; eine Überführung, die dem Zwecke der Selbst-Erhebung des Individuums zur Allgemeinheit dienen soll, der im Mittelpunkt der Philosophie des Rechts steht. Im Folgenden sollen diese unterschiedlichen thematischen Felder des Hegelschen Bildungsbegriffs in den genannten drei Werken in der gebotenen Kürze dargelegt werden, wobei die strukturlogischen Übergänge zwischen ihnen im Mittelpunkt meines Rekonstruktionsversuchs stehen werden.

K. Stojanov (*)  Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Eichstätt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Thein, Philosophische Bildung und Didaktik, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_3

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1 „Bildung“ als Selbstsetzung von Subjektivität in der entfremdeten sozialen Welt: Die „Phänomenologie des Geistes“ In der Phänomenologie des Geistes verwendet Hegel das Wort „Bildung“ in einem weiteren und einem engeren Sinne. Bildung im weiteren Sinne ist eine Bezeichnung für den gesamten Prozess der Entwicklung des „allgemeinen Geistes“, die diverse „Bildungsstufen“ durchläuft (vgl. Hegel 1807/2010, S. 28). Diese Stufen sind als historische Formen des sozialen und sittlichen Lebens zu verstehen, die das menschliche Individuum bzw. der subjektive Geist in seiner Entwicklung verinnerlicht. Dadurch werden wiederum diese historisch-objektiven Formen des Gemeinschaftslebens durch Selbstbewusstsein durchdrungen, das ursprünglich dem subjektiven Geist entstammt (vgl. ebd., S. 29). So verstanden, umfasst Bildung die gesamte Dialektik zwischen subjektivem und objektivem Geist, welche alle Entwicklungsstufen des allgemeinen Geistes umfasst. Auf der anderen Seite verwendet Hegel den Terminus in einem engeren Sinne als Bezeichnung für eine spezifische Phase in der Entwicklung des Geistes – für eine Phase, die er in der Phänomenologie zwischen den Entwicklungsstufen der Sittlichkeit und der Moralität einordnet, und allgemein als die Phase des sich entfremdeten Geistes bezeichnet (vgl. ebd., S. 361–363). Dies ist eine Phase der Entfremdung des Geistes von seiner (sittlichen) Welt und dadurch von sich selbst, die durch eine spannungsreiche Dynamik charakterisiert ist, welche zuerst zur Entstehung von Moralität führt, die dann in Religion und letztlich in absolutes Wissen aufgehoben wird. In diesem Aufsatz möchte ich mich ausschließlich auf den letzteren, engeren Sinn von Bildung fokussieren – und dies nicht nur aus Platzgründen. Denn die dialektische Figur der Selbst-Konstitution durch die Entfremdung des Subjekts von der sittlichen Gemeinschaft, in der es ursprünglich verwurzelt ist, oder – ausgedrückt in einer modernen Sprache – die Figur der Entstehung von Subjektivität durch die Entfremdung von der eigenen partikularen Enkulturation, stellt m. E. nicht nur den wichtigsten Schlüssel zum Verständnis der gesamten Entwicklung des Geistes nach Hegel dar. Darüber hinaus hat diese Figur immens wichtige pädagogische Implikationen, die allerdings erst in Hegels späteren Schriften, und auch dort nur andeutungsweise, zum Ausdruck kommen. Damit wir diese dialektische Figur besser nachvollziehen können, müssen wir zuerst die Vorstufen der eigentlichen Bildung in Betracht ziehen, nämlich die Entstehung von Selbstbewusstsein und seine Aufhebung in das Gemeinschaftsleben der unmittelbaren oder natürlichen Sittlichkeit.

Hegels Bildungsbegriff – Systematik und Entwicklungsphasen

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1.1 Entstehung von Selbstbewusstsein und von Sittlichkeit als Vorstufen der Bildung Subjektivität kommt in der Phänomenologie zuerst in der Gestalt vom/n (rudimentären/m) Selbstbewusstsein vor. Es zeichnet/manifestiert sich eine „[n]eue Gestalt des Wissens, das Wissen von sich selbst“ (ebd. S. 135). Das ist Wissen nicht nur von einem Anderen des Bewusstseins, von einem Gegenstand der Wahrnehmung, sondern vielmehr von dieser Wahrnehmung selbst – ein Wissen, bei dem der Wahrnehmende sich selbst als Wahrnehmender bewusst wird. Dies bedeutet, dass das Bewusstsein im Modus des Selbstbewusstseins sich im Anderen, im Gegenstand erkennt, ohne dabei die Differenz zwischen Ich und dem Gegenstand aufzuheben. Vielmehr werden Ich und das Andere zu Momenten der dialektischen Bewegung des Wissens über sich selbst, des Selbst-Begreifens, wobei der Begriff bzw. das Begreifen nach Hegel als die Bewegung des Erkennens von etwas in seiner Dialektik von An-sich-Sein und Für-sich-Sein zu verstehen ist. In Bezug auf das Selbstbewusstsein ist diese Bewegung dergestalt darzustellen, dass das begreifende Wissen von sich selbst durch das Wiedererkennen des Selbst in den von ihm wahrgenommenen Gegenständen hergestellt wird, welche an sich und in diesem Sinne äußerlich vom Selbstbewusstsein existieren (vgl. ebd., S. 135). Diese dialektische Figur impliziert, dass in dem Moment, in dem das Selbstbewusstsein sich selbst zum Gegenstand der Erkenntnis macht, sich das Selbstbewusstsein sich selbst als ein Ansich setzt, das unabhängig und äußerlich vom sich selbst erkennenden Selbstbewusstsein existiert. Dieser Gegenstand ist aber selber ein Selbstbewusstsein; daher kommt es notwendigerweise zu einer „Verdoppelung des Selbstbewußtseins“ (ebd., S. 141). „Es [das lebendige Selbstbewusstsein – K.S.] ist ein Selbstbewußtsein für ein Selbstbewußtsein“ (ebd., S. 142), behauptet Hegel unmissverständlich. Dies bedeutet, dass das Selbstbewusstsein seine Bestätigung, ja seine Existenz als Selbstbewusstsein in einem anderen Selbstbewusstsein findet: „Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem und dadurch, daß es für ein Anderes an sich und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes“ (ebd., S. 142). Dieses „Andere an sich und für sich“ ist zwar zunächst ein lebendiger Gegenstand und als solcher ist er für das Selbstbewusstsein ein Objekt der Begierde. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie Besitz über die Gegenstände ergreifen möchte, auf die sie sich richtet, und damit sie in ihrer Selbständigkeit vernichtet. Auf der anderen Seite kann das Selbstbewusstsein aber nur durch seine Spiegelung, durch seine Anerkennung, durch seinen „Gegenstand“ Selbstbewusstsein sein, und dieser „Gegenstand“ ist ein anderes Selbstbewusstsein, das als solches selbstständig ist. Dieses höchst widersprüchliche intersubjektive Verhältnis konkretisiert sich in der berühmten Figur eines Kampfes um Anerkennung auf Leben und Tod; eine Figur, die sich vor allem im Kapitel über die Dialektik zwischen Herrschaft und

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­ nechtschaft in der Phänomenologie des Geistes entfaltet, und die Gegenstand K von zahlreichen Interpretationen und Spekulationen in der Philosophiegeschichte ist (vgl. ebd., S. 142–152; auch Schnädelbach 2011, S. 64–66). Das menschliche Individuum wird also zum Selbst in seiner basalen Form als Selbstbewusstsein durch die Anerkennung von einem anderen Selbst, das wiederum vom Individuum als Selbst anerkannt wird. In dieser wechselseitigen Anerkennung nehmen sich die beiden Subjekte zum ersten Mal als geistige Entitäten wahr; genauer: als Mitglieder des „Wir“ der geistigen Wesen, oder anders ausgedrückt – als Mitglieder einer Gemeinschaft, in der sich der Geist verwirklicht. Denn Geist ist nach Hegel die Einheit „verschiedener für sich seiender Selbstbewußtseine“ (Hegel 1807/2010, S. 142), er ist „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“ (ebd., S. 142). Genau in diesem dialektischen Verhältnis zwischen Ich und Wir, das aus gemeinsam gelebten Werten und Normen besteht, zwischen subjektivem und objektivem Geist – einem Verhältnis, das aus der inneren Logik der intersubjektiven Beziehung zwischen zwei Selbstbewusstsein(en), zwischen Ich und Du entspringt und diese Logik vollendet – spielt sich für Hegel Bildung im engeren Sinne ab. Dabei ist es jedoch anzumerken, dass in der ersten Wirklichkeitsform des objektiven Geistes, die in der unmittelbaren, natürlichen Sittlichkeit des Volkes besteht, das Hegel nach dem Modell einer Großfamilie versteht, noch keine Bildung stattfindet. Es findet noch keine Entfremdung des Individuums von der sozialen Realität statt, die Bildung als eine vermittelte Selbstbeziehung, oder als eine vermittelte Entwicklung des Selbstbewusstseins ermöglichen würde: Vermittelt wäre sie durch die Selbst-Objektivierung des Individuums in ihm gegenüberstehenden sozialen Entitäten und der nachfolgenden Rückkehr zu sich selbst von diesen Entitäten auf einer reflexiv-begrifflichen Ebene. Denn auf der Ebene der natürlichen Volkssittlichkeit gilt: „Nichts hat die Bedeutung des Negativen des Selbstbewußtseins; selbst der abgeschiedne Geist ist im Blute der Verwandtschaft, im Selbst der Familie gegenwärtig, und die allgemeine Macht der Regierung ist der Willen, das Selbst des Volks.“ (ebd., S. 362). Vielmehr wird der Boden für die bildende Entfremdung erst durch das Eindringen des Rechts in die sittliche Gemeinschaft vorbereitet (vgl. ebd. S. 355–360), das zur institutionellen Verselbständigung von Staatsmacht und Eigentum bzw. Reichtum gegenüber den Einzelnen führt. Und Staatsmacht und materieller Reichtum werden zu den objektiven Polen, an denen sich das Individuum sozusagen „reibt“ – und genau durch diese „Reibung“ wird Bildung ausgelöst.

1.2 Bildung als Subjekt-Entwicklung durch Identifizierung mit und Abgrenzung von Staatsmacht und Reichtum Für gewöhnlich werden wissenschaftliche und künstlerische Inhalte als die objektive Seite von Bildung gehalten. Demgegenüber verortet Hegel in der

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Phänomenologie diese Seite im alltäglichen sozialen Handeln der Einzelnen, in dem sich Staatsmacht und Reichtum als „gegenständliche Momente“ (ebd., S. 269) des Selbstbewusstseins konstituieren, welche zusammen seine Welt ausbilden, zu der sich das Selbstbewusstsein als zu einer Fremden so verhält, „dass es sich ihrer nunmehr zu bemächtigen hat“ (ebd., S. 364). Im Zuge dieser Bemächtigungsbemühungen entwickelt sich eine sittlich vermittelte Subjektivität – und genau diese Entwicklung ist letztendlich als Bildung zu bezeichnen. Nachdem sich das Individuum von den Gegenständen der Herrschaft und des Reichtums zuerst abgrenzt, indem „es sich [von ihnen] frei weiß und zwischen ihnen, und selbst keines der von beiden, wählen zu können meint“ (ebd., S. 370), versucht das Individuum sich dieser Gegenstände dadurch zu bemächtigen, dass es über sie urteilt, sie als „gut“ und „schlecht“ bewertet (vgl. ebd., S. 370). Das Problem ist nur, dass diese Bewertungen fließend sind und sich ständig in ihr Gegenteil umkehren: Wird zunächst etwa die Staatsmacht als „gut“ beurteilt, da sie das Aufgehoben-Sein der Einzelnen in die Allgemeinheit verkörpert, und Reichtum bzw. Eigentum als „schlecht“, da es die Vereinzelung, die Atomisierung der Individuen herbeiführt, so kehrt sich diese Bewertung dergestalt um, dass zum einen das Selbstbewusstsein seine Individualität durch die Staatsmacht unterdrückt und sich „zum Gehorsam unterjocht“ (ebd., S. 371) sieht, und es zum anderen realisiert, dass Reichtum Ergebnis kooperativer Arbeit, „allgemeinen Tuns“ (ebd., S. 369) ist, in dem sich Allgemeinheit verkörpert. Diese Widersprüchlichkeit der Beurteilung von Herrschaft und Reichtum setzt sich dann in die praktische Beziehung des Individuums zu den beiden Gegenstandsmomenten, die zwischen den Figuren des „edelmütigen“ und des „niederträchtigen“ Bewusstseins hin und her schwenkt. Das edelmütige Bewusstsein verhält sich zu Staatsmacht und gesellschaftlichem Reichtum als zu einem Gleichen, d. h. es identifiziert sich zum einen mit der Staatsmacht und leistet ihr daher wirklichen Gehorsam, und es verkörpert sich zum anderen in der Produktion von gesellschaftlichem Reichtum (vgl. ebd., S.  373). Hingegen betrachtet das niederträchtige Individuum die Staatsmacht als Unterdrückerin seines ­Für-sich-seins und es sucht ständig heimtückisch nach Gelegenheiten für Aufruhr gegen die Herrschaft. Auf der anderen Seite nützt dieses Individuum Reichtum rein egoistisch als Mittel „zum Bewußtsein der Einzelheit und des vergänglichen Genusses“ (ebd., S. 373). Allerdings geht das edelmütige Bewusstsein in das niederträchtige über, da es sich mit Staatsmacht und gesellschaftlicher Produktion von Reichtum nicht aus individueller Einsicht identifiziert, sondern aus unreflektiert-egoistischer, nicht versprachlichter Sehnsucht nach Selbstachtung und Ehre, wie diese Sehnsucht für den für die Staatsmacht tätigen „stolzen Vasal“ (ebd., S. 375) charakteristisch ist, dessen „Heroismus des stummen Dienstes“ zum „Heroismus der Schmeichelei“ (ebd., S. 379) wird. Hier erscheint das ursprünglich „edelmütige Bewusstsein“ viel „niederträchtiger“ als das ursprünglich „niederträchtige“ Bewusstsein, da das letztere offen gegen die Allgemeinheit der Staatsmacht und des Reichtums rebelliert, und dadurch seine Individualität setzt.

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Diese ständige Umkehrung des positiven Urteils von Staatsmacht und Reichtum sowie des positiven praktischen Verhältnisses des Individuums zur Staatsmacht und zum Reichtum ins Negative führt zu einer „Verwirrung des Ganzen“ und „Zerrissenheit des Bewusstseins“ (ebd., S. 390), das sein Für-sich-sein in den gesellschaftlichen Institutionen als permanent in Konflikt ­ stehend mit seinem An-sich-sein erlebt. So erweist sich etwa das an sich „edelmütige“ Bewusstsein als für sich „niederträchtig“. Und nachdem sich das Subjekt dieser Verwirrung und dieses Konflikts bewusst wird, zieht es sich am Ende seiner Bildung aus dem gesellschaftlichen sittlichen Leben zurück, und versucht, sein Für-sich-sein nicht in den Institutionen dieses Lebens zu verwirklichen, sondern in den nun von ihm zu konstituierenden Maximen seines reinen Willens, in seiner reinen Einsicht, die sich nicht mehr an den Normen und den Praktiken dieser Institutionen orientiert (vgl. ebd., S. 432 f., 444–455). Damit ist der Übergang von Sittlichkeit zur Moralität vollendet, und dieser Übergang markiert das Ende der Bildung im engeren Sinne (vgl. ebd., S. 444). Die darauffolgenden Übergänge in der Entwicklung des Geistes von Moralität zur Religion und letztlich zum absoluten Wissen sind nicht mehr relevant für die Sphäre der Bildung im engeren Sinne. Diese Sphäre entsteht in dem Moment, in dem das Subjekt Herrschaft und Reichtum als ihm externe Gegenstände erfährt, und der gesamte Prozess der Bildung kann als der Versuch des Subjekts beschrieben werden, sich an diesen Gegenständen „abzuarbeiten“. „Sich-abarbeiten“ besteht in den Bemühungen, diese gesellschaftlichen Institutionen zu beurteilen, sich zu ihnen zu positionieren, und letztlich sich in ihnen zu verwirklichen. Da jedoch eine widerspruchsfreie Beurteilung und Positionierung von und zur Staatsmacht und Reichtum ebenso wenig möglich ist, wie eine Selbst-Verwirklichung des Subjekts in ihnen, bleibt die gesamte Sphäre der Bildung gekennzeichnet durch die zerreißende Entfremdung zwischen Subjektivität und Sittlichkeit bzw. Sozialität. Und wenn wir die Überwindung dieser Entfremdung nicht – wie Hegel in der „Phänomenologie“ – um den Preis eines Heraustreten des Subjekts aus der Sozialität, die bei Hegel eben in der Form der Sittlichkeit vorkommt, erreichen wollen, dann müssen wir uns fragen, ob es nicht soziale und insbesondere pädagogische Praktiken geben könnte, die diese Entfremdung der Bildung erträglicher und vielleicht auch produktiv machen können. In der Tat weist Hegel selbst auf solche Praktiken hin – allerdings nicht in der Phänomenologie des Geistes, sondern in erster Linie in seinen Gymnasialreden.

2 Bildung als pädagogisch arrangierte „Entfremdung light“ – Hegels „Gymnasialreden“ Aus Hegels Zeit als Rektor des Egidien-Gymnasiums in Nürnberg (1808–1816) sind fünf Reden überliefert worden, die er zu den Jahresabschlüssen an der Schule hielt. Zwar war der primäre Zweck dieser Reden, die pädagogischen Ziele und

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Prinzipen des Gymnasiums der interessierten Öffentlichkeit darzulegen, zugleich stellen sie aber auch nach der trefflichen Einschätzung von Karl Löwith die „faßlichste Einführung in Hegels Grundbegriff vom Geist“ (Löwith 1968, S. 14) überhaupt dar. Denn Hegels pädagogische Vorstellungen sind in seiner Auffassung von der Bildung des Geistes begründet, und diese Vorstellungen sind auf die Frage fokussiert, mit welchen pädagogischen Mitteln diese Bildung angeleitet und unterstützt werden kann. Ähnlich wie in der Phänomenologie wird auch in den Gymnasialreden die Entfremdung des Einzelnen von seiner unmittelbaren Umwelt und von seiner primären Sozialisation in einer natürlichen sittlichen Gemeinschaft als der tragende Moment der Bildung dargestellt. Allerdings überführen die Gymnasialreden die Entfremdung aus der Sphäre der „harten“ Wirklichkeit des politischen und des wirtschaftlichen Handelns in den Bereich der Imagination und des (hypothetischen) Denkens. Dadurch wird die Entfremdung des menschlichen Individuums nicht nur gewissermaßen entdramatisiert, sondern sie erscheint nunmehr produktiv bearbeitbar im Rahmen einer Pädagogik, die den Sinn für Objektivität bei jungen Menschen zu kultivieren bezweckt, und so der begrifflichen Überformung ihrer subjektiven Anliegen, Wünsche und Wertevorstellungen zu dienen meint.

2.1 Die bildende Entfremdung als pädagogischer Topos In seiner ersten Gymnasialrede von 1809 greift Hegel den Grundgedanke aus der Phänomenologie auf, dass Entfremdung notwendige Voraussetzung und Motor von Bildung ist, da in der Bildung die „Substanz der Natur und des Geistes“ für uns zum Gegenstand wird, was nur dann möglich ist, wenn sie „die Gestalt von etwas Fremdartigem“ erhalten hatte (Hegel 1968, S. 35). Allerdings führt Hegel an dieser Stelle sogleich eine Unterscheidung ein, die so in der „Phänomenologie“ nicht anzutreffen ist. Dies ist die Unterscheidung zwischen einer „harten“ Entfremdung einerseits, bei der „die individuellen Bande“ des Glaubens, der Liebe und des Vertrauens, die „das Gemüth und den Gedanken heilig mit dem Leben befreunden“, zerrissen werden (ebd., S. 35), und einer „leichten“ Entfremdung der theoretischen Bildung andererseits, welche nicht diesen „sittlichen Schmerz“ fordert, sondern „den leichten Schmerz und Anstrengung der Vorstellung, sich mit einem Nicht-Unmittelbaren, einem Fremdartigen, mit etwas der Erinnerung, dem Gedächtnisse und dem Denken Angehörigen zu beschäftigen“ (ebd., S. 35). Genau dieses „Befreunden“ des Gemüts und des Gedankens mit dem Leben ist in der Welt der Bildung in der „Phänomenologie“ nicht gegeben. Wie ich im vorherigen Abschnitt ausgeführt habe, ist in dieser früheren Schrift gerade die Verwirrung und die Zerrissenheit des Geistes, seiner Nicht-Identität mit seinem sozialen Leben und mit der Sittlichkeit, in der sich dieses Leben abspielt, charakteristisch für die Welt der Bildung. Und nun soll die „leichte Entfremdung“

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nicht nur sozusagen der inneren Natur des subjektiven Geistes entsprechen, sondern ihn darüber hinaus gegen die „harte Entfremdung“ des realen sozialen Lebens immun machen, ihn darauf vorbereiten, mit dieser „harten“ Entfremdung klarzukommen. Diese „leichte“ Entfremdung entspricht insofern der inneren Natur des subjektiven Geistes, als sie sich als ein „allgemeiner und bekannter Trieb in uns äußert“ (ebd. S. 35), ein Trieb, den Hegel als „Centrifugaltrieb der Seele“ (ebd., S. 36) beschreibt. Dieser Trieb äußert sich in dem Begehren nach dem Fremdartigen und nach dem Fernen, in der Flucht „[v]on dem Mittelpunkte […], in welchen wir uns zuerst versenkt befanden, und den wir wieder zustreben“ (ebd., S. 36). Mit anderen Worten scheidet sich die Seele von ihren natürlichen Antrieben und Zuständen, um dann als Geist zu sich selbst wieder zurückkehren zu können, der diese Antriebe und Zustände begreift und bewusst überformt. Nach Hegel ist diese Bewegung der Scheidung von sich selbst und Wiederkehr zu sich selbst am besten durch die Begegnung der jungen Menschen mit der Welt und der Sprache der griechischen Antike zu bewerkstelligen, und diese Begegnung soll demnach im Mittelpunkt der pädagogisch arrangierten Bildung stehen: „Die Scheidewand aber, wodurch diese Trennung für die Bildung, wovon hier die Rede ist, bewerkstelligt wird, ist die Welt und Sprache der Alten; aber sie, die von uns trennt, erhält zugleich alle Anfangspunkte und Fäden der Rückkehr zu uns selbst; der Befreundung mit ihr, und des Wiederfindens unser selbst, aber unserer nach dem wahrhaften allgemeinen Wesen des Geistes“ (ebd., S. 36).

Die Welt der Antike eignet sich für Hegel deshalb am besten als vermittelnde Instanz für die Rückkehr des modernen Menschen zu sich selbst, weil nach seiner Auffassung in dieser Welt eine vollständige, in der modernen Gesellschaft verlorengegangenen Harmonie zwischen Geist und (sozialer) Natur, oder zwischen Geist und natürlicher Sittlichkeit vorherrscht, wobei der „Menschengeist“ in „seiner schönen Natürlichkeit, Freiheit, Tiefe und Heiterkeit“ hervortritt (ebd., S. 33). Das Eintauchen in dieser Welt, die weit über ihr äußerliches Erlernen hinausgeht (vgl. ebd., S. 33), gibt dem Individuum die Möglichkeit und die Kraft, zumindest in seiner Vorstellung seine innere Zerrissenheit und äußere Entfremdung von den Institutionen der modernen Gesellschaft zu überwinden – Zerrissenheit und Entfremdung, die auf einer so dramatischen Art und Weise in der Phänomenologie des Geistes beschrieben wurden. Es ist nur zu offensichtlich, dass Hegel eine stark idealisierende und stilisierende Vorstellung von der Antike hatte. Nicht nur Sklaven, sondern auch Frauen konnten diesen „Freiheit, Tiefe und Heiterkeit“ nicht genießen, die nur den freien Polis-Bürgern vorenthalten wurden. Wenn wir nun diese Idealisierung und Hochstilisierung der (griechischen) Antike zurückweisen, zugleich aber Hegels Gedankenfigur der „Entfremdung von der Entfremdung“ als Grundlage von Bildung aufrechterhalten möchten, dann würden wir zur Schlussfolgerung kommen, dass der erste und vielleicht wichtigste Schritt zur pädagogisch

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arrangierten Bildung darin besteht, dass sich Kinder und Jugendliche mit solchen künstlerischen und literarischen Inhalten befassen, die ihnen erlauben, imaginäre Welten zu erschaffen, in denen sie sich wiedererkennen, und durch die sie zu sich selbst kommen. Gemäß der Hegelschen Dialektik ist jedes zu-sich-selbst-Kommen immer ein zu-sich-Kommen auf einer höheren Stufe des Selbst. Diese höhere Stufe wird im Bildungsprozess dadurch erreicht, dass man eine Dimension von Objektivität in seinem Denken und Handeln erwirbt.

2.2 Bildung und Objektivität Diese Dimension der Objektivität kommt für Hegel am klarsten im paradigmatischen Fall des „grammatischen Studiums“ der alten Sprachen zum Vorschein, obwohl sie auch die übrigen natur- und geisteswissenschaftlichen Fächern durchdringt, die am Gymnasium gelehrt wurden (vgl. ebd., S. 36 f.). Das allgemeine Prinzip des Studiums dieser Fächer besteht darin, dass die Schüler Verständnis für ihre Kategorien entwickeln, indem sie die Unterschiede zwischen ihnen nachvollziehen können, und indem sich die Schüler die Regeln vergegenständlichen können, die diese Kategorien miteinander verbinden, so dass dadurch allgemeingültige Aussagen zustande kommen. Die Kategorien und die Regeln, die die Natur dessen ausmacht, was gelehrt werden soll, haben allgemeine, überindividuelle Bestimmungen, und insofern entspringen sie nicht aus dem eigenen, subjektiven „Raisonieren“ (Hegel 1968, S. 43). Auf der anderen Seite jedoch führt das bloße Empfangen und Memorisieren von Kategorien und Regeln nicht zu ihrem Verständnis, nicht zu ihrer Überführung zum Eigentum des Geistes. Dieses passive Empfangen und Auswendig-Lernen hat demnach keinen bildenden Effekt; vielmehr sei ihre Wirkung nicht viel besser „als wenn wir Sätze auf das Wasser schreiben“ (ebd., S. 43). Das bleibende Verständnis von allgemeinen Bestimmungen und Gesetzten kommt – so Hegel – nur durch die „Selbstthätigkeit des Ergreifens“ (ebd., S. 43) zustande, die dann vollzogen wird, wenn die Schüler diese Bestimmungen explorativ auf Einzelfälle anwenden, wodurch ein „wechselwirkendes Uebergehen zwischen Einzelnem und Allgemeinen“ entsteht (ebd., S. 44). Es liegt auf der Hand, dass hierbei die Anwendung von allgemeinen Kategorien und Regeln auf den eigenen „Einzelfall“, d. h. auf die Einzelheiten der eigenen Persönlichkeit, eine besondere Rolle spielen dürfte. Diese Anwendung und die damit einhergehende Artikulation der Elemente des subjektiven Willens in einer rational-begrifflichen Form im Zuge des Eintritts des Einzelnen in das öffentliche Leben der Zivilgesellschaft stehen im Mittelpunkt der Ausführungen über Bildung in Hegels Rechtsphilosophie.

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3 Bildung als Erhebung des Selbst zur Allgemeinheit: Die „Philosophie des Rechts“ Hans-Georg Gadamer fasst Hegels Verständnis von Bildung als „Erhebung zur Allgemeinheit“ zusammen (Gadamer 1986, S.  136). Ich halte diese Charakterisierung für sehr zutreffend, auch wenn ich die Interpretation Gadamers nicht teile, dass die Allgemeinheit als Zielrichtung der Bildung nicht als eine Allgemeinheit des Begriffs zu verstehen sei, sondern „lediglich“ als Gesichtspunkte möglicher Anderer; Gesichtspunkte, deren Übernahme die Einschränkung des Subjekts auf seine unmittelbare Partikularität transzendiert (vgl. ebd., S. 141). Diese Interpretation verfehlt m. E. die tragende Rolle der begrifflichen ­Selbst-Artikulation in der Erhebung zur Allgemeinheit durch Bildung – eine Rolle, auf die ich ausführlicher in diesem Abschnitt zu sprechen kommen werde. Wie Hegels Ausführungen zur Bildung in der Rechtsphilosophie zeigen, wird diese Erhebung zur Allgemeinheit durch den Übergang des menschlichen Individuums aus der Sphäre der Familie in diejenige der bürgerlichen Gesellschaft ausgelöst. Die Bildung, die sich bei diesem Übergang ereignet, äußert sich in eine „harte Arbeit“ gegen die Unmittelbarkeit der eigenen Wünsche und Begierde sowie der natürlichen Sitten, und diese Arbeit der Bildung führt zur begrifflich-geistigen Überformung sowohl der Wünsche und der Begierde als ­ auch der Art und Weise, auf die das Individuum die Sittlichkeit bzw. seine soziale Umwelt wahrnimmt, und sich zu dieser Umwelt bezieht.

3.1 Der Übergang von Familie zur bürgerlichen Gesellschaft als Auslöser der Bildung Vielleicht die wichtigste Neuigkeit in Hegels Philosophie des Rechts ist die Einführung und die Darlegung der bürgerlichen Gesellschaft als einer besonderen Sphäre der Sittlichkeit, die zwischen den Sphären der Familie und des Staates angesiedelt wird. Mit diesem Begriff wird der Bereich des öffentlichen Lebens, einschließlich der gesellschaftlich organisierten Arbeit bezeichnet, der – ganz allgemein ausgedrückt – kontraktualistisch aufgebaut ist, und sich dadurch in einem scharfen Kontrast zur Sphäre der Familie befindet: Ist die Familie eine kollektive Einheit des unmittelbar natürlichen Geistes, die auf Liebe aufgebaut ist, bei der nach Hegel die Individuen nur durch und in die unvermittelten Einheit mit den Anderen da sind (vgl. Hegel 1822/2005, S. 159 f.), besteht die bürgerliche Gesellschaft hingegen aus selbstständigen Individuen, die sich sowohl gegeneinander, als auch vom Gemeinwesen absondern, wodurch „die Subjektivität in ihrer Besonderheit“ (Hegel 1821/1986, S. 343) entsteht, die sich durch privat-individuelle Interessen und Bedürfnisse auszeichnet. Da jedoch das besondere Subjekt, das im Modus der „Privatperson“ (ebd., S. 343) existiert, seine Zwecke und Bedürfnisse nur in Zusammenarbeit mit

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den anderen Gesellschaftsmitgliedern erreichen und befriedigen kann, muss es imstande sein, sein „Wissen, Wollen und Tun auf allgemeine Weise [zu] bestimmen“ (ebd., S. 343), und diesem eigenen „Wissen, Wollen und Tun“ die Form der allgemeinen Verständlichkeit zu geben (vgl. ebd., S. 344). Und genau diese universalisierende Überformung der eigenen Meinungen, Wünsche und Handlungen nennt Hegel in der Philosophie des Rechts Bildung: „Die Bildung heißt, daß das Besondere die Form der Allgemeinheit annehme“ (Hegel 1822/2005, S. 180). Mit anderen Worten, entsteht die Bildung auf der Grundlage der Entfremdung des Einzelnen aus der organischen und natürlichen Einheit der Familie; einer Entfremdung, wodurch seine individuelle Besonderheit entsteht, die jedoch nur dann aufrechterhalten werden kann, wenn sie mittels allgemeingültiger und allgemeinverständlicher Termini und Propositionen zum Ausdruck gebracht wird. Wie allgemein bekannt ist, ist diese Vermittlung zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen dies, was nach Hegel den Begriff und das Begreifen auszeichnet (vgl. Hegel 1817/2014, S. 126 ff.).

3.2 Bildung als begriffliche Selbst-Artikulation Im § 187 der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ kommt Hegel zu einer der scharfsinnigsten Bestimmungen der Bildungskategorie in der gesamten Geschichte der Humanwissenschaften überhaupt: „Die Bildung ist daher in ihrer absoluten Bestimmung die Befreiung und die Arbeit der höheren Befreiung, nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit. Diese Befreiung ist im Subjekt die harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die Unmittelbarkeit der Begierde sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Beliebens. Daß sie diese harte Arbeit ist, macht einen Teil der Ungunst aus, der auf sie fällt. Durch diese Arbeit der Bildung ist es aber, daß der subjektive Wille selbst in sich die Objektivität gewinnt, in der er seinerseits allein würdig und fähig ist, die Wirklichkeit der Idee zu sein“ (Hegel 1821/1986, S. 344 f.; Hervorhebungen im Original).

In diesem Zitat wird Hegels idiosynkratische Formel etwas verständlicher, wonach Bildung hieße, dass das Besondere die Form der Allgemeinheit annehme, und dass dies die Bestimmung des Begriffs sei (vgl. Hegel 2005/1821, S. 180 f.). Das besondere Subjekt erhebt sich zum Allgemeinen, indem es die Elemente seines Willens, d. h. seine Antriebe, Wünsche und Ideale zu begrifflichen Inhalten entwickelt, die sich durch Objektivität auszeichnen. Damit geht einher, dass die Elemente der Sittlichkeit, d. h. Werte, Normen, Weltbilder, Rollenmuster, ebenfalls nun als begriffliche Inhalte, und nicht mehr als unmittelbar-unreflektierte Gegebenheiten für das Subjekt da sind. Daraus lässt sich eine ziemlich konkrete Idealvorstellung von einem gebildeten Menschen ableiten: Dies wäre ein Mensch, der sowohl seine Bedürfnisse und Wünsche als auch seine ansozialisierten Werte und Weltbilder begrifflich-argumentativ artikuliert, wobei im Zuge dieser

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b­egrifflichen Artikulation die angesprochenen Bedürfnisse, Wünsche, Werte und Weltbilder kritisch reflektiert und so modifiziert werden, dass sie mit dem Anspruch auf Objektivität und auf Allgemeingültigkeit versehen werden können. Der Weg zu diesem Idealzustand geht über die Befassung des Einzelnen mit akademischen Inhalten, die sich durch eine stringente argumentative Struktur auszeichnen und objektive, allgemeingültige Regeln und Gesetze verkörpern, hinaus. Denn diese Befassung kann nur dann zur Bildung des Subjekts im dargelegten Sinne führen, wenn die akademischen Inhalte von ihm wiederum als Vehikel/Momente seiner Selbst-Artikulation erkannt und gehandhabt werden, oder anders ausgedrückt: wenn sie zu externen Spiegeln des Selbstbewusstseins werden. In diesem Sinne ist Bildung, hegelianisch gesprochen, letztlich als Vermittlung zwischen dem subjektiven und dem objektiven Geist bei Beibehaltung der ­Nicht-Identität zwischen den beiden zu verstehen.

4 Fazit und Ausblick Betrachtet man nun die drei „Bildungswerke“ Hegels zum Zwecke einer systematischen Rekonstruktion synchron, dann stellt man die folgenden Bedeutungskomponenten dieses Begriffs fest: 1) Bildung wird durch die Entfremdung des Subjekts von zentralen gesellschaftlichen Institutionen angestoßen; eine Entfremdung welche aus dessen Zerrissenheit resultiert. 2) Diese Entfremdung ereignet sich im Zuge der Absonderung des Subjekts von der ­natürlich-unmittelbaren Gemeinschaft der Familie (und des Volkes) bei seinem Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft. 3) Diese Entfremdung kann pädagogisch entdramatisiert und zum Moment einer Rückkehr zu sich selbst auf einer höherstufigen Ebene durch ihre Überführung in Vorstellungs- und Denkwelten gemacht werden, in welchen das Subjekt seine Bedürfnisse, Wünsche, Werte, Überzeugungen zum Gegenstand macht, d. h. gewissermaßen von außen betrachtet. 4) Die Vergegenständlichung der Elemente der eigenen Persönlichkeit wird weitergeführt zu ihrer begrifflich-urteilenden Artikulation bzw. zu ihrer Vermittlung mit wissenschaftlichen, akademischen Inhalten. 5) Diese Artikulation tangiert auch die soziokulturelle Umwelt des Einzelnen, insofern er seine primären Werte und Überzeugungen von dieser Umwelt internalisiert hat. Nun verlieren die Sitten und die Weltbilder dieser Umwelt ihre unmittelbare Selbstverständlichkeit und werden zu Gegenständen des Begreifens und des Beurteilens.

Literatur Gadamer, Hans-Georg. 1986. Bildung. In Hegels Theorie der Bildung, Hrsg. J.-E. Pleines, Bd. II, 133–143. Hildesheim: Olms. (Kommentare). Hegel, Georg W.F. 1968. Gymnasialreden. In Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Studienausgabe in 3 Bändern, Bd. I, Hrsg. von K. Löwith und M. Riedel. Hamburg: Fischer.

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Hegel, Georg W.F. 1986. Grundlinien der Philosophie des Rechts (G. W. F. Hegel Werke 7). Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Erstveröffentlichung 1821). Hegel, Georg W.F. 2010. Phänomenologie des Geistes. Köln: Anaconda. (Erstveröffentlichung 1807). Hegel, Georg W.F. 2014. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Berlin: Holzinger. (Erstveröffentlichung 1817). Hegel, Georg W.F. 2005. Die Philosophie des Rechts. Vorlesungen von 1821/22, Hrsg. H. Hoppe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Erstveröffentlichung 1822). Löwith, Karl. 1968. Einleitung. In Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Studienausgabe in 3 Bändern, Bd. I, Hrsg. von K. Löwith und M. Riedel. Hamburg: Fischer. Schnädelbach, Herbert. 42011. Georg Wilhelm Friedrich Hegel zur Einführung. Hamburg: Junius.

Praktiken der Einverleibung – Merleau-Ponty, Foucault, Bourdieu Käte Meyer-Drawe

1 Zeitgenossen Maurice Merleau-Ponty, Michel Foucault und Pierre Bourdieu sind einflussreiche französische Denker des 20. Jahrhunderts. Ihre Bedeutung wird bereits dadurch angezeigt, dass sie alle drei an das Collège de France berufen wurden und ihnen damit die höchste akademische Auszeichnung in Frankreich zuteilwurde. Maurice Merleau-Ponty ist der älteste unter ihnen. Er lebte von 1908 bis 1961. Zwar lehrte er einige Jahre an der Sorbonne Kinderpsychologie, aber er arbeitete vor allem als Philosoph. Lange Zeit war er in Deutschland eher einem Kreis weniger Eingeweihter bekannt. Sie schätzen ihn als einen originellen Nachfolger von Edmund Husserl, der als Begründer der Phänomenologie unserer Zeit gilt. Merleau-Pontys Philosophie war stets umstritten, insbesondere aufgrund seines literarischen Stils. Sein Versuch, die Engführungen der rationalistischen Tradition aufzuheben, stellte ihn vor das nicht unerhebliche Problem, auf eine Sprache angewiesen zu sein, die das, was in Zweifel gezogen wird, permanent beglaubigt. Einen Ausweg bieten Sprachbilder, die nicht in Begriffe zu übersetzen sind. Deshalb warf Émile Bréhier ihm einmal vor: „Ich sehe, dass Ihre Vorstellungen sich eher durch den Roman oder die Malerei als durch die Philosophie ausdrücken lassen. Ihre Philosophie führt zum Roman.“ (Merleau-Ponty 2003, S. 59 f.). Richtig daran ist, dass sich Merleau-Pontys Verständnis von Philosophie jenem der Kunst nähert. Nach ihm ist die „phänomenologische Welt […] nicht Auslegung eines vorgängigen Seins, sondern Gründung des Seins; die Philosophie nicht Reflex einer vorgängigen Wahrheit, sondern, der Kunst gleich, Realisierung von Wahrheit“ (Merleau-Ponty 1966, S. 17). Insofern wäre zu fragen, ob eine Konzeption, die sich gegen die

K. Meyer-Drawe (*)  Ruhr-Universität Bochum, Herten, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Thein, Philosophische Bildung und Didaktik, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_4

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„intellektuelle Besitznahme“ wehrt, gegen die Verwandlung der gelebten Welt in eine gedachte, nicht eine andere Sprache braucht, im Zusammenspiel mit einer eigenen Art von Genauigkeit, in der sich Erfahrung mit Erfahrung berührt. Michel Foucault und Pierre Bourdieu sind wohl insgesamt bekannter, zumal die Rezeptionsgeschichten viel breiter streuen. Michel Foucault lebte von 1926 bis 1984, Pierre Bourdieu war nur vier Jahre jünger und starb 2002. Foucault hatte Merleau-Ponty als Repetitor für Psychologie an der École Normale Supérieure und in dessen Vorlesung erlebt, die dieser dort 1947 gehalten hat. Sie handelte über die Einheit von Seele und Körper bei Malebranche, Maine de Biran und Bergson (Foucault 2001, S. 18). Foucault hebt hervor, dass Merleau-Ponty für die damals Jüngeren mehr zählte als Sartre (Eribon 1998, S. 118 f.). Er war fasziniert von Merleau-Ponty, der durch seine berühmte Vorlesung über Die Wissenschaft vom Menschen und die Phänomenologie an der Sorbonne die Studenten für Ferdinand de Saussure und das formale Denken einnimmt. Foucault und Bourdieu wurden durch Merleau-Ponty für Husserl begeistert. Es hieß sogar, dass sich Foucault, der sich später vehement von der Phänomenologie distanziert, mit dem Gedanken trug, eine These über die Phänomenologie zu schreiben. Auf gewisse Weise hat er das dann auch getan; denn die Einleitung in seine Übersetzung von Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, die als seine erste These vor der zweiten über Wahnsinn und Gesellschaft gilt, ist zu weiten Teilen eine kritische Auseinandersetzung mit der Phänomenologie. Pierre Bourdieu hatte bei Georges Canguilhem eine Dissertation über „Die Zeitstrukturen des Gefühlslebens“ angemeldet, in der Husserls Zeitanalysen eine große Rolle spielen sollten (Bourdieu 2002, S. 49 f.). Es kam jedoch anders. Seine Wege führten ihn nach Algerien und zu empirischen Feldstudien. Bourdieus Ablehnung der universitären Philosophie mit ihrer Distanz zur sozialen Welt führten ihn unter dem Einfluss seiner vielfältigen Erfahrungen in Algerien in eine immer größere Entfernung zur Phänomenologie. Den ethnologischen Studien in der Kabylei folgten ethnologische Studien der eigenen französischen Gesellschaft, und später schloss sich dann eine Soziologie des ländlichen Raums an, immer auf der Suche nach einem Gegengift gegen den scholastischen Blick der universitären Philosophie (Bourdieu 2001, S. 64 f.). Bourdieu verstand sich mit Nachdruck als Soziologe und nicht als Philosoph. Michel Foucault sieht im Rückblick auf die gemeinsamen Lehrjahre Ähnlichkeiten mit Pierre Bourdieus Soziologie. Insbesondere ist jedoch auf ihren gemeinsamen politischen Einsatz zu verweisen. Am 13. Dezember 1981 verhängt General Jaruzelski in Polen den Kriegszustand und setzt der Gewerkschaftsbewegung Solidarnoćś ein brutales Ende. Die Reaktion des sozialistischen Außenministers Frankreichs Claude Cheysson bestürzt alle, die große Hoffnungen auf die Demokratisierungsbewegungen in Polen gesetzt hatten. Er untersagt nämlich jede Einmischung in eine innerpolnische Angelegenheit. Bourdieu verständigt sich umgehend mit Foucault. Beide schreiben gemeinsam einen Protestaufruf. So sehr sie sich in dieser politischen Initiative verstehen, so entschieden grenzen sie sich jedoch in ihren theoretischen Ambitionen voneinander ab. Dabei muss unberücksichtigt bleiben, welche Missverständnisse hier zugrunde liegen. Für Bourdieu

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ist klar, dass Foucault als Wissenschaftshistoriker an anderen Fronten kämpft. Er selbst betrachtet sich als Anhänger des Vernunftgedankens der Aufklärung und verdächtigt Foucault, die Frage nach Wahrheit aufgegeben zu haben (Bourdieu und Wacquant 1996, S. 77 f.). Für Michel Foucault nimmt die Bedeutung von Merleau-Ponty nach seiner anfänglichen Begeisterung sehr schnell ab. Er beschreibt diesen Prozess mit folgenden Worten: „Ich gehöre einer Generation an, deren Denkhorizont in allgemeiner Weise von Husserl und im Besonderen von Sartre und noch stärker von Merleau-Ponty geprägt worden ist. Es liegt auf der Hand, dass dieser Horizont in den Jahren von 1950 bis 1955 erschüttert wurde, und zwar aus politischen, ideologischen und wissenschaftlichen Gründen, die sich im Einzelnen nur schwer benennen lassen. Plötzlich war dieser Horizont verschwunden und wir standen gleichsam vor einer großen Leere, die uns veranlasste, sehr viel vorsichtiger, begrenzter, regionaler vorzugehen.“ (Foucault 2001, S. 851)

Foucault spielt hier auf die Auseinandersetzung mit dem Humanismus, auf die Blüte der Anthropologie, der bald der Verfall folgte, auf die Zweifel an der Kraft der Vernunft und der Macht des Subjekts an. Die Alternative bedeutet die Entscheidung zwischen einer Phänomenologie vordiskursiver Erfahrungen und der Epistemologie der Denksysteme. Mit Bourdieu ist er sich einig darin, dass Merleau-Ponty eine Position des konstituierenden Subjekts vertritt, die weder dem Verständnis sozialer Akteure dient noch der Historisierung der Erkenntnis. Foucault zieht deshalb eine Trennungslinie auf dem philosophischen Feld: „Es ist die zwischen einer Philosophie der Erfahrung, des Sinns des Subjekts und einer Philosophie des Wissens, der Rationalität und des Begriffs. Auf der einen Seite die Linie von Sartre und Merleau-Ponty und auf der anderen Seite dann die von Cavaillès, Bachelard, Koyré und Canguilhem.“ (Foucault 2005, S. 944) In seiner Skepsis gegenüber dem Transzendentalen und der Stiftungsfunktion des Subjekts sowie der vorbegrifflichen Erfahrung siedelt sich Foucault mit seinen Untersuchungen auf der zweiten Seite an. Er ordnet sich keiner Disziplin eindeutig zu. Er ist Philosoph, Psychologe, Psychiater und Epistemologe sowie Historiker. Bourdieu wiederum zelebriert seinen Bruch mit der akademischen Philosophie, indem er immer wieder darauf zurückkommt, dass sie mit ihrem scholastischen Blick an ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit vorbeisieht. Nach ihm bleibt Foucault trotz seiner subversiven Erkenntnis ein einsamer Gelehrter nach traditionalem Vorbild. Diese wenigen Bemerkungen zeigen, dass sich die Standortbestimmung von Foucault und Bourdieu im Hinblick auf den jeweils anderen und in Bezug auf Merleau-Ponty nur sehr andeutungshaft nachvollziehen lässt. Eine genauere Analyse bleibt eine wichtige Aufgabe. Was Merleau-Ponty anlangt, so lassen sich die Anknüpfungen von Foucault und Bourdieu nach anfänglicher Faszination vor allem als Absatzbewegungen verstehen. Phänomenologie wird mit dem Vorwurf konfrontiert, unhistorisch zu arbeiten und ihre Herkunft aus der sozialen Welt zu vergessen. Dabei haben beide Autoren vor allem die frühen Arbeiten im Blick. Auf die späteren Versuche Merleau-Pontys, die Rolle des konstituierenden Subjekts angesichts der fundierenden Bedeutung der Leiblichkeit zu korrigieren,

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gehen beide nicht explizit ein, wenngleich sie zentrale phänomenologische Bestimmungen übernehmen. Im Folgenden soll nicht etwa ein posthumes Gespräch nachgeholt werden. Auch geht es nicht darum, Missverständnisse auszuräumen. Vielmehr sollen die unterschiedlichen Bedeutungen des Leibes herausgearbeitet werden, die Spuren der phänomenologischen Philosophie tragen und dennoch über sie hinausgehen. Deshalb werden jetzt im zweiten Schritt die Positionen von Merleau-Ponty, Foucault und Bourdieu skizziert, um dann [vor einem Epilog] mit einer kurzen Zusammenfassung zu schließen.

2 Merleau-Ponty, Foucault und Bourdieu zur Thematik des Leibes Über Merleau-Pontys Phänomenologie des Leibes kann nicht gesprochen werden, ohne auf Husserls Philosophie zurückzugehen, wenn auch in der gebotenen Kürze. Allein schon Merleau-Pontys Hommage an Husserl unter dem Titel Der Philosoph und sein Schatten (2007) könnte zureichend sein, um die bedeutsame Wirkung Husserls auf Merleau-Pontys Philosophie zu dokumentieren. ­ Merleau-Ponty erkundigt sich 1939 als erster Nichtlöwener im Husserl-Archiv in Leuven nach unpublizierten Manuskripten von Edmund Husserl. Er interessiert sich vor allem für die Ideen II und für Erfahrung und Urteil, das in Prag erschienen war und von den nachrückenden Deutschen vernichtet wurde. Nur wenige Ausgaben blieben erhalten, auf die sich Ludwig Landgrebe in seiner redigierten Fassung nach dem Krieg stützen konnte. In der Folge studiert Merleau-Ponty die berühmte Krisisschrift. Insbesondere interessiert er sich für die Kapitel über die Lebenswelt. Schließlich nimmt er bereits sehr früh Kenntnis von Eugen Finks sechster Cartesianischer Meditation. In Paris lernte er die fünf Cartesianischen Meditationen von Husserl kennen, denen er sein werkbestimmendes Motto entnimmt. Husserl kritisiert hier die voreingenommenen Erklärungen des Beginns des Bewusstseinslebens aus bloßen Daten oder obskuren Ganzheiten, indem er festhält: „Der Anfang ist die reine und sozusagen noch stumme Erfahrung, die nun erst zur reinen Aussprache ihres eigenen Sinnes zu bringen ist“ (Husserl 1973, S. 77). Bis in seine letzten Aufzeichnungen wird Merleau-Ponty immer wieder versuchen, diesen Satz auszulegen. Die sozusagen noch stumme Erfahrung ist sein Thema. Husserl trieb das zentrale Problem um, inwiefern objektive Erkenntnis nur als subjektive Leistung verständlich ist. Im Mittelpunkt steht also die Konstitutionsfrage, die Husserl in den Ideen II bearbeitet. Die Verhältnisse sind überaus komplex. Denn Husserls Bemühen um eine Selbsttransparenz des Bewusstseins scheitert an der Schattenhaftigkeit der Lebenswelt, die nicht daran zu hindern ist, überall ihre Spuren zu hinterlassen. In dem Maße jedoch, wie sich Bewusstsein als verantwortlich für die Bedeutung der Welt erkennt, verschwindet die Welt und wird zum Bewusstsein.

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Die Grenze dieser Weltnichtung zieht unser Leib. Er geht in seiner Bedeutungsleistung nicht im Bewusstsein auf, ist aber auch keine einfache transzendente Gegebenheit wie die Dinge. Immer wieder kommt Husserl auf die Tasterfahrung zurück, um diese eigentümliche Zwiefältigkeit des Leibes zu bedenken. Je näher die Analysen der Konstitutionsleistungen an die Relevanz der sinnlichen Wahrnehmung heranreichen, umso mehr gerät das Bewusstsein in eine ausweglose Situation; denn es zeigt sich, dass seine Lebendigkeit von etwas in Bewegung gehalten wird, für dessen Sinn es selbst nicht aufkommt. Der Leib fungiert als Nullpunkt aller Orientierungen. Aber auch hier zeigt sich bei näherem Hinsehen seine Sonderstellung. Während er mir nämlich ermöglicht, zu allen Dingen meiner Umwelt und zu allen Mitmenschen meine Stellung beliebig zu ändern, gelingt dies nicht im Hinblick auf ihn selbst. Husserl notiert: Die „Erscheinungsmannigfaltigkeiten des Leibes [sind] in bestimmter Weise beschränkt: gewisse Körperteile kann ich nur in eigentümlicher perspektivischer Verkürzung sehen, und andere (z. B. der Kopf) sind überhaupt für mich unsichtbar. Derselbe Leib, der mir als Mittel aller Wahrnehmung dient, steht mir bei der Wahrnehmung seiner selbst im Wege und ist ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding“ (Husserl 1952, S. 159). Husserls Anspruch auf Letztbegründung lässt es nicht zu, dass diese Merkwürdigkeit ihre zersetzende Wirkung entfaltet. Ein Riss zieht sich durch die Selbstgegebenheit des Bewusstseins. Es ist dieser Bruch, welcher die Selbsttransparenz des Bewusstseins verhindert und zugleich die Gegebenheit fremder Animalien und der Dinge ermöglicht. Unsere Leiblichkeit bleibt eine Provokation des reinen Bewusstseins. Mit Fink zieht Merleau-Ponty unter anderem die Konsequenz daraus, dass die phänomenologische Reduktion unvollständig bleiben muss. Er sagt: „Wären wir absoluter Geist, so wäre die Reduktion kein Problem. Doch da wir zur Welt sind, da alle unsere Reflexionen ihrerseits auch in den Zeitstrom verfließen, den sie zu fassen suchen […], gibt es kein Denken, das all unser Denken umfaßte“ (Merleau-Ponty 1966, S. 11). Es gibt keinen unbeteiligten Zuschauer, der einer schattenlosen Welt gegenüberstünde. Wir existieren als leiblich situierte Wesen in einer mehrdeutigen Lebenswelt mit all ihren Dunkelheiten, die nicht in Licht zu überführen sind. Der Welt werden wir erst gewärtig angesichts des Verlusts der Vertrautheit mit ihr. Merleau-Pontys gesamtes Philosophieren versucht, uns vor Augen zu führen, dass wir unsere gelebte Welt in eine reflektierte transformiert haben, dass der Philosoph in der Reflexion besser zu wissen glaubt, „was er wahrnimmt, als er es in der Wahrnehmung selber weiß“ (ebd., S. 336). Die Frage, ob die Welt existiert, wird dabei inhibiert, in Klammern gesetzt, einer Reduktion unterworfen. Entscheidend ist die Frage, was es für unsere Welt heißt, zu existieren ­(Merleau-Ponty 2004, S. 21, 130), und an anderer Stelle heißt es: „Die Welt ist nicht, was ich denke, sondern das, was ich lebe“ (vgl. Merleau-Ponty 1966, S. 14). Angesichts dieser Rückkehr zur gelebten Erfahrung, welche diese aufgrund ihrer zeitlichen Verzögerung jedoch niemals bei sich selber trifft, zeigt sich die ungeheure Verwandlung des Lebens ins Denken, vielleicht die belastendste Erbschaft des Cartesianismus. Wir haben unser Wahrnehmen in ein Denken verwandelt, unsere Welt in eine gedachte und unsere Mitmenschen in ein Undenkbares. Hingegen gibt

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uns die Erfahrung des Leibes „Einblick in eine Form der Sinnstiftung, die nicht die eines universalen konstituierenden Bewußtseins ist, und in einen Sinn, der bestimmten Inhalten selbst anhängt. Mein Leib ist jener Bedeutungskern, der sich wie eine allgemeine Funktion verhält, jedoch existiert und der Krankheit zugänglich ist. In ihm lernen wir eine Verknüpfung von Wesen und Existenz kennen, die wir in der Wahrnehmung überhaupt wiederfinden“ (ebd., S. 177). Aus dieser Perspektive wird nicht länger unserer kontemplativen Lebensweise, wenn mitunter auch aus niederen Gründen, wie Nietzsche vermutete, der höhere Wert beigemessen. Indem wir unsere Leiblichkeit von ihrem inferioren Status befreien, gewinnen wir Öffnungen zur Welt, zu welcher das Bewusstsein nicht länger Brücken schlagen musste. Als leibliche Wesen begegnen wir uns, und erhält die Gebung des anderen ein eigenes Gewicht. Im Rückgang auf die Erfahrung zeigt sich, dass wir in einer gemeinsamen Welt situiert sind, die nicht von unseren Konstitutionsleistungen abhängig ist. Wir sind Sichtbare, die anheben zu sehen. Es ist schwierig über diese Verhältnisse doppelseitiger Fundierung zu sprechen, weil Sprache das Wahrgenommene immer schon verwandelt und weil wir unsere leiblichen Erfahrungen stets hinter uns haben, wenn wir sie artikulieren. Wir können sie nicht in flagranti erwischen (vgl. Waldenfels 1994, S. 465). Wir existieren in einem Doppelsinn als Körper und als Leib. Diese gelebte Zweideutigkeit ist abgründig, weil beide Aspekte ineinander spielen. So kann ich auch über mich als Körper nicht verfügen, weil ich zugleich Leib bin. Die Differenz, die im Deutschen möglich ist, basiert auf Akzentsetzungen. Sie wird falsch, wenn ihre Seiten in einen Körper als ein physikalisches Objekt und einen Leib als beseelten Körper auseinanderfallen. Merleau-Ponty widmet sich immer wieder diesem Problem unserer ambiguosen Existenz, die in eins ein reines Bewusstsein undenkbar und die gemeinsame Existenz in einer Welt voller Dinge möglich macht. Sprache ist nur eine leibliche Artikulation unter anderen. Sie steht oft in Diensten der gedachten Welt. Deshalb bemüht sich Merleau-Ponty um Sprachbilder, die ihm bis heute den Vorwurf des Irrationalen einbringen. So notiert er: „Der Leib vereinigt uns durch seine Ontogenese direkt mit den Dingen, indem er beide Skizzen, aus denen er besteht, seine beiden Lippen verschweißt: die sinnliche Masse, die er selber ist, mit der Masse des Empfindbaren, aus der er durch Ausgliederung hervorgeht und für die er als Sehender offen bleibt. Er ist es, und er allein, […], der uns zu den Dingen [und den anderen] selbst zu führen vermag, […].“ (Merleau-Ponty 2004, S. 179). Mit seiner Philosophie der Leiblichkeit zieht Merleau-Ponty das Primat des Bewusstseins in Zweifel und misstraut Auffassungen, die dem Leib eine Bedeutung nur dank der Reflexion zubilligen wollen. Es existiert eine dritte Dimension, die Zwischenleiblichkeit, in der sich Natur und Geist, ego und alter ego durchdringen. In seiner Spätphilosophie ringt er unter dem Stichwort „Fleisch“ um die Fassung dieses anonymen Bündnisses zwischen Mensch, Mitmensch und Dingen, dieser vorreflexiven Verflochtenheit, die durch das Denken zerstört wird, wenn es ihm zu nahekommt. Michel Foucault karikiert eine Phänomenologie im Sinne Merleau-Pontys noch in seiner Antrittsvorlesung von 1970, obwohl er der Erfahrung selbst ein immer

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größeres Gewicht beilegt. Neben der Kritik des begründenden Subjekts nimmt er hier den „Gedanken der ursprünglichen Erfahrung“ aufs Korn und schreibt: „Er setzt voraus, daß in der rohen Erfahrung, noch vor ihrer Fassung in einem cogito, vorgängige, gewissermaßen schon gesagte Bedeutungen die Welt durchdrungen haben, sie um uns herum angeordnet und von vornherein einem ursprünglichen Wiedererkennen geöffnet haben. Eine erste Komplizenschaft mit der Welt begründet uns so die Möglichkeit, von ihr und in ihr zu sprechen, sie zu bezeichnen und zu benennen, sie zu beurteilen und schließlich in der Form der Wahrheit zu erkennen. Was kann der Diskurs dann legitimerweise anderes sein als ein behutsames Lesen? Die Dinge murmeln bereits einen Sinn, den unsere Sprache nur noch zu heben braucht“ (Foucault 1991, S. 31 f.).

Foucault geht dagegen davon aus, dass uns die Dinge kein erkennbares Gesicht zuwenden, „das uns ansähe und darauf wartete, dass sich unsere Blicke kreuzen“ (Foucault 2012, S. 260). Diese so von ihm verstandene Option der Phänomenologie verkennt in seiner Sicht den Zusammenhang von Wissen und Macht, sucht weiterhin nach transzendentalen Bedingungen, wo wir nur historische Herkünfte denken können. Foucault rehabilitiert Kants Kritik der Grenzen der Vernunft und beruft sich auf Nietzsches Analysen der Geschichtlichkeit menschlichen Erkennens. Mit Nietzsche verachtet er den „Erbfehler der Philosophen“, dass sie den jeweils gegenwärtigen Menschen für den ewigen halten, dabei aber nichts anderes in Händen haben, „als ein Zeugnis über den Menschen eines sehr beschränkten Zeitraums“ (Nietzsche 1988, S. 24). Anders als Kant fahndet er nicht nach einem transzendentalen Apriori, sondern nach einem historischen – eine Formulierung, die er selbst als paradox einstuft. Mit Nietzsche fragt er nach dem Willen zum Wissen, danach, wie ein Wesen, das mordet, lügt, betrügt, das schmeichelt, sich verstellt, eitel und rachsüchtig ist, einen Trieb zur Wahrheit ausbilden konnte. Es geht weder um eine Geschichte der Ideen noch um eine der Missverständnisse, sondern um eine Geschichte des Denkens, eine Analyse der Bedingungen, unter denen Subjekt-Objekt-Beziehungen arrangiert werden, die ein bestimmtes zeitgebundenes Wissen konstituieren. Es handelt sich um die Untersuchung der Problematisierung von Subjektivität und der Entstehung legitimer Subjekte der Erkenntnis: „Es ist die Suche nach den Bedingungen, die es den Regeln des Wahr- und Falsch-Sagens folgend erlauben, ein Subjekt als geisteskrank zu erkennen, oder es einzurichten, dass ein Subjekt den wesentlichsten Teil seiner selbst in Gestalt seines sexuellen Begehrens erkennt“ (Foucault 2005, S. 780). Bei Foucault spielt der Leib als „privilegiertes Medium der Weltwahrnehmung keine Rolle“ (Schneider 2012, S. 260). Bei ihm gerät er als Gegenstand unterschiedlicher Disziplinen und als Ort politischer Praktiken in den Blick. Der Leib markiert bei Foucault ein Erfahrungsfeld, dem er sich in verschiedenen Werkperioden unterschiedlich zuwendet. Die Diskurse des Wahnsinns, der Straffälligkeit und der Sexualität stecken Erfahrungsgebiete ab, auf denen Wahrheitsspiele um die Bedeutung des Subjekts stattfinden. In den sechziger Jahren beschäftigt sich Foucault mit dem Wahnsinn, wie er durch gesellschaftliche Praktiken markiert wird. Geisteskranke werden ausgeschlossen und interniert. Ihre Leiden

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werden im medizinischen Diskurs artikuliert: „Geisteskranke waren dysfunktionale Körper, die in das soziale Leben, erst recht in das Arbeitsleben nicht passten“ (Schneider 2012, S. 261). Im 19. Jahrhundert wird der Leib des Kranken zum Gegenstand ärztlicher Diagnose und Therapie. Nur unter ganz bestimmten Bedingungen entsteht das wahnsinnige Subjekt. Die ganz konkreten Umgangsweisen bestimmen seine Existenzweise, nicht ein konstitutiver Akt des Bewusstseins. Der ärztliche Blick wandert im Verlaufe der Entwicklung ganz allgemein von der Körperoberfläche in das Körperinnere. Fragte der Arzt im 18. Jahrhundert den Patienten „Was haben Sie?“, so erkundigt er sich am Anfang des 19. Jahrhunderts ganz anders, nämlich mit den Worten „Wo tut es weh?“ (Foucault 1976, S. 16). Heute wirft der Arzt bei der Visite einen Blick auf die Tabelle, die ihm gereicht wird, und auf Monitore, welche die Funktionen dokumentieren. Am Anfang steht also nicht ein Subjekt, das sich in den Zeiten wandelt, sondern in konkreten historischen Situationen, in denen fungierende Subjektverständnisse problematisch werden, entstehen Subjektivationen, welche das Verhältnis von Subjekt und Objekt neu ordnen (vgl. Meyer-Drawe 2013). Foucault erweitert das Untersuchungsfeld auf die Humanwissenschaften und erforscht das Auftauchen der Frage nach dem arbeitenden, sprechenden und lebenden Subjekt. In den 1970er Jahren untersucht Foucault gesellschaftliche Disziplinierungen, die dem Leib Ordnungen einschreiben, denen er gehorcht. Es geht um Bekenntnispraktiken, um Strafvollzüge und darum, dass die Policey den medizinischen Kontrollblick bis in die Wohnstuben verlängert. Der Leib wird nicht mehr gequält, weggesperrt oder getötet, sondern diszipliniert. Er wird zu einem politischen Register, in das sich die Gesellschaft mit ihren Ansprüchen erfolgreich einträgt. In der letzten Werkphase thematisiert Foucault vor allem im Rückgang auf die griechische und römische Klassik den Leib als Gegenstand der Selbstsorge, der Gestaltung eines maßvollen Lebens. Es wird deutlich, welche Brüche zwischen der Beherrschung oder der Bemeisterung des Leibes im Sinne einer ästhetischen Lebensgestaltung und seiner Unterwerfung sowie Durchleuchtung im Rahmen religiöser Praktiken entstehen. Stets fungiert der Leib als Tableau, in das sich die Gesellschaft einschreibt. Eine berühmte Stelle aus Überwachen und Strafen bringt diesen Zusammenhang auf den Punkt: „Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine ‚Seele‘ wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt. Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers.“ (Foucault 1977, S. 42). Foucault unterscheidet zahlreiche Typen der Macht, die über den Körper herrschen. Zu ihnen zählen „Anatomo-Politik“ und die „Bio-Politik“. Beide Machttechniken verwirklichen sich über den Leib. Beide lösen die Repressionsmacht feudaler Gesellschaften ab. Die Disziplinierung veranschaulicht Foucault an Armeen, Schulen und Kliniken. Hier fungieren ähnliche Strukturen der Unterwerfung. Es werden durch Planung, Kontrolle, Registrierung und Effizienz gehorsame Leiber produziert. Es handelt sich dabei um eine Art politischer Anatomie, die sich über das Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit organisiert.

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Im Zentrum dieser Entwicklung steht die Individualisierung. An die Stelle des denkwürdigen Menschen tritt der berechenbare. Den Platz des Souveräns besetzen nun die vielen einzelnen Subjekte. Das Individuum ist nicht länger ineffabile. Die Registrierungs-, Tabellierungs- und Auflistungstechniken „haben die epistemologische Blockade der Wissenschaften vom Individuum aufgehoben“ (ebd., S. 246). Das Individuum tritt in das Feld des Wissens ein. Bekenntnis und Prüfung gehen dazu einen Pakt ein, dessen Verhängnis hinter dem Credo von Transparenz sowie dem Pathos der Wahrheit verschwindet. Das Individuum wird zum Fall, indem man es „beschreiben, abschätzen, messen, mit anderen vergleichen kann – und zwar in seiner Individualität selbst; der Fall ist aber auch das Individuum, das man zu dressieren oder zu korrigieren, zu klassifizieren, zu normalisieren, auszuschließen hat usw“ (ebd.). Die Prüfung kehrt die Sichtbarkeit in der Machtausübung um. Gesehenwerden ist nicht länger Privileg der Herrschenden. Es ist auch Schicksal der gemeinen Individuen und üblen Subjekte. Sitzordnungen im Klassenzimmer und Überwachungssysteme im Gefängnis repräsentieren dieses Verhältnis der Asymmetrie von Sehen und Gesehenwerden. Jener, auf den Macht ausgeübt wird, ist der, welcher der Möglichkeit nach jederzeit gesehen werden kann. Das Prinzip der Macht realisiert sich nicht über einzelne Personen, sondern über die Anordnung der Körper. Exemplarisch kann dies im pädagogischen Diskurs an den ausufernden Debatten über die Konstruktion einer Schulbank demonstriert werden (vgl. Grabau 2013, S. 104 ff.). Strikte Zeitordnungen, Regelungen der Selbstbeobachtungen und -entzifferungen, ständige Kontrollen bezeugen die Inkorporierungsformen der Macht: „Aus einem formlosen Teig, aus einem untauglichen Körper macht man die Maschine, dere[r] man bedarf; Schritt für Schritt hat man die Haltungen zurechtgerichtet, bis ein kalkulierter Zwang jeden Körperteil durchzieht und bemeistert, den gesamten Körper zusammenhält und verfügbar macht und sich insgeheim bis in die Automatik der Gewohnheiten durchsetzt“ (Foucault 1977, S. 173). Die weitere Form der Macht, die Bio-Macht, bezieht sich auf die Bevölkerung als Produktionsmaschine von Reichtümern und Nachwuchs. Öffentliche Hygiene, Bevölkerungsstatistik, Geburten- und Sterberaten treten ab dem Ende des 18. Jahrhunderts in den Vordergrund und die Bevölkerung muss reguliert werden: „Das Leben gelangt in den Einflussbereich der Macht – eine überaus wichtige Veränderung und ohne Zweifel eine der wichtigsten in der Geschichte der menschlichen Gesellschaften. Und natürlich kann man leicht sehen, wie es möglich war, dass die Sexualität von da an, das heißt, seit dem 18. Jahrhundert, auch hier erstrangige Bedeutung erlangte. Denn die Sexualität liegt letztlich genau an der Verbindungsstelle zwischen der individuellen Disziplinierung des Körpers und der Regulierung der Bevölkerung.“ (Foucault 2005, S. 236)

Von hier aus wird verständlich, warum eines der zentralen Themen der preußischen Aufklärungspädagogik die Sexualität war (vgl. Meyer-Drawe 2004). Indem man die Sexualität der Heranwachsenden zu einem zentralen medizinischen und moralischen Problem machte, konnte man sie in ihrem ganzen Umfang, zu jedem Zeitpunkt, ja sogar im Schlaf überwachen. Sexualität liegt am Kreuzungspunkt von disziplinierender und regulierender Macht. Die Praktiken der Einverleibung

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gesellschaftlicher Normen finden bis heute ihren unübertroffenen Ort in ihr. Der Leib ist nach Foucault von Geschichte durchdrungen. Ihm „prägen sich die Ereignisse ein (während die Sprache sie notiert und die Ideen sie auflösen). Am Leib löst sich das Ich auf (das sich eine substantielle Einheit vorgaukeln möchte). Er ist eine Masse, die ständig abbröckelt. Als Analyse der Herkunft steht die Genealogie also dort, wo sich Leib und Geschichte verschränken.“ (Foucault 1993, S. 75). Auch Bourdieus explizite Hinweise auf Merleau-Ponty sind spärlich. Implizite Bezugnahmen, insbesondere, was die Leibthematik anlangt, findet man jedoch an vielen Stellen. Wie Foucault distanziert er sich nach anfänglicher Begeisterung von der Phänomenologie Merleau-Pontys, dem er wie der gesamten akademischen Philosophie vorwirft, die Bedeutung der sozialen Welt zu übersehen. Hinzu kommt, dass er Merleau-Pontys wie auch Foucaults Philosophie als eine Phänomenologie der Subjektivität betrachtet und verwirft. Auch hier soll der Versuchung widerstanden werden, die Kritisierten gegen diesen Vorwurf zu verteidigen. Stattdessen wird der Versuch unternommen, Bourdieus eigene Leibkonzeption zu vergegenwärtigen. An Bourdieus Auffassung des habituellen Leibes kann präzisiert werden, was es bedeutet, dass wir als leibliche Wesen soziale Wesen sind, dass wir aufgrund unserer Leiblichkeit einen bestimmen Ort innerhalb der Gesellschaft einnehmen, den wir nicht einfach durch einen Entschluss verlassen können. Bourdieu hält fest: „Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man“ (Bourdieu 1987, S. 135). Wenn ein Mensch am meisten mitgestaltet an seiner Unverwechselbarkeit, kann seine Erscheinung am ehesten umschlagen in Austauschbarkeit. Der Umstand, dass kulturelle Strukturen immer auch als sinnlich fassbare Äußerungen in Erscheinung treten, befördert den Eindruck, als sei Kultur die natürlichste und persönlichste und damit auch die legitime Form des Eigentums. Die Verschwiegenheit des Leibes führt in sozialer Hinsicht zu zumindest zwei Fehleinschätzungen, nämlich der einen, dass vieles natürlich sei an uns, und der anderen, dass vieles nur unserer Person zugehöre. Dieser Widerspruch von Unverwechselbarkeit und Substituierbarkeit repräsentiert ein Paradox unseres Leibes, das darin besteht, dass wir uns über unsere Habitualisierungen individualisieren. Merleau-Ponty verdeutlicht die aktuelle und habituelle Dimension unseres Leibes am Beispiel des Phantomgliedes, das trotz der operativen Entfernung seinen Platz im Körperschema behält: „Doch dieses Paradox ist das des Zur-Welt-seins überhaupt: der Welt mich zutragend, ballen meine perzeptiven und praktischen Intentionen sich auf Gegenstände zusammen, die mir letztlich als ihnen vorgängig und sie übersteigend erscheinen, und die gleichwohl für mich nur existieren, insofern sie mein Denken und Wollen betreffen. In dem Fall, der uns hier beschäftigt, geht die Zweideutigkeit des Wissens darauf zurück, daß unser Leib in sich gleichsam zwei unterschiedliche Schichten trägt, die des habituellen und des aktuellen Leibes. Die aus dieser verschwundenen hantierenden Gesten bleiben in jener erhalten, und die Frage, wie ich mich im Besitz eines Gliedes fühlen kann, das ich in Wirklichkeit nicht mehr besitze, ist schließlich die Frage, wie der habituelle Leib den aktuellen Leib zu gewährleisten vermag. Wie kann ich Dinge als Gegenstände der Hantierung wahrnehmen, da ich doch nicht mehr mit ihnen hantieren kann? Das Hantierbare kann nicht mehr das sein, womit ich wirklich hantiere, sondern muß zu

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etwas geworden sein, womit man hantieren kann; es ist nicht mehr hantierbar für mich, es ist nurmehr hantierbar an sich. Und korrelativ ist auch mein Leib nicht nur in seiner je augenblicklichen, einzigartigen und erfüllten Erfahrung, sondern ebensosehr in seinem Aspekt der Allgemeinheit unpersönlichen Seins zu erfassen.“ (Merleau-Ponty 1966, S. 107).

Auf soziales Handeln übertragen folgt für Bourdieu daraus: „Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken, also Geschichte, nach den von der Geschichte erzeugten Schemata; er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen, die Übereinstimmung und [Beständigkeit] […] der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen zu gewährleisten suchen“ (Bourdieu 1987, S. 101).

Das, was Foucault für den geschichtlichen Leib notiert, gilt nach Bourdieu auch für den sozialen: „Der Körper denkt immer“ (Bourdieu 1979, S. 199). Im Rahmen von Erziehung oder Sozialisation wird der „wilde Leib“ durch einen habitualisierten, d. h. durch einen zeitlich strukturierten Leib erneuert. Der Habitus einer Person weist dabei darauf hin, „welches Verhalten dieser Person verwehrt ist“ und welche Möglichkeiten für sie einfach undenkbar sind (Bourdieu 1987, S. 133). Bourdieu thematisiert die Wechselbeziehungen zwischen den ökonomischen Existenzbedingungen und den Lebensstilen. Er will damit die Reduktion der menschlichen Lebensweise auf ihre ökonomischen Bedingungen überwinden. Das, was einem Menschen möglich oder unmöglich ist, ist nicht allein bestimmt durch seine Geldmittel. Seinen Ort im sozialen Raum nimmt er auch aufgrund einverleibter Strukturen ein, die umso wirkungsvoller fungieren, als sie uns wie natürlich vorkommen. Wir denken normalerweise nicht darüber nach, warum wir uns wie kleiden oder warum wir wie essen. Wir konzentrieren uns darauf, uns für einen Anlass zu kleiden und das Essen nach unserem Geschmack zu wählen. Dass dieser Geschmack eine Geschichte hat, wird nur aus bestimmten Anlässen thematisch. „Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat. Deswegen macht gerade er die Praktiken relativ unabhängig von äußeren Determiniertheiten der unmittelbaren Gegenwart. […] Als Spontaneität ohne Willen und Bewußtsein steht der Habitus zur mechanischen Notwendigkeit nicht weniger im Gegensatz als zur Freiheit der Reflexion, zu den geschichtslosen Dingen mechanistischer Theorien nicht weniger als zu den ‚trägheitslosen‘ Subjekten rationalistischer Theorien“ (ebd., S. 105). Die Verteilungen im sozialen Raum sind denen im geografischen vergleichbar. Die, welche oben leben, begegnen jenen kaum, welche unten sind. Bourdieu beschreibt die Dynamik gesellschaftlicher Praxis auch als Feld und meint damit ein Spielfeld, in dem Regeln fungieren, ohne dass diese als solche jeweils bewusst sind. Indem wir handeln, richten wir uns nach solchen Regeln, aber nicht im Sinne bewusster Strategien in Richtung auf bestimmte Ziele. Solche Spiele erfordern Entscheidungen, „die zwar nicht überlegt, doch durchaus systematisch, und zwar nicht zweckgerichtet, aber rückblickend durchaus zweckmäßig erscheinen“

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(ebd., S. 122). In das Spiel tritt man nicht durch einen spontanen Entschluss ein, „sondern nur durch Geburt oder durch einen langwierigen Prozeß von Kooptation und Initiation, der einer zweiten Geburt gleichkommt“ (ebd., S. 125). Der praktische, soziale Sinn sorgt über Einverleibungen dafür, dass Handeln sinnvoll wirkt. Überdies begründet die Differenz von Handeln und Wissen, dass andere daran anknüpfen können, was mir als Erzeugerin unbemerkt bleibt: „Weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Tun mehr Sinn, als sie selbst wissen“ (ebd., S. 127). Der Leib wird als Gedächtnis durch Riten, Feste, Versammlungen, Protestmärsche, Raumordnungen und Umgangsformen in Anspruch genommen. Schon bestimmte Inszenierungen induzieren Grundhaltungen, die vor dem Bewusstsein soziales Handeln gestalten. „Die List der pädagogischen Vernunft liegt gerade darin, daß sie das Wesentliche unter dem äußeren Schein abnötigt, nur Unwesentliches wie z. B. Beachtung der Formen und Formen der Achtung zu erheischen, sichtbarste und zugleich ‚selbstverständlichste‘ Manifestation der Unterwerfung unter die bestehende Ordnung, wie z. B. Zugeständnisse an die Politesse (Höflichkeit), die stets auch Konzessionen an die Politik enthalten“ (ebd., S. 128f.). Man denke nur daran, dass bei uns immer noch das rechte das schöne Händchen ist und, dass westliche Kulturen Aufrechtes als Aufrichtiges bewerten. Das Bieten der Stirn, der Blick von oben oder der gesenkte Blick choreografieren als inkorporierte Machtbeziehungen die mitmenschlichen Begegnungen.

3 Praktiken der Einverleibung Bourdieu fasst zusammen: „Der Leib glaubt, was er spielt: er weint, wenn er Traurigkeit mimt. Er stellt sich nicht vor, was er spielt: er ruft sich nicht die Vergangenheit ins Gedächtnis, sondern agiert die Vergangenheit aus, die damit als solche aufgehoben wird, erlebt sie wieder“ (ebd., S. 135). In diesem Punkt wären sich wohl alle Autoren, von denen die Rede war, einig. Es ist deutlich geworden, dass der gewählte Titel Praktiken der Einverleibung doppeldeutig ist: Zum einen verleiben wir uns im Vollzuge unseres Lebens die Stile unseres Milieus und die Normen unserer Gesellschaft ein, so problematisch sie auch sein mögen. Zum anderen werden wir zugleich in den Gesamtkontext, in den sozialen Körper integriert. Die Übernahme des sozialen Stils geschieht dabei durch eine kohärente Deformation. Wir wiederholen nicht einfach die vorgegebenen Regeln, sondern prägen sie durch unsere individuellen Eigenarten, ohne sie völlig neu zu erfinden, aber auch ohne sie bloß mechanisch zu reproduzieren. Praktiken werden einverleibt und Einverleibungen praktiziert. Inmitten der Generalität blitzt Einzigartigkeit auf. Inmitten unserer Originalität zeigt sich Gewöhnliches: „[W]as man tut, hat mehr Sinn, als man weiß.“ Dieses Mal sind es die Worte von Merleau-Ponty: „Auf diese ursprüngliche Einrichtung des Leibes ist jede Symbolbildung gegründet, und auch sie besteht darin, geraden

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Schrittes in unbekannte Bereiche vorzustoßen“ (Merleau-Ponty 1993, S. 66). Es ist nun diese „ursprüngliche Einrichtung“, an der sich die Geister scheiden und scheiden müssen. Trotz aller Nähe zur Phänomenologie des Leibes im Sinne von Merleau-Ponty beharren Foucault und Bourdieu auf ihrer Kritik am Mythos des Ursprünglichen. Ohne sich auf Denkmöglichkeiten des Ursprünglichen einzulassen, drängt sich ihnen der Verdacht des Verlusts an Geschichtlichkeit und Sozialität auf. Der Leib ist aber auch in den Augen von Merleau-Ponty kein „imaginäres Zuhause“ (Bröckling 2004, S. 176), in das man angesichts der vielen Entfremdungserscheinungen flüchten kann. Einverleibung meint auch Enteignung. Der Leib gaukelt sich seine Einheit vor und bleibt sich doch fremd, weil ihm stets eine Geschichte und andere vorausgehen. Von Merleau-Ponty kann man insbesondere lernen, unsere Welt von einer gedachten in eine gelebte zurück zu verwandeln, von Foucault und Bourdieu werden wir vor allem angehalten, den Leib, den wir kennen, nicht für den wahren zu halten.

4 Epilog Unser Leib erlaubt unsere praktische Souveränität, weil wir es nicht anders gewohnt sind. Er legt uns aber auch Fußfesseln an, weil wir etwas nicht anders gewohnt sind und da er nur dann Aufmerksamkeit auf sich zieht, wenn er in seiner fungierenden Zuverlässigkeit unterbrochen wird. Diese Störung kann Aufgabe von Bildung sein, welche nicht einfach die Sozialisation nachvollzieht, sondern sich ins Verhältnis zur eigenen Lebensweise und Lebensgeschichte setzt. In diesem Sinne steht der Bildungsbegriff für ein nicht eingelöstes Versprechen und die Unmöglichkeit, alles in ein Können und Verfügen überführen zu können. Bildung meint dann aber das Gegenteil des Bei-sich-seins, nämlich die Erinnerung daran, nicht derselbe oder dieselbe bleiben zu sollen. Hand in Hand damit geht eine grundsätzliche Skepsis gegenüber den eigenen Einschätzungen. Das Selbstverständliche erregt Verdacht, das Gewohnte provoziert Bedenken. Bildung markiert damit, dass wir mehr und anderes können, als wir sind, und hält damit einen Möglichkeitsraum für unsere Selbstgestaltung offen. Bildung steht für das Gewahren unserer grundsätzlichen Grenzen. Nicht das umjubelte Ich des 19. Jahrhunderts liefert das Muster, sondern die Einsicht, dass wir für uns selbst als Erkennende stets zu spät sind. Als leibliche Wesen gehen wir uns stets voraus. Nicht allein unser wissenschaftliches Wissen stößt an Grenzen. Insbesondere unsere Selbsterkenntnis, von deren Möglichkeit Bildungskonzeptionen ausgehen, ist beschränkt. Bildungsprozesse hinterlassen ein Selbst als Effekt, der in eigener Gestaltung übernommen wird. Seine Welt, die anderen und auch es selbst stehen dem Selbst nicht einfach gegenüber und liegen ihm auch nicht zu Füßen. Es ist mit allem verwickelt, allem ausgesetzt, ja mitunter ausgeliefert. Beunruhigend wird nun die Frage, was es für ein leibliches Wesen bedeutet, denken zu können. Dabei ist der Leib nicht lediglich das Medium, das zwischen

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einem geistigen Ich und seiner materiellen Welt vermittelt. Der Leib ist unser Element. Aus dieser Sicht wird deutlich, dass nicht einfach Vernunft und Leib im Kampf ums Privileg im Bildungsprozess den Thron wechseln, sondern dass die Rehabilitierung unserer Sinnlichkeit eine Revision des Vernunftbegriffs zur Folge haben muss. In „Vernunft“ steckt wie in „Wahrnehmen“ und „Vernehmen“ ein Nehmen, das angewiesen bleibt auf das, was ihm gegeben ist, und was nicht reine Frucht seiner Stiftungsleistungen ist. Eine Bildung wie die hier anvisierte ist das Gegenteil des geschlossenen Operierens eines selbstgenügsamen autopoietischen Systems. Sie lässt sich auch nicht durch andere Modelle emergenter Ereignisse erklären. Schließlich bedeutet Bildung in dieser Perspektive auch nicht Identitätsfindung, sondern sie meint die Gestaltung einer unausweichlichen Fremdheit, welche eine vollkommene Vertrautheit des Selbst mit sich unmöglich macht. Bildung und Leiblichkeit stehen deshalb für eine spannungsreiche Lebensführung, welche die Balance finden muss zwischen der Barbarei, wobei Prinzipien die Sinnlichkeit tyrannisieren, und der Wildheit, mit der die Sinnlichkeit die Vernunft knechtet.

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Das bildsame Selbst – Phänomenologisch-Anthropologische Überlegungen zu einer bildungstheoretischen Reflexionskategorie Annette Hilt

Das Faktum menschlicher Pluralität […] manifestiert sich auf zweierlei Art, als Gleichheit und als Verschiedenheit. Ohne Gleichartigkeit gäbe es keine Verständigung unter Lebenden, kein Verstehen der Toten und kein Planen für eine Welt, die nicht mehr von uns, aber doch immer noch von unseresgleichen bevölkert sein wird. Ohne Verschiedenheit, das absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen, die ist, war oder sein wird, bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für eine Verständigung […], mit der wir diese Verschiedenheit aktiv zum Ausdruck (bringen), [um uns] von anderen zu unterscheiden und uns selbst mitzuteilen. (Arendt 1981, S. 164 f.) Gleichheit und Verschiedenheit in unserem Sprechen und Handeln zum Austrag zu bringen und darin Pluralität, Freiheit und Möglichkeiten unterschiedlicher Lebensentwürfe in menschlicher Gemeinschaft zu realisieren, stellt sich als Aufgabe für Bildung wie auch der Sozialisation in unseren gesellschaftlichen Institutionen, dem „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ (Arendt 1981, S. 171 ff.)

Gegenüber dem Bildungsbegriff entwickelte sich wissenschaftsgeschichtlich die Sozialisationstheorie zum einen aus der psychologischen Auffassung, der Mensch sei „entwicklungsfähig, plastisch und prinzipiell stark von seiner Umwelt abhängig“, zum anderen aus der naturwissenschaftlichen Legitimation empirischer Methoden der Sozialwissenschaften und schließlich aus dem Evolutionsgedanken des 19. Jahrhunderts, „daß die konkreten Individuen sich durch Wandel an die

A. Hilt (*)  Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung, Bernkastel-Kues, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Thein, Philosophische Bildung und Didaktik, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_5

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Umweltverhältnisse anpaßten und daß dies in einem notwendige Bedingung des individuellen Überlebens wie des allgemeinen Fortschritts sei“ (Geulen 1989, S. 37 f.). Eine solcherart plastische Identität ermöglicht „Teilhabe am Allgemeinen“ (vgl. Buck 1979, S. 131), gleichwohl darin auch eine individuelle – „einzigartige Identität“ –, eine „aparte“ Identität (ebd., 127 ff.). Blickt man auf diese problematische Konstellation von Gleichheit und Verschiedenheit – problematisch, weil sie sich als Aufgabe für die Bildung eines Selbstverhältnisses stellt –, zeigt sich, dass nur in der Wechselseitigkeit sozialer Systeme und individueller Entwicklungsleistung das Phänomen Sozialisation verständlich wird: Wie soziale Rollen von Gesellschaft und Individuum gespiegelt werden – und zwar zum einen auf die Reproduktion dieser Rolle, die Anpassung an sie hin; zum anderen aber hin auf deren eigenständige Aneignung im Handeln. Es ist die Person bzw. die Persönlichkeit, die Rollenaneignung tradierter Erwartungen und Rollenentwurf auf (zukünftiges) Handeln leistet (vgl. Mead 1973, S. 302; vgl. Parsons 2005, S. 103). Darin, dass eine Person diese Integration von einem ‚I‘ und einem im ‚me‘ symbolisch reflektierten Allgemeinen leistet, erlebt sie ihre Identität, schreibt sie im gelingenden Falle sich selbst zu: Mead bestimmt diese differentielle Struktur, die niemals ganz in Identität aufgeht (vgl. Mead 1962, S. 178), als „Self“.1 Symbolisierungen des ‚I‘ im ‚me‘ müssen immer wieder neu vollzogen werden, erst darin zeigen sich Gleichheit und Verschiedenheit in ihrem Bildungsvollzug, der derjenige des Selbst ist. Der Terminus „Selbstsozialisation“ – in Absetzung zum umstrittenen Bildungsbegriff – hat seit Ende der 1980er Jahre und angestoßen durch die Systemtheorie an Popularität gewonnen und scheint diese Wechselseitigkeit von der „Summe der Beziehungsformen“, die erst Gesellschaft ausmachen (vgl. Simmel 1899, S. 118), und der subjektiven Erfahrung von Sozialisation aufzulösen. Jürgen Zinnecker beschreibt die Leistung der Selbstsozialisation folgendermaßen: „Kinder sozialisieren sich selbst, indem sie erstens den Dingen und sich selbst eine eigene Bedeutung zuschreiben; indem sie zweitens eine eigene Handlungslogik für sich entwerfen; und indem sie drittens eigene Ziele für ihr Handeln formulieren.“ (Zinnecker 2000, S. 279) „Selbstsozialisation“ sei als eine zeitgenössische Theorieposition ernst zu nehmen, weil ihr die Praxis der empirischen Sozialisationsfelder zunehmend entspreche (vgl. ebd., 274), sei es doch so, dass sich die Felder der Erziehung immer weiter von pädagogisch gefassten Fremdbeeinflussungen des Subjektes distanzierten. Legt man die Annahme zugrunde, mit „Sozialisation“ sei die Gesamtheit aller Einflüsse gemeint, die für ein Subjekt in seinem sinnlich zugänglichen Umfeld bestehen, und zwar in Hinblick auf deren Wirksamwerden in der Persönlichkeitsentwicklung oder Subjektwerdung (vgl. Tillmann 2007, S. 9 ff.), stellt sich die Frage, wie dieser Wirkungszusammenhang – unabhängig von einer Unterscheidung wie „Fremd- und Selbstbestimmung“ – vielmehr in dem Bezug dieses Subjektes zu seiner Welt existiert: Wie sich Erleben und reflektiertes Selbstverständnis von sich in diesem Zusammenhang artikulieren.

1Was

im Deutschen durchgängig mit ‚Identität‘ übersetzt wird (vgl. dazu Ricken 2002, S. 337 f.).

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Nicht nur für die durch Zinnecker angestoßene Debatte2 heißt dies, dass ungeklärt bleibt, mit welchen Grundannahmen über ein bildsames Subjekt Sozialisation als ein selbstbestimmter Prozess zu begreifen sei: Inwiefern das „Selbst“ nicht nur Folge, sondern zugleich die Voraussetzung für „Sozialisation“ sei. Das Problem, das sich hier zeigt, ist für das Verständnis von Bildung und ihren Voraussetzungen „Bildsamkeit“ und „Selbsttätigkeit“ vertraut. Bildsamkeit geht aus von dem anthropologischen Gedanken, wonach menschliche Entwicklungsverläufe weder auf eine fatalistische Umwelt-, noch auf eine genetische Anlagedetermination (vgl. Benner 2010, S. 71) zurückgeführt werden können, sondern stattdessen von der „Unbestimmbarkeit der menschlichen Bestimmung“ (ebd.) ihren pädagogischen Ausgangspunkt nehmen. Der Mensch ist fähig, „Fähigkeiten zu entwickeln“ (ebd., 73). Die Fähigkeit, Fähigkeiten zu entwickeln, begründet also den Begriff „Bildsamkeit“ und führt zu der zweiten Voraussetzung „Selbsttätigkeit“. Anderweitig nämlich müsste die pädagogische Praxis „von der Geburt bis zum Tod“ (ebd., 78) andauern. Ohne Selbsttätigkeit wäre „Bildsamkeit“ lediglich eine nur abstrakt zu postulierende Disposition, die durch das Umfeld zwar mehr oder weniger angeregt werden kann, aber es wäre kein Kriterium für (die) pädagogische Praxis, in der Heranwachsende Probleme selber stellen, modifizieren und lösen lernen.3 Hier kommt nun die nicht nur philosophisch und ethisch, sondern auch sozialwissenschaftlich strittige Kategorie des „Selbst“ ins Spiel, für die sich gerade im Kontext des Bildungsprozesses zeigt, dass sich ein Selbst als Objekt hat und zugleich Subjekt ist: eben durch diese differentielle Struktur ausgezeichnet ist. Die individuelle Entwicklungsleistung, das Selbst, bleibt sich notwendig in einem Rest immer der Reflexion und der Objektivierung in Rollen entzogen: damit aber auch seiner sozialisationstheoretischen Konzeptionalisierung. In dieser stets nur partiellen Identität und Selbstentzogenheit stellt sich ein Selbst als ein Verhältnis dar – zu sich selbst, zu anderen, zu seiner Geschichte -, und es erfährt dieses Verhältnis zugleich auch. Jene Erfahrung in einem und aus einem Verhältnis heraus qualifiziert „das Selbst“ nicht nur als theoriekategoriale Konstruktion, sondern als eine lebensweltlich an Lebensgeschichten und Bildungsverläufen, an Bildungsereignissen, in denen sich dieses Verhältnis besonders manifestiert, beschreibbare und v. a. der Selbstreflexion zugängliche Größe, die auch fachdidaktisch aufgegriffen werden könnte, so z. B. im Rahmen der Thematik der „narrativen Identität“. Im Folgenden soll jedoch zunächst Thema sein, dass und wie v. a. im Aufbau und im Nachvollzug seiner Erfahrungsbildung „Selbst“ eine differentielle

2Eine Dokumentation dieser mit Zinneckers Beitrag aus dem Jahr 2000 begonnenen Debatte findet sich in der Zeitschrift f. Soziologie d. Erziehung u. Sozialisation, 22. Jahrgang, Heft 2/2002: Beiträge von D. Geulen, J, Zinnecker, U. Bauer, K. Hurrelmann, H. Veit, L. Krappmann. 3„Diese Operationen sind nicht ‚lehrbar’. Lehrbar und demonstrierbar sind nur die Problemstellungen. […] Problemlösung bedeutet für das Kind ‚Sinn’ insofern, als ihm daraus eine Kompetenz erwächst, es anders ist, es mehr kann, es beteiligter wird als vordem“ (Mollenhauer 2003, S. 115).

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und offene Struktur aufweist, denn indem sich ein konkretes „Selbst“ zu seinem Verhältnis immer wieder neu einstellen muss, verändert es damit zugleich auch die Parameter dieses Verhältnisses; eben diese differentielle Struktur zu fassen, dazu eignen sich Konzepte narrativer Identität in besonderem Maße, wie dies im abschließenden Teil des Beitrages aufgezeigt werden wird. Betrachtet man es als eine Relation, dann ist das „Selbst“ einerseits konstitutiv für die Annahme, es könne so etwas wie subjektive Erfahrung in Bildungsverläufen überhaupt geben. Andererseits verweist in diesen Erfahrungen jene Verhältnisbestimmung darauf, dass sie immer wieder neu zu intendieren ist und man sie immer im Werden – in „statu nascendi“ (Meyer-Drawe 1984, S. 26) – und in Neuvergewisserung zu begreifen hat: Selbsttätigkeit manifestiert sich darin, immer wieder neu die eigene Identität im Handeln zum Ausdruck zu bringen. Der Begriff der „Bildsamkeit“ verweist demnach darauf, dass die Entwicklung des „Selbst“ weder durch äußere, noch durch innere Determinanten bestimmt, dass er offen – zukunftsoffen – ist. Hier gilt es nun, die postulierte „Offenheit des Selbst“ näher zu bestimmen, lässt sich doch zum einen die Verhältnishaftigkeit des Selbst unter verschiedenen Paradigmen einer zugrundeliegenden oder angestrebten Identität einerseits, andererseits unter unterschiedlichen Paradigmen sozialer Rahmungen des Selbst fassen. Als ein zentrales Problem erscheint dabei die Orientierung dieser Aspekte an der Unterscheidung eines personalen von einem sozialen Selbst, wie dies insbesondere rollentheoretisch von Mead thematisiert wurde, bzw. an der zugrundeliegenden Transformation des subjektiven zum objektiven Aspekt der Person bei der Frage nach seiner Konstitution: Gerade jenes entzieht sich als latentes (vgl. Laing 1961) bzw. als „geheimes Selbst“ aus konstitutiven Gründen (vgl. Winnicott 1965, S. 245) Versuchen der Konzeptualisierung. Wie indes das Verhältnis eines Selbst zu verstehen sei, insofern das Selbst nicht nur in seinem Ausdruck ist, sondern sich immer auch in seinen Repräsentationen hat, dies soll nun zunächst problematisiert werden, um dann einige Typologien, mit denen dieses Verhältnis zu fassen sei, zu skizzieren.

1 Die Reflexionskategorie „Selbst“ Kritisch an die Bildungskonzeption der Aufklärung – der selbsttätigen, autonomiefähigen Verwirklichung menschlicher Existenz -, stellt sich die mit den humanistischen Bildungstheorien virulent gewordene und auch trotz deren Kritik virulent bleibende Frage, was die Bedingungen der Möglichkeit von Bildsamkeit in der Auseinandersetzung von Selbst und Welt sind. Theoriegeschichtlich wurden Kategorien der bildungsfördernden und bildungshemmenden Entfremdung von einem hypothetischen ‚Naturzustand des Menschen‘ implizit im Projekt der

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Philosophischen Anthropologie als „Reflexionskategorien“4 herausgearbeitet, ­ wie sie auch für die Bildungstheorie als zu gewinnende Selbstreflexivität der Erfahrung und des Nach- bzw. Neuvollzugs der Entfremdung und der „Rückwege“ aus ihr (vgl. Buck 1984) maßgeblich sind. Um Offen- wie auch Unbestimmtheit eines Selbst nicht nur im Sinne einer negativen Anthropologie zu markieren, sondern auch pragmatisch fruchtbar zu machen, entwickelte u. a. Helmut Plessner indikatorische Merkmale sich selbst organisierender Lebendigkeit wie auch der spezifisch menschlichen Selbstgestaltung5, die zugleich deskriptiv sind wie auch in ihrem hypothetischen Charakter6 Deutungsmöglichkeiten von Verhaltens- und Ausdrucksphänomenen einer nicht essentialistisch bestimmten und historisch offenen conditio humana ermöglichen. Die wesentliche Kategorie hierbei ist die der „exzentrischen Positionalität“ in ihrer anschaulichen Manifestation im „Hiatus“, in der sich die Exzentrik aus ihrer offenen Unbestimmtheit zu einer Identität für sich und ihre soziale Welt vermittelt, Brüche vertrauter Handlungs- und Orientierungsschemata zum Tragen kommen und sich der Problemlösung als Aufgabe stellen.7 Die Problematisierungsfähigkeit der Offenheit des Selbst erhält dadurch eine philosophische Untermauerung. Ähnliche Ansätze finden sich auch im Sozialbehaviorismus (Mead), der Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas) und einer Theorie der wechselseitigen sozialen Prozesse der Anerkennung (Honneth), im strukturgenetischen Ansatz in der Entwicklungspsychologie (Piaget, Kohlberg), in der Rollentheorie (Goffman), sowie in psychosozialen Entwicklungsmodellen (Erikson, Winnicott).8 Zeitgleich zu diesem sozialwissenschaftlichen Traditionsstrang entwickelt sich eine kontinentaleuropäische Tradition, deren phänomenologischer Ausgangspunkt für die Problematik der Selbstkonstitution angesichts einer nicht-essentialistischen und offenen Anthropologie die Bestimmung der Intentionalität des Selbst, seines subjektiven Sinns und seiner Konstitutionsleistungen für intersubjektiv

4Reflexionskategorien „dürfen keinen abschließend-theoretischen, sondern nur einen a­ufschließend-exponierenden Wert beanspruchen. ‚Der‘ Mensch (seiner Species nach) bildet zwar ihre Leitkategorie, aber nicht zum Zweck einer Klassifikation, sondern der Sicherung seiner Unergründlichkeit“ (Plessner 1937, S. 39). 5Zu dem Konzept der Selbstgestaltung in der existenziellen Bildungsphilosophie s. Hilt 2005b. 6Vgl. hierzu Plessners Konzeption des ‚Kategorischen Konjunktivs‘: Was er nicht sei, zeige sich dem Menschen konjunktivisch, nicht nur als indikative Möglichkeit, dass etwas noch nicht sei, sondern sein werde: Der Konjunktiv schaffe einen Spielraum im Möglichen, dass nämlich das indikativ Mögliche auch anders sein könnte (Plessner 1968, insbesondere, S. 347 f.). Vgl. Hilt 2011. 7Vgl. oben, FN 3. 8Vgl. zu dieser Einschätzung Honneth (1994, S. 114), der für die Sozialpsychologie G.H. Meads festhält, sie beinhalte bis heute die geeignetsten Mittel, um die spekulativen intersubjektivitätstheoretischen Annahmen des transzendentalphilosophischen Idealismus in einem nachmetaphysischen Theorierahmen zu rekonstruieren.

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z­ugängliche Erfahrungs- und Sinndeutungshorizonte ist.9 In einer kritischen Weiterentwicklung von Husserls Theorie der transzendentalen Subjektivität kamen u. a. M. Scheler, E. Fink, M. Merleau-Ponty, A. Schütz, E. Levinas und P. Ricœur zu sozialphilosophischen Konzeptionen der menschlichen Bildsamkeit und einer Problematisierung des Selbst in seinen sozialen Zusammenhängen: In der Figur des Selbst öffnet sich eine Differenz von Selbigkeit und Selbstheit, von Permanenz wie z. B. die einer Rolle einerseits und dem biografischen Wandel in der Zeit (vgl. Ricœur 1987, S. 210 ff.) andererseits. Doch haben sich diese beiden Traditionen weitgehend unabhängig voneinander entwickelt und wurden bis in die 1960er Jahre auch unabhängig voneinander rezipiert. Der erste Rezeptionsstrang wurde dabei besonders im Hinblick auf empirische Forschungen bedeutungsvoll, während die phänomenologisch-hermeneutischen Ansätze sich zunächst im ­geisteswissenschaftlich-kulturwissenschaftlichen Bereich – insbesondere für die Konstitutionsproblematik von sozialem Sinn und seiner Deutbarkeit – verorteten. Beiden gemeinsam sind indessen Fragestellungen, die die soziale und personale Dimension des Selbst ebenso zum Gegenstand haben, wie sie das Verhältnis unterschiedlicher Rationalitätstypen zur Disposition stellen und dies im Kontext der bereits erwähnten Offenheit des Selbst thematisieren. Gerade die Differenzierung der Offenheit gibt jedoch Probleme auf, insofern einerseits die Verhältnishaftigkeit des Selbst unter verschiedenen Paradigmen einer zugrundeliegenden oder angestrebten Identität, andererseits aber unter unterschiedlichen Paradigmen sozialer Rahmungen des Selbst gefasst wird. Zentrales Problem ist dabei die Orientierung der differenzierenden Aspekte an der Vermittlung von personalem und sozialen Selbst bei der Frage nach seiner Konstitution: So stellt sich Konzeptionen des sozialen Selbst das Problem, dass dieses zum einen vorwiegend unter entwicklungspsychologischen Prämissen, bzw. unter dem Aspekt des Verhaltens, an dem sich das in seiner ‚Innerlichkeit‘ nicht zu beobachtende Bewusstsein, seine Reflexivität, seine Offenheit und Plastizität, als Rollenselbst bzw. Rollen-Identität nur indirekt ausdrückt, zu fassen gesucht wird; zum anderen, dass Interaktionsmodelle der Vermittlung von personaler und sozialer Seite jeweils nur von einem bestimmten theoriestrategischen Primat (kommunikationstheoretisch oder in der anerkennungstheoretischen Dialektik von Affirmation und Negation) gefasst werden. An dieser Stelle verquicken sich nun bildungstheoretische Fragestellungen mit sozialisationstheoretischen: Nicht nur stellte das Mead’sche Konzept von ­‚Ich-Identität‘ als Einheit der Differenzierung von ‚I and Me‘ einen wichtigen Beitrag zur Sozialisationstheorie dar (vgl. Geulen 1989), sondern es erweist/erwies sich auch die in Analogie dazu entworfene Rollentheorie Goffmans (1967) als einflussreich in der Erziehungswissenschaft (vgl. Krappmann 2005). Deren Einfluss auf die Rezeption der Sozialisationstheorie in Deutschland sowie auch auf den erziehungswissenschaftlichen Diskurs seit den 1970er Jahren begründet

9Zur

exemplarischen Entwicklung dieser phänomenologisch-hermeneutischen Anthropologie bei Plessner vgl. Hilt (2005a).

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sich wesentlich durch ihre Synthetisierung mit einer normativen, soziologisch fundierten Identitätstheorie, wie sie zuerst Jürgen Habermas entwickelt hat und in deren Zentrum die Ausbildung kommunikativer Kompetenz steht (vgl. ­Habermas 1999). Die daraus entwickelte Konzeption gelingender ­ Ich-Identität (Habermas 1974, S. 93) wird als Bildungsprozessen stets immanenter Aspekt verstanden. Die Herausbildung kommunikativer Kompetenz ist wiederum an die Veränderung gesellschaftlicher Strukturen gebunden. Sind jene Überlegungen bis heute grundlegend insbesondere für die erziehungswissenschaftliche Konzeption von Sozialisation (vgl. Helsper 2004), so führt sie auch zu einer normativen Überhöhung des Bildungsbegriffes: Ist nämlich ein Konzept ‚gelungener Ich-Identität‘ in ‚Bildung‘ und damit eine Kategorie schon enthalten, die – mit Plessner – nicht ab-, sondern gerade aufschließenden Charakter haben sollte und als ‚Bildung‘ auch in ihrem Prozess und nicht allein von einem angestrebten Resultat her verstanden werden muss, dann stützt sich der Identitätsbegriff auf eine normative Gesellschafts- wie auch eine politische Theorie, deren Implikationen und Grundvoraussetzungen eigens erst nachgegangen werden müssten. Gerade in anerkennungstheoretischen Konzepten in ihrer Geltung als „normativ gehaltvolle Gesellschaftstheorie“ (vgl. Honneth 1994) stellt die teleologische Ausrichtung des Identitäts- Konzeptes trotz einer Ausdifferenzierung verschiedener Erfahrungs- und Handlungssphären des Bildungsprozesses den Dreh- und Angelpunkt dieser Theorie dar: als Idealisierung eines Zieles von Selbstbildung in der „Antizipation eines Gemeinwesens, in dem ein Anspruch auf die Verwirklichung eigener Identität umsetzbar erscheint“ (vgl. Honneth 1994, S. 113), wobei letztere Verwirklichung dann wiederum als Selbstverwirklichung darin bestimmt ist, sich selber als einzigartige und unvertretbare Persönlichkeit verstehen zu können (vgl. ebd., 140). Identität als Ziel und Selbstkonstitution als Prozess vermischen sich miteinander, und ebenso deskriptive und normative Ebenen. Mit dem kritischen Einspruch, ob Identität weniger ein normativer Ausgangspunkt ist, sondern allenfalls in Form von „Identitätsproblemen“ (vgl. Mollenhauer 2003, S. 158 ff.; Koller 2010) reflexiv zugänglich wird, lässt sich erst bildungstheoretisch erschließen, dass Identitätsprobleme nur dann von einem Subjekt bearbeitet werden können, wenn es mit Identitätsentwürfen operiert, die in die Zukunft gerichtet sind und in Differenz zum konkreten Selbsterleben erfahren werden können. Nur dann könnten Selbsttätigkeit und Bildsamkeit als Grundkomponenten des Bildungsganges aktiviert werden. Hiervon ausgehend lassen sich zwei Hypothesen formulieren, die in Bezug auf den Bildungsgang relevant sind: Ein Individuum kann sich hinsichtlich des Verhältnisses seines Idealselbst (Identitätsentwurf) zu seinem aktuellen selbst kongruent fühlen, oder es kann sich inkongruent erleben im Hinblick darauf. Daran schließt an, ob und wie es diese Differenz erlebt, wahrnimmt und benennen und somit auch in reflexive – narrativ vermittelte – Erfahrung überführen kann, was in den bereits oben genannten Hiatus-Situationen erfolgt. So plausibel Meads Konzeption des Selbst sein mag, indem hier die Vermittlungsform eines personalen mit einem sozialen Selbst zu einem Konzept von

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‚Ich-Identität‘ ausformuliert wird, das einen systematischen Stellenwert genießt, bleibt dennoch unklar, wie die Differenz von personalem und sozialem Selbst immer wieder pragmatisch erzeugt wird und aus diesen kreativen Abweichungen von der Norm wiederum eine tragfähige personale wie soziale Identität, nicht nur eine Verhaltensidentität, entstehe. Von dem methodischen Zugang her stellt sich die Frage, ob aus dem Verhalten allein Rückschlüsse darauf möglich sind, wie das ‚I‘ und ‚me‘ integrierende individuelle Selbst nicht nur wiederum den impulsiven Aspekten des biologischen Individuums angenähert wird. Denn für letzteres können „Unbestimmtheit und Unberechenbarkeit, die Mead dem Ich in seinen Einzelhandlungen zuschreibt […], nicht(s?) bedeuten, als einen Unsicherheitsfaktor, der im Übrigen [nur] statistischer Berechnung zugänglich bleibt“ (Waldenfels 1980, S. 254). Honneth sucht mit seiner Konzeption der Anerkennungskonflikte, an denen sich mithilfe einer „empirisch kontrollierten Phänomenologie“ spekulative und theoretische Ansätze von Sozialphilosophie wie Psychologie ausweisen und ggf. korrigieren lassen (Honneth 1994, S. 112), zwar nach einem Bindeglied zwischen der Erfahrung von Brüchen und der Transformation dieser Erfahrung in reflexive wie pragmatische Schemata: durch diese Schemata, die sowohl subjektiv das Erleben strukturieren wie empirisch aufweisbar sind, werde die Erfahrung der Hemmung, der Missachtung des eigenen Selbstbildes zum Motiv für kontrafaktische Selbstentwürfe (vgl. ebd. 219); dieses Bindeglied bleibt bei ihm jedoch auf einer abstrakten, bereits hochgradig reflektierten normativen Ebene, ohne hier die subjektiven Erfahrungen aus seinen idealtypischen Muster intersubjektiver Beziehungen, in denen Selbstbeziehungen erworben oder zerstört werden, durchzudeklinieren. Wird der lebensgeschichtlichen Erfahrung des Selbst und seines narrativen Vollzugs der Selbstkonstitution Rechnung getragen, kann man von der Annahme ausgehen, dass die Vermittlung zwischen der Selbstkonstitution und der Konstitution der sozialen Wirklichkeit über Reflexion, Erinnerung und Gedächtnis sowie der Sedimentierung von Erfahrung und Wissen geleistet wird (vgl. Abraham 2002, S. 112–114); diese sind narrativ miteinander vermittelt, und deren Sedimentierungen können durch narrative Verfahren reflexiv thematisch gemacht werden. Diese Annahme soll an sog. – phänomenologisch gefassten – ­„Übergangs- bzw. HiatusBereichen“ (Zitat?) kurz skizziert werden: In diesen Übergangsbereichen wird zum einen das in der anthropologischen Theorie aufgestellte Moment des Hiatuscharakters für ein sich zu sich selbst vermittelten Selbst bedeutsam, zum anderen die Schwellen- bzw. Übergangssituationen der Selbstkonstitution.10 Für die Selbstbildung und ihre Integration in die Erfahrung zeigt sich hier für das Erleben eine gebrochene Form des Selbst-

10Auch

W. Winnicott hat dies in seinem Modell der Übergangsphänomene und -objekte beschrieben, was jedoch als psychotherapeutisches nicht auf die Pädagogik schlicht zu übertragen ist, sondern auf deren eigene Ziele (Mündigkeit) und Ausgangspunkte (Kompetenzen und die Situation des Lernens als Umlernen in unterschiedlichen Stadien der Entwicklung) appliziert werden muss (vgl. zu diesem Desiderat Sesink 2002).

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bezuges in einer Selbstabweichung bzw. Selbstspaltung (vgl. Waldenfels 2000, S. 181): Dieser Bruch ist weder explikativ noch normativ zu schließen. Dennoch werden diese Situationen zugänglich – und zwar sowohl für die vom Selbst vollzogene Integration seiner subjektiven Erfahrung als auch für den verstehenden Betrachter: nämlich in ihrer Bedeutung für die Selbstbildung in statu nascendi und deren (narrativer) Reflexion. Diese Situationen sind zum einen gekennzeichnet durch eine Wandlung der Bedeutsamkeit der Situation, zum anderen durch einen Wandel der Bezüglichkeit zu Menschen und Dingen in ihr, was Alfred Schütz mit der Kategorie der ‚Relevanz‘ beschrieben hat (vgl. insbesondere Schütz 1962, S. 283 ff.); schließlich durch einen Wandel der Zeiterfahrung dieser Situation, d. h. des praktischen Wissens, wie sie fortgeführt werden kann und soll. In diesem Bruch bzw. Riss wird die Linearität des Situationsablaufes unterbrochen, so dass dieser nicht (mehr) aus dem Erfahrungsraum und Erwartungshorizont kausal bzw. teleologisch her verstanden wird. Hier zeigt sich die offene und nichtintendierte Struktur als Ausgangspunkt für neu entstehende Erfahrung und Wissen, die nicht antizipierbar sind oder ‚von außen‘ intendiert bewirkt werden können, sondern sich erst aus einer originären Erfahrung dieser Situation heraus in einer Neubestimmung von Identität, deren Ausdrucksformen und schließlich deren Anerkennung bildet. Weiterhin ist diese Situation durch Irreziprozität gekennzeichnet, d. h. die an ihr Beteiligten nehmen jeweils differente Positionen unter Ausschluss einer die Situation transzendierenden Ebene ein. Keine der einzelnen Erlebnispositionen kann auf eine andere reduziert werden – darin liegt die strukturale Kennzeichnung ihrer sinnbildenden Potenziale gegenüber subjektzentrierten Sinnprozessen. Die Pluralität der Perspektiven exemplifiziert ihrerseits wiederum die Offenheit und ihr Strukturpotential: einen Überschuss an Bedeutsamkeit. Dies lässt sich im Unterschied zur Differenz mit Waldenfels als ‚Diastase‘ benennen und weiter exemplifizieren: In der Diastase findet eine Differenzierung der gestörten Ordnung statt, die neue Unterscheidungen und Bezüge ermöglicht, in diesem Sinne zwischen den anfänglichen Dichotomien vermittelt, indem sie in der Situation gerade Strukturen bedeutsam werden lässt, die in diesen polaren Kategorisierungen ausgeblendet werden. Folgende Leittypologien zeigen sich als Ausdrucksfelder für Hiatus- und Übergangssituationen, die an narrativen Darstellungen solcher Situationen – Bildungssituationen – phänomenologisch-hermeneutisch auf ihre sinnbildenden Aspekte und Funktionen für die Selbstkonstitution weiter ausdifferenziert, beschreiben und ausgelegt werden können: Körper – Leib Mit der Körper-Leib-Differenz – Leib zu sein und Körper zu haben – lassen sich in der Spannweite des mimetischen, symbolischen und des b­ egrifflich-theoretischen Ausdruck Thematisierungsmöglichkeiten des Expressiven aufgreifen. Gerade hier wird die Dimension des nicht-kommunikativen Selbst (vgl. Winnicott 1983, S. 245) manifest, das in diesen primär leiblich erlebten ­ Hiatus-Situationen sich neu integrieren muss und dabei sowohl Abwehr- als auch Vermittlungsstrukturen zwischen subjektiver und Objektwelt ausbildet. Dabei zeigt sich die Ich-Bezogenheit

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gerade nicht als ein ‚primitives Stadium‘ der Entwicklung, sondern als ein konstitutives Moment der Ausbalancierung von personalem und sozialem Selbst in einer die Subjekt-Objekt-Dichotomie unterlaufenden Selbstbezüglichkeit einer sinnlichen Reflexivität (vgl. Merleau-Ponty 1965, S. 239–283). Im Gegensatz zum instrumentellen Leibverständnis des symbolischen Interaktionismus, tritt hier der Leib der Erfahrung eben nicht nur als Objekt auf. Zeitlichkeit – Geschichtlichkeit Transformationen der Hiatus-Situation in eine Aufgabe, die sich dem Selbst stellt, gewinnen sich hier durch die Perspektivierung von Erleben/Erfahren in ihrer zeitlichen (sensuell-somatischen Erfahrung der Dauer) und Erinnerung in ihrer geschichtlichen Struktur, wie dies häufig als Gegensatz ausgelegt wird. Hierbei liegt der Fokus auf dem Schwerpunkt der Erfahrungsbildung: Nicht nur die Zeitlichkeit des Selbst in der präsentischen Interaktion, die in der strukturalistischen und systemtheoretischen Theoriebildung die Unterscheidung zwischen Selbst und Anderem konstituiert (vgl. Nassehi 2008), sondern auch die Übergänge zu einer biografisch aufgreifbaren Geschichtlichkeit, die erst im Ineinandergreifen von Handeln, Sprechen, Erinnern Gestalt gewinnen, werden hier wesentlich als das „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“, als Lebensgeschichten kenntlich gemacht: Sie manifestieren das Selbst, sind jedoch nicht unmittelbar Resultat seines Handelns, sondern immer in die Gemeinschaft mit anderen, den Institutionen und schließlich: den Bildungskontexten und konkreten Bildungssituationen eingeschrieben (vgl. Arendt 1981, S. 174 f.). Hier richtet sich der Fokus zunächst auf den Wandel vom Erleben zu seiner Deutung als Erfahrungsinhalt, von subjektivem (gemeinten) zu objektivem (gedeuteten) Sinn, wobei jener dem latenten Selbst bzw. den ­nicht-kommunizierbaren Anteilen des Selbst zuzuordnen ist: so z. B. die leibliche Existenz als Grundlage von Empfinden und Wahrnehmen, die erst in der Konstitution einer Lebensgeschichte dann ihre begriffliche Gestaltung aus dieser vor-begrifflichen Erfahrungen finden (vgl. Lippitz 1993, S. 22). Des Weiteren stellt sich hier die Frage, wie die Genese von Geschichtlichkeit aus der Hiatus-Situation gerade aus der punktuell, d. h. zeitlich erfahrenen Diskontinuität des Erlebens hervorgeht und zu der Neustrukturierung von Orientierungsrahmen, ihren symbolischen Besetzungen und der sprachlich-begrifflichen Differenzierung von Ausdruck, Sinn und Referenz dieser Symbolisierungen führt. Intentionalität im Spannungsfeld von Passivität und Aktivität Der Fokus liegt hier auf dem Schwerpunkt der Handlung: Dabei lassen sich mit Levinas (1987) zwei zunächst antinomische Formen der Intentionalität differenzieren: Zum einen eine identifizierende, die von einem in der Welt als dem leiblichen Zentrum seines Selbst verankerten Subjektes ausgeht und die von dessen Können und zielgerichteten Bedürfen gebildet wird. Diese Intentionalität

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objektiviert die sinnoffene Welt in der Angleichung an die Bedürfnisstruktur des Selbst und geht aus von der Vorstellung eines autonomen Subjekts.11 Zum anderen eine dieser ersten entgegengesetzte Form der Intentionalität: Diese entsteht nicht aus der Initiative des Selbst, sondern im Sinne von Levinas aus der Infragestellung seiner Autonomie (vgl. Butler 2007, S. 121). In der Ausdifferenzierung dieser Hiatus-Situation kommt zu dieser doppelten Intentionalität die Figur der Responsivität: darunter wird die dialogische Struktur des Angesprochenwerdens und Anwortenmüssens verstanden; diese Struktur wird zum Konstitutionsfeld des Sinnzusammenhangs (vgl. Waldenfels 1994, S. 332), der gerade kein einheitlicher, um den Erfahrungshorizont und den Erwartungsraum des Selbst aufgebauter Vorstellungsraum ist, sondern der sich als Anknüpfungszusammenhang von diskontinuierlichen, fremden Adressierungen manifestiert (vgl. ebd., 278); dies geschieht über die in der Hiatus-Situation sich neu aufbauende Interaktion, so dass hieran zu zeigen wäre, dass sich Responsivität weniger in der Wiederaufnahme einer Kontinuität des Zeitflusses, sondern vielmehr in der Dramaturgie einer Geschichte, die einen fiktionalen Spielraum von Anschlusshandlungen entwirft, äußert. Selbst – Anderer bzw. Fremder Hier liegt der Fokus auf der differentiellen Struktur des Selbst – ‚I‘ und ‚me‘, Gleichheit und Verschiedenheit, dem partiellen Selbstentzug in der Formulierung der eigenen Geschichtlichkeit – und damit auf dem eingangs behandelten Problemcharakter der Identitätsbildung, wie sie sich im Kontext der sozialisationstheoretischen Debatten abzeichnen. Die Hiatus-Situation kann hier unter der Verschränkung von Selbstbezug und Selbstentfremdung untersucht werden. Dabei können diejenigen Irritationsmomente identifiziert und beschrieben werden, die sich nicht unter die Pole von Individualismus und Holismus subsumieren lassen (vgl. Waldenfels 2000, S. 287). Ist es in der Unterscheidung Selbst-Anderer/s prinzipiell möglich, dieses Andere/diesen Anderen zu generalisieren und die beiden Pole auch von einem dritten Standpunkt zueinander in eine symmetrische Beziehung zu setzen, ist dies in der Beziehung zwischen Eigen und Fremd so nicht möglich; ist die Übernahme der Position des Anderen in einer exzentrischen Positionalität in einer ‚geregelten‘ Selbstentfremdung möglich oder gar intendiert, so gerade nicht die Erfahrung des Fremden: Hier zeigt sich ein Selbstbezug im Fremdbezug, der zum einen die Subjekt-Objektstellung von Selbst und Anderer, zum anderen die logisch-zeitliche Problematik, ob sich das Selbstverhältnis ausgehend vom Selbst oder vom Anderen her bildet, unterläuft. Denn darin, dass das Fremde durch einen Entzug gekennzeichnet ist, der nicht mit der Konstatierung und Identifizierung eines dem Selbst Anderen aufgefangen werden kann, entzieht sich auch die Bestimmtheit des Selbst.

11Dabei

wird Autonomie hier nicht nur im Sinne einer Freiheit des Handelns gesehen, sondern auch in der diese Freiheit erst konstituierenden Erfahrung der Unbestimmtheit des Spielraums von Urteilen-, Handeln- und Entscheidenkönnen (vgl. Hilt 2008, S. 134 f.).

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Für diese Selbstentfremdung wird dann nicht mehr nur der kognitive Akt des Selbst- und Fremdverstehens, sondern v. a. der responsive – und damit auch ein narrativer – Aspekt der Interaktion bedeutsam: Hier gestaltet sich nämlich Handeln in einer solchen Zwischen- und Schwellensphäre, wo (noch) nicht eindeutig entschieden werden kann, was meiner und was einer fremden Handlung zugerechnet und wie diese in ihrer Bedeutung und Geltung im Erzählen, Hören und Aushandeln von Geschichten anerkannt werden kann. Auch lassen sich hier Strukturen wechselseitiger Anerkennung weiter bestimmen (vgl. Ricœur 2006, S. 253 ff.).

2 Erfahrung und Narration – Biografietheoretische Überlegungen zu den Leittypologien Narrative Ausdrucksformen bilden die Grundlage für die Verbindung von Erleben, Erfahren und der Dialektik von subjektivem und sozialem Sinn in ihren Bedeutungsgehalten: sowohl im Handeln wie im Sprechen, womit mit Arendt der Begriff der Narration zunächst weit gefasst bleibt (vgl. Arendt 1981, S. 164 ff.); diese wiederum werden über ihre narrative Gestaltung als Verbindung von subjektiven wie objektiven Aspekten hermeneutisch zugänglich. Das offene und plastische Selbst ist ein fiktionales und entspricht darin der anthropologischen Offenheit: Fiktionalität repräsentiert nicht nur Realität, sondern bringt sie präsentativ zur Geltung. Im so zu Ausdruck und Gestalt kommenden Fiktiven gewinnt bloß subjektive Vorstellung Realität für ihre intersubjektive Deutbarkeit und vor allem Widerständigkeit gegenüber einer standardisierten, normierten interpretativen Objektivierung aus der Beobachterperspektive. Im Akt des Erzählens überschreitet Fiktionalisierung die immer nur perspektivisch fassbare(n) Realität(en), indem sie diese im Ausdruck reflexiv gestaltet. Gerade darin, dass sich an ihm das punktuell Erlebte bewähren muss und mit Alternativen ins Spiel kommen kann, hat das Fiktive seine Autorität. Es wird als Fiktives symbolisch zugänglich und transformationsfähig in derjenigen intersubjektiven Realität (vgl. Iser 1993, S. 381), die über den narrativen Ausdruck erst entsteht.12 Im narrativen Ausdruck werden Erfahrungen von lebensgeschichtlichen Übergängen und Brüchen mit einem Index der Fiktionalität versehen, was ermöglicht, Rückschlüsse darauf zu ziehen, was für das latente Selbst unthematisch und nicht artikulierbar blieb, sich jedoch symbolisch in seinem Ausdruck manifestiert (vgl. Hilt 2010, S. 322 ff.). Dabei werden Differenzen des Erlebten und nicht Thematisierten und dessen rekursiver Deutung manifest, ohne jedoch durch eine Deutungshoheit e­ndgültig

12In der Entwicklungspsychologie hat gerade D. W. Winnicott diese Transformations- als Übergangsprozesse beschrieben: als Gestaltung potenzieller Räume „zwischen innere(r), persönliche(r) psychische(r) Realität und wirkliche(r), äußere(r) Welt“ (vgl. Winnicott 1973, S. 119), die auch auf die narrative Gestaltung übertragen werden kann.

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befestigt zu werden. Vielmehr zeigt sich hier ein „Übergangsbereich“ für die Suche nach Ausdruck und der Transformation von Identität über die Reflexion von Handlungsentwürfen: unter einem vom Erzähler markierten Gestaltungswillen, der nicht nur einer äußeren Norm gelungener Identität folgt, sondern für den Nachvollzug der Identitäts- und Normbildung diese selbst wiederum mit dem Index des Fiktiven – mit Plessner: dem Hypothetischen13 – versieht (vgl. dazu Iser 1993, S. 377). Diese Struktur der reflexiven Realisierung der anthropologischen Offenheit in narrativen Strukturen folgt dem Theorieschema der narrativen Identität, das Paul Ricœur (2007) unter dem Begriff der dreifachen Mimesis als Verschränkung von (Alltags-)Handeln und seiner symbolischen, nicht nur sprachlichen, Repräsentationsformen in sinnhaften Lebensgeschichten, schließlich auch seiner auf das Handeln zurückwirkenden, selbstreflexiven Perspektivierung entwickelt hat: Charakteristisch für Handlungen ist es, dass sich ihre konstitutiven Momente in Hinblick auf einen Sinn organisieren, der dem Verstehen prinzipiell zugänglich ist; Handlung und Sinn sind zueinander vermittelt durch ein Handlungsschema, das über die einzelnen Akte hinausreicht: diese orientiert. Hat Handeln in diesem Sinne Zeichencharakter – es bezeichnet Sinn, symbolisiert und objektiviert ihn dabei –, und versteht man so Handeln als Sprache, so gilt umgekehrt für den Text als sinnkonstituierende Struktur, dass hier Sprache als Handlung zu verstehen ist und Texte in doppelter Weise zugänglich sind: als Sprache, die auf Handlung und ihre Sinnhaftigkeit verweist, und als Handlung (des Erzählens), die sprachlich Sinnperspektiven des dargestellten Handelns entwirft (vgl. Stierle 1975, S. 15 f.) Als Handlungen stellen die verschiedenen Formen der narrativen Selbstvergewisserung nicht nur Re-Präsentationen von dem der unmittelbaren Beobachtung Entzogenen – also dem erlebten Leben – dar; vielmehr wird in ihnen die Konstitution der eigenen Identität selbst vollzogen, die eben nicht schon vor ihrem Bewusstwerden über Repräsentationen besteht, sondern die erst in einer das Alltagshandeln begleitenden Erzählung konstituiert, figuriert, konfiguriert und transfiguriert, gleichsam dreifach reflektiert wird (vgl. Ricœur 1981, S. 28). Gerade die Sozialtheorie des Alltags – der Lebenswelt – wertet Lebenslauf und Biographie eines Individuums hinsichtlich der Genese von subjektivem (gemeinten) Sinn, die sich in der Lebensgeschichte manifestiert und sich dabei zu objektivem – gedeutetem Sinn – wandeln kann, auf. Dies lässt sich bildungstheoretisch aufgreifen und konkretisieren: Biographische Ereignisse – Geschehen – werden zur Geschichte und damit zu einer thematisierbaren Erfahrung: Erfahrung hat eine narrative Struktur und konstituiert sich narrativ in der Repräsentation des erlebten Lebens durch Selektion, Anordnung, Deutung und Kommentierung von Ereignissen. Mit dem Akt des Erzählens tritt zu der (intendierten) Repräsentation der erzählten Geschichte die (teilweise ­nicht-intendierte) Präsentation einer Erzählgeschichte. Die narrative Gestaltung markiert dabei die Distanz zu einem nicht mehr für den unmittelbar handelnden

13Vgl.

zur Verbindung des hypothetischen Konjunktivs mit der Einbildungskraft und ihrer sprachlichen Manifestation: Plessner (1968), S. 348.

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Zugriff Präsenten, dessen Bedeutsamkeit und Relevanz als Repräsentation im erneuten Präsentieren für weiteres Handeln zugänglich wird. Narration repräsentiert dabei nicht nur ein Geschehen und sich darin vollziehende Handlungen, sondern ist selbst Handlung: Erst Narration überführt Vergangenes in eine solche Realität, an deren Sinn und Bedeutung weiteres Handeln über die Erzählung hinaus anknüpfen kann. Relevanz erhält das narrativ Gestaltete in seinen Anschlussmöglichkeiten: Wie es zu verwirklichen sein könnte (vgl. dazu Grätzel 2004, S. 128 ff.). Ist die Erzählung gekennzeichnet durch eine Variation der Verhältnisnahme zu dem Erlebten, zu sedimentierter, teilweise vor-thematischer Erfahrung, so lassen sich in diesen Variationen gerade deren Motivation durch Störungen des Vor-Thematischen aufgreifen und mit den Hiatus-Situationen in Verbindung bringen: d. h. mit solchen Situationen, die sich dadurch kennzeichnen lassen, dass weder eine Assimilation erfahrener Eindrücke an ein bestehendes Schema noch eine Akkomodation des Verhaltens an eine Erfahrungseinheit möglich erscheinen. Mit Ricœur (1973) lässt sich indes schließen, dass die Validität einer solchen narrativen Annäherung an das Selbst als ein Offenes sich nur über die Reflexion ihrer Grenzen bestimmen lässt: d. h. der Widerstände, die der Ausdruck subjektiven Sinns seiner Deutung – seiner Objektivierung – bietet. In der literarischen Narration und der Notwendigkeit der Auslegung ihres „stummen Sinns“ (Merleau-Ponty 1952, S. 171 f.) kommt dies exemplarisch zur Darstellung. Interpretatorisch narrative Identität fachphilosophisch wie auch in der Fachdidaktik aufzugreifen, öffnet ein Feld, in dem Variationen von Selbst und seiner sozialen Welt in ihrer Durchdringung zur Geltung kommen und macht zugänglich für Fragestellungen, wie die Konstitution eines Selbst in der Unterscheidung von ‚selbst‘ und ‚fremd‘ wie auch in einer normativen Diskussion um Ziele und Mittel von sowie Kritik an Bildungs- und Sozialisationsverläufen zu verstehen sei.

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„Epistemologische Vielfalt“ – Bildungstheoretische Überlegungen Kai Horsthemke

1 Einleitung: „Unterschiedliche Epistemologien“ und „Wissensökologie“ Besonders in den letzten Jahren ist auf die Begriffe der epistemologischen Vielfalt und der unterschiedlichen Epistemologien zunehmend Aufmerksamkeit gelenkt worden. In seiner Diskussion der Wege und Möglichkeiten, Doktoranden auf „epistemologische Vielfalt“ vorzubereiten, stellt Aaron Pallas heraus, eine der verwirrendsten Entwicklungen in der Bildungsforschung des letzten Vierteljahrhunderts sei die Inflation von Epistemologien – Meinungen darüber, was auf dem Gebiet der Erziehung und Bildung Wissen ausmacht, was als Beweismaterial für eine Behauptung zählt und was wiederum dies Beweismaterial rechtfertigt. Novizen und erfahrene Forscher täten sich gleichermaßen schwer damit, den Überblick zu behalten angesichts des schrillen Durcheinanders unterschiedlicher Epistemologien: Naturalismus, Empirizismus, Positivismus, Postpositivismus, erkenntnistheoretischer Fundamentalismus, Antifoundationalismus, Relativismus, Standpunkt-Theorie und Standpunkt-Feminismus in der Erkenntnistheorie, Postmodernismus u. v. m. Pallas betrachtet diese verschiedenen Epistemologien als den Kern der Produktion und der Rezeption von Bildungsforschung und Erziehungstheorie. Insofern sie als Epistemologien alle Phasen des Forschungsprozesses untermauern, sei die Beschäftigung mit der Erkenntnistheorie unabding­ bar für das Erlernen des Forschungshandwerks in der Ausbildung. Des Weiteren prägen diese Epistemologien die Fähigkeiten der Wissenschaftler, die Forschung anderer zu verstehen und wertzuschätzen. Eine derartige Wertschätzung sei eine

K. Horsthemke (*)  Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Eichstätt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Thein, Philosophische Bildung und Didaktik, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_6

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Voraussetzung für jenen wissenschaftlichen Diskurs, der das kollektive Lernen innerhalb einer Fachrichtung gelingen lässt (vgl. Pallas 2001, S. 6). Verstünden Bildungsforscher einander nicht bzw. könnten sie sich nicht auf einander einlassen, innerhalb der Bildungsforschungs-Gemeinschaften und auch darüber hinaus, dann sei das ganze Unternehmen zum Scheitern verurteilt. Um ein wiederkehrendes Muster epistemischer Unbeugsamkeit zu vermeiden, müssen sich Bildungsforscher daher zunächst mit einer Vielfalt an epistemischen Perspektiven und Ansätzen auseinandersetzen, bis die Vertreter verschiedener ­Bildungsforschungs-Methoden einander verstehen – trotz oder vielleicht gerade auf Grund ihrer Differenzen. Die Vorbereitung angehender Bildungsforscher auf derartige epistemologische Vielfalt ist laut Pallas eine der wichtigsten Aufgaben von Universitäten (ebd., S. 7). In ihrem Plädoyer für eine sogenannte „Wissensökologie“1 sprechen Boaventura de Sousa Santos, João Arriscado Nunes und Maria Paula Meneses ebenfalls von einer „immensen“ epistemologischen Vielfalt auf der Welt (vgl. De Sousa Santos et al. 2007, S. xix, xlviii). Basierend auf der Prämisse, es gäbe keine globale soziale Gerechtigkeit ohne globale kognitive Gerechtigkeit (ebd., S. xix), beziehen sie sich allerdings mit diesem Appell nicht auf normative Erkenntnistheorien, sondern auf ethnische und kulturelle Vielfalt.2 Während der letzten Jahrzehnte sei die Anerkennung der kulturellen Vielfalt auf der Welt stetig gewachsen, wobei die derzeitigen Kontroversen im Wesentlichen die Anerkennungsbedingungen beträfen. Dies wiederum könne nicht von der epistemologischen Vielfalt der Welt behauptet werden, also den unterschiedlichen Wissenssystemen, die den Bräuchen und Praktiken verschiedener sozialer Gruppen weltweit zu Grunde liegen (ebd.). Von der Annahme ausgehend, dass kulturelle Vielfalt und epistemologische Vielfalt einander durchdringen, ist es das Anliegen der Autoren aufzuzeigen, dass durch die Verdrängung der Monokultur des wissenschaftlichen Wissens durch eine Wissensökologie die soziale Emanzipation neu zu erfinden ist. Dies sei jedoch kein wissenschaftsfeindlicher Ansatz: die hier angedachte alternative Epistemologie platziere die Wissenschaft lediglich in einen Kontext der Wissensvielfalt zeitgenössischer Gesellschaften. Die Wissensökologie sei eine Einladung zur Förderung nichtrelativistischer Dialoge zwischen verschiedenen knowledges. Den unterschiedlichen Wissensarten, die in breit angelegte erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen über ihren Beitrag zu einer demokratischen und gerechten Gesellschaft und zur Entkolonisierung des Wissens und der Macht verwickelt sind, würden auf diese Art gleiche Chancen eingeräumt (ebd., S. xx). Dies veranschaulicht die gängige Ansicht, dass verschiedenen Ethnien und Kulturen eigene Epistemologien zu Grunde liegen, dass Epistemologien auch jeweils geschlechtsspezifisch sind, und dass diese bisher von der vorherrschenden

1Der

von den Autoren verwendete Ausdruck “ecology of knowledges” zeigt schon, dass Wissen hier unüblicher Weise mehrzählig verstanden wird. 2Lesley Greens Ansatz ist ein ähnlicher (Green 2008).

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sozialen Gruppe missachtet worden sind. Eine Begleiterscheinung ist die ebenfalls weitverbreitete Meinung, die Bildungsforschung sei von bestimmten Annahmen über Wissen und Wissensproduktion gesteuert, welche die Interessen und historischen Traditionen dieser dominanten Gruppe widerspiegeln. Zum Beispiel stellt Catherine Odora Hoppers der monochromen Logik westlicher Epistemologie die Existenz pluraler Manifestationen der Epistemologie gegenüber und spricht sich für indigene Wissenssysteme und indigene Erkenntnistheorien aus (vgl. Odora Hoppers 2002a, b, c, S. vii, 18). In ihrem Buch ‚Technofeminism‘ plädiert Judy Wajcman (2004) auf ähnliche Weise für epistemologische Vielfalt und für die Koexistenz einer Vielzahl von Wahrheiten. Weitere beliebte, damit verwandte Begriffe und Bezeichnungen sind demokratische Epistemologie (Nkomo 2000, S. 54), multikulturelle Epistemologien (Banks 1998), afrikanische bzw. afrozentrische Epistemologie (Asante 1990, 2005; Bakari 1997; Teffo 2000, S. 112), feministische Epistemologie (Harding 1987, 1996, 2002; Code 2012; Schumann 2016), feministische Chicana-Epistemologie (Delgado Bernal 1998), afrozentrische feministische Epistemologie (Hill Collins 1990) usw. – neben Verweisen auf sexistische, androzentrische bzw. rassistische Epistemologien (Braidotti 1991, 1993, 2006; Scheurich und Young 1997), sowie das Wissen der Frauen oder von Gender geprägte Wissensarten (Belenky et al. 1986; Harding 1996), Islamisierung des Wissens (Dangor 2005) und afrikanische bzw. eingeborene/einheimische Wissenswege (vgl. Dei 2002, 2004; sowie Barnhardt und Kawagley 2005, die von native ways of knowing sprechen). Im Folgenden richte ich meine Aufmerksamkeit auf die von De Sousa Santos et al. vorgebrachten Argumente. Auffassungen von Wissen, also, was es bedeutet, zu wissen, was als Wissen gilt und wie dieses Wissen produziert wird, seien so verschiedenartig wie die unterschiedlichen Kosmologien und normativen Rahmenwerke. Alle sozialen Praktiken beinhalten Wissen. Die Wissensproduktion sei selbst eine soziale Aktivität. Die epistemologische Vielfalt der Welt sei nicht zu trennen von der Verschiedenartigkeit der Kosmologien, welche die Welt auf eine gewisse Art und Weise aufteilen und gestalten und sich von der westlichen Kosmologie und der daraus entspringenden modernen Wissenschaft abgrenzen (De Sousa Santos et al. 2007, S. xxi). Die epistemologische Vielfalt sei weder ein einfaches Abbild oder Epiphänomen ontologischer Verschiedenartigkeit oder Heterogenität noch eine Reihe kulturspezifischer Möglichkeiten, einer grundsätzlich einheitlichen Welt Ausdruck zu verleihen. Es gäbe keine grundlegende oder endgültige Art, die Prozesse, Dinge und Beziehungen in der Welt zu beschreiben, zu ordnen oder zu klassifizieren: “Different modes of knowing, being irremediably partial and situated, will have different consequences and effects on the world. The very capacity of the modern sciences to create new entities and in this way to enact an ontological politics … – with the effect, intentional or not, of increasing this heterogeneity of the world – seems to support this conception. It gives shape to a robust realism and to a strong objectivity, a clear awareness of the need to accurately and precisely identify the conditions in which knowledge is produced and its assessment on the basis of its observed or expected consequences.

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This allows a rigorous account of the situatedness, partiality, and constructedness of all knowledges, while rejecting relativism as an epistemological and moral stance.” (Ebd., S. xxxi)

Es ist nicht deutlich, wie bei einer solchen Berufung auf die Situiertheit von sämtlichen Wissen(-sformen) überhaupt der Vorwurf des Relativismus vermieden werden kann, wie Parteilichkeit mit starkem Objektivismus oder die Konstruiertheit von allen Wissen(-sformen) mit einem robusten Realismus in Einklang gebracht werden kann. De Sousa Santos et al. fahren fort: “That which exists – knowledge, technological objects, buildings, roads, cultural objects – exists because it is constructed through situated practices. The relevant distinction … is not between the real and the constructed, but between that which is well constructed, which successfully resists the situations in which its consistency, solidity, and robustness are put to the test, and that which is badly constructed, and hence vulnerable to criticism or erosion. This is the difference that allows a distinction to be made between facts (well constructed) and artifacts (badly constructed).” (Ebd.)

In ihrem Plädoyer für ein epistemologisch vielfältiges Universitätskurrikulum empfiehlt auch Kathy Luckett, Studierende zu ermutigen, Wissen und Erkenntnis als soziale Konstrukte bzw. als historisch und kulturell spezifisch zu verstehen und zu erkennen, dass ihre eigenen Urteile kontextbedingt sind (Luckett 2001, S. 32). Was ist dann aber der Status dieses bestimmten Wissensanspruchs? Ist er auch historisch und kulturell spezifisch? Ist Lucketts Urteil demnach nicht ebenfalls kontextabhängig? Es steckt gewiss ein Körnchen Wahrheit im konstruktivistischen Ansatz. Manche Tatsachen sind soziale Konstruktionen, die Ergebnisse menschlicher Beschreibung und Bezeichnung, wie zum Beispiel Notengebung in Leistungsnachweisen, Anstandsregeln, Moralkodexe, Gesetze, Geschwindigkeitsbegrenzungen, Kochrezepte und dergleichen: mehr oder weniger willkürliche oder zufällige Tatsachen, die aus sozialen oder kulturellen Bräuchen resultieren. Allerdings irrt der Konstruktivismus in seiner Behauptung, alle Tatsachen (einschließlich historischer und wissenschaftlicher Fakten) seien menschliche Konstrukte. Aber nicht nur als Erkenntnistheorie, sondern auch als Pädagogik hat der Konstruktivismus zwei wesentliche Mängel. Er degradiert eine wesentliche pädagogische Aufgabe, nämlich die Vermittlung von Wissen. Außerdem ist der Konstruktivismus, wie auch viele postmoderne Denkansätze, nicht nur irreführend, sondern sogar gefährlich, weil er Menschen (Lehrkräften wie Lernenden) ein falsches Gefühl von Ermächtigung und Autorität vermittelt. Im Gegensatz zu den Meinungen ihrer Exponenten ist keiner dieser (konstruktivistischen und postmodernen) Ansätze emanzipatorisch. Ganz im Gegenteil: als pädagogischer Ansatz und auch als Lerntheorie wirkt der Konstruktivismus wohl eher entmachtend. Das Scheitern der ergebnisorientierten Erziehung in vielen Teilen der Welt, mit ihrer Herabwürdigung allen Wissens, das fachorientiert bzw. nicht zweckorientiert ist, das in der Vergangenheit entwickelt wurde, bezeugt die Plausibilität dieses Urteils3. Aber angenommen, wir akzeptieren das 3Da

für eine detaillierte Kritik hier nicht genügend Raum ist, werden meine skizzenhaften Bemerkungen wohl kaum jemanden davon überzeugen, dass man den Konstruktivismus

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konstruktivistische Bezugssystem: könnten wir demnach nicht zwischen Wissen (gut konstruiert) und Aberglaube (schlecht konstruiert) bzw. zwischen Wissenschaft (gut konstruiert) und Pseudowissenschaft (schlecht konstruiert) unterscheiden? Wo wäre dann „indigenes Wissen“ zu verorten? Allerdings bleiben in den meisten Fällen der Auseinandersetzung über verschiedenartige, alternative, dekolonialisierte und entmännlichte Epistemologien einige wichtige philosophische Probleme ungelöst bzw. werden gänzlich ignoriert. Was ist der genaue Sinngehalt dieser Behauptungen über epistemologische Verschiedenartigkeit? Halten diese unterschiedlichen Arten, Wissen zu begründen, einer genauen Untersuchung bzw. einer kritischen Hinterfragung stand? In welchem Zusammenhang stehen sie des Weiteren mit den traditionellen epistemologischen Unterscheidungen zwischen dem Wissen und dem Glauben und zwischen deskriptiver und normativer Fragestellung, sowie weiteren wesentlichen erkenntnistheoretischen Bestandteilen wie Begründung, Rechtfertigung und ­Wahrheit?

2 Der Begriff der Epistemologie – normative und deskriptive Denkansätze Jon Levisohn und Denis Phillips weisen darauf hin, dass besonders in der Bildungsliteratur über multikulturelle Reformen die Sprache der Epistemologie rhetorisch-inflationär verwendet wird, wodurch wichtige Fragen und Unterscheidungen verschleiert statt verdeutlicht werden (vgl. Levisohn und Phillips 2012, S. 40). Die traditionelle Bedeutung von Epistemologie ist Erkenntnistheorie bzw. Logik des Wissens (episteme – Wissen; logos – Wort). Angefangen mit Platon und Aristoteles, sind sich Erkenntnistheoretiker im Wesentlichen einig über eine grundlegende Trennung zwischen dem Wissen und dem Glauben (Überzeugung oder Meinung). In meinem Beitrag geht es nicht nur um die Frage, ob ein Wort („Epistemologie“) missbraucht wird, sondern auch darum (und das ist besonders wichtig), ob die Kernfragen und -themen der Epistemologie, die ja immerhin ein komplexes Feld darstellt, welches sich über einen langen Zeitraum entwickelt hat, nur am Rande erwähnt bzw. sogar gänzlich ignoriert werden. Eine weitere Unterscheidung, in Bezug auf Überzeugungen und Wissen, betrifft deskriptive und normative Recherche. Werden diese Unterschiede verwischt, so

ablehnen soll. Sie drücken lediglich mein eigenes Unbehagen darüber aus, in der Bildung einer insgesamt recht problematischen theoretischen Anschauung einen besonderen Rang einzuräumen. Wenn Lotz-Sisitka sagt, “education has a critical role to play in preparing children to live in the world” (Lotz-Sisitka 2009, S. 71; meine Hervorhebung), dann setzt das allerdings auch voraus, dass diejenigen, die Kinder vorbereiten, ebenfalls in der Welt leben. Ich kann nicht erkennen, dass der Konstruktivismus zu diesem Vorbereitungsprozess wesentlich beiträgt.

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Levisohn und Phillips, dann werde jegliche rationale Argumentführung potenziell untergraben, einschließlich die von Multikulturalisten verwendeten Argumente (ebd., S. 42). Um begriffliche Klarheit zu schaffen, unterscheiden Levisohn und Phillips zwischen den folgenden normativen und deskriptiven Denkansätzen in der Verwendung des Epistemologie-Begriffs: 1. die Epistemologie als ein normatives Befragungsgebiet 2. die Epistemologie als eine normative Erkenntnistheorie 3. die Epistemologie als eine Beschreibung des Meinungserwerbs von Menschen 4. die Epistemologie als eine Beschreibung eines Meinungskatalogs. Der erste Ansatz bezieht sich auf den klassischen philosophischen Wissensbegriff. So erklärt Sokrates in Platons Menon: „Die richtigen Vorstellungen sind eine schöne Sache, so lange sie bleiben, und bewirken alles Gute, lange Zeit aber pflegen sie nicht zu bleiben, sondern gehen davon aus der Seele des Menschen, so dass sie doch nicht viel wert sind, bis man sie denkend bindet durch die Erkenntnis des Grundes […] Nachdem sie aber gebunden werden, werden sie zuerst Erkenntnisse und dann doch bleibend. Und deshalb nun ist die Erkenntnis höher zu schätzen als die richtige Vorstellung, und es unterscheidet sich eben durch das Gebundensein die Erkenntnis von der richtigen Vorstellung […]. Wiewohl ich auch dies keineswegs sage, als wüsste ich es, sondern ich vermute es nur. Dass aber richtige Vorstellung und Erkenntnis etwas verschiedenes sind, dies glaube ich nicht nur zu vermuten, sondern, wenn ich irgendetwas behaupten möchte zu wissen, und nur von wenigem möchte ich dies behaupten, so würde ich dies eine hierher setzen unter das, was ich weiß.“ (Platon 1856a, 97St.2A–98St.2A)

Und in Platons Theaitetos lautet die (rhetorische) Frage: „Denn was sollte auch die Erkenntnis sein ohne die Erklärung und richtige Vorstellung?“ (Platon 1856b, 202St.1A) Hier wird also unterschieden zwischen Wissen (Erkenntnis) und Glauben (Vorstellung, Meinung), zwischen bloßem Glauben und berechtigtem (begründetem) Glauben, und zwischen einem wahren Glauben und einem Glauben, der nicht nur wahr, sondern auch berechtigt (begründet) ist. Die Fragestellung ist hier im Wesentlichen normativ. Zum Beispiel geht es hier um das Auswerten von Meinungen und Meinungsstrategien; welche Meinungen (Vorstellungen) glaubwürdig genug sind, so dass danach gehandelt werden kann; darum, wie Forscher ihre Untersuchungsergebnisse oder Befunde validieren sollen, welche Formen der Argumentführung und der Rechtfertigung akzeptabel sind, und wer als epistemische Autorität gilt. Um gleich einer möglichen Kritik zuvorzukommen: es handelt sich hier nicht um ein wesentlich oder ausschließlich „westliches“ Wissensverständnis. Auch in Yoruba gibt es eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen gbàgbó (Glauben/ Meinung; dem subjektiven, privaten oder persönlichen Wissensbestandteil) und mò, d. h. theoretischem bzw. propositionalem Wissen. Wie Barry Hallen und J.O. Sodipo zum Beispiel feststellen, „gbàgbó that may be verified is gbàgbó that may become mò. Gbàgbó that is not open to verification and must therefore be evaluated on the basis of justification alone (àlàyé, papò, etc.) cannot become mò and consequently its òótó [Wahrheit] must remain indeterminate.“ (Hallen und Sodipo 1997, S. 81).

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Der zweite Punkt bezieht sich auf unterschiedliche Epistemologien innerhalb der philosophischen Tradition. Levisohn und Phillips stellen Empirizismus, Rationalismus und Positivismus (also Beispiele des erkenntnistheoretischen Fundamentalismus) dem Pragmatismus und anderen Formen des Antifoundationalismus gegenüber. Auch hier handelt es sich jeweils um einen normativen Denkansatz. Die Koexistenz der verschiedenen Theorien lässt sich dadurch erklären, dass die Philosophen noch immer darüber streiten – wobei aber Konsens darüber herrscht, dass nur eine Position richtig sein kann. Dies ist allerdings bei „multikulturellen Epistemologien“ nicht der Fall – welche laut ihrer Verfechter alle gleichermaßen respektabel und gültig seien. Die dritte übliche Verwendung von „Epistemologie“ – wie Menschen dazu kommen, etwas zu glauben – hat eine grundsätzlich deskriptive Funktion. Sie ist eher ein Teil der Wissenssoziologie (die eigentlich als „Glaubenssoziologie“ bezeichnet werden sollte) und der Lernpsychologie als der Philosophie. Der vierte Sinn von „Epistemologie“ ist ebenfalls deskriptiv. Hier gehe es um die Beschreibung der Inhalte von Meinungen, die von verschiedenen Gruppen und Gemeinschaften vertreten werden. Der Begriff „multikulturelle Epistemologien“ beziehe sich auf die unterschiedlichen Vorstellungen und Meinungen verschiedener ethnischer oder kultureller Gruppen (vgl. Levisohn und Phillips 2012, S. 54). Im deskriptiven Sinne ist dieser Begriff unproblematisch – angesichts der Interpretation von Epistemologien als Glaubenssysteme oder Meinungskataloge. Normativ betrachtet kann die Existenz unterschiedlicher (z. B. „multikultureller“) Epistemologien allerdings nicht bestätigt werden.4

3 Was ist „epistemologische Vielfalt“? Harvey Siegel untersucht eine Anzahl gängiger Verwendungen des Begriffs der „epistemologischen Vielfalt“. So kennzeichnet dieser Begriff 1. Glauben und Glaubenssysteme 2. methodologische Vielfalt, d. h. unterschiedliche Forschungsmethod(ologi)en 3. eine Vielfalt an Forschungsfragen 4. die Vielfalt der Forscher und deren Kulturen 5. Epistemologien und epistemologische Sichtweisen. Obwohl der Epistemologie-Begriff in den ersten vier genannten Beispielen vertretbarerweise als unzutreffend bezeichnet werden kann (von den Philosophen wird

4Dieser argumentative Faden ist auch bei Phillips erkennbar (Phillips 2012). In seinem Beitrag liefert er einen kritischen Überblick über einige repräsentative Darstellungen von „multikultureller Epistemologie“, die eines Missbrauchs des Epistemologie-Begriffs zu bezichtigen sind.

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er in keiner dieser Formen verwendet), ist gegen die diesbezügliche Verwendung von „Vielfalt“ nichts einzuwenden. Glauben und Glaubenssysteme variieren, sind teilweise höchst unterschiedlich, wie auch Forschungsfragen und Forschungsmethoden (wobei Siegel darauf hinweist, dass dies nicht als methodologischer Relativismus verstanden werden soll5). Ebenso gibt es enorme Variationen in den Biografien der Forscher, ihren individuellen, sozialen und kulturellen Identitäten, ihren Interessen, Zielen und Prioritäten. Die thematisierte „Vielfalt“ ist dagegen erheblich kontroverser und problematischer mit dem Verweis auf „Epistemologien und epistemologische Sichtweisen“. Dies, so Siegel, treffe den Kern der Sache (vgl. Siegel 2012, S. 73). Laut Pallas und diversen anderen Autoren ist eine kritische Beurteilung der verschiedenen epistemologischen Perspektiven unmöglich und – falls dies doch möglich wäre – weder wünschenswert noch angemessen. Die Frage stellt sich allerdings, warum dies so sein sollte. Siegel beleuchtet diese Auffassung aus verschiedenen Blickwinkeln: • Ist es epistemologisch suspekt, die Epistemologie einer Wissensgemeinschaft, eines Forschungsansatzes oder einer subalternen Gruppe zu kritisieren (ebd., S. 75)? Das sei nicht offensichtlich, meint Siegel. Epistemologien, die es verdienen, als legitime erkenntnistheoretische Alternativen betrachtet zu werden, müssen sich nach dem Geben-und-Nehmen-Prinzip im Gelehrtenstreit beweisen. Einige überstehen eine solche Auseinandersetzung, andere nicht (ebd.). Des Weiteren ist es äußerst fraglich, ob Epistemologien solchen Gemeinschaften oder Gruppen eins zu eins zugeordnet werden können – angesichts der beträchtlichen Abweichungen und Unterschiede innerhalb dieser Gemeinschaften, Gruppen und Untergruppen. Siegel sieht in einer solchen Zuordnung einen problematischen Essenzialismus (ebd., S. 78). • Ist es moralisch suspekt, die Epistemologie einer Wissensgemeinschaft, eines Forschungsansatzes oder einer subalternen Gruppe zu kritisieren (ebd.)? Selbst wenn es möglich wäre, verschiedenen Gemeinschaften, Gruppen und Untergruppen „Epistemologien“ zuzuordnen, wäre Kritik nicht moralisch verwerflich. Ganz im Gegenteil: die Ideen und Gedanken anderer zu respektieren heißt auch, sie ernst zu nehmen, indem man sie kritisch überprüft und hinterfragt, statt sie unbeachtet zu lassen oder zu ignorieren. Wenn kritische Beurteilung außerdem einschlägigen moralischen Prinzipien folgt, d. h. wenn sie unvoreingenommen, neutral (im Sinne von „lokaler“ und nicht „globaler“ Neutralität), rational und ohne Zirkelschluss vorgeht, dann ist es schwierig, solche Kritik als moralisch suspekt zu erachten.

5So

behauptet zum Beispiel Dani Nabudere, das übergreifende Ziel der panafrikanischen Universität solle die Beschaffung von Bildungsmöglichkeiten für Studierende und erwachsene Lernende im Kontext einer Afrika-basierten Epistemologie und Methodologie sein (vgl. Nabudere 2003, S. 1; s. auch S. 8 ff. und 23). Siegel geht es darum, aufzuzeigen, dass zwingende Urteile über die Qualität konkurrierender Forschungsmethod(ologi)en möglich sind. Einige sind besser als andere und manche sind schlicht ungültig bzw. unzulässig.

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• Ist eine derartige Kritik zwangsläufig ein Machtmissbrauch (ebd., S. 79)? Anders ausgedrückt, sind diese moralischen Prinzipien und Kriterien (Neutralität, Rationalität usw.) nicht an sich von der herrschenden gesellschaftlichen Gruppe entworfen und festgelegt worden? Laut Siegel allerdings erfolgt auch die Ablehnung des hegemonialen Machtmissbrauchs auf der Basis von kritischer Beurteilung und zwingender Argumentation. Es sei äußerst fraglich, ob die Ablehnung von Hegemonialansprüchen, die Kritik an den dominanten sozialen Machtstrukturen6 kohärent und konsequent sein kann, wenn die Befürworter alternativer Epistemologien sich weigern, diese Werkzeuge etablierten philosophischen Denkens zu verwenden (ebd., S. 80). • Ist es pragmatisch suspekt, die Epistemologie einer Wissensgemeinschaft, eines Forschungsansatzes oder einer subalternen Gruppe zu kritisieren (ebd., S. 81)? Sollten Bildungsforscher sich nicht so weit wie möglich mit aller verfügbaren Forschung auseinandersetzen können – ganz egal, ob es sich dabei um etablierte oder um alternative Forschungsarbeiten geht? Andererseits ist solch ein allumfassendes Engagement vielleicht aus gleichermaßen pragmatischen Gründen abzulehnen – z. B. mangelnder Wahrheitsgehalt, Praxisferne und Zeitmangel. Problematisch wird der Aufruf zur epistemologischen Vielfalt, wenn dadurch die Grenzen zwischen epistemologischem Pluralismus und epistemologischem Relativismus verwischt werden. Dies könne dem wichtigen Projekt der Hochschulbildung zukünftiger Bildungsforscher nur schaden, meint Siegel (ebd., S. 83). Wajcman (2004) thematisiert zum Beispiel zwar die Dimension des epistemologischen Relativismus, problematisiert diese allerdings nicht. Stattdessen plädiert sie für epistemologische Vielfalt und auch für die Koexistenz mehrerer, parallel existierender Wahrheiten. Im folgenden Teil befasse ich mich mit dem Relativismusproblem, vor allem vor dem Hintergrund der feministischen Epistemologiekritik und insbesondere der feministischen Standpunktepistemologie.

4 Feministische Epistemologiekritik und das Relativismusproblem In Gesellschaften, die nach Rasse, Ethnizität, Klasse, Sexualität oder ähnlich politisch geschichtet sind, hängen Erkenntnisgewinnung und Erkenntniszuwachs von der Position innerhalb gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse ab. Laut Sandra Harding ist dies der Ausgangspunkt der Standpunkttheorie: es gebe bessere und schlechtere Standpunkte, von denen aus die Welt betrachtet und interpretiert werden könne. Weil alle Wissensversuche sozial situiert seien, sei die Perspektive einer beherrschten Gruppe für eine objektive Wahrnehmung und Beurteilung

6Ein

Beispiel solcher Ablehnung und Kritik findet man bei Lorraine Code (2012, S. 93).

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besser geeignet als der Blickwinkel vom Standpunkt einer herrschenden Gruppe (vgl. Harding 2002, S. 357). Zum Letzteren zählt Harding auch die grundlegenden Behauptungen des naturwissenschaftlichen Weltbildes und des westlichen Denkens, nach welchem die Naturwissenschaften das Modell für Wissensproduktion liefern (ebd., S. 359). Forschungsarbeiten, die von den Leben von Frauen ausgehen, bringen laut Harding ein weniger einseitiges und verzerrtes Bild hervor, nicht nur von Frauenleben, sondern auch von Männerleben und von der gesamten sozialen Ordnung. Warum dies aber so sein sollte, wird von Harding nicht weiter belegt oder illustriert. Sie behauptet, die Leben und Erfahrungen von Frauen liefern die Grundlage dieses Wissens, obgleich sie zugibt, dass dieses nicht mit den Wissensfundamenten im traditionellen philosophischen Sinne identisch ist (ebd., S. 359–360). Ferner weist Harding den Vorwurf einer notwendigen Nähe der Standpunkttheorie zum Relativismus zurück: Judgmental (or epistemological) relativism is anathema to any scientific project, and feminist ones are no exception. … Sociological relativism permits us to acknowledge that different people hold different beliefs, but what is at issue in rethinking objectivity is the different matter of judgmental or epistemological relativism. Standpoint theories neither hold nor are doomed to it. Both moral and cognitive forms of judgmental relativism have determinate histories; they appear as intellectual problems at certain times in history in only some cultures and only for certain groups of people. Relativism is not fundamentally a problem that emerges from feminist or any other thought that starts in marginalized lives; it is one that emerges from the thought of the dominant groups (Ebd., S. 364–365). Es mag stimmen, dass das Relativismusproblem nicht aus dem feministischen Denken hervorgegangen ist oder aus irgendeiner anderen Denkweise, deren Ursprung in marginalisierten Leben liegt. Das heißt aber nicht, dass es für diese Ansätze keine Herausforderung darstellt. Des Weiteren verweist Harding auf die Arbeit von Mary G. Belenky und ihren Kollegen (Belenky et al. 1986), laut welcher die Redewendung „Meiner Meinung nach“ (oder „Meines Erachtens“) von unterschiedlicher Bedeutung für die in ihrer Studie vertretenen jungen Männer und Frauen ist. Für Männer bedeute dies so viel wie „Ich habe ein Recht auf meine Meinung“, während Frauen damit „Es ist nur meine Meinung“ meinen. Doch selbst wenn man die „Beweiskraft“ dieser Studie akzeptiert7, so reicht das immer noch nicht für Pauschalurteile über die soziale Situationsgebundenheit von Wissen und Wahrheit. Wie schon Levisohn und Phillips gegenüber selbsterklärten Standpunktisten wie Harding anmerken, selbst wenn die unterschiedlichen kulturellen Standpunkte in der Wissenskonstruktion

7Es gibt gute Gründe dies zu bezweifeln (vgl. Haack 2015, S. 125). Die Autoren hatten ihre Probandinnen bereits vor den Interviews darüber informiert, dass sie an einer Studie mit dem Ziel teilnehmen, mehr über ihre einzigartig weiblichen Wissenswege zu erfahren. Dies legt die Beeinflussung der Antworten durch die Autoren nahe.

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eine wesentliche Rolle spielen, so halten wir uns doch alle an dieselben normativen epistemischen Regeln (vgl. Levisohn und Phillips 2012, S. 61). Lorraine Code sieht in der feministischen Kritik an der Erkenntnistheorie, der Wissenschaftstheorie und den Sozialwissenschaften einen Beweis dafür, dass die Ideale des autonomen logisch Denkenden – des entorteten, desinteressierten Beobachters – und die von ihnen durchdrungenen Erkenntnistheorien die Artefakte einer kleinen privilegierten Gruppe gebildeter, wohlhabender weißer Männer seien (vgl. Code 2012, S. 91). Das ist nicht unbedingt naheliegend, ließe sich hierauf entgegnen, denn zum einen existiert weder eine derart homogene Gruppe, noch hat sie jemals existiert. Zum anderen ist eine der wenigen Angelegenheiten (wenn nicht sogar die einzige), über die sich die Erkenntnistheoretiker einig sind, der grundsätzliche Unterschied zwischen Wissen und Glauben. Letzteres ist ein Teil des Wissens, seine subjektive Komponente. Die objektive Komponente, der Anker des propositionalen Wissens oder „Wissens-dass“ ist die Wahrheit. Es stellt sich also die Frage, ob die Feminist(inn)en diesen Unterschied kohärenter- und konsequenterweise ablehnen können. Codes Argument gegen die „traditionellen ‚S-weiß,-dass-p‘-Epistemologien mit ihren Idealen der reinen Objektivität und der Wertneutralität“ (ebd., S. 85, 86) lautet, dass die Erkenntnistheorie erheblich anders aussehen würde, wenn sie von Fällen des „Kennens“ ausgehen würde, bei denen die Subjektivität und Positionalität des Wissenden (des „Kennenden“) epistemisch relevant sind. Aber sind Subjektivität und Positionalität in den meisten epistemisch wichtigen Nachforschungen wirklich von Bedeutung? Eher nicht, vermute ich – ohne die gelegentliche Wichtigkeit von Kenntnis dadurch schmälern zu wollen. Code schreibt: “A realistic commitment to achieving empirical advocacy that engages situated analyses of the subjectivities of both the knower and (where appropriate) the known is both desirable and possible” (ebd., S. 97). Ihre diesbezügliche Fallstudie, John Philippe Rushtons empirische Untersuchung der angeblichen kognitiven Überlegenheit von Orientalen gegenüber Weißen und von Weißen gegenüber Schwarzen (vgl. Rushton 2000), veranschaulicht allerdings nicht, was und wie sie es intendiert. Entgegen ihrer Behauptung entkräftet die Aussage „Rushton weiß, dass Schwarze kognitiv unterlegen sind“ keineswegs die ­„S-weiß-dass-p“-Formel. (Wenn Rushton dies wüsste, dann wäre es müßig, sich über den Wahrheitsgehalt der Aussage zu streiten bzw. zu ereifern. Er weiß es aber eben nicht.) So gesehen wäre „Rushton behauptet zu wissen, dass Schwarze kognitiv unterlegen sind“ die entsprechende Wiedergabe.8 Es wäre auch eine

8Auch dies scheint allerdings eine unrichtige Zuschreibung zu sein, d. h. sie wird Rushtons Ansichten nicht gerecht. Als dieser 1989 während einer live ausgestrahlten Fernsehdebatte an der University of Western Ontario gefragt wurde, ob er an Über- bzw. Unterlegenheit nach rassischen Kriterien glaube, wies er dies entschieden zurück. Er fügte hinzu, von einem evolutionären Blickpunkt könne Überlegenheit nur Anpassungswert bedeuten – wenn überhaupt. Wir müssen uns einfach vor Augen halten, dass eine jede dieser Bevölkerungsgruppen auf perfekte und schöne Weise an ihre eigene anzestrale Lebenswelt angepasst sei (vgl. Knudtson 1991, S. 187).

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Behauptung, die auf Grund von mangelndem Beweismaterial oder empirischer Unschlüssigkeit rasch aus dem Weg geschafft werden kann. Das heißt, der Wissensanspruch steht und fällt nicht nur mit dem Wahrheitsgehalt der Aussage, sondern auch mit der Begründung, die dafür bemüht werden kann.

5 Epistemische Ungerechtigkeit Malegapuru Makgobas Verweis auf die sich ständig verändernde und kompetitive Welt des Wissens, der Werte und Normen sowie seine Meinung, Wissen, Werte und Ideale seien immer und notwendigerweise die einer bestimmten Gesellschaft (vgl. Makgoba 2003, S. 1), lassen einen weitreichenden (epistemologischen, kulturellen und ethischen) Relativismus erkennen. So formuliert sind Makgobas Äußerungen über die sich ständig verändernde Welt des Wissens und über das Wissen als gesellschaftsabhängig logisch und epistemologisch fragwürdig. Sie müssen bezeichnenderweise, weil sie ja Wissensansprüche darstellen, ebenfalls als im Wandel begriffen bzw. als gesellschaftsabhängig verstanden werden. Ähnliches lässt sich über Annette Lansinks Harding-inspirierte Behauptung sagen, alles Wissen sei lokal und als kulturell bedingt zu verstehen (Lansink 2004, S. 133, Harding 1996). Ist diese Aussage demnach auch kulturbedingt? Wenn ja, warum sollten jene, die nicht zu Lansinks bzw. Hardings Kulturkreis gehören, von Äußerungen dieser Art beeindruckt sein? Oder liegt Lansinks Behauptung ein translokaler, transkultureller Wissensanspruch zu Grunde? Warum sollte es dann allerdings nicht auch anderes Wissen geben, das gesellschaftliche und kulturelle Lokalität überschreitet? Dazu kommt noch Folgendes: wenn Werte und Normen im Wesentlichen im Wandel begriffen bzw. gesellschafts- oder kulturabhängig sind, ließe sich über Menschenrechtsverletzungen, rassistische oder sexistische Gesinnungen und Taten, ganz zu schweigen von ungerechter Gesetzgebung in anderen Gesellschaften oder Kultursphären kein maßgebliches, universelles Urteil fällen. Andererseits wird von Makgoba und anderen postkolonialen Kritikern der moralische Imperativ des Respekts gegenüber der Werte und Normen anderer Kulturen als eindeutig transkulturell und unveränderlich verstanden – was somit Makgobas Behauptung widerspricht. Und wenn Demokratie und Gerechtigkeit tatsächlich nicht kulturgebunden sind (wie auch von De Sousa Santos et al. plausiblerweise angedeutet wird; 2007, S. xx), warum sollte es dann um propositionales Wissen nicht ähnlich bestellt sein? Warum sollte „Wissen-dass“ nicht auch soziale und kulturelle Bräuche und Verständnisse überschreiten? Nun stellt sich die Frage, ob die von mir vertretene Darstellung von Wissen und Epistemologie (und Skepsis gegenüber „epistemologischer Vielfalt“ bzw. damit zusammenhängender Begriffe wie „indigenes Wissen“ oder „lokale Wissensarten“) nicht auf epistemische Rechtsverweigerung hinausläuft. Ist dies nicht alles Teil eines verwerflichen hegemonialen Diskurses? Ein weiteres Beispiel ist vielleicht Siegels Reaktion auf Claudia Ruitenbergs Frage bezüglich der

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Epistemologien afrikanischer Ureinwohnerinnen9: “They’re not epistemologies. If students don’t understand that by the end of their graduate education, they haven’t been well educated” (Code et al. 2012, S. 138). Wird durch die Weigerung, hier von „Epistemologien“ zu sprechen, einheimischen Afrikanerinnen möglicherweise ein epistemischer Schaden zugefügt? Epistemische Ungerechtigkeit ist laut Miranda Fricker eine besondere Art von Ungerechtigkeit. Fricker unterscheidet zwischen zwei Arten, zwischen „Aussageungerechtigkeit“ und „hermeneutischer Ungerechtigkeit“, welche beide im Wesentlichen ein Unrecht bezeichnen, das einer Person in ihrer Kapazität als Wissende zugefügt wird (Fricker 2007, S. 1; s. auch S. 21). So spricht man von Aussageungerechtigkeit, wenn die Voreingenommenheit des Hörers dazu führt, den Aussagen der sprechenden Person verminderte Glaubwürdigkeit zuzuschreiben. Hermeneutische Ungerechtigkeit tritt bereits im Vorfeld auf: zum Beispiel ist eine Person, die auf Grund einer Leerstelle in den kollektiven interpretativen Ressourcen nicht in der Lage ist, die Bedeutung ihrer sozialen Erfahrungen zu verstehen, ungerecht benachteiligt (ebd., S. 1). Im Mittelpunkt von Frickers Analyse steht der Begriff der (sozialen) „Macht“, die definiert wird als sozial situierte Fähigkeit, anderer Menschen Handlungen zu beeinflussen und zu kontrollieren (ebd., S. 4; s. auch S. 13). Diese Art Macht dient dazu, eine bestimmte soziale Ordnung zu schaffen oder zu erhalten, und zeigt sich einerseits in verschiedenen Formen von Ermöglichung und andererseits in Nichtglaube, Fehlinterpretation und erzwungenem Schweigen. Ferner führt diese Macht dazu, Menschen auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu einer gewissen Gruppe entweder ein Glaubwürdigkeitsübermaß oder ein Glaubwürdigkeitsdefizit zu verleihen (ebd., S. 21). Die vorrangige Charakterisierung von Aussageungerechtigkeit ist im Wesentlichen eine Sache des Glaubwürdigkeitsdefizits und nicht des Glaubwürdigkeitsüberschusses (ebd.). Frickers Interesse gehört besonders der „Identitätsmacht“ und den von dieser durch die Manifestation identitätsbedingter Vorurteile verursachten Schäden. An den Letzteren liegt es, dass gewissen Personen auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe die Glaubwürdigkeit abgesprochen wird. So beinhaltet die Aussageungerechtigkeit eine Ablehnung der Glaubwürdigkeit ihrer Wissensansprüche, während die hermeneutische Ungerechtigkeit einem allgemeinen Versagen entspringt, die für das Verstehen und Interpretieren dieses Wissens notwendigen kognitiven Ressourcen verfügbar zu machen und zu ordnen. Im Ergebnis werden diese Menschen in ihrer Selbstentwicklung und dem Erlangen umfassender Menschenwürde behindert. „Sie werden daran gehindert, zu werden wer sie sind“ (ebd., S. 5). In weißen patriarchalischen Gesellschaften können derartige epistemische Erniedrigungen10 (ebd., S. 51) das Selbstvertrauen von (schwarzen

9Diese

Roundtable-Diskussion fand im April 2010 in San Francisco statt; vgl. Code et al. (2012, S. 137). 10Fricker übernimmt diesen Begriff von Simone de Beauvoir.

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oder weiblichen) angehenden Wissenden darin zerstören, eben jene vertrauensvollen Gespräche zu führen, die gut funktionierende epistemische Gemeinschaften kennzeichnen (ebd., S. 52–53). Laut Fricker hemmen sie sogar die Selbstbildung (ebd., S. 55). Obwohl Aussage- und hermeneutische Ungerechtigkeit individuell erfahren und praktiziert werden, erzeugen sie nicht nur individuellen Schaden. Sie entspringen jenem sozialen Gefüge, das von der Befangenheit und Voreingenommenheit gekennzeichnet ist, die diese Ungerechtigkeiten beleben und aufrechterhalten. Sich dagegen aufzulehnen erfordert einen kollektiven sozialen und politischen Wandel (ebd., S. 8). Glaubwürdigkeit wird bekanntlich von Vorurteilen maßgeblich beeinflusst. Beruht Skepsis gegenüber epistemologischer Vielfalt auf derartigen Vorurteilen? Und ist diese Skepsis nicht bezeichnenderweise ein Teil von hegemonialen Diskursen? Louise Antony rät Männern zu positiver epistemischer Diskriminierung: wenn eine Frau oder ein anderes Mitglied einer stereotypisierten, marginalisierten Gruppe etwas Außergewöhnliches sagt, solle der Mann annehmen, er ist es, der nichts versteht – und nicht, dass die jeweilige sprechende Person „bescheuert“ ist (vgl. Antony 1995, S. 8911). Fricker dagegen erachtet eine derartige inhaltsübergreifende Strategie der positiven epistemischen Diskriminierung nicht zwingend für gerechtfertigt. Die beste Art und Weise, den Entschädigungsvorsatz zu würdigen, sei in Form eines unbestimmten kontextsensitiven Urteilsvermögens – in der Form einer Tugend (vgl. Fricker 2007, S. 171). Wann darf demnach ein weißer Mann behaupten, dass eine Frau oder ein anderes Mitglied einer stereotypisierten, marginalisierten Gruppe „bescheuert“ ist – wenn er es überhaupt jemals darf? Zwingt mich die epistemische Gerechtigkeit folglich, mit meiner Meinung zurückzuhalten, ständig der Glaubwürdigkeit anderer gegenüber aufgeschlossen zu sein, nie zu kritisieren? Wenn ein Glaubwürdigkeitsdefizit epistemische Ungerechtigkeit beinhaltet, warum sollte dann ein Glaubwürdigkeitsübermaß (wodurch bislang „epistemisch erniedrigte“ Menschen überhöhte Glaubwürdigkeit erhalten) nicht auch epistemisch schädlich sein? Im Grunde genommen (und das betrifft auch Siegels Antwort auf Ruitenbergs Einwand bezüglich der Epistemologien einheimischer Afrikanerinnen) gibt es sicher einen Unterschied zwischen Kritik an den Aussagen einer Person mit der bloßen Begründung, dass sie schwarz und/oder eine Frau ist, und Kritik an den Aussagen einer schwarzen und/oder weiblichen Person mit der Begründung, dass ihr Denken fehlerhaft oder trugschlüssig ist. Unsinn ist kein kultur-, rassen- oder geschlechtsspezifisches Phänomen. In der Tat, obwohl Fricker ein Prinzip der Schadensvermeidung in den Vordergrund zu stellen scheint (ebd., S. 85), erachtet sie doch die „vulgärrelativistische“ Weigerung, die Gepflogenheiten anderer Kulturen moralisch zu bewerten oder zu beurteilen, als „inkohärent“ (ebd., S. 106).

11Antony

verwendet den Begriff “nuts”.

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6 Der Wert der Verschiedenartigkeit in der Erkenntnistheorie Emily Robertson hat unlängst die Verschiedenartigkeit als eine epistemische und moralische Tugend bezeichnet. Allerdings bekräftige dies Argument nicht alternative Epistemologien, kognitiven Relativismus oder die Verdrängung von Wahrheit als epistemisches Ziel von Vorstellungen mit progressiven Konsequenzen (vgl. Robertson 2013, S. 300). Der Wert der Verschiedenartigkeit in der Erkenntnistheorie liege in der Möglichkeit, dass die unterschiedlichen Erfahrungen verschiedener Gruppen dazu führen, dass sie Dinge glauben und wissen, auf die andere nicht achten. Die Berichte dieser Erfahrungen mögen als Daten dienen, welche Forschern die Untersuchung des gegebenen sozialen Systems oder der sozialen Struktur von ihrem sozialen Standort aus ermöglichen (ebd., S. 304). Während es vermutlich ein Irrtum der postkolonialen Theorie ist, von verschiedenartigen Wissen (knowledges) und Wahrheiten auszugehen, wird die betreffende Vielfalt möglicherweise von praktischen epistemischen Prioritäten erzeugt – Prioritäten, die verschiedenartigen (individuellen, aber auch sozialen und kulturellen) Lebenserfahrungen entstammen. Eine plausible Ansicht besagt, dass Wissen und Wahrheit nicht schwanken, dass sie über Individuen, Gesellschaften und Kulturen hinaus gleichbleiben – dass es jedoch ausgeprägte epistemische Belange geben mag, die aus bestimmten persönlichen, historischen und soziokulturellen Lebensverhältnissen entstehen. Wenn es stimmt, dass praktische epistemische und pädagogische Prioritäten aus Lebenserfahrungen hervorgehen und auch daraus, wie diese sozial artikuliert werden, dann lässt sich annehmen, ausgehend von den verschiedenartigen Lebenserfahrungen der Menschen weltweit, dass die praktischen epistemischen Prioritäten unterschiedlich und vielfältig ausfallen werden. Zum Beispiel, wie Elizabeth Anderson es formuliert hat: „No one disputes that personal knowledge of what it is like to be pregnant, undergo childbirth, suffer menstrual cramps, and have other experiences of a female body is specific to women. Gynecology has certainly progressed since women entered the field and have brought their personal knowledge to bear on misogynist medical practices. The claims get more controversial the more global they are in scope. Some people claim that women have gender-typical “ways of knowing”, styles of thinking, methodologies, and ontologies that globally govern or characterize their cognitive activities across all subject matters. For instance, various feminist epistemologists have claimed that women think more intuitively and contextually, concern themselves more with particulars than with abstractions, emotionally engage themselves more with individual subjects of study, and frame their thoughts in relational rather than an atomistic ontology […] There is little persuasive evidence for such global claims.“ (Anderson 2002, S. 325)

Interessanterweise ist Anderson auch nicht der Annahme, dass Theoretikerinnen einen gemeinsamen weiblichen Unterschied in alle Wissensbereiche einbringen (ebd., S. 326). Geht man, um eine weiteres Beispiel zu nennen, von ihrer Erfahrung eines weitreichenden Glaubwürdigkeitsdefizits aus, dann leuchtet ein, dass einst marginalisierte Afrikaner (z. B. afrikanische Philosophen und Wissenschaftler)

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epistemischer Transformation und Wiedergutmachung Priorität einräumen. Wenn epistemische und pädagogische Belange und Prioritäten aus verschiedenen sozialen Lebensformen entstehen, dann bedürfen jene der besonderen Aufmerksamkeit, die aus einem undemokratischen, hierarchischen System hervorgegangen sind. Angesichts der (besonders brutalen) physischen und psychischen Kolonialisierung auf dem afrikanischen Kontinent ist es einleuchtend, dass eins der epistemologischen und pädagogischen Hauptanliegen sein muss, der Entwicklung einer Sklaven-Mentalität und auch einer Opfer- und Bettler-Mentalität entgegenzuwirken – trotz der anhaltenden ökonomischen Krise und niedrigem Wirtschaftswachstum. Eine weitere Priorität entspringt Afrikas niedrigen Alphabetisierungs-Quoten. In vielen Ländern ist die Konzeptualisierungs­ und Bildungssprache die offizielle Amtssprache (Englisch, Französisch oder Portugiesisch), in der die große Mehrheit der Kinder und Lernenden keinerlei Primärkompetenzen besitzen und die nicht mit der Muttersprache bzw. der Verkehrssprache identisch ist. Infolgedessen gibt es nur wenige Lernerfolge; die Qualität und Effizienz des Unterrichts leiden; die Zahl der Wiederholer bzw. Schul- und Studien-Abbrecher ist vergleichsweise extrem hoch und bedeutet eine Verschwendung von verfügbaren Ressourcen. Während gewisse historische und sozioökonomische Rahmenbedingungen zum Beispiel den Begriff einer afrikanischen Epistemologie nicht automatisch validieren oder rechtfertigen, ist dennoch die Vorstellung der mentalen Entkolonialisierung von besonderer Plausibilität. Die Dekolonialisierung des afrikanischen Geistes bedeutet aber keine postfaktische Epistemologie, keine Ablehnung „westlicher“ oder „abendländischer“ Logik und Rationalität, sondern beinhaltet im Nachdenken über das Denken eine Rückkehr zur eigenen Sprache, die Betrachtung der eigenen Konzeptualisierung und Formen begrifflicher Darstellung, und damit auch eine Annäherung an die Philosophie (vgl. Wiredu 2008). Sind diese Überlegungen stichhaltig, dann bedeutet „epistemologische Vielfalt“ weder eine Vielzahl von Wahrheiten noch eine „Alles-ist-erlaubt“-Auffassung von Rechtfertigung und Wissen, sondern die an gewisse soziale und geografische Orte geknüpften unterschiedlichen Erfahrungen, bzw. die verschiedenartigen sozialen Bahnen zum Wissen (vgl. Robertson 201312). In diesem Sinne ist der Verweis auf „Epistemologien“, wie auch auf „pluralische Wissenssysteme“ (vgl. De Sousa Santos et al. 2007, S. xxxix) oder subalterne, indigene oder lokale Wissensformen, nicht nur wenig hilfreich, sondern auch irreführend. Das Versprechen einer Sozialepistemologie13 für das wirkliche Leben hat teilweise mit Kontext und Örtlichkeit zu tun, aber nicht im Sinne einer ausschließenden Nichteinmischungspolitik. Es ist eher anzunehmen und auch vertretbar, dass die besonderen historischen, geografischen und soziokulturellen Erfahrungen von Menschen und Gruppen zu bestimmten Prioritäten führen,

12Zu

beachten ist hier die Verwendung des Singulars von „Wissen“. Sozialepistemologie befasst sich mit den sozialen und interpersonalen Praktiken und Normen, die das Streben nach Erkenntnis bzw. den Erwerb von Wissen beeinflussen.

13Die

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die ihre epistemologische Theorie und Praxis gestalten – und dabei erkenntnistheoretische Werkzeuge hervorbringen, welche die Erkenntnistheorie im Ganzen zu bereichern in der Lage sind.

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„Epistemologische Vielfalt“ – Bildungstheoretische Überlegungen

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„Alles, was man wissen muss!“ – Macht Bildung glücklich? Volker Steenblock

Πάντες ἄνθρωποι τοῦ εἰδέναι ὀρέγονται ϕύσει Aristoteles (Met I 1, 980a) „Bildung schließt noch eine andere Dimension von Glück auf: die gesteigerte Erfahrung von Gegenwart beim Lesen von Poesie, beim Betrachten von Gemälden, beim Hören von Musik. Die Leuchtkraft von Worten, Bildern und Melodien erschließt sich nur demjenigen ganz, der ihren Ort in dem vielschichtigen Gewebe aus menschlicher Aktivität kennt, die wir Kultur nennen“ Peter Bieri (Bieri, Wie wäre es, gebildet zu sein? Zitiert nach Lessing, Steenblock 2013, S. 217)

Der Begriff der Bildung, den die Philosophie selbst maßgeblich entwickelt hat, vermag eine besondere Vermittlung von orientierungsbemühtem Subjekt und objektiven Wissensgehalten zum Ausdruck zu bringen. Wenn man Philosophiedidaktik im Zeichen eines Konzeptes Philosophischer Bildung versteht, wie ich dies tun möchte (Überblick: Steenblock 2015), bedeutet das, den Philosophiebegriff selbst in einer ebenso eigentlich philosophischen wie zugleich pädagogischen Intention so herauszuarbeiten, dass unsere unvertretbare, je individuelle Orientierung zu einem integralen Kennzeichen des Philosophierens wird. Das schließt selbstverständlich die Tradition der Philosophie in der Ideengeschichte, ihre Kooperation mit den aktuellen Fachwissenschaften und ihre eigene gegenwärtig immer mehr fachspezialisierte Entwicklung nicht aus, hält

V. Steenblock (*) Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Thein, Philosophische Bildung und Didaktik, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_7

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aber an einer Fokussierung des Philosophiebegriffs fest, die weder im einen noch im anderen aufgeht. Philosophische Bildung bezieht vielmehr Ideengeschichte wie Fachwissenschaft zurück auf jenes Anliegen einer reflexiv bündelnden und zusammenführenden grundsätzlichen Selbst- und Weltdeutung, welches von Anfang mit unserem Metier verbunden ist. Die Philosophiedidaktik steht ihrem grundsätzlichen Ort nach damit am Ursprung des Philosophierens selbst. Sie „pädagogisiert“ keine Gehalte, zu denen sie hinzuträte, sondern sie reflektiert für unser Fach die Bildung des Denkens, wo immer es entsteht, und dient seiner Entwicklung als Menschenrecht. Entsprechend sieht die Philosophiedidaktik im Philosophieren ein allgemein zu realisierendes und grundlegendes Humanum. Ich führe diesen Begriff philosophischer Bildung im Folgenden zunächst einleitend etwas näher aus (1) und diskutiere dann zweitens die Sentenz „Alles, was man wissen muss“, die ja wie eine unglücksverheißende Drohung wirken kann, sollte man über ein solches Wissen womöglich nicht verfügen (2). Entgegen dieser scheinbaren Drohung lässt sich die Frage, ob Bildung glücklich machen kann (3), alsdann unbedingt bejahen (4): Unsere Selbst- und Weltorientierung geschieht nach Anlage des Menschen (Aristoteles: „ϕύσει“), ja geradezu als Lebensziel des Menschen, insofern er ein Vernunftwesen ist. Zu enden ist freilich mit einem memento mori. Dieses macht – wie schon die Glückserwägung – deutlich, dass Bildung in letzter Instanz bei aller Bedeutung des Wissens über dieses weit hinausgeht: Bildung hat Züge von Lebensgestaltung und kann geradezu eine philosophische Lebensform bedeuten (5).

1 Was ist – philosophisch betrachtet – Bildung? Die Kraft der Bildung besteht, glaube ich, in der spezifischen Verbindung und Balance bestimmter konstitutiv wirkender Faktoren, die sich beständig aufeinander beziehen müssen, aneinander korrigieren und abarbeiten sollen, die aber vor allem einander beflügeln können. Ich zähle kurz, um die Eckpunkte einer Theorie philosophischer Bildung zu benennen, acht solcher Aspekte auf, deren Prozedieren als ein interaktiv sich vorantreibender Prozess zu verstehen ist. Hierzu gehört erstens der Rekurs auf uns selbst, auf die Bildungssubjekte (zu verstehen diesseits von jener Hypostase oder Demontage, welche die Theoriegeschichte beide ihnen hat angedeihen lassen). Bildung geht vom Subjekt aus und wirkt auf das Subjekt zurück. Hierzu gehört zweitens ein zugleich auch auf Praxis hinzielendes, nicht lediglich „theoretisches“ Anliegen. Bildung kann ihrem humanen Begriff nach nicht folgenlos im Leben und im Handeln sein. Und sie kann nicht elitär sein, sondern sie muss, das ist dann schon drittens, demokratisch sein; sie zielt auf die Humanität eines jeden Menschen überall dort, wo sie ihn erreicht. Weil Bildung menschliche Bildung ist, kann niemand ausgeschlossen werden, ohne ihren Begriff aufzuheben; ihre Perspektive ist genderbewusst, interkulturell und inkludierend.

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Die ­Bildungsperspektive ist zudem, viertens, interdisziplinär, Aspekte aus allen Bereichen menschlichen Wissens einbeziehend. Sie verbindet dabei die Orte des Lernens und weigert sich, sie je nur für sich zu betrachten. Es gibt nun freilich keine Bildung ohne Bildungsgehalte, d. h. ohne eine „materiale“ Seite, Objektseite, dies ist ein fünfter und zentraler Punkt. Bildung klingt insbesondere nach dieser Seite leicht wie Hochkultur und selbstverständlich sind zur Bildung Platon und Aristoteles, Shakespeare und Goethe, Kant und Habermas unerlässlich. Man verstellt sich jedoch durch bloße Hochkulturassoziationen den Blick auf das, was das Bildungskonzept als ein kulturelles Sinnangebot an jede und jeden Einzelne(n) konkret bedeuten kann. Es ist ein Anspruch, der an alle ergeht, auch wenn ihn nicht jede(r) hört. Bildung soll schließlich sechstens als Bewusstwerdungs- und Reflexionsbegriff in unserer Welt kultureller und politischer Konflikte und ambivalenter naturwissenschaftlich-technisch induzierter zivilisatorischer Entwicklungen ­ fungieren können. Eher als eine offene Frage ergibt sich dann siebtens zur Bestimmung des Begriffs eine Überlegung von großer geschichtsphilosophischer Tradition: Gibt es einen „Bildungsprozess“ der Gattung? Wenn ein Platon einst sein metaphysisches Bildungskonzept als Antwort auf die Krise der Polis konzipierte, Humboldt das seine auf die Krise seines Zeitalters, die in jener Französischen Revolution ihren Ausdruck fand, deren Augenzeuge er war, so stehen kulturelle L ­ ehr-Lernprozesse heute, im „Anthropozän“, wiederum in einer neuen Problemstellung. Bildung erscheint damit nicht zuletzt als Antwortversuch auf gesellschaftliche und kulturelle Transformationen: Sie steht an eben genau jener Stelle, an der bei jedem Projekt einer Arbeit an den Verhältnissen anzusetzen wäre, beansprucht sie doch immer auch eine Kompetenz, menschliche Verhältnisse zu beurteilen und einzurichten zu helfen. Bildung ist dabei als Arbeit am Logos, d. h. als ein anhaltendes, engagiertes und durchaus fortschrittsorientiertes Vernunftbemühen zu verstehen, das aber in keiner Weise „überzeitlich gültige“ Gehalte „wie auf einen Schlag“ in der Lebenswelt realisieren kann. Das bedeutet achtens, dass Bildung als Teil der Lebenswelt und als Teil der Kultur selbst eingelassen ist in die Prozesse, die auf den Begriff zu bringen, zu begleiten und womöglich zu steuern sie angetreten ist – in ihre Irrtümer wie in ihre Errungenschaften, Fortschritte und Hoffnungen. Nimmt man alle aufgeführten Aspekte der Bildung als Selbst- und Weltorientierung des Menschen zusammen, wird die besondere Rolle der Philosophie in der Bildung deutlich. Als Grundsatzreflexion steht sie gleichsam für die „Bündelung“ der Bildungsaspekte. Aus den benannten acht Punkten greift der folgende Abschnitt nun einen genauer auf: Ich frage nach dem materialen Aspekt der Bildung. Diesen hat man an der Wende zum 21. Jahrhundert in der in ihrer Lakonie erinnerungswürdigen Sentenz zusammengefasst: „Alles, was man wissen muss“. Das will erkennbar sagen: Es gibt Bildungsinhalte und -themen, die unverzichtbar sind. So sehr dies zweifellos stimmt, so sehr stört doch das auffallende „muss“. Denn wenn Bildung

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bei aller Arbeit, ohne die es Kultur nicht gibt, nichts weniger auch als Glück bedeuten soll, wie ich im anschließenden Abschnitt entwickeln möchte, muss es natürlich heißen: „…wissen will“.

2 Gibt es Bildungsinhalte und -themen, die unverzichtbar sind? „Alles, was man wissen muss“. Schon der Titel ist in seinem Spiel mit einem unangemessenen Zwang eine kalkulierte Provokation. Wäre der Hamburger Anglist und Buchautor Dietrich Schwanitz (1940–2004) nicht so unglücklich verstorben, so übernehme ich jedenfalls eine Formulierung aus dem Netz (nämlich alleinlebend Tage nach seinem Tod erst aufgefunden, vermutlich am 17. 12. durch Lungenembolie), würde man sagen: Dieser Satz ist hanebüchen, was – Bildung! – etymologisch von „Hainbuche“ kommt: grob und knorrig wie das Holz dieser Pflanze. Die schräge Wendung „wissen muss“ wird vom Autor Schwanitz mit einer ironischen Bildungssoziologie im Schlussteil eines gleichnamigen Buches begründet: „Bildung. Alles, was man wissen muss“. Da geht es u. a. um die Rolle der Sprache in der englischen Klassengesellschaft und um die Peinlichkeit, van Gogh für den Mittelstürmer der niederländischen Fußballnationalmannschaft zu halten (Schwanitz 1999, S. 396). Natürlich sollte man wissen, aber das ausschlaggebende Argument für das Wissen kann nicht seine Eignung zur Begründung gesellschaftlicher oder intellektueller Standeszugehörigkeit sein. Satire war bekanntermaßen die Stärke des Anglistikprofessors. Sein vergnüglicher Roman „Der Campus“, auch verfilmt, handelt von dem Soziologen Hanno Hackmann, dem die Affäre mit einer Studentin zum Verhängnis wird, eigentlich aber von einem genauen und unterhaltsamen Blick auf die Zustände im Soziotop „Universität“, also an dem Ort, an dem Wissen erzeugt wird. Wie alle gesellschaftlichen Orte hat auch dieser seine Absonderlichkeiten und der entlarvende Blick hinter die Kulissen zeigt, wie das „Muss“ nicht zu verstehen ist. Schwanitz sagt dann aber doch tatsächlich und durchaus ernsthaft, was zu wissen ist. Er führt auf knapp 400 Seiten durch antike Mythologie und Bibel, durch europäische und amerikanische Geschichte, durch Literatur, Kunst, Musik und Philosophie. Die Naturwissenschaften kommen kaum vor, man „muss“ offenbar den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik nicht kennen (ebd., S. 396).1 Gleichfalls nicht ohne Satire geht es Schwanitz in dem Einleitungs-Pamphlet seines Bildungsbuches um den Zustand der Schule, der genauso problematisch ist wie der der Universität.

1Eine

angemessene Wissenschaftsorientierung ist, wie sich versteht, dem entgegen unerlässlich. Dies umreißen Bettina Bussmann und Mathias Balliet in einschlägigen Arbeiten zum Thema (Bussmann 2014; Balliet 2015).

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Auch hier findet sich manch bleibend gültige Beobachtung, z. B. dazu, wie die Schulen durch ständige „Phantomerfindungen“ der Bildungspolitik in Unruhe gehalten werden (ebd., S. 28), die Lehrerausbildung übrigens auch. Und auf Seite 394 steht am Ende der schöne Satz: „Wenn die Kultur eine Person wäre, würde sie Bildung heißen“ (ebd.). Signifikant an der Jahrhundertwende gibt es noch eine zweite gewichtige Äußerung zum Bildungskanon. Manfred Fuhrmann (1925–2004), eine der renommiertesten Gestalten der deutschen Altphilologie, hat den „europäische[n] Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters“ (Fuhrmann 1999) beschrieben. Mit Liebe stellt dieses Buch dar, auf welchen Foren die Bildung sich entwickelte: in Antikerezeption und Gymnasium, Theater und Enzyklopädie, Konzert und Museum sowie natürlich durch die Philosophie: „Der bürgerliche Kanon war keine Ansammlung beliebiger, je für sich stehender Bereiche. Er war ein Ganzes, eine Struktur, ein Kosmos; seine Teile hingen miteinander zusammen und waren miteinander verbunden. Demgemäß hat das Gymnasium des 19. Jahrhunderts als das Rückgrat des Kanons nicht nur in die Bereiche eingeführt, die im Wesentlichen durch Lektüre erschlossen werden, in die Literatur, die Philosophie und die Geschichte, sondern auch in einen nicht geringen Teil dessen, was das Theater und das Museum darboten. Dies ist für das Drama und die Oper leicht ablesbar an Elisabeth Frenzels Stoffen der Weltliteratur…“ (Fuhrmann 2002, S. 70).

Wenn man Fuhrmann vortragen hörte, wirkte er kraftvoll und lebhaft, doch hat man sein Buch auch in einer gewissen Rückwärtsgewandtheit als Eloge und zugleich Abgesang wahrgenommen auf eine verlorene abendländische Bildungskultur. Europa werden seine eigenen geistigen Fundamente fremd. Bildung kann und muss, so wird heraus mit allem Recht deutlich, auch eine Form des Bewahrens sein. Es gibt Bildungsinhalte, die unverzichtbar sind, unverzichtbar ist aber auch die Art, in der sie gewusst werden und präsent sind. Nur dann kann sich jener Glauben an die Humanität und die Kultur speisen, welcher dem Bildungsbegriff nicht auszutreiben ist, auch wenn manche Erziehungswissenschaft diesem Versuch derzeit unterliegt. Man möchte sich gar nicht vorstellen, was Fuhrmann zu den heutigen Errungenschaften im „Pisa“-Umfeld gesagt hätte. Was für ihn und bei aller Ironie auch für Schwanitz gleichsam eine Forderung der Kultur selber ist: einen menschheitlichen Status fokussierend und spiegelnd zu realisieren, ist im „Pisa“-Gestus auf Kompetenzen soziokulturellen und ökonomischen Funktionierens, auf kurzschrittig definierbare Abläufe und auf quantifizierende und funktional operationalisierte Erfolgskriterien reduziert. Diese behaupten, Bildung handhabbar zu machen, führen aber faktisch zu Konsequenzen, die man der Unbildung geziehen hat (Konrad Paul Liessmann). Akteure reden dann leicht und gern etwa von einer „Urteilskompetenz“. Im Mainstream neuerer Bildungssysteminnovation, deren Teil die Kompetenzenrede ist, drohen aber gerade die Grundlagen für eine (philosophische) Reflexion verloren zu gehen, die per λόγον διδόναι noch klären könnte, was darunter eigentlich zu verstehen ist. Für den Philosophieunterricht muss dagegen unverkürzt gelten: wir wollen im gemeinsamen Gespräch nachfragen und in einem umfassenden

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Sinne mit Vernunftbemühen klären.2 Nicht nur bestimmte Bildungsthemen und -gehalte sind also als Kulturgüter um ihrer selbst und um der Subjekte willen, die von ihnen profitieren sollen, unverzichtbar, sondern das, was Bildung überhaupt bedeutet, auch. Dies macht, ausgerechnet, die Frage nach dem Glück deutlich.

3 Warum überhaupt nach dem Glück in der Bildung fragen? Glück scheint eine „vergessene Dimension der Bildung“ (Burow 2013) zu sein, eine Wiederaufnahme darum geradezu begründungsbedürftig. Einem Kanon objektiver Bildungsgehalte widerspricht es nicht (jedoch einer Didaktik, diesen lediglich „nach“ zu denken), wenn Ekkehard Martens als eigentlicher Begründer der Philosophiedidaktik mit seiner so entscheidenden Wendung eine philosophische Orientierung als grundlegende Kulturtechnik und Orientierung von jedermann anspricht. Wenn eine philosophische Bildung etwas sein soll, zu dem jede(r) von uns aufgerufen ist, dann muss man einen Hedonismus weder für die Hauptdominante des Zeitgeistes noch für unseren einzigen Lebenszweck halten, um doch zu fragen: wie es in der Bildung mit dem Glück steht? Mit dem Glück muss Bildung etwas zu tun haben, geht es ihr doch, einem einschlägigen Handbuch zufolge, nicht nur um grundlegend bewusst zu machende alltagsweltliche Operationen wie Beobachten, Wahrnehmen, Urteilen, Erzählen, sondern auch um das Reisen, um künstlerische Bildung, ja, sogar um kulinarische und erotische Bildung (Maaser und Walther 2011) – Themen, die prominent auch in jeder Philosophie des Glücks eine Rolle spielen könnten. Beide, Bildung und Glück, sind sozusagen „Megathemen“. Wenige philosophische Fragen dürfen in einer breiten Öffentlichkeit und an allen Bildungsorten, auch akademisch, auf ein solches Interesse rechnen wie gerade die Frage nach dem Glück. Es ist allerdings auch kein Vorstellungsspektrum derart disparat, jeweilig spezifisch bedeutsam und vielfältig, wie das, welches uns zum Thema „Glück“

2Für die Philosophische Bildung ist es naheliegenderweise von großer Bedeutung, wie ihr Vernunftbemühen im Philosophieunterricht realisiert werden kann. Es erscheint dabei entscheidend, dass unsere Fragen und Antwortversuche in einer unterrichtlichen Gesprächskultur verhandelt werden, in der die vielsträngigen Sinngehalte einer zweieinhalbtausendjährigen Ideengeschichte wie der aktuellen universitären Forschungssystematik in der organisierenden Kraft von Problemstellungen von Philosophierenden herangezogen und ihre Nach- und Neukonstruktionen arrangiert werden können. Ich habe dies in Aufnahme von Überlegungen der Philosophiedidaktiker Christian Thein (2015) und René Torkler (2015) genauer entwickelt (Steenblock 2016); zu einer nötigen reflexiven Basis für unser Metier (vgl. auch Runtenberg 2016). Die Übernahme- wie Abarbeitungs-, Widerspruchs- und Irritationsvorgänge in Bezug auf Bildungsgehalte sind selbst bereits eigentliche Bildungsgestalten. Sie bilden als Gegenstück aller prozedural verfehlten und reflexiv unterbelichteten quantifizierenden Außensicht à la „Pisa“ den „lebendigen Raum der Didaktik“ (Torkler).

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entgegentritt. Was wir im Alltag für Glück halten, ist in unsere Charaktere und Lebensgeschichten verwoben, vielfach mit spezifischen Erfahrungen verflochten, muss getragen werden durch ein gewisses reflexives Bewusstsein und ist nicht zuletzt auch abhängig von den bestimmenden Faktoren eines Zeitalters. Viele Menschen erhoffen sich heute lebensweltliches Glück in den Formen von Besitz und Reisen, in Konsum und Mode, Hobby und Unterhaltung. Aber auch, ganz anders, Arbeit und eine selbstbestimmte Erfüllung von Lebenszielen können als Glücksperspektiven gelten. Im Bereich der universitären Philosophie sieht die Lage nicht einfacher aus. Die Literatur ist bekanntermaßen schier unendlich. Das „Glück“ ist ein akademisches Thema und man hat immer wieder auf die Legitimität der Beschäftigung mit Glückstheorien nachdrücklich verwiesen, die sich über Ziele des menschlichen Lebens äußern. Aber es gibt der Glücksphilosophie gegenüber auch eine Skepsis. Christoph Horn hat bemerkt, dass neben den moralphilosophischen Paradigmata der Pflichtenethik, des Utilitarismus oder der Diskurstheorie das Glück in der Moderne nicht primärer Ausgangspunkt ethischen Denkens ist. Kant etwa diskutiert in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ alle Glücksgaben sekundär gegenüber einem eigentlichen Anspruch der Moral; „gut“ ist allein der gute Wille, eher ist nach der Glückswürdigkeit zu fragen. Noch in jüngerer Vergangenheit sieht Dieter Thomä (2006, vgl. auch Horn 2008, S. 23 f.) sich gezwungen, das Glück gegen Angriffe von „Utopisten, Aktivisten, Moralisten und Funktionalisten“ zu verteidigen. Die Beiträge anderer Wissenschaften sind ebenfalls wenig eindeutig. Soziologisch erscheint das Glück als in den verschiedenen Lebensaltersstufen durchaus unterschiedliches, in quantitativer und qualitativer Abfrage der Einstellungen von Menschen erforschbares Phänomen, theologisch als Paradies- und Jenseitshoffnung, hirnphysiologisch als (evolutionär nützliche?) Belohnung, chemisch als Endorphin- oder Dopamin-Ausschüttung, biologisch als angeborene, genetische Disposition des Empfindens, psychologisch als charakterliche Veranlagung, damit zugleich als menschliche Universalie wie individuell und interkulturell variierend als Phänomen unterschiedlicher Traditionen, schließlich politisch – in den USA hat das Streben nach Glück bekanntlich gar Verfassungsrang – als weltweit von einer gerechten Realisierung bitter entfernte Zielperspektive gelingenden Lebens im Sinne eines Menschenrechtes. Will man die vorbenannten Felder der Glücksreflexion zusammenfassen, dann kann und muss man wohl sagen: mit seinen notwendig stark von jeweiliger Lebenserfahrung und Individualität mitgeprägten Einsichten gerät das Nachdenken über das Glück zwangsläufig in eine gewisse Spannung zwischen dem, was jede(r) in einem wohl verstandenen Sinn für sich selbst wissen muss und dem Versuch, generelle Erkenntnisse, vielleicht gar Richtlinien und Ratschläge zu benennen, von Faktorenvielfalt, Unvorhersehbarkeit und doch auch immer zu beabsichtigender lebenskluger Entscheidung. Damit aber wird Glück eine Frage der entwickelten Urteilskraft, und das heißt: eine Frage der (in letzter Instanz philosophisch reflektierenden) Bildung. Glück ist Sinnentwicklung; was wir dann in bewusster Reflexion daraus machen, repräsentieren die Geschichten, die wir über uns selbst erzählen können.

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Bildung und Glück stehen demnach in einem Zusammenhang, wie sich bereits mit der Antike feststellen lässt. Kein Geringerer als Aristoteles analysiert mit erfahrungsgesättigtem Blick die Lebensformen der Menschen und ihre Vorstellungen vom höchsten Glück. Wenn er sich in seiner athenischen Gesellschaft umsieht, stellt er fest, wie viele ganz darin aufgehen, Alltagshedonist oder Geschäftsmann oder Politiker zu sein. Wenn man seine „Nikomachische Ethik“ liest, lernt man natürlich, dass Aristoteles all dem im Vergleich zur wahren Bildung (abgestuft) nicht die höchste Einschätzung zukommen lässt, wenn es zum Hauptlebensziel wird. Man gewinnt vielmehr am Ende den Eindruck, dass der Philosoph uns den von ihm selbst erfahrenen („akademischen“ bzw. peripatetischen) Lebenssinn qua Realisierung der Vernunftnatur des Menschen als Glück empfiehlt. Der Mensch kann wahrhaft glücklich nur sein, wenn er zu einer Erfüllung seines Wesens, d. h. der in ihm angelegten Optionen kommt. Aristoteles will in der Schau, in der Θεωρία des Ersten, im höchsten Wissen ein wahres Glück realisieren (zur Interpretation siehe Mesch 2015, S. 27 ff.).

4 Macht Bildung glücklich? Das „Wissen müssen“, das in den zurückliegenden Abschnitten so verdächtig klang, evoziert auf den ersten Blick eine geradezu kulturgeschichtliche Fülle von wieder und wieder kolportierten Erfahrungen des angeblichen oder tatsächlichen Leidens in der Schule, von Stress im Studium, kurz: von den Klassenzimmern und Seminarräumen als Orten des Ungenügens. Wie in allen Kulturbereichen können auch in der Bildung menschliche Bemühungen scheitern. Andererseits ergreifen an vielen Hochschulen – z. B. an den Universitäten Hamburg und Münster ist dies gut organisiert – Menschen ein kulturell und allgemein bildendes Studium im Erwachsenen- und Seniorenalter sicherlich nicht, weil sie hiervon Stunden des Unglücklichseins erwarten. Sie demonstrieren vielmehr in einer Lebensphase, in der sie keinen Hörsaal mehr aufsuchen müssten, dass sie dies gern tun: dass Bildung Selbstzweck ist. Philosophische Bildung, so dürften sie denken, vermag zur persönlichen geistigen Bereicherung und damit zur Lebensqualität beizutragen, was im Idealfall auf eine sozial offene „Lebensform von Gebildeten“ hinausliefe. Die Philosophie ist keine Zwangsveranstaltung, auch nicht Teil einer „Tragödie der Kultur“, sondern ihre Didaktik ist Anwältin von Rationalitäts- und Glücksquellen, die man niemandem vorenthalten darf. Homo sapiens will ja wissen und Wissen genießen. Triebkraft der Bildung ist mit dem Philosophen und Romanautor Peter Bieri (2013, S. 206). „der unersättliche Wunsch, zu erfahren, was es in der Welt alles gibt, … hinauf zu den Gestirnen und hinunter zu den Atomen und Quanten; hinaus zu der Vielfalt der natürlichen Arten und hinein in die phantastische Komplexität eines menschlichen O ­ rganismus; zurück in die Geschichte von Weltall, Erde und menschlicher Gesellschaft, und nach vorn zu der Frage, wie es mit unserem Planeten, unseren Lebensformen und Selbstbildern weitergehen könnte.“

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Wie wir können, versuchen wir, auf Wissen zuzugreifen, Bildung macht z. B. „süchtig nach Dokumentarfilmen“ (Bieri 2013, S. 211). Insbesondere aber die Sinngestalten menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses in Religion, Kunst und Philosophie bauen uns auf, interessieren und erfreuen uns. Der Bildungsvorgang ist souveränes Verlangen, auch angesichts und trotz der „gigantischen Menge“ dessen, „was es zu wissen und zu verstehen gibt“: „Sich zu bilden, kann nicht heißen, außer Atem hinter allem herzulaufen. Die Lösung ist, sich eine grobe Landkarte des Wissbaren und Verstehbaren zurechtzulegen und zu lernen, wie man über die einzelnen Provinzen mehr lernen könnte. Bildung ist also ein doppeltes Lernen: Man lernt die Welt kennen, und man lernt das Lernen kennen“. Dabei gilt nun: „Bildung (…) ist (…) ein Wert in sich, wie die Liebe. Es wäre falsch, zu sagen, sie sei ein Mittel, um glücklich zu sein, denn Glück kann man nicht planvoll ansteuern. Und es ist natürlich auch nicht so, dass es ohne Bildung kein Glück gibt. Aber es gibt Erfahrungen des Glücks, die aufs Engste mit den besprochenen Facetten der Bildung verknüpft sind: die Freude, an der Welt etwas besser zu verstehen; die befreiende Erfahrung, einen Aberglauben abschütteln zu können; das Glück beim Lesen eines Buchs, das einen historischen Korridor öffnet; die Faszination durch einen Film, der zeigt, wie ganz anders das Leben anderswo ist; die beglückende Erfahrung, eine neue Sprache für das eigene Erleben zu lernen; die freudige Überraschung, wenn man sich mit einem Mal besser versteht; die Erlösung, wenn es einem gelingt, eingefahrene Geleise des Erlebens zu verlassen und so mehr Selbstbestimmung zu erfahren; die überraschende Erfahrung, dass sich mit dem Anwachsen der moralischen Sensibilität der innere Radius vergrößert. Und Bildung schließt eine weitere Dimension von Glück auf: die gesteigerte Erfahrung von Gegenwart beim Lesen von Poesie, beim Betrachten von Gemälden, beim Hören von Musik. Die Leuchtkraft von Worten, Bildern und Melodien erschließt sich nur demjenigen ganz, der ihren Ort in dem vielschichtigen Gewebe aus menschlicher Aktivität kennt, das wir Kultur nennen.“ (Bieri 2013, S. 216).

Für unsere Fragestellung bestätigt dieses Bekenntnis von Peter Bieri nicht nur Erfahrungen, die jeder Mensch realisieren kann. Es zeigt auch, dass Bildung mehr ist als Wissen. Denn Wissensträger ist ja immer (vgl. die einleitend benannten Grundelemente des Bildungsbegriffs) ein Subjekt, das „die Vergangenheit auf bestimmte Weise durchlebt hat, um schließlich in dieser Gegenwart mit diesem Entwurf für die Zukunft anzukommen“. Bildung, sagt Bieri, ist jener Prozess, in dem ein Subjekt sich durch die „kenntnisreiche und kritische Aneignung von Kultur (…) eine kulturelle Identität schafft“. Darum warnt er explizit davor, diese unsere menschliche Anlage und Möglichkeit durch den bereits angesprochenen „Pisa“Unterrichtstechnizismus zu frustrieren: „Niemand, der die Dichte solcher Augenblicke kennt, wird Bildung mit Ausbildung verwechseln und davon faseln, dass es bei Bildung darum gehe, uns ‚fit für die Zukunft‘ zu machen.“ (Bieri 2013, S. 217)3

3In der Konsequenz ist es wichtig, dass unsere Fachdidaktik darauf achtet, dass sie und die Philosophie philosophische Bildung definieren, nicht aber jener aufschießende, unreflektierte Technizismus, der im „Kompetenzen“- und „Empirie“-Modus derzeit allzu oft den Ton angibt (vgl. Steenblock 2014).

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Es ist demnach nicht nur für den Eigencharakter philosophischer Bildungsprozesse, sondern sozusagen auch für ihre Glücks- und Lebensqualität relevant, wie solche Bildungsprozesse begriffen und eingerichtet werden. Wenn man die von Micha Brumlik im Hinblick auf die Tugenden gestellte Frage: „Macht Bildung glücklich?“ (Brumlik 2012) also zugleich einmal konkret im Sinne einer Lebenskunst nehmen kann, dann ist weder Bildung ein unerhebliches Kriterium für ein avanciertes Glück, noch Glück der zu vernachlässigende Faktor einer erfolgreichen Bildung. Bildung ist wichtig, um unser Glück richtig zu bestimmen, sie wird durch Glück befördert und ist zugleich selbst Glücksziel.

5 Memento mori Bildung kann höchstes Glück bedeuten. Wir bilden uns allerdings in der Erwartung, dass wir die Reflexion und Realisierung der Zusammenhänge, mit denen wir uns beschäftigen, in unserer Lebensspanne und in einer gewissen Weise auch vollenden können, bevor unser Sein und unser Wissen mit uns ins Grab sinken. Dies bedeutet freilich eine schwierige Gratwanderung. Einerseits scheint – paradoxerweise – das uns als Menschen mögliche und auferlegte Bewusstsein, dass wir sterben müssen, eine Voraussetzung dafür zu sein, dass wir überhaupt Kultur und Bildung hervorbringen, nämlich zur Bewältigung dieser Herausforderung des Todes. Vor allem die Religionen verdanken dem ihre Entstehung (Assmann 2000; Bauman 1992; Becker 1971). Andererseits aber können wir nicht gut mit einer beständigen Präsenz des Todesgedankens leben. Ganz im Gegenteil: wir schieben die Gewissheit des Todes beständig und so gut wie möglich von uns fort. Bestenfalls verstehen wir sie als eine ferne Herausforderung, angesichts derer wir bewusster und glücklicher zu leben versuchen. In seinem „Nachtzug nach Lissabon“ verweist Peter Bieri auf die Unabgeschlossenheit, die der Tod aber sehr wohl in unser Leben bringt, indem alle Hoffnungen und Pläne für die Vervollständigung der Identität und Ausbildung der Person schon vorzeitig zunichtegemacht werden können: „Das taghelle Bewußtsein der Endlichkeit (…) verstört uns wie nichts anderes, weil wir, ohne es zu wissen, auf eine solche Ganzheit hin leben und weil jeder Augenblick, der uns als lebendiger gelingt, seine Lebendigkeit daraus bezieht, dass er ein Stück im Puzzle jener unerkannten Ganzheit darstellt.“ (Mercier 2004; S. 332 ff.). Der erfolgreiche, unter dem Pseudonym Pascal Mercier erschienene Roman „Nachtzug nach Lissabon“, in 32 Sprachen übersetzt, lässt seinen in Trennung lebenden Antihelden Gregorius – 57 Jahre alt, seit über 30 Jahren Lehrer für Latein, Griechisch und Hebräisch an einem Gymnasium in Bern – eines Morgens auf dem Weg zur Schule einer Frau begegnen, die im strömenden Regen auf der Brücke steht und sich offenbar das Leben nehmen will. Durch ihre Rettung und durch Auffindung eines Buches, das den Titel „Um ourives das palavras“ (Ein Goldschmied der Worte) trägt, wird er in die Geschichte von Amadeu de Prado gleichsam hinein-

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gezogen, eines Arztes und Philosophen, dessen Leben und Lieben sich mit der seinerzeitigen Diktatur in Portugal als schicksalhaft verbunden erweist. So sehr aber diese Aufdeckung den Roman bestimmt, so viel Raum bleibt für die Reflexion. Dabei gibt es keine Eingleisigkeit. An einer abschließend zu zitierenden Stelle dieses Buches widmet Bieri sich einem ganzen Spektrum von Glücksüberlegungen: „Sich darauf besinnen, was man eigentlich möchte. Das Bewusstsein der begrenzten, ablaufenden Zeit als Kraftquelle, um sich eigenen Gewohnheiten und Erwartungen, vor allem aber den Erwartungen und Drohungen der anderen, entgegenzustemmen. Als etwas also, das die Zukunft öffnet und nicht verschließt. So verstanden ist das Memento eine Gefahr für die Mächtigen, die Unterdrücker, die es so einzurichten suchen, dass die Unterdrückten mit ihren Wünschen kein Gehör finden, nicht einmal vor sich selbst. ,Warum soll ich daran denken, das Ende ist das Ende, es kommt, wann es kommt, warum sagt ihr mir das, das ändert doch nicht das geringste.‘ Was ist die Erwiderung? ,Verschwende deine Zeit nicht, mach aus ihr etwas Lohnendes.‘ Doch was kann das heißen: lohnend? Endlich dazu übergehen, langgehegte Wünsche zu verwirklichen. Den Irrtum angreifen, dass dafür später immer noch Zeit sein wird. Das Memento als Instrument im Kampf gegen Bequemlichkeit, Selbsttäuschung und Angst, die mit der notwendigen Veränderung verbunden ist. Die langerträumte Reise machen, diese Sprache noch lernen, jene Bücher lesen, sich diesen Schmuck kaufen, in jenem berühmten Hotel eine Nacht verbringen. Sich selbst nicht verfehlen. Auch größere Dinge gehören dazu: den ungeliebten Beruf aufgeben, aus einem gehassten Milieu ausbrechen. Tun, was dazu beiträgt, dass man echter wird, näher an sich selbst heranrückt. Von morgens bis abends am Strand liegen oder im Café sitzen: Auch das kann die Antwort auf das Memento sein, die Antwort von einem, der bisher nur gearbeitet hat. ,Denk daran, dass du einmal sterben musst, vielleicht morgen schon.‘ ,Ich denke die ganze Zeit dran, deshalb schwänze ich das Büro und lasse mich von der Sonne bescheinen.‘ Die scheinbar düstere Mahnung sperrt uns nicht in den verschneiten Klostergarten. Sie öffnet den Weg nach draußen und erweckt uns zur Gegenwart. Eingedenk des Todes die Beziehung zu den anderen begradigen. Eine Feindschaft beenden, sich für getanes Unrecht zu entschuldigen, Anerkennung aussprechen, zu der man aus Kleinlichkeit nicht bereit war. Dinge, die man zu wichtig genommen hat, nicht mehr so wichtig nehmen: die Sticheleien der anderen, ihre Wichtigtuerei, überhaupt das launische Urteil, das sie über einen haben. Das Memento als Aufforderung, anders zu fühlen.“ (ebd., S. 552 f.)4

4Nicht

ganz inspiriert auch verfilmt: Nachtzug nach Lissabon, Deutschland/Schweiz/Portugal 2012, Regie Bille August, mit Jeremy Irons u. a.

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Der titelgebende Nachtzug, der den Protagonisten Gregorius nach Lissabon bringt, lässt sich unter dem Eindruck von Reflexionen wie diesen wohl als eine Metapher für unsere gesamte Lebensreise begreifen: „Ich wohne in mir wie in einem fahrenden Zug. Ich bin nicht freiwillig eingestiegen, hatte nicht die Wahl und kenne den Zielort nicht. Eines Tages in der fernen Vergangenheit wachte ich in meinem Abteil auf und spürte das Rollen. Es war aufregend, ich lauschte dem Klopfen der Räder, hielt den Kopf in den Fahrtwind und genoß die Geschwindigkeit, mit der die Dinge an mir vorbeizogen. Ich wünschte, der Zug würde seine Fahrt niemals unterbrechen. Auf keinen Fall wollte ich, daß er irgendwo für immer hielte.“ (ebd., S. 595).

Mit diesen Passagen können wir abschließend einsehen, warum es so ist, dass Bildung zwar Wissen notwendig einschließt, aber alles Wissen zugleich glücklich übersteigt. Die kulturelle Welt ist, wie für mich in der Linie der zitierten Reflexionen Bieris deutlich wird, kein Raum, in dem Wissenselemente mechanisch-quantitativ („Pisa-formatiert“) angehäuft und die Kompetenzen hierzu durchnummeriert werden könnten. Sie ist vielmehr eine Sphäre von Bedeutungsgebung und Bewertung. Anders formuliert: Die materiale Seite der Bildung ist ohne die anderen eingangs genannten Aspekte des Bildungsbegriffs nicht zu verstehen. Nur ein unverkürzter Begriff von Bildung vermag dem Wissen und seinem Erwerb sozusagen den Platz anzuweisen und nur er kann zeigen, wie dieses im Subjekt zu kultureller Orientierung wirkt und lebendig wird. Demzufolge läuft die Formel: „alles, was man wissen muss“, so wichtig das Wissen ist, ins Leere, wenn man sie nicht im Kontext gleichsam eines Gesamtkonzeptes der Bildung betrachtet. Bildung bedeutet im Rahmen dieses Gesamtkonzeptes letztlich auch eine Lebensform philosophischer Orientierung, in welcher jeder von uns Züge einer Autorenschaft an seinem Leben gewinnen und zu einer „inneren Lebensregie“ (Bieri) fähig werden kann. Bildung kann damit ein Sinn- und Lebenskunstangebot von höchster Bedeutsamkeit und Attraktivität darstellen. Wir sind in unser Leben nicht freiwillig eingestiegen und den Zielort kennen wir nicht. Dennoch können wir Einiges auf dieser Fahrt für uns und andere möglichst reflektiert einrichten, klug und bewusst erleben. Hinzu tritt: Während wir dies je für unser Leben versuchen, gilt unterwegs für alle Menschen, insbesondere aber für Lehrerinnen und Lehrer, dass Bildung zugleich ein eminent soziales Phänomen ist – aber nicht in dem Sinne, dass man etwas wissen muss, um „dazu zu gehören“. Bildung gehört vielmehr gemäß einem bekannten Diktum zu jenem, bei dem wir reicher werden, wenn wir es mit anderen Menschen teilen und von ihm Anteil geben und nehmen. Und glücklicher.

Literatur Aristoteles. 1982. Metaphysik. Griechisch-deutsch. In der Übersetzung von H. Bonitz, neu bearbeitet von H. Seidl. Griechischer Text in der Edition von W. Christ. Erster Halbband. 2. Auflage. Hamburg: Meiner. Assmann, J. 2000. Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Balliet, M. 2015. Wissenschaftliche Bildung. Reihe: Bochumer Beiträge zur bildungswissenschaftlichen und fachdidaktischen Theorie und Forschung, Bd. 5. Bochum: Projekt Verlag. Bauman, Z. 1992. Mortality, immortality and other life strategies. Cambridge: Stanford University Press. Becker, E. 1971. The birth and death of meaning. An interdisciplinary perspective on the problem of man. New York: The Free Press. Bieri, P. 2013. Wie wäre es, gebildet zu sein? In „Was den Menschen eigentlich zum Menschen macht“ – Klassische Texte einer Philosophie der Bildung, 2. Aufl, Hrsg. H.-U. Lessing und V. Steenblock, 207–217. Freiburg: Karl Alber. Brumlik, M. 2012. Macht Bildung glücklich? Versuch einer Theorie der Tugenden. Berlin: Philo Verlagsgesellschaft. Bussmann, B. 2014. Was heißt: sich an der Wissenschaft orientieren? Untersuchungen zu einer lebensweltlich-wissenschaftsbasierten Philosophiedidaktik am Beispiel des Themas: „Wissenschaft, Esoterik und Pseudowissenschaft“. Berlin: LIT. Burow, O. A. 2013. Glücksfaktor Bildung – Bildungsfaktor Glück. Mitschnitt eines Vortrags vor der Oberösterreichischen Zukunftsakademie an der PH Linz. http://www.edugroup.at/ bildung/news/detail/gluecksfaktor-bildung.html. Fuhrmann, M. 1999. Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt a. M.: Insel. Fuhrmann, M. 2002. Bildung. Europas kulturelle Identität. Stuttgart: Reclam. Horn, C. 2008. Glück und Tugend. In Grundpositionen und Anwendungsgebiete der Ethik. Kolleg Praktische Philosophie, Bd. 2, Hrsg. V. Steenblock, 23–54. Stuttgart: Reclam. Maaser, M., und G. Walther. 2011. Bildung. Ziele und Formen, Traditionen und Systeme, Medien und Akteure. Stuttgart: Metzler. Mercier, P. 2004. Nachtzug nach Lissabon. München: Btb. Mesch, W. 2015. Aristoteles über das gute Leben. Münster: Verlag der Akademie Franz Hitze Haus. Runtenberg, C. 2016. Philosophiedidaktik. Paderborn: UTB. Schwanitz, D. 1999. Bildung. Alles, was man wissen muss. Frankfurt a. M.: Eichborn. Steenblock, V. 2014. „Es gibt eine richtige Antwort“!? Bildungsprozesse von Sinnverständnis und Sinnkonstitution am Beispiel der Philosophie. In Sinn im Dialog. Zur Möglichkeit sinnkonstituierender Lernprozesse im Fachunterricht, Hrsg. U. Gebhardt, 217–233. Wiesbaden: Springer. Steenblock, V. 2015. Philosophische Bildung als Arbeit am Logos. In Handbuch Philosophie und Ethik. Didaktik und Methodik, Bd. 1, Hrsg. J. Nida-Rümelin, I. Spiegel, und M. Tiedemann, 57–69. Paderborn: UTB & Schöningh. Steenblock, V. 2016. Der lebendige Raum der Didaktik und der Sinn des Philosophieunterrichts. Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 38 (4): 63–69. Thein, C. 2015. Bildung als Initiation in den Raum der Gründe. Zur Relevanz von McDowells Konzeption einer zweiten Natur für die pädagogische Theorie. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 2:203–216. Thomä, D. 2006. Vom Glück in der Moderne, 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Torkler, R. 2015. Philosophische Bildung und politische Urteilskraft. Hannah Arendts ­Kant-Rezeption und ihre didaktische Bedeutung. Reihe: Pädagogik und Philosophie, Bd. 7. Freiburg: Alber.

Philosophische Bildung und Philosophiedidaktik

Peirces pragmatistischer Handlungsbegriff als Grundlage eines philosophiedidaktischen Konzepts des handelnden Lernens Klaus Feldmann

Theorie und Praxis stellen zwei Bereiche dar, deren Verhältnisbestimmung von fundamentaler Bedeutung für die Didaktik der Philosophie ist (Feldmann 2017). Die Frage nach ihrem Verhältnis bestimmt seit Langem in der einen oder anderen Weise die philosophiedidaktische Diskussion, der Bogen lässt sich von dem Streit um eine Konstitutions- im Unterschied zur sogenannten Abbilddidaktik (vgl. Rohbeck 2008c, S. 11 f.) bis hin zu der Auseinandersetzung um präsentative und diskursive Formen spannen (Tiedemann 2011; vgl. Dege 2011; Tichy 2011). Für die philosophische Bildung (vgl. Steenblock 2009)1 entscheidet sich mit der Relationsbestimmung von Theorie und Praxis, was mögliche Inhalte philosophischer Bildungsprozesse sind, welche Ziele mit ihnen verfolgt werden können und wie philosophische Bildungsarbeit insgesamt methodisch sinnvoll vollziehbar ist. Ich gehe für die Philosophie und Philosophiedidaktik von folgendem Verhältnis der beiden Bereiche aus: Theorie und Praxis lassen sich in Bezug auf verschiedene Ebenen und Bereiche des Philosophieunterrichts weder streng noch ­grundsätzlich

1In einem sehr grundlegenden und umfassenden Sinn beschreibt Steenblock hier seinen Begriff von philosophischer Bildung: „Dies ist eine zentrale, in letzter Instanz dem geistesgeschichtlichen Projekt des Humanismus geschuldete Einsicht: dass Philosophieren das durch und durch und von Grund auf Menschliche ist. Philosophie ist eine eminente Form bewusster Kulturteilhabe: wir können als Menschen gar nicht leben bzw. einen halbwegs anspruchsvollen Begriff unseres Menschseins nicht realisieren, so lässt sich hier behaupten: ohne ein mehr oder weniger bewusstes Selbst- und Weltverhältnis zu entwickeln. Dieses Denken methodisch klarer zu gestalten und ihm die Sinngehalte der Philosophie zu vermitteln, ist die Aufgabe philosophischer Bildung.“ (Ebd., 46.).

K. Feldmann (*)  Bergische Universität Wuppertal, Wuppertal, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Thein, Philosophische Bildung und Didaktik, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_8

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voneinander trennen, so dass keinem Bereich der Primat zugesprochen werden kann. Sie sind grundlegend aufeinander verwiesen, ihnen kommt beiden auf ihre je eigene Art Bedeutsamkeit für philosophische ­Erkenntnis- und Bildungsprozesse zu, so dass sie in einer konsistenten und kohärenten Theorie der Philosophiedidaktik nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Somit bilden Theorie und Praxis in philosophischen Bildungsprozessen und für das Konzept philosophischer Bildung eine letztlich nicht auflösbare Einheit. Für eine Plausibilisierung dieser Verhältnisbestimmung als Einheit kann im pragmatistischen Handlungsbegriff von Charles S. Peirce besonderes Potenzial gesehen werden; seine pragmatische Maxime lässt sich als konzeptionelle Verbindung theoretischer und praktischer Elemente philosophischer Bildungsprozesse auslegen. Um meine Thesen zu verdeutlichen, gliedert sich mein Beitrag folgendermaßen: Zuerst umreiße ich Peirces Pragmatismus mit dem Ziel, seinen Handlungsbegriff im Kontext seines Ansatzes herauszustellen (Abschn.  1). Im nächsten Schritt gehe ich von drei verschiedenen Ebenen – Inhalt, Ziel und Methode – aus, mit deren Hilfe ich die Handlungsdimensionen einer Lehr-Lern-Situation im Philosophieunterricht beschreibe (Abschn.  ­ 2). Diese führe ich dann abschließend mit Peirce Handlungsbegriff zusammen, so dass ich ein Konzept des handelnden Lernens für den Philosophieunterricht erhalte (Abschn. 3).

1 Peirce pragmatistischer Handlungsbegriff Im Pragmatismus seit Charles Sanders Peirce nehmen die Praxis und ihre Verbindung zur Theorie eine zentrale Relevanz für das Begründungs- und Theorielayout ein, da beide, vermittelt durch den Begriff der Handlung, eine Einheit bilden. Das Prinzip der beschriebenen Verhältnisbestimmung von Praxis und Theorie manifestiert sich in der von Peirce entwickelten pragmatischen Maxime (Feldmann 2017, S. 33–41). Der Begründer des Pragmatismus gibt sie als Verfahren für den Umgang mit konkreten Problemsituationen an (Peirce 1970, S. 390 f.); sie kann als Prinzip seines Pragmatismus insgesamt angesehen werden, da sie für die Spannung und Vermittlung von Theorie und Praxis ein Reglement bereithält. So fordert dieses Verfahren, dass zum einen Singuläres, Konkretes und Präsentatives zum Kernbereich des Philosophischen gehören und zum anderen Abstraktion, Allgemeingültigkeit und argumentierend legitimierende Begrifflichkeit im Horizont eines jeweiligen Problemfindungs- und -lösungsprozesses mit diesen Praxiselementen verwoben und auf sie verwiesen bleiben. Die „Pragmatische Maxime“ besagt: „Überlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Relevanz haben könnten, wir dem Gegenstand unseres Begriffes in unserer Vorstellung zuschreiben. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen das Ganze unseres Begriffes des Gegenstandes“ (Peirce 1967b, S. 339).

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Peirce entfaltet das Prozedere der Maxime, indem er den Begriff der Überzeugung (belief) einführt und ihn mit dem des Zweifels in Verbindung bringt. Im Prozess des Wechsels stehe von einer Überzeugung zu einem Zweifel eine bereits vorliegende Überzeugung an dessen Anfang: Vor der logischen Infragestellung bestehen bestimmte Annahmen über die Lage der Fakten (Peirce 1967a, S. 301). Überzeugungen kommen insgesamt eine leitende Funktion zu. Sie leiten in Form eines Gefühls Wünsche und formen bzw. bestimmen Handlungen, denn sie sind ein Anzeichen dafür, dass sich gewisse Verhaltensgewohnheiten (habits) in der menschlichen Natur einstellen. Charakteristisch für das Gefühl des Überzeugtseins ist ferner, dass es als erstrebenswerter, ruhiger und befriedigender Zustand beizubehalten ist und die Fähigkeit nach sich zieht, sich auf eine bestimmte Art zu verhalten; die Überzeugung ist somit insgesamt eine Art Verhaltensweise (ebd., S. 300). Dem Zweifel kommt keinerlei handlungsbestimmende oder die Wünsche leitende Funktion zu. Mit ihm geht ein unangenehmer und unbefriedigender Zustand einher, der von Anstrengungen mit dem Ziel durchzogen ist, sich von ihm zu befreien. Der positive Aspekt des Zweifels liegt nach Peirce in seiner Dynamik, die er beim Akt des Zweifels entfaltet, da er zum Forschen anregt. So entspringt aus ihm eine Reizung, die erwähnte Anstrengung bewirkt, den Zustand der Überzeugung (wieder) zu erlangen. Diese Anstrengung nennt Peirce Forschen. Somit ist die Reizung des Zweifels das einzige Motiv für das Erlangen einer Überzeugung, mit dem Zweifel beginnt und mit seiner Überwindung endet jede Forschungsanstrengung. Das Aufeinander-bezogen-Sein von Überzeugung und Zweifel stellt einen basalen Teil der pragmatischen Erkenntniskonzeption dar. Ein Moment in einem Erkenntnisprozess, das Überzeugtsein, ist als das Ziel dieses Prozesses anzusehen (ebd., S. 300 ff.). Als Teil des Gesamtzusammenhanges der pragmatischen Maxime ist der pragmatistische Begriff des Handelns bei Peirce in einer Relation von Wahrnehmung, Denken und Gewohnheit bestimmbar – eingefasst in die Dynamik von Überzeugung und Zweifel. Die pragmatische Maxime ist der formale Ausdruck dieses Kontextes, der Handlungsaspekt in Verbindung mit der Gewohnheit nimmt eine verbindende Rolle in Bezug auf Überzeugung und Zweifel ein. Aufgrund seiner Singularität ist konkretes Handeln zwar als notwendig aber nicht hinreichend für diese Konstitution von Vorstellungen und Begriffen zu verstehen, da deren Bedeutungsgehalt von intellektueller Art ist und nur denkend erzeugt und erfasst werden kann. Was Begriffe bedeuten, besteht in der Folge gemäß der pragmatischen Maxime in dem, was sie denkbarerweise an praktischen Implikationen enthalten. Die Regel wird gewonnen, indem das Handeln, obwohl es immer auch ein singulärer Akt bleibt, trotzdem als gedachtes Handeln den denkbaren Gehalt durch die Potenzialität der praktischen Implikate eines Begriffs bestimmt und diesen selbst konstituiert. Ihre Regelhaftigkeit ist aus der Gewohnheit ableitbar, die wiederum selbst offen bleibt für die prozessualen Veränderungen, die ein Begriff denkbarerweise umfassen kann, so dass mit ihr ein kontrafaktischer Gehalt verbunden ist und der pragmatischen Maxime ihren

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konditionalen Charakter verleiht.2 Durch die Verbindung des Handelns mit dem Denken wird durch die Gewohnheit der Gesamtkontext in eine Regel transformiert und die Annahme des denkbarerweise Praktischen als die Basis jeder Unterscheidung des Denkens offenbar. Der konditionale Horizont, der durch die Dimension des Kontrafaktischen in die Konzeption der pragmatischen Maxime hineingenommen wird, ist deshalb von fundamentaler Bedeutung, weil er die reziproke Verwiesenheit von Denken und Handeln, von Theorie und Praxis erst möglich macht und so grundlegend für den Pragmatismus bei Peirce ist. Denn die Wirkungen und praktischen Bezüge sind nicht für sich genommen von Bedeutung für die Klarheit des Denkens. Sie sind in ihrer klärenden Funktion für die mit ihnen verbundenen Erwartungen in Bezug auf eine zur Disposition stehende Überzeugung von Belang. Die rationale Leistung der pragmatischen Maxime besteht in der Identifikation des Objekts im Denken mit dem im Handeln, indem sie dazu auffordert, Begriffe oder Vorstellungen auf ihre praktischen Bezüge hin zu klären, ohne sie auf ihre faktischen Konsequenzen zu reduzieren (Pape 2002, S. 84).3 In der Folge verbietet sich eine Auflösung des Gefüges zu einer Seite hin. Wird zum einen die Bedeutung von Begriffen ausschließlich abstrakt theoretisch erfasst, entspricht sie gegebenenfalls nicht der erfahrbaren Wirklichkeit. Aufgrund der fehlenden Rückbindung an den durch Handeln erschlossenen Erfahrungshorizont kann es zu einem Entscheiden auf der Basis von Vorlieben für bestimmte Positionen kommen, was zu einer Beliebigkeit in ihrer Annahme führt. Wird zum anderen die Bedeutung von Begriffen ausschließlich aus konkret praktischem Handeln gewonnen, fehlt ihnen der rationale Gehalt. Ohne eine denkende Einholung der handelnd erfahrenen Wirklichkeit verliert die pragmatistische Theorie ihre philosophische Pointe, da es keinen rationalen Bedeutungsgehalt der Handlung mehr geben würde. Denken und Handeln sind im Gefüge der Maxime reziprok aufeinander verwiesen; ohne Denken wird Handeln zu einem blinden und bedeutungslosen Aktionismus, ohne Handeln ist Denken ein realitätsentferntes und beliebiges Gedankenspiel. Bei der erfolgten näheren Bestimmung des Handelns im Kontext der pragmatischen Maxime wird deren einheitsstiftender bzw. ganzheitlicher Charakter deutlich. Handeln und Denken sind zwar als konzeptionelle Elemente der Maxime voneinander zu trennen, bleiben aber in einem übergeordneten Gesamtkontext von Wahrnehmung, Überzeugung und Gewohnheit aufeinander

2Die

Interpretation der pragmatischen Maxime als konditionaler Satz geht zurück auf Karl-Otto Apels Auslegung. Apel führt aus: „In einer Fußnote von 1893 verschärft Peirce noch einmal die Unterscheidung des „habit“ als eines „contrary to fact“-conditionalis von den zu erwartenden faktischen Folgen durch den ergänzenden Nebensatz: ‚Selbst wenn sie [sc. die Umstände] im Gegensatz zu aller vorherigen Erfahrung stehen würden.‘“ (Apel 1975, S. 140). 3Nicola Erny interpretiert im Zusammenhang mit den praktischen Bezügen Handeln und Denken im Rahmen der pragmatischen Maxime als zukunftsorientiert, da deren Auswirkungen „sich aus der Bestimmung einer Bedeutung für zukünftiges Denken und Handeln ergeben können.“ ( Erny 2005, S. 60).

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verwiesen. Die kontextuelle Verwiesenheit ist durch die reziproke Durchdringung von Handeln und Denken im Konkreten und Allgemeinen bedingt. Jede konkrete Wahrnehmung und Handlung ist zugleich Ausdruck einer Überzeugung, die nur durch den Rückgriff auf eine Verhaltensgewohnheit in ihrer Allgemeinheit verstehbar ist. Die Klärung der Bedeutung, das Ziel der pragmatischen Maxime, lässt sich in einer Verschränkung von konkreter Wahrnehmung und allgemeinen Gedanken durch ein Wechselspiel zwischen Konkretem und Allgemeinem in Form einer Überzeugung herbeiführen (Peirce 1967b, S. 334–336). Die pragmatische Maxime beinhaltet ein Umgreifen von Konkretem und Abstraktem, von Handeln und Denken, letztlich von Praxis und Theorie und ist in diesem Sinn als ganzheitlich zu verstehen (Pape 2002, S. 94). Die Ganzheitlichkeit der pragmatischen Maxime wird durch Gewohnheit, konkreter durch Verhaltensgewohnheit (habit), möglich. Sie stellt ein vermittelndes Bindeglied zwischen Handeln und Denken dar und macht eine Relation zwischen Konkretem und Allgemeinem möglich. Daher ist sie ein zentrales Prinzip der von Peirce entworfenen Handlungstheorie (Erny 2005, S. 52). Eine Entscheidung für eine konkrete Handlung kann auf einer Gewohnheit basieren, aus der sich Regelartigkeit ableiten lässt, indem diese für weitere Handlungen entscheidungskonstitutiv sein kann. Ist die Gewohnheit eine wiederholte Handlungsfolge, summiert sie die konkreten Handlungen zu einer Allgemeinheit im Sinne eines Handlungsmusters. Konkrete Handlungen werden so durch Handlungsroutinen zu Gewohnheiten und aus ihnen lässt sich durch schlussfolgerndes Denken Allgemeines generieren. Auf dieser Basis wird das Verhältnis von Begriffen (conceptions) und denkbarerweise praktischen Bezügen (practical bearings) hergestellt und das Umgreifen von Konkretem und Allgemeinem ­möglich. Es stellt sich in Bezug auf die Rolle der Handlungskonzeption im Rahmen der pragmatischen Maxime bei Peirce die Frage nach ihrem Verhältnis zu den mit ihr verfolgten Zwecken. Deutlich wurde bereits, dass das Handeln selbst als finaler Zweck des Denkens und für Peirces Pragmatismus insgesamt nicht in Betracht kommt, da ihm für sich genommen kein intellektueller Bedeutungsgehalt zukommt. Hierin ist auch der Grund zu sehen, warum eine Reduktion seiner Ausrichtung auf bloße Nützlichkeit als maßgebliches Kriterium für die Bewertung von Erkennen und Handeln ein fundamentales Missverständnis darstellen würde.4 Vielmehr ist bei Peirce die Zweckhaftigkeit in der Klarheit des Denkens selbst zu suchen, welche er durch Rekurs auf dessen Wirksamkeit zu bestimmen sucht. Das Denken kann aufgrund seiner Fähigkeit des Erfassens von Möglichkeitsdimensionen alle denkbar möglichen Handlungen in Erwägung ziehen, die mit

4Als Missverständnis bezeichnet Hans Joas die Reduktion des Pragmatismus in der deutschen Rezeptionsgeschichte des Amerikanischen Pragmatismus auf ein Nützlichkeitsdenken. Seiner Darstellung nach geht es zurück auf Max Schelers Sicht auf den Pragmatismus, die sich jedoch weniger auf Peirces Schriften, sondern auf die von William James bezieht. (Vgl. Joas 1992, S. 125 ff; ebenso Scheler 1977, S. 48 ff.).

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einem Gegenstand verbunden sein können, so dass der Begriff dieses Gegenstandes die denkbar möglichen Handlungen einschließt. Die Bezeichnung dieses Vorgangs der Begriffsbildung als Rationalität der Nützlichkeit würde somit eine missverständliche Engführung des Pragmatismus darstellen. Stattdessen wertet Peirces Pragmatismus im Unterschied die praktischen Dimensionen des Handelns für seine theoretischen um ihrer selbst willen aus, da sie ihren Begriffen Klarheit verleihen (Erny 2005, S. 61). Zusammenfassend lässt sich die spiralförmige Dynamik der pragmatischen Maxime, in die das Handeln eingelassen ist, mit den Momenten der sinnlichen Wahrnehmung als Auslöser für einen Zweifel, der konkreten Überzeugung als Ergebnis der Forschung und Beseitigung eines Zweifels, seinem Wirklichkeitsbezug durch einen konkret denkbaren Handlungskontext, der Gewohnheit durch Regelhaftigkeit und seiner Ganzheitlichkeit als diese Elemente umfassender Prozess beschreiben.

2 Handlungsdimensionen philosophischer Bildungsprozesse In der Philosophiedidaktik beschränkt sich die bisherige Rezeption von Peirces Pragmatismus weitgehend auf die dialogisch-pragmatische Philosophiedidaktik von Martens (Martens 1979, S. 58–68; vgl. Rohbeck 2008c, S. 14). Der didaktische Prozess, den nach Martens die Philosophie, die er auch problemorientierten Verständigungsprozess nennt (Martens 1979, S. 48), insgesamt darstellt, vollzieht sich in seinem Konzept als Dialog, worunter er in einem sokratischen Sinn – im Anschluss an Leonard Nelsons neosokratischen Gesprächs – eine Einheit von offenem, konsultierendem und problematisierendem bzw. legitimierendem Dialog versteht (ebd., S. 140 ff.). Angesichts einer Zentralstellung des Sokratisch-Dialogischen neben dem Pragmatischen in der Philosophiedidaktik von Martens wird deutlich, warum er Peirces Lehre als einen dialogischen Pragmatismus auffasst (ebd., S. 58). Im Unterschied zu dem von Martens fokussierten dialogischen Schwerpunkt verschiebe ich diesen zugunsten einer Betonung der handlungstheoretischen Perspektive. Mit dem Ziel, diese zu entfalten, unterscheide ich eine Lehr-Lern-Situation mit Hilfe der drei Ebenen von Inhalt, Ziel und Methode. Jeder Teil dieser Trias – das ist meine These – lässt sich mit bestimmten handlungstheoretischen Aspekten verbinden bzw. unter dieser Perspektive verstehen, so dass sich eine inhaltliche, intentionierte und methodische Handlungsdimension philosophischer Bildungsprozesse ergibt.

2.1 Inhaltliche Handlungsdimension Unter der Perspektive der inhaltlichen Handlungsdimension sind die Pole der begrifflichen Bedeutung philosophischer Inhalte und ihr philosophierender

Peirces pragmatistischer Handlungsbegriff

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Umgang eng aufeinander bezogen. Der Einsatz von Handlungsformen lässt sich aufgrund von gegebenen Verfasstheiten der Inhalte bestimmen. Eine Untersuchung der Inhaltlichkeit des Philosophieunterrichts zeigt, dass der philosophiedidaktische Ansatz von Johannes Rohbeck eine systematische Verbindung und Bezogenheit von verschiedenen Denkrichtungen und ihren jeweiligen Vollzugsweisen für ein philosophisches Methodenkonzept und seiner Weiterentwicklung zu einem Kompetenzmodell nutzt (Rohbeck 2008a, b). Einen weiteren Ansatzpunkt zur Bestimmung der inhaltlichen Handlungsdimension in der philosophiedidaktischen Diskussion findet man bei Roger Hofer, der aus einer Kritik an Martens’ Gegenüberstellung von Philosophie als Tatbestand und Philosophieren als Tätigkeit resultiert. Hofer bemerkt kritisch, Martens reduziere konzeptionell die Inhalte der Philosophie, die Hofer im Anschluss an Martens selbst als Philosophie-Wissen fasst, auf seine propositionale Komponente, indem er sie der methodisch geleiteten Aktivität von Lernenden gegenüberstelle und so zu einer statischen Größe werden lasse, die zu einer Abtrennung des Wissens von den Wissensträgern führe. Im Anschluss an diese pragmatistische Denkfigur –der Handlungskontext bestimmt den begrifflichen Gehalt des Wissens – kommt Hofer auf der Basis seiner Beschreibung von Wissen als Einheit einer propositionalen und einer methodisch-personalen Komponente zu verschiedenen Wissensformen, die er in philosophischen Bildungsprozessen für zentral hält: das Begründungswissen, das Gebrauchswissen und das Erfahrungswissen (Hofer 2014, S. 55).5 Aus der Sicht meines pragmatistischen Ansatzes ist es mit Hofer bemerkenswert, dass es nicht um die Vorfindlichkeit von Texten geht, sondern um deren Bedeutung, die sich mit dem Prozedere der pragmatischen Maxime in Handlungskontexten konstituiert. Insoweit stimme ich Hofer zu, dass Inhalte durch ihre Rezeption und auch Produktion nicht auf ihren propositionalen Gehalt reduzierbar sind, zugleich – insofern sehe ich Hofers Position kritisch – lassen sich Inhalte gerade wegen ihres propositionalen Gehalts nicht auf Wissensbestände von Individuen reduzieren. Für meinen Ansatz besteht der Gewinn von Hofers Ausführungen in Bezug auf die inhaltliche Handlungsorientierung in einer Dynamisierung der Inhaltsdimension durch die Transformation der Inhalte in Wissen, zugleich halte ich aber mit dem Ziel der Vermeidung einer Inhaltsleere philosophischer Bildungsprozesse daran fest, dass ihr Inhalt als Minimum in Form einer anstrebbaren und so auf den Bildungsprozess wirkenden Idee vorzustellen ist, da er selbst nicht vorfindbar ist, sondern nur kontextualisiert – aus der Sicht meines pragmatistischen Ansatzes – handelnd vorkommt und ihm konstitutiv Bedeutung beigemessen werden kann.

5Hofer geht nicht von einer strikten Trennung der Wissensformen, sondern von ihrer Kombinierbarkeit aus(vgl. ebd., S. 68). Dies gilt laut Hofer auch für die Transformationsdidaktik von Rohbeck. Zwar versuche diese Martens’ Konstitutionsthese mit dem Vermittlungsproblem zu verbinden, blende aber Inhalte und fachliches Wissen aus und beziehe sich formal nur auf Methoden und Kompetenzen (vgl. ders., 2012, S. 175).

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Ich verstehe unter einer inhaltlichen Handlungsorientierung die enge Verbindung von Handeln und Inhalt. Diese Verbindung ist hineingenommen in die Unterscheidung von Philosophieren und Philosophie, auch wenn sie sich nicht analog polar zuordnen lässt.

2.2 Die intentionierte Handlungsdimension Im Kontext der dialogisch-pragmatischen Philosophiedidaktik sieht Martens „als weiteste unterrichtliche Zielbestimmung ‚überprüfbare Handlungsorientierung‘“ an (Martens 1979, S. 110). Diese Forderung ergibt sich aus dem Philosophiebegriff bei Martens. Er begreift Philosophie als einen „problemorientierte[n] Verständigungsprozess einer Dialog- und Handlungsgemeinschaft“, so dass als Ziel philosophischer Bildungsprozesse ein Verständnis von Philosophie als feststehendes Bildungsgut oder bloße Gesinnungsschulung nicht mehr möglich ist. Ziel des Philosophieunterrichts ist es, Probleme der von diesem Unterricht Betroffenen zu bearbeiten, da Philosophie insgesamt als Dialog über Fragen und Probleme im weitesten Sinn verstanden wird (vgl. kritisch Euringer 2008, S. 106–111). Im Rahmen des Philosophieunterrichts sollen die Anliegen der Teilnehmenden theoretisch reflektiert werden. In der Folge kann Martens als Ziel des Unterrichts angeben, dass er sich daran zu orientieren habe, inwiefern das Erlernte für die Lösung von Problemen der vom Unterricht Betroffenen relevant ist. Das Handeln wird somit als ein Können aufgefasst, welches aufgrund reflexiver Durchdringung philosophischer Inhalte möglich wird, didaktisch kann das Ziel dann als Handlungsorientierung angegeben werden. Die beschriebene Handlungsfunktion kann zum Bereich der intentionierten Handlungsdimension des Philosophieunterrichts gezählt werden, da der Handlungsaspekt im Bereich der Unterrichtsziele verortet wird und in diesem Sinne lediglich regulativ auf Unterrichtsinhalte und -prozesse wirkt und das Handeln in dieser Hinsicht nicht selbst im Unterricht stattfindet. Die intentionierte Handlungsdimension ist weiter in der philosophiedidaktischen Reflexion im Kontext der jüngeren Überlegungen zu einer Kompetenzorientierung des Philosophieunterrichts von Bedeutung. Anita Rösch schlägt unter Berücksichtigung einer deutschlandweiten Analyse von Lehrplänen und philosophiedidaktischen Ansätzen auf der Basis einer Befragung von Experten aus der Praxis ein umfassendes Kompetenzmodell für den Philosophieund Ethikunterricht vor (Rösch 2009, S. 20–26). Rösch weist dem Handeln die Rolle zu, als Kriterium letztlich übergeordnet bestimmen zu können, was eine Kompetenz ist, so dass die Fähigkeit zu handeln als das höchste und letzte Ziel der bildungspolitischen Kompetenzorientierung anzusehen ist. Bei dieser Bestimmung geht es allerdings nicht um das Handeln selbst, sondern um einen Komplex von inneren bzw. psychischen Dispositionen, die dieses Handeln hervorbringen, es steuern und so eine Kompetenz konstituieren (ebd., S. 36). Handeln im Kontext der vorgeschlagenen Kompetenzorientierung ist insofern der intentionierten

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­Handlungsdimension zuzurechnen, da nicht sein faktischer Vollzug Teil der Bildungsprozesse ist, sondern nur vorgestellte Handlungsoptionen die Funktion der Orientierung für Unterrichtsziele übernehmen. Die starke didaktische Verlagerung der Fähigkeit zu handeln in den Zielbereich von Bildungsprozessen wird mit der Realität von Bildungsinstitutionen begründet. Die Bewährung von Orientierung und Handlungskompetenz falle, so Rösch, in der Regel in den außerschulischen Bereich der Schülerinnen und Schüler und lasse sich kaum überprüfen, Ausnahmen könnten projektartig angelegte Unterrichtsarrangements bilden. Die entwickelte Struktur der intentionierten Handlungsdimension im Philosophieunterricht verweist auf eine mit ihr verbundene Problematik: Wird eine Handlungsdimension als intentionierte für den Philosophieunterricht ausschließlich gefordert, führt die Funktion von Handlungen für philosophische Bildungsprozesse zu einem Dilemma. Die Vermittlung der Fähigkeit zu handeln wird verbindlich vorgeschrieben, das Handeln selbst jedoch auf ein Jenseits des Philosophieunterrichts verlagert. Es bleibt fraglich wie eine Entwicklung, Evaluation, Überprüf- und Bewertbarkeit dieses verbindlichen Unterrichtsinhalts realisiert werden kann.

2.3 Methodische Handlungsdimension Im Unterschied zur intentionierten Handlungsdimension, die als Ziel die Vermittlung von Dispositionen für das Handeln verfolgt und für den Unterricht die didaktische Funktion eines regulativen Ziels darstellt, meint die methodische Handlungsdimension des Philosophieunterrichts den Einsatz von Handlungsarrangements im Unterrichtsgeschehen selbst. Systematisch lassen sich die methodischen Handlungsdimensionen mit Hilfe einer Unterscheidung von Johannes Rohbeck erfassen. Er bezeichnet Lesen, Sprechen und Schreiben als Medien des Unterrichts. Das von Rohbeck konstatierte Kenntlichmachen des Lesens, Sprechens und Schreibens als Medien liegt in ihrer Verbindung mit jeweils eigenen Handlungs- und Aktionsformen begründet (Rohbeck 1999; vgl. Rohbeck 2008b, S. 87). Neben diesen Vollzugsformen gibt es im Rahmen philosophischer Bildungsprozesse auch Vollzüge, die zunächst – für sich genommen – nicht philosophischer Art sein müssen, z. B. ein Unterrichtsgang, eine Realbegegnung, eine theatrale Leiblichkeits- bzw. Wahrnehmungsübung. Werden diese nichtdiskursiven Vollzüge in einem philosophischen Frage- und Problembereich pragmatistisch kontextualisiert, d. h. werden mit ihnen verbundenen Handlungen im Sinne des Verfahrens der pragmatischen Maxime als praktische Bezüge Bedeutungsrelevanz für philosophische Begriffe diskursiv zugesprochen, dann sind sie genuine Vollzüge des Philosophierens, da sie den auf sie bezogenen Begriffen eine klare Bedeutung geben.

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Insgesamt kann eine Enttrivalisierung des Faktums, dass im Philosophieunterricht gehandelt wird, – Refuhs hatte das als trivial bezeichnet (Rehfus 1986, S. 101) – in der ausgeführten Differenzierung der Handlungsdimensionen, -formen und -arten gesehen werden, da deren jeweilige Bedeutsamkeit mit Bezug zu einer begrifflichen Reflexion mit dem Prozedere der pragmatischen Maxime abgestimmt werden kann und so besonders das methodische Handlungsmoment konstitutiv für die Bedeutungsdimension in philosophischen Bildungsprozessen ist.

3 Das philosophiedidaktische Konzept eines handelnden Lernens Philosophische Bildungsprozesse lassen sich, das zeigen die Ausführungen, sowohl in Bezug auf ihre Inhalte und Ziele als auch auf ihre Methoden, an dem Aspekt des Handelns ausrichten bzw. orientieren. Ich verfolge abschließend das Vorhaben, auf der Basis meiner bisherigen Ergebnisse einen Handlungsbegriff für den Philosophieunterricht zu entfalten, der zum einen die Konnotationen der Handlungsdimensionen mit der didaktischen Triade – Inhalt, Ziel und Methode – berücksichtigt und ihn zum anderen, mit Hilfe meiner bisherigen Untersuchungsergebnisse, zur pragmatischen Maxime und den mit ihr verbundenen Handlungsbegriff begründet. Als zentrale Aspekte für diesen haben sich bei Peirce die sinnliche Wahrnehmung, die konkrete Überzeugung, sein Wirklichkeits- bzw. Realitätsbezug, die Gewohnheit und die Ganzheitlichkeit gezeigt. Ziel dieses abschließenden Kapitels ist die Entwicklung eines begründeten Handlungsbegriffs für den Ansatz eines handelnden Lernens. Er entfaltet schließlich handlungstheoretisch die Bedeutung der pragmatischen Maxime für den Kontext philosophischer Bildungsprozesse. Tab. 1 zeigt die Bezüge der Handlungsdimensionen und der Handlungsaspekte. Sie gibt ohne Anspruch auf Vollständigkeit einen Überblick über mögliche Handlungen des handelnden Lernens in philosophischen Bildungsprozessen. Die fünf Aspekte des Handlungsbegriffs der pragmatischen Maxime entfalten sich in den drei philosophiedidaktischen Dimensionen. Ich erläutere diese Zusammenhänge der Handlungen in Auswahl exemplarisch anhand der Aspekte der Wahrnehmung und der Ganzheitlichkeit (vgl. Feldmann 2017, S. 187–194).

3.1 Wahrnehmung Ein Element des Handlungsbegriffs in Verbindung mit der pragmatischen Maxime bei Peirce ist die sinnliche Wahrnehmung. Sie kann eine Gelegenheit darstellen, die einen Zweifel auslöst, der wiederum eine Handlung nach sich ziehen kann,

Inhaltlich Erzeugen von Anlässen der Erforschung durch Möglichkeiten der Reduzierung und Differenzierung

Bestimmen des Umgangs mit der Philosophie als Vorverständnis für Rezeption und Konstruktion

Begründen der realen Relevanz der ausgewählten zu bearbeitenden Inhalte Ausbilden von Regelhaftigkeit durch wiederkehrende Muster in philosophischen Gegenständen

Verbinden von Handeln und Denken, von Inhalten mit Verständnissen bzw. Handlungstypen

Überzeugung

Wirklichkeitsbezug

Ganzheitlichkeit

Gewohnheit

Wahrnehmung

Dimensionen Aspekte

Intentioniert Beginnen eines Bildungsprozesses durch äußere Anregung; Kontinuität herstellen durch den Bezug von Resultaten der Bildungsprozesse Ausbilden einer begründeten Überzeugung; Offenhalten zugunsten kreativer Prozessualität und Erlangung neuer Überzeugungen Sich-orientieren an möglichen, realen Gegebenheiten, Fragen und Problemen Entwicklung von Überzeugungen zugunsten bestimmter Ziele; Vermittlung von möglichen Handlungsmustern durch Reflexion von Regelhaftigkeit Antizipieren von möglichen Handlungsfähigkeiten als Ziel vom konkreten Unterrichtsgeschehen

Vereinheitlichen von theoretischen und praktischen Elementen in Vorgehen und Reflexion

Bezugnehmen auf konkrete Anschauung der Sachverhalte Vermitteln von Bedeutung durch den Bezug von Handeln und Denken durch Routinen und Wiederholungen

Inszenieren von Re-Präsentation durch Verfahren; Beziehen der Inhalte auf ihre Bedeutung

Methodisch Bewusstmachen auch durch präsentative Elemente, die den diskursiven vorgelagert sind und sie konstituieren können

Tab. 1  Aspekte des Handlungsbegriffs der pragmatischen Maxime und philosophiedidaktische Dimensionen des Handelns ausgewertet für ein handelndes Lernen im Kontext philosophischer Bildungsprozesse (Feldmann 2017, S. 186)

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usw. Im Zusammenhang mit der inhaltlichen Handlungsdimension wird die mögliche Differenziertheit der Wahrnehmung deutlich. Rohbecks Denkrichtungen beispielsweise können von der inhaltlichen Seite her die Wahrnehmung in philosophischen Bildungsprozessen differenzieren, strukturieren und systematisieren (Rohbeck 2008a). Gemäß der pragmatischen Maxime gehören alle denkbaren Wirkungen mit praktischen Bezügen zu einem Begriff und geben ihm eine Bedeutung. In Bezug auf die intentionierte Handlungsdimension stellt die Wahrnehmung eine wichtige Komponente dar. Mit ihren Funktionen, zum einen Zweifel anzuregen, zum andern Resultate der Erforschung mit der Wirklichkeit in Relation zu setzen, kann sie Handlungsimpulse nach sich ziehen. Als Anregung bildet die Wahrnehmung die Basis für die Auswahl möglicher Mittel, die zu bestimmten Zielen führen können und in Handlungen realisierbar sind. In ihrer Resultatfunktion ermöglicht die Wahrnehmung für das Handeln im Rahmen der Zielperspektive philosophischer Bildungsprozesse die Fähigkeit, Unterrichtsinhalte in außerunterrichtlichen Handlungskontexten anzuwenden. So impliziert beispielsweise die intentionale Handlungsdimension, dass im Philosophieunterricht mit der Kenntnis über Verantwortung gleichsam die Fähigkeit und Bereitschaft der handelnden Anwendung dieser Kenntnis im außerschulischen Handeln vermittelt wird. Diese Verknüpfung von Wahrnehmung und Handlung als Ziel liegt auch im Verfahren der pragmatischen Maxime vor; denkbare praktische Bezüge, die nach der Maxime bedeutungsgebend für Begriffe sind, lassen sich in Form von Handlungen vorstellen, ermitteln und als Ziel setzen. Im Rahmen der methodischen Handlungsorientierung nimmt die Wahrnehmung bei verschiedenen Verfahren eine zentrale Rolle ein. Als präsentatives Element ist die Wahrnehmung ihren Formen des Lesens, Sprechens und Schreibens vorgelagert. Wahrnehmungsübungen verschiedenster Art stellen im Philosophieunterricht Handlungsmethoden dar, die als Bestandteile der philosophischen Reflexion diese konstituieren können. So ist es zum Beispiel möglich, jeweils zwei Schülerinnen oder Schüler einander über einen festgelegten Zeitraum schweigend in die Augen blicken zu lassen, sodass sie handelnd das Phänomen des Blicks erfassen können. Zusammen mit einer anschließenden diskursiven Reflexion der erlebten Wahrnehmungs- und Handlungszusammenhänge ist es möglich die Lektüre von Jean-Paul Sartres Blickanalyse ­methodisch-handlungsbasiert zu gestalten (vgl. Sartre 1982, S. 338 ff.). Der Handlungsaspekt wird in diesem Arrangement philosophischer Bildungsprozesse zu einem Verstehensbestandteil des philosophischen Denkens, die begriffliche Bedeutung des Blicks konstituiert sich bei den Lernenden durch die Wahrnehmungsübung.

3.2 Ganzheitlichkeit Die mit der pragmatischen Maxime verbundene Ganzheitlichkeit, die in der nicht auflösbaren Bezüglichkeit von Handeln und Denken besteht, bringt bezüglich der

Peirces pragmatistischer Handlungsbegriff

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inhaltlichen Handlungsdimension eine Einheit von Inhalten und den mit ihnen verbundenen Handlungstypen mit sich. Grundsätzlich begründet die prozessuale Einheit von Denken und Handeln, die die pragmatische Maxime regelt, eine Einheit von Philosophie als Tatbestand und Philosophieren als Tätigkeit und macht sowohl deren Verschiedenheit als auch deren reziproke Bezogenheit deutlich. Für den Bereich der intentionalen Handlungsdimension ist die Ganzheitlichkeit der pragmatischen Maxime und des mit ihr verbundenen Handlungsbegriffs in seiner Einheitlichkeit mit dem Denken grundlegend. Die Bildung und Ausbildung von Handlungsdispositionen ist möglich, da den Vollzügen im Kontext der philosophischen Bildungsprozesse auf der Basis dieser Verbindung eine Bedeutung zugesprochen werden kann. Die methodische Handlungsdimension gewinnt durch die Ganzheitlichkeit als Einheit von Praxis und Theorie ihre Relevanz für das philosophische Bildungsgeschehen. Konkrete methodisch gesteuerte Handlungen im Unterrichtsverlauf können mit der pragmatischen Maxime auf der Basis eines irreduziblen Geflechts von Wahrnehmung, Überzeugung, Zweifel, Handeln und Denken philosophiedidaktisch als bedeutungsgebende Elemente für philosophische Begriffe und philosophierendes Denken angesehen werden. Die pragmatische Maxime, in ihrer Funktion als Bedeutungskonkretisierung von theoretischen Begriffen, stellt eine Einheit von praktischen und theoretischen Elementen her, da sie systematisch dem Sachverhalt gerecht wird, dass diese durch anderes bestimmbar sind, das als Praktisches selbst wiederum nicht theoretisch verfasst ist. Insgesamt zeigt sich die Bedeutsamkeit der pragmatischen Maxime in der philosophiedidaktischen Anwendung im besonderen Maße in Bezug auf die mit ihr verbundene Ganzheitlichkeit. Erst im Handeln kommt die pragmatistische Einheit der Inhalte und Verfahren, der Philosophie und des Philosophierens zum Ausdruck.

4 Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Aspekte des Handlungsbegriffs bei Peirce, zentrale Elemente eines begründeten Handlungsbegriffs für den Ansatz eines handelnden Lernens im Kontext philosophischer Bildungsprozesse darstellen. In ihrer dreidimensionalen Ausprägung durch ihre Konnotationen mit Inhalten, Zielen und Methoden beschreiben die Handlungsaspekte von Peirce den Gewinn des Handelns für philosophische Bildungsprozesse in der philosophiedidaktischen Anwendung der pragmatischen Maxime. Schließlich zeigt sich ein Konzept des handelnden Lernens, das auf der begründeten Einheit von theoretischen und praktischen Elementen des Philosophieunterrichts basiert und prozessual mit dieser Einheit seine Vermittlungsfunktion wahrnehmen kann. Insgesamt kann – das zeigt die Auswertung der pragmatischen Maxime im Kontext philosophischer Bildungsprozesse – eine umgreifende Einheit von Praxis und Theorie angenommen werden, so dass Philosophieunterricht in begründeter Weise konzeptionell und im Vollzug am Prinzip des handelnden Lernens ausgerichtet werden kann.

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K. Feldmann

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Kompetenz – Philosophie – Bildung: Von notwendigen begrifflichen Klärungen mit praktischen Konsequenzen Carsten Roeger

Das Paradigma der Kompetenzorientierung scheint gerade für den Philosophieunterricht adäquat zu sein, wenn man gemäß dem philosophiedidaktischen Konsens mit Verweis auf Kant (2010, S. 73) fordert, dass Schülerinnen und Schüler Philosophieren und nicht Philosophie lernen sollten. Philosophieren ist eine intellektuelle Handlung und weil die Voraussetzungen für solche mit Kompetenzen angegeben werden können, so scheint man für den Philosophieunterricht nach Martens (2009, S. 15 f.) folgern zu dürfen: „Primäres Ziel ist Kompetenzerwerb, nicht Wissenserwerb; Philosophieren-Können, nicht Philosophie-Wissen, wenn auch in notwendiger Verbindung von Kompetenz ­ und Wissenserwerb.“ Wissenserwerb sei hier also nur Mittel zum Zweck des Kompetenzaufbaus. Allerdings hat bereits Klafki (1975, S. 25 ff.) gezeigt, dass die Alternative zu einem materialen Bildungskonzept nicht notwendig ein formales Konzept ist, dass auf die Ausbildung von Fähigkeiten zielt. Vielmehr könnten auch beide Konzepte Teil eines Bildungsprozesses sein und genau dessen Realisation könnte sodann das primäre Ziel des Unterrichts sein. Folgt man dem bildungstheoretischen Ansatz von Steenblock (2011, S. 54 f.), nach dem Philosophieren ein konstitutiver Teil allgemeiner Bildung ist, so wäre die Realisierung eines entsprechenden Bildungsprozesses Zweck des Philosophieunterrichts. Dass ein solcher Bildungsprozess etwas anderes ist als Kompetenzerwerb, wird deutlich, wenn man beachtet, dass Bildung nach Humboldt (2010, S. 188) ein Prozess ist, der sich kategorial von Ausbildung unterscheidet. Entsprechend unterscheidet auch Bieri (2010, S. 205 f.) Bildung von Ausbildung: „Sich zu bilden ist tatsächlich etwas ganz anderes als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir

C. Roeger (*)  Philosophisches Seminar, Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Thein, Philosophische Bildung und Didaktik, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_9

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daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein.“ Hier scheint es nun zu einem Widerspruch zu kommen: Es ist unproblematisch zu behaupten, dass im Philosophieunterricht philosophiert werden soll. Nach der Kompetenzorientierung gilt aber, dass das Ziel des Philosophieunterrichts die Vermittlung eines Könnens ist. Nun gilt aber nach dem bildungstheoretischen Ansatz, dass es in Bildungsprozessen, von denen Philosophieren ein Teil ist, das Ziel eines solchen Unterrichts nicht ein Können ist. Es kommt also zu einem Widerspruch hinsichtlich der Ziele des Philosophieunterrichts. Diesen Widerspruch gilt es nun genauer zu untersuchen. Es liegt nahe zu vermuten, dass hier einige Begriffe in ihrer Bedeutung changieren, die notwendig zu klären sind, will man sinnvoll über das Verhältnis zwischen Philosophieren und Kompetenzorientierung sprechen. Eine möglichst genaue Schärfung der Begriffe ist schließlich relevant, um auch entsprechende didaktische Ansätze für den Philosophieunterricht zu beurteilen. Zur Klärung dieser Begriffe werden hier lediglich Arbeitsdefinitionen entwickelt, da in der hier gebotenen Kürze die ideengeschichtlichen Bedeutungen nicht vollständig überblickt werden können. Unter Arbeitsdefinitionen verstehe ich hier, dass zwar notwendige aber nicht hinreichende Merkmale für den jeweiligen Begriff expliziert werden. Im Folgenden werden entsprechend kritische Merkmale der Begriffe „Bildung“, „Philosophieren“ und „Kompetenzorientierung“ herausgearbeitet. Diese Definitionsversuche sind Bieri (2007, S. 338) folgend als Heuristik zu verstehen. Demnach wird nicht ausgeschlossen, später weitere Bedingungen aufzustellen, um reichhaltigere Begriffe zu gewinnen. Es werden hier also nur Lesarten plausibilisiert, die sich mit dem Verweis auf andere Autoren oder einer anderen Interpretation der sie auszeichnenden Merkmale kritisieren lassen. Diese Lesarten sind ein Angebot, wie man sinnvoll über „Bildung“, „Philosophieren“ und „Kompetenzorientierung“ in Bezug auf die didaktische Theoriebildung und praktische Konzeption und Beurteilung von Philosophieunterricht sprechen sollte. Im Anschluss hieran werden didaktische Überlegungen angestellt, wie sich die Bedeutung konstitutiver Merkmale des Philosophieunterrichts verschiebt, abhängig davon, ob man Philosophieunterricht nach dem Paradigma Kompetenzorientierung oder philosophischer Bildung konzipiert. Dadurch soll deutlich werden, dass die hier unternommene begriffliche Schärfung nicht nur von theoretischem Wert, sondern auch bedeutsam für die philosophische Unterrichtspraxis ist. Gesteht man schließlich zu, dass die so geschärften Begriffe relevant für die philosophische Unterrichtspraxis hinsichtlich Konzeption und Beurteilung von Unterricht sind und stellt man fest, dass ein didaktisches Konzept nicht mit notwendigen Merkmalen dieser Begriffe vereinbar ist, so hat man einen Grund, dieses Konzept abzulehnen. Man könnte aber auch zu dem Urteil kommen, dass „Kompetenzorientierung“ und „philosophische Bildung“ anders als hier dargelegt zu verstehen und dass sie durchaus zu vereinbaren seien. Aber um dies rational diskutieren zu können, ist eben eine genaue Explikation der genannten Begriffe nötig und genau dazu soll dieser Aufsatz einen Beitrag leisten.1 1Dieser

Aufsatz basiert auf meinen Vortrag bei der Tagung „Philosophische Bildung und Didaktik“ 2016 an der Johannes Gutenberg Universität Mainz und auf zentralen Argumenten meiner Dissertation, vgl. Roeger (2016).

Kompetenz – Philosophie – Bildung: Von notwendigen begrifflic ...

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1 Was ist philosophische Bildung? Wenn Bildung nach Bieri ein Streben danach ist, jemand zu sein, so verweist dies auf eine Konzeption allgemeiner Bildung nach Humboldt (2012, S. 94), die man nach Dörpinghaus et al. (2009, S. 10) als Minimaldefinition von Bildung auffassen kann, als ein sich ins Verhältnis setzen zu einem je schon gegeben Selbst-Welt-Mitmensch-Verhältnis.2 Wir stehen je schon in einem Selbst-Welt-Mitmensch-Verhältnis, indem wir Beziehungen zur Welt, zu uns ­ Selbst und zu unseren Mitmenschen haben, die man etwa als funktional oder nach Erkenntnis suchend, als optimierend oder respektierend, als politisch oder moralisch klassifizieren kann. Einige dieser Beziehungen sind schon gegeben, andere müssen erst noch erlangt werden. Die Konstitution eines Selbst-Welt-Mitmensch-Verhältnisses geschieht zunächst durch Anpassungsprozesse, in denen wir auf bestimmte Ziele hin erzogen, sozialisiert oder ausgebildet werden. Nach Frost (2008, S. 10) erschöpft sich Bildung aber nicht nur in Anpassungsprozessen, auch wenn diese ein notwendiger Bestandteil von Bildung sind: „Bildung beinhaltet die Befähigung zur Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen privater und öffentlicher Art. Dazu müssen Systemrationalitäten und Funktionsweisen erlernt und Diskursarten eingespielt werden, um den Zugang zu sozialen Positionen und den damit verbundenen Möglichkeiten überhaupt zu gewinnen. Mit Bildung ist aber immer auch der Anspruch verbunden, durch die Entfaltung individueller Personalität und durch die Einsicht in Sachfragen Horizonte des Weltbezugs zu eröffnen, die die faktischen gesellschaftlichen Prozesse überschreiten und einer kritischen Beurteilung und Neuorientierung unterwerfen können.“

Neben einer Anpassungsdimension ist demnach eine Widerstandsdimension ein weiterer Merkmalsbereich von Bildung. In die Widerstandsdimension fallen alle Prozesse, welche die Konstituenten der Anpassungsprozesse kritisch zur Disposition stellen: Was sind gültige Erziehungsziele und wie lassen sie sich begründen? Was macht eine Sozialisation zu einer menschlichen und welche Ausbildung ist nicht nur funktional, sondern Teil eines gelingenden Lebens? Bildung und somit philosophische Bildung, welche hier als eine spezifische Form allgemeiner Bildung verstanden werden kann, beinhaltet also eine Anpassungs- und eine Widerstandsdimension. Wenn eine Person innerhalb der Widerstandsdimension denkt, so ist dieser Denkprozess nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass erstens die Erfolgskriterien von Prozessen der Anpassungsdimension in Frage gestellt werden, sondern auch zweitens der Denkprozess selbst ergebnisoffen ist: Wenn ernsthaft gefragt wird, was gültige Erziehungsziele sind, dann stehen diese Ziele noch nicht fest und müssen noch begründet werden. Widerstandsprozesse haben also einen forschenden Charakter. Als widerständig kann man sie phänomenologisch charakterisieren, weil sie in zweifacher Hinsicht widerständig sind: erstens als Kritik der Anpassungsleistungen, zweitens als

2Die Charakterisierung von „Bildung“ über die Referenz auf ein „Selbst-Welt-MitmenschVerhältnis“ basiert auf einer Untersuchung von Marotzki (1990, S. 41 f.).

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Erkenntnisbemühung mit unklarem Ausgang.3 Hinsichtlich eines Bildungsprozesses sind beide Dimensionen auf das Selbst-Welt-Mitmensch-Verhältnis bezogen. Prozesse innerhalb der Anpassungs- oder Widerstandsdimension sind kategorial voneinander verschieden. Es kann reine Widerstandsprozesse geben, welche zwar das eigene Selbst-Welt-Mitmensch-Verhältnis reflektieren, aber zu keinem Ergebnis kommen oder zu einem Ergebnis, welches keine konstitutive Auswirkung auf das S ­elbst-Welt-Mitmensch-Verhältnis hat, denkbar sind hier rein wissenschaftlich Fragen. Auch Anpassungsprozesse unterscheiden sich kategorial von Widerstandsprozessen, wenn etwa ein Lernprozess seine eigenen Ziele, etwa standardisierte Vorgaben, nicht in Frage stellt. Diese kategoriale Trennung mag künstlich erscheinen, da auch Prozesse denkbar sind, die immer beide Dimensionen erfüllen, etwa wenn standardisierte Methoden eingeübt werden, damit Forschung gelingen kann, während das Ergebnis der Forschung selbst offen ist. Aber für die Klarheit der hier vorgelegten Argumentation soll aus methodischen Gründen diese kategoriale Trennung beibehalten werden. Beide Dimensionen sind notwendig für Bildung, weil niemand als gebildet bezeichnet werden kann, der zwar viel weiß und kann, sich aber nie kritisch und ernsthaft genug mit seinem Verhältnis zu sich selbst, zur Welt und zu seinen Mitmenschen auseinandergesetzt hat, als das es ihn prinzipiell hätte verändern können.4 Anderseits würde man niemanden als gebildet bezeichnen, der nur pauschal Kritik übt, ohne dabei über dazu relevantes Wissen und Kompetenzen zu verfügen.5

2 Was ist philosophische Kompetenz? Nach der im Bildungsdiskurs gängigsten Definition6 von Weinert (2001, S. 27 f.) sind „Kompetenzen […] die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie

3Diese

charakteristische Widerständigkeit des Bildungsprozesses wird insbesondere in der pädagogischen Interpretation des Höhlengleichnisses Platons (Politeia, 7. Buch, 514a–517a) nach ­Meyer-Drawe (2008) und Frost (2010) deutlich. 4Dieses Argument wurde bereits von Arthur Schopenhauer (2012, S.  164) als Kritik am Gelehrten vorgebracht und später von Friedrich Nietzsche (1999, S. 326) als Kritik des Bildungsphilisters aufgegriffen. 5Eine ausführlichere Begriffsexplikation zur „philosophischen Bildung“ habe ich hier entfaltet: Roeger (2019a). 6Weinert hat für die OECD PISA-Studie im Projekt Definition and Selection of Competencies: Theoretical and Conceptual Foundations (Rychen et al. 2001) die für die aktuelle Bildungsreform einflussreichste Kompetenzdefinition entwickelt. Nach der ersten PISA-Studie erstellte das Bundesministerium für Bildung und Forschung in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Institut für Pädagogische Forschung unter Leitung von Eckhard Klieme das Gutachten Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards (Klieme 2009), um die Bedeutung von Bildungsstandards und Kompetenzen zu klären. Diese sogenannte Klieme-Expertise greift explizit die weinertsche Definition aus Leistungsmessungen in Schulen nach Weinert (2001) auf, da sie sich nach Klieme (2009, S. 21) „hervorragend auf den schulischen Bereich übertragen“ lasse.

Kompetenz – Philosophie – Bildung: Von notwendigen begrifflic ...

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die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“ Für den Philosophieunterricht ist diese Definition nicht adäquat. Man scheint auch dann kompetent zu Philosophieren, wenn man danach strebt ein Problem besser zu verstehen, man aber nicht zu einer Lösung kommt. Ferner gehört zum Philosophieren auch das Entdecken philosophischer Probleme oder das Erlangen interessanter Einsichten, ohne dass man diese auch sogleich wieder nutzen kann. Schließlich ist es nicht plausibel, warum „motivatonale, volitionale und soziale Bereitschaften“ zu einer philosophischen Kompetenz dazugehören sollten. Jemand, der sich jahrelang respektabel an philosophischen Diskussionen beteiligt hat, sich aber nun neuen Aufgaben zuwendet und deswegen nicht mehr Philosophieren will, der verliert nicht sofort jegliche philosophische Kompetenz.7 Während also die Kompetenzdefinition von Weinert nicht für den Philosophieunterricht tauglich ist, hat innerhalb der philosophiedidaktischen Diskussion Rohbeck (2004, S. 86) eine unproblematischere Definition vorgelegt: philosophische Kompetenz bedeute, „bestimmte Methoden des Philosophierens selbstständig anwenden zu können“. Berücksichtigen sollte man aber ferner, dass nach Klieme (2004, S. 10 f.) empirische Befunde gezeigt haben, dass Kompetenzen kontextabhängig sind. Ferner scheint auch jemand dann kompetent genannt werden zu können, wenn er mal einen Fehler macht, aber ansonsten zuverlässig seine Kompetenz ausübt. Das Verfügen über eine Kompetenz selbst ist graduell, so dass philosophische Kompetenzen nach Rösch (2011) in verschiedene Niveaustufen und Raster unterteilt werden können. Um Kompetenz genauer zu klassifizieren, kann man als genus proximum, Weinert folgend, den Begriff „Fertigkeit“ verwenden. Der sich alternativ anbietende Begriff der Fähigkeit, welcher zwar auch von Weinert aufgeführt wird, scheint zu weit zu sein, sobald man unter Fähigkeit eine nicht ausgebildete Fertigkeit versteht: So haben viele Menschen die Fähigkeit zu singen, welche sich aber erst durch eine Schulung zu einer professionellen Fertigkeit ausbilden lässt. Ferner unterscheiden sich Kompetenzen nach Klieme (2004, S. 10 f.) von Fähigkeiten dadurch, dass sie funktional sind. Somit erhalten wir als Arbeitsdefinition für den Philosophieunterricht:

Philosophische Kompetenz ist eine Fertigkeit zur Anwendung philosophischer Methoden, um unter normalen Bedingungen zuverlässig fachspezifische ­Anforderungen hinreichend zu erfüllen.

­Entsprechend wird nach Klieme (2009, S. 63 ff.) die weinertsche Kompetenzdefinition von der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland der Lehrplanarbeit zugrunde gelegt. 7Geiß (2017, S. 121–124) widerspricht dieser Auffassung und interpretiert „motivationale, volitionale und soziale Bereitschaften“ philosophiedidaktisch. Diesen Ansatz diskutiere ich kritisch in Roeger (2019b).

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Wie auch immer man Kompetenz genauer definieren mag: Wichtig an einer Minimaldefinition von Kompetenz scheinen vor allem drei Merkmale zu sein: Erstens ist Kompetenz ein Erfolgswort, dass über Kriterien definiert ist, die jemand zuverlässig und hinreichend erfüllt, wenn man ihn als kompetent bezeichnet. Zweitens müssen diese Kriterien bekannt sein, da Kompetenzen in der Schule vermittelt werden sollen. Drittens legen diese Kriterien die Funktion von Kompetenzen relativ zu ihrem Kontext fest. Aufgrund der definierten, bekannten Kriterien sind Kompetenzerwerbsprozesse, in denen philosophische Kompetenzen ausgebildet werden, Teil der Anpassungsdimension philosophischer Bildung.

3 Was ist Philosophieren? Philosophieren selbst ist keine Kompetenz, dies zu behaupten wäre nach der Kompetenz-Performanz Unterscheidung von Chomsky (1956, S. 4) ein Kategorienfehler. Wohl aber können Kompetenzen als Voraussetzung betrachtet werden, um auf einem bestimmten fachlichen Niveau zu philosophieren. Jemand, der philosophiert, diskutiert Probleme, wie „Was ist ein gelingendes Leben?“ oder „Was ist Gerechtigkeit?“ weil er wissen will, was ein gelingendes Leben ist oder was die allgemeine Bedeutung von „Gerechtigkeit“ ist. Da man hier nach Wissen strebt, ist Philosophieren also nicht zweckfrei. Philosophieren ist folglich eine epistemische Praxis, weil sie aber in der Regel nicht mit empirischen Methoden arbeitet, sondern mittels Argumentation, Begriffsanalyse oder Gedankenexperimenten, ist Philosophieren im Kern eine a-priori-Praxis. Diese Charakterisierung scheint zumindest für den Philosophieunterricht plausibel.8 Im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Tätigkeiten zeichnet sich Philosophieren nach Rosenberg (2002, S. 18) durch seinen Charakter als Praxis höherer Ordnung aus: Nicht die Frage: „Ist die Bundesrepublik ein gerechter Staat?“ oder „Führt Paris Hilton ein gelingendes Leben?“, sondern das Infrage stellen der Bedeutung der Begriffe „Gerechtigkeit“ oder „gelingendes Leben“, die im Alltag in Fragen oder Aussagen unproblematisiert verwendet werden, lässt sie zu philosophischen Fragen werden. Philosophieren kann man demnach also relativ zum Alltag oder zu Wissenschaft auch als eine Praxis höherer Ordnung verstehen. Dies verweist auf ein weiteres Merkmal, nämlich das der maximalen Rationalität, es geht nicht nur darum zu verstehen, ob Paula eine wahre Freundin ist, sondern was wahre Freundschaft überhaupt in allen nur denkbar möglichen Fällen ist und dies unabhängig von zeitlich-kulturellen Kontexten. So ist Platons Wissensanalyse nicht erst seit Gettier (1963) falsch, sondern war dies auch schon in der Antike. Was sich hier zeitlich

8Unstrittig

ist diese Charakterisierung natürlich nicht, sobald man nach Quine (2011) die Geltung analytischer Wahrheiten kritisiert oder einen erkenntnistheoretischen Naturalismus nach Kornblith (2002) vertritt. Auch wird sie durch aktuelle Entwicklungen der experimentellen Philosophie nach Grundmann et al. (2014) problematisch.

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geändert hat, ist nach Beckermann (2008, S. 608) die Evidenzlage, nicht aber die Richtigkeit oder Falschheit der Analyse. Die Annahme einer entsprechenden zeitlosen Rationalität ist nicht unumstritten und aus einer pragmatischen, relativistischen oder anti-realistischen Perspektive könnte man dieser Explikation widersprechen. Entscheidend für unsere Argumentation ist hier aber, dass die Charakterisierungen von Philosophie über die Merkmale „zeitunabhängige Sachfragen“ und „maximale Rationalität“ eine für den Philosophieunterricht, wenn auch unter anderen, plausibel sind, da hieran exemplarisch die Widerständigkeit des Philosophierens deutlich aufgezeigt werden kann: Es genügt eben nicht zu sagen „Zur Zeit Platons war Wissen eine wahre, gerechtfertigte Meinung und im Zeitalter der Digitalisierung ist Wissen nichts anderes als Information.“ Erst die Frage nach einer allgemeinen Definition von Wissen mit dem Anspruch der Zeitunabhängigkeit und maximalen Rationalität konstituiert hier die für das Philosophieren charakteristische Widerständigkeit hinsichtlich der philosophischen Sache und des Selbst-Welt-Mitmensch-Verhältnisses: Die Auseinandersetzung mit philosophischen Problemen ist nicht widerstandsfrei, oft kommt man nicht zu einer allgemeinen Lösung, eine Diskussion endet in mehreren gut begründeten aber zu einander widersprüchlichen Positionen. Gerade im Schulunterricht scheint man sich mit einem ernsthaften Streben nach Wissen begnügen zu müssen. Besonders die großen Fragen sind für den Philosophieunterricht interessant und können in diesem diskutiert werden, auch wenn man mit den Schülerinnen und Schülern keine allgemein akzeptierten Lösungen erarbeiten kann, weil diese nicht bekannt sind. Dies ist die Widerständigkeit des Philosophierens der Sache nach. Philosophieren ist aber noch auf eine weitere Art widerständig, nämlich dadurch, dass die Fragen der Philosophie sich gemäß ihrem Charakter der höheren Ordnung und ihrer Zeitunabhängigkeit kritisch zum aktuellen ­Selbst-Welt-Mitmensch-Verhältnis verhalten. Mit dem Problem der Willensfreiheit lässt sich kritisch mein Selbstverständnis als vermeintlich autonomes Subjekt befragen, es hat ferne moralische Konsequenzen und fordert unser Konzept von Verantwortlichkeit in unserem Handeln in der Welt heraus. Dies ist die Widerständigkeit des Philosophierens hinsichtlich unseres S ­ elbst-Welt-Mitmensch Verhältnisses. Bedenkt man diese humanistische Dimension des Philosophierens mit, so kann man Philosophieren im besten Sinne als Reflexion begreifen, da das Streben nach Erkenntnis der Sache nach zurückgebeugt wird auf den nach Erkenntnis Suchenden. Betrachtet man diese philosophische Auseinandersetzung mit sich selbst, der Welt und seinen Mitmenschen als Wert an sich, so kann man Philosophieren auch als Selbstzweck charakterisieren, da dieser dem Philosophieren inhärente Wert im Prozess des Philosophierens indirekt mit erfüllt wird, auch wenn man keine allgemeine Lösung eines philosophischen Problems findet.9 9Philosophieren als „Praxis“ kann hier aristotelisch verstanden werden (EN VI 5, 1140b13–20) im Sinne einer selbstzweckhaften Handlung als Abgrenzung zu einer Herstellung. Ebert (1976) und Jacobi (1979) diskutieren den aristotelischen Ausdruck „selbstzweckhafte Handlung“ ausführlich. Für unsere Untersuchung ist aber nicht entscheidend, was genau Aristoteles unter der ­Poiesis-Praxis-Differenz verstanden hat, sondern ob Philosophieren im oben angegebenen Sinn als Selbstzweck charakterisiert werden kann.

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Abb. 1  Dimensionen philosophischer Bildung

Als eine vorläufige Arbeitsdefinition für den Philosophieunterricht erhalten wir somit: Philosophieren ist eine epistemische a-priori-Praxis höherer Ordnung, maximaler Rationalität zur Untersuchung zeitunabhängiger Sachfragen. Während also der Erwerb philosophisch-methodischer Kompetenzen eine Anpassungsleistung ist, so ist Philosophieren selbst ein widerständiger Prozess und somit kategorial verschieden vom reinen Kompetenzerwerb. Philosophieunterricht, der nur die für das Philosophieren notwendigen Kompetenzen ausbildet, der könnte den inhärenten Wert des Philosophierens vernachlässigen. Bei der Kompetenzorientierung geht es also darum etwas zu können, beim Philosophieren streben wir nach philosophischem Verständnis und danach auf eine philosophisch reflektierte Art in der Welt zu sein. (Abb. 1)

4 Didaktische Konsequenzen Die vorab getroffene begriffliche Trennung von Kompetenzerwerbsprozessen und Philosophieren ist nicht nur begrifflich relevant, sondern hat Konsequenzen für charakteristische Merkmale des Philosophieunterrichts. Die Kompetenz-

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orientierung kann als ein didaktisches Konzept verstanden werden, für das Kompetenzerwerbsprozesse derart charakteristisch sind, dass deren Realisierung das Primat des Unterrichts ist. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass nach Maßgabe der Kompetenzorientierung 1) die Operationalisierung von Lernprozessen und 2) die Funktionalisierung des philosophischen Gehalts der Lebenswelt und des Problems dem Anspruch philosophischer Bildung nicht gerecht wird.

4.1 Operatoren zur Steuerung von Lernprozessen Kompetenzorientierte Lernziele werden operationalisiert formuliert. Ob Schülerinnen und Schüler eine Kompetenz erworben oder erweitert haben, wird daran beurteilt, ob eine Performanz gezeigt wurde, welche als Indikator für die Ausführung des entsprechenden Operators dient. Als Operatoren dienen performative Verben die beim Philosophieren zum Ausdruck kommen, etwa wenn man im Schulunterricht Stellung zu philosophischen Positionen nimmt. Den Operator „Stellung nehmen“ definiert das Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2017) als „eine Problemstellung/ eine Bewertung/eine Position auf der Grundlage fachlicher Kenntnisse prüfen und nach Abwägung eine Einschätzung formulieren“. So allgemein formuliert, könnte der Operator in jedem Fach Anwendung finden, was genau eine philosophische Stellungnahme auszeichnet, darüber findet sich in dieser Definition nichts. Im Schulbuch philo Einführungsphase NRW findet sich nach Draken et al. (2014) eine Konkretisierung des Operators, die sich auf eine ältere Definition der Standardsicherung NRW von 2007 bezieht: „zu einem Sachverhalt nach ausgewiesenen Normen und Werten und unter Verwendung von Fachwissen und Fachmethoden eine eigene Position argumentativ gesichert vertreten.“ Der Ausdruck „Normen und Werten“ markiert hier eine philosophische Beurteilung. Allerdings kann eine philosophische Beurteilung auch ohne die Angabe von Normen und Werten erfolgen, etwa auf Grundlage einer reductio ad absurdum. Ferner ist auch hier denkbar, dass eine solche Stellungnahme in anderen Schulfächern erfolgt, da lediglich Normen und Werte angewandt werden müssen, um diesen Operator zu erfüllen und diese könnten auch aus einer unreflektierten Erziehung gewonnen worden sein. Lernprozesse werden hier von ihrem Output aus gedacht, indem definiert wird, was als Ergebnis erwartet wird und dieses Ergebnis wird mehr oder weniger fachlich sinnvoll darüber beschrieben, was man durch diesen Lernprozess mehr können soll. Die erfolgreiche Erfüllung dieser Definition ist folglich eine Anpassungsleistung und ein solcher Lernprozess ist deshalb in der Anpassungsdimension philosophischer Bildung zu verorten. Es ist also möglich im Philosophieunterricht Kompetenzen zu trainieren ohne zu philosophieren. Im definierten Sinn von philosophischer Bildung kann hier nicht gesprochen werden, weil die Widerstandsdimension fehlt, die konstitutiv für das Philosophieren ist: Eine Widerständigkeit der Sache nach entstehe, wenn man nicht

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wüsste, welche Normen und Werte zu einem Urteil herangezogen werden könnten oder wenn bekannte Normen und Werte in Frage stehen. Philosophieren als eine Praxis höherer Ordnung, maximaler Rationalität ist hier also ein Ringen um Normen und Werte. Ob und wie eine Stellungnahme zu einem entsprechenden Problem gelingt, ist zunächst offen. Eine Widerständigkeit hinsichtlich des Selbst-Welt-Mitmensch-Verhältnisses entstehe durch einen lebensweltlichen, persönlichen Bezug, z. B. dadurch, wenn durch die Diskussion von Normen und Werten das eigene Selbst-Welt-Mitmensch-Verhältnis problematisch wird. Bei einer Diskussion des Wertes der Privatsphäre für die Demokratie im Rahmen der Staatsphilosophie, könnte eine persönliche Konsequenz sein, das eigene ­Selbst-Welt-Mitmensch Verhältnis zu überdenken, wenn es sich u. a. durch die Nutzung datenschutzrechtlich problematischer digitaler Medien konstituiert. Eine persönlichkeitswirksame Auseinandersetzung kann und darf dabei nur ermöglicht werden, da man sonst der Autonomie der Schülerinnen und Schüler nicht gerecht wird. Während im Sinne der Kompetenzorientierung Unterricht hinsichtlich der Erfüllung von Lernzielen gesteuert wird, kann philosophische Bildung nur durch die Realisierung der Widerstandsdimension im Unterricht ermöglicht werden. Für einen solchen philosophischen Widerstand ist ein adäquater Inhalt relevant, welcher den Widerstand der Sache nach konstituiert und einen Bezug zum Selbst-Welt-Mitmensch Verhältnis hat und dieses kritisch herausfordert. Offensichtlich benötigt man für eine fachlich adäquate Auseinandersetzung auch Kompetenzen, aber diese sind nur Mittel zum Zweck des Philosophierens. Zum Kompetenzaufbau müssen diese aber nicht primärer Zweck des Unterrichts sein, bevor mit dem Philosophieren überhaupt erst begonnen werden könnte. So ist aus der Unterrichtspraxis bekannt, dass man sofort mit Schülerinnen und Schülern philosophieren kann, ohne zuvor eine Methodenschulung für philosophische Kompetenzen durchzuführen.10 Dies ermöglicht es ja gerade erst Philosophieren zu lernen, indem man philosophiert. Einerseits ist Philosophieren ohne Kompetenzerwerb möglich. Anderseits ist es möglich, Aufgabenstellungen im kompetenzorientierten Philosophieunterricht erfolgreich zu bewältigen, indem man Kriterien der Kompetenzorientierung genügt, ohne dass man dazu philosophieren müsste.

4.2 Lebenswelt und Probleme als Trainingsmaterial Kompetenzorientierter Unterricht funktionalisiert das philosophische Problem und den Lebensweltbezug zur Erreichung des kompetenzorientierten Lernziels derart, dass es einer prinzipiellen Ergebnisoffenheit und Widerständigkeit des

10Interessant

ist dies gerade im Bereich des Philosophierens mit Grundschulkindern, die gerade nicht über entsprechend ausgebildete philosophische Kompetenzen verfügen können. Dies zeigen auch die empirischen Untersuchungen von Goebels (2017).

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Philosophierens widerspricht. Innerhalb der Kompetenzorientierung dient der Lebensweltbezug zur Motivation der Schülerinnen und Schüler. Dies reduziert den philosophischen Gehalt der lebensweltlichen Situation auf seine Funktion für das Erreichen des gesetzten Kompetenzziels. Zeigt man beispielsweise die Tatortreiniger Folge „Fleischfresser“ (Lausund 2014), in der der karnivore Protagonist mit einer missionarischen Veganerin konfrontiert wird, so wäre ein entsprechendes kompetenzorientiertes Lernziel: „Die Schülerinnen und Schüler vertreten unter Berücksichtigung des Präferenzutilitarismus argumentativ eine eigene Position zu dem Problem, ob man Tiere essen darf.“ Um dieses Lernziel zu motivieren würde es auch genügen nur einen kleinen Ausschnitt aus der Folge zu zeigen. Jedoch sind mit dieser Frage noch weitere philosophisch relevante Probleme verbunden, die auch im weiteren Verlauf der Folge aufgezeigt werden, z. B.: Was ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier? Was ist eine gute Definition? Was bedeutet Würde? Was ist ein angemessener Umgang mit Behinderungen? Übernehmen wir mit unserer Ernährungsweise moralische Verantwortung? Wie konsequent sollte man seine eigenen Werte leben? Ein auf ein vorabgesetztes Kompetenzziel festgelegter Unterricht würde weder dem philosophischen Gehalt des lebensweltlichen Beispiels, noch dem sachlichen Problemhorizont oder der Eigendynamik der Gedanken der Schülerinnen und Schüler gerecht. Kompetenzorientierung würde hier bedeuten, die Schülerinnen und Schüler werden durch das von der Lehrerin oder dem Lehrer entsprechend präparierte lebensweltliche Problem motiviert, dass ebenfalls vorgegebene Kompetenzziel zu erreichen. Auch die philosophischen Probleme selber müssen nur soweit reflektiert werden, wie es für das Kompetenzziel nötig ist. Alle stattfindenden Lernprozesse wären eine entsprechende Anpassungsleistung an das Kompetenzziel. Zur philosophischen Bildung gehört es aber auch philosophische Probleme zunächst zu entdecken, vor allem solche, welche das eigene Selbst-Welt-Mitmensch-Verhältnis herausfordern, das eigene Selbstver­ ständnis und seinen Platz in der Welt fraglich werden lassen und neu zu bestimmen aufgeben. Dadurch würde man wieder die für das Philosophieren konstitutive Widerständigkeit realisieren. Weil dies aber persönlichkeitswirksame Prozesse sein können, sollten sie nur ermöglicht werden, nicht aber durch eine standardisierte, operationalisierte Planung gesteuert werden, denn dies wäre moralisch problematisch, da sie die Autonomie der lernenden Subjekte unterlaufen würde. Kompetenzorientierter Unterricht funktionalisiert also Lebenswelt, Gegenstand und Schülerinnen und Schüler. Philosophieren hingegen gewinnt seinen charakteristischen Reiz, wenn Schülerinnen und Schüler sich mit philosophischen Problemen offen auseinandersetzen, welche sie interessieren und die eine Relevanz für ihr Selbst-Welt-Mitmensch-Verhältnis haben. Man könnte den bisherigen Ausführungen entgegenhalten, dass hier lediglich eine Diskrepanz zwischen offenen und geschlossenen Unterrichtsphasen erörtert wird und dass sich guter Unterricht natürlich durch beide Phasen auszeichne, so

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wie dies etwa im Bonbonmodell nach Sistermann (2008, S. 305) dargestellt wird. Ferner könnte man mit Meyer (2015, S. 111) die Kompetenzorientierung wohlwollender interpretieren und folgern, dass diese lediglich den Blick darauf richte, dass Schülerinnen und Schüler nicht bereits alle Fertigkeiten mitbrächten, die für einen anspruchsvollen Philosophieunterricht nötig seien. Diesen beiden Einwänden ist entgegenzuhalten, dass eine Schülerorientierung Teil jeder guten Didaktik spätestens seit den 70er Jahren ist.11 Da die Kompetenzorientierung aber weitere problematische Folgen hat, rechtfertigt die Schülerorientierung allein nicht diesen didaktischen Ansatz. Und auch soll hier nicht abgestritten werden, dass Unterricht immer offene und geschlossene Phasen beinhaltet. Kompetenzorientierung aber verschiebt wegen der vorab definierten Lernziele den Schwerpunkt auf geschlossene Phasen, denn nach Henke et al. (2013, S. 70) soll kompetenzorientierter Unterricht 75 % der Unterrichtszeit ausmachen. Das gilt selbst dann, wenn man den Schülerinnen und Schülern zwar die Ziele nennt, aber im Sinne einer Individualisierung offenlässt, wie genau die Schülerinnen und Schüler die Lernziele erreichen, denn auch hier sind die Lernprozesse durch ihre definierten Lernziele geschlossen und somit Teil der Anpassungsdimension. Offene Phasen, sei es als Einstieg oder als Lernprozesse werden innerhalb der Kompetenzorientierung immer nur soweit offengehalten, wie es der Ausbildung von Kompetenzen dient und somit funktionalisiert. Gemäß philosophischer Bildung ist das Kriterium für eine adäquate Offenheit oder Engführung des Philosophieunterrichts aber nicht der Kompetenzzuwachs, sondern Erkenntnis und Verständnis hinsichtlich der philosophischen Sachfragen, respektive des dazu korrespondierenden, prinzipiell unverfügbaren ­ Selbst-Welt-Mitmensch-Verhältnisses. Hier handelt es sich um ein Reduktionismusproblem, das aber gerade durch die geschärften Begriffe gelöst werden kann, indem Anpassungs- und Widerstandsprozesse in ein gültiges Verhältnis gesetzt werden: Entscheidend ist zunächst eine Auswahl solcher philosophischen Inhalte, welche sowohl der Neugier der Schülerinnen und Schüler entspricht, als auch deren Selbst-Welt-Mitmensch-Verhältnis herausfordert und erst in einem zweiten Schritt ist zu überlegen, welche Kompetenzen notwendig für eine philosophische Reflexion sind. Kompetenzorientierung bedeutet aber nach Klieme (2010, S. 8) gerade die Verkehrung dieser Zweck-Mittel-Relation. Der zu Anfangs dargelegte Widerspruch lässt sich also lösen, indem Kompetenzerwerb nicht primärer Zweck des Philosophieunterrichts ist, sondern ein untergeordneter Zweck zu Realisierung des Philosophierens in der für philosophische Bildung charakteristischen Widerstandsdimension.

11Für

einen ausführlichen Vergleich dieser Didaktiken siehe Meyer (1993, S. 97 ff.).

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5 Resümee Mit Rösch (2010, S. 3) zu behaupten, dass der Philosophie- und „Ethikunterricht in besonderer Weise für eine kompetenzorientierte Ausrichtung prädestiniert“ sei, birgt die Gefahr den Philosophieunterricht zu verengen. Die angestellten Überlegungen zum Konzept einer philosophischen Bildung zeigen aber, dass Philosophieren eben nicht einfach nur, wie Tiedemann (2015, S. 73) behauptet, eine Technik ist, die man durch Kompetenzausbildung erlernen kann. Eine entsprechend ausgerichtete Philosophiedidaktik würde übersehen, dass Philosophieren als Teil philosophischer Bildung ein widerständiger Prozess ist, dem möglichst viel Raum im Philosophieunterricht eingeräumt werden sollte, denn gerade die offene Auseinandersetzung mit philosophischen Sachfragen und die darin liegende indirekte und möglicherweise persönlichkeitswirksame Kritik am eigenen Selbst-Welt-Mitmensch-Verhältnis ist es, die den besonderen Charakter des Philosophieunterrichts ausmacht. Dadurch steht im humanistischen Sinne der Mensch im Mittelpunkt des Philosophieunterrichts und nicht sein Kompetenzoutput. Schließlich spiegelt dies die Motivation, warum sich junge Menschen der Philosophie zuwenden, die nach Bieri (2007, S. 337) auf eine „Suche nach einem umfassenden Verständnis der Welt und unserer Stellung in ihr gegangen” sind und eben nicht, weil sie nach der Philosophiestunde mehr können wollen als vorher.

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Lebenswelt- und Problemorientierung – Zwei didaktische Formeln und einige Überlegungen dazu Bodo Kensmann

Die Herstellung der Erfahrungsfähigkeit bestünde sehr wesentlich im Bewußtmachen und damit im Abbau dieser Verdrängungsmechanismen und Reaktionsbildungen, die in den Menschen selber ihre Erfahrungsfähigkeit verkrüppeln. Es geht also nicht einfach um die Absenz von Bildung, sondern um die Feindschaft dagegen … Adorno, Erziehung – wozu?

1 Lebenswelt und problemorientiertes Philosophieren Häufig wird der Begriff der Lebenswelt, der in der didaktischen Formel von der Anknüpfung an die Lebenswelt der Schüler*innen virulent und im Diskussionszusammenhang um eine Problemorientierte Philosophie-Didaktik verankert ist, ganz unbefangen gebraucht. Was meint in diesem Zusammenhang „anknüpfen“? Und was heißt etwas genauer „Lebenswelt“? Überraschenderweise findet sich in der Filmtheorie Siegfried Kracauers ein erster Fingerzeig: Lebenswelt, das meint „die Welt, in der wir leben“, alltäglich unreflektiert, selbstverständlich und unmittelbar. Über diese können wir nach Kracauer in besonderer Weise mittels eines realistischen Films mehr erfahren als im gelebten sozialen Leben selbst (Kracauer 1985, S. 384). Damit wird eine erste (methodisch) bedeutsame Bestimmung von Lebenswelt deutlich: Dass von dieser wie von ihren Ausdifferenzierungen in weltanschauliche Einstellungen, Werten, Normen wie Phänomen-Bedeutungen nur explizit gesprochen werden kann, wenn zunächst eine perspektivische Distanzierung von dieser bzw. ihren Phänomenen gegeben

B. Kensmann (*)  Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Thein, Philosophische Bildung und Didaktik, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_10

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ist. Mit Blick auf die Bestimmung von Lebenswelt sei an dieser Stelle auf die besondere Chance mit Filmen im Philosophie-Unterricht philosophieren zu können hingewiesen: Ein realistischer Film und ähnlich eine realistische Fotografie können in äußerster Nähe zum lebensweltlichen Alltag in einer Weise zu denken geben wie es sonstige Künste zumeist nicht ermöglichen. Eine in herausfordernder und irritierender Weise im öffentlichen Raum platzierte Skulptur oder ein abstraktes Gemälde wie ebenso ein abstrakter Experimentalfilm thematisieren, nicht zuletzt referentiell zu anderen künstlerischen Darstellungen, primär Präsentationsformen, Raumwahrnehmungen, reine Farben, reine Formen etc. Diese künstlerischen Darstellungsarten haben gewohnte Vorstellungen von Wirklichkeiten weitgehend hinter sich gelassen bzw. irritierend neu konfiguriert, zertrümmert etc. Verschiedene Künste sollten auch im Philosophieunterricht zu denken geben. Mit dem Verweis auf realistische Filme und Fotografien geht es aber um eine direkte, nicht über ästhetische Konzepte vermittelte, Erschließung von Lebenswelten. Mit Verweis darauf, dass die Übergänge von realistischen Darstellungen (nicht: naiver Widerspiegelungsrealismus) zu starken Loslösungen (Abstraktionen) von jenen fließend sind, sei vereinfachend festgehalten: Der provozierten Frage „Was-soll-das (Neue, andere, Unbekannte)?“ steht beim realistischen Film die Einladung an den Betrachter gegenüber, leicht ­Wieder-Erkennbares hinsichtlich seiner Geltungsansprüche zu befragen. Somit kann beim bzw. nach dem Betrachten einer „gefundenen Story“ (Kracauer 1985, S. 323), einer lebenswelt-alltäglichen Geschichte, und alltagsbekannter physischer wie sozialer Phänomene im Film das für die Philosophie zentrale Motiv des Staunens bzw. Wunderns aktiviert werden (Kracauer 1985, S. 89). Beim Film-Sehen kann beim distanzierten Betrachten Gewöhnliches als nunmehr „Unerklärliche[s] […] entgegen[treten]“ (Aristoteles 1987, S. 21 f.) – soweit nicht andere Interessen oder Motive beim Film-Sehen wie auch sonst das philosophische Schlüsselmotiv des Staunens unterbinden. Philosophierende „nämlich beginnen, wie gesagt, mit der Verwunderung, dass die Dinge so sind, wie sie sind […]“ (Aristoteles 1987, S. 23). Gelebtes Leben wird in Distanz gesetzt vorgestellt, „registriert“ bzw. „dargestellt“ – und damit der unreflektierten Gewohnheit enthoben – und kann dann erst weitergehend problematisiert und reflektierend „enthüllt“ (Kracauer 1985, S. 71 ff.) und schließlich philosophisch vertiefend erschlossen werden. Kracauer erfasst mit dieser Erkenntnisabfolge eine Erfahrungs-Struktur, die nicht nur bei entsprechenden Filmen für vertiefendes Philosophieren konstituierend sein kann. Nicht alle Distanzierungen von der Lebenswelt garantieren in angemessener Weise eine Anknüpfung an die Lebenswelt: Lebenswelt meint nicht einen lokalisierbaren Ort in einem zwei- oder dreidimensionalen Koordinationssystem. Und mit „leben“ wird in diesem Kontext kein biologisches oder ökologisches, wissenschaftlich gefasstes Phänomen verstanden, obwohl entsprechende ­wissenschaftlich-gedankliche Zugänge gute Gründe hinsichtlich der Bedingungen oder Voraussetzungen gelingender sozialer Lebenswelten beibringen können – und problemorientiert nicht zuletzt auch in einem fachübergreifenden ­Philosophie-Unterricht oder einem fächerverbindendem Unterricht Eingang finden

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müssten. Es finden sich in der Lebenswelt intersubjektiv verfasster sprachlicher (einschließlich symbolischer) Aussagen mehr oder weniger deskriptiv (erklärend wie beschreibend) gemeinte Aussagen wie „Die Rücklichtbirne am Fahrrad hat keinen Massekontakt“ oder „In den letzten 30 Jahren hat der Insektenbestand in Deutschland um 80 % abgenommen.“ Solche Aussagen sind im Kontext von Sprechakten oft durch normativ-deskriptive Doppeldeutigkeiten gekennzeichnet und gehören ausgesprochen oder im Hintergrund zu den Orientierung gebenden lebensweltlichen Gründen. Aber die gleichsam dahinter stehenden genaueren Gründe gehören einer anderen Welt, der Welt der Wissenschaft, und nicht der Lebenswelt an. Vertiefende physikalische Erklärungen zum geschlossenen Stromkreislauf werden in ihren Grundzügen u. a. im Physikunterricht thematisiert, das lebensweltliche Wissen darum, durch Rost-Entfernung am Schutzblech das Licht am Fahrrad zu reparieren, dient gleichermaßen dazu bei Dunkelheit sicher nach Hause fahren zu können. Ursprüngliche lebensweltliche Verständnisweisen können durch wissenschaftliche Weltbilder wie durch Ideologien verdrängt, mit Bedeutungen überformt, verengt oder verfälscht worden sein. Gegen problematische Verdrängungen oder Änderungen lebensweltlicher Verständnisweisen zu argumentieren ist eine Sache, die z. B. von Kracauer (Kracauer 1985) wie Wilhelm Dilthey (1981) verfolgt wird, eine andere aber ist es sich zu fragen, was zum lebensweltlichen Verstehen zu zählen ist und was damit Lebenswelt ausmacht. Die Bedeutung hormoneller Steuerungsvorgänge, wie eines den Blutdruck senkenden Medikaments, das vom laienhaften Verstand, wenn auch nur ansatzweise und grob, in seiner naturwissenschaftlichen Funktions- und Wirkungsweise erfasst wird und auch in dieser Bedeutung lebensweltlich präsent ist – und sei es nur im Bild eines Druck-ausdem-Kessel-Nehmens –, verrät noch nichts von Hoffnungen und den Ängsten eines Menschen in seiner Einsamkeit und seinem Stress bei fehlender gesellschaftlicher Anerkennung. Leibliche Beweggründe (Motive) sind gleichwohl in der Körpersprache eingeschrieben und als Intentionen deutbar, kaum eindeutig im Kontext verfolgter Lebensziele, ambivalent in den Orientierungen auf Werte und Normen. In diesem Sinne an disparate Gründe anzuknüpfen und damit die deskriptivnormative Mehrdeutigkeiten sozialer wie physischer L ­ ebenswelt-Phänomene zu beachten, eröffnet also – gleichermaßen in Distanz gehend zu (natur-) wissenschaftlichen Einseitigkeiten wie ideologischen Formeln und normativen Selbstverständlichkeiten – den Weg zum vertiefenden Philosophieren. Anknüpfung an die Lebenswelt(en) der Schüler*innen heißt nicht (deren) Geltungsansprüche lebensweltlicher Normen, Werte wie Einstellungen (Gründe) einfach zu bestätigen. Einseitig wäre es sich mit naturwissenschaftlichen Erklärungsweisen zumal in Gestalt verkürzter Formeln zufrieden zu geben, nicht minder einseitig wäre es ‚soziologistisch‘ oder ‚ökonomistisch‘ den Stress, Leid und Wut etc. z. B. bei Arbeitslosigkeit weg zu erklären oder sich und die Schüler*innen mit ideologischen Formeln wie „Jeder, der arbeiten will, findet auch welche!“ beruhigen zu wollen. Und doch gehören solche Formeln auch zur Lebenswelt der Schüler*innen. Deshalb bedarf es gleichsam vor Unterrichtsbeginn einer Selbstverständigung in der Lehrer*innen-Rolle, ob auf lebensweltliche Verständnisweisen, diese philosophisch

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vertiefend, (teilweise) aufgebaut werden kann oder ob diese letztendlich nicht akzeptiert werden können. Eine philosophische Problematisierung muss beide Male erfolgen (Problemorientierter ­Philosophie-Unterricht). Oft sollen und können – gemäß den Problem-Sichtungen durch die philosophische Lehrkraft – im Philosophie-Unterricht nicht direkt die Lebenswelten der Schüler*innen zum Ausgangspunkt genommen werden, in die sich die Schüler*innen ihrem Alter und ihrem Milieu entsprechend bereits eingelebt und erste Orientierung gefunden haben. Dann heißt Anknüpfung an die Lebenswelt (hermeneutische) Brücken zu bauen zwischen den Lebenswelten der Schüler*innen und ihnen noch nicht direkt nachvollziehbaren Lebenswelten. Hierbei können realistische Filme wieder eine herausragende Rolle spielen, insoweit sich emotionale Anknüpfungspunkte finden lassen und die Handlungen auf Teil-Erfahrungen der Schüler*innen treffen: In „Ich, Daniel Blake“ (Loach, GB 2016, 100 Min.) z. B. erfahren Schüler*innen einen Menschen im Film, den Wut, Verzweiflung, Hoffnung und Widerstand umtreiben. Keine einfachen politischen Formeln werden dem Protagonisten hier (und in anderen passenden realistischen Filmen) in den Mund gelegt, noch dem Zuschauer einfache soziale, politische oder ökonomische Erklärungen suggeriert. Der Protagonist macht tastende Versuche mit seiner Arbeitslosigkeit zurechtzukommen. Diese bleiben für Schüler*innen emotional nachvollziehbar und eröffnen ihnen die Chance in für sie noch fremden Lebenswelten aufgeworfene Fragen philosophisch vertiefen zu können, sind es auch nicht direkt ihre Sorgen und Hoffnungen etc., die vorgeführt werden. Geeignete Filme sind nicht alleine solche, die eigene Lebenswelten direkt spiegeln (z. B. „Jugendfilme“), sondern ebenso realistische Filme, die für die Schüler*innen (noch) fernere Lebenswelten (zentriert um Arbeit, Recht, Soziales, Politik, Ökonomie) näher bringen können. Will man sich einem brauchbaren wie treffenden Begriff von Lebenswelt weiter annähern, geht das über Abgrenzungen: Lebenswelt meint nicht nur „Alltag“, insoweit man mit diesem Begriff auf routinemäßige Verrichtungen, Gewohnheiten und Erwartungs-Erwartungen im Unterschied zu besonderen Ereignissen oder Herausforderungen verweist. Lebenswelt würde ebenso wenig angemessen erfasst, würde man darunter soziologisch ein durch Indikatoren bestimmbares Milieu verstehen, geeignet damit einhergehende Unterscheidungen verschiedener Milieus oder Ausgrenzungsmechanismen wie soziale Schließungen zu erklären. Gleichwohl macht es Sinn auch im Plural von Lebenswelten zu sprechen, weil die personenbezogenen Verstehens-Horizonte unterschiedliche Bereiche von Gründen abdecken. Der Lebenswelt-Begriff wird in erster Linie von einem h­ermeneutisch-phänomenologischen Erkenntnisinteresse aus zu bestimmen versucht. Ein solches Erkenntnisinteresse bleibt auch bei Kracauers Film-Theorie leitend, wenn er filmgemäß auf lebensweltliche Phänomene einer Fabrik zu sprechen kommt, diese Phänomene andererseits aber auch wissenschaftlich objektivierend (z. B. mit Marx ökonomisch und soziologisch hinsichtlich eingeschränkter Gestaltungsspielräume der dort Arbeitenden) erklärt werden könnten. Solche Erklärungen können schließlich als Orientierungshilfe für den lebensweltlichen Praxisbezug durchaus hilfreich sein (Marx 1973, S. 391 ff.). Die

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subjektiven Perspektiven der Menschen werden bei ökonomischen Erklärungen aber methodisch bedingt in Klammern gesetzt: „Anstatt uns mit der Fabrik, wie es gewöhnlich geschieht, nur in der Form ökonomischer Abstraktionen zu befassen, sollen wir lernen, all ihre Werte und Möglichkeiten nach Gebühr zu schätzen.“ (Kracauer 1985, S. 385). Und bei „filmische[n] Filme[n]“ (Kracauer 1985, S. 109), das sind, wie bereits gesagt, realistische Filme in einem hier nur andeutungsweise zu erhellenden Sinne, geht es um die „vielfältigen Bedeutungen“, die diese „mit sich führen. Dank dem fortwährendem Zustrom der so auf den Plan gerufenen psychophysischen Korrespondenzen deuten sie auf eine Realität hin, die passenderweise ‚Leben‘ genannt werden kann“ (Kracauer 1985, S. 109). Es geht phänomenologisch um die „Fülle“ (Kracauer 1985, S. 379) an Bedeutungen der dargestellten Dinge, ­ Körper-Haltungen, schwankenden Wertorientierungen, Sorgen, Hoffnungen etc., die der realistische Film wiedererkennen bzw. überhaupt erst deutlich sehen lässt, weil im gelebten Leben selbst vieles übersehen, thematisch niedergehalten und verdrängt wird. Im Film wird „Leben“ gespiegelt. Filme wie z. B. „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ (Kaurismäki, Fin 1990, 68 Min.) und ganz früh schon „Arbeiter verlassen die Lumiere-Werke“ (Lumiere/Lumiere, F 1895, 1 Min) vermögen in Körpersprache sedimentierte wie im Handeln nachvollziehbare Motive im ­Fabrik-Leben vorzuführen und verständlich zu machen. Die vorgeführten Lebenswelten geben kritisch zu denken und evozieren eigene Einschätzungen, die mit der Fülle ihrer Bedeutungen weitgehend so offen bleiben, wie geeignete realistische Filme diese Offenheit präsentieren. Anders als z. B. Propaganda-Filme verschiedener Spielarten: Letztere präformieren die Film-Rezeptionen. Entsprechend können in Lebenswelten eingesickerte ideologische Weltdeutungen diese Lebenswelten in deren Offenheit wie Erfahrungsmöglichkeiten reduzieren und Wahrnehmungen fixieren (Kracauer 1985, S. 379–389; 218 ff.). Diese, hinsichtlich der Thematisierung der zwei didaktischen Formeln notwendig sehr knapp gehaltenen, filmphilosophischen Andeutungen machen in mindestens zwei Hinsichten philosophisch wie philosophiedidaktisch Sinn: Zum einen ist es wichtig, auch mediale Lebenswelten mit Blick auf den schulischen Philosophie-Unterricht in den Blick zu nehmen, schlicht weil sie für ein problemorientiertes Philosophieren immer wichtiger werden. Zum anderen kann mit Rückgriff auf Kracauers Theorie des Films indirekt Wichtiges über den Begriff der Lebenswelt wie über einen Zugang zu dieser gewonnen werden. Es geht darum, an den Naivitäten eingelebter Deutungen anzusetzen und die Filmwahrnehmung vermag diese – wiedererkennend – bewusst sehen und reflektieren zu lassen und kann also Erfahrungen eröffnen: „Erblicken – […] das heißt: erfahren“ (Kracauer 1985, S. 396). Die strukturelle Analogie zum distanzierenden anfänglichen Innehalten im „Fluß des Lebens“ (Kracauer 1985, S. 109), das die weitere (philosophische) Reflexion auch jenseits von Film-Erfahrungen zur Voraussetzung hat, liegt auf der Hand: Geschehnisse, Ereignisse und Gegenstände, wenn wir sie erinnern und bedenken, vielleicht problematisieren und danach ggf. philosophisch (neu) beurteilen, sind immer mehr oder weniger eingebettet in einen kleinen vor unserem inneren Auge ablaufenden ‚Film‘: Oft wird eine kleine Geschichte

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rekonstruiert, die bisweilen einzelne Bilder (‚Fotos‘) ins Zentrum rückt oder in diesen verdichtet ist: Der (moralisch) peinliche oder schöne Handlungsablauf gestern, dessen Ursachen oder Veranlassungen, das verzweifelte oder glückliche Gesicht eines Menschen etc. Habermas sieht im Rahmen seines kommunikationstheoretischen Ansatzes ähnlich die Gefahr der „Dogmatisierung von für wahr und vorbildlich gehaltenen Lehren und die Institutionalisierung von für gut und richtig gehaltenen Verhaltenserwartungen“. Damit sind für ihn „zwei Mechanismen […], die den Fluss des diskursiven Austauschs von Gründen kanalisierend einschränken“ gemeint (Habermas 2012, S. 71). Und ähnlich wie Kracauer verdeutlicht Habermas, dass die „Gründe […], die in der Alltagskommunikation zum lebensweltlichen Hintergrund gehören“ in der „diskursiven Praxis […] der elliptischen Formen der Alltagskommunikation“ präsent bzw. abrufbar sind. Diese Gründe werden bisweilen in der alltäglichen Kommunikation durch „beunruhigende und opake Ereignisse“ gestört bzw. irritiert und in Frage gestellt, so, dass es gleichsam aus der Lebenswelt heraus, als einem „Raum der Gründe“ (Habermas 2012, S. 72), einer Zuflucht in die Welt wissenschaftlicher Gründe bedarf um ein „durch Unverständnis gestörte[s] epistemisches Verhältnis zu einer vertrauten Welt wieder her[zustellen]“ (Habermas 2012, S. 55). Beide rekurrieren also gleichermaßen auf eine „Lebenswelt“ bzw. eine „Welt, in der wir leben“, in der wir kommunizierend und immer schon verstehend eingebettet leben und die bei auftretenden Problemkonstellationen oder Problematisierungen der Aufklärung bedarf. Kracauer interessiert speziell die mediale Rolle, die der realistische Film besonders hinsichtlich seiner „enthüllenden Funktion“ (Kracauer 1985, S. 77 ff.) dabei spielen kann.

2 Lebenswelten – auch leibliche Christian Thein hat im Rahmen des gegenwärtigen Didaktik-Diskurses in seiner Rekonstruktion des Begriffs der Lebenswelt unter Rückgriff auf Jürgen Habermas auch auf Edmund Husserl (2012) verwiesen (Thein 2017, S. 34 ff.). Für letzteren ist die Lebenswelt der Boden und der Ausgangspunkt aller Fragestellungen und Forschungen der Wissenschaften ist. Für Habermas zeichnet sich die Lebenswelt im Kontext seines kommunikationstheoretischen Ansatzes sowohl durch „den Zusammenhang symbolischer Hintergrundstrukturen“ als auch durch das in ihr bereits angelegte „selbstbezügliche Problematisierungspotential“ aus (Thein 2017, S. 37 f.). Eine aus Habermas‘ Sicht fundierte Beantwortung lebensweltlich aufgeworfener Problemfragen kann und muss mittels „geregelte[r] Argumentationsverfahren“ in einem „praktischen Diskurs“ erfolgen (Thein 2017, S. 39). Ungeachtet der problematisierten Tragweite (Thein 2016, S. 121 ff.) des Konzeptes chancengleicher Sprechakte als ein „regulatives Prinzip“ (Habermas 1972, S. 140), kann es mit Blick auf den philosophiedidaktischen Diskurs ergänzend wichtig sein, wenigstens andeutungsweise auch auf Maurice ­Merleau-Pontys Beitrag zur Lebenswelt als Bezugsgröße

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eines problemorientierten Philosophieunterrichts zu verweisen: Die Prozesse der Problementstehung in der Lebenswelt sind nämlich nicht nur durch intersubjektive Sprach- und Machtkonstellationen beschreibbar und erklärbar, ebenso spielen dabei Fixierungen wie Abwehr bestimmter lebensweltlicher Deutungen aufgrund des konstitutiven l­eiblich-emotionalen Zugangs zur Lebenswelt eine Rolle. Merleau-Ponty versucht phänomenologisch eine unhintergehbare Vertrautheit eines vorreflexiven leiblichen Verstehens zu erfassen und begrifflich zu formulieren. Sein Philosophieren ist entscheidend gegen die mit René Descartes und Immanuel Kant wirksam gewordene dualistische Subjekt-Objekt-Spaltung gerichtet, der er erkenntnistheoretisch ungelöste Probleme besonders mit Blick auf das Leib-Seele-Problem – wenn dieses als Körper-Geist-Problem dualistisch verstanden wird – anlastet: Ungelöst bleibe, wie das Ding-an-Sich affizieren oder die res extensae auf den Geist als res cogitans einwirken können solle, während doch die Konstitutionsleistungen des transzendentalen Subjekts als Fundierungen der Erkennbarkeit der Objekte gelten würden. Merleau-Ponty will weder einem vor allem naturwissenschaftlich motivierten Reduktionismus folgen, noch sich an eine transzendentale Bewusstseinsphilosophie wie die Kants anlehnen. Gegen diese erkenntnistheoretische Tradition des Philosophierens opponiert er, indem er, hypothetisch als Fundament des Erkennens, von einem „natürlichen Ich“ (Merleau-Ponty 1966, S. 204) bzw. einem „inkarnierten Subjekt“ (Merleau-Ponty 1966, S. 229) ausgeht – Formulierungen, die sich aus der Sicht der kritisierten Tradition als widersprüchlich darstellen. Dieser Tradition wirft er vor – mögliche Kritik an seiner eigenen Position im Blick –, ihrerseits in einer nur kanonisierten „vorobjektiven und vorbewussten Erfahrung“ (Merleau-Ponty 1966, S. 282) zu gründen. Ganz in diesem Sinne wenden sich zur Begründung eines „robusten Realismus“ auch Hubert Dreyfus und Charles Taylor unter Rückgriff auf Merleau-Ponty gegen die aus ihrer Sicht falsche aber verhängnisvoll wirkmächtig gewordene Tradition des Cartesianismus (Dreyfus und Taylor 2016). Merleau-Ponty sucht eine Vermittlung von Subjekt und Objekt in einer „dritten Dimension“ zu denken (Meyer-Drawe 1984, S. 147). Er fasst genauer als neues erkenntnistheoretisches Fundament ein „habituelles Wissen von der Welt“ (Merleau-Ponty 1966, S. 278), das im ­Zur-Welt-Sein in den Leib der Individuen unterschiedlich, aber gleichwohl grundsätzlich, gleichsam vorreflexiv eingeschrieben ist. Leibliche Wahrnehmungen vollziehen sich von innen heraus, im Unterschied zum Körper, der von außen beobachtet, gemessen und naturwissenschaftlich erklärt werden kann. In diesem Sinne wird „[z]ur ersten Aufgabe der Philosophie […] so der Rückgang auf die diesseits der objektiven Welt gelegene Lebenswelt“ (Merleau-Ponty 1966, S. 80). Unter Rückgriff auf die Hermeneutik lässt sich formulieren, dass das leibliche lebensweltliche Verstehen ‚immer schon‘ vollzogen ist – wie dieses dann auch nachträglich soziologisch, psychologisch oder medizinisch erklärbar sein mag – ohne dass das leibliche Empfinden oder Befinden auf solche Erklärungen reduziert werden könnte. Die Relevanz dieses leibphänomenologischen Ansatzes lässt sich nicht nur mit Verweis auf die Psychosomatische Medizin plausibel machen, die bei Krankheit wie Gesundheit nicht nur den naturwissenschaftlichen Befund, sondern ebenso das leibliche

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Befinden berücksichtigt sehen will (Uexküll und Wesiack 1988). Ebenso ist es für philosophiedidaktische Überlegungen wichtig, mit Merleau-Ponty festzuhalten: „Zur Welt seiend sind wir verurteilt zum Sinn“ (Merleau-Ponty 1966, S. 80). Entsprechend muss im Anschluss an Habermas gesagt werden, dass zum „Raum der Gründe“ auch die leiblich von innen heraus in ihren Bedeutungen akzentuierten Gründe gehören. Zur deskriptiv-präskriptiven Doppeldeutigkeit lebensweltlicher Äußerungen wie Erfahrungen gehört ganz fundamental leibliches Empfinden: Dieses kann im Freundeskreis, im Philosophieunterricht, im Kino (Merleau-Ponty 2006, S. 70 ff.) ganz entscheidend dazu beitragen, ob andere Wahrnehmungen und Erfahrungen z. B. ängstlich und/oder aus ideologischen Gründen abgeschottet oder sympathetisch begrüßt und gesucht werden, inwieweit ein Einfühlen gelingen kann oder ob es die Bereitschaft gibt, leibliches Empfinden oder Befinden mit beobachtbaren körperlichen Ausdrucksweisen abgleichen zu wollen – um Erfahrungen zu machen. Das leibliche Z ­ ur-Welt-Sein entscheidet mit darüber, ob und wie Erfahrungen gemacht werden können.

3 Erfahrungen machen Philosophisch wie philosophiedidaktisch bleibt es relevant mit Blick auf verschieden strukturierte (mediale) Öffentlichkeiten wie auf durch diese formierte oder zerrissene Lebenswelten, immer wieder neu zu bedenken inwieweit Erfahrungsfähigkeiten ermöglicht oder blockiert werden (Negt und Kluge 1972). Gerade im Philosophie-Unterricht ist der Aufklärung nicht allein durch bloßes Anmahnen von Engagement und Mut zu eigenständigem Denken der Weg zu bereiten (Welzer 2013). Ein philosophisch auf den Begriff gebrachter emphatischer Begriff der Erfahrung vermag auch Erfahrungslosigkeit reflexiv erfahrbar zu machen. Über die Gründe solcher Erfahrungslosigkeit muss in besonderer, ideologiekritischer, Weise auch aufgeklärt werden, weil sich in den Lebenswelten eben bisweilen Ideologien bzw. ideologische Versatzstücke finden, die dem „Für-sich-selbst-Denken“ (Kant) entgegenwirken und dringende Problemlösungen be- und verhindern. Ein solches Philosophieren mit Störfaktor, insofern gerade für Schüler*innen ungewohnt und herausfordernd, kann in bestimmter Hinsicht für die philosophischen Lehrkräfte wie die Schüler*innen ein zentrales Lernziel (Verstehens-Ziel) des Philosophie-Unterrichts sein: Darum geht es: Erfahrungen-machen-Können. Dieses aufklärerische Ziel weist über den Unterricht deutlich hinaus. Mögen philosophische Gedanken- und Argumentationsgänge im Einzelnen auch später vergessen werden, bliebe eine kritisch-philosophische Haltung erinnert, könnten Fragen dieser Art abrufbar bleiben: „Mache ich eigentlich noch neue Erfahrungen?“ „Lasse ich überhaupt noch Erfahrungen zu?“ Was hindert mich oder Menschen in dieser sozialen Situation daran Erfahrungen zu machen?“ Das im Rahmen dieser Überlegungen nur ansatzweise rekonstruierte Grundmuster ideologiekritischer Argumentation soll tauglich sein, diese Fragen

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leichter stellen und insbesondere die letzte Frage mit Blick auf unterschiedliche Phänomene und Verblendungssituationen angehen zu können. „Diese dialektische Bewegung, welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstand ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird.“ (Hegel 1952, S. 73). Ohne behaupten zu wollen, dass diese Formulierung Hegels im ­Philosophie-Unterricht unbedingt (ggf. quasi als Aphorismus) zu erörtern wäre (Warum aber eigentlich nicht?) mag folgende extrem kurze Erläuterung doch sehr wohl einer sinnvollen philosophischen Selbstverständigung in der Lehrer*innenRolle dienen: Am Beispiel des lebensweltlichen Verständnisses von Freundschaft – als „Gegenstand“ des Verstehens –, wäre Erfahrung verbürgt, wenn von der ursprünglichen Definition (und von der Zuschreibung freundschaftlichen Verhaltens) abweichende kontrastive Beobachtungen und Einschätzungen in die Reflexion zunächst einbezogen würden. Nach einem erörternden Abgleichungsprozess würde entweder das ursprüngliche Verständnis modifiziert oder bestätigt, aber beide Male als Resultat einer prüfenden Reflexion. Daraus „entspringt ihm [dem ­Erfahrung-Machenden, Anm. B. K.] der neue wahre Gegenstand“: Dieses oder jenes Verhalten passt dann noch zum Freundschafts-Verständnis oder sprengt es. Ebenso kommt dabei das Wissen in Bewegung, indem sich die Zugangsart zum Gegenstand durch den Perspektivwechsel ändert. Es ist immer wieder auf den Erkenntnisreichtum der Phänomenologie des Geistes hingewiesen worden („Kampf um Anerkennung“, „Verhältnis von Herr und Knecht“). In diesem Sinne lässt sich auch Hegels Erfahrungsbegriff nutzen und an diesem zugleich eine ideologiekritische Wendung demonstrieren. Dass Hegels „dialektische Bewegung“ im weiteren Gang seiner Argumentation mit Systemnotwendigkeit einhergeht, muss nicht geteilt werden. Erfahrungen machen zu können kann, wie angedeutet, in Lebenswelten behindert oder unterbunden wie befördert werden – durch gesellschaftliche „Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen“ (Marx 1973, S. 25). Dazu am Schluss dieser Überlegungen beispielhaft mehr.

4 Gegen zu einfache Formeln Zur „Problemorientierten Philosophie-Didaktik“ gehört zentral, dass, soweit Schüler*innen ihnen ferne aber gleichwohl (potenziell) dringliche lebensweltliche sowie ihnen fremde Weltprobleme nicht sehen (können), diese von ­Philosophie-Lehrer*innen ins lebensweltliche Spiel einzubringen sind, und zwar auch dann, wenn sie die Schüler*innen explizit nicht interessierten. Problemorientierte Philosophie-Didaktik lässt sich im Ausgang von relevanten Weltproblemen charakterisieren als eine Suchbewegung nach geeigneten Philosophien bzw. philosophischen Argumenten, dringliche Problemlagen aus der Sicht der Philosophie zu erfassen und mögliche Antworten darauf argumentativ-stringent

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zu verdichten. Wie und unter welchen Bedingungen kann es mehr oder weniger gut gelingen lebensweltliche Interessen der Schüler*innen mit philosophischen Aussagen so in Verbindung zu bringen, dass fachphilosophische Gedanken- bzw. Argumentationsgänge besser verstanden (nicht auswendig gelernt) werden? Ein weitergehendes Ziel des Philosophieunterrichts wäre es, ein philosophisches Interesse (bei Schüler*innen und Lehrer*innen) den lebensweltlichen Interessen dauerhaft bei zugesellen, nicht zuletzt damit auch später auftretende lebensweltliche Probleme im Nahbereich vertiefend philosophisch reflektiert bzw. gelöst und ebenso (zunächst) ferner liegende dringliche Weltprobleme (ökologische, soziale, politische) differenzierter gesehen wie beurteilt werden können. Eine Transformation philosophischer Erkenntnisse bzw. des Philosophieren-Könnens in die nahe Lebenswelt, bleibt auch mit Blick auf ein mögliches bürgerschaftliches Engagement ein wünschenswertes Lernziel des Philosophie-Unterrichts. Die von der Lehrkraft je nach philosophischer – aber auch (wissens-) soziologischer – Überzeugung vorselektierten Phänomene oder Probleme müssen also in der Regel geführt durch die Lehrkraft erst sichtbar gemacht bzw. initiiert werden. Auch das gehört zentral zum Philosophieren als einem „hermeneutische[n] Verstehen“ (Martens 2003, S. 77). Während Freundschafts- oder Liebesprobleme im Nahraum von Gründen vorphilosophisch leichter thematisierbar sind, weil ein Raum vager oder auch vorurteilsgeladener Vorstellungen und (moralischer, kausaler und funktionaler) Gründe als Hintergrund im Leben von Jugendlichen schon gegeben und abrufbar ist, liegt nicht nur die Beantwortung z. B. der Frage nach dem Wesen der Kunst oder des Staates lebensweltfern in unbekannten Welten philosophischer Gründe versteckt, sondern auch der unterrichtliche Weg dorthin wird an unmittelbar passendem lebensweltlichem (Vor-) Wissen, Interessen und entsprechenden Problemen seltener, schwieriger und nur mit größerem Aufwand anknüpfen können. Das gilt auch für die gymnasiale Oberstufe, auf die diese Überlegungen in erster Linie Bezug nehmen. Dass den Schüler*innen unterwegs beim Aufstieg zum Höhlenausgang (Platon) die Augen bisweilen (auch bei Interesse an der Thematik) doch schmerzen können, wenn sie „schon wieder“ zum Analysieren schwieriger Texte und Überprüfen genauer Argumente genötigt werden, muss letztlich von Lehrer*innen wie Schüler*innen in Kauf genommen werden, insoweit der möglichst zwanglose Zwang zum besseren Argument (Habermas) in der Zwangsinstitution Schule aus philosophischer Perspektive als unverzichtbar angesehen wird. Mit welchen unterrichtlich arrangierten Bedingungen lässt sich eine begründete Hoffnung verbinden, dass für die Schüler*innen die Motivation (leichter) erhalten bleibt sich auch mit den „Einsichten aus der Tradition großer Denker“ zu beschäftigen? Nur wenn die lebensweltlichen Interessen der Schüler*innen Anerkennung finden bevor sie sich mit den philosophischen Texten selbst beschäftigen müssen? Und wenn sich die Schüler*innen für die in den Unterrichtsphasen vor der vertiefenden Texterarbeitung aufgeworfenen (lebensweltnahen) Probleme (zunächst) nicht interessieren? Sie machen vielleicht (dennoch) mit, mehr oder weniger, mit welchen Motivationen (Noteninteresse) auch immer. Oder sie fangen Feuer an der Thematik und/oder gewinnen Interesse beim Erkennen oder P ­ roblem-Formulieren wie erstem Problemlösen („Motivationsschub Nüsse-Knacken“). Glückliche Umstände liegen

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immer dann vor, wenn die Lehrkraft auf ursprüngliches Schüler*innen-Interesse stößt. Es scheint sofort plausibel mit Blick auf die Schüler*innen zu sagen: „[W] enn sie sich selbst – möglicherweise auch vergeblich an der gleichen Problematik versucht haben“, die auch von den philosophischen Denker*innen aufgeworfen werden, dann „können sie auch den Wert der Einsichten aus der Tradition der großen Denker […] würdigen.“ So argumentiert Sistermann zur Begründung seines „Bonbonmodells“, das sich hinsichtlich der Phasenstruktur seines Unterrichtsmodells besonders an der entscheidenden Schnitt- bzw. Übergangstelle durch die „unabdingbare Abfolge von selbstgesteuert-intuitiver vor der angeleitet kontrollierten Lernphase“ (Phase 3 und 4) auszeichnet (Sistermann 2012, S. 297). Könnte es nicht auch sein, dass – obwohl die Ausgangsprobleme die Schüler*innen (emotional) interessiert und sie sich zunächst eigenständig wie kreativ um diese bemühen – sie dennoch daraufhin „die Tradition großer Denker“ nicht würdigen bzw. zu würdigen wissen? Sind die hinsichtlich des „Bonbonmodells“ angenommenen Bedingungen und Voraussetzungen wie Behauptungen und Folgerungen immer so klar und problemlos gegeben bzw. angemessen erfasst? Und „[stellt] dieses Modell das beste Instrument dar […], um eine wirkliche Problemorientierung zu gewährleisten“ (Sistermann 2016, S. 103)? Sistermanns starke Thesen provozieren weitere Fragen wie Gegenthesen. Zwei Einwände liegen sofort auf der Hand: Kann die Tradition großer Denker nur so wie er das annimmt und nicht auch dann gewürdigt werden, wenn Schüler*innen bei einer frühen angeleiteten Phase des Verstehens anspruchsvoller philosophischer Texte immer aufgefordert sind, erläuternde lebensweltliche Beispiele anzuführen um ihr Verstehen des Fachtextes damit zu demonstrieren wie abzusichern? Einem hermeneutischen Verstehens-Prozess gemäß koppeln sie dabei ebenfalls selbst (wenn auch von Anleitungen gerahmt) an ihre Lebenswelt an und ihnen kann ebenso und vielleicht sogar besser deutlich werden, dass ‚(lebens-) weltfremde‘ Philosoph*innen ganz so lebensweltfremd nicht sein müssen. Einer Würdigung großer Denker*innen könnte so ebenfalls der Weg bereitet werden. Die Art wie der Verstehens-Prozess bei und während der Textanalyse arrangiert ist, entscheidet mit über die Gewinnung einer solchen Einstellung, die sich weitergehend auch in einer philosophischen Haltung sedimentieren könnte. Die Erarbeitungen didaktisch angemessen reduzierter philosophischer Texte können sich im Prozess der Auslegung und des Verstehens lebensweltlich bewähren, indem sie zugleich das Verstehen angemessen vollenden. Und vollendet wird der Verstehens-Prozess, indem von den Schüler*innen selbst geeignete Beispiele formuliert und/oder zu diesen explizit fragend-entwickelnd durch die Lehrkraft hingelenkt wird. Auch kann eine der noch ausstehenden Textanalyse vorgeschaltete selbstgesteuert-intuitive Phase im Nachhinein – nach oder während der Beschäftigung mit dem philosophischen Text – evtl. als abwegig oder als unnötiger Umweg eingeschätzt werden. Hat man sich an der gleichen Problematik (die später in der Phase der philosophischen Texterarbeitung behandelt wird) bereits versucht und kann vielleicht sogar Lösungsvorschläge (vordergründige, aus der Sicht der Fachkraft) begründen, könnte die weitergehende Beschäftigung mit fachphilosophischen Argumenten und Lösungsvorschlägen von den Schüler*innen

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auch als überflüssig und nicht weiter nötig angesehen werden. Es müsste bedacht werden: Mit evtl. geschwundenem Interesse am weiteren Verstehen – Schüler*innen meinen evtl. sich schon genug damit beschäftigt zu haben – könnte das philosophische Verstehen selbst behindert werden. Es geht immer darum, den Sinn-Rahmen der Schüler*innen zu treffen, das betrifft deren Denk- und Handlungsgewohnheiten. Die lebensweltliche Einbettung bei Schüler*innen ist nicht zuletzt auch durch das leibliche Zur-Welt-Sein (Merleau-Ponty) bestimmt. Wenn das Leiblich-Sein auch nicht direkt beobachtbar ist, muss es als stark interaktiv orientiert und als vorbegrifflich wie emotional strukturiert (z. B. auf emotionale Anerkennung in der Peer-Group angewiesen) angesehen werden. Einem für das Lebensalter typischen Themenspektrum korrespondieren Fähigkeiten und Fertigkeiten, Phänomene wahrnehmen und unterscheiden wie Probleme erkennen und formulieren zu können. Die Schüler*innen verfügen lebensweltlich aber auch über Rationalität, Unterscheidungsvermögen und Urteilskraft etc., sie können eigene Erfahrungen machen, und was Kant, Aristoteles etc. hinsichtlich der vertrauten Themen ‚nur‘ anders und genauer formulieren, kann wiedererkannt werden. Schüler*innen interessieren sich (u. a.) fast alle für Freundschaft, Liebe und nicht zu vergessen: für Sex – zur philosophischen Vertiefung dieser heutzutage im Philosophie-Unterricht weitgehend tabuisierten Thematik sei auf Balzer/ Rippe und Comte-Sponville verwiesen (Balzer und Rippe 2000; Comte-Sponville 2015) –, für Smartphones, Sport etc. Die Anknüpfung an solche lebensweltlichen Interessen scheint zunächst kein Problem darzustellen. Auch die Frage nach dem „Sinn des Lebens“ ist oft virulent, wird sie doch bei Schüler*innen bereits in der Sekundarstufe I nicht selten spontan und vage mit Philosophie in Verbindung gebracht. Die mögliche Eingangsfrage, wann man sich schon einmal diese Frage nach dem Sinn des Lebens gestellt habe, stößt häufig auf Interesse und lässt leicht zahlreiche Antworten finden wie auch die Frage, wie man durch den Tod des Großvaters (oder eines geliebten Menschen) erschüttert wurde (oder werden könnte): „Stellt Euch den Tod eines nahen Menschen vor. Was könnte dieses Ereignis für Fragen an Euer eigenes Lebens auslösen?“ Mit solchen und ähnlichen Fragen werden soziale Situationen als lebensweltliche Problemsituationen vorkonstruiert und können entsprechend leicht mit lebensweltlichen Vorstellungen ausgemalt werden – man könnte das lebensweltliche Fallbeispiele nennen. So ließe sich auch ohne literarische Texte zu einer philosophischen Vertiefungsphase hinführen. Fallbeispielskonstruktionen können gleichsam leicht auf der Hand (auch von Referendar*innen) liegen. Nicht zu unterschlagen und in Erwägung zu ziehen sind auch lebensweltliche (situative) Vorstellungen, die durch Aphorismen oder Alltagssprüche evoziert werden können. Manche können als „Alltagsweisheiten“ eingestuft werden, manche wären unter Ideologieverdacht zu stellen: „Das Totenhemd hat keine Taschen!“ – „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin!“ oder: „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst!“ (Bedeutungswandel: Wer zuerst da (am Markt) ist, hat nun einmal den Vorteil bzw. den Gewinn). Das auf Szenarien bezogene Nachdenken bzw. die Antworten hinsichtlich der Thematik Sinn des Lebens würden dann im relativ offenen Bedeutungsspektrum von religiösem Trost und religiöser Sinnfindung bis a­utonomer Sinnerfüllung durch Beruf,

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Freundschaft, Liebe, Familie etc. bewegen. Kontrolliert und angeleitet anschlussfähig daran wäre z. B. Epikurs autonomes Glückskonzept, das sich bekanntlich gleichermaßen gegen projizierende Gottesvorstellungen wie (aus Epikurs Sicht) fälschlicherweise bedrückende Vorstellungen von einem Leben nach dem Tode richtet (Epikur 1980, S. 41 ff.). Wenn aber statt solcher lebensweltlicher Fallbeispiele literarische Texte einer philosophischen Vertiefung vorgeschaltet werden, kann in der Tat die Gefahr bestehen, dass man den Schüler*innen und damit sich selbst als philosophische Fachkraft unnötig Probleme macht: Entweder die Schüler*innen können relativ leicht selbst in einer Hinführungsphase (z. B. im Rahmen von Fallbeispielen) eigene lebensweltliche Probleme erkennen wie formulieren, Positionen gegeneinander stellen und ggf. Lösungen vorschlagen, dann bedarf es keiner literarischen Brücke. Oder sie tun sich diesbezüglich schwer und eine solche Brücke könnte für den ­Verstehens-Prozess hilfreich sein, dann darf diese Brücke aber nicht ähnliche Verständnisprobleme aufwerfen wie die anschließenden philosophischen Texte. Ist Letzteres der Fall, bedürfte es allerdings einer „Hinführung zur Hinführung“ (Sistermann 2012, S. 299), was einen kaum wünschbaren Verzögerungseffekt und ebenso einen Demotivierungseffekt haben könnte hinsichtlich des dann später noch zu bearbeitenden (schwierigen) philosophischen Textes. Der von Sistermann vorgeschlagene Textauszug aus Büchners Dantons Tod (Sistemann 2012, S. 304) könnte eine zu starke Lenkung erfordern. Das mag von anderen Leser*innen bestritten werden. Jedenfalls sollten entsprechende Schulbücher, die sich mit literarischen Vorschlägen (in didaktisch reduzierten Einheiten) darauf spezialisiert haben, zu philosophischer Problemerarbeitung hinzuführen, nicht unüberlegt regelmäßig verwandt werden, könnte man doch als Lehrkraft dadurch auch davon abgehalten werden, sich in die Lebenswelt der Schülerinnen einzudenken und sie ggf. mit Andeutungen auf Spuren gebracht passende Problem- oder Lösungsbeispiele relativ eigenständigkreativ suchen wie finden zu lassen. Ebenso können Fallbeispiele als Film-Plots kommentarlos in den Unterricht eingebracht werden, die dann weiter ausformuliert oder zu einer kleinen Story (oder als Story-Board) ausgemalt werden könnten. Es soll folgende Faustformel zu bedenken gegeben werden: Je stärker der Einsatz literarischer Texte der unterstützenden Anleitung durch die Lehrkraft bedarf, desto deutlicher entfernt man sich von dem, was eigentlich der Sinn der ganzen Übung und des Konzeptes ist: eine (vermittelnde) Anknüpfung an die lebensweltlichen Interessen zu leisten, das s­elbstgesteuert-intuitive Handeln der Schüler*innen motivational zu stützen und zu stärken (Gruppenarbeit, Diskussionsfreude etc.) und (auch hinsichtlich der motivationalen Dimension) das Vorverständnis im Übergang zu den fachphilosophischen Texten – also die „Horizontverschmelzung“ (Gadamer 1960) – zu erleichtern (Interesse an den bekannten bzw. wiedererkannten lebensweltlichen Elementen). Und das fordert ja gerade der Ansatz der Lebenswelt-Anknüpfung mittels der s­elbstgesteuert-intuitiven Phase. Auch bei Akzeptanz des Phasenablaufs des Bonbonmodells sollte der Einsatz literarischer Texte gut abgewogen werden. Trennt man analytisch den Verstehens-Prozess von den dabei mitwirkenden möglichen Motiven (ästhetische Freude, Freude an der

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Herausforderung durch Literatur oder hemmendes Desinteresse an dieser etc.), bleibt die Frage, ob und wann das Eindenken wie Einfühlen in das Agieren und die Gedanken einer lebensweltfernen fremden Figur (Danton z. B.) für die Verschmelzung des Verstehens-Horizonts der Schüler*innen mit dem Horizont des späteren philosophischen Textes hilfreich ist. Opas Tod ist jedenfalls lebensweltnäher. Es bleibt die Frage auch mit Blick auf den Prozess des Verstehens selbst: Hilfreicher Weg oder erschwerender und evtl. demotivierender Umweg?

5 Film als Bonbon? Letztere Überlegungen sind selbstverständlich auch für den Einsatz von Spielfilmen in einer Hinführungsphase anzustellen, aber es gibt auch bemerkenswerte Unterschiede. Filme können zur Literatur gezählt werden und es kann mit guten an Bildung erinnernden Gründen dafür plädiert werden, im Philosophieunterricht bei Schüler*innen das Interesse an Literatur zu wecken, also auch am Film, allerdings hier stärker betont an einer philosophischen Sehart. Begrüßenswert wäre, wenn nach dem Kinobesuch wie vorher bei der Filmauswahl ein philosophisches Interesse (mit) ins Spiel käme. Man muss es nicht wollen, aber man darf es wollen: Statt Cineasten philosophische Cineasten. In unterrichtspragmatischer Hinsicht lassen sich einige Vorteile des Films gegenüber einem Roman, einem Gedicht oder einem Theatertext behaupten: Wenn die These stimmt, dass kein Medium so lebensweltnah ist wie der realistische Film, schon weil er weniger artifiziell, dramaturgisch und sprachlich, gestaltet ist (Kracauer 1984, S. 61 ff.), dann eignet sich dieser eben besonders hinsichtlich des gewünschten kreativen wie eigeninitiativen Engagements hinsichtlich einer bedeutungsoffen(er)en Eigen-Wahrnehmung (Rezeption), Problemfindung und Problemformulierung. Es bleibt dabei: Die physische Welt wird in hohem Maße gespiegelt, auch wenn die Bilder bereits beim Sehen gedanklich überblendet werden: „[F]ilmische Filme beschwören eine umfassendere Wirklichkeit […] als jene, die sie faktisch abbilden“ (Kracauer 1985, S. 109): Die Orange (Detailaufnahme), die weiße Leinwand, das linkische Weg-Schauen des Arztes, wenn er Ann die Diagnose der tödlichen Krebserkrankung mitteilt – wofür stehen all diese unmittelbar wiedererkennbaren Segmente physischer Realität, auch wenn diese geradezu „gefundene Story“ (Kracauer 1985, S. 64; 323 ff.) filmisch arrangiert bleibt? Die Philosophie-Lehrkraft müsste nach dem Sehen des ganzen Films „Mein Leben ohne mich“ (Coixet 2003, Sp/Canada, 102 Min.) kaum mehr explizit solche Spuren legen müssen: „(Wie) würdet ihr in vergleichbarer Situation (wie die Protagonistin Ann) handeln (wollen)?“ Unter anderem ihr bemerkenswerter Wunsch noch mit einem anderen Mann Sex haben zu wollen, gibt ‚wie von selbst‘ im Kontext des Films ansatzweise philosophisch zu denken und veranlasst zu diversen Problemformulierungen im Rahmen weitgehend selbstgesteuert-intuitiven Phasen vor einer philosophischen Vertiefungsphase. Geht man methodisch den umgekehrten Weg, spricht ebenfalls alles für

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eine Beschäftigung mit dem ganzen Film (Kensmann 2012, S. 320 ff.): Nach einer angeleiteten Phase der philosophischen Analyse, hier des Epikur-Textes, kann das (Wieder-) Erkennen philosophischer Thesen und Begründungen in diesem Film sehr bereichernd und bis in eine vertiefende Ausdeutung von Gesten und Mimik etc. zum Zuge kommen: „Wo der Tod ist, bin ich nicht“ (Epikur) – „kein Empfinden mehr“, Ann formuliert Letzteres kurz vor ihrem Tode sinngleich mit Epikur. Auch die Kombination beider unterrichtlicher Vorgehensweisen, also ein eröffnendes ansatzweise philosophisches Sehen eines Films und dessen erneutes Sehen nach einer vertiefenden fachphilosophischen Textanalyse, kann sehr intensiv das Philosophieren-Lernen mit Filmen als ein Lernziel des Philosophie-Unterrichts in den Blick rücken, das deutlich über den Unterricht hinausweist: In einer medialen Lebenswelt nach dem Kino-Besuch über einen Film philosophieren zu können und dazu leichter aufgrund von früheren Unterrichtserfahrungen motiviert werden zu können. Geht es hier nicht darum, einen (realistischen) Roman oder ein Theaterstück gegen einen realistischen Film auszuspielen, so bleibt doch das zeittechnische Argument in unterrichtspragmatischer Absicht zu erwähnen: Während es geradezu abwegig ist, das Lesen eines ganzen Romans im ­Philosophie-Unterricht auch nur zu erwägen, steht dem Zeigen eines ganzen Spielfilms von 80–135 min (Im Übrigen gibt es geeignete Kurzfilme) vielleicht ein Klausurtermin im Wege. Es geht gar nicht um die Beschwörung eines (überzogenen) Anspruchs einem „Kunstwerk als Ganzem wirklich gerecht [zu werden]“ (Sistermann 2012, S. 300). Ob man mit Häppchen für Literatur nachhaltig Interesse zu wecken vermag, darf nebenbei bezweifelt werden. Über und mit ganzen Filmen zu philosophieren, kann immerhin im Philosophie-Unterricht geübt worden sein. Schüler*innen halten es im Übrigen nur sehr ungern aus, wenn ihnen Häppchen eines Films vorgeworfen werden. Warum soll man ihnen das Weiter-Sehen eines Films unnötig verweigern, wenn man doch an ihren (medialen) Interessen anknüpfen kann und das nicht nur auf eine selbstgesteuertintuitive Phase bezogen. Der beispielhafte Blick auf Epikurs Brief an Menoikeus (Epikur 1980, S. 41 ff.) erinnert einmal mehr daran, dass die Lehrkraft durchaus mit diesem Text einsteigen und wie mit der Tür ins Haus (des Unterrichts) fallen kann, besonders wenn die Schüler*innen die deutungsrelevanten lebensweltlichen Verständniselemente (ein passendes Vorverständnis) leicht beibringen können. Es sollte ebenso nicht vergessen werden, dass auch produktionsorientierte Verfahren der Textinterpretation (Runtenberg 2002, S. 115 ff.) bzw. der Filminterpretation geeignet sein können, einem „differenzierten Problembegriff“ (Sistermann 2012, S. 297) zu entsprechen. Sowohl an die Lebenswelt kann dabei angeknüpft und damit auch Motivation gesichert, als auch die Verstehens-Prozesse philosophisch gefasster Probleme wie angebotene Lösungen dazu gut ermöglicht und gestützt werden. „Die Reihenfolge der Lernprozessphasen“ ist keinesfalls „unabdingbar“ (Sistemann 2012, S. 299). Begänne man z. B. mit diesem Satz Epikurs: „Gewöhne Dich ferner daran zu glauben, der Tod sei nichts, was uns betrifft“ (Epikur 1980, S. 42), könnte dieser Arbeitsauftrag folgen: „Lies diesen Satz sehr genau (Jedes Wort ist wichtig!).

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Stelle Dir den plötzlichen oder krankheitsbedingten Tod eines nahen Menschen vor und schreibe den eröffneten Gedankengang Epikurs fort!“ Diese Reihenfolge wäre keineswegs von Nachteil: Die Schüler*innen sind bereits auf eine Spur gesetzt und dennoch kommen ihr selbstgesteuert-intuitives Potenzial und ihre lebensweltlichen Bezüge voll zur Entfaltung. Die Phasen 1–3 des Bonbonmodells werden, angeleitet und kontrolliert, in die Textvorgabe eingebunden. Nach der Präsentation der Schüler*innen-Beiträge würden deren Darlegungen in eine Problemformulierung wie in verschiedene Problemlösungsvorschläge münden können. Zu erwarten wäre mit Blick auf Epikurs Satz zum hoffentlich aufregenden Einstieg (so wie man in einen Hühnerstall einsteigt und damit ein Umherflattern provoziert) Ähnliches, u. a., dass der Tod eines nahen Menschen fast immer betroffen mache, dass die empfohlene Gewöhnung so wenig möglich sei wie ein Glaube keine Gewissheit bringen könne etc. Eine vorliegende Textreduktion kann zu Ende interpretiert werden, im klassisch fragend-entwickelnden Stil. Es werden Begründungen folgen und weitere lebensweltlich inspirierte Erläuterungen einfließen (müssen). Es ist auch daran zu erinnern, dass Epikur lebensweltliche Einstellungen herausfordert: Der Tod erschüttert doch, geht uns – latent oder plötzlich – an, betrifft uns, kann bestenfalls verdrängt werden etc. Und da ist dieser Philosoph, der Gegenteiliges behauptet! Warum nicht auch das weit verbreitete Image von Philosophie vorab nutzen? Die Würdigung dieser philosophischen Einsichten kann während der angeleitet-kontrollierten philosophischen Texterarbeitung erfolgen und nachfolgend sich noch verstärken – und Vorschusslorbeeren für weitere im Unterricht zu behandelnde Philosoph*innen generieren. Erneut gesagt: Eine Würdigung ist nicht „nur“ zu erwarten, wenn Schüler*innen sich (zeitlich) vor deren philosophischer Vertiefung um lebensweltliche Problemsichtung- wie (ggf. vergebliche) Lösungen bemüht haben, auf deren Spur sie ggf. erst durch schwierige literarische Text gebracht werden müssten. Philosophiedidaktisch bleibt also immer eine Verkoppelung von philosophischen Einsichten und lebensweltlichen Problemlagen im Rahmen der Schule nicht nur wünschenswert, sondern auch geboten. Wie das aber geschehen soll, sollte nicht in Formeln gegossen werden. Anders mag sich die Situation darstellen, wenn es – immer bei Berücksichtigung des Standes der Interpretationsfähigkeiten und (eruierten) Interessen der Lerngruppe – um lebensweltferne Themen wie z. B. Staatsphilosophie, (Bio-) Ethik oder Philosophische Ästhetik handelt. Diesbezüglich mag vorrangig der Auf- und Ausbau eines passenden Vorverständnisses geboten sein: Schon um den Begriff der Verantwortung einschließlich seiner Grenzen im sozialphilosophischen Kontext philosophisch differenziert an einem entsprechend didaktisch reduzierten Text (Birnbacher 1995, S. 143 ff.) besser erarbeiten und verstehen zu können, böte sich an, zuvor (vorphilosophisch) lebensweltnah das Handeln der jungen Ärztin in „Das unbekannte Mädchen“ (Dardenne/Dardenne, F 2016, 104 Min.) in seinen Bedeutungsdimensionen zu beschreiben, deren Verantwortungsübernahme auf den Punkt zu bringen und alternative Handlungsweisen anstelle der Protagonistin durchzuspielen: Wann ist ­Verantwortungs-Übernahme zurecht geboten?

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6 Philosophieren mit Störfaktor Eine Festlegung darauf entweder (mehr oder weniger) direkt einzusteigen oder sich für eine ausführlichere Hinführungsphase zu entscheiden ist nicht angebracht. Lebensweltferne Themen bedürfen eher der Hinführung und lebensweltnahe Themen bedürfen einer solchen eher weniger (Gefahr des „unnötigen Umwegs“ bzw. „Totreitens“ einer Thematik). Bei beiden Wegen des Verstehens bzw. ­ Verstehen-Lernens besteht das methodische Ziel darin, dass über den Abgleichungsprozess lebensweltlicher Deutungen mit den vertiefenden philosophischen Deutungen Erfahrungen gemacht werden sollen. Inhaltlich geht es themenspezifisch jeweils darum, über Argumentationsgänge (ArgumentierenLernen) genauer begreifen zu können, was unter Glück, Staat, Sinn usw. verstanden werden kann. Unterschlagen oder vergessen werden darf aber gerade im Philosophieunterricht nicht, dass es „Mechanismen“ (Habermas 2012, S. 71) in der Lebenswelt gibt, die differenzierende und abgleichende VerstehensProzesse unterbinden und damit zugleich das Verstehen auf unterkomplexe, reduktionistische oder verkehrte Bedeutungen von Phänomen und Sachzusammenhängen fixieren. Damit kommt Ideologie-Kritik in den Fokus. Ohne eine an dieser Stelle nicht zu leistende genauere Klärung dieser Begrifflichkeit und bei impliziten Rückgriff auf Marx, kann unter Ideologie grob eine längere wie kürzere ‚Erzählung‘ verstanden werden, die soziale Realitäten wie Phänomene unterkomplex bzw. verkehrt darstellt. Ideologie soll hier auch als Deckbegriff fungieren, der Phänomene (Ideologeme) wie Verdinglichungen, Fetischismen, einfache ­Legitimations-Formeln, Alltagsmythen etc. umfasst. Im Zusammenhang der Erörterung der beiden didaktischen Formeln von der Lebensweltanknüpfung und der Problemorientierung, wird schnell klar, dass ideologiekritische Texte eine besondere Rolle in diesem Kontext spielen, und zwar deshalb, weil diese sich direkt gegen eine „lebensweltliche Naivität“ (Habermas 2012, S. 55) richten. Diese wird zwar auch innerhalb der lebensweltlichen Vollzüge von Zeit zu Zeit durch Probleme herausgefordert, im Unterricht stört die Lehrkraft mit ideologiekritischen Intentionen jedoch in besonderer Weise. Mehr als die Mühen des Nachdenkens und der Konzentration werden erwartet: Das „schöne Leben“, Lebensstile, „feste Überzeugungen“ etc. werden angegriffen, zumindest kann das so empfunden werden, wenn nicht mehr nur mit Kant der mündige, für sich selber denkende Umgang mit einem Buch angemahnt wird (Kant 1964, S. 53), sondern mit über Kant hinausgehender ideologiekritischer Aufklärungsabsicht der Fokus z. B. so gesetzt wird: „Gebrauchst du ein ­ Smart-Phone für Selfies, bedenke, dass dich das hinterrücks von echten Erfahrungen abschneiden kann […]“. Philosophieren mit Störfaktor. Gewiss muss ideologiekritisches Denken mit entschlüsselndem Blick auf die alltagsfernen Welten philosophischer (wirtschaftstheoretischer etc.) Gründe sich sehr engagiert und extrem genau um solche bemühen, befindet man sich doch schnell in emotional vermintem Gelände: Im außerschulischen lebensweltlichen Alltag ist die Abwehr rasch gerichtet gegen diejenigen, die „es immer

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besser wissen müssen“. Oder der Spieß wird umgedreht: Wirtschaftswachstumskritiker*innen gelten (auch bei bester Argumentation) als ‚Ideolog*innen‘. Unter solchem Verdacht steht rasch, wer ‚Unmögliches‘ oder ‚Utopisches‘ denkt oder fordert. Die ideologiekritische Intention zielt nicht auf den Aufbau, auf lebensweltliche Bedeutungen und deren bessere Begründungen oder auch Korrektur, sondern auf deren grundsätzliches In-Frage-Stellen, indem gesellschaftliche Entstehungsbedingungen von verkehrten Vorstellungen mit thematisiert werden. Die ideologiekritisch zu kritisierenden Bedeutungen gelten als verkehrt und ihre Verkehrung besteht einerseits darin, dass diese Bedeutungen inhaltlich zu oberflächlich oder reduktionistisch ausfallen und durch eine oberflächliche Abstraktheit zugleich ihre eigenen Entstehungsbedingungen ausblenden bzw. unkenntlich machen. Erfahrungen werden blockiert. Dadurch wiederum werden die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen stabilisiert, die ihrerseits (Verkehrung primärursächlich) dafür sorgen, dass jene verkehrten abstrakten Vorstellungen (Verkehrung sekundärursächlich) immer wieder entstehen. Dieser Wirkungskreislauf stabilisiert sich also. Damit ist der erste Teil der Denkfigur der Marxschen Kritik des Fetischcharakters der Ware begrifflich und sprachlich verdichtet auf den Punkt gebracht (vgl. Marx 1973, S. 85 ff.). Ein bisweilen unterschlagener zweiter Teil gehört aber notwendig zu dieser kritischen Denkfigur der Entschlüsselung hinzu: „Der Zauber und Spuk […] verschwindet sofort, sobald wir zu anderen Produktionsformen flüchten“ (Marx 1973, S. 90). Soll jener sich stabilisierende Wirkungskreislauf aufgebrochen werden, kann dieses nur durch ein bestimmtes alternatives gesellschaftliches Tun unter gesellschaftlich geänderten Bedingungen geschehen. Dieses gesellschaftliche Andere muss durch Verweis auf wenige Eckpunkte (Marx 1973, S. 92 ff.) angedacht, darf aber nicht utopistisch im Detail ausgemalt werden. Mit der ideologiekritischen gedanklichen Negation jener primärursächlichen Verkehrung im Tun eröffnet sich ein offener und offen zu haltender Gedanken-Raum von Gründen alternativen Tuns unter gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen und Bedingungen. (Vorläufige) Verifikationen wie Falsifikationen wären Sache alternativer Gesellschaftspraxis im Großen wie im Kleinen. Sehr wohl dürfen und sollten gerade Schüler*innen auch utopisch denken lernen, um einer Motivation zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse (wenn nötig) wie um gedanklich-inhaltlicher Kritikfähigkeit willen. Durch (permanente) Kritik vor­ gestellter Entwürfe muss möglichen Dogmatisierungen vorgebeugt werden. Zweifellos handelt es sich bei diesem unter Rückgriff auf Marx heraus gefilterten ideologiekritischen Entschlüsselungsmuster um eine für Schüler*innen schwierige Denkfigur. Hätte man in der Rolle der Lehrkraft in ideologiekritischer Absicht diese Denkfigur parat, so hieße das nicht, dass man das bekannte „Fetischkapitel“ im Unterricht behandeln müsste (wenn es auch gute Gründe dafür gibt) – wenn, dann sicher streng angeleitet (und offen für produktionsorientierte Elemente). Sicherlich unterschiedlich akzentuiert (und grafisch gestützt) würde die kurz vorgestellte Denk-Figur (noch einmal mit anderen Worten) im Wesentlichen darauf zielen, den strukturellen Mechanismus ins Zentrum zu stellen,

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der für die Unterbindung von differenzierten Inhalten und Erfahrungen verantwortlich ist. Die Entschlüsselung von Verkehrungen durch Rückgang auf ­lebensweltlich-alltäglich funktionierende Strukturen ist nicht einfach: Ein immer gleiches (rituelles) Tun fixiert und verengt die Objektbedeutungen. An dieses gewöhnt geben die unmittelbar einleuchtenden ‚objektiven‘ Wirklichkeiten Orientierungen für den „weiteren Gang der Dinge“ vor, als ob sie mit Macht ausgestattete Fetische wären. Das Gewohnte wird tätig reproduziert, solange kein anderes Tun in den Blick kommt bzw. kommen kann. So oder so ähnlich mit Blick auf den Unterricht für sich selbst wie für die Schüler*innen passend vorformuliert, mag man fast schon meinen, dass solche Erkenntnisse struktureller Verblendungs-Mechanismen in der Lebenswelt abrufbar wären. Das ist aber kaum der Fall – erinnert sei im Kontrast dazu nur an (vorphilosophisch) vage (aber auf diese aufbaubare) Vorstellungen über Liebestreue und Freundschaftsverrat. Verblendungsstrukturen erkennen zu können ist demgegenüber nicht von dieser Lebenswelt. Die bleibende unterrichtliche Relevanz eines ideologiekritischen Philosophierens mit Störfaktor soll jetzt an einem sehr prägenden lebensweltlichen Bereich der Schüler*innen kurz demonstriert werden. Die ideologiekritische ­Entschlüsselungs-Struktur (Marx) soll wiedererkennbar sein, der Argumentationsgang des (in der Schulpraxis entsprechend situationsbezogen zu reduzierenden) Textes von Günther Anders (Anders 1992, S. 179 ff.) wird im Rahmen des vorgeschlagenen problemorientierten Zugriffs auf die mediale Lebenswelt von Schüler*innen nur so weit wie an dieser Stelle nötig interpretiert.

7 Mediale Lebenswelten Dieses lebensweltlich eingeübte Handeln ist emotional sehr positiv besetzt, bindet und fasziniert: Selfie-Machen! „Wie fühlt ihr euch, wenn ihr auf ‚Schnäppchenjagd seid und was bleibt dabei eigentlich unklar und unverstanden?“ – den Fetischcharakter von Ware und Geld (Marx) betreffend, analog: „Wie fühlt ihr euch, wenn ihr Selfies macht und was könnte daran fragwürdig (unklar, unverstanden, nicht richtig sein)?“ Man darf vermuten, dass durch solche Fragen viel Ratlosigkeit erzeugt würde: Schüler*innen sehen nicht ansatzweise die Probleme (noch können sie diese eigenständig formulieren), die sie ggf. erst später philosophisch vertiefen können sollen. Fazit: Oben wurde faustformelartig zur Orientierung empfohlen: Je schwieriger der spätere philosophische Text, desto angebrachter die vorgeschaltete Selbststeuerungsphase (Teilformel), in motivationaler Hinsicht wie hinsichtlich des Verstehens-Prozesses. Soweit ideologiekritische Texte als äußerst schwierig gelten können, möchte man vielleicht erst recht diese Teilformel befolgt sehen. Und doch ist Entscheidendes anders. Die These: Es ist angemessen mit ideologiekritischen Texten, die nicht zuletzt das Problem traktieren, warum Probleme (oft) nicht erkannt werden (können), relativ direkt einzusteigen.

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Problemorientierte Philosophie-Didaktik sollte sich auch der ‚schönen neuen medialen Lebenswelt‘ zuwenden und kann sich exemplarisch auf den Smartphone-Gebrauch als Foto-Instrument konzentrieren. Aufnahmen von Ertrinkenden (statt Hilfeleistung), Aufnahmen von panisch Flüchtenden etc. – Ich vor der Massenkarambolage, Ich mit dem Fußballidol etc. Als exemplarisch und den Schüler*innen sehr vertraute Praxis kann das Selfie gelten, das – wenig spektakulär – ‚nur‘ der Freude und der Erinnerung dient und dienen soll. Solche Selfies werden wie am Fließband gemacht. Wie lässt sich der strukturelle Mechanismus bestimmen, der das Selfie problematisch werden lässt, weil Erfahrungen behindert werden? Nicht nur beim Selfie: Die mittels des ­Smart-Phone repräsentierten realen Phänomene (kulturelle Besonderheiten, Landschaften etc.) verselbständigen und verengen sich in ihren Bedeutungen, indem sie in eine technisch-mediale Präsentations-Repräsentations-Schleife eingebunden werden. Oder mit Umberto Eco gesagt: Kulturell kodierte „Wahrnehmungsmodelle des Gegenstandes“ (Eco 1972, S. 213 f.; 242 ff.) werden durch diesen (fetischistischen) habitualisierten Umgang mit diesem technischen Medium fixiert: Man arrangiert die fotografische Einstellung (oder die Sequenz eines kleinen Films), wie man es so macht, wie man meint, dass es erwartet wird. Die Bestätigung durch die Clique oder die Facebook-Freund*innen verstärkt die mediale Normierung zum normativen Zwang einer fortgesetzten ­Erwartungs-Erwartung und setzt sie fort. Den beim Selfie abgebildeten Gesichtsausdruck („Selfie-Blick“) hat man schon tausendfach gesehen. Man präsentiert sich bereits beim Shooting so, wie man als Abbild gesehen werden will. Und das heißt heute auf das „Selfie“ bezogen, – für G. Anders wäre diese Art zu fotografieren nur eine Steigerung des „[K]nipsen[s]“ (Anders 1992, S. 181) – „dass das Wirkliche zum Abbild seiner Bilder wird“ (Anders 1992, S. 179). Wieder und wieder werden die gleichen Gesten beim Shooting gemacht und ähnliche Bildinhalte erzeugt, die begeistert gefeiert werden, um also erneut zu beginnen. Das verstehen die Schüler*innen noch recht unmittelbar. Die schwieriger zu vermittelnde ideologiekritische Aufklärung über die (Selbst-) Verblendung besteht darin, den Mechanismus, die Handlungsstruktur, erfahren zu lassen. Zunächst könnten zwecks Selbstverständigung in der Lehrer*innen-Rolle folgende Verstehens-Ziele anvisiert werden: Das „geile“ Bild, obwohl kaum genau hingeschaut, fordert somit eine Anpassung wirklicher Phänomene an die eingespielten ­Bild-Erwartungen. Es werden gestellte, nur vermeintlich ‚spontane‘ oder wirkliche Gesten ‚dokumentiert‘, so stark ist die Erwartung, die von den üblichen Bildern ausgeht. Und man shootet („knipst“) einfach weiter – ohne wirklich nachzudenken (entschlüsselnde Formulierungen: kursiv). Das alles können die Schüler*innen so oder so ähnlich verstehen, wenn sie angeleitet in diese ihnen zunächst fremde Aufklärungs-Welt des Günther Anders einsteigen. Während einer akribischen Auslegungsarbeit am Text können die lebensweltlichen Erlebnisse der Schüler*innen mit dem eigenen Smart-Phone-Umgang problemlos eingebracht werden, als integraler Teil des Textverstehens, eine Analyse mit Rückführung in ihre mediale Lebenswelt. Und sie können weitergeführt verstehen: Es kann nicht unbedingt als gelungen gelten, Selfies zu machen im Sinne von Erfahrung-Machen. Eine

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ästhetisch wertvolle, medienadäquate realistische Einstellung würde man mittels einer arrangierten positiven Entfremdung gewinnen können. Wenn gelungene Fotos (oder Filme) uns zur gewohnten lebensweltlich gelebten Realität so mittels Bilder in Distanz zu setzen imstande wären, dass wir über das Ansichtig-Werden der (eigenen) Lebenswelt Erfahrungen machen können, die wir oft nicht machen (können), solange wir in den Zwängen und Sehgewohnheiten des Alltags selbst verwoben bleiben – philosophisches Lernziel: differenziert Sehen-Lernen. Verknüpft mit Anders‘ Entschlüsselung: Ganz anders stellt sich demgegenüber die Erfahrung verhindernde Repräsentations-Präsentations-Rückkoppelungsschleife bzw. jener „bumerang-hafte Effekt“ (Anders 1992, S. 179) medial dar: Nicht nur der knipsende, sondern mehr noch der sich per Smart-Phone selbst knipsende Tourist vor Landschaften oder musealen Gegenständen, die man (ähnlich) gesehen haben muss, verhindert Erfahrungen im Umgang mit gegenwärtigen Phänomenen bei solcher Art medialem Gebrauch der Foto- oder Filmtechniken. Selbst vor dem Konzentrationslager ruft das (Sich-selbst-) Knipsen kaum Irritationen hervor (Loznitza, Austerlitz (Dokumentarfilm), D 2016, 94 Min.). Die realen Phänomene können bei dieser Art habitualisiertem Gebrauch technischer Bild-Medien kein Anlass mehr für neue, differenzierte, autonome Erfahrungen an und mit diesen realen Phänomen, aber auch nicht mit dem Medien-Gebrauch selbst sein, wenn die fotografischen oder filmischen Wahrnehmungen so eng kodiert oder geradezu fetischistisch fixiert werden. Günther Anders schrieb 1958 bereits, wie sich diese Art Bilder zu produzieren auch hinsichtlich lebensweltlichen Zeit-Verstehens auf das Reisen auswirkt: „Wer aber auf diese Art reist, für den ist die Gegenwart zum Mittel für das ‚es wird gewesen sein‘ degradiert, zur, selbst nicht der Rede werten, Ausrede für die allein gültige Reproduktionsware des Futur II; also zu etwas Unwirklichem und Phantomhaften“ (Anders 1992, S. 183). Die gegenwärtigen Wahrnehmungen werden dabei erfahrungsarm bzw. erfahrungslos. Günther Anders‘ Analysen werden durch die heutigen weit verbreiteten „Selfies“ mehr als bestätigt: Auch das Spiegel-Ich ist mehr denn je mit Ähnlichkeit geschlagen: Wird erwartet, dass die vielfach verschickten Selfies geliked und mit niedlichen Smilies – selbst oberflächliche Zeichen für zumeist positive Gefühle – bestätigt werden, wird der „bumeranghafte Effekt“ (Anders 1992, S. 179) nochmals verstärkt. Wissen die Schüler*innen, was sie tun? Gerade auch wenn es gewollt ist und Spaß macht? Man denke zum Kontrast nur an die erfahrungsgesättigten wie ästhetisch reflektierten Selbstportraits bekannter Fotografen, wenn etwa das eigene Gesicht neben der Kamera eine Geschichte mit der Fotografie (Alice Springs) oder die Geschichte um den bevorstehenden eigenen Tod (Helmut Newton) darstellen. Und wir Rezipient*innen machen Erfahrungen, wenn wir genau hinschauen und diese Fotos mit den Augen und dem Verstand abtasten. Warum nicht im Philosophie-Unterricht zu einem alternativen fotografischen Tun flüchten? Warum nicht im Philosophie-Unterricht andersartige Fotos machen, nachdem mit Günther Anders (nach akribischer Arbeit am Text) der eigenartige Sinn künstlerischer Fotoarbeiten und/oder der eigene Umgang mit dem Fotografieren (Das Smart-Phone als Fotoapparat) eröffnet wurde: Ein kreativer Erfahrungsraum von Gründen täte sich auf. Dagegen stehen Mainstream-Realitäten der schönen neuen

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Lebenswelt: Die fetischistische Faszination der Selfies: Mit dem Gezeigten wird pure Lebensfreude (ein „Gut-drauf-Sein“) und eine positive Lebenseinstellung in (dargestellter) Gestik und Mimik beschworen und bestätigt. Die Schüler*innen machen mit, waren auch da, waren aufgehoben im Freundeskreis, bezeugt durch unwiderstehliches Lächeln usw. Man war so (Siehe das Foto-‚Dokument‘!), wie man sein will. Und man will so sein, wie sehr viele Selfie-‚Dokumente‘ es zeigen. Sie machen sich beim Selfie als Menschen gleich. „Sie wissen das nicht, aber sie tun es.“ (Marx ind Engels 1973, S. 88) – Warum nur?

Literatur Anders, G. 1992. Die Antiquiertheit des Menschen Band 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München: Beck. Aristoteles. 1987. Metaphysik. Stuttgart: Reclam. Balzer, P.H., und Rippe, K.-H, Hrsg. 2000. Philosophie und Sex. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Birnbacher, D. 1995. Grenzen der Verantwortung. In Verantwortung – Prinzip oder Problem, Hrsg. K. Bayertz, 143–183. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Comte-Sponville, A (2015) Sex – Eine kleine Philosophie. Zürich: Diogenes. Dithey, W. 1981. Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dreyfus, H. und Taylor, Ch. 2016. Die Wiedergewinnung des Realismus. Berlin: Suhrkamp. Eco, U. 1972. Einführung in die Semiotik. München: Fink. Epikur. 2007. Brief an Menoikeus. In Briefe, Sprüche, Werkfragmente. Griechisch/Deutsch, Hrsg. H.-W. Krautz, 41–51. Stuttgart: Reclam. Gadamer, H.G. 1960. Wahrheit und Methode. Tübingen: Mohr Siebeck. Habermas, J. 1972. Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung, Hrsg. J. Habermas und N. Luhmann, 101–141. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, J. 2012. Die Lebenswelt als Raum symbolisch verkörperter Gründe. In Nachmetaphysisches Denken II – Philosophische Aufsätze, Hrsg. J. Habermas, 54–76. Berlin: Suhrkamp. Hegel, G.W.F. 1952. Phänomenologie des Geistes. Hamburg: Felix Meiner. Husserl, E. 2012. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hamburg: Meiner. Kant, I. 1964. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung. In Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Hrsg. W. Weischedel, 53–61. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kensmann, B. 2012. For what? For nothin’. For a tin star. In Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 4:320–335. Kracauer, S. 1985. Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Martens, E. 2003. Methodik und Didaktik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Philosophieren als elementare Kulturkritik. Hannover: Siebert. Marx, K. 1973. Das Kapital, Bd. 1. Berlin: Dietz. Marx, K. und Engels, F. 1973. Die Deutsche Ideologie. Berlin: Dietz. Merleau-Ponty, M. 1966. Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: De Gruyter. Merleau-Ponty, M. 2006. Das Kino und die neue Psychologie. In Philosophie des Films. Grundlagentexte, Hrsg. D. Liebsch, 70–84. Paderborn: Mentis.

Lebenswelt- und Problemorientierung

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Narrative Ethik und ethische Bildung René Torkler

Philosophie und Erzählung stehen keineswegs in einem Verhältnis natürlicher Kooperation; seit den Anfangszeiten der Philosophie gilt die in der Erzählung vollzogene Mimesis sogar eher als ein Gegenspieler philosophischer Wahrheitssuche. Platon geht in seiner Dichterkritik mit jeglicher Art mimetischer Kunst hart ins Gericht: Nicht nur ist die Dichtung als Nachahmung von der Wahrheit ebenso weit entfernt wie es die Schatten an der Höhlenwand in der Metaphorik des Höhlengleichnisses von der Idee sind. Das Problematische an jeder Beschäftigung mit der Dichtung ist zudem, „daß sie imstande ist, auch die anständig Denkenden zu verderben – mit Ausnahme von einigen wenigen“ (Platon 1991, 605c). Die Dichtkunst gefährdet also den moralischen Charakter des Menschen, was sie als Orientierungspunkt ethischer Bildung von vornherein zu diskreditieren scheint. Dies gilt nicht nur für das von Platon als Sentimentalität eingeschätzte Gefühl des Mitleids, welches die Tragödie in uns stimuliert, sondern ebenso für die Freude am Humorigen, die durch die Komödie hervorgerufen wird – mit ähnlich problematischen Folgen für die eigene Charakterverfassung: „Denn ich glaube, daß das genießen des fremden Schicksals notwendig auf das eigene zurückwirkt. Wenn nämlich jemand die Wehleidigkeit großgezogen hat, dann ist es nicht leicht, sie bei den eigenen Leiden zu unterdrücken. […] Und dieselbe Überlegung gilt doch auch für das Lächerliche. […] Denn wiederum: was du durch Vernunft niedergehalten hast, wenn es bei dir diesen Spaß machen wollte, weil du den Ruf eines Possenreißers scheutest, dem lassest du hier seine Freiheit. Und hast du es da stark werden lassen, dann wirst du unvermerkt in deinem eigenen Freundeskreise so weit kommen, daß du zu einem Komödianten wirst“ (Platon 1991, 606c).

R. Torkler (*)  Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt, Eichstätt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Thein, Philosophische Bildung und Didaktik, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_11

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Egal also ob Tragödie oder Komödie: Wer sich mit Dichtung befasst, wird für Platon anscheinend über kurz oder lang entweder zum sentimentalen Weichei oder zum clownhaften Hampelmann. Ethische Lebensführung ist demgegenüber dadurch bestimmt, dass es gelingt, der Vernunft die Herrschaft über die Affekte einzuräumen – und hier kann die Dichtung offensichtlich gerade keine Orientierung geben. Diese platonischen Überlegungen zur Kritik der Mimesis könnten ein Hinweis darauf sein, dass unserem Vorhaben einer narrativen Didaktik enge Grenzen gesetzt sind. Ich will hier dennoch die Auffassung vertreten, dass der Umgang mit narrativen Strukturen einen fundamentalen Beitrag zur ethischen Bildung leistet. Dass die Autoren, die zur Stützung dieser Auffassung in Stellung gebracht werden sollen, allesamt Positionen vertreten, die sich in hohem Maße aristotelischen Vorarbeiten verdankt, ist dabei keineswegs zufällig: Schon in dessen Theorie der Tragödie ändert sich die Haltung zur Mimesis grundlegend. Aristoteles weist in seiner Poetik darauf hin, dass „die Tragödie […] nicht Nachahmung [mimesis] von Menschen [ist], sondern von Handlung und Lebenswirklichkeit (auch Glück und Unglück beruhen auf Handlung, und das Lebensziel ist eine Art Handlung, keine bestimmte Beschaffenheit […]) […]. Ferner könnte ohne Handlung keine Tragödie zustande kommen, wohl aber ohne Charaktere“ (Aristoteles 2002, 1450a, kursiv R.T.). Damit ist die ethische Spur, die in der Narration zu verfolgen ist, bereits markiert: Die Tragödie ist Nachahmung von Praxis, und die Strukturähnlichkeiten zwischen der menschlichen Praxis und ihrer mimetischen Variation bilden letztlich für alle Positionen der sogenannten narrativen Ethik den Ausgangspunkt für die Vorstellung, Erzählungen als ethisch relevante Strukturen begreifen zu können. Da in diesem Zusammenhang recht unterschiedliche Positionen greifbar sind und die philosophische Bedeutung der Narration bis in die jüngere Vergangenheit Gegenstand einer kontroversen Diskussion geblieben ist, sollen hier mit Alasdair MacIntyre, Paul Ricœur und Martha Nussbaum auf der Basis dreier einschlägiger Positionen einige Hinweise dafür gegeben werden, wo und inwiefern im Bereich der ethischen Bildung auf Positionen der narrativen Ethik zurückgegriffen werden kann.

1 Narrativität und Praxis: Welche Bedeutung haben narrative Strukturen für das Verständnis menschlichen Handelns? Alasdair MacIntyre hat in seinem Buch „Der Verlust der Tugend“ schon 1981 herausgearbeitet, dass die Bedeutung einer Handlung in der Regel nicht durch die bloße Analyse derselben erschlossen werden kann. Häufig ist auf diesem Wege sogar überhaupt kein Verständnis darüber zu gewinnen, worin der Sinn einer Handlung besteht.

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1.1 MacIntyre und die Wildente Die im Hintergrund stehende These ist dabei, dass der Philosophie der Moderne das telos als ein wesentlicher Orientierungspunkt menschlicher Praxis abhandengekommen ist und dass darüber hinaus besonders die analytisch geprägte Ethik des 20. Jahrhunderts in dieser Hinsicht einen Reduktionismus darstellt. Er verdeutlicht dies u. a. am folgenden Beispiel: „Ich stehe an der Haltestelle und warte auf den Bus. Als der junge Mann neben mir plötzlich sagt: ‚Der Name der gemeinen Wildente ist Histrionicus histrionicus‘“ (MacIntyre 2014, S. 280). Es ist offensichtlich, dass uns das Verhalten des jungen Mannes verwundern muss; wir sind nicht in der Lage, es zu verstehen. Was uns an diesem Satz zu schaffen macht, ist aber offensichtlich nicht, dass wir ihn seinem Inhalt nach nicht verstehen würden. Er ist uns sprachlich, in seinen Elementen wie seiner Aussage nach vollkommen verständlich. Oder wie MacIntyre selbst das Problem beschreibt: „Die Bedeutung des geäußerten Satzes ergibt kein Problem: das Problem ist, wie wir die Frage beantworten, was er mit dieser Äußerung getan hat“ (MacIntyre 2014, S. 280, kursiv R.T.). Was hier infrage steht, ist also die Bedeutung der Handlung, nicht des sprachlichen Inhalts der Aussage. Und darum ist dieses Problem, so will uns MacIntyre zeigen, auch keines, welches sich auf dem Wege (sprach-) analytischer Zergliederung lösen ließe. Vielmehr ist zu einer angemessenen Beurteilung der vorliegenden Sprechhandlung eine Kontextualisierung notwendig: Die Handlung kann Sinn für uns nur gewinnen, indem sie einen Rahmen erhält. Und dieser Rahmen ist für MacIntyre in jedem Falle einer, der narrative Strukturen aufweisen muss, wenn er ein Verständnis der Einzelhandlung gewährleisten soll. Mit Blick auf das Beispiel kann dies ganz unterschiedliche Formen annehmen, kommen wir darum zurück zu unserem jungen Mann und der Wildente: „Nehmen wir an, er habe solche Sätze einfach nur in unregelmäßigen Abständen geäußert; das wäre eine mögliche Form des Wahnsinns. Seine Sprachhandlung würde [aber] verständlich werden, wenn einer der folgenden Punkte zuträfe. Er hat mich mit jemandem verwechselt, der ihn gestern in der Bibliothek angesprochen und gefragt hat: ‚Kennen Sie zufällig den lateinischen Namen der gemeinen Wildente?‘ Oder er kommt gerade von einer Sitzung bei seinem Psychotherapeuten, der ihn dazu gedrängt hat, seine Schüchternheit abzulegen und einfach fremde Menschen anzusprechen. ‚Aber was soll ich sagen?‘ ‚Ach, einfach irgend etwas.‘ Oder er ist ein russischer Spion, der an einem vereinbarten Treffpunkt wartet und den schlechtgewählten Erkennungssatz äußert, der ihn gegenüber seinem Kontaktmann ausweist.“ (MacIntyre 2014, S. 280f.) Man könnte sagen: Eine wilde Geschichte. Aber selbst eine so unzugängliche Sprechhandlung wie diejenige in MacIntyres Beispiel verliert ihren ursprünglich eher verstörenden Charakter, indem sie narrativ kontextualisiert wird: „In allen Fällen wird der Sprechakt dadurch verständlich, daß er in eine Erzählung eingeordnet wird.“ Die narrative Form ist dabei „weder Verkleidung noch Dekoration“, vielmehr scheint sie etwas zu treffen, was der menschlichen Praxis

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ohnehin eigentümlich ist – und daher „eignet sich die Form der Erzählung dazu, die Handlungen anderer zu verstehen. Geschichten werden gelebt, bevor sie erzählt werden“ (MacIntyre 2014, S. 281 ff.). MacIntyres Vorstellung, dass Handlungen an und für sich bereits narrativ strukturiert sind, geht dabei sehr weit: im Gegensatz zu vielen anderen Autoren sogar so weit, dass er das Narrative für etwas an den Handlungen selbst hält. Die Erzählung wäre damit nicht bloß „als nachträgliche Formung, sondern als Strukturform unseres Lebens selbst“ (Joisten 2007, S. 195) zu verstehen. Wir brauchen uns diese Auffassung, dass Handlungen gewissermaßen immer Erzählungen sind, nicht in ihrer starken Fassung zu eigen machen. Wichtig erscheint mir jedoch gerade mit Blick auf ethische Bildung und Didaktik, dass das Verstehen menschlicher Praxis überhaupt nur unter Rückgriff auf narrative Strukturen möglich ist. Wir können „Verhalten nicht unabhängig von den Intentionen charakterisieren, und wir können Intentionen nicht unabhängig von den Rahmen charakterisieren, der diese Intentionen verständlich macht, sowohl den Handelnden selbst wie auch den anderen“ (MacIntyre 2014, S. 276). Will ich eine Handlung verstehen, so wird mir dies nicht ohne Bezugnahme auf einen narrativ strukturierten Zusammenhang – MacIntyre selbst spricht von einem „setting“ – gelingen, welches den interpretatorischen Rahmen bildet, innerhalb dessen die Handlung mir als eine sinnvolle verständlich wird. Diese Form narrativer Kontextualisierung kann für MacIntyre nur da sinnvoll vorgenommen werden, wo die Handlung nicht ihrer teleologischen Grundstruktur beraubt wird. Ihm zufolge gehört es zur menschlichen Praxis, auf eine Zukunft hin entworfen zu sein – und diese teleologische Grundstruktur bildet ein wesentliches Element ihres narrativen Charakters (Vgl. Joisten 2007, S. 197; MacIntyre 2014, S. 288). Den größten Rahmen dieses Handlungsverständnisses bildet in MacIntyres Vorstellung dabei der narrative Zusammenhang des Lebensganzen.

1.2 Ricœur im Feld der Praxis Paul Ricœur hat diesen Grundgedanken des Lebens als eines narrativ strukturierten Gesamtzusammenhangs nicht nur aufgenommen, sondern auch von seiner starken Fixierung auf die Tugendethik befreit und so an die deontologische Ethik angenähert. Der konkrete Zusammenhang von Ricœurs Ethik muss uns an dieser Stelle nicht in vertiefter Form beschäftigen. Interessant ist Ricœur zunächst deshalb, weil er den bei MacIntyre anklingenden narrativen Zugriff auf menschliche Praxis insgesamt in seinem hermeneutischen Ansatz stärker ausdifferenziert und so ein präziseres Bild davon zu zeichnen erlaubt, wie das Feld menschlicher Praxis einer narrativen Interpretation zugänglich gemacht werden kann. Dabei geht er im Unterschied zu MacIntyre nie davon aus, dass Handlungen oder das Leben selbst Erzählungen sind; vielmehr eignet seiner Vorstellung nach allen im „Feld der Praxis“ auffindlichen Sinneinheiten eine pränarrative Struktur an, welche sie einer narrativen Interpretation zugänglich macht. Ricœurs Position bildet damit innerhalb der verschiedenen Philosophien des Narrativen eine Art

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Zwischenposition: Weder besteht das Leben aus form- und sinnlosem Material, welches erst im erzählenden Zugriff zu einer solchen geformt werden kann, noch ist das Leben selbst bereits eine geschlossene Erzählung. (Vgl. Römer 2012, S. 236) Der in sich aporetische, zeitliche Charakter menschlicher Erfahrung hält diese vielmehr gewissermaßen offen für einen narrativen Zugriff, der den hermeneutischen Charakter von Ricœurs Ansatz deutlich hervortreten lässt. Er unterscheidet dabei zwischen verschiedenen Stufen oder Hierarchieebenen verschiedener praktischer Sinneinheiten. Das „praktische Feld“ konstituiert sich auf vier explizit voneinander unterschiedenen Ebenen, auf deren unterster Stufe die Basishandlungen stehen, welche gewissermaßen die elementarsten Bauteile praktischer Zusammenhänge darstellen: Gesten oder Körperhaltungen, die so elementar sind, dass ihnen selbst kein unmittelbarer Zweck zugeschrieben werden kann, aus denen sich jedoch alles zweckorientierte Handeln zusammensetzt. Die Basishandlung ist ein Begriff, den Ricœur Arthur C. Danto entlehnt. „Im Gegensatz hierzu ist der Rest des praktischen Feldes auf die Beziehung des ‚um…zu‘ aufgebaut“ (Ricœur 2005a, S. 188). Auf der nächsten Ebene dieses Feldes befinden sich die Praktiken, die als zweckorientierte, zumeist interaktive praktische Einheiten „Umfassungsverhältnisse“ bilden, welche elementarere praktische Einheiten sinnvoll bündeln. Dabei werden sie von einer sie „konstituierenden Regel“ zusammengehalten. Ricœurs Vorstellung zufolge handelt es sich z. B. um Spiele, Künste oder Berufe; und die konstituierenden Regeln wären bei einem Spiel z. B. die Spielregeln, nach denen die einzelnen Elemente so in einen kohärenten Zusammenhang geordnet werden, dass sie im Ganzen als ein Spiel kenntlich werden. Diesen Zusammenhang von Basishandlung und Praktik erläutert Ricœur selbst folgendermaßen: „Die Verschiebung eines Bauern auf dem Schachbrett ist an sich lediglich eine Geste, im Zusammenhang der Praktik des Schachspiels aber erhält diese Geste die Bedeutung eines Zugs in der Spielpartie. Dieses […] Beispiel bezeugt, daß die eine Praktik begründende Konfigurationseinheit auf einer besonderen Sinnbeziehung beruht. Diese Sinnbeziehung kommt im Begriff der konstitutiven Regel zum Ausdruck“(Ricœur 2005a, S. 189). Auf der dritten Ebene liegen die „Lebenspläne“; „Lebenspläne werden wir diejenigen großflächigen praktischen Einheiten nennen, die wir als Berufsleben, Familienleben, Freizeitleben usw. bezeichnen“ (Ricœur 2005a, S. 193). Diese bilden eine Art „Zwischenstufe“ zwischen Praktiken und dem Leben als einem Gesamtzusammenhang. Dass die Gesamtheit eines Lebens als größte Sinneinheit im Feld des Praktischen eine maßgebliche Rolle spielt, dafür führt Ricœur zwei sehr verschiedene Gewährsmänner an. Zum einen verweist er auf den uns bereits bekannten MacIntyre, für den die Ausrichtung auf ein gutes Leben in einem sehr aristotelisch geprägten Sinne den Gedanken der narrativen Strukturiertheit dieser „Einheit menschlichen Lebens“ beinhaltet. Ricœur erinnert aber zudem an Wilhelm Diltheys Begriff des Lebenszusammenhangs, welcher für MacIntyres Gedanken eine zentrale Voraussetzung bildet. Damit wird einmal mehr der hermeneutische Charakter von Ricœurs Position betont, was gerade mit Blick auf das Zusammenspiel der unterschiedlichen praktischen Sinneinheiten auf den verschiedenen Hierarchieebenen von Bedeutung ist. Denn das Feld des Praktischen erschließt

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sich keineswegs von oben nach unten, in dem Sinne, dass aus dem Lebensganzen oder Lebensplänen sinnvolle Praktiken oder Einzelhandlungen deduziert werden könnten oder gar summarisch, über die schlichte Addition einzelner Handlungen zu einem Lebensganzen. Zugang zu den Sinnzusammenhängen menschlicher Praxis erhalten wir vielmehr über eine „Doppelbewegung“: Einerseits in der Richtung „Anstieg der Komplexität“, bei der die komplexeren durch die elementareren Einheiten erschlossen werden, andererseits in der Richtung „Abnahme der Spezifikation“, bei der davon ausgegangen wird, dass die oberen Ebenen zwar die vageren sind, gleichzeitig aber auch die Individualität und Einzigartigkeit einer Person in höherem Maße spiegeln als die elementareren praktischen Bausteine. „Das praktische Feld scheint so einem Doppelprinzip der Bestimmtheit unterworfen zu sein, welche es dem hermeneutischen Verstehen eines Textes durch die Wechselbeziehung zwischen Teil und Ganzem annähert“ (Ricœur 2005a, S. 194). Der hermeneutische Zirkel Schleiermacherscher Prägung, in dem sich ein Teil-Ganzes-Verhältnis wechselseitig erschließt – wonach etwa das Ganze einer Sprache durch einzelne Wörter, die Bedeutung einzelner Wörter wiederum aber nur vor dem Hintergrund der Sprache als ganzer verständlich sein kann – dient Ricœur hier offenkundig als methodisches Vorbild für das, was er auch eine Hermeneutik des Selbst genannt hat: Dieses Selbst ist eines, in dem verschiedene praktische, pränarrativ strukturierte Sinneinheiten in einer hermeneutisch zugänglichen Art und Weise ineinander verschachtelt sind: „Zunächst zeichnet sich zwischen der Ausrichtung auf ein ‚gutes Leben‘ und unseren Entscheidungen – aufgrund eines Hin und Her zwischen der Idee des ‚guten Lebens‘ und den markantesten Entscheidungen unserer Existenz (Karriere, Liebesbeziehungen, Freizeit usw.) – eine Art hermeneutischer Zirkel ab. Hiermit verhält es sich wie mit einem Text, in dem Ganzes und Teil in Bezug aufeinander verstanden werden“ (Ricœur 2005a, S. 219). Inwiefern menschliche Praxis dabei selbst den Charakter einer Erzählung trägt, als eine solche verstanden werden kann oder möglicherweise sogar sollte, wird in unterschiedlichen Philosophien der Narrativität durchaus unterschiedlich bewertet (vgl. Römer 2012). Was uns MacIntyres Beispiel aber überdeutlich zeigte, war, dass das ein narrativer Zugriff mit Blick auf die menschliche Praxis ein überaus wirksames Werkzeug für deren Verstehen darstellt und damit auch für die eigene Handlungsorientierung von entscheidender Bedeutung ist: „Der Mensch ist in seinen Handlungen und in seiner Praxis ebenso wie in seinen Fiktionen im Wesentlichen ein Geschichten erzählendes Tier“ (MacIntyre 2014, S. 288). Wo Handeln und Erzählen sich aber in dieser Weise verschränken, wird deutlich, wieso das Erzählen Bedeutung für die Ethik gewinnt: Wenn der Sinn von Handlungen nur da vollständig verstanden werden kann, wo diese in einen narrativen Rahmen eingebettet werden, der ihnen Sinn zuweist, da steht auch das eigene Handeln stets in einem hermeneutischen Zusammenhang der Selbstdeutung, da ist Handeln Akt der eigenen Selbstauslegung und Auszulegendes zugleich: „ich kann die Frage ‚Was soll ich tun?‘ nur beantworten, wenn ich die vorgängige Frage beantworten kann: ‚Als Teil welcher Geschichte oder welcher Geschichten sehe ich mich?‘“ (MacIntyre 2014, S. 288).

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2 Narrativität und Leben: Welche Rolle spielen narrative Strukturen für die Konstitution einer Person? Diese Hinwendung zu der Frage nach der eigenen Identität bildete für Ricœur wohl den eigentlichen Anstoß der Auseinandersetzung mit dem Thema Narrativität. Er schließt dabei ganz explizit an Hannah Arendt an, die hier einmal mehr als die Impulsgeberin verstanden werden kann, deren Anregungen Ricœur in der Folge zu einer ausgearbeiteten Philosophie entwickelte.

2.1 Lebensgeschichte und narrative Identität Schon für Arendt war das menschliche Leben vor allem ein erzählbarer Zusammenhang. Das einzelne Leben fasste sie dabei in der Metapher eines Fadens, welcher in der als „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ verstandenen Welt menschlicher Praxis in das Netz interpersonaler Beziehungen geschlagen wird, wo immer Menschen handelnd miteinander umgehen: „Sind die Fäden erst zu Ende gesponnen, so ergeben sie wieder klar erkennbare Muster bzw. sind als Lebensgeschichten erzählbar“ (Arendt 2002, S. 226). Diese Orientierung an einem als Lebensgeschichte aufgefassten, erzählbaren Gesamtzusammenhang eines individuellen Lebens spielte für sie besonders bei der Beurteilung der Sinnhaftigkeit von Einzelhandlungen eine ganz zentrale Rolle. Wo sich das „Wer?“ einer Handlung nicht eindeutig klären lässt, steht auch der Sinn der Handlung in Frage – und diese Klärung war schon für Arendt ganz maßgeblich auf narrativem Wege zu erreichen: „Handeln, das in der Anonymität verbleibt, eine Tat, für die kein Täter namhaft gemacht werden kann, ist sinnlos und verfällt der Vergessenheit; es ist niemand da, von dem man die Geschichte erzählen könnte“ (Arendt 2002, S. 222). Der Sinn des Handelns und die Erschließung der Identität des Handelnden stehen also schon bei Arendt in einem wechselseitigen, konstitutiven Verhältnis. Für Ricœur waren es besonders die Aporien des Identitätsbegriffes, die er mit dem Begriff einer „narrativen Identität“ einer Lösung zuführen wollte. Das Problem ergab sich für ihn im Kern aus zwei schwierig vereinbaren Verständnissen des Begriffs der Identität, welche er unter Rückgriff auf die lateinischen Begriffe idem und ipse voneinander unterschied und die als Hauptverwendungsmöglichkeiten des Identitätsbegriffs in einem konfrontativen Verhältnis stehen: „einerseits Identität als Selbigkeit (lateinisch: idem; englisch: sameness; französisch: mêmeté), andererseits Identität als Selbstheit (lateinisch: ipse; englisch: selfhood; französisch: ipséité). Und weil dieser gewichtige Unterschied verkannt wird […] scheitern diejenigen Lösungsversuche für das Problem der personalen Identität, die die narrative Dimension verkennen“ (2005a, S. 144). Zum Problem wird die Konfrontation der beiden Auffassungen von Identität vor allem in Verbindung mit der Frage nach der Beständigkeit in der Zeit.

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Der Begriff der Selbigkeit, der idem-Identität, steht dabei offensichtlich in einem problematischen Verhältnis zur zeitlichen Konstanz der Identität einer Person: Da zwischen meinem aktuellen Selbst und dem Individuum, das ich vor Tagen oder gar Jahren gewesen bin, deutliche Unterschiede wie Falten, gewachsene Bäuche, fehlende Haare, möglicherweise auch entwickelte oder verlorengegangene Tugenden zu konstatieren sind, bin ich in diesem Sinne mit dem Menschen, der ich vor Tagen oder Jahren gewesen bin, ganz offensichtlich nicht in jedem Sinne identisch: Vielmehr unterscheide ich mich von dem Menschen, der ich im Alter von 15 oder 30 Jahren gewesen bin – und dies teilweise sehr deutlich. Im Sinne des idem, der Selbigkeit, kann hier also nicht von Identität gesprochen werden. Demgegenüber macht Ricœur ein anderes Verständnis des Identitätsbegriffs aus, das sich vom lateinischen ipse herleitet. Die Selbstheit bietet damit eine Antwort auf die Identitätsfrage, die im Sinne einer „Wer?“-Frage gestellt ist, während die Selbigkeit eher eine „Was?“-Frage stellt. Das im Begriff ipse bezeichnete „Selbst kann nicht als ein ‚Etwas‘ gefaßt werden, das es als identisches zu identifizieren gilt.“ (Mattern 1996, S. 199) Das Gegenteil dieser Form von „identisch“-Sein läge daher auch nicht im Begriff „verschieden“, sondern bestünde darin, „fremd“ oder „anders“ zu sein. (Vgl. Ricœur 2005b, S. 209) Es handelt sich um die Form von Identität, die in der paradoxen, alltagssprachlichen Wendung angesprochen ist, wenn jemand behauptet: „Ich bin heute wohl nicht ganz ich selbst.“ Die Ipseität meint die eigene Identität als eine Möglichkeit, sich auf sich selbst zu beziehen. In diesem Sinne der Selbstheit ist jemand auch dann mit sich selbst identisch, wenn er sich im Laufe der Zeit verändert hat und dabei möglicherweise älter, klüger, vorsichtiger oder schöner geworden ist. „Das Problem besteht […] darin, die verschiedenartigen Verbindungsmöglichkeiten zwischen Permanenz und Veränderung zu erforschen, die mit der im Sinne von Selbstheit verstandenen Identität vereinbar sind“ (Ricœur 2005b, S. 209). Mit Perspektive auf den Lebenszusammenhang als Ganzen vermischen sich nun beide Formen der Identität; auf Ricœurs Weg einer „narrativen Vermittlung“ im Begriff der Lebensgeschichte stehen Selbigkeit und Selbstheit in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Dass eine solche narrative Vermittlung möglich ist, liegt an der Fähigkeit der Erzählung, in der „für die narrative Konfiguration charakteristischen diskordanten Konkordanz“ eine „Synthese des Heterogenen“ (Ricœur 2005b, S. 214) zu vollziehen. Während eine Erzählung von allgemeinen Struktureigenschaften zusammenhalten wird, lebt eine gute Geschichte gerade von Brüchen und Umschwüngen. Ricœur nennt diese allgemeinen Strukturprinzipien Konkordanz und die sie durchbrechenden Elemente, „die, bis zum Abschluss der Erzählung, deren Identität gefährden“ (Ricœur 2005b, S. 212), Diskordanzen. Das Charakteristikum einer „diskordanten Konkordanz“ meint also die Fähigkeit der Erzählung, das Spannungsverhältnis zwischen einem überwölbenden Ordnungsprinzip einer Erzählung auf der einen Seite und den Elementen, welche dieses gefährden und infrage stellen, auf der anderen, bis zum Abschluss der Geschichte in einer Balance zu halten, sodass die einheitliche Gestalt einer

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Erzählung trotz in sie eingehender Uneinheitlichkeiten erhalten bleibt. „Insofern diese einheitliche Gestalt Konkordanz und Diskordanz integriert, kann gesagt werden, daß die narrative Operation eine eigenständige, ursprünglich dynamische Form von Identität hervorbringt, in der die Veränderlichkeit der Identität nichts Äußerliches ist“ (Mattern 1996, S. 202). Dass Ricœur selbst nicht von der Struktur, sondern von der Konfiguration einer Erzählung spricht, liegt nicht zuletzt daran, dass Strukturen wenig dynamisch sind, während im Begriff der Konfiguration bereits das Selbst einer Figur mitschwingt und so die Verwandtschaft zwischen der Konstitution einer Erzählung und derjenigen einer Person im Sinne eines narrativen Selbst greifbar macht: „Es ergibt sich daraus, daß die narrative Identität des Helden nur korrelativ zur diskordanten Konkordanz der Geschichte selbst sein kann“ (Ricœur 2005b, S. 215). Mit anderen Worten ist Ricœur der Auffassung, dass „die Dialektik von Konkordanz und Diskordanz – zunächst von der Fabelkomposition auf die Erzählfigur, sodann auf einen selbst übertragen“ (Ricœur 2005b, S. 225) werden kann. Wilhelm Schapps bekanntes Diktum „Die Geschichte steht für den Mann“ (Schapp 1976, S. 103) findet hier für Ricœur ihren eigentlichen Sinn: Wenngleich das Leben möglicherweise auch keine Erzählung ist und zwischen gelebter Erfahrung und literarischer Erzählung eine Reihe von Unterschieden zu konstatieren sind, „so scheinen sie mir nicht auszureichen, um den Begriff einer Anwendung der Fiktion auf das Leben ins Abseits zu stellen.“ (Ricœur 2005a, S. 198, kursiv R.T.) Ricœur greift den Chiasmus historischer und fiktionaler Erzählung, den er schon in Zeit und Erzählung thematisiert hatte, in Das Selbst als ein Anderer wieder auf: „Ich stellte damals die Hypothese auf, daß die narrative Identität, sei es die einer Person oder einer Gemeinschaft, den gesuchten Ort des Chiasmus zwischen Geschichte und Fiktion darstellt. Legt uns nicht das intuitive Vorverständnis, das wir von diesem Sachverhalt haben, nahe, Menschen für lesbarer zu halten, wenn sie anhand der Geschichten, die man von ihnen erzählt, interpretiert werden? Und werden diese Lebensgeschichten ihrerseits nicht verständlicher, wenn man aus der Geschichte oder der Fiktion (Drama oder Roman) entlehnte narrative Modelle – ‚Fabeln‘ – auf sie anwendet? […]. Das Selbstverständnis ist eine Interpretation; die Selbstinterpretation ihrerseits findet, nebst anderen Zeichen und Symbolen, in der Erzählung eine ausgezeichnete Vermittlung; letztere entlehnt Elemente sowohl aus der Geschichte als aus der Fiktion und macht so eine Lebensgeschichte zu einer fiktiven Geschichte, oder wenn man so will, zu einer historischen Fiktion, die den historiographischen Stil der Biographie mit dem romanhaften Stil der imaginären Autobiographie verknüpft“ (Ricœur 2005a, S. 142, Fn.). Was wir dieser Passage entnehmen können, ist offenbar das Folgende: 1. Ricœur hält die Lebensgeschichte eines Menschen in ähnlicher Weise für „lesbar“ wie eine erzählte Geschichte. Damit werden auf Personen dieselben Verstehensinstrumente anwendbar, die auch auf fiktive narrative Zusammenhänge anwendbar sind.

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2. Das „Selbst“ ist nicht als substanzieller Ich-Kern denkbar, sondern nur auf dem Wege einer Auslegung zugänglich. Das Medium dieses Auslegungsprozesses ist für Ricœur die Erzählung, welche es erlaubt, das Auszulegende in einen narrativ konfigurierten Zusammenhang zu modellieren. Auf diese Weise überkreuzen sich Fakt und Imagination, da die bereits pränarrativ gearteten Lebensverläufe in die Form einer Erzählung angeordnet werden. Wer jemand ist, stellt sich für Ricœur folglich immer in Form einer Erzählung heraus, ohne dass dafür angenommen werden müsste, dass dieses Selbst oder sein Leben eine Erzählung ist. Die Erzählung erweist sich vielmehr als das zentrale Medium eines Selbstauslegungsprozesses, einer Hermeneutik des Selbst.

2.2 Das Selbst als ein Anderer Dabei gehört es zu den Pointen von Ricœurs Denken, dass sich in dieser Hermeneutik des Selbst die eigene Perspektive für die des Anderen öffnet. Die narrative Identität, die sich auf dem Wege der erzählenden Konfiguration konstituiert, erzählt ihre Geschichte keineswegs im luftleeren Raum. Für jede Lebensgeschichte gilt vielmehr, dass sie ohne das Einbrechen Anderer in diesen narrativen Zusammenhang einer Lebenserzählung kaum vorstellbar ist: „Vom Selbst läßt sich daher sagen, daß es durch die reflexive Anwendung der narrativen Konfigurationen refiguriert wird. […] Das Subjekt konstituiert sich in diesem Fall […] als Leser und Schreiber zugleich seines eigenen Lebens. Wie die literarische Analyse der Autobiographie bestätigt, wird die Geschichte eines Lebens unaufhörlich refiguriert durch all die wahren und fiktiven Geschichten, die ein Subjekt über sich selbst erzählt. Diese Refiguration macht das Leben zu einem Gewebe erzählter Geschichten“ (Ricœur 2007, S. 396). Die narrative Identität entsteht also durch einen Reflexionsprozess, welcher die für sich bisweilen durchaus uneinheitlichen Vorgänge des eigenen Lebens in einer einheitlichen Lebensgeschichte zusammenfasst. Dies ist jedoch kein abschließbarer Vorgang, sondern vielmehr ein lebensbegleitender Prozess, in dem die Lebenserzählung konsequenten Einflüssen ausgesetzt ist, welche ihrerseits narrativen Charakter aufweisen und auf die Lebenserzählung einwirken, diese also refigurieren. Die eigene Geschichte steht dabei also nicht allein, sondern ist Teil eines Gewebes, welches offensichtlich plural verfasst ist: Die Lebensgeschichte konstituiert sich nicht als eine einzelne Geschichte, sondern als eine unter vielen, die in gegenseitiger Wechselwirkung zueinander stehen – eben in einem „Gewebe erzählter Geschichten.“ In Narrative Identität geht Ricœur zunächst ganz explizit dieser Frage nach, welche Wirkung das Lesen einer literarischen Erzählung auf das sich konstituierende Selbst hat. Er beschreibt hier, dass eine solche Lektüre mit einer Refiguration verbunden ist, die einen „Aspekt der Selbsterkenntnis“ einschließt:

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„Die narrative Vermittlung unterstreicht so den bemerkenswerten Charakter der Selbsterkenntnis als einer Selbstauslegung. Die Aneignung der Identität der fiktiven Figur durch den Leser ist das bevorzugte Vehikel dieser Auslegung“ (Ricœur 2005b, S. 222). Mit Blick auf die ursprüngliche Problematik der Identität bedeutet dies, dass die Identifikation des Selbst den Umweg der „Identifikation mit einem anderen“ nimmt: „Sich eine Figur durch Identifikation aneignen bedeutet, sich selbst dem Spiel imaginativer Variationen unterwerfen, die so zu imaginativen Variationen des Selbst werden. Durch dieses Spiel bestätigt sich das berühmte Wort von Rimbaud […]: Ich ist ein anderer“ [Je est un autre] (Ricœur 2005b, S. 223). Damit ist freilich auch schon ein wesentlicher Zug von Ricœurs ethischer Position markiert, den wir hier an dieser Stelle allerdings nur andeuten können. Für diesen ethischen Zug in seinem Werk kann der Titel des hier schon mehrfach zitierten Buches Das Selbst als ein Anderer als programmatisch gelten. In der „Fürsorge“, welche das zentrale Motiv dessen ausmacht, was Ricœur „ethische Ausrichtung“ nennt, kommt es ebenfalls zu einer Rückwirkung des Anderen auf die eigene Person: „Das Leiden des Anderen […] löst Gefühle im Selbst aus, die sich spontan auf den Anderen zubewegen.“ Das wesentliche ist hierbei allerdings nicht die Bewegung der Gefühle hin zum Anderen, sondern vielmehr die für die eigene Person konstitutive Wirkung, welche die ethische Ausrichtung auf den anderen auf das eigene Selbst hat: „Durch eine Rückwirkung der Fürsorge auf die Selbstschätzung nimmt das Selbst sich als einen Anderen wahr“ (Ricœur 2005a, S. 234). Auch hier ist es also die Öffnung für den Anderen, welche den Umweg bildet, der wieder zum Selbst zurückführt. Was Ricœur ethische Ausrichtung nennt, ist also keine einseitige Hinwendung eines Subjekts zu einem Gegenüber, sondern vielmehr als eine „Verbindung zwischen einem Selbst und dem Anderen“ zu denken, für die konstitutiv ist, „daß ich mich nicht zu schätzen vermag, ohne den Anderen wie mich selbst zu schätzen. ‚Wie mich selbst‘ bedeutet: auch Du bist imstande, etwas in der Welt zu beginnen, aus Gründen zu handeln, deine Präferenzen zu hierarchisieren, die Ziele deines Handelns einzuschätzen und – indem du dies tust – dich selbst zu schätzen, so wie ich mich selber schätze. […] So werden die Schätzung des Anderen als eines Sich-selbst ­[soi-même] und die Schätzung seiner selbst [soi-même] als eines Anderen von Grund auf gleichwertig.“ (Ricœur 2005a, S. 235 f.).

3 Narrativität und Welt: Welche Bedeutung haben Narrationen für die Fähigkeit ethischer Orientierung? Dass das Selbst in das „Spiel imaginativer Variationen“ (Ricœur 2005b, S. 223) gerät, welche damit zu Variationen seiner selbst werden, ist ein Punkt, der auch bei Martha Nussbaum von Bedeutung ist – wenngleich mit anderer

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­ kzentsetzung. Nussbaum geht es bei ihrer Auseinandersetzung mit Narrationen A im Kontext der Ethik vor allem um emotionale Fähigkeiten und Vorbedingungen ethischen Handelns, für deren Entwicklung die kritische Reflexion von Literatur in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. Dieser Umgang mit Literatur, der ganz wesentlich ethischen Motiven folgt, bildet den dritten Teil eines insgesamt dreigliedrigen, umfassenderen Bildungskonzepts, das sie mit Cultivating Humanity (1997) beschreibt. Bei Nussbaum stehen die Gedanken, welche auch im Rahmen der Diskussion um die narrative Ethik verhandelt werden, also von vornherein im Kontext von Erziehung und Bildung. Das insgesamt auf Erziehung zum Weltbürger angelegte Konzept setzt sich zusammen aus dem Anliegen, einerseits über Kenntnis anderer Kulturen und andererseits über die Befähigung zum sokratischen Rechenschaftgeben zu einem umfassend gebildeten Menschen heranzureifen1: „Becoming an educated citizen means learning a lot of facts and mastering techniques of reasoning. But it means something more. It means learning how to be a human being capable of love and imagination“ (­Nussbaum 1997, S. 14). Dabei geht sie davon aus, „daß zwischen dem Leser und der Literatur eine ‚Freundschaft‘ besteht, daß sie in ihm bestimmte Wünsche weckt und die moralische Vorstellungskraft in bestimmte Richtungen lenkt“ (Nussbaum 2000, S. 132; vgl. Nussbaum 1997, S. 100).

3.1 Martha Nussbaum und die narrative Imagination In beiden Zitaten kommen zwei neue Aspekte ethischen Bewusstseins ins Spiel: Zum einen 1) die Rolle von Emotionen und zum anderen 2) die Rolle einer narrativen Imaginationsfähigkeit, die Sache der menschlichen Einbildungskraft ist. Beide Aspekte werden von Nussbaum zu einem Anliegen zusammengefasst, dass sie als narrative Imaginationsfähigkeit beschreibt. 1) Der erste Aspekt zielt auf die Ausbildung einer Art vormoralischer Sensitivität. Bemerkenswert ist dabei, dass auch hier narrative Strukturen eine zentrale Rolle spielen: „Emotions, we can now see, have a narrative structure. The understanding of any single emotion is incomplete unless its narrative history is grasped and studied for the light it sheds on the present response. This already suggests a central role for the arts in human self-understanding: for narrative artworks of various kinds (whether musical or visual or literary) give us information about the ­emotion-histories that we could not easily get otherwise“ (Nussbaum 2001, S. 236).

1Was

Nussbaum als „narrative Imagination“ beschreibt, ist also nicht als Alternative zu einer sokratischen Methodik zu verstehen, sondern als deren Komplement.

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Auch bei Nussbaum findet sich also so etwas wie eine „narrative Vermittlung“; diese betrifft das in ethischer Perspektive bedeutsame Fremdverstehen von Emotionen. Wir können uns den emotionalen Zustand des Anderen nur auf dem Wege einer narrativen Kontextualisierung erschließen; ohne eine solche bliebe uns dessen Gefühlsleben weitgehend unverständlich. Dieser Aspekt war bei Ricœur ebenfalls angeklungen, wenn dieser davon sprach, das „Spiel mit imaginativen Variationen [führe] zur Bereicherung unseres Repertoires an psychischen Prädikaten“ (Ricœur 2005b, S. 219). Bei Nussbaum rückt dieser Gedanke nun weiter ins Zentrum des Interesses: Ethisch oder politisch wichtige Emotionen wie das Mitleid (vgl. Nussbaum 1997, S. 90 ff.), können ihr zufolge nur auf auf dem Wege einer imaginativen Übernahme der Perspektive und damit der emotionalen Position des Anderen zustande kommen. Da wir auf diese Weise lernen, uns aus unserer emotionalen Selbstbezogenheit zu lösen, erweist sich dieser Weg als ein zuverlässiges „antidote to seld-centered rage“ (Nussbaum 1997, S. 97).2 2) Der zweite Aspekt der „narrative imagination“ hängt mit dem ersten zusammen und wird von Nussbaum direkt von Aristoteles‘ Theorie der Dichtung abgeleitet. Diese ist nach Aristoteles deswegen „etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als die Geschichtsschreibung“, weil sie „das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“ (Aristoteles 2002, 1451b) mitteilt. Die Dichtung formuliert damit nicht das zufällig Tatsächliche – wie die Geschichtsschreibung – sondern allgemeine Möglichkeiten des Menschlichen überhaupt; „general forms of possibility and their impact on human lives“ (­Nussbaum 1997, S. 92). Literatur erschließt einen Schatz menschlicher Möglichkeiten, der uns ohne sie womöglich verschlossen bliebe. Der Dichter schafft damit eine „invitation to present the world from the point of view of a person different from himself“ (Nussbaum 1997, S. 13). Sich über den Umgang mit Literatur mit solchen allgemeinen menschlichen Möglichkeiten auseinanderzusetzen, ist für Nussbaum besonders wichtig, da wir auf diese Weise ein Vorstellungsvermögen über mögliche, auch von der eigenen abweichende Perspektiven erhalten. Dies gilt jedoch nicht nur für äußerliche Aspekte wie unterschiedliche Interessen, sondern auch solche, welche das Innerste einer Person betreffen: „We must cultivate in ourselves a capacity for sympathetic imagination, that will enable us to comprehend the motives and choices of people different from ourselves, seeing them not as forbiddingly alien and other, but as sharing many problems and possibilities with us. Differences of religion, gender, race, class an national origin make the task of understanding harder, since these differences shape not only the practical choices people face but also their ‚insides‘, their desires, thoughts, and ways of looking at the world. Here arts play a vital role, cultivating powers of imagination“ (Nussbaum 1997, S. 85). Diese Kraft der Imagination ist also ganz wesentlich eine Kraft intersubjektiver Vermittlung. Daneben ist sie aber auch für Nussbaum eine Möglichkeit, über den

2„A

good novelist is an antidote to self-certered rage.“ (ebd.)

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Abgleich mit den möglichen Perspektiven Anderer zu einem besseren Verständnis dessen zu gelangen, wer wir selbst sind. Die Auseinandersetzung mit allgemeinen menschlichen Möglichkeiten ist also nicht nur in einer moralischen Perspektive mit Blick auf den Anderen, sondern auch und gerade mit Blick auf die eigene Identitätsbildung von Belang: „If literature is a representation of human possibilities, the work of literature we choose will inevitably respond to, and further develop, our sense of who we are and might be“ (Nussbaum 1997, S. 106, kursiv R. T.). Dass Nussbaum der Auseinandersetzung mit Literatur in ihrem Bildungskonzept einen so zentralen Platz zuweist, hat jedoch in allererster Linie mit der auf andere Personen gerichteten Fähigkeit zur Perspektivübernahme zu tun. Diese einfühlende Übernahme der Perspektive ist einerseits eine emotionale Fähigkeit, welche vor dem eigentlichen moralischen Urteil liegt. In diesem Sinne ließe sich sagen, dass wir es mit einer Art vormoralischer Bedingung des Moralischen zu tun haben: „In these various ways, narrative imagination is an essential preparation for moral interaction“ (Nussbaum 1997, S. 90). Gleichzeitig ermöglicht uns der Abgleich unserer eigenen Gefühlshistorie mit möglichen anderen aber auch, ein informierteres Urteil (vgl. Nussbaum 1997, S. 88) zu fällen – und dies umso mehr, je breiter unsere Fähigkeit zum Ermessen menschlicher Möglichkeiten ausgebildet wird. Den Kern dessen, was Nussbaum mit narrative imagination meint, bildet daher „the ability to imagine what it is like to be in that person’s place (what we usually call empathy), and also the ability to stand back and ask whether the persons own judgement has taken the full measure of what has happened“ (Nussbaum 1997, S. 91). Dies gilt Nussbaum zufolge unabhängig davon, welcher Form ethischen Argumentierens und Urteilens man den Vorzug gibt; so meint sie nicht, „daß dieses Literaturverständnis von uns verlangt, Aristoteliker oder Kantianer zu sein“ (Nussbaum 2000, S. 134). Narrative Imagination verbindet sich für sie nicht automatisch mit einer bestimmten Form von Ethiktheorie. Sie setzt jedoch voraus, dass der individuellen Perspektive eine Rolle zugemessen, wird, die nicht wie in utilitaristischen Ansätzen im Aggregat eines sozialen Ganzen aufgeht. Für den Utilitarismus, so sagt sie, sind die auf dem Wege narrativer Imagination zu gewinnenden Einsichten von weit geringerem Wert, da dieser die Perspektive des Individuums im großen Rahmen der „größten Zahl“ (Bentham) als eine beliebige auffasse; „aber [ihrer] meiner Ansicht nach sind diese Erkenntnisse sowohl mit der kantischen als auch mit der aristotelischen Ethiktheorie vereinbar.“ (ebd.)

3.2 Die Erzählung als Gedankenexperiment Indem sie uns dazu bringen, einer erzählten Perspektive zu folgen, ermöglichen uns Erzählungen die Einnahme von Blickwinkeln, die de facto weder die eigenen sind noch von uns je eingenommen werden könnten. Damit ermöglichen sie uns, Grenzen zu überschreiten: „Boundaries […] can similarly be transcended in

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thought“ (Nussbaum 1997, S. 92).3 Die Grenzen, die in Gedanken transzendiert werden können, benennt Nussbaum mit Gruppenzugehörigkeiten wie Religion, Geschlecht, Rasse, Klasse oder Nationalität. Auch da wo ein tatsächlicher Wechsel also gar nicht möglich ist – gibt es doch z. B. vermutlich nur wenige Beispiele dafür, dass ein Weißer sich tatsächlich in einen Afroamerikaner verwandelt – ermöglicht die erzählende Vermittlung als allgemein menschliche Möglichkeit einen Zugang. Auf diese Weise erweitert die Einbildungskraft das Vorstellungsvermögen des Einzelnen und schafft so eine Möglichkeit, die eigene Position zu transzendieren – auch da, wo uns das Fremdverstehen vor möglicherweise kulturell bedingte Herausforderungen stellt: Wir sind nicht alle „brothers under the skin“ (Nussbaum 1997, S. 92), aber es kann aus der Perspektivübernahme ein Verstehensprozess angestoßen werden – auch und möglicherweise besonders da, wo die Identifikation schwer fällt oder gar scheitert: „Again, the reader’s learning involves both sameness and difference“ (Nussbaum 1997, S. 95). Diese Einsicht, dass in Erzählungen durchgeführte Gedankenexperimente als propädeutische Vermittlungsinstanzen der Selbstauslegung und des Fremdverstehens fungieren, ist der Grundgedanke, der MacIntyre, Ricœur und Nussbaum bei aller sonstigen Unterschiedlichkeit ihrer Positionen miteinander verbindet. So schreibt auch Ricœur: „Die zeitgenössischen Theaterstücke und Romane sind zu wahren Laboratorien geworden, die Denkexperimente entwickeln, in denen die narrative Identität der Figuren unzähligen Variationen unterworfen wird“ (Ricœur 2005b, S. 216). Auch in Das Selbst als ein Anderer wird dieser Gedanke aufgenommen: „In diesem Sinne erweist sich die Literatur als ein weiträumiges Laboratorium für Gedankenexperimente, in denen die Variationsmöglichkeiten narrativer Identität auf den Prüfstand gestellt werden“ (Ricœur 2005a, S. 182). Dass diese Gedankenexperimente für Ricœur mit Blick auf die Konstitution der eigenen Person, im Sinne der für sein Denken charakteristischen Bewegung vom Text zur Person von Bedeutung ist, war vorhin schon angedeutet worden. Die Bedeutung unserer Fähigkeit zur narrativen Variation des Tatsächlichen ist jedoch auch für ihn keineswegs „nur“ identitätsstiftend, sondern hat eine ganz konkrete ethische Funktion mit Blick auf unsere moralische Urteilsfähigkeit: „Aber im irrealen Bereich der Fiktion erforschen wir unablässig neue Bewertungsweisen für Handlungen und Figuren. Die Gedankenexperimente, die wir im großen Laboratorium der Einbildung durchführen, sind auch Forschungsreisen durch das Reich des Guten und Bösen. Etwas umzuwerten, möglicherweise

3Nussbaum benennt die Grenzen, die sich ihrer Auffassung nach auf diesem Wege überschreiten lassen, sehr konkret: „Boundaries of Nationality can similarly be transcended in thought, for example by the recognition that one of the frequent hazards of wartime is to lose one's nation. Boundaries of race, of gender, and of sexual orientation prove, historically, more recalcitrant: for there might appear to be little real-life possibility of a man's becoming a woman, a white person's becoming black, or even (pace earlier psychiatry) a straight person's becoming gay or lesbian“ (Nussbaum 1997, S. 92).

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sogar abzuwerten bedeutet immer noch, es zu bewerten. Das moralische Urteil ist nicht abgeschafft, es ist vielmehr selbst den der Fiktion eigenen imaginativen Variationen unterstellt“ (Ricœur 2005a, S. 201). Wer bewusst urteilen und handeln will, braucht Alternativen – und das Reich menschlicher Möglichkeiten – auch hier sind sich Nussbaum und Ricœur durchaus miteinander und mit Aristoteles einig – erschließt sich uns im Rahmen von Erzählungen.

4 Narrativität und Bildung: Perspektiven für eine narrative Didaktik des Ethischen Fassen wir zusammen, wo in der narrativen Ethik Potenziale für eine Didaktik des Ethischen liegen, so ergeben sich entsprechend der drei Teile unserer Überlegungen besonders drei Perspektiven. 1) Als Erstes ist hier zu nennen, dass praktische Zusammenhänge als die zentralen Gegenstände ethischer Orientierung uns kaum verständlich wären, ohne dass wir das an Ihnen erschließen, was einem narrativen Ansatz zugänglich ist. Mit MacIntyre und Ricœur lässt sich die Vermutung anstellen, dass besonders analytische Zugriffsweisen zuweilen ein reduktionistisches Verständnis menschlicher Praxis implizieren. Wo ein angemessenes Verständnis der Bedeutung einer Handlung ohne eine narrative Kontextualisierung in Frage zu stehen scheint, gewinnen narrative Strukturen gleichermaßen an Bedeutung für die Ethik wie für die ethische Bildung. 2) Eine weitere Perspektive ist der Aspekt der Persönlichkeitsbildung, der gerade in der Philosophiedidaktik mit dem Verblassen der Relevanz von Wulff Rehfus’ identitätstheoretischem Ansatz etwas in den Hintergrund gerückt ist. Dennoch kann hier freilich nicht in Frage stehen, dass eine Selbstauslegung im Sinne von Ricœurs Hermeneutik des Selbst für eine sich als philosophische Bildung begreifende Philosophiedidaktik von essenzieller Bedeutung ist.4 Wenngleich der Begriff als solcher sicher streitbar ist, so findet dieser Aspekt sogar in gegenwärtigen Kompetenzmodellen philosophischer Bildung Aufnahme unter dem Begriff einer „Selbstkompetenz“5, welche zu den Zielen eines zeitgemäßen Philosophieunterrichts gezählt wird.

4Vgl.

dazu Mattern (1996): „Aber auch das am Text entwickelte Konzept von Hermeneutik findet seine letzte Dimension in der eines Verstehens des Selbst, das seine Existenz über seine Interaktion mit dem Text erhellt und damit im Sinne der Mimesistheorie verändert.“ 5Für die Tendenz innerhalb der gegenwärtigen Philosophiedidaktik, auch die ursprünglich stark mit dem Subjektbegriff verbundene im Sinne einer Persönlichkeitsbildung verstandene Bildung des Selbst im Sinne des Kompetenzparadigmas zu reformulieren und so in eine stärker methodisierte Form zu bringen, lassen sich verschiedenste Beispiele anführen (vgl. z. B. Rohbeck 2013, S. 91; Rösch 2012, S. 120 f.). Da es im Rahmen dieses Textes jedoch nicht um eine Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Kompetenzdiskussion gehen soll, werde ich diesen Gedanken hier nicht weiterverfolgen.

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Ein solches Anliegen findet in einem Autor wie Ricœur sicherlich einen kompetenten Ansprechpartner – geht dieser in seiner Konzeption doch nicht von einem gegebenen Subjekt aus, sondern von einer existenziellen Aufgabe der Selbstauslegung, in welcher das Selbst den Endpunkt der Reflexion darstellt, das sich im Verlauf des Aneignungsprozesses des ihm vorausliegenden Sinns erst formt (vgl. Mattern 1996, S. 191): „Die Subjektivität des Lesers [gelangt] nur zu sich selbst in dem Maße, als sie in die Schwebe versetzt, aus ihrer Wirklichkeit gelöst und in eine neue Möglichkeit gebracht wird, wie die Welt selbst, die der Text entfaltet. […] Ich, der Leser, finde mich nur, indem ich mich verliere. Die Lektüre bringt mich in die imaginativen Veränderungen des Ich. Die Verwandlung der Welt ist auch die spielerische Verwandlung des Ich“ (Ricœur 1974, S. 33). Der ethisch reflektierende Umgang mit narrativen Texten kann im Philosophieunterricht – wie in anderen auch – in diesem Zusammenhang offensichtlich eine wichtige Rolle einnehmen. 3) Damit ist dem Prozess der Selbstauslegung aber immer schon ein Moment der Auseinandersetzung mit dem Anderen inhärent, ohne das das Selbst nicht auf den hermeneutischen Umweg zu sich selbst gelangen könnte. Die Auseinandersetzung mit erzählender Literatur ist nicht deswegen ein Selbstfindungsprozess, weil in der Literatur gewissermaßen etwas Eigenes bereits „enthalten“ wäre, das nur aufgespürt werden müsste. Es ist vielmehr der und das wesentlich Andere, an dessen Verstehen sich das Selbst konstituiert: „Sich verstehen bedeutet, sich angesichts eines Textes zu verstehen und von ihm die Bedingungen eines Selbst zu empfangen, das anders als das Ich ist, das die Lektüre beginnt (d’un soi autre que le moi qui vient à la lecture)“ (Ricœur 1986, S. 31). Damit ist dem Verstehensprozess von Anfang an eine ethische Spur eingeschrieben, die ihn am Anderen orientiert. Die mit der Rezeption einer Erzählung verbundene Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Menschlichen spielt für die ethische Bildung sicher die insgesamt entscheidendste Rolle. Denn „Erzählen […] bedeutet einen imaginären Raum von Gedankenexperimenten auszubreiten, in denen das moralische Urteil im hypothetischen Modus durchexerziert wird“ (Ricœur 2005a, S. 208). Narration ist Ethik im Versuchsstadium. So gesehen ist die Erzählung aber stets mehr als eine Beschreibung des Tatsächlichen: „Obgleich die Erzählung eine ethische Dimension und die Ethik eine narrative Dimension besitzt, erstaunt es keineswegs, daß die narrativen Grundlagen der Ethik eher für die Vermittlung normativer Inhalte als für ihre Begründung von Bedeutung sind“ (Welsen 2007, S. 184). Mit Blick auf ihren normativen Status ist sie stets mehr als Deskription und weniger als Präskription. Damit bildet sie in der „Trias […]: Beschreiben, Erzählen, Vorschreiben“, mit der Ricœur die argumentative Grundstruktur seines Werkes beschreibt, das zentrale Mittelglied, das auch für die ethische Bildung im Zentrum stehen muss: Die Erzählung liegt, wie die ethische Bildung, auf dem Weg zur Ethik. Sie ist ein, vermutlich der Weg, unsere Urteile, ethischen Einstellungen, mit einem Wort: unsere Lebenshaltung reflektierend zu prüfen, bevor sie zu einem Teil des uns konstituierenden Charakters wird: „Die Literatur stellt ein umfangreiches Laboratorium dar, wodurch Einschätzungen, Bewertungen, Urteile der Zustimmung und des

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Mißfallens erprobt werden, in denen die Narrativität der Ethik als Propädeutik dient“ (Ricœur 2005a, S. 143 f.). Narrative Imaginationsfähigkeit bildet in diesem Zusammenhang eine zentrale vorethische Bedingung unserer ethischen Lebensführung – das ist es, was die ethische Bildung von der narrativen Ethik lernen kann.

Literatur Arendt, Hannah. 2002. Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper. Aristoteles. 2002. Poetik, übers. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam. Joisten, Karen. 2007. Das „narrative Selbst“ und das Problem der Verantwortung. In Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, Hrsg. Karen Joisten, 187–199. Berlin: Akademie. MacIntyre, Alasdair. 2014. Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Mattern, Jens. 1996. Ricœur zur Einführung. Hamburg: Junius. Nussbaum, Martha C. 1997. Cultivating humanity. A classical defense of reform in liberal educatio. Cambridge: Harvard University Press. Nussbaum, Martha C. 2000. Literatur, Moral und ethische Empfindungsfähigkei. In Konstruktionen praktischer Vernunft. Philosophie im Gespräch, Hrsg. H. Pauer-Studer, ­129–152. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Nussbaum, Martha C. 2001. Upheavals of thought. The intelligence of emotions. Cambridge: Cambridge University Press. Platon. 1991. Der Staat, übers. Rudolf Rufener. München: dtv. Ricœur, Paul. 1974. Philosophie und theologische Hermeneutik. Evangelische Theologie ­34:24–45. Ricœur, Paul. 1986. De l’interpretation. In Du texte à la action. Essais d’herméneutique II., Hrsg. P. Ricœur, 11–35. Paris: Editions du seuil. Ricœur, Paul. 2005a. Das Selbst als ein Anderer. München: Fink. Ricœur, Paul. 2005b. Narrative Identität. In Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970-1999), Hrsg. Paul Ricœur, 209–225. Hamburg: Meiner. Ricœur, Paul. 2007. Zeit und Erzählung. Bd. III: Die erzählte Zeit. München: Fink. Rohbeck, Johannes. 2013. Philosophische Kompetenzen. In Didaktik der Philosophie und Ethik, Hrsg. J. Rohbeck, 89–102. Dresden: Thelem. Römer, Inga. 2012. Narrativität als philosophischer Begriff. Zu Funktionen und Grenzen eines Paradigmas. In Narrativität als Begriff. Analysen und Anwendungsbeispiele zwischen philologischer und anthropologischer Orientierung, Hrsg. M. Aumüller, 233–258. Berlin: DeGruyter. Rösch, Anita. 2012. Kompetenzorientierung im Philosophie- und Ethikunterricht. Entwicklung eines Kompetenzmodells für die Fächergruppe Philosophie, Praktische Philosophie, Ethik, Werte und Normen, LER. Münster: Lit. Schapp, Wilhelm. 1976. In Geschichten verstrickt. Wiesbaden: B. Heymann. Welsen, Peter 2007. Erzählung und Ethik bei Paul Ricœur. In Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, Hrsg. K. Joisten, 169–185. Berlin: Akademie.

Zur objektiv-hermeneutischen Rekonstruktion eines Entwurfs von philosophischer Bildung im Praxissemester Philosophie Kinga Golus

Das seit 2014 in Nordrhein-Westfalen eingeführte Praxissemester hat das Referendariat als erste berufsbiografische Instanz abgelöst. Der Beginn der Berufssozialisation von Lehrerinnen und Lehrern wird somit in das Masterstudium vorgezogen und fällt jetzt in die vormals überwiegend fachwissenschaftlich orientierte Ausbildungsphase. Ein Ziel des Praxissemesters besteht neben der bereits im Studium stattfindenden 5-monatigen Praxisorientierung darin, das eigene Handeln als angehender Lehrender kritisch zu reflektieren und dadurch den eigenen Professionalisierungsprozess voranzutreiben. Zur Berufsprofessionalität dieser neuen Generation von Lehrerinnen und Lehrern gehört die Fähigkeit, sich Techniken eines Forschenden Lernens1 zu bedienen, um die eigene Professionalität basierend auf einer kritisch habituellen Haltung ausbilden zu können. In diesem Beitrag werden erste Ergebnisse einer empirisch-rekonstruktiven Untersuchung zu (De-)Professionalisierungsprozessen angehender PhilosophielehrerInnen im Praxissemester vorgestellt.2 Diese Forschungsperspektive auf angehende Lehrerinnen und Lehrer ist für die universitäre Philosophiedidaktik in ­ vielerlei

1An der Universität Bielefeld wird das Forschende Lernen fachübergreifend als eigene Lernform gedeutet, was durch eine entsprechende Schreibweise gekennzeichnet wird. 2Das diesem Artikel zugrunde liegende Vorhaben BiProfessional wird im Rahmen der gemeinsamen Qualitätsoffensive Lehrerbildung von Bund und Ländern aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert (Förderkennzeichen 01JA1908). Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei der Autorin. Projekttitel: „Wie phasenübergreifendes Forschendes Lernen eine fachdidaktische Deprofessionalisierung im Unterrichtsfach Philosophie verhindert“ – Professionalisierung im Lehramtsstudium durch Forschendes Lernen zu Reflexionsprozessen im Philosophieunterricht, Projektleitung: Prof. Dr. Ralf Stoecker (Philosophie) und Prof. Dr. Martin Heinrich (Erziehungswissenschaften) – Universität Bielefeld.

K. Golus (*)  Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Thein, Philosophische Bildung und Didaktik, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_12

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­ insicht neu. Zum einen, weil ein qualitativ-empirischer Blick auf die Philosop­ H hielehrerInnenausbildung im Rahmen des Praxissemesters eingenommen wird. Zum anderen, weil hier erstmals in der Philosophiedidaktik nicht Schülerinnen und Schüler und ihre Bildungsprozesse untersucht werden, sondern Studierende, die als Lehrende der Philosophie ausgebildet werden. Es wird exemplarisch an einem Fallbeispiel gezeigt, welche implizite Vorstellung von philosophischer Bildung ein Lehramtsstudierender im Praxissemester nutzt, um seine eigene fachdidaktische Professionalisierung auszubilden. Interessant an dem in diesem Beitrag exponierten Fallbeispiel ist u. a., dass der hier herausgearbeitete Begriff von philosophischer Bildung tendenziell zu einer sich anbahnenden philosophiedidaktischen und fachwissenschaftlichen Deprofessionalisierung führt. Um solche Tendenzen bei angehenden Philosophielehrkräften zu untersuchen und aufzuzeigen, bedarf es eines q­ ualitativ-empirischen Zugriffs: „Das, was Professionalität und damit den Kern der pädagogischen Arbeit beschreibt, entzieht sich weitgehend einer Quantifizierung. Es bedarf daher solcher Methoden, die das Nicht-Messbare bzw. das Unausgesprochene sichtbar machen.“ (Paseka und Hinzke 2014, S. 16) Ein Sichtbarwerden des ­Nicht-Messbaren ist m.E. nach möglich insbesondere durch qualitativ-rekonstruktive Analysen, die latente Ebenen offenlegen. Es geht darum, subjektive Erfahrungen und Sinnkonstruktionen – wie in dem hier exponierten Fall – erkennen zu können. Die empirische Auswertung ermöglicht es, zum einen Rückschlüsse auf die Selbsteinschätzung der eigenen Professionalisierung als angehende Philosophielehrkraft im Praxissemester zu ziehen. Zum anderen können Lehrende an Universitäten von einer empirischen Perspektive profitieren, da diese ihnen einen Einblick in Schwierigkeiten in der Lehramtsausbildung ermöglicht. Darauf basierend kann die eigene universitäre Lehre – sowohl fachwissenschaftlich als auch fachdidaktisch – angepasst und praxisorientiert akzentuiert werden.

1 Zur Methode der Objektiven Hermeneutik Die empirische Grundlage für die Untersuchung bildet eine aussagekräftige Interviewpassage. Das Interview wurde nach der 5-monatigen Schulphase des Praxissemesters geführt. Die Analyse des Interviewausschnitts erfolgte anhand der Methode der Objektiven Hermeneutik. Dabei handelt es sich um ein Interpretationsverfahren, das von der Annahme ausgeht, „dass sich die sinnstrukturierte Welt durch Sprache konstituiert und in Texten materialisiert. Der Gegenstand der sinnverstehenden Wissenschaften bildet sich erst durch die Sprache und tritt in Texten in Erscheinung. Die soziale Wirklichkeit ist textförmig. Diese Annahme der Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit markiert zugleich den methodischen Zugang. Eine verstehende, methodisch kontrollierte Wirklichkeitserforschung ist Texterforschung. Wirklichkeitswissenschaft ist Textwissenschaft“ (Wernet 2009, S. 11 f.). Zentral für dieses Verfahren der Textdeutung ist eine Unterscheidung zwischen einer manifesten und einer

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latenten Bedeutungsebene. Die zur Interpretation ausgewählten Textpassagen haben demzufolge ebenfalls diese beiden Ebenen. Die latente Ebene ermöglicht einen Einblick in das tatsächlich Gesagte – in den objektiven Sinn eines Sprechakts. Beide Ebenen können durchaus in ihren Sinngehalten konträr sein. Erst in der Relationierung der manifesten und der latenten Ebene ist es möglich, eine dem Text zugrunde liegende typische Fallstruktur zu rekonstruieren. Diese Fallstruktur unterliegt dem gesamten Text, allerdings kann sie an einzelnen Passagen besonders deutlich hervortreten. Dementsprechend ist es möglich, eine Fallstrukturhypothese anhand eines aussagekräftigen kurzen Textausschnitts zu generieren. Im folgenden Beispiel wird die Fallstrukturhypothese durch die Feinanalyse einer Interviewpassage entwickelt. Ist die Hypothese aufgestellt, liegt der weitere Schwerpunkt der Interpretation auf der Suche nach Reproduktion bzw. Falsifikation der generierten Fallhypothese in anderen Interviewausschnitten, die herangezogen werden.

2 Fallrekonstruktion zum philosophischen Bildungsverständnis im Praxissemester Studierender 02: Ich FINDE, (.) äh Sie waren ja da, als ich dann den Unterrichtsentwurf gehalten/ Interviewer: Mhm (bejahend). Studierender 02: Also das/DEN Unterricht über das chinesische Zimmer gehalten habe.

Der Studierende berichtet aus seiner eigenen Unterrichtspraxis während des Praxissemesters. Der Unterrichtsgegenstand war das Gedankenexperiment „Das chinesische Zimmer“ von John Searle. Dabei handelt es sich um ein klassisches Gedankenexperiment der Philosophie des Geistes, in dem argumentiert wird, warum Computer als ausschließlich syntaktisch arbeitende Systeme nie eine semantische Ebene des Denkens, die eine notwendige Bedingung für eine Bewusstseinsbildung darstellt, erreichen können. Auffallend sind hier die Formulierungen „den Unterrichtsentwurf gehalten“ bzw. „DEN Unterricht über das chinesische Zimmer gehalten habe“. Üblich sind solche Formulierungen in einem anderen Kontext: man hält einen Vortrag, keinen Unterrichtsentwurf. Vorträge werden geschrieben, um sie möglichst ohne Abweichungen vor einem Publikum zu halten. Unterrichtsentwürfe werden hingegen konzipiert, um eine Stunde zu planen. Abweichungen sind bei einer schülerorientierten Ausrichtung ein Merkmal für Flexibilität und didaktische Professionalität. Einen „Unterrichtsentwurf zu halten“ rekurriert auf ein Vorgehen, das erfolgsversprechend für Vorträge ist, allerdings nicht für ein schülerorientiertes und aktives Unterrichtsgeschehen. Aus der Lehrerprofessionsforschung ist ein starres Festhalten an Unterrichtsplanungen bekannt und hinreichend erforscht. Es wird oftmals bei NovizInnen im Lehrberuf beobachtet, die am Anfang ihrer Professionalisierung stehen.

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Studierender 02: Ich fand das SO rund und auf dem Niveau VOLLKOMMEN ausreichend für die Schüler. Und der Nimtz-Text, der geht ja auf VIELE mögliche Kritikpunkte und so etwas ein und ähm (.) manche davon sind vielleicht auch äh schon bei den Schülern auch vorhanden gewesen, manche auch nicht. Äh zumindest gab es auch gute und substanzielle Kritik auch von Seiten der Schülerschaft, ähm (.) aber das sind Dinge, die SO STARK in die Philosophie des GEISTES gehen, in der ICH MICH auch nicht GUT auskenne.

Es folgt eine eigene positive Einschätzung des Unterrichts „ich fand das SO rund“. Den Gehalt der Stunde beurteilt er vom Anspruch als für die Schülerinnen und Schüler ausreichend komplex. Seine didaktische Aufarbeitung des Gedankenexperiments bedurfte im Vorfeld eine Orientierung an einem antizipierten SchülerInnenniveau, das er jahrgangsgerecht „vollkommen ausreichend“ halten wollte. Zwar scheint er damit intellektuelle Überforderungen zu vermeiden, gleichzeitig besteht die Gefahr bei einer Unterrichtsplanung, die ein ausreichendes Niveau als Planungsgrundlage hat, die Schülerinnen und Schüler tendenziell zu unterfordern. Bei dem erwähnten Nimtz-Text handelt es sich um einen Erläuterungstext, der das chinesische Zimmer aus einer fachwissenschaftlichen Perspektive untersucht. (vgl. Nimtz 2013) Interessant ist nun, dass offensichtlich die Schülerinnen und Schüler ähnliche Kritikpunkte an dem Gedankenexperiment hatten wie Christian Nimtz, was der Studierende erkennt und zumindest auf den ersten Blick lobend zur Kenntnis nimmt. In der Feinanalyse der Passage wird allerdings deutlich, dass das scheinbare Lob keines ist, da die Formulierung eine andere Deutung zulässt. Dass die Kritikpunkte, die „schon bei den Schülern auch vorhanden gewesen“ sind, stellen „Dinge“ dar, die die philosophische Vorbereitung des Studierenden übersteigen. Während des Unterrichts haben die Schülerinnen und Schüler bereits auf einem Niveau philosophiert, das das antizipierte Niveau deutlich übersteigt. Brisant wird allerdings die Äußerung des Studierenden deshalb, weil sie Kritikpunkte angeführt haben, „die SO STARK in die Philosophie des GEISTES gehen“, sodass die Lehrkraft mit dem anspruchsvollen Niveau der Schüleräußerungen fachwissenschaftlich nicht umgehen konnte. Somit wird hier die Diskrepanz zwischen der Selbsteinschätzung der Stunde als „rund“ und dem tatsächlichen Unterrichtsgeschehen deutlich, denn die Lernenden scheinen der Lehrkraft an einigen Punkten intellektuell überlegen gewesen zu sein. Die Ursache für dieses fachwissenschaftliche Defizit sieht der Studierende allerdings nicht bei sich und seiner unzureichenden Vorbereitung. Die Verantwortung für seine Defizite verortet er in der universitären Ausbildung: Studierender 02: Also, das liegt aber auch an der LEHRAMTSAUSBILDUNG. Ich meine, was machen wir an PHILOSOPHIE? Wir machen NICHT so viel an PHILOSOPHIE. Und, ne. (Lacht) Für das Protokoll: Sondern wir machen auch sehr viel ANDERES ähm und äh da fehlt einem bis auf die GRUNDKURSE, fehlt einem dann, WICHTIGES Überblickswissen. Einfach. Äh und oder Beziehungsweise, was HAT man? Das Überblickswissen, dann geht man ein bisschen in die TIEFE, aber mhm (.) für den Zweck des chinesischen Zimmers hat das MEINER Meinung nach AUSGEREICHT. […] Das ist ja nicht umsonst, dass es eine breite AKADEMISCHE Diskussion darüber gibt. Mit Leuten, die MEHR Titel haben als ICH. […]

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Man muss sich da glaube ich auch immer HINTERFRAGEN, dass man ähm nicht irgendwann mal KOMPLETT (.) NUR das Niveau der Schüler hat, ja. (Lacht) Man muss JA auch (.) ein bisschen MEHR wissen. Und ähm muss FRAGEN auch/Dann auch äh wenn vielleicht doch mal Hintergrundfragen kommen auch äh ANTWORTEN geben können. Also das KANN ja immer mal passieren, dass man sagt ,,Ich WEIß es nicht.‘‘ oder ,,Das muss ich noch NACHSCHLAGEN.‘‘. Ähm das kann aber ja nicht immer passieren. Wird dann PEINLICH beziehungsweise für einen selbst dann auch unbefriedigend. […] ähm insofern ist es schon wichtig, da mehr zu wissen als die SCHÜLER auch nach dem Unterricht MEHR zu wissen als die SCHÜLER immer noch […].

Verantwortlich für seine fachwissenschaftlichen Mängel sind aus der Perspektive des Studierenden die UniversitätsdozentInnen. Auf weiterführende Impulse der Schülerinnen und Schüler hätte er bei gründlicher Vorbereitung des Nimtz-Textes wahrscheinlich eingehen können, doch diese Ebene der Professionalisierung betritt er nicht. Der Ort philosophischer Tiefe ist s.E. die Universität mit „Leuten, die MEHR Titel haben als ICH“ – nicht die Schule. Des Weiteren wurde im Interview deutlich, dass der Studierende es durchaus als Defizit empfindet, nicht hinreichend universitär ausgebildet worden zu sein. Dass er im Lehrberuf für den Aufbau einer fachwissenschaftlichen Expertise, wenn auch nur exemplarisch, selbstständig verantwortlich ist, ist bis zu diesem Zeitpunkt nicht Teil seines Selbstverständnisses als Philosophielehrer. Dass Professionalisierung und die Aneignung von philosophischen Bildungsinhalten immer auch einen selbstständigen Teil des eigenen Professionalisierungsprozesses darstellen, berücksichtig er nicht. Er suggeriert, dass der Aufbau einer fachwissenschaftlichen Expertise im universitären Teil der Ausbildung stattfindet und anscheinend mit dem Beginn der Schulpraxis abgeschlossen ist. Gleichzeitig klassifiziert er seine Wissensdefizite als problematisch, da er durchaus den Anspruch an sich hat, mehr als seine Schülerinnen und Schüler zu wissen. Dass fachwissenschaftliches Wissen Relevanz hat, um auf deren Impulse adäquat im Unterricht eingehen zu können, bestätigt der Studierende. Allerdings ist seine Motivation, sich dieses anzueignen, darin begründet, nicht die Autorität als Fachlehrer zu verlieren. Dieses fachwissenschaftliche Professionswissen verschafft ihm Autorität, denn ohne das wird sein Unterricht „peinlich“ und „unbefriedigend“. Die fachwissenschaftliche Expertise deutet er hier als Möglichkeit, den Status als Fachlehrer zu halten, hingegen nicht, den Wissensvorsprung zu nutzen, um das Philosophieren der Schülerinnen und Schüler voranzubringen (vgl. Golus 2017). Fachlichkeit deutet er nach der Praxisphase als Kriterium für Autorität und Professionalität, allerdings nicht, um philosophische Bildungsprozesse bei seinen Schülerinnen und Schülern anzuregen, sondern um „auch nach dem Unterricht MEHR zu wissen als die SCHÜLER“.

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3 Was für eine implizite Vorstellung von philosophischer Bildung hat der Studierende? Basierend auf den Äußerungen lässt sich folgende Fallstrukturhypothese formulieren: charakteristisch für ein fachliches Professionalisierungsverständnis ist für diesen Studierenden ein stark kanonisches Verständnis von philosophischer Bildung, das er für seinen Unterricht nutzt. Diese These lässt sich durch verschiedene Interviewpassagen belegen. Wenn er bspw. fragt, „[…] was machen wir denn an Philosophie?“ wird hier ein Philosophieverständnis deutlich, das auf einen an philosophischen Klassikern orientierten Kanongedanken rekurriert. In seinem bisherigen Lehramtsstudium und auch im Praxissemester konnte der Studierende für sich bisher keine Professionalisierungsidee von Philosophieunterricht entwickeln, die ohne ein kanonisches philosophisches Bildungsverständnis auskommt. Darauf deutet auch die Kritik an der universitären Ausbildung hin, wenn er bspw. fragt „Was hat man?“ – hier zeigt sich der Wunsch nach viel materialem philosophischen Wissen, das für den eigenen Professionalisierungsentwurf des Studierenden zentral ist. Viel kanonisches philosophisches Wissen ist für ihn ein klarer Indikator für Professionalität und damit verbunden Autorität. Diese Positionierung widerspricht allerdings den grundsätzlichen philosophiedidaktischen Maximen von gutem Philosophieunterricht, wie sie bspw. Klaus Blesenkemper (vgl. Blesenkemper 2015) oder Volker Steenblock (vgl. Steenblock 2013) beschreiben. Zu diesen Kriterien für gelungenen Philosophieunterricht gehört Förderung des eigenständigen Denkens und damit verbunden die konsequente Arbeit am Logos, die elementar für einen Bildungsprozess ist (vgl. Steenblock 2013). Nach Steenblock steht philosophische Bildung dabei „für ein selbst verantwortetes und gestaltetes Wissen, bei dem sozusagen die ganze Person mitschwingt“ (vgl. Steenblock 2013, S. 11 f.). Alles Philosophieren und damit auch jeder Philosophieunterricht, der sich nicht selbst verleugnen will, soll Lernende zur Arbeit am Logos und somit zur konsequenten Arbeit am Selbst anregen und anleiten. Dieses Fallbeispiel zeigt, wie der Kernanspruch des Faches unterlaufen wird, da das Selbstdenken der Lernenden als eine Gefahr für die Autorität der Lehrkraft gedeutet werden kann. Viel philosophisches Wissen verschafft ihm diese Autorität, die allerdings – aus der Perspektive des Studierenden – angegriffen wird, sobald er gezwungen ist, einzugestehen, dass er etwas nicht weiß. Der Wunsch, auch nach dem Unterricht mehr zu wissen als seine Schülerinnen und Schüler, lässt den Schluss zu, dass viel philosophisches Wissen nicht nur die Grundlage seiner Autorität als Lehrperson ist, sondern auch gleichzeitig eine Dominanzstrategie. Der Anspruch des Faches, selbstständiges Denken bei den Lernenden anzuregen, setzt voraus, dass die Lehrkraft dieses Vorgehen selbst beherrscht. Dass selbstständiges Denken auch immer eine materiale Komponente von philosophischer Bildung hat, ist unbestritten. Sowohl formale als auch materiale Bildung müssen Teil einer gelungenen Professionalisierung von Philosophielehrenden sein. In dem vorliegenden Fallbeispiel wird deutlich, dass der

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Studierende eine stark materiale Ausrichtung in Hinblick auf philosophische Bildung hat und diese die Grundlage bildet, um zu unterrichten. Die formale Ebene von philosophischer Bildung scheint nicht Teil seiner philosophischen Professionalisierung als angehende Lehrkraft zu sein. Inwiefern diese einseitige Ausrichtung in der Unterrichtspraxis problematisch werden kann, wird in diesem Fallbeispiel ebenfalls deutlich. Denn die Schülerinnen und Schüler fingen an, mit ihm auf einer formalen Ebene philosophieren zu wollen. Mit dieser Ebene scheint er sich nicht auszukennen und war in vielerlei Hinsicht mit den Schüleräußerungen überfordert. Denn auf einer formalen Ebene kann er weder seine Autoritätsbestrebungen noch seine Dominanzstrategie verwirklichen. Ein Überdenken oder ein Abrücken von seiner Vorstellung der materialen philosophischen Bildung ist nach dieser Unterrichtserfahrung nicht festzustellen. Weiterführend eröffnet sich nun eine neue Perspektive auf seine Aussage „Ich meine, was machen wir an PHILOSOPHIE? Wir machen NICHT so viel an PHILOSOPHIE. Und, ne. (Lacht) Für das Protokoll: Sondern wir machen auch sehr viel ANDERES […]“. Das vom Studierenden unspezifisch klassifizierte ‚Andere‘ ist etwas, was er seinem Philosophieverständnis nach nicht dem Fach zuordnen kann. Was das ‚Andere‘ im Philosophiestudium für ihn ist, bleibt unspezifisch, da er es begrifflich nicht fassen kann. Eine mögliche Interpretation besteht darin, in dem ‚Anderen‘ die formale Ebene philosophischer Bildung zu deuten. Somit hat er diesen Anspruch des Philosophierens im Studium durchaus zur Kenntnis genommen, allerdings bleibt diese Ebene ihm im wahrsten Sinne fremd, da sie das unspezifisch ‚Andere‘ ist. Es geht nicht um philosophieren können, sondern um Philosophie haben. Gleichzeitig scheint seine fachwissenschaftliche Vorbereitung auf den Gegenstand sich ausschließlich an dem – wie bereits oben beschrieben – antizipierten niedrigen Niveau seiner Schülerinnen und Schüler auszurichten: „Das Überblickswissen, dann geht man ein bisschen in die TIEFE, aber mhm (.) für den Zweck des chinesischen Zimmers hat das MEINER Meinung nach AUSGEREICHT.“ Die Handlungslogik, die sich in Hinblick auf die Unterrichtsvorbereitung erkennen lässt, ist gekennzeichnet durch ein fachwissenschaftliches Minimum, da man nur „ein bisschen in die TIEFE“ geht, was für den Studierenden vollkommen ausreichend zu sein scheint. Diese Handlungslogik ist aus der Perspektive von Universitätslehrenden deshalb überraschend, da eine materiale Ausrichtung von philosophischer Bildung in Seminaren der Universität Bielefeld nicht gelehrt wird. Es stellt sich somit die Frage, wie der Studierende eine so starke Ausrichtung an einen materialen Bildungsbegriff entwickeln konnte. Eine mögliche Erklärung besteht darin, dass er sich mit UniversitätsdozentInnen in ihrer Funktion als Lehrende nicht identifiziert. Sie sind zwar Autoritäten, allerdings keinesfalls nachahmenswerte Vorbilder. In dieser Ausbildungssituation findet keine Identifikation mit den Universitätslehrenden seitens des Studierenden statt. Die Universität ist für ihn kein Ort einer schulischen Fachprofessionalisierung – das Philosophieren, das in den Seminaren praktiziert wird, scheint keinen Einfluss zu haben auf seine Vorstellung von Vermittlung philosophischer Bildung an Schulen.

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4 Die Gefahr einer Deprofessionalisierung durch einen materialen philosophischen Bildungsbegriff Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Studierende in vielerlei Hinsicht Tendenzen einer fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Deprofessionalisierung aufweist, derer er sich allerdings keinesfalls bewusst ist. Kennzeichnend sind zum einen sein kanonisches, materiales Verständnis von philosophischer Bildung und zum anderen eine ausschließlich vom Unterrichtsgegenstand her gedachte fachwissenschaftlich defizitäre Vorbereitung. Dazu kommt das gleichzeitige Unvermögen, eigene Schwächen im Prozess der Professionalisierung als Lehrkraft zu erkennen und zu reflektieren. An diesem Fallbeispiel wird deutlich, wie produktiv und notwendig eine forschende, kritisch reflexive Grundhaltung im Lehramtsstudium ist, um die oben beschriebenen fachdidaktischen und fachwissenschaftlichen Defizite zu erkennen und zu beheben. Insbesondere in Hinblick auf die zweite Ausbildungsphase, das Referendariat, ist die Fähigkeit einer solchen Selbstreflexion dringend notwendig (vgl. Althoff und Golus 2017). Den eigenen Prozess der Professionalisierung im Praxissemester kritisch reflektieren zu lernen, ist eine wichtige Grundlage für die weitere Professionalisierung im Referendariat. Problematisch ist es, wenn Studierende ihre eigenen Deprofessionalisierungstendenzen nicht reflektieren, weil sie sie als solche nicht erkennen. In diesen Fällen sind die Lehrenden der am Praxissemester beteiligten Institutionen (Universitäten, Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung, Schulen) besonders gefragt, Diagnosemöglichkeiten und Hilfestellungen zu entwickeln und anzubieten, z. B. dann, wenn Studierende in ihrer Vorbereitung auf Unterricht verfestigte Strategien erkennen lassen, die auf eine fachdidaktische Deprofessionalisierung hindeuten. Für die philosophiedidaktische Lehrerprofessionsforschung ergeben sich aus diesem Befund weitere Forschungsfragen: 1. Wie lässt sich die Entstehung und Verfestigung eines kanonischen Musters bereits im BA-Studium vermeiden? 2. Wie müssten Lehrende an Universitäten dieses Muster aufarbeiten, damit Studierende, die kanonische Tendenzen erkennen lassen, lernen, diese zu erkennen und zu vermeiden? 3. Lassen sich im Zuge des Praxissemesters weitere Typisierungen von Professionalisierung und Deprofessionalisierung feststellen? In Hinblick auf die Verbesserung des Lehramtsstudiums werden diese Fragen für die weitere philosophiedidaktische Forschung an der Universität Bielefeld zentral sein.

Literatur Althoff, M., und K. Golus. 2017. Deprofessionalisierung im Studium als Stolperstein im Referendariat – Beispiele aus der zweiten Ausbildungsphase. In Empirie im Philosophie- und Ethikunterricht, Hrsg. E. Martens, 106–113. Hannover: Siebert.

Zur objektiv-hermeneutischen Rekonstruktion eines Entwurfs

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Blesenkemper, K. 2015. Unterrichtsplanung. In Handbuch Philosophie und Ethik. Bd 1: Didaktik und Methodik, Hrsg. M. Tiedemann et al., 315–324. Paderborn: Schöningh. Golus K (2017) „Was brauche ich, und was nicht?“ – (De-)Professionalisierung im Praxissemester Philosophie am Beispiel des Gedankenexperiments Das Chinesische Zimmer von John Searle. In Martens E (Hrsg) Empirie im Philosophie- und Ethikunterricht, S 59–83. Siebert, Hannover Nimtz, C. 2013. Das Chinesische Zimmer. In Klassische Argumentationen der Philosophie, Hrsg. R. Puster, 259–274. Paderborn: Mentis. Paseka, A., und J. Hinzke. 2014. Der Umgang mit Dilemmasituationen. Ein Beitrag zu Fragen der Professionalität von Lehrpersonen und Lehramtsstudierenden. In Zeitschrift für interpretative Schul- und Unterrichtsforschung (ZISU), Hrsg. A. von Bonnet und U. Hericks, 14–28. Leverkusen: Budrich. Steenblock, V. 2013. Philosophische Bildung. Einführung in die Philosophiedidaktik und Handbuch: Praktische Philosophie. Berlin: Lit. Wernet, A. 2009. Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik. Wiesbaden: VS Verlag.

Genderaspekte im Philosophieunterricht Lisa A. Henke

Der Titel dieses Beitrags lässt mehrere Implikationen zu: So könnte es z. B. darum gehen, die Aspekte von Gender in der Auswahl der zu lesenden Texte im Philosophieunterricht zu beleuchten. Im Zuge dessen könnte sich insbesondere um eine Aufdeckung von androzentrischen Strukturen sowie um eine Sichtbarmachung von Philosophinnen hinsichtlich eines philosophischen Kanons bemüht werden (vgl. Kinga Golus 2015; Vanessa Albus 2014 oder Ruth Hagengruber 2015). Aber diese Aspekte sollen nicht primär thematisiert werden, denn stattdessen soll danach gefragt werden, ob und inwiefern gesellschaftliche Differenzierungen, insbesondere die Gendersituierungen der Schüler_innen, Einfluss nehmen auf die Art und Weise der Thematisierung von Geschlecht im Philosophieunterricht. Um sich dieser Frage zu nähern, müssen zunächst die Strukturlogiken des Philosophieunterrichts aufgedeckt werden: Ausgangspunkt und Rahmenhandlung des Unterrichts bilden problemorientierte philosophische Leitfragen (z. B. „Ist Geschlecht Natur oder Kultur?“), zu welchen die Schüler_innen zunächst Präkonzepte oder Vor-Urteile, verstanden als „verinnerlichte Denkmuster und -inhalte“ (Schmidt 2006, S. 94), ausformulieren, bevor sie in einem weiteren Schritt philosophische Theoreme als verschiedene Möglichkeiten einer Beantwortung der philosophischen Leitfragen konsultieren. Der problemorientierte Unterricht wird so schrittweise in eine Urteilsbildung überführt. Innerhalb dieser philosophiedidaktischen Untersuchungsbereiche ergeben sich verschiedene Themenfelder, die für die folgenden Ausführungen relevant werden: Der Umgang mit und die Relevanz von Präkonzepten der Schüler_innen. Durch die Aufdeckung der zunächst noch impliziten Präkonzepte auf Seiten der Schüler_innen lässt sich ein

L. A. Henke (*)  Johannes Gutenberg Universität Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Thein, Philosophische Bildung und Didaktik, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_13

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möglicher Einfluss des lebensweltlichen Hintergrunds der Lernenden in philosophischen Bildungsprozessen allererst ausfindig machen. Der Artikel befasst sich weiterführend, mit der unterrichtspraktischen Frage, wie Gender als Thema im Philosophieunterricht fachdidaktisch behandelt werden kann, um Präkonzepte bezüglich der Geschlechterthematik im Unterricht sichtbar machen und entlang ihrer Explikationen, einen möglichen Einfluss auf philosophische Bildungsprozesse ausloten zu können. Die These des Beitrages lautet demnach, dass diese fachdidaktische Umsetzung sich durch die explizite Beschäftigung und Thematisierung der jeweiligen geschlechtlichen Erfahrungen anhand der Präkonzepte der Schüler_innen, anstatt einer Dekonstruktion eben dieser, vollziehen sollte. Zunächst soll hierzu ein Problembewusstsein bezüglich des derzeit sich anbahnenden philosophischen Unterrichtsparadigmas einer Dekonstruktion von Geschlechternormen im Philosophieunterricht geschaffen werden. Praktisch-konkrete Unterrichtsideen werden nur am Ende dieses Aufsatzes, im Sinne einer Verheißung, kurz skizziert.

1 Forschungsstand Hinsichtlich einer Analyse von Genderaspekten für die Konstituierung von Bildung und Wissen im Philosophieunterricht zeigt ein Blick auf die bisherige Forschungslandschaft, dass die Erkenntnisse der Frauen- und Geschlechterforschung bisher nur marginal Einzug in die Fachdidaktik Philosophie und damit verbundene Bildungsforschungen erhalten haben. Etwas lässt sich aber doch finden: Der Thematik widmet sich beispielsweise die Ausgabe von Februar 2014 der Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik mit dem Titel Ethik der Geschlechter. Eine spezifisch fachdidaktische Herangehensweise und Analyse der Genderthematik im Philosophieunterricht thematisiert die bereits erwähnte 2014 abgeschlossene Dissertationsschrift von Kinga Golus zu Analyse von Bildungsprozessen in der Philosophie unter Genderaspekten. Der Fokus der Arbeit von Golus liegt auf der Aufdeckung und Thematisierung von androzentrischen Strukturen im Philosophieunterricht, gemäß einer Implikation meines Aufsatztitels. Derartige Bemühungen gehen zurzeit auch besonders von Ruth Hagengruber (2015) und Vanessa Albus (2014) aus, die klassische philosophische Texte von Frauen, die in der Geschichte merkwürdig opak erscheinen, wiederentdecken und im Philosophieunterricht verstärkt behandeln wollen, um den Schüler_innen zu vermitteln, dass Philosophie kein genuin männliches Geschäft sei. Christian Thein (2014) hat in der besagten Ausgabe Ethik der Geschlechter, unter dem Titel: Ist Geschlecht Kultur oder Natur? – Die Gender-Debatte als anthropologisches Thema in der gymnasialen Oberstufe konkrete Unterrichtsideen zur Geschlechterthematik vorgestellt. Zum überfachlichen Themenfeld Gender und Unterricht finden sich jedoch zahlreiche aktuelle Arbeiten, die sich vor allem im Bereich der Pädagogik, Psychologie und der Soziologie verorten lassen (vgl. beispielsweise die folgenden

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Publikationen: Stadler-Altmann 2013; Jäckle 2009; Eisenbraun und Uhl 2014; Rieken und Beck 2014; Seemann und Jösting 2006; Wedl und Bartsch 2015). Der gendertheoretische Bezugsrahmen in diesen vorwiegend pädagogischen Publikationen zum Themenfeld stellt größten Teils Judith Butlers Konzept der diskursiven Verfasstheit der Geschlechter sowie ihr Konzept der Performativität und Subjektivierung im praktischen Umgang mit Geschlecht in der Schule dar (vgl. Kleiner und Rose 2014; Budde 2006, S. 45–60). So formuliert denn auch Getraude Krell im Geleitwort der Publikation Genderkompetenz und Schulwelten. Alte Ungleichheiten und neue Hemmnisse: „Als roter Faden durch das Buch gezogen, werden die Fragen, wie in Schulen Geschlechterunterscheidungen bzw.-stereotype und Geschlechterhierarchisierungen produziert und reproduziert werden“ (Krell 2011, S. 5). Darüber hinaus intendiert dieser Beitrag die Analyse der für den Bildungsprozess im Unterricht relevanten Gendersituierungen der Lernenden, aber nicht in der Absicht, sie als normative Vorstellungen zu dekonstruieren, sondern eher im Hinblick auf eine Thematisierung und Reflexion dieser geschlechtlichen Situiertheit der Schüler_innen im Philosophieunterricht. Hierzu möchte ich im Folgenden zum einen die gesellschaftstheoretische Kontroverse zwischen symboltheoretisch-dekonstruktivistischem Genderverständnis und einem an Marx orientierten materialistitischen Theorieansatz, der verstärkt gesellschaftliche Verhältnisse denn normative Zuschreibungen adressiert, darstellen. Und zum anderen deren bildungsphilosophische und philosophiedidaktische Implikationen andeuten.

2 Zentrale Ansätze Um das symboltheoretisch-dekonstruktivistische Genderverständnis zunächst darzustellen, wird grundlagentheoretisch an die soziologisch, kulturwissenschaftlich und philosophisch relevanten Theorien der gender studies, prominent vertreten durch Judith Butlers Unbehagen der Geschlechter (1991), angeknüpft. Diese Theorie soll im Folgenden – in groben Zügen – kurz erläutert werden.

2.1 Der dekonstruktivistische Theorieansatz – Normative Zuschreibungen und Geschlecht Bei der gängigen Unterscheidung zwischen sex und gender wird zwischen dem biologisch, anatomischen Geschlecht und dem kulturell geformten differenziert, also zwischen der Geschlechternatur und der Geschlechtsidentität. Daraus resultiert, dass eine naturalisierende Basis, in der sex als voraussetzende Grundlage des gender fungiert. Ein dekonstruktives Verständnis von Geschlecht bietet die Möglichkeit diese hergestellte Dichotomie von Natur und Kultur in Frage

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zu stellen. Es existiert kein notwendiges, natürliches Faktum von Weiblichkeit und Männlichkeit. Sex, der ‚natürliche‘ Geschlechtskörper, der an biologische Merkmale gekoppelt ist und somit auch die Vorstellung einer Binarität der Geschlechter, sind Produkte und Effekte von regulierenden Diskursen. Innerhalb derer wird Geschlecht mithilfe einer symbolischen (Sprach-) Ordnung konstruiert. Demnach produziert gender auch die Vorstellung von sex. Geschlecht und das Verständnis von Weiblichkeit (und auch Männlichkeit) werden in der Interaktion immer wieder performativ konstituiert, indem die Akteur_innen kulturell verinnerlichten Attributen Bedeutungen zuweisen und sie damit reproduzieren. Der ontologische Status von Geschlecht ist durch diese Annahmen nicht mehr opportun. Im Anschluss an diese Theorie, die sich mit der Dekonstruktion von kulturellen Normen bezüglich der Geschlechter befasst, entwickelt z. B. Christian Thein (2014) einige praktische Unterrichtsideen, die mit der problemorientierten Leitfrage des Unterrichts einhergehen: Ist Geschlecht Natur oder Kultur? Die Schüler_innen sollen als Einstieg in diese Unterrichtssequenz assoziativ Eigenschaften sammeln, die sie für „typisch männlich“ bzw. „typisch weiblich“ halten. Mit Rekurs auf die problemorientierte Leitfrage können diese eingangs formulierten „typischen“ normativen Geschlechtszuschreibungen dekonstruiert oder zumindest kritisch betrachtet und diskutiert werden. Diesen theoretischen Grundlagen werde ich im Folgenden einen materi­ alistischen Theorieansatz gegenüberstellen, der verstärkt die Analyse materieller Produktionsverhältnisse im Hinblick auf die strukturelle Bedeutung von Geschlecht akzentuiert.

2.2 Der materialistische Theorieansatz – Gesellschaftliche Verhältnisse und Geschlecht Tove Soiland, eine gegenwärtig differenzfeministische Philosophin, fasst Geschlecht (Gender) als eine Vergesellschaftung der Individuen auf, die nicht in Geschlechtsidentitätsnormen zu finden ist, sondern erst durch die Analyse der materiellen Produktionsverhältnisse mit Bezug auf Marx verstehbar wird. Denn ökonomisch betrachtet habe die Dekonstruktion der normativen Geschlechtervorstellungen bis jetzt die strukturellen Ungleichheiten von Männern und Frauen nicht aufgehoben: Die ökonomischen Geschlechterhierarchien seien weitgehend bestehen geblieben und die Frage nach einer asymmetrische Konstruktionsweise von Geschlecht habe sich von der Frage nach der Konstruktion der Kategorie Geschlecht überhaupt abgelöst (vgl. Soiland 2009). Soiland (2009) stellt in ihrem Aufsatz ‚Gender‘: Kontingente theoretische Grundlagen und ihre politischen Implikationen prägnante Thesen zur Zeitdiagnostik der momentanen GenderDebatte vor. Auf diesen Aufsatz werde ich mich in meiner folgenden Darstellung hauptsächlich beziehen. Soiland geht davon aus, dass sich der Feminismus samt seiner Theoriebildung möglicherweise unabsichtlich in den Dienst ­ gesamtgesellschaftlicher

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Prozesse gestellt habe, denen doch eigentlich seine Kritik gelten sollte. Sie wirft ferner die Frage auf, ob die von der Geschlechtertheorie angestrebte Destabilisierung von (Geschlechts-) Identitäten nicht einfach den Bedürfnissen des neoliberalen Arbeitsregimes entspreche. Demzufolge lasse sich „eine zwiespältige Passförmigkeit der Forderungen der zweiten Frauenbewegung zu der im Zuge dieser Krise notwendig gewordenen Erneuerung des Kapitalismus feststellen […]“ (Soiland 2009, S. 3). Dies begründet sie – kurz zusammengefasst – folgendermaßen: Im Zuge des sogenannten cultural turn in den 1980er Jahren wurde den Sozial- und Gesellschaftswissenschaften vorgehalten, dass jene die Konstruktion von Kategorienbildung befördern, auf deren Überwindung kritische Gesellschaftstheorie doch eigentlich ausgerichtet sei. Für die Geschlechtertheorie bedeutete dies, dass die Kategorie Geschlecht, nicht länger vorausgesetzt, sondern als Effekt von gesellschaftlichen Machtstrukturen und regulierenden Diskursen betrachtet wurde. Mit dieser radikalen Absage an geschlechtliche Kategorien wurde gleichsam das Subjekt des Feminismus selbst ad absurdum geführt. Hierzu Butler (1991): „Es genügt […] nicht zu untersuchen, wie Frauen in Sprache und Politik vollständiger repräsentiert werden können. Die feministische Kritik muss auch begreifen, wie die Kategorie ‚Frau (en)‘, das Subjekt des Feminismus, gerade durch jene Machtstrukturen hervorgebracht und eingeschränkt wird, mittels derer das Ziel der Emanzipation erreicht werden soll.“ (Butler 1991, S. 50 f.). Diese Auffassung führe, Soiland zufolge, allerdings dazu, dass der Fokus nun auf der Kritik der normativen Geschlechtsidentitäten liege, die gar nicht mehr das „eigentliche Problem“ seien. Das „eigentliche Problem“, nämlich das Wissen um die ökonomische Bedingtheit des eigenen Daseins, gerate durch diese Akzentverschiebung zunehmend aus dem Bewusstsein. In gegenwärtig spätkapitalistischen Gesellschaften sei es deshalb weniger sinnvoll, die normativen Vorstellungen von Geschlechtsidentitäten zu dekonstruieren, als diese aus ihren ökonomischen Positionen heraus zu attackieren. Soiland will nach den aus den derzeitigen materiellen Verhältnissen entstehenden neuen Geschlechterideologien fragen, die, da sie nicht mehr im öffentlichen gesellschaftlichen Diskurs festgeschrieben werden, nun opak geworden sind und die es aufzudecken gilt. Von gendertheoretischer Seite werde derzeit nicht mehr die Hierarchisierung und die damit verbundene Asymmetrie der Geschlechter problematisiert, sondern die heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit stelle den Gegenstand der Kritik dar. Mit dieser Akzentverschiebung bezüglich der Geschlechterthematik werde eine grundlegende Androzentrismus-Kritik in den kulturellen Organisationsformen resp. den ökonomischen und gesellschaftlichen Austauschsystemen unserer Gesellschaft rasch als überholt eingeschätzt, obwohl diese doch die einzig adäquate Form darstelle, um die ungleiche Behandlung von Männern und Frauen z. B. auf dem Arbeitsmarkt kritisieren zu können. Was Luce Irigaray (1980) in ihrer Dissertationsschrift Speculum, Spiegel des anderen Geschlechts noch als eingeschlechtliche, nämlich patriarchal geprägte, ideologische Gesellschaftsordnung dechiffrierte (dass nämlich das allgemein Menschliche in unserer Kultur meist als das allgemein Männliche verstanden

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werde), wurde durch die Fokussierung auf die Kritik an einer Zweigeschlechtlichkeit endgültig verabschiedet. Nach Irigaray werden weibliche Positionen weniger durch normativen Zuschreibungen fassbar; sie werden überhaupt außerhalb gesellschaftlicher Austauschsysteme gedacht. Soiland fasst ihre Kritik diesbezüglich prägnant zusammen: „In diesem Sinn kann man sagen, dass durch die Privilegierung der Heterosexualitätskritik in dieser spezifischen Ausrichtung […] die Problematisierung der Eingeschlechtlichkeit, in welcher die beiden Geschlechter kategorial gesehen sehr grundsätzlich als nicht auf derselben Ebene liegend oder eben ‚konstruiert‘ aufgefasst werden, durch die Kritik des Zwangs zur Zweigeschlechtlichkeit ersetzt wurde, ohne dass je eine theoretische Kontroverse oder Aushandlung über diesen Punkt stattfand. Genauso gut könnte man nämlich diese Asymmetrie als das Agens der Konstruktion ausmachen.“ (Soiland 2009, S. 12).

Weiterführend wird argumentiert, dass die weibliche Position überhaupt nie eine Subjektposition erlangt habe, weshalb es hier auch nichts zu dekonstruieren gebe, was vielmehr aufzudecken sei, ist eine fehlende Subjektivität von Frauen, die sich immer nur in Abhängigkeit oder in Abgrenzung zum Mann sehen und definieren. Moderne Ausbeutungsformen, die Frauen vor allem durch die sogenannte CareArbeit1 unserer Gesellschaft erleben und auch nur von Frauen als Vertreter_innen dieses gesellschaftlichen Verhältnisses artikuliert werden können, müssten also verstärkt in der Geschlechterforschung thematisiert werden. Geschlechter werden, Soiland zufolge, nicht entlang einer (sprachlichen) Norm konstruiert, sondern anhand von gesellschaftlichen Verhältnissen. Die privaten Beschäftigungsverhältnisse von Frauen in den Haushalten werden allerdings dadurch, dass neuerdings Strategien zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter, wie das Konzept des sogenannten Gender Mainstreaming, Einzug in Personalpolitiken von Unternehmen oder Konzernen erhalten, gesamtgesellschaftlich verschleiert. Die Norm, die es von gendertheoretischer Seite eigentlich zu dekonstruieren gilt, werde also weder reproduziert noch allererst hervorgebracht. Frauen sollen genauso als geschlechtslose und dadurch wandelbare Marktteilnehmer_innen betrachtet werden wie Männer. Vor dem Markt finde also bereits ein zunehmender Abbau von Geschlechternormen statt. Gleichzeitig bleibt Geschlecht in der gegenwärtigen Gesellschaft aber eine zentrale Dimension sozialer Ungleichheit, was sich beispielhaft an der bestehenden hohen Belastung von Frauen durch unbezahlte Haus und Sorgearbeit – wie sich an der folgenden Abbildung (Abb. 1)2 zeigt – konstatieren lässt. Diese paradoxe Doppelung führe dazu, dass eine kollektive Betroffenheitslage von Frauen kaum geäußert werden könne, weil dies wieder zur normativen

1Unter

Care-Arbeit fällt beispielsweise Kinderbetreuung oder Altenpflege, es werden aber auch familiäre Unterstützung und häusliche Pflege von Angehörigen als Care-Arbeit verstanden. CareArbeit ist gesellschaftlich nicht gleichmäßig verteilt, vielmehr wird sie zum überwiegenden Teil von Frauen geleistet. 2Die Grafik zeigt, wie viele Minuten Männer und Frauen pro Land durchschnittlich jeden Tag für Aufgaben im Haushalt aufbringen.

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Abb. 1 Durchschnittliche zeitliche Belastung von Frauen und Männern für Care-Arbeit. (© statista)

Festschreibungen in den Geschlechteridentitäten führe. Was hierbei verkannt werde, sei letztendlich eine Forderung nach Emanzipation, die sich über ähnliche gesellschaftliche und ökonomische Verhältnisse definiere. Diese Forderung solle nicht länger als gemeinsame Geschlechtsidentität, die sich auf ein geschlechtsspezifisches Verhalten zurückführen lässt, aufgefasst werden. Die zentrale gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau werde neuerdings umgedeutet als Geschlechtsidentität, die es zu dekonstruieren gilt. Identität werde demnach zwar versucht, abzubauen, allerdings bilde die einzig relevante Kategorie in dieser Theorie noch die Kategorie der (Geschlechts-) Identität, die doch eigentlich verschwinden sollte. Seyla Benhabib (1995) befasst sich zu Beginn der 90er Jahre mit dem Postulat eines Subjektbegriffs innerhalb des Feminismus. Benhabib zufolge braucht der Feminismus solch einen Subjektbegriff, der nicht wie in postmoderner Prägung zu „vielen Positionen in der Sprache“ (Benhabib 1995, S. 236) zerfällt, sondern der eine weibliche Selbstbefreiung durch „ein regulatives Ideal der Handlungsfähigkeit, der Autonomie und einer weiblichen Selbstidentität“ (ebd.) allererst befördern kann. Ihre Interpretation Butlers lässt eine Konstituierung durch den Diskurs zu, der aber immer noch durch ein handlungs- und kritikfähiges Subjekt reflexiv eingeholt werden kann, das durch diesen nicht vollständig determiniert wird. Diese subjektive Tätigkeit nennt sie einen „interaktiven Universalismus“, den sie wie folgt beschreibt: „In diesem Sinne bedeutet interaktiver Universalismus die Praxis situierter Kritik für eine weltweite Gemeinschaft, die sich nicht scheut, ‚die eigenen Grenzen ihrer Heimat‘ hinter sich zu lassen“ (Benhabib 1995, S. 254).

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Auch ein jüngst erschienener Artikel in der Jungle World mit dem Titel Queerfront der Partikularitäten kritisiert den gehypten Postfeminismus, der sich im Zuge der Postmoderne herausgebildet hat in Hinblick auf sein eigenes antiaufklärerisches Potential. So heißt es hier beispielsweise: „Nicht nur diskursmächtige feministische Strömungen lassen eine aufgeklärte, universalistische Agenda vermissen, welche die gesellschaftlichen Widersprüche zu denken und Emanzipation als dialektischen Prozess auszuhalten wüsste. In weiten Teilen des liberalen und linken politischen Spektrums dominiert jenes Denken, das im akademischen Rahmen mit dem cultural turn, also der Kulturalisierung des Sozialen, und insbesondere mit dem linguistic turn seinen Ausgang nahm. Wenn der Rekurs auf gesellschaftliche Verhältnisse und Strukturen durch die ‚diskursive Herstellung‘ von Kultur, Geschlecht und Identitäten ersetzt wurde, verschwinden die schlechten gesellschaftlichen Realitäten ausnahmslos bequem aus dem Blick.“ (Götz, Melanie (2016): Queerfront der Partikularitäten Artikel in der Jungle World.)

Diese Kritik am „neuen“ Feminismus erinnert an Soilands Kritik und führt wieder zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen.

3 Schluss: Implikationen für Bildungsphilosophie und Philosophiedidaktik Es lässt sich nun fragen, was dieses Ausführungen mit Genderaspekten im Philosophieunterricht zu tun haben sollen. Oder: Was bringt uns dieser theoretische Hintergrund, wenn es um die Thematisierung der Gendersituierungen von Schüler_innen im Unterricht geht? Mein Plädoyer besteht im Hinblick auf die eingangs gestellte Frage, wie Gender als Thema im Philosophieunterricht fachdidaktisch behandelt werden kann, um einen möglichen Einfluss von Präkonzepten auf philosophische Bildungsprozesse ausloten zu können, darin, dass die fachdidaktische Umsetzung sich über die explizite Beschäftigung und Thematisierung der Präkonzepte der Schüler_innen, anstatt einer Dekonstruktion und dadurch einer Verschleierung eben dieser, vollziehen sollte. Mit der Bearbeitung dieses Desiderats wird im Anschluss an Soiland dazu Stellung genommen, „ob man der Artikulation [von gesellschaftlichen Verhältnissen] oder der Dekonstruktion [von sozialen Kategorien] den Vorzug gibt“ (Soiland 2012), wenn Einwände bezüglich kategorialer „Reifikationen“ (Knapp 2008, S. 49) oder der „Gefahr der Stabilisierung von Kategorien“ (Walgenbach 2007, S. 64) in Bezug auf wissenschaftliche Untersuchungen laut werden, die sich mit dem Einfluss von gesellschaftlichen Differenzierungen beschäftigen. Kommen wir nun zu den aus den vorherigen Überlegungen resultierenden praktisch-konkrete Unterrichtsideen zum Themenfeld Geschlecht im Philosophieunterricht, die, im Sinne einer Verheißung, angekündigt wurden: Die Kategorie Geschlecht kann zum einen, wie Butler es beschreibt, als diskursiv vermittelte Norm, oder, wie Soiland meint, als Vergesellschaftung der Individuen,

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die nicht in Identitätskategorien zu begreifen ist, sondern erst durch die Analyse der materiellen Produktionsverhältnisse verstehbar wird, im Sinne eines problemorientierten Paradigmas im Philosophieunterricht diskutiert werden. Hierzu müssten sich gekürzte und leicht verständlichere Passagen als üblich bei Butler und Soiland finden lassen. Die Frage des Unterrichts etwa innerhalb einer Unterrichtsreihe zur Anthropologie (Was ist der Mensch?) würde dann nicht mehr lauten: Ist Geschlecht Natur oder Kultur? Sondern: Welche Rolle spielt das Geschlecht? Spielt das Geschlecht eine Rolle? Oder, wie Kristina Rehr (2016) diese kürzlich in ihrem Themenheft Geschlecht für die Sekundarstufe 1 und 2 formulierte: Welche Konsequenzen hat das Geschlecht für gesellschaftliche Machtstrukturen? Durch diese Umformulierung der problemorientierten Leitfrage im Philosophieunterricht wird es allererst möglich, nach einer asymmetrische Konstruktionsweise von Geschlecht und nicht nach der Konstruktion der Kategorie Geschlecht überhaupt zu fragen. Außerdem werden dadurch die veränderten Zuschreibungen, die durch eine ökonomische Ungleichheit auf der einen und die Propagierung einer Geschlechtergleichstellung auf der anderen Seite in den Fokus der Kritik gerückt. Hierzu ließe sich, um nun etwas konkreter zu werden, mit einer Abbildung (Abb. 2) die Problematisierung, die sich aus beiden Theorien Butlers und Soilands ergibt, verdeutlichen.

Abb. 2 Werbeplakat der Bundeswehr. (Quelle: Bundeswehr (Um Frauen für die Bundeswehr zu werben, hat das Verteidigungsministerium diese Werbekampagne gestartet, welche jedoch starke Kritik ausgelöste, denn die Werbeplakate zeigten Frauen in klischeebehafteten Tätigkeiten, wie z. B. vor einem Kleiderschrank. Daraufhin hat das Ministerium die Internetseite mit diesen Abbildungen deaktiviert) © t-online.de)

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Die Frage zu diesem Bild könnte lauten: „Welche Geschlechternormen werden hier konstruiert/dargestellt?“ Und: „Welche sollten abgebaut oder verstärkt werden?“ Beim „Feiern mit den Mädels“ sind sicherlich normative Geschlechterrollen am Werk, die es zu dekonstruieren gilt, z. B. das nicht alle Frauen gerne pinke High Heels tragen und ein „Shoppingmarathon“ nichts typisch Weibliches ist. Aber im Hinblick auf den öffentlichen Raum, nämlich in der „Arbeitszeit“ wird es schon schwieriger mit der Dekonstruktion. Was soll hier noch dekonstruiert werden? So wird doch bereits von staatlich-offizieller Seite suggeriert, dass Männer und Frauen die gleiche Arbeitskleidung tragen und demnach vollkommen gleichwertig sind auf dem Arbeitsmarkt. Der neoliberale Arbeitsmarkt fordert sogar geschlechtsneutrale flexible Arbeitskräfte Geschlechtsneutrale wandelbare Menschen fordert auch eine dekonstruktivistische Auffassung von Gender, womit die Passfähigkeit der derzeitigen Gender-Debatte zu den neoliberalen Verhältnissen (für die Schüler_innen) ein bisschen klarer und somit die Möglichkeit einer kritischen Betrachtung eben dieser gegeben wird. Der Diskussion dieses problemorientierten Paradigmas im Philosophieunterricht mag vielleicht in ihrem hier angedachten ersten Entwurf noch etwas Utopisches anhaften. Aber: Das Ziel eines Philosophieunterrichts, der sich mit dem Thema der Gendersituierung von Schüler_innen auseinandersetzt, darf, die Bedeutung von Geschlechtszugehörigkeit nicht im Sinne eines Abbaus von Geschlechternormen aus dem Blick verlieren, sondern: „[...] trotz aller Diskurse über einen Bedeutungsverlust der Kategorie Geschlecht für die Ordnung des Sozialen - nach wie vor [als, L.H.] eine der wichtigsten Ressourcen der Selbstidentifikation“ (Meuser 2008, S. 649) ansehen.

Literatur Albus, V. 2014. Philosophieren mit Ehemännern zwischen Küchenherd und Wochenbett. Wertekanon und Geschlechterstereotype im Philosophieunterricht. Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 2014 (3): 14–18. Benhabib, S. 1995. Selbst im Kontext. Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne. Aus dem Amerikanischen von Isabella König, Bd. 725. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Budde, J. 2006. Wie Lehrkräfte Geschlecht (mit)machen – Doing gender als schulischer Aushandlungsprozess. In Gender und Schule, Hrsg. Malwine Seemann und Sabine Jösting, 45–60. Oldenburg: BIS-Verlag. Butler, J. 1991. Das Unbehagen der Geschlechter [1990]. Aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke, Bd. 722. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Eisenbraun, V., und S. Uhl, Hrsg. 2014. Geschlecht und Vielfalt in Schule und Lehrerbildung. Münster: Waxmann. Golus, K. 2015. Abschied von der Androzentrik. Anthropologie, Kulturreflexion und Bildungsprozesse in der Philosophie unter Genderaspekten. Disseration, Ruhr-Universität Bochum. Berlin, Münster: LIT (= Philosophie und Bildung, Bd. 17).

Genderaspekte im Philosophieunterricht

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Onlinequellen Abbildung 1 (Abb.1). http://raiseyourvoice.blogsport.de/2017/09/26/workshop-genderrollen-inmilitaer-werbung-mi-22-11-2017-19h/. Abbildung 2 (Abb.2). https://de.statista.com/infografik/2529/unterschiede-im-umfang-vonbezahlter-und-unbezahlter-arbeit-in-stunden-pro-woche/. Götz, Melanie (2016). Queerfront der Partikularitäten. Artikel Jungle World. http://jungle-world.com/artikel/2016/08/53556.html. Zugegriffen: 1. Febr. 2017.

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L. A. Henke

Soiland, Tove (2009). ‚Gender’: Kontingente theoretische Grundlagen und ihre politischen Implikationen. In: gender-politik-online. http://www.fuberlin.de/sites/gpo/pol_theorie/ Zeitgenoessische_ansaetze/Kontingente_theoretische_Grundlagen/soiland.pdf. Zugegriffen: 30. Jan. 2017. Soiland, Tove (2012). Die Verhältnisse gingen und die Kategorien kamen. Intersectionality oder Vom Unbehagen an der amerikanischen Theorie. www.portal-intersektionalität.de. Zugegriffen: 12. Febr. 2017.

Philosophiedidaktik und philosophische Unterrichtspraxis

Zur „Philosophiedidaktik der Praxis“ und ihren Grundlagen Helge Kminek

1 Motiv und Überblick Das Anliegen dieses Beitrages ist es, den Ansatz Philosophiedidaktik der Praxis, der sowohl den Philosophieunterricht als auch den Ethikunterricht einschließt, als eigenständigen Ansatz zu skizzieren und zu begründen. Um die Konturen des Ansatzes herauszuarbeiten, werden die Unterschiede gegenüber den vorherrschenden Theorieschulen der Philosophiedidaktik pointiert und zugespitzt verhandelt (Kap. 2) und, soweit es der vorhandene Rahmen erlaubt, der spezifische Gegenstand des Ansatzes und seine Perspektivierung sowie seine theoretischen Grundlagen skizziert (Kap. 3). Im Kap. 4 wird der zu erwartende Erkenntnisfortschritt dargelegt. In Kap. 5 werden ein Vorschlag für die wissenschaftstheoretische Systematisierung der Philosophiedidaktik unterbreitet und der hier dargestellte Ansatz in dieser Systematisierung verortet. Im abschließenden Kap. 6 wird ein Ausblick auf weitere langfristig interessante und relevante Forschungsbereiche geboten.

2 Abgrenzung gegenüber den vorherrschenden Theorieschulen der Philosophiedidaktik Die deutschsprachigen Schulen der Philosophiedidaktik gehen bei ihrer Theoriebildung entweder von der Philosophie und/oder von allgemeindidaktischen Überlegungen aus. Vom jeweiligen Standpunkt aus wird teils mehr, teils weniger

H. Kminek (*)  Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt a. M., Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Thein, Philosophische Bildung und Didaktik, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_14

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H. Kminek

präskriptiv konzipiert, wie im Philosophieunterricht unterrichtet werden soll. Damit folgen die unterschiedlichen Ansätze – trotz allen Unterschieden – einem Paradigma. An den jeweiligen Konzeptionen sollen sich die unterrichtenden Lehrer1 mindestens orientieren, und im besten Fall soll ihr Unterricht bzw. die Logik des Unterrichtens den theoretischen Vorgaben entsprechen. Die Lehrer hätten dann lediglich darüber zu reflektieren, ob ihr Unterricht sich mit den Vorgaben deckt, und im negativen Fall darüber, was sie tun müssten, damit die Vorgaben und das tatsächliche Unterrichtsgeschehen (wieder) kongruent würden. Problematisch an dieser Ausrichtung der Theorie sind mindestens vier Punkte. i. Wenn man der These zustimmt, dass die Praxis des Philosophieunterrichts, abgesehen von Ausnahmefällen, welche die Regel bestätigen, nicht völlig irrational ist, dann stellt es eine Missachtung und eine fehlende Anerkennung der Praxis dar, wenn die Praxis und ihre Rationalität nicht in die Theoriebildung einbezogen werden. Und das gilt auch dann, wenn die Rationalität der Praxis verbogen, abgeschnitten und beschädigt ist und nicht das erreicht, was sie erreichen möchte. ii. Die Ansätze müssen sich mit der Kritik auseinandersetzen, sie seien Postulatepädagogik (vgl. Kminek 2018b). Die für die Kritik benötigte Prämisse lautet, dass die bisherigen Ansätze einen solchen Philosophieunterricht als möglichen und sinnvollen postulieren, der sich in der Praxis nicht emphatisch herstellen lassen will beziehungsweise nicht zu dem gewünschten Ziel führt. Die Prämisse muss hier um des Argumentes willen akzeptiert werden, denn es liegen bis dato weder Audio- noch Videoaufzeichnungen von Philosophieunterricht vor, für die die beiden Ansprüche von der Möglichkeit und der Sinnhaftigkeit beansprucht werden, noch verfügen die philosophiedidaktische Theoriebildung und der Philosophieunterricht über eine solch lange Tradition, dass empirische Analysen von Philosophieunterricht als Belege für die Prämisse zweifellos anerkannt werden müssten. a) Allerdings stützen erste Analysen von Philosophieunterricht die Prämisse (vgl. Kminek 2018a), zumal die Analysen zeigen, dass es sich beim Philosophieunterricht um einen Unterricht wie jeden anderen auch handelt. b) Denn wenn der Philosophieunterricht ein Unterricht wie jeder andere auch ist und wenn es sich bei den vorherrschenden (fach–)didaktischen Theorien um eine Postulatepädagogik handelt, dann kann angenommen werden, dass es sich bei der bisherigen Theoriebildung der Philosophiedidaktik um Postulatepädagogik handelt. iii. Fraglich ist, ob es zweckrational ist, die Handlungslogiken der Lehrer zu negieren. Die Vorgaben können sie möglicherweise gar nicht oder lediglich

1Für

Personen als Träger von Funktionen wird in diesem Beitrag der geschlechtsneutrale Gattungsbegriff benutzt. Es sind immer alle Geschlechterformen gemeint. Es wird hier von Lehrern und nicht von Kollegen gesprochen, um klar zu unterscheiden zwischen Kollegen im und außerhalb des Schuldienstes.

Zur „Philosophiedidaktik der Praxis“ und ihren Grundlagen

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eingeschränkt und deformiert umsetzen, weil diese Vorgaben und die nicht einfach abzulegenden Handlungslogiken der Lehrer nicht zusammenpassen. Und es ist auch fraglich, was die Vorgaben überhaupt verändern: das Geschehen in der Praxis, also die Logik des Unterrichtens, oder nur die (ideologischen) Vorstellungen, Konstruktionen und Legitimierungen der Praxis? iv. Selbst wenn die Lehrer die vorgegebenen Anleitungen wie gewünscht umsetzten, dann steht ihre Anpassungsleistung zumindest potenziell in Spannung zu dem Anspruch, dass sie die Schüler zur Mündigkeit erziehen und bilden sollen. Denn wie sollen sie zu Mündigkeit erziehen und bilden, wenn sie selbst ein angepasstes Verhalten zeigen (sollen)? Der Ansatz Philosophiedidaktik der Praxis geht demgegenüber von der Prämisse aus, dass erst auf der Grundlage einer empirischen Rekonstruktion von realem Unterrichtsgeschehen nicht nur a) eine empirisch-gehaltvolle Theoriebildung möglich ist, die sich dann nicht mehr dem Vorwurf aussetzt, Postulatepädagogik zu sein, sondern b) auch erst die Rekonstruktion von realem Unterrichtsgeschehen eine begründete Hoffnung ermöglicht, der Praxis die Hinweise zu geben, die sie benötigt, um die tiefgreifenden Strukturen des Philosophieunterrichts zu transformieren und ihn damit zugleich zu verbessern. Denn dann lässt sich an den Ansprüchen, das heißt an den normativen Zielen des Unterrichts selbst, ansetzen und darüber nachdenken, was geschehen hätte müssen, um die Ansprüche (emphatischer) zu erfüllen. Die Ansprüche werden hierbei aus der Praxis selbst rekonstruiert und müssen nicht von außen an diese angelegt werden. Auch hier bestätigen möglicherweise die Ausnahmen die Regel, beispielsweise dann, wenn sich ein Philosophieunterricht findet, in dem Antisemitismus offen propagiert wird.2 Es geht dem Ansatz Philosophiedidaktik der Praxis nicht darum, für die gängigen Modelle und philosophiedidaktischen Konzepte eine empirische Grundlage zu finden, sondern es geht um eine gänzlich neue Theoriebildung der Philosophiedidaktik, die aus der Empirie des alltäglichen Philosophieunterrichts gewonnen ist, ohne sich in einer Abbildung der Empirie zu erschöpfen.3

2Die bisherigen Ergebnisse der empirischen Forschung zum Philosophieunterricht können nicht lediglich als eine inhaltliche Anreicherung der bereits konzipierten Modelle verstanden werden. In den vorliegenden Fallstudien zum alltäglichen Philosophieunterricht sind die Modelle der Philosophiedidaktik nicht zu erkennen, auch wenn die didaktische Theoriebildung durchaus Spuren hinterlassen hat. Ob es sich dabei aber um Auswirkungen der Philosophiedidaktik oder um einen allgemeinen Trend in der Schulpädagogik handelt, ist eine offene Frage. 3Hierfür sind gleichwohl ein begriffliches Verständnis von Philosophie im Allgemeinen und von dem in einer Unterrichtsstunde jeweils Verhandelten im Besonderen sowie eine begriffliche Vorstellung von Pädagogik (Erziehung, Bildung, Didaktik) zwingend nötig, sonst blieben die Anschauungen von Philosophieunterricht blind. Es handelt sich auch daher um einen philosophiedidaktischen Ansatz, weil der Ansatz ohne Fachwissen den Unterricht nicht analysieren, verstehen und rekonstruieren und ihn sich auch nicht erschließen kann.

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3 Zur Philosophiedidaktik der Praxis Der primäre Gegenstand des Ansatzes ist die alltägliche Praxis des Philosophieunterrichts, wie sie in Form von anonymisierten natürlichen Protokollen (Transkripten)4 zugänglich gemacht wird. Die Videografie kann bei der Bearbeitung solcher Fragestellungen relevant werden, die im Grenzbereich von Philosophiedidaktik und Erziehungswissenschaften angesiedelt sind. Beispielsweise dann, wenn man erfahren möchte, ob es im Ethikunterricht Mobbing gibt, wie es sich zeigt und wie es abläuft. Hierfür wäre möglicherweise die Einbeziehung der Körpersprache durch Videografien zur Bearbeitung der Fragestellung notwendig. Zur Gewinnung solcher Protokolle werden alltägliche Unterrichtsstunden akustisch aufgezeichnet und im Anschluss transkribiert und anonymisiert. Zu den Protokollen gehören auch die eingesetzten Arbeitsblätter sowie Skizzen bzw. Fotos von Tafelbildern usw.

3.1 Die Gegenstände der Philosophiedidaktik der Praxis und ihre Perspektivierung Anhand der Protokolle lässt sich den unterschiedlichsten Fragen der Philosophiedidaktik nachgehen. Zentral ist zweifellos die Frage: Was ist die Logik des Vermittelns von Philosophie und des Philosophierens in einem spezifischen Fall? Die Frage drängt sich in jedem Transkript bereits durch das Forschungsdatum auf. Als Beleg sei die folgende Passage aus einem Unterrichtstranskript zitiert: „Lm: [Ach so], ja. Genau. ‚tschuldigung, ein Kritikbrief an Wittgenstein war des genau. Ja, und da würde ich gern mal (..) den ein oder anderen (.) Brief von Ihnen (3 s) ah, ich erinnere mich, an dem Tisch wurde ziemlich viel (.) zusammengefasst. Ja, SmA, bitte.“5

4Mit

der Festlegung auf transkribierte Unterrichtsaufzeichnungen statt auf Videoaufzeichnungen sind implizit die Ratingverfahren der quantitativen Forschung ausgeschlossen. Von der Sache her ist die Videografie lediglich bei Unterrichtsstunden mit Theatralem Philosophieren notwendig. In allen anderen Fällen kann davon ausgegangen werden, dass für philosophiedidaktische Fragestellungen die Erfassung durch Videografien die Erschließung nur verkomplizieren würden, weil ein solches Forschungsprotokoll lediglich die Datenmenge (Körpersprache usw.) vergrößern würde, ohne für die philosophiedidaktischen Fragestellungen neue relevante Daten zu liefern. Für die philosophiedidaktischen Fragestellungen ist und bleibt das gesprochene und gegebenenfalls das geschriebene Wort das entscheidende Forschungsdatum, weil Texte der Philosophie durch Sprache erschlossen werden und mit Sprache philosophiert wird. Andere Forschungsmethoden (beispielsweise ethnografische Beobachtungsprotokolle) sind mit der Argumentation bereits implizit ausgeschlossen. 5Nach einer Anmeldung auf der Homepage des Archivs für pädagogische Kasuistik (www.apaek. de) steht das vollständige Transkript der Audioaufnahme der Stunde (für Re- und Sekundäranalysen) zur Verfügung. https://archiv.apaek.uni-frankfurt.de/02616; Zeile 139 ff.

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Liest man diese Eröffnung einer Philosophiestunde durch den Lehrer, dann stellen sich unmittelbar folgende Fragen: Um was für eine Form von Philosophieunterricht handelt es sich, in dem Kritikbriefe – offensichtlich als Hausaufgabe der Schüler – geschrieben werden? Was haben die Schüler geschrieben? Wird mit den Kritikbriefen gearbeitet und wenn ja, wie? Wie wird der Unterricht fortgesetzt? Stellt man diese Fragen, dann fragt man (auch) nach der Logik des Geschehens. Dabei lässt sich nicht nur die Logik des Geschehens rekonstruieren, sondern auch erkennen, welche normativen Ansprüche im Unterricht gestellt werden, in welchem Verhältnis die Praxis zu ihren Ansprüchen steht und was geschehen müsste, um die Ansprüche zu erfüllen, wenn diese nicht eingelöst werden. Denn mit der Aufgabe, einen Kritikbrief zu verfassen, sind implizit normative Erwartungen gesetzt. Ohne jeden Zweifel ist für die Philosophiedidaktik auch die Frage relevant, mit welcher Logik die Schüler die ihnen gestellten Aufgabenstellungen bearbeiten und wie sie sich mit den Inhalten des Philosophieunterrichts auseinandersetzen sowie sich die Inhalte aneignen. Die Rekonstruktion der Aneignung durch die Schüler ist ein notwendiger Bestandteil der Rekonstruktion und der Analyse des Geschehens (vgl. Pollmanns 2019). Ebenfalls als Beispiel sei aus dem bereits zitierten Transkript der Beginn eines Schülerbeitrags zitiert: „SmA: [()] >{ließt} Sehr geehrter Herr Wittgenstein, ihre Aussage beziehungsweise These, dass die Philosophie nur sinnvoll eingesetzt werden kann, um alle Begriffe nach Möglichkeit exakt zu definieren und sich im Anschluss als unnötig erweist, scheint zu einem Bezug auf viele metaphysische Fragestellungen und Überlegungen zutreffend, jedoch nicht eben nicht auf alle. Ich möchte hierbei, als Beispiel, das Themengebiet der Ethik nennen. Die Frage nach dem richtigen Handeln ist metaphysisch jedoch nicht unbedingt unlogisch“ (a. a. O., Zeile 167 ff.; eine Analyse der Stunde findet sich bei Kminek 2018a).

Weshalb ist die wissenschaftliche Rekonstruktion natürlicher Protokolle interessant und gewinnbringend, wo i) doch (fast) alle Menschen in unserer Gesellschaft Schule und Unterricht kennen und (vermeintlich) verstehen und ii) ausgewiesene Philosophiedidaktiker beanspruchen zu wissen, wie zu unterrichten ist, damit der Philosophieunterricht gelingt. (zu i) Die Voraussetzung, dass alle Menschen in unserer Gesellschaft Schule und Unterricht kennen und verstehen, wird äußerst fraglich, wenn man sich natürliche Protokolle der Unterrichtspraxis anschaut. Das vermeintlich Verstandene wird unverständlich und bedarf der wissenschaftlichen Erschließung, um wieder verständlich zu werden. Das dabei gewonnene neue Verständnis ist von einer völlig anderen Art als das vorherige. Von der Aufgabe, zwischen (vergleichsweise) unmittelbarem Verständnis und einer wissenschaftlichen Erschließung des Geschehens zu unterscheiden, sind auch etablierte Philosophiedidaktiker nicht ausgenommen. Der Forschungszugang zum Feld mittels teilnehmender Beobachtung ist daher ungeeignet. Vom Handlungs- und Beobachtungsdruck befreit, kann sich der Forscher nur auf der Grundlage von Transkripten dem Geschehen zuwenden.

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(zu ii) Hier wiederholt sich ein Argument: Hinweise, Anordnungen und Verordnungen sowie didaktische Konzepte und Modelle zur Anleitung oder Verbesserung des Philosophieunterrichts sind äußerst fraglich, solange sie nicht empirisch informiert und gesättigt sind. Und äußerst fraglich ist auch, ob didaktische Konzeptionen und Modelle das halten, was sie versprechen, wenn die zu verbessernde Praxis nicht verstanden wird. Es ist das erste Anliegen des Ansatzes Philosophiedidaktik der Praxis, den Philosophieunterricht tiefgreifend zu verstehen. Erst auf der Grundlage dieser notwendigen Bedingung erscheint es überhaupt plausibel, in einem zweiten Schritt abstraktere philosophiedidaktische Modelle für die Praxis zu konstruieren, mit der begründeten Hoffnung, die Praxis zu verbessern.

3.2 Zu den Annahmen und der Methodologie der Philosophiedidaktik der Praxis Keine Theorie, kein Modell, keine empirische Forschung kommt ohne Vorannahmen aus. Der hier vertretende Ansatz bezieht sich maßgeblich auf die Arbeiten einerseits Andreas Gruschkas, andererseits Ulrich Oevermanns und Werner Helspers sowie auf Arbeiten der Mitarbeiter in ihrem Umfeld. Ohne die Arbeiten der genannten Autoren, die maßgeblich in die Annahmen (I bis VI) des hier vertretenen Ansatzes eingegangen sind, explizit zu referieren, werden diese Annahmen hier verhandelt. I – Der Ansatz der Philosophiedidaktik der Praxis geht davon aus, dass pädagogisches Handeln sich entlang von Strukturproblemen vollzieht, welche durch die Modernisierung noch verstärkt werden (vgl. Helsper 1996). Strukturproblematiken bezeichnen „zentrale strukturelle Widersprüche und Paradoxien, mit denen sich Akteure auseinandersetzen müssen“ (Böhme 2008, S. 141). Sie stellen spannungsreiche Anforderungen dar, die nicht auf konzeptioneller Ebene gelöst werden können, sondern im besten Fall nur in Situationen des konkreten Unterrichts wohlgeformt bearbeitet werden können. Dabei erfordern unterschiedliche Unterrichtssituationen unterschiedliche Handlungen, damit sie wohlgeformt sind, beispielsweise der Umgang mit Nähe und Distanz gegenüber den Schülern. Aufgrund der nicht abzustreitenden Notwendigkeit, dass die Lehrer im Rahmen der Strukturproblematiken handeln und auf diese antworten, kann von einer falschen oder einer richtigen Praxis nicht gesprochen werden. Solche Werturteile lassen sich nicht fällen. Es lässt sich jedoch feststellen, ob das beobachtete Handeln der Lehrer wohlgeformt war oder nicht. Wohlgeformt wäre das Handeln eines Lehrers aus philosophiedidaktischer Perspektive dann gewesen, wenn im Unterricht begründet die Möglichkeit bestand, dass die Schüler für die philosophische Sache bzw. das philosophische Problem aufgeschlossen wurden und die Sache den Schülern erschlossen wurde, oder mit Humboldt: Dann, wenn der Unterricht zu „allgemeinsten, regesten und freisten Wechselwirkungen“ (Humboldt 1792/1985, S. 25) angeregt hatte.

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Was die Sache ist, ist bewusst nicht bestimmt. Es kann ebenso die Erschließung eines Textes sein wie ein Unterrichtsgespräch, in dem gemeinsam über eine Frage philosophiert wird. II – Neben den allgemeinen Strukturproblemen, mit denen die Lehrer in allen Fächern umgehen müssen, gibt es für den Philosophieunterricht ein spezifisches: Die Lehrer stehen im Unterricht vor der herausfordernden Aufgabe, zwei Ansprüche zugleich wohlgeformt zu erfüllen: i) den Schüler sowohl Inhalte der Klassiker der Philosophie zu vermitteln als auch ii) mit den Schülern gemeinsam über philosophische Frage- und Problemstellungen zu philosophieren. Auch wenn die Planung und der Entwurf von Unterricht im Allgemeinen und von spezifischen Unterrichtsstunden im Besonderen im Vorfeld des konkreten Unterrichts möglich sind, stehen die Lehrer unter dem Anspruch der widersprüchlichen Anforderungen in der jeweiligen Situation. Dem nicht abzustreitenden Anspruch nach müssen sie unter einem Handlungsdruck dem Anspruch entsprechend wohlgeformt agieren. Dass im Unterricht beide Ansprüche (fast) simultan auftreten und nicht einfach zeitlich aufgeteilt eingelöst werden können, haben erste empirische Studien gezeigt (vgl. Kminek 2018a). Die erwiesenen Ergebnisse der empirischen Studien und die daraus abgeleitete These stehen einer verbreiteten Hoffnung der Kollegen der Philosophiedidaktik entgegen, die prominent von Volker Steenblock vertreten wird. Steenblock vertritt die These: „Jeder, der Philosophiekurse belegt oder unterrichtet, stellt nun schnell fest, dass zwischen dem Interesse an der Philosophie als Bildungsgut eigenen Wertes (‚die großen Philosophen kennen lernen‘) und dem individuellen Orientierungsbedürfnis kein Gegensatz besteht, dass vielmehr er selbst und andere Teilnehmer an Seminaren und Kursen immer schon beide Erwartungen mitbringen“ (Steenblock 2007, S. 31). Das mag so sein, doch damit ist noch nichts darüber ausgesagt, ob die Einlösung der beiden Ansprüche auch in der konkreten Praxis gelingt, wie Steenblock dies implizit beansprucht. Für den Ansatz der Philosophiedidaktik der Praxis sind die Thesen Steenblocks jedoch nicht die Antwort auf das Strukturproblem oder gar dessen Lösung, sondern ein nachvollziehbarer Versuch der Befriedung. Dieser Versuch kann jedoch nicht gelingen, da sich das Strukturproblem nicht durch richtige Planung aufheben lässt, sondern nur durch wohlgeformtes Handeln. Die beiden Ansprüche lassen sich in der Praxis nicht ohne weiteres wohlgeformt miteinander verbinden. Empirische Analysen von Philosophieunterricht – so die begründete Hoffnung – können jedoch die Wahrscheinlichkeit eines entsprechenden Handelns erhöhen, weil sie ein Bewusstsein des Strukturproblems schaffen. Das soeben Ausgeführte soll noch einmal pointiert formuliert werden. Der hier vorgestellte Ansatz versteht die unterschiedlichen Modelle der klassischen Philosophiedidaktik als einen Versuch, das für den Philosophieunterricht zentrale Strukturproblem gelingend zu bearbeiten. Dabei wird das Strukturproblem jedoch lediglich verdeckt. Ohne ein Wissen über die Strukturprobleme und über die unterschiedlichen Ausdrucksgestalten, wie die Lehrer empirisch mit diesen Strukturproblemen umgehen, können die von der klassischen Philosophiedidaktik konstruierten Modelle im besten Fall per Zufall angemessen wirken.

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­Demgegenüber fokussiert der Ansatz der Philosophiedidaktik der Praxis auf die Strukturprobleme und er beleuchtet und analysiert diese. III – Der bezüglich der Strukturprobleme des Schulunterrichts erziehungswissenschaftlich informierte Ansatz fragt, wie trotz der Strukturprobleme im Philosophieunterricht möglichst wohlgeformt unterrichtet werden kann. Das heißt, der Ansatz setzt für die Theoriebildung an der realen Unterrichtspraxis an und fragt auch normativ, wie der beobachtete Unterricht zu gestalten gewesen wäre, damit er dem eigenen normativen Anspruch trotz und gerade in der institutionellen Einbettung in die Schule gerecht geworden wäre, wenn dies nicht der Fall war. Nur wenn sich kein normativer Anspruch rekonstruieren lässt, welcher der Philosophie gerecht wird, ist der Unterricht mit einem externen Maßstab einer normativen Kritik zu unterziehen. So wird die Dignität der Praxis durch die theoretisch und empirisch arbeitenden Philosophiedidaktiker gewahrt, ohne damit sich zur Frage abstinent zu verhalten, wie eine wohlgeformtere Praxis aussehen könnte. Auch werden die Lehrer bei dieser Form der Forschung hinsichtlich der Art und Weise, wie sie mit der Aufklärung ihrer Praxis umgehen, nicht entmündigt, und es bleibt ihre Entscheidung, ob sie ihre Praxis entsprechend den in den Fallanalysen unterbreiteten Möglichkeiten verändern oder dies versuchen. Auch hier soll das Gesagte noch einmal pointiert zusammengefasst werden: Der Ansatz geht von empirischen Rekonstruktionen des alltäglichen Unterrichts aus, um didaktische Modelle zu konstruieren. Sie werden aus der Praxis selbst gewonnen. Auch lassen sich mittels der Rekonstruktion die nicht realisierten Potenziale und alternative Handlungsoptionen aufzeigen. IV – Mit welcher Begründung wird davon ausgegangen, dass Anspruch und Handeln der Akteure nicht identisch sind? Die Antwort lautet: Die Handlungen der Lehrer und der Schüler sind regelgeleitet. Mittels der regelgeleiteten Handlungen konstituiert sich eine objektiv-latente Sinnstruktur. Diese Sinnstruktur ist nicht identisch mit den Intentionen der Subjekte: „Die Subjekte sind in ihren Interaktionen zwar Träger des Sinns, haben jedoch ein problematisches Verhältnis zu ihm, da dieser sich latent, gleichsam hinter ihrem Rücken durchsetzt. Das, was die Subjekte im Interaktionsgeschehen intendieren, ist von jenem objektiven latenten Sinn zu unterscheiden […].“6 Folglich wird angenommen, dass das, was ein Lehrer mit seinen Sprechakten und den eingesetzten Unterrichtsmaterialien intendiert, nicht identisch ist mit dem objektiv latenten Sinn des Geschehens. Auf den latenten Sinn aber richtet der Ansatz Philosophiedidaktik der Praxis sein Erkenntnisinteresse. Denn nur wenn in den Blick genommen wird, wie die Lehrer objektiv auf die Strukturprobleme reagieren, kann der Philosophieunterricht verstanden und möglicherweise auch verbessert werden. Alle anderen Ansätze der klassischen Philosophiedidaktik verbleiben auf der Ebene der subjektiven Intentionen und des subjektiv intendierten Sinns.

6Wagner

1984, S. 16.

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V – Die Rede von der objektiv-latenten Sinnstruktur im Gegensatz zur Rede vom subjektiven Sinn verweist bereits darauf, dass der Ansatz in methodischer Hinsicht der Objektiven Hermeneutik folgt. Die Objektive Hermeneutik nimmt die Existenz einer objektiv-latenten Sinnstruktur an und beansprucht, sie mit ihrer Methode erschließen zu können. Die subjektiven Intentionen sind zunächst einmal irrelevant. Diese gänzlich andere Perspektive unterscheidet die Objektive Hermeneutik von anderen Ansätzen der Sozialwissenschaft. Begründet wird diese Perspektive wie folgt: „Die ausschließliche Orientierung an subjektiven Phänomenen als letztem Substrat der Realität sozialen Handelns steht unter dem dringenden Verdacht, das, was Resultat realen gesellschaftlichen Interaktionsgeschehens ist, mit dem letzten Weltgrund zu verwechseln und Realität psychologisch zu reduzieren. Objektive Hermeneutik sträubt sich dagegen, das Konstituierte als Basis ihres Erkenntnisprozesses aufzunehmen; sie zeigt sich interessiert, um antiquiert philosophisch zu reden, an den unterirdischen Prozessen, am Wesen, das nicht mit den Intentionen der interagierenden Subjekte koinzidiert und der empirischen Sozialforschung gleichgültig ist“ (Wagner 1984, S. 30).

Denn: Die objektiven Bedeutungs- und Sinnstrukturen sind diejenigen, die „den subjektiven Intentionen konstitutionslogisch vorausliegen und nicht umgekehrt der je subjektiv gemeinte bzw. intendierte Sinn die objektive Bedeutung von Ausdrücken erzeugt“ (Oevermann 2002, S. 1.) Damit wendet sich die Objektive Hermeneutik gegen die Bewusstseinsphilosophie von Descartes und deren fortdauernden Einfluss auf die Methoden der Sozialwissenschaften. Zudem hat die Objektive Hermeneutik damit einen anderen Begriff von Empirie als die anderen Methoden der Sozialwissenschaften, die nur solche Daten als wissenschaftlich anerkennen, die direkt beobachtbar sind: „Weil Bedeutung und Sinn selbst nicht wahrnehmbar sind, sie aber gleichzeitig genau das konstituieren, was die Lebenspraxis des Menschen, sein Handeln und dessen Objektivationen als Erfahrungsgegenstand kategorial ausmacht und von der Naturdinglichkeit menschlicher Erscheinungen systematisch unterscheidet, müssen wir mit dem auf David Hume zurückgehenden Begriff von Empirie brechen, für den empirisch nur das ist, was durch die Wahrnehmungssinne in den erkennenden Geist gelangt […], und alles, was dieses Kriterium nicht erfüllt, metaphysisch, und damit außerhalb der Reichweite der Erfahrungswissenschaften liegt“ (Oevermann 2002, S. 3).

Im Hinblick auf die empirische Erschließung des Philosophieunterrichts bedeutet das: Es wird nicht primär danach gefragt, was die Subjekte – die Lehrer und die Schüler –beabsichtigten oder welchen subjektiven Eindruck sie vom Philosophieunterricht haben, sondern das objektive Geschehen wird befragt. Erst in einem möglichen zweiten Schritt sind subjektive Motivationen in den Blick zu nehmen, auch um im Hinblick auf die praktische Relevanz der Forschung die subjektiven Motivationen und das reale Geschehen zu kontrastieren. Was ist mit „objektiv-latente Sinnstruktur“ (in Hinblick auf den Philosophieunterricht) gemeint? Dieser Frage wird nun nachgegangen. Es wird von der Kategorie der sozialen Handlung (social act) ausgegangen. Handlungen bringen die objektiven Sinnstrukturen hervor. Erst auf ihr können sich Bewusstsein und Intentionalität konstituieren. Wie ist das zu verstehen?

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Nach der Auffassung der Objektiven Hermeneutik besteht, in Anlehnung an die Arbeiten Georg Herbert Meads, Sinn bereits im Tierreich. So sind unter anderem Gesten fundamental, beispielsweise für die Bedürfnisbefriedigung. Tier A zeigt eine Geste. Die Geste erhält ihren Sinn bzw. ihre Bedeutung erst dadurch, dass Tier B sie mit einer eigenen Geste beantwortet. Die beiden Gesten sind aufeinander bezogen, sie konstituieren etwas Drittes. Erst durch den Bezug auf dieses Dritte erhalten die beiden Gesten ihren spezifischen Sinn. „Dieses Dritte ist die Resultante C […]. Diese resultierende Struktur C verweist auf Sinn als etwas Objektives; sie ist der objektive Sinn oder, präziser, die objektive Sinnstruktur des sozialen Aktes“ (Wagner 2001, S. 29). Nach Mead hat sich im Laufe der Phylogenese des Menschen nun aus der ersten subhumanen die zweite, die menschliche, Interaktion entwickelt. Die menschliche Interaktion unterscheidet sich von der subhumanen substanziell dadurch, dass die „angeborenen Instinktregulatoren der Gestenkonversation“ ausgefallen sind sowie das Zentralnervensystem und die spezifische menschliche Hand sich ausgebildet haben (Wagner 2001, S. 26). Die menschliche Interaktion wird nun vor allem von Lautgesten (Sprache) bestimmt. Die Lautgesten unterscheiden sich qualitativ auch dadurch von den Gesten im Tierreich, dass sie die gleiche Reaktion beim Sender wie beim Empfänger auslösen oder dies zumindest können. Hierbei ist nun zwischen dem objektiven Sinn und dem subjektiven Sinn einer Lautgeste zu unterscheiden: „[…] erst in einem weit fortgeschrittenen Stadium der Naturgeschichte, das heißt mit der Entstehung von Symbol und reflektiver Intelligenz auf der evolutiven Stufe der menschlichen Gattung, differenziert sich Sinn aus; erst jetzt tritt zum objektiven Sinn der subjektive Sinn hinzu“ (Wagner 2001, S. 24). Da der Mensch nicht mehr einer angeborenen instinktgeleiteten Gestenkonversation unterworfen ist, kann es geschehen, dass Kommunikation sich nicht wohlgeformt gestaltet. So erhält das Stellen einer Frage durch einen Lehrer im Philosophieunterricht seinen objektiven Sinn erst durch die Antwort eines Schülers. Der objektive Sinn, der entstanden ist, muss mit dem, was der Lehrer intendiert hatte, aber nicht identisch sein. Ebenso wenig muss der objektive Sinn mit dem identisch sein, wie ein Schüler die Frage und seine Antwort drauf verstanden hat. Ab diesem Zeitpunkt gibt es folglich einen objektiven Sinn im Unterrichtsgeschehen und gegebenenfalls mindestens zwei subjektive Sinnvorstellungen:7 „Konstitutionslogisch betrachtet entsteht Sinn hinter dem Rücken der Initiatoren des Sinns; er liegt – eben weil er ein emergentes Produkt ist und zu einer Präsupposition eine triadische Relation hat – zeitlich und logisch in einer objektiven Sinnstruktur vor, bevor er mit Hilfe signifikanter Symbole [z. B. Sprache – H. K.], die freilich selbst an der Erzeugung beteiligt sind, gehoben, das heißt subjektiv intentional repräsentiert werden kann. […] Die objektive Sinnstruktur ist ein außerhalb der sie in die Welt setzenden Interaktanten sich eigengesetzlich Manifestierendes, das diese erst in sich hereinholen müssen, bevor sie es begreifen können“ (Wagner 2001, S. 30).

7Die

subjektiven Sinnvorstellungen können sich je nach Anzahl der Schüler oder weiterer Personen im Unterricht vervielfachen.

Zur „Philosophiedidaktik der Praxis“ und ihren Grundlagen

227

Dass sich das eigengesetzlich Manifestierende hinter den Rücken der Subjekte bildet, ist der Grund dafür, dass von einer latenten-objektiven Sinnstruktur gesprochen wird. Der Sachverhalt wird in Abgrenzung gegenüber der Psychoanalyse auch als „soziales Unbewusstes“ oder als „Unbewusstes des Interaktionssystems“ bezeichnet.8 So wie die Psychoanalyse wissenschaftlich zeigen will, dass das subjektiv Unbewusste sich auf das Handeln der Subjekte auswirkt, gilt dies auch analog für das soziale Unbewusste. Seine Auswirkung auf die Handlungen oder die Bestimmung der Handlungen durch das soziale Unbewusste sollen mithilfe der Objektiven Hermeneutik aufgedeckt werden. Die Abwehrmechanismen verhindern im Subjekt das Bewusstwerden des subjektiv Unbewussten, dagegen ist es beim sozialen Unbewussten der Handlungsdruck der Akteure: „Das in der unmittelbaren praktischen Handlung Emergierende wird dem Subjekt nie ganz bewusst sein; dazu bedürfte es der Einstellung der Selbstreflexion, die in der Alltagskommunikation wegen des praktischen Handlungsdrucks äußerst reduziert ist und erst in Form der Wissenschaft explizit in Anspruch genommen werden kann. Die sich hinter den Köpfen der Subjekte durchsetzende und in den sozialisatorischen Interaktionen niederschlagende objektive Geschichte erfordert methodologische Reflexionen darüber, wie sich diese Realitätsebene aufschließen lässt.“9

Gerade weil die objektiv-latente Sinnstruktur den Handelnden nicht bewusst sein kann, ist die Praxis auf die vom Handlungsdruck befreite Wissenschaft angewiesen, soll sie über ihr Handeln aufgeklärt werden. Die Aufklärung ist die Bedingung für das bewusstere Handeln der Akteure. Durch die Vermittlung der objektiv-latenten Sinnstruktur mit den Intentionen der Subjekte, die sie hervorbringen und die zugleich ihr Handeln mitbestimmen, „entkommt diese Perspektive dem Vorwurf der strukturalistischen Subjektfeindlichkeit […]“ (Böhme 2008, S. 140). Die Objektive Hermeneutik geht weder davon aus, dass es keine Subjekte gibt, noch werden das Subjekt und seine Möglichkeiten überhöht. Weshalb die latenten Sinnstrukturen objektiv sind, sei noch einmal explizit gefasst: „Objektiv ist dieses Interaktionsprodukt insofern, als es auf ein unbeabsichtigtes, neugeschaffenes Strukturgebilde verweist, das außerhalb und gleichsam über den subjektiven Intentionalitäten der es in die Welt setzenden Individuen liegt. Selbstständig ist es insofern, als es nicht mehr an die ursprüngliche Situation seiner Erzeugung gebunden ist, das heißt sich verselbstständigt hat und eine eigene Realitätsebene begründet.“10

8Treffender wäre es, von sozialem Vorbewussten zu sprechen, da die objektiv-latenten Sinnstrukturen grundsätzlich bewusstseinsfähig sind und zumindest grundsätzlich keinen Abwehrmechanismen und Abwehrprozessen unterliegen. 9Wagner (1984, S. 22). Ganz verkürzt lässt sich sagen: Wie die Psychoanalyse als eine Form der Heilung will auch die Objektive Hermeneutik mittels der Aufdeckung der unbewussten Strukturen zum gelingenden Leben als der notwendigen Voraussetzung des guten Lebens beitragen. 10Wagner (2001, S. 36). In der Objektiven Hermeneutik werden die dargelegten Überlegungen weiter ausgebaut. Hierfür schließt Oevermann teils positiv, teils kritisch-variierend an Noam Chomsky, Sigmund Freud, Karl R. Popper und Claude Lévi-Strauss an.

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Das Versprechen der Objektiven Hermeneutik besteht darin, dass „das innere Verstehen der Vorgänge des Unterrichtens und der ihnen zugrunde liegenden Anforderungen angestrebt, d. h. die Erschließung der Wirklichkeit in der Weise, wie sie ihre eigenen Strukturen ausbildet, so dass ein spezifisches, von Sinn getragenes, durch Sinn motiviertes und geregeltes Agieren und Verhalten erkennbar wird“ (Gruschka 2013, S. 10 f.). Hinsichtlich der Theoretisierung der Ergebnisse der Unterrichtsaufzeichnung hat die Objektive Hermeneutik zwei Vorteile gegenüber allen anderen Forschungsverfahren. Erstens: Die Rekonstruktion führt unmittelbar zu Theorien in naher Reichweite. „Theorien sind geronnene Fallrekonstruktionen“ (Oevermann 2002, S. 22). Ob deshalb auch eine Theoretisierung mittlerer oder weiter Reichweite gelingt, ist noch nicht ausgemacht, doch liegt mit jeder gelungenen Fallstudie bereits die Theoretisierung eines Praxisausschnitts vor. Zweitens: Die Rekonstruktion schafft darüber hinaus die Möglichkeit, den Begriff „Philosophieunterricht“ sowohl mit seinen normativen Vorstellungen als auch mit den Erwartungen und der Realität der dazugehörigen Praxis zu konfrontieren.11 VI – Die zentralen Fragen des Ansatzes der Philosophiedidaktik der Praxis sind: Wie strukturiert sich Philosophieunterricht? Und: Was ist Philosophieunterricht? Die letzte Frage zielt nicht auf eine metaphysische, zeitlose Bestimmung von Philosophieunterricht ab, vielmehr soll die alltägliche Gestalt des Philosophieunterrichts auf den Begriff gebracht werden.

4 Erwarteter Erkenntnisfortschritt der Philosophiedidaktik der Praxis Der Ansatz erhofft sich nicht nur ein Wissen und einen Erkenntnisfortschritt aus dem jeweils untersuchten spezifischen Fall. Er geht davon aus, dass die Art und Weise, wie die Lehrer auf die Strukturprobleme reagieren, in jeder einzelnen Stunde ihren spezifischen Ausdruck findet, ohne dass jedoch eine verallgemeinerungsfähige Typenbildung unmöglich wird. Die antizipierte Möglichkeit begründet die Erwartung, dass mittels der Forschung nicht nur die konkreten Lehrer über ihre Unterrichtspraxis aufgeklärt werden können, sondern dass auch verallgemeinerungsfähige Aussagen für eine Theorie des Philosophieunterrichts auf empirischer Basis gewonnen werden können. Eine solche Theorie ist eine notwendige, wenn auch nicht eine hinreichende Bedingung für eine Philosophiedidaktik jenseits subjektiver Konstruktionen. Konkret werden langfristig zwei Erkenntnisfortschritte erwartet.

11„Keineswegs

dürften hier die Reflexionen der ADORNOSCHEN ‚Negativen Dialektik‘ ausreichen. Erst an den empirischen Daten, die mit Hilfe spezifischer sozialwissenschaftlicher Verfahren gewonnen wurden, lässt sich ablesen, inwieweit die Gegenstände ihrem Begriff gerecht werden“ (Wagner 1982, S. 97 f.).

Zur „Philosophiedidaktik der Praxis“ und ihren Grundlagen

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Erstens: Es werden Erkenntnisse über die unterschiedlichen Formen der Reaktion der Lehrer auf das zentrale Strukturproblem erwartet. Vermittelt man den (angehenden) Lehrern Kenntnisse über die Formen der Reaktion, so ist dies zwar noch kein hinreichender Grund für ein professionelleres Handeln der Philosophielehrer, jedoch die hierfür notwendige Voraussetzung (vgl. Kminek 2020). Zweitens: Mithilfe der Rekonstruktionen wird es möglich sein, fachdidaktische Modelle zu konstruieren. Durch die aus der Praxis selbst gewonnenen Modelle würde der fachdidaktische normative Diskurs bereichert. Diese Modelle ermöglichten es, die fachdidaktische Diskussion auf eine empirische Grundlage zu stellen, und dienten der Korrektur des normativ-konstruierenden Diskurses.

5 Zur Philosophiedidaktik der Praxis als wissenschaftliche Philosophiedidaktik Unabhängig von der jeweiligen konkreten Positionierung in der Philosophiedidaktik wird niemand bestreiten können, dass es bereits unterschiedliche Abstraktionsebenen der Philosophiedidaktik gibt, obwohl die Philosophiedidaktik eine noch junge Disziplin ist und sie erst beginnt, sich auszudifferenzieren. Die Rede von Abstraktionsebenen der Philosophiedidaktik ruft folgende Fragen auf: i) Wie viele und welche Ebenen gibt es? ii) Auf welcher Ebene ist der Ansatz der Philosophiedidaktik der Praxis zu verorten. Heuristisch werden vier Abstraktionsebenen (A bis D) der Philosophiedidaktik angenommen (Abb. 1). Zu Ebene A: Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus beispielsweise lässt sich als ein Werk begreifen, das selbst didaktisch ist. Durch die Nummerierung der Sätze wird ihre Bedeutung symbolisiert und den Lesern vermittelt. Die auf dieses eine Werk bezogene These lässt sich auch verallgemeinern: Jedes Werk der Philosophie ist didaktisch, weil die Autoren Argumente überzeugend vermitteln wollen und die Argumente durch die Vermittlung überzeugen sollen. Die These kann, muss aber nicht zu dem Schluss fortgeführt werden, es bedürfte keiner Philosophiedidaktik. Zu Ebene B: Ebene B sind Texte der Philosophiedidaktik als wissenschaftliche Texte. Die Frage, wie und mit welchen Kriterien die Texte als wissenschaftliche bestimmt werden, wird hier offengelassen. Ebene A – Philosophische Texte als didaktische Texte Ebene B – Didaktik reflektierende Texte der Philosophiedidaktik - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - – - –Ebene C – Anleitende Texte der Philosophiedidaktik Ebene D – Texte / Textauszüge im Philosophieunterricht Abb. 1  Abstraktionsebenen der Philosophiedidaktik

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Zu Ebene C: Ebene C sind Texte der Philosophiedidaktik, welche die Praxis anleiten wollen oder zumindest Vorschläge dafür unterbreiten. Viele Aufsätze in der Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik gehören eindeutig in diese Kategorie. Jedoch dürfte es für viele Texte der Philosophiedidaktik der letzten Jahrzehnte schwerfallen, eine scharfe Trennlinie zwischen den Ebenen B und C zu ziehen. Zu Ebene D: In der Regel werden im Philosophieunterricht keine vollständigen originalen Texte, sondern Textauszüge oder didaktisierte Texte verhandelt.12 Wie ist das Verhältnis der vier Ebenen zueinander zu verstehen? Alle vier Ebenen sind miteinander vermittelt, und sei es nur implizit. Beispielsweise wird durch einen im Unterricht eingesetzten Textausschnitt (Ebene D) immer implizit der normative Anspruch gesetzt, der Textausschnitt vermittle erfolgreich die wesentlichen Inhalte des Ganztextes (Ebene A). Der Anspruch wird in der Praxis durch Sprechakte erhoben. Beansprucht wird damit implizit auch, dass die Ebenen B und C im Prinzip bzw. in einem gelingenden Fall nicht benötigt werden. Doch hat sich schon, seit es Pädagogik gibt, gezeigt, dass die Praxis ihren selbstgesetzten Ansprüchen nicht genügt. Weil eine gelingende Unterrichtspraxis die Ausnahme war und ist, bildeten sich historisch die Lehrerausbildung, das Studienseminar sowie unterschiedliche Formen der Fort- und Weiterbildung heraus, um die Lehrer in ihrem Handeln zu unterstützen, anzuleiten oder dafür Direktiven auszusprechen (Ebene C). Darüber hinaus wurde eine erste Phase der Lehrerausbildung zunächst an Pädagogischen Instituten, dann an Pädagogischen Hochschulen und später an Universitäten etabliert, und es entwickelten sich unterschiedliche Formen der wissenschaftlichen Begleitung (Fachdidaktiken, Erziehungswissenschaften, Pädagogische Psychologie, Bildungssoziologie) (Ebene B). Auch bei Texten dieser Ebenen kommt man nicht um den Anspruch herum, die jeweils anderen Ebenen aus ihrer Position heraus adäquat einzubeziehen. Wozu wird die Unterscheidung zwischen den unterschiedlichen Ebenen hier eingeführt, was ist ihre Motivation? Die Motivation liegt darin, einen Bezugsrahmen und einen Verständnisrahmen für die Philosophiedidaktik zu liefern, um ein Bewusstsein davon zu schaffen oder zu erhalten, auf welcher Ebene über was gesprochen wird. Das erleichtert es, den fachliche Diskurs der Philosophiedidaktik auf strittige Sachfragen zu konzentrieren und von Scheindebatten aufgrund von Kategorienfehlern möglichst frei zu halten. Der Ansatz der Philosophiedidaktik der Praxis ist seinem Selbstverständnis nach der Ebene B zuzuordnen und beansprucht, sich von Ebene C distinkt abgrenzen zu können. Begründet und nachvollzogen werden wird eine solche Abgrenzung jedoch erst dann, wenn der Ansatz inhaltlich reichhaltiger gefüllt ist. Daher muss der Anspruch, der mit diesem Ansatz verbunden ist, hier als Postulat stehenbleiben.

12Die

Lektüre von Ganztexten dürfte eine Ausnahme darstellen. In einem solchen Fall würden Ebene A und Ebene D zusammenfallen.

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6 Ausblick Langfristig wäre die Forschung in zwei Richtungen auszuweiten. So wäre erstens gezielter zu untersuchen, wie Schüler auf bestimmte Unterrichtsmaterialien reagieren und wie sie damit umgehen. Gibt es typische Aneignungsschwierigkeiten und wenn ja, wie sind diese ausgeprägt? Was wäre wohl eine adäquate pädagogische Reaktion auf die Aneignungsschwierigkeiten? Oder läuft alles glatt durch? Die Erkenntnisse über die Aneignungsprozesse wären im fachdidaktischen Diskurs zu berücksichtigen. Darüber hinaus würde es die Forschung abrunden, wenn mit den Schülern Interviews (gegebenenfalls auch in Längsschnittstudien) geführt würden. Es gälte, den Fragen nachzugehen, ob und wenn ja wie der Philosophieunterricht aus der Sicht der Schüler Bildungsprozesse anstößt und ob sich objektiv in solchen Interviews Bildungsprozesse sedimentieren (vgl. auch Koller 2012a, S. 6–21, b S. 47–62).

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Freiheit im Hag – oder: Was uns die alten Meister lehren Thomas Nisters

Was ist das Ziel philosophischen Unterrichts? Zwei Antworten auf diese Frage liegen nahe: Die erste Antwort könnte lauten: Die philosophische Unterweisung hat zum Ziel, die Schülerinnen und Schüler in die Denkgebäude der großen Philosophen einzuführen. Die Schülerinnen und Schüler sollen nachvollziehen und lernen, was die Meister des Fachs vordachten. Hegel scheint dieser Position das Wort zu reden, indem er im Privatgutachten vom 23. Oktober 1812 für den Königlich Bayrischen Oberschulrat Immanuel Niethammer ausführt: Das philosophische Studium ist … das Lernen einer bereits vorhandenen, ausgebildeten Wissenschaft. Diese ist ein Schatz von erworbenem, herausbereitetem, gebildetem Inhalt … Der Lehrer besitzt ihn; er denkt ihn vor, die Schüler denken ihn nach … Das originelle, eigentümliche Vorstellen der Jugend über die wesentlichen Gegenstände ist teils noch ganz dürftig und leer, teils aber in seinem unendlich größeren Teile Meinung, Wahn, Halbheit, Schiefheit, Unbestimmtheit. Durch das Lernen tritt an die Stelle von diesem Wähnen die Wahrheit … das philosophische Studium ist wesentlich auf diesen Gesichtspunkt zu richten, daß dadurch etwas gelernt, die Unwissenheit verjagt, der leere Kopf mit Gedanken und Gehalt erfüllt und jene natürliche Eigentümlichkeit des Denkens, d. h. die Zufälligkeit, Willkür, Besonderheit des Meinens vertrieben werde (Hegel 1986, S. 412). Die zweite naheliegende Antwort auf die Frage nach Sinn und Zweck philosophischen Unterrichts ließe sich etwa so formulieren: Der philosophische Unterricht hat zum Ziel, die Schülerinnen und Schüler einzuweisen in die Kunst, selbst- und eigenständig, auf eigene Faust und Rechnung zu philosophieren. In genau diesem Sinne fordert Immanuel Kant in der Nachricht von der Einrichtung T. Nisters (*)  Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Thein, Philosophische Bildung und Didaktik, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_15

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seiner Vorlesung in dem Winterhalbjahre von 1765–1766: Der Schüler „soll nicht Gedanken, sondern denken lernen; man soll ihn nicht tragen, sondern leiten, wenn man will, dass er in Zukunft von sich selbst zu gehen geschickt sein soll“ (Kant 1912, S. 306). Die beiden Antworten auf die Frage nach der Funktion philosophischen Unterrichts scheinen auf den ersten Blick miteinander unverträglich zu sein. Näheres Zusehen aber zeigt, dass sich die beiden Antworten überhaupt nicht wechselseitig ausschließen. Es wird zwar ein Ziel vorgestellt, es wird aber nicht behauptet, es ginge einzig und allein nur um dieses Ziel. Nichts hindert also, die beiden Antworten auf die Frage nach der Funktion philosophischen Unterrichts zu kombinieren. Die Kombination ergibt vier Positionen: Position 1:  Philosophischer Unterrichts zielt nur und ausschließlich darauf ab, in tradierte Systeme einzuweisen. Eigenes Philosophieren spielt keine Rolle. Position 2:  Philosophischer Unterrichts soll lediglich die Fähigkeit wecken oder kultivieren, selbst zu philosophieren. Die Auseinandersetzung mit den Klassikern des philosophischen Denkens ist überflüssig. Position 3:  Philosophischer Unterricht zielt weder auf die Aneignung dessen, was vorgedacht wurde, noch auf eigenständiges Philosophieren ab. Wer Position 3 vertritt, könnte beispielsweise so argumentieren: Philosophischer Unterricht hat gar kein eigentümliches Ziel; philosophischem Unterricht geht es vielmehr um den Erwerb formaler Kompetenzen, die sich ebenso gut an anderen Gegenständen oder in anderen Fächern ausbilden können. Position 4:  Beide Ziele sind wichtig. Philosophischem Unterricht obliegt es, die Schülerinnen und Schüler über Vorgedachtes zu belehren, und philosophischer Unterricht soll die Schülerinnen und Schüler auf ihrem Weg begleiten, das Handwerk der Philosophie selbständig auszuüben. Philosophischer Unterricht, so Position 4, hat somit eine Doppelfunktion: Belehren und Einüben. Position 4 steht der Position 3 diametral entgegen; Position 4 vermittelt zwischen Position 1 und 2. Wer Position 4 vertritt, wird sich allerdings kaum mit einem einfachen Sowohl – als – Auch der beiden Funktionen zufriedengeben. Position 4 behauptet keine beziehungslose Addition der beiden Ziele philosophischer Unterweisung. Vielmehr gilt es, beide Funktionsbestimmungen, nämlich Wissen und Können, aufeinander zu beziehen. Hier sind zwei Beispiele, wie die beiden Funktionen aufeinander bezogen werden können. Es könnte, erstens, behauptet werden: Wer sich anheischig macht, auf eigene Rechnung zu philosophieren, kann dies nur, nachdem er sich mit der Geschichte der Philosophie vertraut gemacht hat. Das Studium des Aristoteles, des Thomas von Aquin, der Werke Kants, Hegels oder Wittgensteins ist Vorschule des Selbstdenkens, so wie ein Komponist sich an den Werken Bachs, Telemanns oder Händels schulen mag. Es könnte aber zweitens umgekehrt behauptet werden: Wer sich den großen Denkern nähert, sollte selbst über diejenigen Fragen gegrübelt haben, auf

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welche die großen Philosophen antworten. Hier bereitet das Selbstdenken auf die Begegnung mit Vorgedachtem vor. Konkret: Wer den platonischen Dialog „Laches“ liest, ohne selbst vorher überlegt zu haben, was Tapferkeit sei, kann die Gedanken des Platon nicht zulänglich würdigen. Im Folgenden möchte ich eine Spielart der Vermittlungsposition 4 zur Diskussion stellen. Diese Spielart ließe sich grob so skizzieren: In erster Linie und vor allem geht es darum, die Schüler und Schülerinnen ins eigene Philosophieren einzuführen. Damit dieses eigene Philosophieren aber nicht zuchtlos ins Kraut schießt und zu einer „Vulgär- oder Pseudophilosophie“ (Martens 2003, S. 24) auswuchert, gilt es, die wilden Gedankentriebe einzuhegen. Die Schüler und Schülerinnen sollen einerseits frei und kreativ philosophieren; diese Freiheit aber findet ihren Ort und Hag in der Einfriedung einer Methode, die wir Lehrerinnen und Lehrer den alten Meistern entlehnen. Wir müssen, wie Johannes Rohbeck postuliert, aus didaktischer Perspektive die akademische Philosophie nach methodischen Potentialen durchforsten (Rohbeck 2010, S. 252); oder, um es in ein Bild zu fassen: Wir müssen Bergleuten gleich Schächte und Minen ins harte Gestein der philosophischen Systeme treiben, um aus den Tiefen methodische Rohdiamanten ans Licht zu fördern. Wie solche philosophische Arbeit im Berg ausschauen könnte, will ich nun an einem Beispiel entwickeln und vorführen: Im Buch II, Kap. 2–11 seiner Rhetorikvorlesungen untersucht Aristoteles Gefühle: Furcht – Zuversicht; Zorn – Milde; Neid – Mitleid. Die Untersuchung der Gefühle ist rhetorisch relevant, weil ein Redner die Entscheidungen der Hörer beeinflussen will. Denn unsere Entscheidungen hängen stark von unseren Gefühlen ab: Mitleid hilft anderen in der Not; Neid zerstört fremde Güter; Zorn sinnt auf Rache. In Buch II, Kap. 1 macht Aristoteles eine methodische Vorbemerkung: Gefühle seien zu analysieren, indem sie in eine dreigliedrige Struktur zerlegt werden: Es gibt 1) jemanden, der das Gefühl empfindet, das Subjekt der Emotion (Aristoteles 1831, S. 1377 b 23); 2) das Gefühl bezieht sich auf ein Objekt (Aristoteles 1831, S. 1377 b 23 – 24); 3) es gibt für das Gefühl eine Veranlassung, eine Ursache (Aristoteles 1831, S. 1377 b 24). Implizit deutet Aristoteles damit folgende methodische Maxime an: „Wenn du über Gefühle nachdenkst, dann bilde eine verbale, dreigliedrige Struktur!“ Etwa: A ärgert sich über B wegen C A beneidet B um C A bemitleidet B wegen C.“

In den Einzeluntersuchungen zu den jeweiligen Emotionen befolgt Aristoteles natürlich seine eigene methodische Maxime. Schauen wir Aristoteles aber bei seiner Arbeit über die Schulter, so fällt eine zweite methodische Maxime ins Auge: „Überlege, (a) wie die Variablen in den Struktursätzen in der Regel gefüllt werden und (b) ob es allgemeine Füllungsbedingungen gibt!“

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So ist C im Satz A beneidet B um C nur durch etwas zu ersetzen, was A für gut hält (Aristoteles 1831, S. 1387 b 23–24). Oder B ist im Satz A ärgert sich über B nur durch eine individuelle Person zu ersetzen (Aristoteles 1831, S. 1378 a 34 und S. 1382 a 5–6). Mit diesen beiden Maximen halten wir jedoch nicht mehr als einen methodischen Rohdiamanten in Händen. Erst kundiger Schliff macht ihn tauglich für den didaktischen Gebrauch. Es reicht mithin nicht, die Edelsteine zu bergen. Sie müssen auch passend gemacht werden. Wie dies geschehen könnte, soll am Beispiel der methodischen Andeutungen des Aristoteles gezeigt werden. Die beiden methodischen Maximen des Aristoteles lassen sich nämlich leicht in eine handliche methodische Schrittfolge überführen. Die methodischen Schritte können als fünf Imperative formuliert werden: 1. Ersetze das Nomen durch ein Verb! So wird aus Neid beneiden. 2. Formuliere Struktursätze mit Variablen oder Mitspielern des Verbs! Mögliche Struktursätze könnten sein: A beneidet B um C; A beneidet B, weil B C hat; A beneidet B. 3. Entscheide dich für einen oder mehrere Sätze! 4. Formuliere typische Füllungen oder Füllungsbedingungen der Mitspieler A, B, C. 5. Prüfe mögliche Identitäten! Mit Blick auf den Neid etwa wäre zu prüfen: Kann ich mich etwa selbst beneiden? Mit diesem methodischen Leitfaden in der Hand sind die Schüler in der Lage, sich kreativ und frei in philosophischen Regionen, die ihnen neu und fremd sind, im Denken zu orientieren. So könnte beispielsweise eine Jahrgangsstufe 10 mit dieser Methode eigenständig die Begriffe Dank oder Dankbarkeit erörtern. Schritt 1 und 2 Die Schüler sammeln gemeinsam passende Verben und mögliche Struktursätze: i) ii) iii) iv)

A dankt B. A ist B dankbar für C. A bedankt sich bei B für C. A erweist sich B dankbar für C.

Sofort gibt es eine spannende Mehrdeutigkeit zu entdecken: Während sich Satz ii) (A ist B dankbar für C) auf ein Gefühl oder eine Einstellung bezieht, beziehen sich Satz i) (A dankt B für C) und iii) (A bedankt sich bei B für C) eher auf eine Sprechhandlung; und Satz iv) (A erweist sich B dankbar für C) schließlich bezieht sich auf eine Handlung. Möglich ist es auch, dass die Schüler sich in eine ­Diskussion verstricken, ob es überhaupt einen Wohltäter B geben müsse, ob nicht auch eine Art diffuse, existentielle Grundstimmung der Dankbarkeit möglich sei. Schritt 3 und 4 Die weitere Analyse könnte in zweifacher Weise eingerichtet werden.

Freiheit im Hag – oder: Was uns die alten Meister lehren Tab. 1 Füllungsbedingungen A ist

B dankbar für

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C

Möglichkeit 1: Schülergruppe 1 widmet sich dem Gefühl der Dankbarkeit, Schülergruppe 2 dem Sprechakt, sich mit Worten zu bedanken, und Schülergruppe 3 der Handlung, der dankbaren Rückerstattung. Möglichkeit 2: Alle Schüler und Schülerinnen befassen sich zunächst mit dem Gefühl, indem sie Füllungsbedingungen für A, B und C suchen und diese Füllungsbedingungen in Tab. 1 schreiben. Es steht zu erwarten, dass die Schüler und Schülerinnen für C diese Bedingungen nennen werden: C ist positiv für A; C ist eine Handlung oder Unterlassung des B; C liegt in der Vergangenheit. In der Spalte B könnte eingetragen werden: B ist ein Wesen, das willentlich und wissentlich handeln kann, kurz B ist Person; B ist dem A wohlgesonnen. A muss ein Wesen sein, das Weltzustände erstrebt oder meidet, ein Wesen, dem alles gleichgültig ist, kann nicht dankbar sein; A muss sich überdies über die Wohltat C freuen und dem Wohltäter B ein Spiegelwohlwollen entgegenbringen. Die Füllungsvorschläge der Schülerinnen und Schüler dürfen, ja sollen durchaus zu heftigen philosophischen Debatten führen. Eine solche Debatte etwa um die Frage, ob wir nur Personen dankbar sein können, könnte folgende Geschichte aus dem Jahr 1814 anfachen, die uns Johann Peter Hebel unter dem Titel „Dankbarkeit“ erzählt: „In der Seeschlacht von Trafalgar, während die Kugeln sausten und die Mastbäume krachten, fand ein Matrose noch Zeit, zu kratzen, wo es ihn biß, nämlich auf dem Kopf. Auf einmal streifte er mit zusammengelegtem Daumen und Zeigefinger bedächtig an einem Haare herab, und ließ ein armes Tierlein, das er zum Gefangenen gemacht hatte, auf den Boden fallen. Aber indem er sich niederbückte, um ihm den Garaus zu machen, flog eine feindliche Kanonenkugel ihm über den Rücken weg, paff, in das benachbarte Schiff. Da ergriff den Matrosen ein dankbares Gefühl, und überzeugt, daß er von dieser Kugel wäre zerschmettert worden, wenn er sich nicht nach dem Tierlein gebücket hätte, hob er es schonend von dem Boden auf, und setzte es wieder auf den Kopf. ‚Weil du mir das Leben gerettet hast,‘ sagte er; ‚aber laß dich nicht zum zweitenmal attrapieren, denn ich kenne dich nimmer.‘“ (Hebel 1985, S. 424)

Schritt 5 Die Antwort auf die Frage, ob A gleich B sein kann, ich mir also selbst dankbar sein kann, scheint klar: Nein, ich kann mir selbst unmöglich dankbar sein. So klar indessen die Antwort, so knifflig ist es, die Antwort sauber zu begründen. Kann ich mir denn selbst nichts Gutes tun? Und geht es mir dabei nicht ausschließlich

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um mich? Wieso also soll ich mir nicht dankbar sein können? Diese Frage wird unsere Jahrgangsstufe 10 möglicherweise in ein kleines philosophisches Sudoku verwickeln. Diese kleine Unterrichtsplanung zeigt, wie Schülerinnen und Schülern im Hag einer altehrwürdigen Methode frei und eigenständig philosophieren können. Dazu müssen vier Rollenträger, die je unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen haben, sich austauschen und zusammenarbeiten: Erstens ist die Methode selbst aufzufinden und sachlich sauber zu entfalten. Diese Aufgabe dürfte der akademischen Fachphilosophie zufallen, welche sie kraft ihrer Kompetenz in philosophiehistorischer und philosophiesystematischer Hinsicht zu erfüllen in der Lage sein wird. Zweitens ist die Methode zu verfeinern und fasslich zu machen, damit sie für den Unterricht taugt. Diese Aufgabe wäre der wissenschaftlichen Fachdidaktik der Philosophie zu stellen. Drittens stellt sich dem Lehrer oder der Lehrerin die Aufgabe, die ausgearbeitete Methode der individuellen Lerngruppe, dem Reihenkontext, dem Thema anzupassen. Denn lebendiger Unterricht glückt nicht durch algorithmische Applikation von Methoden und Arbeitsweisen. Vielmehr sind hier Takt, Erfahrung, Einfühlungsvermögen und Einfallsreichtum unabdingbar. Viertens sind es die Schüler und Schülerinnen selbst, die im Hag der Methode selbständig philosophische Kreativität entfalten. Ich bin mir sicher, dass Schüler und Schülerinnen bald durch eine Erfahrung belohnt werden, die Dieter Birnbacher mit Blick auf die Methode des sokratischen Gesprächs einmal so zusammengefasst hat: Die Schüler erfahren, „wie weit sie – unterstützt durch die jeweils anderen – durch eigene Reflexion kommen und wie viele der Gedanken der großen Klassiker sie sich aus eigener Kraft zu erarbeiten in der Lage sind.“ (Birnbacher 2010, S. 234). Zum Schluss seien fünf Bemerkungen erlaubt: Bemerkung 1 Die Methode der Verbalisierung ist freilich nur eine unter vielen, die für den schulischen Philosophieunterricht tauglich sind. Es sind noch viele methodische Rohdiamanten zu bergen und zünftig zu schleifen. Hier sei nur ein weiterer methodischer Kunstgriff erwähnt, der gleichfalls dem großen Aristoteles abgeschaut werden kann. Im dritten Buch der Nikomachischen Ethik behandelt Aristoteles die Tugend der Tapferkeit sowie die beiden Fehlhaltungen Feigheit und Tollkühnheit. Ein Herzstück der Aristotelischen Tapferkeitslehre ist die Diskussion mangelhafter, defizitärer, kurz: unvollkommener Formen der Tapferkeit. Aristoteles stellt Verhaltensweisen vor, die auf den ersten Blick wie Fälle echter Tapferkeit aussehen, sich aber bei näherem Zusehen als unvollkommen entpuppen. Indem wir nun genau diagnostizieren, was den defizitären Formen der Tapferkeit zur vollen, wahren oder reifen Tapferkeit fehlt, erkennen wir aus dem Unvollkommenen das Vollkommene. Die Betrachtung der Pseudo-Tapferkeit belehrt uns über wahre und echte Tapferkeit. Auch diese Methode ließe sich in ein ertragreiches unterrichtliches Arrangement von fünf Phasen transformieren.

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Phase 1 Fallsammlung Die Schülerinnen und Schüler werden zunächst aufgefordert, eine kurze Geschichte zu schreiben. Der Titel lautet: „Pseudotapferkeit“, „Tapferkeit, bei der etwas nicht stimmt oder faul ist“ oder ähnlich. Phase 2 Diagnose Diese kranken Fälle werden nun, nachdem sie vorgelesen wurde – etwa in einer Partner- oder Gruppenarbeit – einer Fehlerdiagnose unterzogen. Ein möglicher Arbeitsauftrag wäre: „Was genau ist da faul?“ Phase 3 Therapie In einer therapeutischen Phase wäre zu überlegen, wie die Geschichten defizitärer Tapferkeit so umgeschrieben werden können, dass die jeweiligen Mängel geheilt werden, ein Fall von echter Tapferkeit entsteht. Phase 4 Merkmalsammlung Schließlich wendet sich die Untersuchung der Frage zu, was wir aus den Fehlfällen der Pseudotapferkeit auf allgemeiner, definitorischer Ebene über echte Tapferkeit lernen können? Welchen Bedingungen hat echte Tapferkeit zu genügen? Phase 5 Sicherung und Problematisierung Schließlich wäre das Erreichte einerseits festzuhalten und zu sichern. Andererseits aber könnte es auch erneut problematisiert und in Frage gestellt werden. Bemerkung 2 Natürlich sind die Klassiker philosophischen Denkens auch im schulischen Philosophieunterricht nicht nur als methodische Fundgrube zu nutzen. Wer über Glück nachdenkt, wird sich wohl auch inhaltlich mit den Lehrstücken des Aristoteles zu befassen haben. Wer über den Begriff der Pflicht Aufklärung erhofft, sei dringend an die Schriften eines Immanuel Kant verwiesen. Bemerkung 3 Wer im Hag der Methode selbständig zu denken lernt, soll aber auf lange Sicht nicht zum abhängigen Gefangenen werden. Im fortgeschrittenen Stadium ist die Methode selbst zum Gegenstand philosophischer Metareflexion zu machen. In Betreff unserer Methode der Verbalisierung wäre etwa zu erörtern: Welche Relata sind obligat, welche sind fakultativ? Welches Kriterium bringen wir für diese Entscheidung in Anschlag: Sind nur die Relata obligat, die für einen syntaktisch akzeptablen Satz hinreichen? Dann wären im Falle des Neids nur zwei Relata nötig: Der, der neidet, und der Beneidete. Immerhin ist die Grammatik des Satzes A beneidet B nicht zu beanstanden. Oder es könnte erörtert werden, ob die Methode universell anwendbar ist oder bereichsspezifisch ist. Bemerkung 4 So ansprechend das eingehegte Blumenbeet sein mag, alles hat seinen Ort und seine Zeit, so soll nicht dogmatisch ausgeschlossen werden, dass hier und dort der verwunschene, wilde Garten anziehend sein mag und betreten werden darf.

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Ab und an mag es heilsam und wohltätig sein, Gedanken, Ideen und Philosophien wild und völlig frei sprießen zu lassen. Bemerkung 5 Schülerinnen und Schüler im Hag einer altehrwürdigen Methode zur eigenständigen Philosophie einzuladen und zu ermutigen, läßt sich aus übergreifenden Überlegungen begründen: Überlegung 1 Der Philosophieunterricht ist mit dem Vorurteil konfrontiert, sich in beliebigem, unverbindlichem Austausch von Meinungen über dieses und jenes zu erschöpfen. Es gebe, so das Ondit, keinen Lernfortschritt. Das Ergebnis sei Überdruss, Langeweile, Unmut und Gereiztheit. Die Angst nun, der eigene Unterricht möge auch nur in schwacher Annäherung dieses böse Vorurteil bestätigen, könnte Lehrerinnen und Lehrer dazu verleiten, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Um nämlich nicht im charybdischen Strudel unverbindlicher Meinungsvielfalt unterzugehen, lassen sie in ihrer Not den Philosophieunterricht am Felsen der Skylla eines historisierenden Vollstreckungsunterrichts zerschellen, eines Unterrichts, der totsicheres, verstaubtes Lehrbuchwissen den Gemütern einzutrichtern sucht. Der eingehegten Problemerörterung könnte es nun gelingen, zwischen Strudel und Fels sicher Kurs zu halten, ja gute und ertragreiche Fahrt zu gewinnen, nachdem sie sich desjenigen navigatorischen Wissens versichert hat, welches die großen Werke der Philosophie zur Verfügung stellen. Überlegung 2 Stützende Strukturen zerbröseln. Traditionelle Familienbande lösen sich. Religiöse und sittliche Verbindlichkeiten verwässern. Anything goes. Haltlosigkeit und Mangel an Orientierung sind die Folge. Dies sei, so die Befürchtung, insbesondere für junge Menschen fatal. Diese seien durch das b­ eliebig-gleichgültige Tohuwabohu ihrer Lebenswelt völlig überfordert. Daher obliege es der Schule, Sinn zu stiften, Halt zu geben, Orientierung zu schaffen. Vor allem Fächer wie Philosophie, Ethik, Werte und Normen hätten nachgerade allopathisch den Schülern und Schülerinnen Festes und Verbindliches zu vermitteln, materiale Werteerziehung zu leisten. Eine Erziehung zur Mündigkeit und Autonomie setze eine vorgegebene sittliche Charakterfestigung voraus, die heute nicht mehr angenommen werden kann. Solche Erwägungen führen schnell dazu, freie und offene Unterrichtsformen zu diskreditieren und eng geführten Lehrmethoden den Vorzug zu geben. Die eingehegte Problemerörterung hingegen wäre eine Möglichkeit, selbst dann für offenen, freien und kreativen Unterricht zu plädieren, wenn die These der Erosion tragender Strukturen wahr wäre. Die im Hag der Methode eingefriedete Arbeit der Schülerinnen und Schüler befriedigt formal das Bedürfnis nach Halt und Sicherheit, ohne allerdings den Preis inhaltlicher Engführung, Fixierung, Gängelung und Entmündigung dafür zu zahlen. Sie beschreitet den Weg zwischen

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zwei didaktischen Todesarten: der chaotischen Mentalkompostierung des ­Alles-Geht auf der einen Seite und der erstarrten Skelettierung eines bloß aufs Rezeptive geschrumpften Vermittlungsunterrichts auf der anderen Seite. Überlegung 3 Es dürfte eines der vornehmsten Ziele der Philosophischen Unterweisung sein, die Neigung zur Philosophie zu wecken. Dies nun nicht etwa, damit wir alle – Gott bewahre! – Fachphilosophen werden; und auch nicht deshalb, weil die vita contemplativa eine für viele Menschen gangbare Lebensoption sei. Wohl aber deshalb, weil zu philosophieren im weiten Sinne dieser Tätigkeitsbeschreibung hilft, unser Leben reicher und humaner werden zu lassen. Die Menschen allerdings tun in der Regel von sich aus zumeist das, was sie als schön und freudvoll erleben. Selbst etwas zu tun ist aber in der Regel mit einer innigeren Freude verbunden, als bloß zu rezipieren, was andere tun. Selbst zu musizieren ist noch erfüllender, als der Musik zu lauschen. Wenn es also gelingt, Schülerinnen und Schüler zu erfolgreichem, eigenständigem Philosophieren im Hag der Methode anzuleiten, dann könnte dies dazu beitragen, in ihnen eine dauerhafte philosophische Einstellung grundzulegen, was vielleicht das Äußerste ist, was sich philosophische Unterweisung erhoffen mag.

Literatur Aristoteles. 1831. Opera, Volumen alterum. Berlin: De Gruyter. Birnbacher, Dieter. 2010. Das Sokratische Gespräch. In Texte zur Didaktik der Philosophie, Hrsg. K. Meyer, 215–236. Stuttgart: Reclam. Hebel, Johann Peter. 1985. Erzählungen und Aufsätze des Rheinländischen Hausfreunds. München: Hanser. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. 1986. Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808–1817. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kant, Immanuel. 1912. Kant’s Werke, Band II, Vorkritische Schriften II 1757–1777. Berlin: Reimer. Martens, Ekkehard. 2003. Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Hannover: Siebert. Rohbeck, Johannes. 2010. Philosophische Methoden im Unterricht. In Texte zur Didaktik der Philosophie, Hrsg. K. Meyer, 237–254. Stuttgart: Reclam.

Die Sprache der Mode: Anknüpfungsmöglichkeiten für ein lebensweltliches Philosophieren im Unterricht Christian Krämer

1 Einleitung Das Phänomen der Mode erfordert einen Blick auf gesellschaftliche Prozesse, die alleine jedoch nicht ausreichen, um dieses Thema zu erfassen. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass es im Zusammenhang von Moden und ihren Erscheinungen und Entwicklungen sowohl darum geht, dass der Einzelne sich von der Masse abhebt oder gar abgrenzt, als auch gleichzeitig darum, eine Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder einem Milieu anzuzeigen oder zu unterstreichen. Mode wird dabei zu einem Spiegel der Gesellschaft und ebenso zu einem Zeichen von kulturellem Wandel. Zu fragen wäre nun, inwieweit es sich bei der Mode und ihren zahlreichen Ausgestaltungen um reine Oberflächlichkeiten handelt oder ob die Mode quasi als anthropologische Instanz aufzufassen und darzustellen wäre. Können die Menschen überhaupt ohne Mode leben? Hier wird die für Schülerinnen und Schüler lebenspraktische Relevanz der Mode deutlich, deren philosophische Thematisierung dazu führt, das Phänomen in seiner Bedeutung für das Leben zu durchdringen und sich dazu autonom zu positionieren. Folgt man zunächst den soziologischen Aspekten des Umgangs mit Mode, so lässt sich allgemein feststellen, dass der Mensch von anderen Menschen wahrgenommen werden möchte, ja gar manchmal bewundert werden will. Die Unverwechselbarkeit eines modischen „Gegenstandes“ rückt den betreffenden Besitzer als Teil einer Gemeinschaft im gewünschten Sinn ins rechte Licht und kann ihn so gleichzeitig von Anderen abgrenzen. Des Weiteren sollte umrissen

C. Krämer (*)  Johannes Gutenberg Universität Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Thein, Philosophische Bildung und Didaktik, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_16

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werden, ob bestimmte Moden gerade in Zeiten eines vermeintlichen Sinnverlustes virulent werden und möglicherweise zu einer Form der Sinnfindung oder aber bloß des Sinnersatzes werden. So kann der Umgang mit Mode einerseits von der Annahme geleitet sein, dass das Innere durch die modische Ausgestaltung gleichsam wie durch einen Schleier sichtbar hindurchscheint, obwohl das Wesentliche verdeckt bleibt. Andererseits steht dem die Etikettierung der Mode als eindimensionale Oberflächlichkeit entgegen. Die Symbolik des Maskenhaften modischer Trends macht eine Untersuchung der Zeichenhaftigkeit von Mode notwendig, durch welche Glaubensvorstellungen der Menschen zunächst codiert werden und dann decodiert bzw. entschlüsselt werden müssen, um verstanden werden zu können. Die teils „götterähnlich“ inszenierte Strahlkraft und die Extravaganz der Moden, mit denen sich ein Image besonderer Größe und Reputation aufbauen lässt, ginge verloren, wenn auf einmal die Bedeutung der Zeichen hinter der Symbolik kommuniziert würde. Daraus ergibt sich die Untersuchung der Machbarkeit von Trends, die aufzeigen kann, dass Mode zwar mit dem Zufall spielt, aber dabei kein Zufall ist. Auf welche Weise kommt es dazu, dass derjenige, welcher dem aktuellen Modetrend nicht folgt, sich plötzlich im gesellschaftlichen Abseits wiederfindet und ausgeschlossen werden kann? Wird nicht gerade die Individualität, die sich auszeichnen und herausheben möchte, durch die Mode gefährdet, wenn Auftreten und Lebensgestaltung vergangener Zeiten der Lächerlichkeit preisgegeben werden? Welche Mechanismen führen zur Verachtung dessen, was nicht dem jeweiligen Zeitgeist entspricht? Wenn es beim Leben im Sinne der Mode darum geht, gerade das Mittelmäßige und Gewöhnliche zu vermeiden, dann ist diese Haltung von einem drängenden Suchen nach neuen Trends geprägt. Der Sinn dieses Lebenswandels besteht dann nicht darin, sich von den Extremen ausgehend zu einer Mitte hin zu bewegen, die dann zu einem ruhenden Pol der Stabilität und Authentizität werden wird, sondern immer weiter getrieben zu werden von neuen Ausformungen der ausgefallenen Darstellungs- und Inszenierungsformen, die sich bei genauerer Betrachtung dann doch stetig wiederkehrend ablösen. Dies könnte man dann als ein Getriebensein vom Diktat einer gesellschaftlichen Mode bezeichnen. Im Folgenden sollen diese Gedanken einer genaueren Betrachtung unterzogen werden, so dass schließlich deutlich werden kann, in welcher Weise Mode ein Spiel ist, welches auch mit Identitäten spielt, die von Geschichten der Werbung, der Laufstege und der Unterhaltungsindustrie geformt werden und dabei dennoch spielerisch ihre Freiheit bewahren wollen. Das „Sein-wie“ in den Modegeschichten ist zwar eine Form des Seins, aber eben als ein „Sein – wie“. Werbung wird dann nicht mehr nur nachgespielt, sondern wird zum gestaltenden Moment zahlreicher Lebensentwürfe unter den Spielregeln der inszenierten Moden. Der Umgang mit den Moden ist daher als Teil einer Lebenskunst und Lebensführungskompetenz zu erkennen, die einer philosophischen Reflexion bedarf.

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2 Mode als Medium der Gesellschaft Die Frage danach, wie wir wissen können, wer wir sein sollen, kann durchaus einen Orientierungspunkt in den Moden der jeweiligen Zeit finden, wenn man davon ausgeht, „[…] dass wir alle, ob wir wollen oder nicht, mit der Mode der Gesellschaft gehen“ (Thiedeke 2009, S. 184). Sicherlich ist der Mensch von Mode und Moden umgeben. Dennoch besteht für ihn die Freiheit der Wahl, sich in unterschiedlicher Weise zu den Moden zu verhalten. Um eine Entscheidung und einen reflektierten Umgang mit der Mode zu ermöglichen, ist es wichtig, das Modephänomen in seinen zahlreichen Facetten zunächst in den Blick zu nehmen. Nur auf diese Weise kann ein gedankenloses Getriebenwerden von Modeerscheinungen verschiedener Art in eine bewusste Lebensgestaltung mit den Moden und dabei nicht unbedingt gegen die Moden umgewandelt werden. Zunächst können wir uns dem Modephänomen nähern, indem wir mit Thiedeke feststellen, „[…] dass sich das Phänomen Mode als ein kollektiv nachahmender, periodischer Stilwechsel individueller Distinktion darstellt […]“ und dann weiterfragen, was „[…] die gesellschaftliche Attraktivität der Mode, bei all ihrer Unsicherheit, Unkontrollierbarkeit und sozialen Ambiguität […]“ (Thiedeke 2009, S. 185) ausmacht. Es ist möglicherweise der spielerische Umgang mit Realität und Realitäten, der die Mode und Modewelt so attraktiv erscheinen lässt. In einem Interview mit dem Modeschöpfer Karl Lagerfeld fragt Jutta Koether nach der „Gleichzeitigkeit von extremer Flexibilität und Wertsetzungen“ (Koether 2004, S. 38) in der Person Lagerfelds und trifft damit möglicherweise auch die dialektische Struktur der Mode, die sich einerseits wertsetzend, normativ gibt und doch von stetigen Wechseln geleitet wird. Koether möchte sich der Welt der Mode über die Welt eines Modemachers nähern und schafft es dennoch nicht, eine klare Aussage zur Mode herauszuarbeiten, die das Phänomen in wenigen Sätzen umreißen könnte. Stattdessen erkennt sie, dass Lagerfeld und die Mode Kommunikationskünstler und somit in gewisser Weise erzählende Medien sind, die sich kreativ entfalten und die Welt in einem speziellen Licht erscheinen lassen, was Zugänge zur Lebenswelt zur eröffnen scheint. Lagerfeld wird gefragt: „Sie schaffen und Sie sprechen, wodurch dann wieder eine neue Idee entzündet wird. Dennoch interpretieren Sie niemals, weisen nur hin, schaffen Zugänge. Sie sind unter anderem ein Konversationskünstler. Wo haben Sie das gelernt?“ (Koether 2004, S. 38, 39). Und Lagerfeld antwortet, indem er darauf hinweist, dass seine modischen Inszenierungen eine Erzählung darstellen sollen, die nichts zu erklären hat, weil sie selbst quasi narrativ als Geschichte zu verstehen sei. „Das Leben, so wie ich es lebe, ist eine Bühne, aber man muss oft lange alleine in seiner Garderobe und der Kulisse warten, um die Auftritte nicht zu vertun und spontan zu sein. […] Ich spreche viel, um nichts zu sagen, denn ich denke. In Voltaires Worten: ‚Was eine Erklärung braucht – ist die Erklärung nicht wert…‘ Tolle Wahrheit!!!“ (Koether 2004, S. 38, 39). Lagerfeld ist ein

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Hermeneutiker in dem Sinne, dass er die Welt durch seine Sprache und dabei auch durch seine Sprache der Mode auslegt und in dieser Weise gleichzeitig gestaltet. Er ist ein Bote, ein Medium der Mode, welche Welt nicht darstellt, wie sie ist, sondern wie sie spielerisch sein kann. Lagerfeld geht es nicht darum zu erklären, er ist ein Erzähler, der die Dinge und Worte und ebenso die Zeichen der Mode für sich sprechen lässt. Dadurch spielt er mit der Attraktivität von Ferne und Fernerfahrung, die gerade in der Erzählung eine Aura des Geheimnisvollen, Diffusen bestehen lässt und nicht vereinfachend oder reduktiv alles auf die bloßen Informationseinheiten der Datensätze und Zahlen herunterbrechen möchte.1 Trotz dieses Bemühens des Modeschöpfers und der Modewelt im Allgemeinen, eine Aura des Individuellen, Originären um die Moden herum zu kreieren, ist das Potential zur Sinnstiftung und Repräsentation von Authentizität durch die Mode zunächst kritisch zu hinterfragen. „1) Mode weist eine verallgemeinernde Tendenz zur Individuation auf. Selbst in seiner Modeverweigerung muss sich das Individuum an den Moden der anderen orientieren. 2) Die Beständigkeit der Mode liegt in ihrer Veränderung. Die heutige Mode ist morgen schon von gestern. 3) Mode erreicht ihren Sinn nur in der Sinnlosigkeit, z. B. im sinnlos erscheinenden Überfluss. Mode ist luxurierend. 4) Mode behandelt auch ihr Gegenteil als Mode und das nicht nur mit sozialem Bezug oder in zeitlicher Abfolge, sondern auch sachlich/thematisch. Auch Unmodisches kann modisch sein“ (Thiedeke 2009, S. 189).

Diese Charakterisierung der Mode soll deutlich machen, dass es der Mode nicht darum geht, zentrale Werte zu gestalten. Es geht der Mode darum, zeitlos flexibel zu bleiben und daher quasi ein Nichts als sinnhafte Orientierung anzubieten (Vgl. Thiedeke 2009, S. 190). Nur so kann es ihr gelingen, alles und nichts zu repräsentieren und alles jederzeit zu thematisieren und auf diese Weise dem Formlosen eine modische Form zu geben, die in keiner weiteren Orientierung besteht als der Aussage: Dies ist modisch, dies ist unmodisch. „Die Mode aber ist eine Kulturerscheinung. Ihr ist alles nur Zweckmäßige fremd.“ (Bovenschen 1986, S. 15). Daher gelingt es der Mode, eine Reflektion über sich zu verhindern und für sich selbst zu stehen, gerade ohne erklärt zu werden, nämlich geheimnisvoll und damit auch unangreifbar gegen jede Form von Argumenten. „Reflexionen und Reflektierende verschwinden bspw. im modischen Accessoire, das die Reflexionsarbeit abnimmt – wir müssen es nur noch ‚tragen‘. […] Was ‚in‘ ist, erscheint selbstverständlich und gerade nicht als modisch. Die Attraktivität einer Mode schwindet, wenn der Trend ‚durchdacht‘ wirkt […] Wie alle anderen Medien kann Mode nur so lange Kommunikation in ihrer Form reproduzieren, so lange das Medium selbst ‚unsichtbar‘ bleibt“ (Thiedeke 2009, S. 192, 193). Wenn über Mode gesprochen wird, verliert sie ihre Unangreifbarkeit als Medium. Ähnlich funktionieren andere Verstehensmedien wie Sprache, Buchdruck und Büchermarkt oder auch das Geld, die Thiedeke in einer Fußnote aufführt. Diese Medien

1Vgl.

zu der Unterscheidung von Erzählung und bloß erklärender Information Benjamin (1977) und zum Begriff der Aura Benjamin (1974).

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funktionieren erst dann reibungslos, wenn man vergisst oder gar nicht erst danach fragt, was dahintersteht, welche Strukturen oder Zeichensysteme oder Sinngehalte stets implizit vermittelt werden sollen.

3 Mode als Kommunikationsform: Modemythos und Zeichen der Mode „Der Begriff Mode findet sich erst seit dem 17. Jahrhundert, und zwar in der Wendung à la mode und bedeutet im Französischen soviel wie nach der gegenwärtig bevorzugten Art und Weise, also modern im Sinne von ‚zeitgemäß‘, ‚aktuell‘ und geht zurück auf den lateinischen Terminus modus, der Maß(stab), Größe, Mäßigung, Vorschrift, Regel sowie Art und Weise, aber auch Zeitmaß, Takt, Rhythmus bedeutet“ (Meinhold 2005, S. 20).

In dieser Rekonstruktion der Herkunft des Wortes Mode klingt an, dass die Mode den Rhythmus oder Takt des Lebens vorgeben möchte und auch vorgeben kann. Die Verbindung zum lateinischen modus deutet dabei an, dass die Mode einen Maßstab und damit auch einen Orientierungspunkt liefern kann, der besonders im Ausdruck „modus vitae: Lebensweise, Lebensziel“ durchscheint. „In dieser Kombination der Begriffe findet sich die Verbindung zwischen der etymologischen Verwandtschaft modus/Mode und dem auf das Lebensphilosophische abzielenden Moment in der Werbung der Mode“ (Ebd.). Es ist demzufolge vor allem die Werbung für die neuen Moden, welche Vorschriften und Regeln für das gute oder zumindest zeitgemäße und aktuelle Leben vermitteln möchte. Inwiefern die Mode und die sie anpreisende Werbesprache tatsächlich eine sinnstiftende Funktion für das Leben erfüllen, wird im Folgenden zu ermitteln sein. Bereits im 16. Jahrhundert verbindet Montaigne gedanklich die Entstehung ausgefallener Modeformen mit den Wortschöpfungsprozessen der Sprache und nimmt damit freilich nur in fragmentarischem Ansatz vorweg, was spätere Theorien über die Sprache der Mode ausarbeiteten. „So wie die Kleidung ein Zeichen von Borniertheit ist, sich durch besonders ausgefallene Aufmachung hervortun zu wollen, entspringt auch in der Sprache die Suche nach neuen Wendungen und wenig bekannten Wörtern einem zugleich kindischen und schulmeisterhaften Ehrgeiz“ (Montaigne 2005, S. 144). Montaigne plädiert in diesem Zusammenhang für eine klare Sprache und die Einfachheit von Worten, die nicht verschleiern, sondern klar die Zusammenhänge zum Ausdruck bringen. „Eine bestimmte Redeweise nachzuahmen ist derart leicht, dass ein ganzes Volk es ohne weiteres vermag; mit der Urteilskraft und dem Einfallsreichtum aber geht das nicht so schnell. Die meisten Leser meinen zu Unrecht, wenn sich ein Gewand gleich dem andren darbiete, müsste auch der gleiche Körper in beiden stecken. Doch übernehmen kann man nur Kostüm und Mantel, nicht Muskeln und Kraft“ (Ebd.).

Es kommt also nicht darauf an, lediglich eine bestimmte Sprache oder auch Modeelemente nachzuahmen. Dennoch wird in der Mode mit der Verbindung von Kleidungsstil und Eigenschaften des Trägers gearbeitet, um die Mode als Lebensstil und gleichzeitig den vorgegebenen Erwerb spezieller Tugenden über das

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Tragen von Kleidern schmackhaft zu machen. Die versprochenen Eigenschaften durch Wort und Kleid erwerben zu können erweist sich jedoch als Trugschluss. Doch genau auf diese Weise der Versprechen der Werbung soll die Mode lebendig gemacht werden und dadurch ihre Wirkung in den Köpfen der Konsumenten entfalten. So ist es häufig lediglich das Nachahmen der Modesprache und der Modezeichen aus den Journalen und Modezeitschriften, von denen sich der Konsument die Eigenschaften zu erlangen sucht, welche die Zeichen versprechen. Doch es kommt darauf an, die Sprache der Mode zu verstehen, die häufig auch darin besteht, Bedeutungszusammenhänge ohne tatsächlichen Sinn zu kreieren.

3.1 Das sprachliche Schema des Mythos „Zu Beginn muss […] festgehalten werden, dass der Mythos ein Mitteilungssystem, eine Botschaft ist. […] kein Objekt, kein Begriff […] er ist eine Weise des Bedeutens, eine Form. […] Es gibt formale Grenzen des Mythos, aber keine inhaltlichen. Alles kann also Mythos werden? Ich glaube, ja, denn das Universum ist unendlich suggestiv. […] Der geschriebene Diskurs, der Sport, aber auch die Photographie, der Film, die Reportage, Schauspiele und Reklame, all das kann Träger der mythischen Aussage sein“ (Barthes 1964, S. 85, 86).

Laut Roland Barthes gibt es demnach keine ewigen Mythen. Der Mythos ist für ihn eine Art menschliches Konstrukt, eine Wirklichkeit, die erst vom Menschen in den Stand einer Aussage erhoben wird. Diese Form der Aussage kann nun über alle Dinge, auch die Dinge des Alltags, getroffen werden, was selbst die alltäglichsten Gegebenheiten in den Stand von Mythen erheben kann. Der Mythos als Erzählung über die Dinge ist eine Weise der Bedeutungsgebung, die in bestimmter Form eine Botschaft der Dinge ausdrückt. Zwar gibt es formale Grenzen des Mythos, aber keine inhaltlichen, da nach Barthes das Universum selbst unendlich suggestiv sei. Damit will er zum Ausdruck bringen, dass die Dinge der Welt selbst von einer Bedeutungsvielfalt zeugen und somit Träger von Geschichten sind, also als Dinge bereits mythischen Charakter haben. Die Dinge des Universums erzählen Geschichten und können so in den Rang von Mythen erhoben werden. Sie sind nicht feststehende Dinge, sondern Konstrukte, Geschichten, und tragen auf diese Weise meist unbewusste Bedeutungsmuster, so dass man sie zunächst als Mythen bezeichnen könnte. Das Universum ist suggestiv und somit im eigentlichen Wortsinn beeinflussend und bestimmend, weil es nicht aus Dingen oder Materie besteht, sondern aus Botschaften und Aussagen über die Dinge, mithin aus geschichtlichen Grundlagen. „Weil alle Materialien des Mythos, seien sie darstellend oder graphisch, ein Bedeutung gebendes Bewusstsein voraussetzen, kann man unabhängig von ihrer Materie über sie reflektieren. […] Das Bild wird in dem Augenblick, da es bedeutungsvoll wird, zu einer Schrift: es hat, wie die Schrift, den Charakter des Diktums. […] Der Mythos gehört in eine Wissenschaft, die über die Linguistik hinausgeht; er gehört in die Semiologie. […] Die Semiologie ist eine Wissenschaft von den Formen, da sie Bedeutungen unabhängig von ihrem Gehalt untersucht“ (Barthes 1964, S. 87, 88).

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Die Welt ist demnach eine Ansammlung von Bedeutungen und Zeichen. Dabei besteht das Zeichensystem aus drei verschiedenen Termini. „Es gibt also das Bedeutende, das Bedeutete und das Zeichen, das die assoziative Gesamtheit der ersten beiden Termini ist. […] für Saussure […] ist das Bedeutete der Begriff, das Bedeutende ist das akustische Bild (der psychischen Ordnung zugehörig) und die Beziehung von Begriff und Bild ist das Zeichen (das Wort zum Beispiel) oder die konkrete Entität“ (Barthes 1964, S. 90, 91). Für Barthes hingegen ist es vor allem auf dem Weg zur Untersuchung des Mythos als semiologischem Schema unerlässlich, noch differenzierter zu unterscheiden. Das Zeichen „Rosenstrauch“ kann nämlich nicht mit dem Sinn „leidenschaftliche Rosen“ gleichgesetzt werden. „Rosen“ und „Leidenschaft“ sind zunächst voneinander zu trennen, sodass ein Drittes hinzugedacht werden muss als sinngebendes Zeichen. „Rosen“ als Bedeutendes und „Rosen“ als Zeichen können nicht gleichgesetzt werden (Vgl. ebd.). „Das Bedeutende ist leer, das Zeichen ist erfüllt, es ist ein Sinn“ (Barthes 1964, S. 91). Um den Mythos nun semiologisch erklären zu können, benötigt Roland Barthes dieses „dreidimensionale Schema“. Demzufolge enthält der Mythos zwei semiologische Systeme, einmal das linguistische System der Sprache, die Objektsprache genannt wird, „[…] deren sich der Mythos bedient, um sein eigenes System zu errichten – und der Mythos selbst, den ich Metasprache nenne, weil er eine zweite Sprache darstellt, in der man von der ersten spricht“ (Barthes 1964, S. 93). Der Mythos bedient sich also des semiologischen Systems erster Ordnung, bestehend aus Begriff und Bild, welches innerhalb des Mythos selbst lediglich zum Bedeutenden wird. Das Zeichen „leidenschaftlicher Rosenstrauch“ in der ersten Ordnung, was von Barthes als Endterminus des primären Systems auch „Sinn“ genannt wird, wird zum Bedeutenden im Mythos und somit zur Form des Mythos: „Aber der Mythos ist insofern ein besonderes System, als er auf einer semiologischen Kette aufbaut, die bereits vor ihm existiert; er ist ein sekundäres semiologisches System. Was im ersten System Zeichen ist (das heißt assoziatives Ganzes eines Begriffs und eines Bildes), ist einfaches Bedeutendes im zweiten. Man muss hier daran erinnern, dass die Materialien der mythischen Aussage (Sprache, Photographie, Gemälde, Plakat, Ritus, Objekt usw.), so verschieden sie auch zunächst sein mögen, sich auf die reine Funktion des Bedeutens reduzieren, sobald der Mythos sie erfasst“ (Barthes 1964, S. 92, 93).

Das Zeichen als Sinn der Sprache wird also innerhalb des mythischen Systems lediglich zur Form bzw. zum Bedeutenden, welches auf anderes verweist, nämlich das Bedeutete. Den dritten Terminus innerhalb des Mythos nennt Barthes nicht „Zeichen“, da das Bedeutende des Mythos ja bereits aus „Zeichen“ der Sprache gebildet wird. „Ich nenne den dritten Terminus des Mythos die Bedeutung. Das Wort ist hier umso mehr berechtigt, als der Mythos effektiv eine zweifache Funktion hat: er bezeichnet und zeigt an, er gibt zu verstehen und schreibt vor“ (Barthes 1964, S. 96). So schreibt der Rosenstrauch auf einem Werbeplakat oder in einer Zeitschriftenanzeige des Blumenversandhandels „Fleurop“ vor, dass Blumen zu schenken seien. Das sprachliche Zeichen der „leidenschaftlichen Rosen“ wird zum mythischen Bedeutenden des vorbildhaften, sorgenden

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„Menschen mit Gefühlen“ oder Liebhabers. Der Rosenstrauch ist dann nicht lediglich Zeichen, sondern er zeigt an und gibt zu verstehen, dass „Blumen mehr sagen als tausend Worte“ und es daher angebracht ist, Blumen bei nächster oder auch jeder Gelegenheit als besondere Form des Ausdrucks zu verwenden. Im Folgenden sollen nun die hier angedeuteten Mechanismen der Werbesprache und Modesprache präzisiert werden, um dann die Frage zu stellen, ob es sich dabei tatsächlich um Mythen handelt, wie Roland Barthes zu zeigen versucht.

3.2 Die Sprache der Mode „Im System der Mode ist das Zeichen […] arbiträr. Es wird jedes Jahr neu entwickelt, jedoch nicht von der Masse seiner Verwender (so, wie die Sprache von der ‚Masse ihrer Sprecher‘ geschaffen wird), sondern von einer exklusiven Instanz, nämlich den Modeschöpfern oder vielleicht sogar, im Falle der geschriebenen Mode, von der Zeitschriftenredaktion. […] Das Modezeichen tritt schlagartig und fertig in die Welt; es entsteht jedes Jahr neu per Dekret (dieses Jahr triumphieren die Imprimés bei den Rennen)“ (Barthes 1985, S. 221).

Die Sprache der Mode ist dieser Auffassung zufolge kein historisch gewachsenes System, das sich evolutionär weiterentwickelt und langsam aufbaut. Stattdessen ändern sich die Modezeichen sehr plötzlich und dabei zumeist willkürlich, d. h. ohne sich auf einen sinnbildenden Zusammenhang zu berufen oder einen solchen zu entwickeln. Teilweise gibt es jedoch auch in der Modesprache Zeichen, die sich in einem funktionalen Zusammenhang mit der Welt befinden. Roland Barthes spricht von der unterschiedlichen Motiviertheit der Zeichen, „[…] je nachdem, ob das Signifikat zur ‚Welt‘ gehört (A-Komplex) oder zur Mode (B-Komplex)“ (Barthes 1985, S. 223). Innerhalb von Komplex A werden die Zeichen nach der Höhe ihrer Motiviertheit erneut in drei Klassen eingeteilt. Eine funktionale Motiviertheit liegt beispielsweise bei der Aussage „Schuhe, die ideal sind zum Wandern“ vor. In dieser ersten Klasse von motivierten Zeichen „[…] bleibt die Mode in der Welt des Funktionalen, Praktischen, beinahe in der Welt der realen Kleidung. – In der zweiten Klasse ist die Motiviertheit des Zeichens viel schwächer. Wenn die Zeitschrift behauptet: Zum Abschied auf dem Bahnsteig findet dieser Pelzmantel die richtige Verwendung, so sind zwar in der Entsprechung zwischen dem schützenden Material (des Pelzes) und dem offenen und zugigen Raum (eines Bahnsteigs) Spuren von Funktionalität zu entdecken. Doch ist das Zeichen hier nur auf sehr allgemeiner Ebene motiviert, nämlich nur in dem Maße, wie eine kühle Umgebung eben nach warmer Bekleidung verlangt“ (Barthes 1985, S. 223, 224).

Über diese allgemeine Motiviertheit des Zeichens hinaus, die den wärmenden Pelz mit dem zugigen Bahnsteig in eine teils funktionale Verbindung bringt, gibt es hingegen nichts, was den Pelzmantel gegenüber einem Mantel aus anderem Material für funktional angemessener erklären könnte. Auch gibt es kein Motiv, was den Pelzmantel mit dem Bahnhof eher verbinden sollte als mit einem anderen Ort. Diese fehlende funktionale Verbindung wird in der dritten Klasse der Zeichen noch gesteigert, die als völlig unmotiviert bezeichnet werden können, da es im Beispiel

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Roland Barthes’ kein Motiv dafür gibt, „[…] warum der Plisseerock dem Alter reiferer Damen äquivalent sein sollte (Plisseerock für reifere Damen) oder warum eine natürliche oder konventionelle Affinität zwischen einem geraden Halsausschnitt und einem Tanztee in Juan-les-Pins bestehen sollte“ (Barthes 1985, S. 224). Zwar kann, wie Barthes zu zeigen versteht, dennoch eine Motiviertheit nachgewiesen werden, da ein gerader, hochgeschlossener Halsausschnitt zu einer Tanzveranstaltung in Beziehung steht, weil es sich eben nur um einen Tanztee handelt und nicht um eine Cocktailparty, aber die Motiviertheit ist hierbei noch diffuser als die Verbindung von Pelz und Bahnsteig. Völlig unmotiviert sind hingegen erst die Zeichen des B-Komplexes, die keinerlei funktionale Verbindung zur Welt haben. „Das Grundmuster der Mode wird ex nihilo erlassen, seine Zeichen sind völlig unmotiviert; diese für ein Jahr gültige Weisung wird jedoch ständig variiert, und die meisten Modeaussagen tun nichts weiter als dies“ (Barthes 1985, S. 227). Das Signifikat der Mode ist in diesem Fall völlig inhaltsleer und reine Struktur ohne weltlichen Bezug, sodass gleichsam ein selbstreferenzielles System entsteht, in dem eine Logik der Formen lediglich um sich selbst kreist. Die Form der Taschen, wie Roland Barthes an diesem Beispiel aufführt (vgl. Barthes 1985, S. 227), wird dann mit der „großen Linie“ übereinstimmen, ohne dass ein Motiv hierfür besteht und ohne dass es irgendwelche Bezüge zur Welt oder weltliche Begründungen dafür gibt. „Wegen der Verschiedenheit ihrer A- und B-Komplexe lebt die Mode in diesem doppelten Postulat: bald füllt sie ihr Signifikat mit Fragmenten der Welt und verwandelt es in eingebildete Verwendungen, Funktionen, Gründe; bald leert sie es und setzt es auf die bloße Struktur herab, die von jeder ideologischen Substanz frei ist. Ständig schwankt die Mode zwischen dem Traum von einem ‚naturalistischen‘ System (bei den A-Komplexen) und von einem ‚logischen‘ System (bei den B-Komplexen), je nachdem, ob die Zeitschrift die Signifikate der Welt vervielfacht oder vielmehr enttäuscht“ (Barthes 1985, S. 296).

Die Mode wird gerade auch dort zu einem Massenphänomen, wo sie über eine hohe Auflage von Modezeitschriften und Werbeanzeigen verbreitet wird. Die Zeitschriften vervielfachen daher die Signifikate der Welt, wobei diese zumeist „euphorisch gefärbt“ die Welt der Konsumenten darstellen, indem sie innerweltliche Funktionen z. B. aus den Bereichen Arbeit, Sport oder Ferien in Zeichen verwandeln. Auf diese Weise bedeuten sie die Welt. Bei den B-Komplexen jedoch werden die Signifikate der Welt sozusagen „enttäuscht“, sodass die Mode dann lediglich sich selbst bedeutet. „Allerdings macht die Zeitschrift den Zeichencharakter dieser Einheit nicht immer deutlich. Sie muß nicht unbedingt sagen: Das Accessoire ist der Signifikant des Signifikats Frühling; dieses Jahr sind kurze Röcke das Zeichen der Mode. Sie sagt es ganz anders: Das Accessoire macht den Frühling; dieses Jahr trägt man die Röcke kurz“ (Barthes 1985, S. 269). Das Zeichen der Mode erhält im B-Komplex, d. h. losgelöst von weltlichen, funktionalen Verknüpfungen, eine Eigengesetzlichkeit, sodass die Modesprache auf diese Weise ein unabhängiges Gesetz wird, welches festsetzt und vorschreibt. Der Frühling kommt erst, wenn die Kleider kürzer werden. Die Zeichen der Mode sind Gesetz und wer möchte schon den Frühling verpassen, indem er die falschen Kleider trägt?

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Allgemein gesprochen könnte man sagen, dass die Modezeichen mit dem Leben spielen, aber dabei zunächst wenig Spielraum dafür lassen, mit dem Gesetz der Mode umzugehen: „Da das Neue ein Zeichen des Lebens ist und Mode stets Neues mit sich bringt, wird die Mode mit dem Leben assoziiert. Semiologisch gewendet: Mode ist Signifikant des Signifikats ‚Neu‘; Signifikant und Signifikat, die Mode und das Neue, stehen für das Zeichen ‚Leben‘“ (Meinhold 2005, S. 82). Innerhalb dieser Lebensauffassung spielt sich alles zwischen dem Signifikanten „Mode“ und dem Signifikat „Neu“ ab. Leben ist aber nicht nur das Neue, wie es von der selbstgefällig gesetzgebenden Modesprache suggeriert wird. „Jede neue Mode schlägt eine Erbschaft aus und untergräbt den Zwang der vorherigen. Die Mode erlebt sich selbst als ein Recht, als das Naturrecht der Gegenwart über die Vergangenheit“ (Barthes 1985, S. 279). Sie erhebt sich auf diese Weise in den Rang des „Übermenschlichen“ und will somit zu einem „autarken Universum“ werden, in dem der Mensch verjagt wurde und keinen Platz mehr hat (vgl. Barthes 1985, S. 276, 277). „[…] sie lässt nicht im Geringsten daran denken, dass sie eine Ursache haben könnte (etwa die Modeschöpfer), sondern reduziert sich auf reine Wirkung, auf ein (im physischen und moralischen Sinne) notwendiges Ereignis. Diesen Sommer werden die Kleider aus Tussahseide sein: zu Tussahseide müssen sie werden, auf dem Wege natürlicher Kausalität und gesetzmäßiger Vernunft“ (Barthes 1985, S. 276).2 Die Modesprache spielt eine Naturgesetzlichkeit der Mode vor und möchte auf diese Weise eine eigene Welt der Mode erschaffen, gegen die es keine Argumente mehr gibt. Es sind dann lediglich Sachzwänge, denen der Mensch zu folgen hat, vor denen es kein Entrinnen mehr gibt. Diese suggestive Wirkung üben die Zeichen der Mode im Sinne des B-Komplexes aus. Die Mode wirkt in Form einer verborgenen Ordnung und versucht sich als reales Zeichen zu entziehen. Doch indem über die Zeichen der Mode gesprochen wird, wird die quasi göttliche Allmächtigkeit der Mode bereits in Frage gestellt. Das System der Mode möchte hingegen im Verborgenen arbeiten und selbst gutheißen, welche Dinge in der jeweiligen Saison mit Bedeutung versehen werden und aus diesem Grund getragen werden sollen. Im System der Mode soll ein Sinn produziert werden, der allerdings nicht hergestellt oder produziert werden kann, sodass ein Vortäuschen von Sinn stets von Neuem vollzogen werden muss. Das System der Mode bringt lediglich immer neue Bedeutungen hervor, die jedoch nichts Anderes erreichen können, als „Bedeutungsloses bedeuten zu lassen“. Die von Sinnzusammenhängen abgelöste Modesprache verweist demzufolge auf keinen verborgenen Sinn: „Bei den B-Komplexen gibt es positiv nur ein einziges Signifikat, nämlich immer und überall die Mode. Die Signifikanten sind dagegen sehr zahlreich, nämlich alle Variationen der Kleidung, die Fülle der modischen Züge. Darin zeigt sich die

2„In

der gleichen tautologischen Weise wie eine Gottheit, die ist, was sie ist, gibt sich das Sein der Mode – indem sie sich bejaht, indem sie sich benennt – unmittelbar als Gesetz“ (Barthes 1985, S. 275).

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­ konomie einer unendlichen Metapher, die die Signifikanten desselben Signifikats Ö frei variieren lässt.“ (Barthes 1985, S. 293)3 Die ständig wechselnden Signifikanten der Moden verweisen immer auf ein und dasselbe Signifikat, nämlich das Modische selbst. Was als Modeprodukt mit sinnstiftender Funktion verkauft werden soll, bewegt sich zumeist in den Kategorien „Lifestyle“ bzw. „Lebensstil“, was mit „Lebensmode“ übersetzt werden kann, die ebenfalls einem ständigen Wechsel auf der Suche nach Sinn unterliegt, ohne den Sinn zu finden. Ständig wechselnde Produkte werden als Ausdruck eines gelingenden Lebensstils oder einer optimalen Lebensmode kreiert. Das System dreht sich um sich selbst: „Mode und modische Produkte sind ein Zeichen des Lifestyles und des Lebens. Obwohl ‚Lifestyle‘ – wie in aktuellen Modemagazinen verwendet – als Stil des Konsums übersetzt werden muss, impliziert der Begriff Leben (‚life‘) und verbirgt einen Wertekosmos von Metagütern (oder ‚Wertechaos‘, denn eine Ordnung von Werten ist nicht immer der Fall), die sich der Konsument anscheinend mittels der Konsumprodukte kaufen kann. Die Jugendlichkeit, bzw. die Teilhabe an der Jugend ist nur eines dieser Metagüter“ (Meinhold 2005, S. 96).

Lebensstil muss nach Meinhold besser mit Konsumstil beschrieben werden und dieser Konsum wird angeheizt durch das ständige Sterben von älteren Produkten, die als unmodern und daher unerotisch und unangemessen deklariert werden. Was von der Lifestyle-Industrie als vorbildhafter Wertekosmos oder gar Sinn verkauft werden will, ist eine willkürliche bzw. arbiträre Ansammlung von Gütern, die als Metagüter4 pseudo-mythisch mit scheinbarem Sinn aufgeladen und dann

3Deutlich wird hier der Einfluss von Marx zum „Fetischcharakter der Ware“. „Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, alltägliches Ding. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein sehr vertrautes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. Soweit sie Gebrauchswert, ist nichts Geheimnisvolles an ihr, ob ich sie nun unter dem Gesichtspunkt betrachte, dass sie durch ihre Eigenschaften menschliche Bedürfnisse befriedigt oder diese Eigenschaften erst als Produkt menschlicher Arbeit erhält. Es ist sinnenklar, dass der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen Weise verändert. Die Form des Holzes z. B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. […] Der mystische Charakter der Ware entspringt also nicht aus ihrem Gebrauchswert. […] Dies nennen ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden […]“ (Marx 2004, S. 65–67). 4„Drei Kategorien von Metagütern tauchen in der Werbung für Mode und modische Konsumprodukte immer wieder auf und implizieren Elemente der Lebenskunst. In-Szene-Setzung, Verbesserung und Jugendlichkeit. […] 1) Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen und sucht nach Anerkennung unter Mitmenschen. Um sich Anerkennung zu verschaffen, bedient er sich der ­In-Szene-Setzung. 2) Der Mensch lebt ständig in der Absicht, sich und sein Leben in irgendeiner Form zu verbessern. Dabei betrachtet er die aktuelle Situation und seine Optionen im Komparativ. 3) Als sich mit Metaphysik beschäftigendes und nach Transzendenz fragendes Wesen, fragt der Mensch auch nach der Transzendenz des Lebens: und wird sich der Endlichkeit dessen bewusst. Daher schätzt der Mensch diejenigen Symbole, die für Gegenwärtiges, Frische und Jugend stehen“ (Meinhold 2005, S. 145).

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mit Produkten verbunden werden. Erst in der Orientierungslosigkeit durch ständig wechselnde und auch konträre Lebensstile ist eine Erhebung des sogenannten Lifestyles in den Rang von Kurzzeitorientierung möglich, die jedoch mit einem Navigieren bei ständig wechselndem Nordpol zu vergleichen ist. Der Stil des Lebens gleicht dann einem Getriebenwerden oder auch „Durchgeschleustwerden“ in immer neuen Fahrwassern. Doch worin liegt die Attraktivität der Mode und ihrer Werbung und auf welche Weise entfaltet sie ihre verführerische Kraft? Die Kraft der Verführung liegt möglicherweise in der Referenzlosigkeit der Modezeichen, die gerade nicht eindeutige Bezüge und Funktionen ausdrücken. „Uns fesseln nur die leeren, unsinnigen, absurden, elliptischen, referenzlosen Zeichen. […] den Sinn ermüden, ihn verschleißen, ihn ausmerzen, um die reine Verführungskraft des Null-Signifikanten, des leeren Begriffs zu befreien – das ist die Macht der rituellen Magie und der Zauberformel. […] ‚Diese Tür führt ins Leere‘. Wenn Sie das auf einem Schild lesen würden, könnten Sie dem Verlangen widerstehen, sie zu öffnen? […] Was arbiträr ist, ist auch mit einer totalen Notwendigkeit begabt […] gestische Zeichen ohne Referenz, deren Logik nicht die der Vermittlung ist, sondern die der Unmittelbarkeit eines jeglichen Zeichens, welches Zeichens auch immer“ (Baudrillard 1992, S. 104–106).5

Auf diese Weise wirken auch die Zeichen der Mode, besonders wie sie der B-Komplex bei Roland Barthes analysiert hat. Diese Zeichen entbehren einer weltlichen, funktionalen Verbindung. Sie sind arbiträr und stehen für sich. Dadurch verströmen sie den Zauber des Geheimnisvollen. Diese Zeichen erklären nichts und lassen sich auch nicht erklären. Dieser Absurdität und Unsinnigkeit wohnt eine Magie inne, die die Menschen in ihren Bann ziehen kann und die aufgrund von Sinnlosigkeit verführt, vielleicht aus dem Grund, weil die Sinnsuche eine anthropologische Grundweise darstellt, bei der es gerade darauf ankommt, keine unmittelbaren Antworten zu finden, sondern sich seinen Weg zu suchen oder

5„Ein

kleiner Junge bittet eine Fee, ihm seine Wünsche zu erfüllen. Die Fee nimmt unter einer einzigen Bedingung an, nämlich der, dass er niemals an die rote Farbe des Fuchsschwanzes denken darf. ‚Wenns nur das ist!‘ antwortet er unbekümmert. Und schon ist er ausgezogen, glücklich zu sein. Doch was passiert? Er schafft es nicht, sich von diesem Fuchsschwanz zu befreien, den er schon vergessen zu haben glaubte. Überall sieht er ihn zum Vorschein kommen, in seinen Gedanken und seinen Träumen, mit seiner roten Farbe. Unmöglich, ihn zu verscheuchen, trotz all seiner Bemühungen. Er ist bereits in jedem Augenblick besessen von diesem absurden und unbedeutsamen, aber zähen Bild, was noch durch den Ärger darüber verstärkt wird, es nicht loswerden zu können. […] Eine absurde Geschichte, doch von einer absoluten Wahrscheinlichkeit, denn sie lässt die Macht des insignifikanten Signifikanten zutage treten, die Macht des unsinnigen Signifikanten“ (Baudrillard 1992, S. 104, 105). Auf diese Weise arbeitet auch der Werbespot, der einerseits alle Sinne des potentiellen Konsumenten ansprechen möchte und dabei gleichzeitig über das Sinnliche, Nachvollziehbare, Zusammenhängende hinausweist, indem absurde, lächerliche, sinnlose Situationen konstruiert werden, die zunächst verwirren und irritieren sollen, um dadurch umso nachhaltiger in der Erinnerung haften zu bleiben, sei es aus Ärger vor der Absurdität oder aus Faszination über das Unbegreifliche.

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zu erspielen. Auch hier deutet sich erneut die dialektische Unbestimmtheit des Lebens an, nämlich die Suche, ohne unmittelbar finden zu können: „Eine Kraft verborgener Anziehung, die Macht eines Wunsches? Leere Begriffe. Nein: die Aufhebung der Zeichen, die Aufhebung ihres Sinns, der reine Schein. Die Augen, die verführen, haben keinen Sinn, sie erschöpfen sich im Blick. Das geschminkte Gesicht erschöpft sich in seiner Erscheinung, in der Formenstrenge einer sinnlosen Arbeit […] die Bezauberung wird bewirkt durch das, was versteckt ist. […] doch die Augen, ebenso wie die flüchtigen Erscheinungen, haben einen Reiz, und dieser Reiz besteht aus reinen, zeitlosen, duellierenden und tiefelosen Zeichen. […] Die Systeme faszinieren durch ihre Geheimlehre, die sie vor externen Logiken bewahrt. […] Der innerste Kern der Verführung ist das Angezogensein von der Leere, niemals eine Akkumulation von Zeichen noch die Botschaften des Begehrens, sondern die esoterische Komplizenschaft in der Absorption der Zeichen“ (Baudrillard 1992, S. 108, 109).

Es gibt dieser Auffassung von Verführung zufolge keine vorhandenen Kräfte, die im Verborgenen wirken und eben nur unsichtbar sind. Was stattdessen verführt, ist die Aufhebung des Sinns, die reine Oberflächlichkeit, hinter der sich eine ontologische Leere befindet. Was nicht sichtbar ist, ist das, was verzaubert. Es ist die „Anwesenheit des Nichts“, die eine Macht ausübt. Die Zeichen absorbieren den Sinn in sich und verführen dennoch, denn wer weiß schon, was sich nicht doch hinter den Zeichen verbirgt? Aus diesem Grund geht die Werbung noch einen Schritt über die Leere hinaus und macht implizit Vorschläge, welche verborgenen Schätze hinter den Oberflächen möglicherweise verborgen liegen. Die Phantasie der Konsumenten wird angeregt, ohne allzu konkret auszudrücken, wie sich die leeren Räume füllen lassen. Die Formulierung von Metagütern, die mit den Modeartikeln verbunden werden, führt den Suchenden sanft in eine Richtung, ohne den Zauber des Unbestimmten ganz aufzuheben. „Mit diesem Duft kann Dir alles passieren“ oder „Wir machen den Weg frei“ sind nur zwei Beispiele für das Spiel mit Freiheit und Abenteuer. Dennoch ist die Verbindung von Konsumprodukten, gesellschaftlichen Ausdrucksformen oder Lebensstilen mit Metagütern nicht pauschal als verführerisch oder normativ bedenklich abzuwerten. Es gilt vielmehr, die Mechanismen dieser Sprachen lesen zu lernen und mithilfe einer Hermeneutik der Lebensstile und Konsumwelten zu einer fundierten, selbstbestimmten Lebenskunst beizutragen. Auf diese Weise steigen Selbstwertgefühl und Zuversicht besonders bei jugendlichen Käufern, die doch weiterhin kaufen dürfen, die sich auch weiterhin ausdrücken und warum nicht, auch inszenieren können, die aber nicht durch Einschüchterung den kurzfristigen Orientierungsnormen ausgesetzt werden sollen.

3.3 Mythos als Pseudomythos Es liegt nahe einen Vergleich zwischen Schauspiel als Darstellung des Mythos und der Modeinszenierung zu ziehen: „Der Schauspieler ist eine Repräsentation des Todes und der Toten. Die Maske ist das Totengesicht. Die Schauspieler sind

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also die Inszenierenden einer abwesenden und abgelebten Generation. Das ist das generelle Motiv des Schauspiels, das für uns unbegreiflich ist. Das Schauspiel hat ursprünglich die Aufgabe, bei den Totenfeiern die Toten zu vergegenwärtigen“ (Grätzel 2005, S. 42). Während das Schauspiel in seiner ursprünglichen Bedeutung also die Toten vergegenwärtigen soll, scheint bei Modeinszenierungen die Lebendigkeit, die jugendliche Frische ohne Makel und Falten präsentiert zu werden. Der Betrachter möchte sich in den als perfekt dargestellten Modeträgern selbst erblicken und sein eigenes Alter, seine eigene Geschichte dadurch gerade hinter sich lassen. Durch das Tragen der auf dem Laufsteg oder dem Modephoto gezeigten Kleider möchte der Konsument auch das Gesicht der Models und die Aura der jugendlichen Frische, Unnahbarkeit oder auch Verspieltheit miterwerben. Es findet demnach bei den „Modeschauspielen“ eine Form von Reinigung (katharsis) statt, jedoch in der Weise, dass der Tod, dass das Altern verdrängt werden. Dies gleicht eher einer Form von Sterilisierung, eines Abtötens jeglicher Lebendigkeit und Gestaltung einer Kunstwelt, die eine Versöhnung und Zufriedenheit nicht aufkommen lässt. Eine Auseinandersetzung mit dem Tod und damit eine Verarbeitung von menschlicher Geschichte geschieht an dieser Stelle nicht. Aber nehmen die Modelle der Mode nicht die Position von Schauspielern ein, wenn sie auf dem Laufsteg oder einer bühnengleichen Landschaft die Moden Kostümen gleich tragen? Sind sie nicht in eine Linie zu stellen mit den Helden der griechischen Tragödie bzw. der kultischen Schauspiele, die nach Nietzsches Behauptung in der Geburt der Tragödie immer die „Verkörperung des Ur-Helden“ Dionysos sind: „Dionysos ist eine Figur, die man als einen Protagonisten verstehen kann, der die Welt der Toten mit der Welt der Lebenden verbindet, gleichsam ein Pontifex, ein Brückenbauer. Die Darstellung des Dionysos mit der Maske soll diesen Zusammenhang zum Ausdruck bringen. Er ist eine ganz ambivalente Figur, wie im Mythos überhaupt die Ambivalenz und der Widerspruch von Leben und Tod das entscheidende Thema ist. Dieser Widerspruch kann nicht auf eine einzige Weise gelöst werden, sondern bleibt offen, also tragisch. Die einzige Lösung ist die Rechtfertigung vor dem Tode, die der Held, der Protagonist der Tragödie, leistet“ (Grätzel 2005, S. 42, 43).

Sind nicht auch die Models der Mode ambivalente „Charaktere“, die den Widerspruch von Leben und Tod darstellen? Die Unnahbarkeit und geschminkte Maskenhaftigkeit umgibt sie mit einem Hauch des Unlebendigen und Überirdischen, was zugleich die Verkörperung von ewiger Lebendigkeit und Jugend ausdrücken soll. Der Begriff „Mannequin“ aus dem Französischen für Model bedeutet eigentlich „Modellpuppe“ und umschreibt bereits eine Eigenschaftslosigkeit und somit Leblosigkeit, die dennoch eine Brücke zur ewigen, lebendigen Schönheit schlagen soll. Auf diese Weise kann das Model „ohne Eigenschaften“ zur Projektionsfläche für alle möglichen Eigenschaften der Zuschauer und Konsumenten werden und ist somit als maskenhaft unlebendige Inszenierung eine Verbindung zwischen der Welt des Todes und des Lebens. Die Wünsche und Hoffnungen der Lebenden werden in ihrer Reinheit erst nach dem Absterben der menschlichen Eigenschaften präsentiert. Erst der Tod des Lebendigen, Eigenartigen ermöglicht in dieser Welt der Mode das ewige Leben.

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Eine zufrieden stellende Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichtlichkeit, mit dem eigenen Altern, findet bei dieser Form des Schauspiels jedoch nicht statt. Der Ur-Konflikt des Lebens in der Auseinandersetzung von Leben und Tod wird in der Mode explizit nicht ausgetragen, sodass man nicht von einem Mythos Mode sprechen kann. Die Ur-Schuld des Menschen, als „schuldlose Schuld“ (vgl. Grätzel 2005, S. 45) der Abhängigkeit von Geschichte und Geschichten findet in der Mode- und Alltagswelt keine Beachtung, sodass der Begriff „Mythen des Alltags“ von Roland Barthes kritisch zu beurteilen ist. Der Mythos wird von Barthes als rhetorisches System behandelt, welches über das System der Mode im Besonderen als sogenannter Modemythos auf die Alltagswirklichkeit einwirkt. Doch die von Barthes so bezeichneten Mythen des Alltags sind gerade keine Mythen im eigentlichen Sinn, da ihre Zeichen ständig verändert werden müssen (vgl. Grätzel 2005, S. 102). Doch auch wenn die Zeichen der Mode nach der Art des Mythos wirken, sind sie noch keine Mythologien. Auch wenn die Form der Mode überzeitlich ist wie der Mythos, sind Moden noch keine Mythen, da sie ständig ihre Inhalte wandeln. Zwar wirken die Zeichen der Mode auch nach Art des Mythos über Erzählungen und Darstellungen, aber die Inhalte sind gerade keine zeitlosen Geschichten, die das Leben in seiner Ganzheit betreffen und sich mit dem Urkonflikt des Lebens angesichts des Todes thematisch auseinandersetzen. Ein Mythos ist dieses System deshalb nicht, weil sich das Modesystem nicht mit den Ursprungsgründen befasst, sondern neue Gründe erfindet, was über die Naturalisierung und Pseudorationalisierung der Modezeichen geschieht. „Die Mode weist neue Welten aus, in denen nicht nur die Funktionalität, sondern auch der Lebensstil maßgeblich ist. Die Mode verwandelt hierbei Zeichen in Gründe. Das nennt Barthes ‚Transformation‘ […]. Wer dieses oder jenes Produkt besitzt, dem öffnen sich alle Türen, der wird sein Leben verbessern und verschönern. Das Produkt wird zum Grund dieser Neuerschließung und neuen Bedeutung von Welt“ (Grätzel 2005, S. 103, 104).

Die Modezeichen zeigen demnach nur eine Pseudofunktionaliät an, doch müssen diese Zeichen ständig ausgetauscht werden, um ihre Pseudofunktion zu überdecken und auf diese Weise ihre Beliebigkeit zu überspielen (vgl. Grätzel 2005, S. 111). Diese Beliebigkeit der Zeichen besteht bei den echten Mythen nicht. Der Mythos ist aber trotz seiner Dauerhaftigkeit kein starres System, da er in der Auslegung der jeweiligen Zeit stets eigenständig interpretiert wird und daher ein lebendes System ist, welches in den Köpfen der „Nachfahren“ fortlebt und sich dort auch weiterentwickelt. Trotz des schnellen Wandels des Modesystems, welches Lebendigkeit vorspielt, erweist sich dieses System eher als totes System, welches wenig Spielraum für Interpretationen lässt und die Bedeutung der Zeichen über konstruierte Pseudofunktionalitäten vorschreibt. Möglicherweise kann es dennoch gelingen, einen spielerischen Umgang mit den Modezeichen über eine hermeneutische Aufklärung dieser Zusammenhänge hervorzurufen, indem die oktroyierten Gründe für diesen oder jenen Lebensstil wieder zu Ergründungen durch einen identitätsorientierten Umgang mit Mode in Form von philosophischer Lebenskunst umgestaltet werden, ohne dem Modediktat verfallen zu müssen.

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Literatur Barthes, Roland. 1964. Mythen des Alltags. Übers.: Helmut Scheffel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Barthes, Roland. 1985. Die Sprache der Mode. Übers.: Horst Brühmann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Baudrillard, Jean. 1992. Von der Verführung. München: EA Berlin. Benjamin, Walter. 1974. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In Gesammelte Schriften, Bd. I/2, Hrsg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Suhrkamp: Frankfurt a. M. Benjamin, Walter. 1977. Der Erzähler Betrachtungen zum Werk Nikolai Leskovs. In Gesammelte Schriften, vol. II/2, Hrsg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Suhrkamp: Frankfurt a. M. Bovenschen, Silvia. 1986. „Über die Listen der Mode“. In Die Listen der Mode, Hrsg. Silvia Bovenschen, 10–33. Frankfurt a.M. Grätzel, Stephan. 2005. Die Masken des Dionysos: Vorlesungen zu „Philosophie und Mythologie“. London: Turnshare. Koether, Jutta. 2004. Alles in Allem: Ein Interview mit Karl Lagerfeld. Texte zur Kunst 15 (56): 33–43. Marx, Karl. 2004. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Ungekürzte Ausgabe nach der 2. Aufl. Paderborn: Voltmedia (Erstveröffentlichung 1872). Meinhold, Roman. 2005. Der Mode-Mythos: Lifestyle als Lebenskunst: ­Philosophisch-anthropologische Implikationen der Mode. Würzburg: Königshausen & Neumann. Montaigne, Michel. 2005. Von der Kunst, das Leben zu lieben. Übersetzt, ausgewählt und herausgegeben von Hans Stilett. München (Erstveröffentlichung 1588). Thiedeke, Udo. 2009. Nur der zuletzt empfundene Eindruck ist wichtig: Mode als paradoxes Reflexionsmedium. In Theatralisierung der Gesellschaft. Soziologische Theorie und Zeitdiagnose, Bd. 1, Hrsg. Willems Herbert, 183–203. Wiesbaden: Springer VS.

Filmwelten – Konzeptionelle Grundlegung einer Didaktik des Films im Philosophieunterricht Claudia Gockel

Film bzw. das Filmische ist heute gegenwärtiger denn je. Für Kinder und Jugendliche zählen Film und Kino zu den populärsten Freizeitbeschäftigungen. Noch vor dem Lesen lernen die meisten Kinder heutzutage, den Fernsehapparat zu bedienen und Filme zu rezipieren bzw. (oberflächlich) zu verstehen. Der Besitz sowie das Herstellen von Film(ch)en gehen für die heutige Schülerinnen- und Schülergeneration mit kaum nennenswertem Aufwand einher. Fast jeder Schüler und jede Schülerin besitzt ein film- und fotofähiges Handy, stellt selbstgedrehte Filme online1 oder rezipiert den neuesten (Action-)Film auf dem heimischen Fernseher. Jugendliche wachsen seit Jahren in einem von stehenden und bewegten Bildern überfluteten Alltag auf (vgl. Ernst 2000, S. 19). Im Vordergrund steht hierbei allerdings oftmals ein exzessiver Konsum – per Fernbedienung und Menüfolgen wird durch Szenen, Sender, Programme und verschiedenste Inhalte ‚gezappt‘. Schaut man genauer hin, so wird oftmals deutlich, dass es sich bei vielen Schülerinnen und Schüler um „medienverwahrloste Medienexperten“ (Schuchardt 2006, S. 58) handelt.2 Angesichts dieser Kultur des ‚Zappings‘ fehlt

1Vgl. in diesem Zusammenhang z. B. die enorme Expansion von Online-Video-Portalen wie youtube.com oder vimeo.com. 2Was in der Wortwahl wie ein Paradox klingt, bildet in Wirklichkeit die Realität ab. Kinder und Jugendliche sind Experten, was die Techniken angeht und „stecken“ so Eltern und Lehrer „in die Tasche“. Sie können mit rasanter Geschwindigkeit SMS schreiben, sie programmieren ihren MP3-Player und können die diversen Funktionen neuer Handys bedienen. Sie können parallel mehrere Medienaktivitäten nutzen; sie können am Wochenende acht bis zehn Spielfilme auf DVD – z. T. im Schnelldurchgang, wenn es vermeintlich langweilig wird – konsumieren (ebd.).

C. Gockel (*)  Johann-Gottfried-Herder-Gymnasium Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Thein, Philosophische Bildung und Didaktik, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_17

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vielen Schülerinnen und Schülern häufig eine grundlegende ästhetische Alphabetisierung, welche den spezifischen Eigenwert des Mediums Film erkennt und hinterfragt sowie Filme auf ihre besondere Wirkung hin reflektiert. Ausgehend von diesem Befund verstehen sich die nachfolgenden Ausführungen als Plädoyer für einen verstärkten Einsatz des Mediums Film im Philosophieunterricht, welcher auf den (engen) Zusammenhang von Film und Philosophie Bezug nimmt, den spezifischen Wert des Mediums Film für den unterrichtlichen Prozess fruchtbar macht und dabei zugleich gewinnbringend an die Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler anknüpft. Gerade wegen ihres ausgiebigen Konsums bewegter Bilder bringen Kinder und Jugendliche in der Regel sehr viel Erfahrung im Umgang mit Filmen mit und besitzen eine grundsätzliche Aufgeschlossenheit gegenüber dem Medium, an die es anzuknüpfen gilt. Ausgangspunkt für sämtliche Ausführungen ist der von Bergala begründete filmdidaktische Ansatz, welcher Film in seinem Eigenwert, mit seinen eigenen Fragen und Aussagen, wahrnimmt und somit ‚ernst‘ nimmt. Ein solches Verständnis von Film als Kunst begreift Film als „gutes Objekt“, das es „lieben zu lernen“ gilt (Bergala 2006, S. 11). Dabei gilt mit einem positiven Vorurteil zu prüfen, unter welchen Voraussetzungen der Film zu einem prägenden Medium für den Unterricht gemacht werden kann, sodass eine Pädagogik hervortritt, welche auf Beobachtung, Sensibilität und den künstlerischen Schaffensprozess ausgerichtet ist: „Ziel kann und darf es nicht sein, Filme analytisch zu zerreden und interpretatorisch zugrunde zu richten. Stattdessen steht eine Sensibilisierung der Wahrnehmung im Mittelpunkt. Nur wer aufmerksam beobachten kann, wer Bildbotschaften nicht als eindeutig und allgemeinverständlich ansieht, sondern als eigenständige Werke, die eine andere Qualität besitzen als schriftsprachliche Texte und dementsprechend auch andere didaktische Mittel erforderlich machen, wird die vielschichtigen und ästhetischen Facetten eines […] Films erkennen können.“ (Bergala 2006, S. 8).

Im Mittelpunkt des philosophieunterrichtlichen Lehr- und Lernprozesses steht dementsprechend eine Auseinandersetzung mit Film, welche die Besonderheiten des Mediums aufgreift und eine Arbeit mit Filmen anstrebt, welche weniger klassisch-analytisch als vielmehr schöpferisch-produktiv verfährt. Von Bedeutung ist hierbei eine (genuin philosophische) Such- und Denkbewegung während des Betrachtens von Filmen bzw. Filmausschnitten, welche Filme nicht als bloß illustratives Material begreift, die vor allem zum Philosophieren hinführen bzw. Anschauungsmaterial für philosophische Probleme geben soll und die Spezifika des Films – und ihre damit verbundene, besondere Relevanz im Kontext philosophischer Fragestellungen – schnell aus den Augen verliert.3

3In

der einfachsten Weise ist dies dann der Fall, wenn etwa der Spielfilm ‚Matrix‘ (1999) der Geschwister Wachowski im Rahmen des unterrichtlichen Einsatzes lediglich das bewegte Bild zum erkenntnistheoretischen Skeptizismus liefern soll. Ein Rekurs auf eine solchermaßen mehr oder weniger explizite Präsentation von Philosophie lässt sich in vielen Auseinandersetzungen mit dem Medium Film nachweisen. Wie dargelegt, dienen Filme in diesem Kontext in der Regel lediglich als didaktisches Hilfsmittel zur Einführung in philosophische Probleme bzw. deren Veranschaulichung und werden dabei weitgehend auf ihre Story reduziert. Mit der Ästhetik fehlt dabei eben jene Disziplin, die etwas über den Eigenwert des Mediums selbst zu sagen hat.

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1 Das Wesen des Films Um die Spezifika des Mediums Film betrachten und die Frage Was ist Film? beantworten zu können, muss zunächst erläutert werden, was unter dem Begriff ‚Film‘ zu verstehen ist. In Anlehnung an die Ausführungen von Conant wird unter Film, im Sinne von ‚movie‘, im Folgenden der Typus des narrativen, fotografischen Films verstanden (vgl. Conant 2006, S. 88).4 Im Vordergrund stehen also Filme, die zum einen eine Geschichte erzählen und zum anderen ihren Ursprung im fotografischen Medium des Films haben, d. h. durch eine Filmkamera aufgenommen wurden.5 Welches sind nun genau die Besonderheiten des Films, die es ihm erlauben, als eigene Kunstform, neben Theater, Malerei oder Literatur, aufzutreten?6 Zur Beantwortung dieser Frage soll zunächst kurz auf die historischen Anfänge des Films eingegangen werden. Der Beginn der Filmgeschichte wird in der Regel auf das Jahr 1895 datiert. In diesem Jahr entwickelten die Gebrüder Lumière den Kinematographen und präsentierten dessen Leistungen erstmals einem breiteren Publikum. Der Kinematograph (wörtlich ‚Bewegungsschreiber‘) diente gleichzeitig als Kamera, als Kopiervorrichtung von Negativ zu Positiv und als Projektor. Grundlage war die bereits einige Jahrzehnte zuvor entwickelte Fotografie, welche auch heute noch den elementarsten Baustein des Mediums Film ausmacht. Seit den Anfängen des Films besteht der wesentliche Unterschied von Film und Fotografie jedoch in dem Gegensatz von Standbild und Bewegungsbild. Im Kino werden 24 Einzelbilder pro Sekunde auf die Leinwand projiziert und durch die rasche Abfolge entsteht die Illusion einer kontinuierlichen Bewegung. Diese Eigenart des filmischen Bildes als bewegtes Bild bildet eines der wesentlichen Merkmale von Film. Sich einen Film anzuschauen bedeutet jedoch nicht, eine Serie von Bildern gleichsam

4Hierdurch erfolgt eine Abgrenzung zu Film (‚film‘) im Allgemeinen, worunter alle Arten des Films – also auch Nachrichtenmagazine, bestimmte Formen des Dokumentarfilms oder Privatfilme – gefasst werden. 5Nicht in den Blick genommen werden somit Zeichentrickfilme und andere Formen animierter Filme. Der Einfachheit halber werden die Begriffe ‚Film‘ und ‚Spielfilm‘, anknüpfend an die vorausgegangenen Überlegungen, im Weiteren synonym verwendet. 6Da im Rahmen des vorliegenden Beitrags nur ansatzweise auf die umfangreiche (­Kunst-) Theorie des Films eingegangen werden kann, soll an dieser Stelle der Verweis auf drei Theoretiker erfolgen, die mit ihren Arbeiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts maßgeblich zu der Verbreitung und Akzeptanz von Film als Kunst beigetragen haben: Hugo Münsterberg (1863– 1916), Béla Balázs (1884–1949) und Rudolf Arnheim (1904–2007). Auszüge aus den in diesem Zusammenhang wegweisenden Texten der genannten Autoren finden sich z. B. in: Albersmeier, ­Franz-Josef (Hrsg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart 52003 und Liebsch, Dimitri (Hrsg.): Philosophie des Films. Grundlagentexte. Paderborn 32010. Eine allgemeine und gut verständliche Einführung in die Theorie des Films bietet darüber hinaus Monaco (vgl. Monaco, James: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Neuen Medien. Reinbek 2009).

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unbeteiligt an sich vorüberziehen zu lassen. Während der Film von einer Aufnahme zur nächsten übergeht, muss der Zuschauer vielmehr in der Lage sein, die aufeinanderfolgenden Aufnahmen als Einheit anzuerkennen. Vermittelt wird dabei eine spezifische Filmwelt, in die der Rezipient ‚eintaucht‘ und welche ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Das schöpferische resp. künstlerische Potential des Films besteht somit darin, ein bewegtes Bild hervorzubringen bzw. zu ‚formen‘, welches eine Realität eigener Art und eigener Berechtigung darstellt: „Es ist niemals Zweck der Kunst, die Natur einfach nachzuahmen. Das Gemälde würde nicht besser, wenn die gemalten Blumen dufteten. Es liegt im eigentlichen Wesen der Kunst, sich mit dem Anspruch der Wirklichkeit an uns zu wenden und doch von der wirklichen Natur und dem wirklichen Leben völlig verschieden zu bleiben, davon abgehoben durch die künstlerischen Mittel.“ (Münsterberg [1915] 2010, S. 28). Da die filmische Struktur eine Struktur der Folge ist, setzt die schöpferische Arbeit, wie Deren einleuchtend darlegt (vgl. Deren 1984, S. 69 f.), bei der zeitlichen Dimension des Films an. Anhand von Rückblenden, Zeitraffung, Parallelaktionen etc. wird mithilfe der Montage eine eigene Zeitlichkeit geschaffen, welche in der Regel konträr zur realen Zeit auftritt. Die zeitliche Dimension wird in der Folge durch die räumliche ergänzt. Die Art der zeitlichen und räumlichen Bezüge geht dabei in die organische Struktur eines Films ein und fordert den Rezipienten zu deren Akzeptanz und Nachvollzug auf. Hier sind etwa die Ausweitung des Raumes durch die Zeit und die Ausweitung der Zeit durch den Raum zu nennen.7 Auch können neue Bezüge zwischen verschiedenen Zeitpunkten, Orten und Personen gestiftet werden. Mehrere weit auseinanderliegende Orte lassen sich dabei nicht nur in Beziehung setzen, sondern können sogar miteinander verschmolzen werden, sofern eine kontinuierliche Identität der Bewegung gegeben ist, etwa wenn eine Geste zunächst an einem Schauplatz beginnt und in der Folge an einem ganz anderen zu Ende gebracht wird. Im Vergleich zu anderen Künsten tritt darüber hinaus ein weiteres, wesentliches Element des Films zu Tage – seine ästhetische Suggestivkraft. Wie u. a. Recki konstatiert, ist es vor allem diese Kraft der Suggestion, die das bewegte Bild erzeugt und den Film von allen anderen Künsten fundamental unterscheidet (vgl. Recki 2004, S. 71). Das Kino- bzw. Filmbild hat dabei die Qualität, somatische Erlebnisse zu initiieren. Als ‚Verbundmedium‘, welches Bilder, Sprache, Musik und Geräusche miteinander verknüpft, ermöglicht es dem Rezipienten ein sinnliches Gesamterleben:

7Deren

führt an dieser Stelle das Beispiel der Länge einer Treppe an: Diese kann enorm gedehnt werden, wenn verschiedene Einstellungen der Person, die hochsteigt (aus verschiedenen Winkeln aufgenommen), so zusammengeschnitten sind, dass die Handlung kontinuierlich erscheint. Das Ergebnis ist ein Bild anhaltender Anstrengung, um ein hohes Ziel zu erreichen (vgl. Deren 1984, S. 69). Richter spricht in diesem Zusammenhang von ‚filmischer Zeit‘ und ‚filmischem Raum‘ (vgl. Richter 1981, S. 28).

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„Die bewegliche Kamera nimmt mein Auge, und damit mein Bewusstsein, mit: mitten in das Bild, mitten in den Spielraum der Handlung hinein. Ich sehe nichts von außen. Ich sehe alles so, wie die handelnden Personen es sehen müssen. Ich bin umzingelt von den Gestalten des Films und dadurch verwickelt in seine Handlung. Ich gehe mit, ich fahre mit, ich stürze mit – obwohl ich körperlich auf demselben Platz sitzen bleibe.“ (Balázs in Albersmeier 2003, S. 212).

Daran anknüpfend tritt ein weiteres konstitutives Merkmal des Films hervor: die Möglichkeit der Identifikation mit den handelnden Personen der jeweiligen Filmwelt. Dazu konstatiert wiederum Balázs: „Der Zuschauer im Kino sieht die Figuren der Filmhandlung nicht vom Sessel aus, auf dem er sitzt. Er sieht Romeo vom Balkon der Julia aus. Er sieht ihn zu sich heraufblicken. Und er sieht im nächsten Augenblick Julia auf dem Balkon von unten, mit den Augen Romeos. Durch die ständig wechselnden Einstellungen (Perspektiven) ist dieses Wunder möglich: dass mein Blick (und mit ihm mein Bewusstsein) sich mit den Personen des Films identifiziert. Ich sehe das, was sie von ihrem Standpunkt aus sehen. Ich selbst habe keinen. Und ist es im Film nicht sehr oft so, dass einer dem anderen in die Augen sieht und doch mir, dem Zuschauer, von der Leinwand herunter ins Auge blickt? Ja, denn mein Auge sitzt in der Kamera.“ (Balázs in Albersmeier 2003, S. 213)

Eine solche Identifikation des Menschen mit der handelnden Person kann zwar des Öfteren auch in der Literatur suggeriert werden, dort aber nicht „mit allen und nicht in ständigem Wechsel“ (ebd., S. 214). Die Kamera identifiziert den Zuschauer somit nicht nur räumlich, sondern auch gefühlsmäßig mit den Personen des Films: „Was dem Beteiligten verhasst ist, erscheint auch uns hässlich. Was ihm lieb ist, erscheint auch uns schön. Alles, was das Gefühl einer Person in die andere hineinsieht, holt die Kamera durch subjektive Einstellung heraus. Nicht nur einzelne Gegenstände – jeder Ort, jede Straße, jedes Zimmer hat Physiognomie.“ (ebd., S. 220). Auch wenn im Rahmen des vorliegenden Beitrags lediglich Streifzüge durch die umfangreiche Theorie und Geschichte des Films unternommen werden können, sollte an dieser Stelle deutlich geworden sein, worin der besondere Eigenwert resp. das Wesen des Films besteht. Der Film tritt als ein Medium hervor, das maßgeblich auf dem Bewegungsbild aufbaut und darüber hinaus zu einer besonderen Emotionalisierung der Rezipienten beiträgt. Gerade diese Spezifika grenzen ihn von anderen Künsten ab und sollten im Rahmen der unterrichtlichen Arbeit mit Film unbedingt zum Tragen kommen.

2 Film als Philosophie Im Anschluss an die Ausführungen über das Wesen des Films stellt sich in einem nächsten Schritt die Frage nach der Verbindung von Film und Philosophie: Welche Aspekte von Film lassen sich philosophisch verhandeln bzw. welche Schnittmengen bieten Film und Philosophie?

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Rekurrierend auf die Ausführungen Kensmanns lässt sich als grundlegende Gemeinsamkeit von Philosophie und Film zunächst das ‚Staunen‘ hervorheben, welches bereits Aristoteles als Ausgangspunkt allen Philosophierens anführt: „Durch das Staunen [Hervorhebung C.G.] haben die Menschen jetzt wie auch zuerst zu philosophieren begonnen: Sie staunten anfangs über das Unerklärliche, das ihnen vor die Hände kam, dann gingen sie von Geringem zu Größerem voran […].“ (Aristoteles, zitiert in: Kensmann 2005, S. 139). Auch das im Spielfilm aufgenommene, bewegte Bild veranlasst den Zuschauer zum ‚Staunen‘ über die gezeigte Wirklichkeit und ruft in der Folge ein ‚Begreifenwollen‘ der dargebotenen (Film-)Welt hervor (vgl. Kensmann 2005, S. 140). Philosophisch an einen Film heranzugehen, beinhaltet das Erschließen beziehungsreicher neuer Bedeutungen, gerade indem das ‚Staunen‘ die Bestimmung von Einzelbedeutungen und Gesamtzusammenhängen anregt und in der Folge „den Prozess des Erkennens trägt und weitertreibt“ (Kensmann 2005, S. 147). Betrachtet man nun den Ansatz von Film als Philosophie genauer, so tritt der Spielfilm, wie bereits dargelegt, als Realität eigener Art und Berechtigung auf. Im Hinblick auf eine genuin philosophische Betrachtung von Film stellt sich somit vor allem die Frage nach der Wirklichkeit (des Films bzw. der Filmwelt) im Kontext weiterer wahrnehmungs- und erkenntnistheoretischer Fragestellungen. Durch die Kamera entsteht ein Bild von der Realität, das in vielerlei Hinsicht einzigartig ist (vgl. Deren 1984, S. 65).8 Im Anschluss an die Frage nach dem Verhältnis von den tatsächlichen Dingen – „den Originalen, die jetzt in der Projektion für uns abwesend [sind]“ – und ihren Projektionen im Film – „den neuen Originalen, die zu Licht geworden, jetzt für uns anwesend sind“ (Cavell 2010, S. 100) – kommt Cavell zu dem Ergebnis, dass „aus einem Etwas ein anderes Etwas“ (ebd.) entsteht, welches jedoch nicht entlang des Gegensatzes ‚tatsächlich vs. imaginär‘ erfasst werden darf: „Es ist eine armselige Vorstellung von Phantasie, die die Phantasie in eine Welt jenseits der Realität versetzt, in eine Welt, die deutlich ihre Nichtrealität zeigt. Phantasie ist genau das, womit Realität verwechselt werden kann.“ (Cavell 2010, S. 104). Auch wenn das Medium Film eine hohe Annäherungsmöglichkeit an die Wirklichkeit bietet – bis hin zu der von Cavell skizzierten Möglichkeit der Verwechselung ‚filmischer‘ und ‚tatsächlicher‘ Wirklichkeit – können Filme jedoch schon deshalb nicht die (tatsächliche) Wirklichkeit wiedergeben, weil auch hier die verschiedenen Einschränkungen gelten, die schon für die nicht-mediale,

8Laut

Deren bezeugt das aufgenommene Bild nicht nur die Existenz der spezifischen, fotografierten bzw. gefilmten Realität, sondern es ist auch das Äquivalent dieser Realität. Diese Äquivalenz jedoch – und dieser Aspekt ist von zentraler Bedeutung – hat nichts mit der fotografischen Wirklichkeitstreue zu tun, sondern liegt vielmehr auf einer anderen Ebene. Das erschaffene, geformte Bild, welches eben eine Realität eigener Art und Berechtigung darstellt, markiert einen Gegensatz zu dem tatsächlichen Objekt in der Realität – so wie die Fotografie eines Pferdes nicht das Pferd selbst ist oder ein Gemälde grundsätzlich einem Pferd nicht gleicht, sondern lediglich einem geistigen Konzept ähnelt, das seinerseits einem Pferd ähneln mag (vgl. ebd.).

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direkte Erfassung der Wirklichkeit zutreffen (vgl. Doelker 1979, S. 21 ff.).9 Allem voran erfährt die über fünf Sinne erfassbare Welt durch die filmische Umsetzung eine Reduktion auf ein visuelles und auditives Wahrnehmungsfeld.10 Die filmische resp. fiktionale Wirklichkeit des Spielfilms wurzelt zwar zunächst, wie Doelker befindet, „im Erdreich des Faktischen“ (Doelker 1979, S. 90). Durch die Imagination kommt jedoch zu der vorgefundenen Wirklichkeit in der Regel eine erfundene Wirklichkeit hinzu oder setzt sich an deren Stelle. Obwohl filmische resp. fiktionale Wirklichkeit reale Objekte und Vorkommnisse zum Ausgangspunkt nimmt bzw. nehmen kann, ist es daher oftmals unangemessen, hinterher einen Rückbezug herstellen zu wollen: „Die entscheidende Besonderheit der fiktionalen Kommunikationssituation liegt darin, dass der Rezipient nicht nur keine direkte, sondern überhaupt keine eindeutige Beziehung zwischen der dargestellten Sachlage und wirklichen Sachverhalten herstellen soll. […] Er ist vielmehr frei, verschiedene Relationen zwischen dargestellten Sachlagen und wirklichen Sachverhalten durchzuspielen.“ (Gumbrecht, zitiert in Doelker 1979, S. 94). Gleichwohl konstatiert Doelker, dass die filmische Realität trotz ihrer Eigengesetzlichkeit und Autonomie nicht ohne Bezug zur Wirklichkeit auskommt.11 Er unterscheidet hier zwischen den drei Wirklichkeitsbezügen der Anlehnung, Typisierung und Verfremdung. Im Hinblick auf das Prinzip der Anlehnung ergibt sich demzufolge, dass sich das dargestellte Geschehen im Film so abspielt, wie es sich in der tatsächlichen Welt zutragen könnte oder zugetragen hat. Das Prinzip der Typisierung verfolgt demgegenüber einen Weg der ‚Entschlackung‘. Die Darstellung der Wirklichkeit soll dabei von unwesentlichen Nebenelementen gereinigt werden und durch Überhöhung eine Aussage von allgemeiner Gültigkeit formulieren.12 Helden und Bösewichte treten so z. B. als Figuren mit ­deutlicher

9So verfährt die menschliche Wahrnehmung z. B. notwendigerweise selektiv, da in einem konkreten Moment nur dasjenige ausgewählt wird, was uns bedeutungsvoll erscheint. Wahrnehmung wird zudem durch weitere Faktoren, wie Gemütszustände, individuelle Erfahrungen, kulturelle oder berufliche Hintergründe, beeinflusst. 10Einschränkungen ergeben sich zudem aufgrund der Verschiebung des dreidimensionalen Raumes zur zweidimensionalen Fläche. Eine spontane Zugänglichkeit zum Objekt ist so nicht mehr möglich. Der Betrachter kann beispielsweise nicht mehr um den Gegenstand herumgehen. Ein Objekt oder Ereignis kann immer nur von einem bestimmten Standort (und damit Standpunkt) aus, mit einem gewissen Blickwinkel und damit einer bestimmten Sehweise (Perspektive) erfasst werden. Dasselbe gilt für die Einstellungsgrößen, Totale bis Großaufnahme, die bei der natürlichen Wahrnehmung als gleitende Übergänge erfahren werden. Außerdem fixieren filmische Medien eine bestimmte Wirklichkeit zu einer bestimmten Zeit. Diese Fixierung schließt andere Betrachtungsweisen aus und lässt die aufgezeichnete Wirklichkeit unvermeidbar der Vergangenheit angehören (vgl. Doelker 1979, S. 64 ff.). 11Dieses Phänomen bezeichnet Doelker als „Konnex mit der Realität“ (Doelker 1979, S. 97). 12Im Bereich literarischer Texte kann als Beispiel hierfür die Gattung der Fabel angeführt werden. Hier treten Tiere entlang bestimmter Typisierungen (z. B. der schlaue Fuchs oder der dumme Esel) auf.

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Kennzeichnung bzw. Überzeichnung auf und fundieren dabei oftmals ganze Gattungen.13 Mit dem Prinzip der Verfremdung soll schließlich ein Absetzen von der bekannten Realität erreicht werden. Die Richtschnur ist dabei die „Lust am Unwahrscheinlichen“ (Doelker 1979, S. 109) – Gesetze der Wirklichkeit, wie Schwerkraft oder Körperlichkeit, werden aufgehoben. Bedeutsam ist hier, dass sich die drei genannten Prinzipien des Realitätsbezugs gegenseitig nicht ausschließen, sondern oftmals vielmehr ineinandergreifen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich, ausgehend von der Anerkennung des Films als „autonome[ ] Kunst“ (Koch 2004, S. 52), verschiedene Schnittmengen zwischen Philosophie und Film ergeben. Rekurrierend auf die spezifische Eigenart des Mediums dominieren, gemäß den relevanten philosophischen Subdisziplinen, insbesondere erkenntnistheoretische, ontologische und ästhetische Fragestellungen.14 Wie dargelegt, stellen Filme in ihrer projizierten ästhetischen Illusion je eigene Welten vor, „die zwar in einer mimetischen Beziehung zur vorfilmischen Welt stehen, aber in keinem Abbildungsansinnen“ (Koch 2004, S. 58). Illusionsbildung im und durch Film wird in diesem Zusammenhang – betrachtet man die neueren Ergebnisse der filmtheoretischen (philosophischen) Forschung – nicht länger als ‚Täuschungskategorie‘ disqualifiziert, sondern als eigenes, ästhetisches Wahrnehmungsfeld hervorgehoben (vgl. Koch und Voss 2006, S. 86).

3 Filme im Philosophieunterricht Auf der Grundlage der bisherigen Ausführungen über das Wesen und die Spezifika des Mediums Film im Kontext philosophischer Fragestellungen und Gegenstandsbereiche stellt sich abschließend die Frage nach konkreten Einsatzmöglichkeiten von Filmen im Philosophieunterricht. Unter Bezug auf die Richtlinien und Lehrpläne des Faches Philosophie – und mit Blick auf den angestrebten Kompetenzerwerb der Schülerinnen und Schüler – steht zunächst eine Sensibilisierung der Wahrnehmung im Vordergrund.15 Hinsichtlich der – eingangs skizzierten – gewünschten ästhetischen Alphabetisierung der Schülerinnen und Schüler lautet einer der grundlegenden Vorgänge, vor dessen Hintergrund sich ein verantwortungsvolles Unterrichtsgeschehen in philosophischer Hinsicht erst ­entfalten

13Beispiele

hierfür sind die klassischen Western- oder Agentenfilme. ergeben sich Fragen hinsichtlich der Verschränkung von Emotion und Kognition, unter Berücksichtigung der spezifischen Wirkung des Filmischen auf den Rezipienten (vgl. die oben skizzierte starke Suggestivkraft des Mediums) sowie nach dem filmischen Umgang mit Zeit und Raum. 15Dementsprechend bietet sich etwa eine Verankerung im Inhaltsfeld 2 „Menschliche Erkenntnis und ihre Grenzen“ (Kernlehrplan Philosophie für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen) bzw. im Themenblock I „Grundfragen der Philosophie der Erkenntnis“ (Lehrplan Philosophie Rheinland-Pfalz) an. 14Beispielsweise

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kann, ‚Sehen lernen!‘ (vgl. hierzu Kirsner 2006, S. 148). Ziel ist es dabei, den Schülerinnen und Schülern zu einer differenzierten und reflektierten Wahrnehmungsfähigkeit, gerade im Hinblick auf die spezifische Wirk- und Suggestivkraft von Filmen, zu verhelfen.16 Gemäß den (unterrichtlichen) Prinzipien der Exemplarität und didaktischen Reduktion empfiehlt sich an dieser Stelle beispielsweise der Einsatz von Material ‚der ersten Stunde‘ – z. B. einer der ersten Stummfilme der Gebrüder Lumière von 1895 – und/oder Filmausschnitten. Eine solche ‚Pädagogik des Fragments‘ birgt den Vorteil der „Verdichtung und Frische, durch die sich die Bilder dauerhafter und genauer ins Gedächtnis einprägen“ (Bergala 2006, S. 86). Durch den Einsatz ‚anderer‘ Filme, welche den Schülerinnen und Schülern oftmals unbekannt sind, kann zudem nicht nur Filmgeschichte (auszugsweise) vermittelt werden, sondern es lassen sich auch konstitutive Merkmale des Mediums gewinnbringend veranschaulichen. Gerade durch die Verwendung von frühen Werken des Kinos soll im Besonderen versucht werden, auf die Bildebene zu kommen – und eben nicht der bloßen Faszination der jeweiligen Handlung zu erliegen. Der Aufforderung des ‚Sehen-lernens‘ wird somit explizit Vorschub geleistet und das ‚Verstehen mit den Augen‘ bzw. die sinnliche Apperzeption wird im Unterricht ausdrücklich in den Vordergrund gestellt. Da Schülerinnen und Schüler vor allem mit aktuellen (Mainstream-)Produktionen und ­Multiplex-Kinos vertraut sind, wird durch frühe Filme und ‚Klassiker‘ zudem eine Alteritätserfahrung möglich, welche als Ausgangspunkt unterrichtlicher Bildungsprozesse fungieren kann: „Echte künstlerische Bildung kann nur auf der Basis einer Begegnung mit der grundsätzlichen Alterität des Kunstwerks entstehen. Nur der Schock und das Rätsel, die das Kunstwerk im Gegensatz zu den alltäglich gewordenen vorverdauten Bildern und Klängen des täglichen Konsums darstellt, ist wirklich bildend.“ (Bergala 2006, S. 72). Darüber hinaus gelten Filme als wichtiges (symbolisches) Reservoir für Orientierung, Sinn- und Identitätsbildung (vgl. Niesyto 2006, S. 9). Ein subjektund handlungsorientiertes Verständnis von Filmbildung akzentuiert daher nicht nur die Förderung filmästhetischer und filmanalytischer Kenntnisse, sondern geht einher mit der Reflexion eigener (und fremder) Wertorientierungen, ­Verhaltensund Handlungsweisen sowie gesellschaftlicher Deutungsmuster und trägt somit maßgeblich zur Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler bei.17 An dieser Stelle sollte deutlich geworden sein, dass gerade im Philosophieunterricht (der Oberstufe), welcher dem Ziel einer ‚Erziehung zur Mündigkeit‘ verpflichtet ist, der Arbeit mit Spielfilmen ein erhöhter Stellenwert zukommt. Das Ziel der Mündigkeit bzw. des ‚Für-sich-selbst-Denkens‘, als eben die Antwort auf

16Ein

ästhetischer Umgang mit Film kann hierbei über den abgegrenzten (unterrichtlichen) Rahmen hinaus auch für eine intensivere und differenziertere Alltagswahrnehmung sensibilisieren (vgl. Köppert und Spinner 2003, S. 73). 17Wie Kirsner feststellt, hängt die Fähigkeit, sich zu orientieren, in der heutigen Zeit stärker als je zuvor von der Kompetenz ab, (filmische) Bilder wahrzunehmen und zu deuten (vgl. Kirsner 2006, S. 149).

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die Frage nach dem Wozu des Philosophieren-Lernens, umfasst dabei auch die Herausbildung einer (ethischen) Urteils- und Kritikfähigkeit der Schülerinnen und Schüler. Wie Kensmann konstatiert, dienen gerade (filmische) Bildanalysen der Schärfung des Urteils- und Unterscheidungsvermögens und damit letztlich auch dem Argumentieren-Können (vgl. Kensmann 2005, S. 122). Darüber hinaus steht der Philosophieunterricht hinsichtlich der Anforderungen der modernen Mediengesellschaft vor der Aufgabe, neue Akzente zu setzen und angesichts veränderter Unterrichtsbedingungen z. B. auch neue Wege der Schüleraktivierung zu suchen (vgl. ebd., S. 121). Grundlegend hierfür ist die Auffassung, dass Philosophieunterricht nicht nur kognitiv geschehen kann bzw. sich auf das kognitiv zu Vermittelnde reduzieren darf, sondern in einem elementaren Sinn auch ‚sinnenhaft‘ geschehen muss. Gerade das spielerische, unkontrollierte Moment der (individuellen) Beschäftigung mit Film sollte dabei im unterrichtlichen Lehrund Lernprozess einen besonderen Stellenwert erfahren: „Je mehr Filmanalyse so funktioniert wie vormals die Analyse von Texten, [desto mehr] dürfte das Interesse auf Seiten der Schüler […] ausbleiben, oder sich ‚normalisieren‘. Der eigensinnige Wissensdrang würde durch Lernzumutungen ersetzt“ (Heinrich 2005, S. 42). Da Schülerinnen und Schüler motiviert werden sollen, die Welt filmischer Ausdrucksmöglichkeiten selbst zu entdecken, bietet sich insgesamt eine Integration analytischer, produktions- und handlungsorientierter Methoden an, welche eben auch nonverbale sowie offene, selbstentdeckende Lernumgebungen umfasst.18 Maßgeblich ist die Erkenntnis, dass sowohl Film als auch Philosophie von offenen Rezeptionsbeziehungen getragen werden. Im Vordergrund steht eben nicht ein abschließendes und vollständiges Erfassen des jeweiligen Gegenstandes im Sinne einer endgültigen Antwort, sondern vielmehr das beständige Weiter- bzw. Hinterfragen von (vorläufigen) Ergebnissen. Eben diese Parallele von Film und Philosophie kann, gerade im Philosophieunterricht der Oberstufe, in besonderer Weise aufgegriffen werden.

Literatur Albersmeier, F. 52003. Einleitung. In Texte zur Theorie des Films, Hrsg, F. Albersmeier, 3–30. Stuttgart: Reclam. Balázs, B. 1938. Zur Kunstphilosophie des Films. In Texte zur Theorie des Films, Hrsg. F. Albersmeier, 201–223. Stuttgart: Reclam.

18Bergala

konstatiert: „Vielleicht sollte, selbst in der Unterrichtssituation, nicht alles an einem Film verbalisiert werden, damit die Kinder spüren, dass etwas, das nicht gesagt, doch gesehen worden ist – in stillschweigendem Einverständnis darüber, dass man es nicht ausdrücken kann.“ (Bergala 2006, S. 61). Eine umfangreiche Sammlung analytischer, produktions- und handlungsorientierter Methoden im Umgang mit Filmen bieten z. B. Maurer (vgl. Maurer 2006: 175–203) sowie Kepser (vgl. Kepser, Matthis: Handlungs- und produktionsorientiertes Arbeiten mit (Spiel-)Filmen. In: Fächer der schulischen Filmbildung: Deutsch, Englisch, Geschichte u. a. Hrsg. von Matthis Kepser. München 2010. S. 187–240).

Filmwelten

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Empirische Untersuchungen zur Reflexivität und Performativität der „Genderfrage“ im Philosophieunterricht Susanne Kunz und Christian Thein

Im Rahmen einer wissenschaftlichen Abschlussarbeit an der JGU Mainz wurde von Susanne Reusch 2015 eine empirische1 Studie an der Deutschen Schule Jakarta (DSJ) durchgeführt. Hierfür wurde ein Kurs der 11. Jahrgangsstufe während fünf Unterrichtsstunden im Rahmen des folgenden, sehr allgemein gehaltenen anthropologischen Themas unterrichtet: „Ist Geschlecht Natur oder Kultur?“ (vgl. Thein 2014, S. 27 ff.). Ziel des Unterrichtsversuchs war es, philosophiedidaktische und pädagogische Aspekte der Auseinandersetzung von SchülerInnen mit der Genderfrage empirisch zu untersuchen und nachvollziehbar zu machen. Praktisch beruht die empirische Untersuchung auf der Auswertung von Fragebögen und Audioaufnahmen. Den Hintergrund bilden verschiedene Vorannahmen, die mit Blick auf eine philosophiedidaktisch fundierte und unterrichtspraktisch relevante empirische Unterrichtsforschung in der jüngeren Vergangenheit ausformuliert worden sind. In einem ersten Schritt werden im Folgenden deshalb die theoretischen und normativen Grundlagen sowohl des Unterrichtsentwurfs als auch des Vorgehens im Rahmen der Materialauswertung

1Die

empirische Auswertung folgt nicht den Ansätzen Markus Tiedemanns (2011), da die für diese Arbeit evaluierten Ergebnisse nicht als systematische Erhebung von Datensätzen gesehen werden dürfen. Anstelle von reliablen, validen und objektiven Daten, werden die Ergebnisse viel eher als empirisch festgehaltene Phänomene betrachtet.

S. Kunz (*)  Winningen, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Thein  Westfälische Wilhelms Universität Münster, Münster, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Thein, Philosophische Bildung und Didaktik, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_18

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vorgestellt (1). Es folgt eine Skizze der unterrichtspraktischen Abläufe im Kurszimmer mitsamt didaktischer und philosophischer Reflexion der empirisch abgestützten Beobachtungen (2). Da die Unterrichtsthematik die SchülerInnen zu über das unterrichtliche Philosophieren hinausgehenden lebensweltlichen Performanzen herausfordert, folgt ein Auswertungsteil zur pädagogischen Dimension der Studie (3). Abschließend werden aus wissenschaftstheoretischer Perspektive einige Überlegungen für die Entwicklung einer philosophiedidaktisch fundierten empirischen Unterrichtsforschung weitergedacht (4).

1  Ist Geschlecht Kultur oder Natur? – Ein Unterrichtsentwurf im Ausgang von den normativen Prämissen der Philosophiedidaktik In der jüngeren Vergangenheit ist zum einen auf das Defizit nicht nur der akademischen Fachphilosophie, sondern auch der Philosophiedidaktik hinsichtlich der Kenntnisnahme von kritischen Interventionen der Geschlechterforschung in der Auseinandersetzung mit der facheigenen Tradition hingewiesen worden (Golus 2014, S. 19 ff.). Zum anderen sind jedoch auch mehrere Versuche unternommen worden, auf verschiedenen Ebenen die Thematik der Geschlechtlichkeit für die Philosophiedidaktik fruchtbar zu machen. Insbesondere in der dritten Ausgabe der Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik des Jahres 2014 unter dem Titel Ethik der Geschlechter finden sich diverse innovative Beiträge, die in die didaktisch, wissenschafts- und kulturtheoretisch interessanten Konzepte und Kontroversen einleiten. Das Spektrum reicht von Unterrichtsentwürfen zu Leitfragen aus dem Themenfeld Was ist Geschlecht? hin zu philosophiekritischen Interventionen, die Problemfelder wie Androzentrik, stereotype Geschlechterbilder oder auch eine männerdominierte Kanonbildung mit Auswirkungen beispielsweise auch auf die Textauswahl in Schulbüchern in den Blick nehmen. Die folgenden Überlegungen und Untersuchungen nehmen ihren Ausgang von der Unterrichtspraxis und somit dem Blick der SchülerInnen auf die Leitfrage Was ist Geschlecht – Kultur oder Natur? Eine Unterrichtssequenz zu diesem Themenfeld verbindet die fachdidaktische Herausforderung, die SchülerInnen zum lebensweltbezogenen Philosophieren zu befähigen, mit zahlreichen handlungsorientierten Implikationen im Feld der Werteorientierung und Pädagogik. In diesem Sinne wird die empirische Untersuchung von philosophischen Unterrichtsprozessen gerade dort relevant und interessant, wo der Unterricht bereits im Rahmen der normativen Prämissen eines gelungenen Fachunterrichts sich vollzieht. Diese normativen Standards und Strukturen des Philosophieunterrichts gewinnt die Fachdidaktik aus den bildungstheoretisch begründbaren Konzepten des Philosophierens, die methodisches, didaktisches und inhaltliches Vorgehen an die Philosopheme der Fachdisziplin rückbindet. Ein weiteres Standbein bildet die der Theorie zugrundeliegende empirische Erfahrung mit eigenständigem oder beobachteten Unterricht.

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Empirische Unterrichtsforschung mit fachdidaktischer Relevanz wiederum forscht nicht an jenen konzeptuellen und erfahrungsgesättigten Ideen vorbei, sondern schafft Vermittlungs- und Konfrontationsfelder zwischen Theorie und Praxis (Thein 2016a, S. 156). So folgte die Unterrichtssequenz den gegenwärtig einschlägigen Ansätzen zur Leitfragenentwicklung (Tiedemann 2013), zum Methodenparadigma (Martens 2013) sowie zu den vier Phasen der Urteilsbildung (Thein 2015). Besondere Schwerpunkte lagen hinsichtlich der Analyse der philosophiedidaktischen Dimension auf den Aspekten der Problemorientierung mit Lebensweltbezug, die im Ausgang von den Vor-Urteilen der SchülerInnen zur Leitfrage in eine strukturierte Urteilsbildung überleiten (Thein 2016b). Der Unterrichtsentwurf geht von einem problemorientierten und lebensweltbezogenen Setting aus, das sich um die Fragestellung Ist Geschlecht Kultur oder Natur? in ihren verschiedenen Varianten, Zuspitzungen und Konkretisierungen im Arbeits- und Diskursverlauf entwickelt. Die in sämtlichen Lehrplänen für die Fächergruppe relevante anthropologische Fragestellung nach Wesen und Konstitution des Menschen wird transformiert in die Frage, ob zum einen der Unterschied der Geschlechter ein natürlicher oder ein durch die Kultur erzeugter sei, und ob zum anderen Geschlecht und Geschlechtlichkeit durch Natur oder Kultur bestimmt sind: „Mit dieser Leitfrage würde der Philosophieunterricht im Themenfeld der Anthropologie nicht nur aktuellen akademischen und politischen Diskussionen Rechnung tragen, sondern zugleich an den lebensweltlichen Problemlagen ansetzen, die Jugendliche bewegen und in der Folge einen wirklichen Beitrag nicht nur zum Philosophieren, sondern auch zur lebenspraktischen Orientierung bieten“ (Thein 2014, S.  28). Nach den einschlägigen Unterrichtsstrukturmodellen (vgl. Thein 2016b, S. 75 ff.) wird hierzu in einer ersten Phase die Leitfrage im Diskurs mit den SchülerInnen entwickelt. Unterstützend werden hierzu anschauliche Materialien hinzugezogen, die in sich schon auf die für die Fragestellung spezifische philosophische Kontroverse hindeuten. In der für das schülerInnenorientierte Philosophieren maßgeblichen zweiten Phase werden die Vor-Urteile zur Leitfrage gesammelt, strukturiert und erste Positionierungen formuliert, um erst in der Folge die Arbeit an einschlägigen Texten von PhilosophInnen zum Thema anzugehen. Bezogen auf die vorliegende Thematik bieten sowohl die philosophische Tradition als auch die Geschlechtertheorien der Gegenwart – oftmals mit soziologischem und kulturwissenschaftlichem Hintergrund – einen reichen Fundus an im Schulunterricht einsetzbaren kontroversen Texten von Aristoteles über Rousseau und Mill hin zu Simone de Beauvoir oder Judith Butler (vgl. Thein 2014, S. 33 ff.). Eine Unterrichtsreihe beschließt sodann zum Ende hin mit einer Phase, in der die SchülerInnen dazu aufgefordert sind, auf der Grundlage der bis dato erarbeiteten fachlichen Expertisen und den damit konfrontierten eigenen Meinungsbildungen ein eigenständiges Urteil – beispielsweise in Form eines Essays – zur weiterhin im Zentrum des Geschehens stehenden Leitfrage zu formulieren (Thein 2016b, S. 95 ff.). Im Rahmen der praktischen Durchführung der auf jenen konzeptuellen Entwürfen beruhenden Unterrichtssequenz sollte untersucht werden, zu welchen

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Resultaten SchülerInnen resp. Lernende2 einer internationalen Schule im Ausland kommen würden. Besonders in Bezug auf Geschlechterrollen werden Kinder und Jugendliche mit verschiedenen kulturellen Hintergründen, ob mit Migrationsgeschichte oder ohne, häufig „mit Fremdbildern konfrontiert, die ihrem Selbstbild nicht entsprechen und zu Verunsicherung führen“ (Bertels 2015, S. 409). Der Ort einer internationalen Schule wurde daher für die Studie gewählt, um zu untersuchen, ob – und wenn ja: welche – verschiedenen Bilder von Geschlechterrollen in einem solch heterogenen Rahmen artikuliert werden. Die philosophische Auseinandersetzung mit der Leitfrage wird dadurch immer schon überführt in eine soziologische und pädagogische Dimension. Für die Analyse dieser Dimensionen folgt die empirische Auswertung Ansätzen zur Konstruktion von Fremdheit und Geschlecht im Unterricht, die Paul Scheibelhofer formuliert hat (Scheibelhofer 2010). Scheibelhofer geht davon aus, dass Migrationsrealitäten von Lehrpersonen und Lernenden im Unterricht nicht nur reflektiert, sondern gleichsam im Zuge der Reflexion konstruiert werden. Das fachdidaktisch fundierte Vorhaben der Durchführung einer Unterrichtssequenz zur „Genderfrage“ folgt demzufolge einer inversen Logik, indem der Umgang der im Klassenraum handelnden Akteure mit der philosophischen Problemstellung sich wiederum auf die eigenen wandlungsfähigen Geschlechterkonstruktionen in der Lebenswelt auswirkt. Bevor nun einige der Ergebnisse in Bezug auf die philosophiedidaktische und die pädagogische Dimension dargestellt werden, wird zunächst ein allgemeiner Überblick bzgl. der Studie gegeben: Die Unterrichtsreihe fand zwischen dem 25.08.-08.09.2015 statt und umfasste fünf Schulstunden des Ethikunterrichts. Die 11. Jahrgangsstufe wurde für das Projekt gewählt, da hier mit einer sehr heterogenen Lerngruppe gearbeitet werden konnte, da deutsche und indonesische Lernende sowie Lernende mit multikulturellem Hintergrund gemeinsam unterrichtet wurden. Die Lerngruppe bestand aus 17 Lernenden zwischen 15–17 Jahren. Hierzu wurde eine an die Lerngruppe angepasste Reihe im Ausgang von dem vorgenannten Unterrichtsentwurf konzipiert: Vor Beginn der Unterrichtsreihe wurden die Lernenden mithilfe von Fragebögen zu ihren persönlichen Präkonzepten bzgl. typisch weiblichen/männlichen bzw. eindeutig weiblichen/männlichen Merkmalen befragt. Hierbei hatten sie auch die Möglichkeit anzugeben, dass es für sie keine solchen Merkmale gebe. Nach dem Einsammeln dieses Fragebogens wurden einige der Merkmale an der Tafel thematisiert. Ein Textauszug von Birgit Sauer3 diente anschließend dazu, die Begriffe sex (anatomisches Geschlecht) und gender (soziales Geschlecht) einzuführen. Darauf erfolgte eine

2Bei

der Auswertung der Studie werden Aussagen den Lernenden so weit wie möglich geschlechtsneutral bzw. kulturneutral wiedergegeben, sodass anstelle von Schüler(in) in der Regel das Wort Person verwendet wird. 3Der Textauszug wurde entnommen aus http://sdsleipzig.blogsport.de/images/Sauer_GenderundSex. pdf (letzter Zugriff: 27.12.2016).

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phänomenologische Beschreibung eines Fotos4, welches eine zunächst „eindeutig männlich“ erscheinende Person zeigt, und die anschließende Konfrontierung damit, dass es sich hierbei „laut Geburtsurkunde“ um eine Frau handelt. Im Anschluss an die gemeinsame Formulierung der Leitfrage positionierten sich die Lernenden unter Berücksichtigung einer individuellen Begründung aus dem Bereich ihrer persönlichen „Vor-Urteile“ (Thein 2016b, S. 52 ff.). In diesem Kontext hatten sie die Möglichkeit, sich für Natur zu entscheiden, wenn sie der Ansicht waren, dass Geschlecht abhängig vom Körper sei, oder für Kultur, wenn sie die Meinung vertraten, dass Geschlecht nicht abhängig vom Körper sei. In der daran anschließenden Texterarbeitungsphase wurden Gruppen gebildet, um Textauszüge von Judith Butler5 und Susanne Kummer6 zu erarbeiten. Nach der Besprechung der Ergebnisse wurde ein Bezug zu der Vor-Urteils-Phase geschaffen. Abschließend wurde ein zweiter Fragebogen ausgeteilt, auf welchem persönliche Angaben bzgl. Alter, Geschlecht, Muttersprachen etc. erbeten wurden und die Lernenden eine kurze Stellungnahme zu der im Unterricht behandelten Kontroverse verfassten. Bei den im Folgenden präsentierten Ergebnissen wird ersichtlich, dass sich die Lernenden in Jakarta vorrangig mit ihrer (eigenen) gelebten Männlichkeit/ Weiblichkeit und unterschiedlichen Lebensgestaltungen auseinandersetzten. Dies steht in Kontrast zu anderen Studien: So berichtet beispielsweise Veronika Zangl (2010) von mehreren Klassen, bei denen die beteiligten Lernenden eine „quasi [postmoderne] Selbstwahrnehmung […] als ausdifferenzierte Individuen“ (Zangl 2010, S. 105) zu einem entscheidenden Teil ihres persönlichen (un)doing gender machten. Ein Großteil der Lernenden an der DSJ schien jedoch nicht mit postmodernen Denkrichtungen vertraut zu sein und nahm folglich an keiner Stelle Positionierungen als „neutrale Individuen“ vor.

2 Die philosophiedidaktische Dimension Volker Pfeifer plädiert hinsichtlich eines gelungenen Unterrichtseinstiegs dafür, dass dieser auf Augenhöhe mit den Lernenden anzusiedeln sei, wobei schüler-zentriert vorgegangen werden soll, indem der Interessens- und Wahr­ nehmungshorizont der Lernenden thematisiert wird (Pfeifer 2013, S. 103). Diesem Gedankengang folgend wurde die Unterrichtsreihe an der DSJ stark an den Präkonzepten der Lernenden orientiert. Hierfür war es besonders wichtig, dass sie sich zunächst – vor dem eigentlichen Unterrichtbeginn – individuell mit der

4Vgl. Fotokalender: „transmasculinities. pictures from beyond the malestream – a calender of portrait photography“ (Bild: Jayson), Berlin 2010. 5Der Textauszug wurde entnommen aus: Das Unbehagen der Geschlechter (Butler 2014). 6Der Textauszug wurde entnommen aus: Gender – quo vadis? Kritische Anmerkungen zu einem anthropologischen Konzept (Kummer 2003).

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Thematik auseinandersetzten (Fragebogen 1), bevor einzelne Aspekte im Plenum diskutiert wurden. Hierbei fiel auf, dass die Lernenden, obwohl sie sich während der Bearbeitung des ersten Fragebogens leise unterhielten, dennoch unterschiedliche Schwerpunkte setzten und es nur zu vergleichsweise wenig Mehrfachnennungen kam. Die anschließende Diskussion im Plenum löste kognitive Dissonanzen aus, welche sich weiter verstärkten, als sich die Lernenden bezüglich der Abhängigkeit des Geschlechts vom Körper mit ihren Vor-Urteilen positionieren sollten. Diese Art der Entwicklung eines Problembewusstseins ist der Progression des Philosophieunterrichts eindeutig zuträglich (Pfeifer 2013, S. 103). Somit wurde gewährleistet, dass außer- bzw. vor-philosophisches Denken mit den im Verlauf der Unterrichtsreihe behandelten Gedanken der Philosophie an sich verbunden werden konnten. Bezüglich einer zielführenden Auswahl eines philosophischen Problems für den Philosophieunterricht, kann dem Gedankengang Martha Nussbaums gefolgt werden, die davon ausgeht, dass philosophische Probleme all diejenigen Probleme sind, die das Handeln in der Welt betreffen (Nussbaum 2001, S. 145). Hinsichtlich der Unterrichtsstunden kann somit davon ausgegangen werden, dass in diesem Fall das Handeln in der Welt der Schule als „männliche“ und „weibliche“ Personen genauer analysiert werden sollte. In diesem Kontext zeigen die Audioaufnahmen, dass während der Unterrichtsstunden eine besonders lockere, offene und ausgelassene Gesprächsatmosphäre herrschte. Möglicherweise diente diese spezielle Atmosphäre dazu, das Thema in gewisser Weise zu banalysieren. Zu jedem Zeitpunkt wollten die Lernenden deutlich machen, dass sie offen gegenüber verschiedenen Subjektpositionierungen bzw. „Minderheiten“ wären und dass bei ihnen jeder Mensch toleriert werde. Andererseits wurden jedoch – insbesondere männlich wirkende Schüler – von ihren Mitschülern unter Druck gesetzt, da sie sich gemäß der Heterosexuellen Matrix (vgl. Butler 2014) darstellen müssen, um ihr Ansehen in der Gruppe zu wahren (Wedl und Bartsch 2015, S. 9). Diese Problematik zeigte sich besonders deutlich, als sich eine männlich wirkende Person bei ihrer persönlichen Positionierung an der Tafel für die Seite der „Kultur“ entschied und dafür plädierte, dass die Wissenschaft inzwischen so weit fortgeschritten sei, dass kein Mensch mehr untrennbar an seinen biologischen Körper gebunden sei und folglich jeder Mensch die Möglichkeit hätte, sich wohlzufühlen. Diese Äußerung entfachte unmittelbar Kommentare von weiteren, ebenfalls männlich wirkenden, Lernenden, die den Schüler fragten, ob er sich neben seinem Sitznachbarn auch „wohl fühle“. Diese Kommentare wehrte der Schüler mit der Aussage ab: „Ja, es macht mich voll an“. Anschließend wurde innerhalb der „männlich“ auftretenden Schülergruppe darüber diskutiert, wer von beiden dann den „weiblichen“ Part übernehme. An dieser Stelle wird ersichtlich, dass die gewählte Problemorientierung der Unterrichtsreihe eindeutig mit dem Handeln in der Welt seitens der Lernenden verbunden ist. Zudem zeigt das Beispiel, dass die Lernenden grundsätzlich von einem binären und eindeutigen Geschlechtersystem mit einer klar strukturierten Rollenverteilung ausgehen.

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Bernhard Waldenfels stellt die These auf, dass nur dann von „Lebenswelt“ gesprochen werden kann, wenn diese Welt aus mehr besteht als einer Zusammensetzung von verschiedenen Faktoren wie beispielsweise wissenschaftlichen Konstrukten und institutionellen Regelungen (Waldenfels 2011, S. 1418 ff.). In diesem Zusammenhang kam es während der Unterrichtsreihe zu einer Fülle von Äußerungen der Lernenden: So wurden von den Lernern zum Beispiel verschiedene Berufe wie Soldatin und „Frau als Bodyguard“ angesprochen. Außerdem wurde über Soziale Medien, u. a. Facebook, gesprochen, bei denen es die Möglichkeit gibt, nicht nur eines von zwei Geschlechtern anzugeben, sondern auch „other“. Des Weiteren erzählte eine Person von Internetseiten, mithilfe derer sie in der Vergangenheit bereits versucht hatte, sich einen Überblick über die verschiedenen Thematiken wie Transgender, Intersexualität, Frauen, die keine Kinder gebären können, Homosexualität etc. zu verschaffen. Hinzu kam, dass die Lernenden im Unterrichtsgespräch Caitlyn Jenner erwähnten, die sich kurz vor der Durchführung der Unterrichtsreihe erstmals der Öffentlichkeit präsentierte. Diese unterschiedlichen Beispiele, die von Seiten der Lernenden artikuliert wurden, machen deutlich, dass die Gender-Thematik bereits vor der Behandlung in der Schule ein Teil der Lebenswelt der Lerngruppe war. Ferner wird ersichtlich, dass Lebensweltbezug als etwas Wandelbares und von aktuellen Ereignissen Abhängiges in Erscheinung tritt. Zusätzlich definiert Bernhard Waldenfels den Ausdruck Lebenswelt als die Welt, in der wir als Menschen leibhaftig wohnen, in der wir handeln und die wir uns sinnlich erschließen (Waldenfels 2011, S. 1418). Dieser Aspekt der Welt, die leibhaftig bewohnt wird und somit untrennbar auch mit der Welt der Schule verknüpft ist, zeigte sich bei der Thematisierung der typischen Merkmale an der Tafel u. a. darin, dass die genannten Aspekte jeweils mit der eigenen geschlechtlichen Zuschreibung in Verbindung gebracht wurden. Dies wurde beispielsweise durch Abwehrreaktionen und Äußerungen, die Attributionen erkennen lassen, kenntlich gemacht: Zur Veranschaulichung kann eine Situation herangezogen werden, als eine weiblich erscheinende Person protestierte, weil das Wort „empfindlich“ an die Tafel als typisch weibliches Merkmal geschrieben wurde. Auf ihren Protest reagierte jedoch direkt eine männlich erscheinende Person, indem sie mit einer Situation des Vortages argumentierte, bei der diese weiblich erscheinende Person geweint habe. Daraufhin wurde erwidert, dass es „auch echt gemein von euch“ gewesen sei. Diese Situation kann wie folgt analysiert werden: Die erste Person möchte in ihrer Lebenswelt nicht als empfindlich wahrgenommen werden, woraufhin die zweite Person unmittelbar mit einem Beispiel der Lebenswelt reagiert, die diese beiden Personen – und möglicherweise noch mehr der Personen aus der Lerngruppe – miteinander teilen. Das Wort „empfindlich“ wird mit der Tatsache des Weinens verbunden und durch die Verwendung des Wortes „du“ wird die erste Person zur weiblichen Gemeinschaft zugehörig kenntlich gemacht. Die Ereignisse des Vortages werden von der ersten Person nicht abgestritten, stattdessen reagiert sie mit einer Rechtfertigung, dass Personen mit ihr „gemein“ umgegangen wären. Somit scheint diese weiblich erscheinende Person in ihrer Lebenswelt gerechtfertigter Weise empfindlich sein zu dürfen, wenn mit ihr „gemein“ umgegangen wird.

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Eine gezielte Integration der Lebenswelt als vor-wissenschaftlicher und a-theoretischer Lebensbereich in den Unterricht ist hilfreich, um die Möglichkeit dafür zu geben, elementare Lebenserfahrungen mit fundamentalen Denkfiguren und Wertmustern zu entwickeln (Pfeifer 2013, S. 91). Durch die Anregung zu einem Überdenken des eigenen für selbstverständlich gehaltenen Verhaltens kann schließlich eine ethische Reflexivität seitens der Lernenden entstehen. In diesem Kontext wurden Aussagen der Lernenden analysiert, die in Zusammenhang mit dem zuletzt ausgeteilten Fragebogen getätigt wurden. An dieser Stelle wurden die Lernenden nach ihrem eigenen Geschlecht gefragt, wobei sie drei Auswahlmöglichkeiten (m, w, x) bekamen. Mehrere Personen kamen auf die Idee, x anzukreuzen und kommentierten dies mit „Ich bin x!“ und „Ich darf doch theoretisch x ankreuzen, oder?“. Nach einem kurzen Überlegen fügte die Person, die die zweite Aussage getätigt hatte, hinzu: „Obwohl… vielleicht will ich ja gar nicht sagen, was ich bin“. Die sehr direkte, zunächst vermutlich eher lustig gemeinte Aussage, dass Lernende teilweise x ankreuzen wollten, wird durch die inhaltsvolle Ergänzung der letzten Aussage stark aufgewertet. Die Person geht einerseits davon aus, dass sie etwas ist, ohne die Sichtweise des wandelbaren Geschlechts auf sich selbst anzuwenden. Andererseits spricht sie konkret die Möglichkeit der Enthaltung einer Angabe zum eigenen Geschlecht an. Wären diese Fragebögen vor der Unterrichtsreihe verteilt worden, so hätte sehr wahrscheinlich keine Person darüber nachgedacht, dass es Menschen gibt, die ihr Geschlecht möglicherweise nicht angeben wollen beziehungsweise die sich nicht zu einer von zwei Kategorien zählen. Bezüglich des Urteilsbildungsprozesses ergab die Studie, dass auf dem ersten Fragebogen keine Person ausschließlich „natürliche“ Merkmale aufschrieb, sondern stattdessen rein „kulturelle“ Merkmale genannt wurden, oder eine Mischung von beiden Gebieten formuliert wurde. Demgegenüber stand jedoch die Mehrheit der Personen (2/3 der Klasse), die sich während der ­Vor-Urteils-Phase bzgl. der Frage nach der Abhängigkeit des Geschlechts vom Körper auf der Seite der Natur positionierten. Lediglich zwei Personen, die auf dem ersten Fragebogen ausschließlich „kulturelle“ Merkmale notiert hatten, positionierten sich anschließend auch auf der Seite der Unabhängigkeit des Geschlechts vom Körper (Kultur). Folglich kann der Prozess der Urteilsbildung bereits dahingehend erkannt werden, dass eine Veränderung vorliegt, sobald ein Vergleich zwischen den zunächst individuell notierten Präkonzepten und der persönlichen Positionierungen an der Tafel gezogen wird. Zwischen diesen beiden Zeitpunkten wurde in der Lerngruppe über einige der notierten Formulierungen und den Bildimpuls diskutiert und der Text von Birgit Sauer wurde behandelt. Außerdem liegt zwischen den beiden angesprochenen Unterrichtsstunden eine Woche, in der die Lernenden Zeit hatten, sich weiter mit der Thematik auseinanderzusetzen und sich auszutauschen. Diese unterschiedlichen Aspekte können dazu geführt haben, dass sich das Gesamtbild der Lerngruppe veränderte. Besonders deutlich wird der Urteilsbildungsprozess, wenn zudem die abschließenden Stellungnahmen zur Analyse hinzugezogen werden: Hierbei fiel auf, dass Personen teilweise zu Beginn sowohl kulturelle als auch natürliche Merkmale nennen, sich an der Tafel dann der

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Natur-Seite zuwenden und bei der abschließenden Stellungnahme schreiben, dass Geschlecht nicht von der Natur bestimmt sei. Eine weitere Veränderung ist in der Hinsicht zu erkennen, dass Lernende im Schulalltag nicht oder nur in geringem Maße vermittelt bekommen, dass ihre Vor-Urteile zentral und produktiv in den Unterricht eingebaut werden können oder – wie in diesem Fall – die von ihnen geäußerten Vor-Urteile sogar den Ausgangspunkt einer gesamten Unterrichtsreihe darstellen können (Thein 2016b, S. 84 f.). Daraus kann geschlossen werden, dass den Lernenden im Allgemeinen eher vermittelt wird, dass es sich bei ihren Vor-Urteilen um Stereotypen handelt, die tendenziell als problematisch anzusehen sind. Ein Kontext, in dem diese Problematik eindeutig ersichtlich wird, ist folgender: Zwei Personen notierten bei dem ersten Fragebogen keinerlei Merkmale – mit der Begründung, dass es für sie keine typischen und somit auch keine eindeutigen Merkmale gebe. Dies kann als konkrete Blockade gegenüber Vor-Urteilen gewertet werden. Allerdings zogen diese beiden Personen unterschiedliche Schlüsse daraus, da sich eine Person auf der Kultur-, die andere auf der Natur-Seite einordnete. Die Argumentationsweisen der beiden Personen tendierten jedoch beide zu einer Unveränderlichkeit von Chromosomen. Wird folglich davon ausgegangen, dass beide Personen davon überzeugt sind, dass sich Chromosomen beziehungsweise das biologische Geschlecht nicht ändern lassen, so hätten sie strenggenommen auf dem ersten Fragebogen sowohl typische als auch eindeutige Merkmale aufschreiben müssen.

3 Die pädagogische Dimension Es wurde ebenfalls untersucht, inwiefern die Lernenden während der Unterrichtsreihe die Chance geboten bekamen, ein Anderer zu werden (vgl. Jäckle 2009, S. 91 ff.) und in welchen Situationen sie diese Chance auch ergriffen. Bereits bei der Unterrichtsplanung wurde klar, dass die Lernenden auf dem ersten Fragebogen vollkommen unabhängig von ihrer eigenen Positionierung hinsichtlich Geschlecht, Alter, Herkunft etc. befragt werden sollten. Eine Verbindung beider Fragebögen zu einem einzigen, die auch denkbar gewesen wäre, hätte möglicherweise die Angaben der Lernenden gelenkt. Ein Verzicht auf eine explizite persönliche Einordnung zu Beginn der Unterrichtsreihe sollte eine so weit wie möglich neutrale Vorgehensweise unterstützen, auch wenn natürlich, insbesondere während der Unterrichtsgespräche, eine Gradwanderung hin zu einer künstlichen Unterrichtssituation gemeistert werden musste. In gewisser Weise „erschwert“ wurde diese weitreichende Neutralität dadurch, dass die Lernenden dazu neigten, ihr eigenes Geschlecht verstärkt darzustellen. Einige Lernende signalisierten, dass ihnen die Gender-Thematik unangenehm war: Dies spiegelten z. B. die Vermeidung oder Umgehung von Begriffen und der Zwiespalt zwischen der eigenen Darstellung als toleranter und offener Mensch und den zeitgleich empfundenen, negativen Emotionen hinsichtlich des Bildimpulses. Auch die bereits beschriebene Situation, die den Zwang zur Befolgung

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der Heterosexuellen Matrix darstellt, kann in dem Sinne interpretiert werden, dass sie negative Rückmeldungen im Klassenverband darstellen, die geäußert werden, weil ein (scheinbar) normabweichendes Verhalten beobachtet wird (Manz 2015, S. 104). Die Frage bzgl. des „Wohlbefindens“ kann tendenziell als Provokation interpretiert werden und unterbricht zugleich die Ausführungen einer männlich wirkenden Person, die gerade dabei war, einen Unterrichtsbeitrag zu formulieren. Somit kann die Frage zugleich als negative Rückmeldung zu einer produktiven Teilnahme am Unterrichtsgespräch gewertet werden. Möglicherweise wurden sogar einige Beiträge der Lernenden nicht ausformuliert oder lediglich angedeutet, weil solche negativen Rückmeldungen vermieden werden sollten. Zweifellos würde dieses Verhalten die Auswertung von Unterrichtsgeschehen mithilfe von Audiodateien erschweren. Unterstützt wird diese Hypothese u. a. dadurch, dass eine männlich wirkende Person nach Unterrichtsende der ersten Stunde gezielt zur Lehrperson ging, um ihr zu erzählen, dass sie sich bereits auf verschiedenen Internetseiten zu unterschiedlichen Lebensweisen von sex und gender informiert hätte. Allerdings fiel der diesbezügliche Beitrag in der darauffolgenden Unterrichtsstunde auffällig kurz aus und wurde auch erst formuliert, als gezielt von der Lehrperson nachgefragt wurde. Dies deutet darauf hin, dass auch diese Person negative Kommentare vermeiden wollte. Insgesamt kann das Verhalten der Lernenden als Neigung dazu interpretiert werden, eine Normalisierung zu unterstützen. Es kann sogar davon ausgegangen werden, dass eine Normalisierung wiederhergestellt werden sollte, in dem Sinne, dass die Behandlung der Gender-Thematik für die Lernenden kein „normales“ Unterrichtsthema darzustellen schien. Zudem wird der Eindruck erweckt, dass nur bestimmte Formen von Männlichkeit und Weiblichkeit in der Lerngruppe für angemessen und erstrebenswert gehalten werden. Es kann angenommen werden, dass es sich hierbei um eine Durchschnittsnormalität handelt, bei der der Vergleich mit anderen eine entscheidende Rolle spielt (Link 1996 in: Jäckle et al. 2016, S. 154–155). Die Möglichkeit ein Anderer zu werden wird somit sehr stark von der Gemeinschaft der Lerngruppe reguliert. Monika Jäckle und Marlen Bidwell-Steiner gehen davon aus, dass Verhältnisse der Geschlechter zueinander als Effekt einer diskursiven Praxis angesehen werden müssen, wobei vergeschlechtlichte Subjekte in Beziehungen konkretisiert werden (Jäckle 2009, S. 15). Die Abgrenzung vom „anderen“ Geschlecht, welche letztlich eine Grundlage dafür ist, Verhältnisse von Geschlechtern und ihre Beziehungen zueinander darzustellen, zeigte sich im Unterricht besonders bei der Verwendung der Begriffe „du“ („Du hast geweint gestern“), „euch“ („Das war auch echt gemein von euch“) u. v. m. Diese Abgrenzung durch Sprache schafft eine gewisse Distanz (Bidwell-Steiner 2010, S. 37). Darüber hinaus ist bei der Diskursanalyse nicht nur zu beachten, welche Person welche Aussage zu welchem Adressaten tätigt, sondern auch, dass Naturalisierungen, Ontologisierungen, Essentialisierungen und Biologisierungen, welche alle innerhalb der Unterrichtsreihe zu beobachten waren, auf eben den Diskurs hinweisen, der an dieser bestimmten internationalen Schule in diesem Land und in genau dieser Lerngruppe allgemein anerkannt war. Hierbei wird auch deutlich, dass

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die ­Unterrichtseinheit, obwohl sie von einer unbekannten Lehrperson zu einem im Schulbereich unbekannten Themengebiet gestaltet wurde, dennoch diskursreproduzierend und diskursstabilisierend wirkte. Zeitgleich wurden jedoch auch neue Wahrnehmungsweisen und Handlungsmodelle vorgestellt, wodurch die Unterrichtsreihe ebenfalls diskurspositionierend und diskurssubvertierend wirkte. Bei einer Betrachtung der abschließenden Stellungnahmen fiel auf, dass die deutliche Mehrheit der männlichen Lernenden angab, ihre Meinung hätte sich nicht verändert, wohingegen die weiblichen Lernenden dazu tendierten, das Unterrichtswissen mit ihren Vor-Urteilen etc. zu verknüpfen. Lediglich eine Person, die angab, weiblich zu sein, schrieb, dass sich ihre Meinung nicht verändert hätte. Diese allgemeine Tendenz ist als eine gewisse Solidarisierung der Mädchen mit der Lehrperson anzusehen (Zangl 2010). Zusätzlich konnten die gesamten Audiodateien den Argumentationspunkt stützen, dass insbesondere Schüler im Unterrichtsgeschehen eine Bühne für Inszenierungen schaffen, um Aufmerksamkeit zu erreichen (Faulstich-Wieland 2007; Faulstich-Wieland und Horstkemper 2012). Zudem wurde beobachtet, dass einige der als männlich positionierten Lernenden dazu tendieren, sich aus Unterrichtsgesprächen zurückzuziehen, sobald eine gewisse abstrakte Ebene erreicht und ein Verlassen der persönlichen Ebene erkannt wird. In diesem Zusammenhang kann insbesondere auf eine Situation hingewiesen werden, bei der eine Gruppe, bestehend aus einer männlich und zwei weiblich wirkenden Personen, eine Aufgabe bearbeitete und sich unabhängig von der Lehrperson miteinander unterhielt. Besonders eine weiblich wirkende Person war um Lösungsstrategien bemüht, wohingegen die männlich wirkende Person eher schnell die Aufgabe beenden wollte. Als klar wurde, dass sich diese letztere Person aus der Diskussion zurückziehen wollte, versuchte die dritte, ebenfalls weiblich wirkende Person, die bisher eher zurückhaltend war, das Gespräch mit einem Witz aufzulockern, um den Mitschüler wieder in die Diskussion zu integrieren. Direkt im Anschluss fügte sie einige deeskalierende Worte hinzu, damit die männlich wirkende Person diesen Witz nicht falsch verstehen konnte.

4 Fazit und Ausblick Die Auswertung hat gezeigt, dass sich sowohl philosophische, didaktische und pädagogische Theorien und Konstrukte sehr anschaulich in einem empirischen Rahmen untersuchen lassen. Hierbei war es insbesondere die Konfrontation der Konzepte und Vorannahmen mit den empirischen Beobachtungen, die wichtige Erkenntnisse zum Umgang mit „Geschlecht“ als Hintergrund und Thema im Philosophieunterricht geliefert hat. Hierbei lag der Blickpunkt auf den Schülerinnen und Schülern, deren Ausformulierung von Präkonzepten sowie der philosophischen Arbeit an diesen. Möglicherweise wird es auch in Zukunft schwierig sein, empirische Bildungswissenschaften mit philosophischen Interessen, Zielen und dem dazugehörigen Vorgehen zu vereinen. Es ist jedoch denkbar, dass beispielsweise auf der Grundlage von qualitativen Verfahren

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S. Kunz und C. Thein

empirisch festgehaltene Phänomene bezüglich der hier dargestellten Aspekte untersucht werden können, ohne dass sie als reine Datensätze angesehen werden. Folglich sollten die hier vorgestellten Ergebnisse als Impuls für neue Denkansätze im Sinne einer empirisch abgestützten fachdidaktischen und pädagogischen Forschung beispielsweise mit Fokus „Präkonzeptausbildung“ gewertet werden.

Literatur Bertels, U. 2015. Wann ist ein Mann ein Mann? Geschlechterrollen im interkulturellen Vergleich. In Teaching Gender? Zum reflektierten Umgang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung, Hrsg. J. Wedl und A. Bartsch, 409–424. Bielefeld: transcript. Bidwell-Steiner, M. 2010. Macht Wort: Geschlecht? Diskurs- und metapherntheoretische Zugänge. In (Un)Doing Gender als gelebtes Unterrichtsprinzip. Sprache – Politik – Performanz, Hrsg. M. Bidwell-Steiner und S. Krammer, 37–42. Wien: Facultas.wuv. Butler, J. 2014. Das Unbehagen der Geschlechter, 17. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Faulstich-Wieland H (2007) Eine Bühne für Inszenierungen. Doing gender im Schulalltag. Schüler: Wissen für Lehrer: 91–93. Faulstich-Wieland, H., und M. Horstkemper. 2012. Schule und Genderforschung. In Handbuch Geschlechterforschung und Fachdidaktik, Hrsg. M. Kampshoff und C. Wiepcke, 25–38. Wiesbaden: Springer VS. Golus, K. 2014. Geschlechtsblindheit und Androzentrismus in der traditionellen philosophischen Bildung. In ZDPE, 3:19–26. Golus, K. 2015. Abschied von der Androzentrik. Anthropologie, Kulturreflexion und Bildungsprozesse in der Philosophie unter Genderaspekten. Univ., Diss. Bochum. Berlin, Münster. Jäckle, M. 2009. Schule M(m)acht Geschlechter. Eine Auseinandersetzung mit Schule und Geschlecht unter diskurstheoretischer Perspektive. Univ., Dissertation u. d. T.: Von der Schule, der Macht und was es heißt, ein Mädchen oder Junge zu werden-Augsburg, 2007. Wiesbaden: VS Verlag. Jäckle, M., S. Eck, M. Schnell, und K. Schneider. 2016. Doing Gender Discourse. Subjektivation von Mädchen und Jungen in der Schule. Wiesbaden: Springer VS. Kummer, S. 2003. Gender – quo vadis? Kritische Anmerkungen zu einem anthropologischen Konzept. In Geschlechtertheorie, Hrsg. J. Bechtold, 67–78. Wien: Ministerium. Manz, K. 2015. Geschlechterreflektierende Haltung in der Schule. In Teaching Gender? Zum reflektierten Umgang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung, Hrsg. J. Wedl und A. Bartsch, 103–118. Bielefeld: transcript. Martens, E. 2013. Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Philosophieren als elementare Kulturtechnik, 7. Aufl. Hannover: Siebert. Nussbaum, M. 2001. Arbeit an der Kultur der Vernunft. In Was ist ein „philosophisches Problem“? Hrsg. J. Schulte und U.J. Wenzel, 145–147. Frankfurt a. M.: ­Fischer-Taschenbuch-Verl. Pfeifer, V. 2013. Didaktik des Ethikunterrichts. Bausteine einer integrativen Wertevermittlung, 3. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer. Scheibelhofer, P. 2010. Teaching Difference. Zur Konstruktion von Fremdheit und Geschlecht im Unterricht. In (Un)Doing Gender als gelebtes Unterrichtsprinzip. Sprache – Politik – Performanz, Hrsg. M. Bidwell-Steiner und S. Krammer, 59–71. Wien: Facultas.wuv. Thein, C. 2014. Ist Geschlecht Kultur oder Natur? – Die Gender-Debatte als anthropologisches Thema in der gymnasialen Oberstufe. ZDPE 3:27–38. Thein, C. 2015. Operatoren im Philosophieunterricht. In Handbuch Philosophie und Ethik, Bd. 1, Hrsg. J. Nida-Rümelin, I. Spiegel, und M. Tiedemann, 325–327., Didaktik und Methodik Paderborn: Schöningh.

Empirische Untersuchungen zur Reflexivität und Performativität

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Thein, C. 2016a. Normativität und Empirie des Philosophieunterrichts. In Empirische Forschung in der Philosophie- und Ethikdidaktik, Hrsg. J. Dietrich, C. Brand, und J. Rohbeck, 145–162. Dresden: Thelem. Thein, C. 2016b. Verstehen und Urteilen im Philosophieunterricht. Opladen: Budrich. Tiedemann, M. 2011. Philosophiedidaktik und empirische Bildungsforschung. Möglichkeiten und Grenzen. Berlin: LIT. Tiedemann, M. 2013. Problemorientierte Philosophiedidaktik. ZDPE 1:85–96. Waldenfels, B. 2011. Lebenswelt. In Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 2, Hrsg. H. Krings, P. Kolmer, A.G. Wildfeuer, und W. Hogrebe, 1418–1729. Darmstadt: Wiss Buchges. Wedl, J., und A. Bartsch, Hrsg. 2015. Teaching Gender? Zum reflektierten Umgang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung. Bielefeld: transcript. Zangl, V. 2010. Machos und Zicken. Diskursive Interferenzen im Prozess der Geschlechterzuschreibung. In (Un)Doing Gender als gelebtes Unterrichtsprinzip. Sprache – Politik – Performanz, Hrsg. M. Bidwell-Steiner und S. Krammer, 89–105. Wien: Facultas.wuv.

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Sonstiges Fotokalender 2010. Transmasculinities. Pictures from beyond the malestream – A calender of portrait photography (Bild: Jayson), Berlin.

Glückvorstellungen von Kindern und Jugendlichen und ihre mögliche Verortung in der philosophischen Tradition: Philosophieren im Zeichen des Hermes – am Beispiel der Frage nach dem Glück Leonie Teubler

1 Das Vertrauen in die Gedanken der Schülerinnen und Schüler Der Gedanke, dass Kinder bereits Philosophen sind bzw. in ihnen ein ungemeines philosophisches Potenzial schlummert, ist nicht neu. Seit den 20er Jahren ist das Schlagwort der „Kinderphilosophie“ (vgl. Niewiem 2001) bekannt, die zu dieser Zeit von zwei Tendenzen geprägt wird. Zum einen von 1) der Orientierung an vorherrschenden Meinungen von Autoritäten. Philosophie hat als eine Deutungsauffassung von Welt gegolten und sollte nur einer Elite zugänglich gemacht werden (vgl. ebd., S. 67). Zum anderen von der Tendenz 2), Kinder und Jugendliche in ihrem Selbstdenken zu fördern (vgl. ebd., S. 62). Dieses gerade benannte Verständnis des „Philosophierens mit Kindern“, das Selbstdenken zu unterstützen, wirkt deutlich in aktuelle Diskussionen des gelingenden Philosophierens in der Schule hinein (Dieser Aufsatz wurde zeitlich parallel zu meiner Dissertation verfasst. Entsprechend finden sich die hier niedergelegten Gedanken, Ausführungen und Ergebnissen ebenso – z. T. wörtlich - in meiner Dissertation (Teubler (2019)). Im Folgenden soll auf zwei Fragen, die sich m. E. aus diesem Ansatz (2) ergeben, eingegangen werden: a) Wann genau kann man von einem Philosophieren von Kindern und Jugendlichen sprechen? b) Wie kann das philosophische Selbstdenken in einem unterrichtlichen Kontext gefördert werden?

L. Teubler (*)  Gymnasium Hennef, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Thein, Philosophische Bildung und Didaktik, Ethik und Bildung, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05171-4_19

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L. Teubler

1.1 „Philosophieren von Kindern und Jugendlichen“ Den benannten Tendenzen (1) und (2) im Kontext des Philosophierens mit Kindern und Jugendlichen liegt ein jeweils mehr oder weniger explizit ausgearbeiteter Philosophiebegriff zugrunde. Eine mögliche definitorische Auseinandersetzung mit dem Philosophiebegriff bietet Brüning (2001) – in Anlehnung an Martens – an. Dabei wird die Philosophie in zwei Denkrichtungen unterteilt: die 1) esoterische und die 2) exoterische. Zu 1) Die esoterische Philosophie versteht sich als Wissen über den Sinn und Zweck der Welt, das zusammengetragen und zu einer systematisierten Wissenschaftsdisziplin an den Hochschulen und Universitäten ausgebaut worden ist (vgl. Brüning 2001, S. 8). Dieser Perspektive wird für das „Philosophieren mit Kindern“ i. d. R. keine Bedeutung zugesprochen. Die (2) exoterischen Perspektive hingegen hat für das „Philosophieren mit Kindern“ besondere Relevanz. Diese Position „geht davon aus, dass sich jeder Mensch (und nicht nur wissenschaftlich tätige Philosophen und Philosophinnen) Gedanken über wichtige Sinnfragen macht“ (Brüning 2001, S. 8). Dabei steht am Ende dieser Auseinandersetzung jedoch keine systematische Theorie, sondern es geht um ein Nachdenken, das punktuell geschieht (vgl. Brüning 2001, S. 9). Diese zweite Perspektive fußt auf einem historischen Fundament. Exemplarisch sei auf zwei Philosophen verwiesen, die man als Vorreiter dieser Tradition benennen kann. Bereits Aristoteles sieht das Staunen als Beginn des Philosophierens (vgl. Aristoteles 1990: Metaphysik A 2, 982b 11–15). Dabei werden Kinder von Aristoteles nicht als erste Philosophen oder Philosophierende bezeichnet, aber unsere Alltagsbeobachtungen zeigen, dass das Staunen von Kindern durchaus etwas Philosophisches zum Ausdruck bringen kann. Wenn Kinder etwas Neues, etwas Unbekanntes entdecken, stellen sie oftmals Fragen über Fragen, um dieses Unbekannte genauer zu ergründen. Das Bild eines philosophierenden, staunenden, neugierigen Kindes drängt sich somit förmlich auf und bestätigt Brünings Aussage, dass sich jeder Mensch, eben auch das Kind, Gedanken über Sinnfragen macht. Ein weiterer Philosoph, der für das historische Fundament des exoterischen Verständnisses von Philosophie herangezogen werden kann, ist Kant. In „Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765 – 1766“ legt er dar, dass es nicht darum gehen kann, im Unterricht Philosophie zu lehren, sondern Philosophieren zu lernen (vgl. Kant 1912 NEV AA II 306, S. 26 ff.). Mit diesem Ansatz setzt er sich deutlich von einem Unterrichtsverständnis ab, in dem „toter“ Lernstoff vermittelt wird. In aktuellen Unterrichtskontexten wird im besten Fall eine derartige Überzeugung wirksam. Es geht weniger darum, philosophische Theorien zu erarbeiten und reproduzieren zu können, als Kinder und Jugendliche im Unterricht zum eigenständigen Philosophieren anzuregen. Für das Philosophieren im Zeichen des Hermes, das in diesem Artikel vorgestellt werden soll, ist ein weiterer Aspekt für das zugrundeliegende Verständnis des Philosophierens im Unterricht relevant. Zum einen steht das Verfahren in der Tradition eines exoterischen Philosophieverständnisses,

Glückvorstellungen von Kindern und Jugendlichen …

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zum anderen rückt es die Bedeutsamkeit von Begriffsarbeit in den Fokus des unterrichtlichen Arbeitens. Dafür, dass das Definieren von Begriffen als genuin philosophische Tätigkeit und Aufgabe zählt, gibt es zahlreiche Belege. Im Folgenden sei auf einige wenige eingegangen: Ajdukiewicz eröffnet seinen „Abriss der Logik“ (u. a.) mit einem Verweis auf Sokrates. Dessen Anliegen sei es gewesen, den Sophisten, die die Kunst der Begründung für ihre Zwecke missbraucht haben, damit zu begegnen, Begriffe in ihrer Bedeutung zu präzisieren (vgl. Ajdukiewicz 1958, S. 33). Ein Austausch von Kindern und Jugendlichen über philosophische Begriffe steht somit in sokratischer Tradition und wird auch in moderneren Ansätzen gestützt. So sprechen z. B. Deleuze und Guattari in ihrer Einleitung zu der Frage, was Philosophie sei, davon, dass die Philosophie die Kunst der Bildung, Erfindung und Herstellung von Begriffen ist (vgl. Deleuze und Guattari 2000, S. 6). In dem Moment, wo Schülerinnen und Schüler dazu angehalten werden, Begriffe zu definieren, gar adäquate Begriffe zu (er)finden, philosophieren sie. Dieses Verständnis ist für die folgenden Überlegungen zentral, da das hier vorzustellende Philosophieren im Unterricht seinen Ausgang bei Begriffsimpulsen nimmt. Dies leitet über zu der zweiten Fragestellung:

1.2 Förderung des philosophischen Selbstdenkens in einem unterrichtlichen Kontext Das Philosophieren im Zeichen des Hermes nimmt seinen Ausgang bei einem Begriffsimpuls. Über diesen wird sich in einem freien Gespräch ausgetauscht. Das Verfahren knüpft an Traditionen von Leonard Nelson (1996), Gareth B. Matthews (1993, 1995) und Lipman et al. (1980) an. Diese beschäftigen sich mit dem philosophischen Potenzial von Kindern, das diese in Gesprächen zeigen. Dabei geht es diesen Vertretern jedoch weniger um Begriffsarbeit wie dem Philosophieren im Zeichen des Hermes. Das hier vorzustellende Verfahren initiiert den freien Austausch allein durch eine Konfrontation mit einem Begriff. Einige philosophische Begriffe haben für Schülerinnen und Schüler einen starken Lebensweltbezug und eine alltagspraktische Relevanz. Ein solcher Begriff ist auch der des Glücks und verbunden mit diesem die Frage nach einem gelingenden Leben. Es liegt somit nichts näher, als die Schülerinnen und Schüler selbst zu Wort kommen zu lassen, was sie dazu denken. Es reicht aus, den Kindern oder Jugendlichen den Begriff „Glück“ zu nennen und abzuwarten, was sie dazu sagen. Hier wird nun deutlich, warum Hermes zum Namenspatron dieses Vorgehens auserkoren worden ist. Den meisten Lesern und Leserinnen ist Hermes vermutlich als Götterbote bekannt. Darin erschöpft sich seine Aufgabe in der Mythologie jedoch nicht. Er fungierte auch als Begleiter von Reisenden. Dabei wacht er über diese im Hintergrund und wird

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nur dann aktiv, wenn z. B. ein Felsbrocken den weiteren Weg versperrt. Diese Metaphorik ist für den Unterricht so zu verstehen, dass sich die Lehrerin oder der Lehrer wie ein Hermes verhält. Sie oder er hört während des Gesprächs nur zu, folgt den Gedanken der Kinder und Jugendlichen und greift nur unterstützend ein, wenn das Gespräch ins Stocken gerät. Ich möchte deutlich betonen, dass es besonders erstrebenswert ist, gar nicht in das Gespräch über den Begriff einzugreifen, da jeder Eingriff auch ein Element der Steuerung darstellt. Dies erfordert Geduld und Gelassenheit auf Seiten der Lehrperson. Im Folgenden soll nun exemplarisch eine Auseinandersetzung mit dem Begriff „Glück“ gezeigt werden, wie diese in einem Unterricht im Zeichen des Hermes aussehen könnte.

2 Zu Wort kommen lassen – aber wie? Seinen Ausgangspunkt nimmt dieser Unterricht – wie gesagt – bei einem freien Gespräch. Auch wenn es zahlreiche didaktische Überlegungen zum gelingenden Unterrichtgespräch gibt, so möchte ich an dieser Stelle eine Einladung an Sie als Leser und Leserin aussprechen. Eine einfache Möglichkeit zu erfahren, was Kinder und Jugendliche über Glück denken, ist, sie danach zu fragen. Sie sind „lediglich“ als Zuhörer – bzw. Hermes – anwesend und notieren, was ihre Schülerinnen und Schüler sagen. Kinder und Jugendliche – zumindest ab der Jahrgangsstufe 5 – verfügen über ein differenziertes Verständnis davon, wie man ein gutes Gespräch führt (vgl. Teubler i. E., 2019, S. 65 ff.). Nichts weiter ist notwendig, als an dieses Verständnis anzuknüpfen und folgende drei Regeln als Unterstützung für das Gespräch sichtbar für alle zu notieren: • Wir melden uns nicht. • Wir lassen einander ausreden. • Wir beziehen uns auf das, was vorher gesagt wurde. Sind diese Regeln transparent gemacht, können Sie an der Tafel das Stichwort „Glück“ notieren. Nun beginnt ihre Phase als ZuhörerIn. Versuchen Sie die Gedanken zu notieren. Sicherlich kommen Ihnen direkt folgende Sorgen: a) Es kommt bestimmt zu einem unstrukturierten Durcheinander, wenn ich keine deutlichere Struktur vorgebe, b) es werden bestimmt nur wenige zielführende Beiträge formuliert, die ich für den Unterricht nutzen kann. Trotzdem möchte ich Sie ermutige, warten Sie ab. Meiner Erfahrung nach sind Kinder und Jugendlichen in der Lage, einen Gedankenaustausch zu einem Begriff selbst zu strukturieren. Sie erklären aus einem inneren Impuls, was sie unter dem Begriff verstehen. Sie als Lehrperson können nun die Gedanken der Jugendlichen ordnen, ich empfehle ihnen keine zu komplexe Kategorisierung der Gedanken vorzunehmen. Eine einfache Möglichkeit, die auch für das weitere unterrichtliche Arbeiten

Glückvorstellungen von Kindern und Jugendlichen …

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ertragreich ist, ist die Unterscheidung in Beispiele und Definitionsversuche. Im Anschluss an diese Unterscheidung können Sie zum Beispiel ausgehend von den Definitionsversuchen Ihr weiteres unterrichtliches Vorgehen planen. Zu welchem Definitionsversuch fällt Ihnen ein Philosoph ein, der eine ähnliche Glücksvorstellung hat, zu welchem finden Sie in der philosophischen Tradition eher widersprechende Auffassungen etc. Die philosophische Ideengeschichte wird Ihnen Material liefern, um mit den Kindern oder Jugendlichen im Philosophieren voranzuschreiten. Hierbei kommt nun ein Element der Steuerung mit ins Spiel, da Sie als Lehrerin oder Lehrer auf Ihr Wissen zurückgreifen und davon ausgehend Möglichkeiten des Weiteren unterrichtlichen Agierens entwerfen. Eine Möglichkeit wäre, dies den Schülerinnen und Schülern transparent zu machen. Sie können sich Zeit nehmen und den Jugendlichen Ihre entworfenen Reiserouten offenlegen. Die Lerngruppe könnte hier einbezogen werden, welche dieser Reiserouten sie weiter vertiefen möchte. Sie als Lehrperson können dabei auch Leerstellen aufzeigen. Dies könnte so aussehen, dass sie einen aus dem Gespräch stammenden Gedanken nennen, aber darauf verweisen, dass ihnen für die weitere Auseinandersetzung im Unterricht noch Material fehlt. U.U. kommen den Schülerinnen und Schülern auch eigene Ideen, wie man mit dem Gedanken weiter verfahren könnte.

3 Glück ist, wenn man sich freut – Glücksvorstellungen von Jugendlichen Meine Zuversicht, dass dieses Verfahren glückt, basiert auf 29 derartig durchgeführten Gesprächen vom Kindergarten bis in die Oberstufe, von denen elf zwölf ihren Ausgang beim Begriff „Glück“ genommen haben (vgl. Teubler i. E., 2019, S. 65 ff.). In allen Gesprächen sind vielfältige Vorstellungen geäußert worden, was Glück ist. Dabei sind persönliche Erlebnisse geschildert, die Unterscheidung in „Glück haben“ und „glücklich sein“ getroffen und verschiedene weitere Definitionsversuche unternommen worden. Stellen Sie sich vor, Sie als Lehrperson hätten diesem Geschehen als ZuhörerIn – wie eben beschrieben – beigewohnt und sich einzelne Gedanken notiert. Natürlich können Sie nie alle Überlegungen mitschreiben, haben Sie Mut zur Lücke, notieren Sie, so viel Sie können, aber überfordern Sie sich nicht. Im Anschluss an das Zuhören sollte Sie sich Zeit nehmen, die Gedanken zu sortieren. Sie können der eben ausgesprochenen Empfehlung folgen und Definitionsversuche und Beispiele unterscheiden. Es bietet sich an, der Lerngruppe ihre Mitschriften zu präsentieren und diese in einem Tafelbild – oder Vergleichbarem – zusammenzufassen. Hier besteht nun die Möglichkeit, den Schülerinnen und Schülern Raum für Ergänzungen zu eröffnen. Diese können Sie dann in das Tafelbild einfügen. Danach entscheiden Sie zunächst, welchen Gedankengang Sie nun philosophisch weiter im Unterricht vertiefen wollen. Dies ermöglicht Ihnen, auf Pfade der philosophischen Auseinandersetzung zu kommen, auf denen Sie sich

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L. Teubler

sicher fühlen. Dieser Aspekt ist in Unterrichtszusammenhängen durchaus wichtig, da das Philosophieren mit ca. 25 Kindern oder Jugendlichen eine Herausforderung darstellt. Wie eben bereits gesagt, können Sie natürlich auch die Schülerinnen und Schüler entscheiden lassen, welche Route weiter bewandert wird. Dies wäre der Idealfall, der allerdings sehr viel Erfahrung und Flexibilität der Lehrperson erfordert. Ich persönlich kann sagen, dass es mir unterschiedlich gut gelingt, so flexibel zu agieren. Im Folgenden möchte ich Ihnen nun eine Reiseroute vorstellen, die sich in vielen von mir gehörten Gesprächen ergeben hat. Fast alle Schülerinnen und Schüler äußerten den Gedanken: „Glück ist ein Gefühl!“. In Gesprächen, die in der oben umrissenen Form im Unterricht stattgefunden haben, erstreckt sich diese Vorstellungen von der fünften Klasse bis in die Oberstufe. Exemplarisch seien hier einige Äußerungen zitiert: „Glück spürt man“ (Klasse 5), „Das Gefühl des Glücklichseins begleitet ein Ereignis, das sich Glück nennt“ (Klasse 9) und Glück besteht dann, „wenn man glücklich ist“, wobei das, was glücklich macht, variiert (Jahrgangsstufe Q1). Insbesondere der letzte Gedanke erhielt von mir besondere Aufmerksamkeit, da die Jugendlichen diese Variation an Möglichkeiten, was alles glücklich machen kann, besonders betonten. Eine besondere Variante, was glücklich machen kann, ergab sich in der siebten Jahrgangsstufe: Geld macht nicht immer glücklich. Deshalb möchte ich diese im Folgenden exemplarisch in den Fokus rücken. Folgende Gedanken wurden geäußert: „Wenn du zum Beispiel voll die nette Familie hast, die dir hilft, kannst du trotzdem Glück haben. Brauchst ja kein Geld dafür“. „Ich glaube, wenn man irgendwie, also eben ärmer ist, dann ist man auch schon glücklich, wenn man ein bisschen Geld oder Essen hat und wenn man halt reich ist, dann ist man damit halt nicht glücklich“. „Ja, Geld macht auch nicht immer glücklich“. „Nee, Familie macht dann eher glücklicher“. „Die in Afrika sind glücklich, wenn sie nicht arbeiten müssen, wir sind glücklich, wenn wir arbeiten dürfen“. „Ah ja, viele Reiche sind nicht unbedingt glücklich, wenn sie viel Geld haben“.

(Anmerkung: Ich möchte darauf verweisen, dass diese Gedanken selbstverständlich „political incorrect“ sind. Es erfolgt in diesem Verfahren keinerlei Zensur. Es geht darum, dass man die Gedanken der Schülerinnen und Schüler zu hören bekommt und mit diesen weiterarbeiten kann. Wie bereits zu Beginn des Artikels erwähnt, soll der freie Fluss des Gesprächs möglichst nicht gestört werden).

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Offenbar treibt die siebte Klasse v. a. der Gedanke um, welche Rolle Geld für das eigene Glücklichsein spielt. Diesen Gedanken rückte ich somit ins Zentrum des nachfolgenden Unterrichts.

4 Geld macht glücklich? – Unterrichtliche Konkretion Der weitere Verlauf des Unterrichtsgeschehens wird nun auf Basis des geführten Gespräches der siebten Klasse weiter ausgeführt und mit den im Gespräch vorgebrachten SchülerInnenbeiträgen gestützt. Dieses Vorgehen ist exemplarisch zu verstehen und kann strukturell auf andere Unterrichtsstunden übertragen werden. Die These: „Geld macht glücklich“ sollte aufgegriffen und diskutiert werden. Dazu könnte man zunächst eine Positionierung entlang einer Strecke einfordern. Das eine Ende der Strecke repräsentiert den Standpunkt, dass die These voll zutrifft, das andere Ende hingegen, dass der Standpunkt nicht zutrifft. Alle weiteren Punkte auf der Strecke stehen für Variationen dahingehend, dass die These mehr oder weniger zutreffend eingestuft wird. Einzelne Schülerinnen und Schüler werden aufgefordert, ihre Positionierung zu begründen. Dabei würde vermutlich deutlich werden, dass Geld allein nicht glücklich macht, aber eben Vieles ermöglichen kann, was Spaß bereitet. Spaß und Glückgefühle (glücklich sein) werden hier annähernd synonym verwendet. Als Überlegung des Zusammenspiels von materiellem und nicht-materiellem Glück, bietet sich folgendes Gedankenspiel an: Wie gestaltet sich für dich ein gelungener Geburtstag? Der Geburtstag ist ein Tag, der in den meisten Kulturen gefeiert wird. Es ist zu erwarten, dass die Jugendlichen folgende Gedanken auf die Frage äußern: „Ich bekomme etwas geschenkt, das ich mir gewünscht habe, ich feiere mit meiner Familie und meine Freunde und Freundinnen kommen zu Besuch“. Am Geburtstag spielt das Schenken und das soziale Umfeld eine große Rolle, somit treten materielle und immaterielle „Güter“ gemeinsam auf. Hier kann sich ein Gespräch darüber ergeben, welche Bedeutsamkeit Geschenken, Besuchen, Wünschen und Gästen zugesprochen wird. Dadurch können die Schülerinnen und Schüler die Rolle verschiedener Faktoren – seien sie nun materieller und immaterieller Art – für das eigene Glücklichsein exemplarisch durchdenken.

5 Vom Kind zum Philosophen In den vorangegangenen Überlegungen stehen die Beiträge der Schülerinnen und Schüler im Zentrum des Unterrichtsgeschehens. Meiner Erfahrung nach erzeugt dieser gedankliche und unterrichtliche Weg, der die Vorstellungen der Jugendlichen genau in den Blick nimmt, ein hohes Maß an Motivation. Nun können diese Gedanken auch noch – wie schon angedeutet – mit der philosophischen Tradition

L. Teubler

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verbunden werden. Dadurch fühlen sich die Kinder und Jugendlichen im eigenen Denken und Philosophieren ernst genommen und bekommen einen weiteren Diskurspartner an die Seite gestellt – den jeweiligen philosophischen Text. Hier sei nun exemplarisch auf Epikur und seinen Brief an Menoikus verwiesen, da sich dieser für die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis Freude und Glück anbietet. Damit sollen die Überlegungen hinsichtlich der Glücksgefühle oder dem Spaß, den man haben kann, weiter vertieft werden.

6 Epikurs Brief an Meoikus In seinem Brief an Menoikus führt Epikur aus (die folgenden Ausführungen finden sich ebenso in ausführlicherer Form in Teubler 2019, S. 118 ff.), warum die Lust „Anfang und Ende des seligen Lebens ist“ und als Lebensziel anzusehen ist. Der Beweis dafür liegt im Menschen und dessen Verhalten selbst, das von Geburt an darauf ausgerichtet ist, Lust zu erzielen und Schmerz zu meiden (vgl. Epikur 1980, S. 47). Ganz im Sinne der SchülerInnengedanken stehen auch seine Überlegungen, dass dasjenige, welches Lust verschafft, individuell zu bestimmen ist. So gibt es die Lust des Geschmacks, der Liebe, der Musik oder die Lust, die durch den Anblick einer bestimmten Person ausgelöst wird (vgl. ebd., S. 47). Epikurs Auseinandersetzung mit den Lüsten bzw. Begierden zeigt seine Differenziertheit in der Betrachtung und seine begriffliche Genauigkeit. Begierden gibt es für ihn in zweifacher Form, nämlich natürlich und nichtig. Diese natürlichen Begierden lassen sich wiederum unterteilen in notwendige und diejenigen, die „bloß“ natürlich sind. Die notwendigen gibt es in dreifacher Form: a) die die Glückseligkeit befördern, b) die Ungestörtheit des Leibes ermöglichen und c) zum Leben überhaupt gehören. An diese terminologische Ausdifferenzierung schließt er die Benennung des Fundaments eines gelingenden Lebens an: 1) Gesundheit des Leibes und 2) Beruhigtheit der Seele (vgl. ebd., S. 47). Zusammenfassend lassen sich die Begierden wie folgt darstellen:

zur Glückseligkeit

Begierden

natürlich nichg

notwendig

Ungestörtheit des Leibens

bloß natürlich zum Leben überhaupt

Glückvorstellungen von Kindern und Jugendlichen …

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Da der Primärtext in angemessen gekürzter Form auch von jüngeren Schülern gelesen werden kann, können diese zunächst die oben genannten Begierden nach Epikur erarbeiten und dann eigene „Begierden“ in diesem Schema ergänzen. Denkbar wären folgende „Schülerbegierden“: Essen, Behausung, Freundschaft, Schlaf, Sex, Ehrgeiz, Tanzen, Fußballspielen Folgendes Ergebnis wäre zu erwarten:

Begierden

natürlich Tanzen,

Essen, Behausung, Schlaf

Freundscha

Sex, Ehrgeiz

Ehrgeiz

Fußballspielen

(Anmerkung: Besondere Diskussionen werden sich vermutlich im Zusammenhang mit dem Begriff des Ehrgeizes ergeben, da Ehrgeiz nicht eindeutig in das Schema eingeordnet werden kann. Es gibt plausible Gründe dafür, diesen als bloß natürliche Begierde auszuweisen, da ein Mensch, der mit dieser Eigenschaft geboren wird, diesen ggf. verliert, wenn er immer wieder daran scheitert, diesen zu befriedigen. Man könnte ihn aber auch als eine notwendige Begierde ansehen, die dem Leben überhaupt dient). Besondere Beachtung kann auf den Aspekt der Freundschaft gerichtet werden, da die Schülerinnen und Schüler diesen vermutlich ähnlich stark gewichten wie Epikur es tut. Freundschaft ist für Kinder in diesem Alter ein besonders wichtiges Thema. Es drängt sich erneute Begriffsarbeit auf, da zu klären ist, was genau einen Freund ausmacht. Hier könnten die Schülerinnen und Schüler erneut ein Gespräch im Zeichen des Hermes zum Begriff „Freundschaft“ führen, um dann Epikurs Ausführungen mit den eigenen Vorstellungen abzugleichen. Das geschilderte unterrichtliche Vorgehen kann auf vielfältige Zusammenhänge übertragen werden. Lassen Sie sich überraschen, welche philosophischen Denker in Ihren Schülerinnen und Schülern schlummern.

7 Kleiner Mutmacher Das skizzierte Verfahren wird beim Anfänger des Unterrichtens sicherlich Widerstände auslösen und auch der erfahrene Lehrende wird Bedenken haben. Ich möchte kurz Problemfelder des Philosophierens im Zeichen des Hermes aufzeigen (diese Überlegungen finden sich auch in Teubler i. E., 2019, S. 273 ff.) und zugleich Mut machen, sich auf das Vorgehen einzulassen.

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L. Teubler

Folgende „Problemfelder“ lassen sich m.E. erkennen, die sich v.a. für die Schülerinnnen und Schüler ergeben: a) Sensibilität In einem freien Gespräch, wie es hier erwünscht ist, ist ein Höchstmaß an Sensibilität erforderlich, um wahrzunehmen, wann man sich selbst einbringen kann oder wann ein anderer zu Wort kommen möchte. b) Bezugnahmen Zudem erfordert es sehr genaues Zuhören, um sich auf die Vielfalt an Beiträgen einlassen zu können und sich auf diese zu beziehen. Dies hat sich in vielen Gesprächen als die größte Schwierigkeit erwiesen. Viele Gedanken werden bezugslos geäußert. c) Aktive Beteiligung In allen Gesprächen gibt es Kinder und Jugendliche, die gar nichts sagen. Umso größer die Gruppe, umso größer die Chance (oder Gefahr) nichts sagen zu müssen (bzw. nicht zu Wort zu kommen). Es gibt aber auch dominante SprecherInnen, die das Gespräch maßgeblich steuern. Es drängt sich der Eindruck auf, dass das Verfahren eher für Kleingruppen (bis zu 15 Kindern) geeignet ist. Dies kollidiert eklatant mit der Situation, die wir in Schule vorfinden. Gängige Lerngruppen umfassen 25 oder mehr Kinder und Jugendliche. Nun jedoch zu meinem Appell an den Mut der Lehrperson, sich authentisch auf die Gedanken der Schülerinnen und Schüler ausgehend von einem Begriff einzulassen. Mehrere Gründe möchte ich anführen: 1. Sowohl der Aspekt a) Sensibilität als auch die Schwierigkeit der b) Bezugnahme können m.E. nur verbessert werden, indem Schülerinnen und Schüler in Situationen gebracht werden, in denen das Wahrnehmen der (Rede-) Bedürfnisse der anderen möglich ist. Das kann nur in einer echten Gesprächssituation trainiert werden. Gleiches gilt für die Fähigkeit, auf das, was andere sagen, Bezug zu nehmen. In einem klassischen (gelenkten) Unterrichtsgespräch entsteht i.d.R. gar nicht die Fülle an Gedanken, dass vom Jugendlichen überhaupt eine Entscheidung getroffen werden muss, worauf er sich im Folgenden bezieht. Rederechte werden durch die Lehrperson verteilt, indem SchülerInnen, die sich melden, drangenommen werden. Oftmals wird dann, sollte sich ein Redebeitrag nicht auf den Vorredner beziehen, darauf direkt hingewiesen. Im freien Gespräch im Zeichen des Hermes sind die Schülerinnen und Schüler selbst gefordert, dies zu erkennen und zu leisten. Meine eigene Erfahrung zeigt mir, dass Kinder und Jugendliche es schätzen, frei sprechen zu dürfen und schnell erkennen, dass gelingende Gespräche dann geschehen, wenn sie einander zuhören. Oftmals habe ich den Eindruck gewonnen, dass, wenn Kinder und Jugendliche das erste Mal in ein offenes Unterrichtsarrangement „geworfen“ werden, zunächst ein Schweigen und dann ein Durcheinander entstehen. Das Schweigen wirkt wie eine Verwunderung darüber, nicht genau zu wissen, was nun getan werden soll. Ich habe häufig die Frage gehört: „Darf ich

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jetzt einfach so was sagen?“. Wenn die Schülerinnen und Schüler verstehen, dass dies möglich ist, reden viele drauf los, da sie eine Chance ergreifen, die ihnen im Schulalltag kaum begegnet. Sie werden nicht durch eng strukturierte Stunden, Lehreranleitung, Sozialformen- und Methodenwechsel durch eine Situation geleitet, sondern sie dürfen selbst „einfach mal machen“. Dies kann, wie bereits erwähnt, zunächst zu Chaos führen, da viele gleichzeitig zu Wort kommen wollen. Manchmal werden auch bewusst provokante Äußerungen getätigt. Dies wirkt auf mich i.d.R. wie eine Art Test, ob ich als Lehrerin wirklich nichts sage. Wenn es mir gelingt, diese Provokationen unkommentiert zu lassen und das Durcheinander zu ertragen, tritt die Selbstregulation von Seiten der Kinder und Jugendlichen ein. Ich führe dies darauf zurück, dass es auch für die Schülerinnen und Schülern keinen Sinn macht, durcheinander zu reden. Dadurch entsteht nichts. Weder hört man den anderen noch wird man selbst gehört. Eine solche Situation ist nicht angenehm und auch nicht interessant oder lustig. Ich persönlich habe bisher nur Lerngruppen (bis zu 29 Schülerinnen und Schülern) begleitet, die in kürzester Zeit in der Lage gewesen sind, freie, konstruktive Gespräche zu führen. Zudem können auch Modifikationen des Verfahrens vorgenommen werden: i) Man teilt die Lerngruppe. Mittlerweile haben viele Schulen Räume zur inneren Differenzierung zur Verfügung. Wenn man also mit einer kleineren Gruppe über einen Begriff sprechen möchte, kann die andere Hälfte der Klasse einen Arbeitsauftrag in einem anderen Raum erledigen. Danach tauschen die Gruppen, damit alle gehört werden können. ii) Wenn die SchülerInnen das Verfahren besser kennen, können sie auch selbst in Kleingruppen derartige Gespräche führen. Dann wird eine Schülerin oder ein Schüler zum Hermes, der die Gedanken mitschreibt. Diese könnte man dann gemeinschaftlich systematisieren. 2. Die Frage der SchülerInnenaktivierung ist eine, die in didaktischen Zusammenhängen oftmals unter der Perspektive diskutiert wird: Wie schaffe ich es, möglichst viele Schülerinnen und Schüler im Unterricht zu einer aktiven Beteiligung anzuregen? Eben ist dies unter dem Problemfeld c) „aktive Beteiligung“ angedeutet worden. Auch ich empfinde es als erstrebenswert, vielen Kindern und Jugendlichen eine aktive Auseinandersetzung mit philosophischen Themen zu ermöglichen. Allerdings glaube ich, dass zum einen i) der Begriff der Aktivierung in derartigen Diskussionen zu eng gefasst wird, zum anderen glaube ich, dass es oftmals nicht um Aktivierung, sondern um ii) die Frage der fairen Leistungsbewertung geht. Zu i: Ob bestimmte Unterrichtsarrangements Schülerinnen und Schüler aktivieren, wird damit gleichgesetzt, dass sich diese aktiv, mittels mündlicher Beiträge ins Unterrichtsgeschehen einbringen. Was in den Köpfen sowohl der Redenden als auch der Schweigenden vorgeht, weiß man nicht und wird man auch nie erfahren. Deshalb würde ich Aktivierung immer als ein Eröffnen von Möglichkeiten der Auseinandersetzung begreifen. Diese können vielfältig ergriffen werden oder eben nicht. Letztlich kann und will ich niemanden in eine Auseinandersetzung zwingen.

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Zu ii: Dies führt mich direkt zu dem Thema Leistungsbewertung. Die mündliche Beteiligung von Schülerinnen und Schülern ist durch das System Schule verordnet, da diese separat von der schriftlichen benotet wird. Ich persönlich würde immer auch auf meine Wahrnehmung als Lehrerin vertrauen, ob ich den Eindruck habe, dass jemand mitdenkt. Sicherlich bewegt man sich damit im Bereich des Mutmaßens, aber man muss auch bedenken, dass es verschiedene Persönlichkeitstypen gibt. Die extrovertierten, offensiveren Charaktere werden systemisch deutlich bevorzugt. Ich erachte es somit nicht nur als meine pädagogische Freiheit, sondern auch pädagogische Pflicht auf stillere, introvertiertere SchülerInnen Rücksicht zu nehmen und zwar nicht in der Form, sie immer wieder aktiv aufzufordern, etwas zu sagen, sondern sie zu beobachten, sie wahrzunehmen. Zudem glaube ich, dass LehrerInnen oftmals in einen „Abprüfungswahn“ verfallen. Das ist auch nicht verwunderlich, da der LehrerInnenalltag aufs engste mit Bewertungen verknüpft ist. Man sollte m.E. aber darauf achten, dass sich diese Verknüpfung nicht verselbstständigt. Darüber hinaus habe ich sehr positive Erfahrungen mit stilleren SchülerInnen gemacht, die, wenn sie Sicherheit in diesen freien Gesprächen gefunden haben und wissen, dass sie durch ihre Beiträge das weitere Unterrichtsgeschehen mitgestalten können, durchaus mutiger werden und sich beginnen mündlich zu beteiligen. Als Angebot kann man auch immer eröffnen, dass Gedanken schriftlich auf Zetteln nachgereicht werden, wenn dies – für den ein oder anderen Jugendlichen – leichter ist. Insgesamt denke ich, dass keines der genannten Problemfelder dazu führt, das Verfahren für den alltäglichen Unterricht als unbrauchbar auszuweisen. Vielmehr zeigt sich auch in der Auseinandersetzung mit diesen Aspekten, dass das Verfahren auch für den Lehrer oder die Lehrerin Chancen eröffnet, freier in der Unterrichtsgestaltung zu werden und systemische Forderungen zu überdenken und eigene Haltungen dazu zu entwickeln. Nicht nur die Gedanken der Kinder und Jugendlichen werden hier aufgewertet, da sie gehört und zur Struktur des Unterrichts werden, sondern auch das Denken des Lehrers, seine Expertise ist gefordert. Wir denken gemeinsam mit unseren Schülerinnen und Schülern, stellen uns der Vielfalt an Gedanken und entwerfen sinnvolle Reiserouten, die beschritten werden. Für mich persönlich drückt sich darin ein Ideal authentischen Philosophierens aus, das alle am Prozess Beteiligten ernst- und wahrnimmt.

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