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German Pages 249 [256] Year 2015
Geschichte Franz Steiner Verlag
Die Ökonomie sozialer Beziehungen Ressourcenbewirtschaftung als Geben, Nehmen, Investieren, Verschwenden, Haushalten, Horten, Vererben, Schulden Herausgegeben von Gabriele Jancke und Daniel Schläppi
Gabriele Jancke / Daniel Schläppi (Hg.) Die Ökonomie sozialer Beziehungen
gabriele jancke / daniel schläppi (hg.)
Die Ökonomie sozialer Beziehungen Ressourcenbewirtschaftung als Geben, Nehmen, Investieren, Verschwenden, Haushalten, Horten, Vererben, Schulden
Franz Steiner Verlag
Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung des Friedrich-Emil-Welti-Fonds und der Dr. Jacques Koerfer-Stiftung
Umschlagabbildung: Jan Vermeer (1632–1675): Dame en dienstbode (1666/67) Copyright the Frick Collection (anstelle einer Bildlegende s. Ausführungen in Anm. 42 auf S. 24) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11052-5 (Print) ISBN 978-3-515-11109-6 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS Gabriele Jancke, Daniel Schläppi Einleitung: Ressourcen und eine Ökonomie sozialer Beziehungen ....................... 7 FORSCHUNGSBEZÜGE, THEORIEN UND METHODEN Daniel Schläppi Ökonomie als Dimension des Relationalen. Nachdenken über menschliches Wirtschaften jenseits disziplinärer Raster und Paradigmen ................................. 37 Christof Jeggle Ressourcen, Märkte und die Ökonomie sozialer Beziehungen ............................ 65 RESSOURCEN IM TRANSFER Andreas Pečar Status-Ökonomie. Notwendige Investitionen und erhoffte Renditen im höfischen Adel der Barockzeit ........................................................................ 91 Sebastian Kühn Ein Sack Morcheln und die Astronomie. Ressourcenzirkulation und -konversion in der Naturforschung um 1700 ............................................... 109 BEZIEHUNGSLOGIKEN Gabriele Jancke Der Wert der Worte – Bewerten und Prozessieren in Handlungsketten im Kontext von frühneuzeitlicher Gastlichkeit ................................................... 127 Margareth Lanzinger Liebe, Ehe, Ökonomie. Materielle und immaterielle Ressourcen im Kontext von Verwandtenheiraten ..................................................................................... 157 Mischa Suter „Rechtstrieb“. Schulden, Personen und Verfahren im liberalen Kapitalismus (Schweiz, 19. Jahrhundert) ........................................................... 177
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Inhaltsverzeichnis
Claudia Jarzebowski „üeber das große, weite, ungestüeme Meer“. Die Familie Fahnenstück und ihre Briefe, 1728–1765 ................................................................................ 199 Kristina Bake Manus manum lavat. Von der Ökonomie des Eheglücks – die Haushaltung in der populären Druckgraphik ........................................................................... 221
EINLEITUNG: RESSOURCEN UND EINE ÖKONOMIE SOZIALER BEZIEHUNGEN Gabriele Jancke und Daniel Schläppi Drei zentrale Merkmale charakterisierten den Umgang frühneuzeitlicher Gesellschaften mit Ressourcen: Einen wichtigen Stellenwert nahmen erstens kollektive Ressourcen bzw. Gemeinbesitz und dessen Bewirtschaftung zum ‚gemeinen Nutzen‘ ein. Dieser Sachverhalt wird offenkundig am Beispiel korporativ organisierter Institutionen und Allmenden. 1 Zweitens waren neben materiellen auch immaterielle Ressourcen Gegenstand sozialer Techniken des Transfers, der Bewertung und der Konvertierung. 2 Drittens spielten Ressourcen in sozialen Beziehungen eine zentrale Rolle, so dass mindestens die Alltagsökonomie als unmittelbares Ergebnis sozialer Bindungen interpretiert werden muss. 3 Daraus ergeben sich eine Fülle von Fragen: Wie wurden verschiedene Arten von Gütern, materielle wie immaterielle, gegeneinander verrechnet? Wie wurden der Gewinn von Ehre und das Abgeben materieller Ressourcen, wie der Zugang zu sozialen Kontakten und das Erbringen von Loyalität in ein Verhältnis zueinander gebracht? Welchen ökonomischen Regeln gehorchten soziale Beziehungen, auch über Patronageverhältnisse hinaus? Welche Rolle spielten Ressourcen in Beziehungen? Für wen waren welche Ressourcen relevant, verfügbar oder zugänglich? In welche Netzwerke und Tauschverhältnisse konnte man aufgrund dessen einsteigen, welche blieben verschlossen? Inwiefern waren (und sind) Ressourcen in ihrer Wahrnehmung und im Umgang an konkrete soziale Beziehungen gebunden, können also nicht als beziehungsfreie Größen konzipiert werden? Was bedeutet es für ein ökonomisches Modell, wenn auch immaterielle Ressourcen wie Loyalität oder Ehre ins Kalkül einbezogen werden, wie es Andreas Pečar zur
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Vgl. ELINOR OSTROM: Governing the Commons. The Evolution of Institutions for Collective Action, Cambridge 1990 (dt.: Die Verfassung der Allmende, jenseits von Staat und Markt, Tübingen 1999); DANIEL SCHLÄPPI: Das Staatswesen als kollektives Gut. Gemeinbesitz als Grundlage der politischen Kultur in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, in: Neue politische Ökonomie in der Geschichte, hg. v. JOHANNES MARX und ANDREAS FRINGS, Köln 2007 (Historical Social Research / Historische Sozialforschung, Special issue, 32/4), S. 169–202. Dazu s. GIOVANNI LEVI: Das immaterielle Erbe. Eine bäuerliche Welt an der Schwelle der Moderne, Berlin 1986 (zuerst it.: L’eredità immateriale. Carriera di un esorcista nel Piemonte del Seicento, Turin 1985). Über den Begriff ‚Ressourcen‘ lassen sich mehr Dimensionen von Gütern und Wertigkeiten fassen, als dies im Korsett der Kapitalien möglich ist; zu einer Abgrenzung gegenüber Pierre Bourdieus Kapitalbegriff s. u. den Abschnitt über das Wesen von Ressourcen (bei Anm. 27).
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„Ökonomie der Ehre“ angeregt hat? 4 An welchen Ressourcen, an welchen Verhaltensweisen und welchen Beziehungsökonomien partizipierten Männer, an welchen Frauen, und inwiefern spielten Geschlechterkonzepte dabei eine Rolle? In welchen Geschlechterkonstellationen und mit welchen Geschlechterkonnotationen wurden welche Ressourcen verhandelt? Diese Fragen wurden zunächst auf einem überaus ertragreichen interdisziplinären Workshop in Berlin im Jahr 2010 diskutiert, dessen Ergebnisse nach weiteren intensiven Diskussionen hier vorgelegt werden. Einige konzeptuelle Überlegungen aus dem Vorfeld des Workshops und aus den thematischen Forschungen der HerausgeberInnen wurden dann in einem Themenbeitrag für die Zeitschrift L’Homme (2011) verarbeitet. 5 Verschiedene Beiträge aus diesem gemeinsamen Diskussionsfeld sind auf der Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit in München 2013 zum Thema „Praktiken der Frühen Neuzeit“ vorgestellt worden. 6 Im Sinn einer Zwischenbilanz des aktuellen Diskussionsstands geht diese Einleitung im Folgenden näher auf theoretische und konzeptionelle Aspekte der Thematik ein und rekapituliert unter Rückgriff auf einige Kernpunkte dieser Argumentationen deren mögliche Implikationen für die empirische Arbeit. 1 ÖKONOMIE IN SOZIALEN BEZIEHUNGEN Dass sich asymmetrische Beziehungen aus dem Transfer von Ressourcen speisen und dass dabei sowohl materielle als auch immaterielle Güter im Spiel sind, macht etwa die Patronageforschung deutlich: Es geht um Geld, soziale und politische Positionen, physische Stärke und geistige Überlegenheit, Zugang zu sozialen Räumen und weiteren sozialen Beziehungen mitsamt den daran hängenden Handlungs- und Unterstützungsmöglichkeiten, auch Fürsorge, Versorgung, Schutz, Förderung und Unterstützung, Würdigung, Loyalität, Ehre, Beratung. 7 In Anbetracht dessen erstaunt, dass bisher kaum über die Ökonomie sozialer Beziehungen nachgedacht wurde. Ein Grund dafür könnte sein, dass sich immaterielle Güter wie Loyalität oder Ehre aus historischer Perspektive hinsichtlich ihrer faktischen Bedeutung schwer messen und gewichten lassen. Aber immerhin lassen sie sich 4 5
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Vgl. ANDREAS PEČAR: Die Ökonomie der Ehre. Höfischer Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711−1740), Darmstadt 2003; s. auch den Beitrag in diesem Band. GABRIELE JANCKE/DANIEL SCHLÄPPI: Ökonomie sozialer Beziehungen. Wie Gruppen in frühneuzeitlichen Gesellschaften Ressourcen bewirtschafteten, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 22 (2011), Heft 1: „Mitgift“, hg. v. KARIN GOTTSCHALK und MARGARETH LANZINGER, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 85‒97. DANIEL SCHLÄPPI: Die Ökonomie sozialer Beziehungen. Forschungsperspektiven hinsichtlich von Praktiken menschlichen Wirtschaftens im Umgang mit Ressourcen, in: ARNDT BRENDECKE (Hg.), Sammelband der Arbeitstagung der AG Frühe Neuzeit an der LudwigMaximilians-Universität München, September 2013 (in Vorb.). Vgl. RICHARD P. SALLER: Personal Patronage Under the Early Empire, Cambridge u. a. 1982, S. 1; GABRIELE JANCKE: Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, Köln/Weimar/Wien 2002 (Selbstzeugnisse der Neuzeit 10), S. 76f.
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ermitteln und qualitativ beschreiben. So wird deutlich, dass es für die Akteurinnen und Akteure gerade darauf ankam, dass diese Beziehungen zwar erkennbar bestanden, aber nicht rechtlich fixiert waren, so dass sie als Teil eines gelebten sozialen Ethos funktionierten. Der Transfer von Ressourcen sollte über die Regeln einer sozialen Beziehung, ihre Handlungslogiken und Mechanismen vorgenommen werden. 8 Ritualisierte Lebensweisen waren der allgemeine Rahmen frühneuzeitlicher Gesellschaften, in dem sich solche persönlichen sozialen Beziehungen wie Patronage, Freundschaft, Feindschaft, Nachbarschaft, Verwandtschaft oder Ehe abspielten und erst durch das Handeln der AkteurInnen wirksam wurden. 9 2 HAUSHALTE ALS BASIS ÖKONOMISCHER PRAKTIKEN Aus Forschungen zu frühneuzeitlicher Gastfreundschaft ergibt sich, wie wichtig Haushalte als ein Umschlagplatz einer Ökonomie sozialer Beziehungen waren. Die einhellige Meinung etwa der Ökonomik-Autoren scheint zu sein, dass es im guten ökonomischen Interesse einer häuslichen Wirtschaft liege, durch Gastfreundschaft in soziale Beziehungen zu investieren – solche, die als „Freundschafft“ qualifiziert werden. Die Ökonomie dieser Freundschaftsbeziehungen ist demnach auch Teil der gesamten Haushaltsökonomie, und zwar, wie immer wieder betont wird, ein absolut unverzichtbarer. Dadurch werden Haushalte und die oft für sie konstitutive Beziehung der Ehe in ein weiteres Netz sozialer Zusammenhänge eingebunden und gerade nicht als in sich abgeschlossene Einheiten konzipiert. Ganz sicher handelt es sich dabei um die Art von Freundschaft, die dem Nutzen für die Beteiligten einen hohen Wert zuspricht. Der Nutzen darf und soll, soweit es etwa die Ökonomik-Literatur betrifft, durchaus auch materieller Natur sein. Aber es handelt sich nicht um eine einfache Tauschökonomie. Die Ökonomie, von der die Rede ist und für die gastliche Situationen den Schauplatz abgeben, umfasst komplexere Mechanismen und mehr als nur die materiellen Ressourcen. Wie soll man sich also die Ökonomie solcher Freundschaftsbeziehungen vorstellen? Ein Aspekt, der bei solchen Überlegungen frühneuzeitlicher Ökonomiken eine Rolle spielt, ist die Zeit: Der erwartete Nutzen, den soziale Beziehungen haben sollen, tritt vielleicht irgendwann einmal ein; unverzichbar hingegen sind dauernde und alltägliche Investitionen in soziale Beziehungen. Soziale Beziehungen werden als eine Art Sparkasse vorgestellt, die die Hoffnung auf vielfältige Unterstützung beinhaltet für Situationen, in denen ein Bedarf auftreten wird – Situationen, die erwartbar sind, aber nicht genau vorhersehbar und deshalb nicht plan8 9
JANCKE, Autobiographie (wie Anm. 7), S. 80, 117f. GABRIELE JANCKE: Gastfreundschaft in der frühneuzeitlichen Gesellschaft – Praktiken, Normen und Perspektiven von Gelehrten, Göttingen 2013 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 15), insbes. Kap. 3: Ressourcen – eine Ökonomie sozialer Beziehungen, S. 215– 315, sowie Kap. 4: Ritualisierte Lebensweisen – mit materiellen Gegenständen soziale Räume machen: Betten, Tische, Becher, Worte, S. 317–409.
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bar. 10 Als Erwartungshorizont spielt gleichzeitig eine mögliche Entwicklung von Feindschaft eine erhebliche Rolle, bei deren Eintreten die gleichen Beziehungen, die so nah und persönlich und so nützlich sein können, im Nu in ein beträchtliches Gefahren- und Schädigungspotential umschlagen. 11 Die erhoffte langfristige ökonomische Stabilität und Sicherheit, ebenso wie kurz- oder mittelfristige Krisenund Engpasssituationen, alltägliches Verhalten der Haushaltsmitglieder untereinander und ihr alltägliches Verhalten in Außenkontakten, sollen sich zu einer beschreibbaren Ökonomie anordnen lassen. Dabei soll der Nutzen, folgt man den Ökonomiken, gerade nicht durch die kurzfristige Interaktion des Tausches erreicht werden. Wichtig ist es den Beteiligten vielmehr, dass alle in die Beziehung investieren, nicht nur durch konkrete Gaben, sondern auch durch Geselligkeit und durch eine nicht endende Runde von gegenseitigen Besuchen in der Nachbarschaft. Es liegt in der Natur der Sache, dass man bald nicht mehr genau über Anfang und Ende, Besuch und Gegenbesuch, Gabe und Gegengabe Bescheid weiß und in diesem Sinn sich auch keine klare Rechenschaft über den genauen Stand einer bestimmten Beziehung ablegen kann. Vielmehr ergibt sich eine Situation, in der nach einer Weile jeder jedem verpflichtet ist und alle mit den Erwartungen der anderen zu rechnen haben, wie und in welchem Rhythmus sie die Kette der Begegnungen fortsetzen und wie sie sich dabei genau verhalten werden. Eine derartige klare Bilanz im Sinne von Aktion und Reaktion haben die Beteiligten auch offensichtlich überhaupt nicht vor. So viel in den Ökonomiken auch von Nutzen und vom Rechnen die Rede ist, zu dieser Operation von Beziehungsberechnung wird doch nirgends aufgefordert. Dabei würde man auch voraussetzen, dass es sich um eine dyadische Beziehung zwischen nur zwei Seiten handle. Von einer solchen Herauslösung einer bipolaren Freundschaftsbeziehung aus dem ganzen Beziehungsgeflecht, das sich zudem um die verschiedensten menschlichen Angelegenheiten gleichzeitig dreht, ist jedoch nicht die Rede. 12 Ressourcen konnten in der Frühen Neuzeit auch verstanden werden als etwas, was in Bezug auf eine göttliche Instanz und damit auch als eine religiöse Angelegenheit zu sehen, zu bewerten und zu behandeln war. So definierte Martin Luther 10 Vgl. ROBERT TRIVERS: The Evolution of Reciprocal Altruism, in: Quarterly Review of Biology 46 (1971), S. 35−57. S. auch unten Anm. 41. 11 Vgl. zu Feindschaft als sozialer Nahbeziehung WerkstattGeschichte 55, 2 (2010): Feindschaft, hg. v. GABRIELE JANCKE. 12 Damit erscheinen Ökonomiken in einem neuen Licht. Als normative Schriften sind sie weit davon entfernt, eine rein deskriptive Wiedergabe von realen, in Ort, Zeit und Person situierbaren Praktiken liefern zu sollen. Ihre Aufgabe bestand darin, solchen tatsächlichen Praktiken normative Muster und Orientierungsmodelle an die Seite zu stellen – mit der Absicht, solchen Regeln Geltung zu gewinnen. Sie sollten plausibel machen, warum bestimmte Praktiken empfohlen wurden und dass die angeratenen Handlungsweisen für die Zielgruppe der Haushaltsvorstände einen Sinn machen konnten – im Sinne einer sozial eingebetteten, in Kontexte verflochtenen Ökonomie, wie sie für ganz andere Epochen und Gesellschaften auch von der Ethnologie untersucht wird. Ökonomiken bieten also einen besonderen Zugang zum sozialen Sinn von Praktiken, der sich durch normative Ausformulierung von Handlungslogiken auszeichnet. Diese selbst allerdings haben sich auch in anderen Quellen niedergeschlagen.
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1529 in seinem Großen Katechismus zum Vaterunser-Gebet zur Bitte um das tägliche Brot: „Und daß wir’s kürzlich fassen, so will diese Bitte mit eingeschlossen haben alles, was zu diesm ganzen Leben in der Welt gehöret, weil wir allein ümb deswillen das tägliche Brot haben müssen. Nu gehöret nicht allein zum Leben, daß unser Leib sein Futter und Decke und andere Notdurft habe, sondern auch, daß wir unter den Leuten, mit welchen wir leben und ümbgehen in täglichem Handel und Wandel und allerlei Wesen, mit Ruge und Friede hinkommen, Summa, alles, was beide häuslich und nachbarlich oder bürgerlich Wesen und Regiment belanget. Denn wo diese zwei gehindert werden, daß sie nicht gehen, wie sie gehen sollen, da ist auch des Lebens Notdurft gehindert, daß endlich nicht kann erhalten werden.“ 13
Luther folgt damit einer Auslegungsvariante der Brotbitte des Vaterunsers, die auch in der Antike und im Mittelalter vertreten wurde und das Brot im Sinn von materiellen Bedürfnissen überhaupt (insbesondere Nahrung und Kleidung) versteht. Der Fokus von Luthers Ausführungen liegt auf dem Haushalt, setzt ihn aber nicht autark, wie die Einbeziehung der politischen Leitungsebene und von Umwelteinflüssen auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Makroebene zeigt. Luthers aus der Perspektive des Hausvaters formulierte Aussage betont die Heteronormativität des Umgangs mit Ressourcen. Luther scheint hier ganz und gar nicht ‚kapitalistisch‘ zu denken. Eher vertritt er eine Vorstellung einer vollkommen ins Leben integrierten Wirtschaft in Form steter kollektiver bzw. relationaler Interaktionen. 3 KOMPLEXE ÖKONOMIE IN HAUSHALTSGESELLSCHAFTEN Es wird also in frühneuzeitlichen Quellen von einer komplexen Ökonomie ausgegangen, in deren Rahmen mit einem vielpoligen und sich ständig verändernden Beziehungsgeflecht zu rechnen war, das man nicht mit Berechnungen kalkulieren, sondern nur durch Beteiligung und Beobachtung mit in Bewegung halten konnte. Mit solchen komplexen Beziehungen und ihrer Ökonomie in gegenwärtigen Gesellschaften haben sich verschiedene ethnologische Studien auseinanderge-
13 Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, 7. Aufl., Göttingen 1976, S. 679; vgl. auch ebd. S. 680. Ähnliche Passagen finden sich in Luthers Kleinem Katechismus, ebenfalls von 1529, und zwar in der Auslegung des ersten Artikels des Glaubensbekenntnisses (ebd. S. 510f.) sowie in der Auslegung der Vaterunserbitte um das tägliche Brot (ebd. S. 514); vgl. dazu ALBRECHT PETERS: Kommentar zu Luthers Katechismen 3: Das Vaterunser, Göttingen 1992, S. 111–135. Es könnte sich lohnen, die überaus zahlreichen Katechismen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit systematisch daraufhin zu untersuchen, welche Ressourcen in der Auslegung der Brotbitte des Vaterunsers jeweils thematisiert werden. Mit Blick auf die Weber’sche Kapitalismusthese in Verbindung mit der protestantischen Ethik wäre auch unbedingt zu untersuchen, was beispielsweise Calvin zu diesem Themenkreis zu sagen hat. – Zur Auslegungsgeschichte vgl. OTTO DIBELIUS: Das Vaterunser. Umrisse zu einer Geschichte des Gebets in der alten und mittleren Kirche, Gießen 1903, S. 104–108. Ein herzlicher Dank für diese Hinweise auf Luthers Ressourcen-Begriff an Martin Leutzsch.
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setzt. 14 Dabei hat sich ergeben, dass nicht ein konkreter Gabentausch das Handlungsziel darstellt, sondern die Beziehung selbst: ihre Anknüpfung, ihre Aufrechterhaltung und ihre Gestaltung, so dass sich Beziehungsqualitäten wie Geselligkeit, Alltäglichkeit und Dauerhaftigkeit mischen mit den Erwartungen an konkreten Nutzen, den die Beziehung auch haben soll. Der erwartete Nutzen steht seinerseits auch nicht ein für allemal fest, wie es bei einem kurzfristigen Tauschverhältnis nötig wäre, sondern kann von Fall zu Fall festgelegt werden; Variation in Anpassung an Situationen und Veränderung mit den Bedürfnissen und Lebensverhältnissen ist möglich und, wie vermutet werden kann, auch ein von den Akteurinnen und Akteuren beabsichtigtes Element dieses Systems. Der Sinn dieses Handelns besteht darin, eine Verpflichtung zu erzeugen und sie zu erhalten – eine Verpflichtung, die man selbst übernimmt oder in die andere einem selbst gegenüber eintreten. Es geht nicht darum, die Verpflichtung möglichst bald abzugelten, wie es bei einem Tausch der Fall wäre. Vielmehr geht es darum, eine Verpflichtung zu erzeugen, um die Beziehung zu erhalten – so lange etwas offen ist, kann man nicht quitt sein und auseinandergehen. Genau dieser Zustand soll erreicht und immer wieder neu hergestellt werden, was Jenny B. White treffend mit dem Ausdruck „system of debt exchange“ oder „reciprocal debts“ bezeichnet. 15 Es geht nicht um Gabentausch, sondern, wie etwa bei Craig Muldrew formuliert, um eine Ökonomie, die auf Schulden und Verpflichtungen basiert, die ihrerseits in soziale Beziehungen eingebaut sind. 16 Persönliche Beziehungen wie Freundschaft, Feindschaft, Verwandtschaft, Nachbarschaft sowie gastliche Situationen in Haushalten waren zwar nicht die einzigen, aber doch wichtige Orte, an denen in frühneuzeitlichen Gesellschaften Ökonomie verhandelt und abgewickelt wurde. Neben den Haushalten prägte diese Ökonomie von sozialen Beziehungen, die materielle und immaterielle Ressourcen umfasst, auch Gemeinschaften, deren Aufrechterhaltung für die Akteurinnen und Akteure ein Ziel in sich und einen Selbstwert darstellte. Englische Kirchengemeinden pflegten zum Beispiel in der Frühen Neuzeit die sogenannten „Church ales“ oder „Parish ales“ als gastliche Praxis zur Unterstützung von Armen. 17 Dabei veranstaltete entweder ein bedürftig gewordener Haushalt ein Fest, zu dem die NachbarInnen und Gemeindemitglieder eingeladen wurden, bei dem sie das eigens für diesen Anlass gebraute Ale der GastgeberInnen tranken und mit überhöh14 Vgl. DIANE SINGERMAN: Avenues of Participation. Family, Politics, and Networks in Urban Quarters of Cairo, Princeton 1995; JENNY B. WHITE: Money Makes Us Relatives. Women’s Labor in Urban Turkey, New York/London 22004 (11994); STEPHEN GUDEMAN: The Anthropology of Economy. Community, Market, and Culture, Malden/Oxford/Carlton 2001. 15 WHITE, Money (wie Anm. 14), S. 95−98, Begriffe: S. 96. 16 CRAIG MULDREW: The Economy of Obligation. The Culture of Credit and Social Relations in Early Modern England, Basingstoke, Hampsh./London/New York 1998 (Early Modern History: Society and Culture). – Vgl. jetzt auch den Band: Prekäre Ökonomien. Schulden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. GABRIELA SIGNORI, Konstanz/München 2014 (Spätmittelalterstudien 4). 17 Vgl. JUDITH M. BENNETT: Conviviality and Charity in Medieval and Early Modern England, in: Past and Present 134 (1992), S. 19−41. Vgl. auch unten Anm. 41.
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ten Preisen bezahlten. In diesem Fall verwendete der gastgebende Haushalt die Einnahmen für den eigenen Bedarf. Oder aber Parish ales wurden von der Gemeinde veranstaltet, um etwa Brautaussteuern für junge Frauen finanzieren zu können, die sonst aus Armut nicht hätten heiraten und einen eigenen Haushalt gründen können. Vorausgesetzt ist dabei ein frühneuzeitliches Verständnis von Gastlichkeit, demzufolge von Gästen eine Gegengabe zu erwarten war. Auch eine Einladung bedeutete dann nicht, dass diese Grundregel obsolet wurde. Dies konnte zum Beispiel heißen, dass geladene Hochzeitsgäste ihre Zeche selbst zu bezahlen hatten. 18 Was bei den Church ales oder Parish ales jenseits von normalen frühneuzeitlichen Praktiken (und Logiken) der Gastlichkeit lag, war nur der überhöhte Preis, der den Gastgebenden einen Überschuss zurücklassen sollte. In beiden Fällen waren die Bedürftigen zwar materiell arm, hatten aber im ersten Falle noch einen eigenen Haushalt, der zumindest mit den notwendigen Rohstoffen und Geräten zum Ale-Brauen ausgestattet war. Vor allem aber besaßen die Betreffenden noch sozialen Kredit in ihrer Nachbarschaft. Damit verfügten sie über ein soziales Kapital, das es ihnen erst ermöglichte, Gäste einzuladen, die bereit sein sollten, in die materielle Überlebensfähigkeit ihrer NachbarInnen zu investieren – durch ihr persönliches Erscheinen, durch eine Bekräftigung der Nachbarschaftsbeziehung im geselligen Zusammensein, durch das gemeinsame Trinken des Biers, durch die ganz materielle Ausgabe von Geld zum Erwerb des gemeinsam getrunkenen Biers. Gastlichkeit war hier der Ort einer materiellen und sozialen Ökonomie, die den Erhalt von Haushalten und sozialen Beziehungen und damit einer Gemeinschaft zum Ziel hatte. Das soziale Ansehen der bedürftig gewordenen Mitglieder konnte auf diese Weise in materielle Ressourcen umgewandelt werden. Unausgesprochen war hier sicher die Erwartung präsent, dass die solcherart Unterstützten auch ihrerseits zu einer derartigen Hilfe bereit sein würden, wenn sie sich in der Lage befänden, etwas zu geben. Auf jeden Fall aber geht es darum, dass soziale Beziehungen für Einzelne oder für Gemeinschaften eine Produktivität beinhalten, also eine nutzbare Ressource dar- oder herstellen. 19 Ressourcen waren neben materiellen Gütern für frühneuzeitliche (und wohl auch für moderne) Menschen offensichtlich auch soziale Güter, die in Beziehungen, Interaktionen und den sie tragenden Gemeinschaften verankert waren, oder die Beziehungen und Netzwerke selbst. Vor dem Hintergrund solcher Befunde könnten diese Gesellschaften als Haushaltsgesellschaften verstanden werden. Wie bereits Marshall Sahlins ausführlich beschrieben hat, existiert in einem solchen Gesellschaftstyp Ökonomie nicht als getrennt ausdifferenzierter, eigener Funktionsbereich. Er schreibt: „A material transaction is usually a momentary episode in a continuous social relation. The social relation exerts governance“. 20 Demnach sind soziale Beziehungen der Ort 18 S. Diarium Martini Crusii 1596‒1597, hg. v. WILHELM GÖZ und ERNST CONRAD. Mit einem Bildnis des Martinus Crusius. Bd. 1, Tübingen 1927, S. 67f. (Eintrag zum 13. April 1596). 19 Vgl. ROBERT D. PUTNAM: Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community, New York/London/Toronto/Sydney 2000, S. 18−24. 20 Vgl. MARSHALL SAHLINS: Stone Age Economics, New York 1972, S. 185f.
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dieser Ökonomie – oder Teil-Ökonomie –, und die Regeln dieser Ökonomie folgen aus den Regeln und Ritualisierungen von persönlichen sozialen Beziehungen, aus den Zwängen und Handlungslogiken, denen sie unterliegen. Zur Debatte steht damit eine umfassende Beziehungsökonomie, die eine Gesellschaft von der Seite sozialer Beziehungen her organisiert, dabei aber über einen bloß persönlichen Nahbereich hinausreicht. Diese Beziehungen haben oft auch Ferndimensionen, so dass das Persönliche daran zwar nah sein kann, aber nicht mit einem scheinbar abgetrennten ‚Privaten‘ gleichzusetzen ist.21 4 PRAKTIKEN, RESSOURCEN, BEZIEHUNGEN – SYSTEMATISCHE ÜBERLEGUNGEN Auf einige zentrale Punkte soll nun systematischer eingegangen werden. 4.1 Die relationale Dimension ökonomischer Praktiken ‚Ökonomie‘ hat zwingend mit Ressourcen zu tun und soll hier ganz allgemein verstanden werden als menschliches Wirtschaften von Individuen und/oder Gemeinschaften zur Allokation und Distribution von Ressourcen im Modus von Konkurrenz bzw. Kooperation. Es geht also um Praktiken, verstanden als Strategien, Methoden und Techniken. Sieht man von einer ins Reich der Fiktion gehörenden Subsistenzökonomie im Modus der insularen Robinsonade einmal ab, sind an ökonomischen Praktiken immer mehrere Menschen beteiligt, sei es in einem Haushalt, einem Handwerksbetrieb, einem Pfandleih- oder Armenhaus, auf einem Markt, in einem Verwaltungsrat. Insofern ist Wirtschaften stets Gruppenhandeln. 22 Auch wenn im Zeital21 Zu Nah- und Ferndimensionen persönlicher Beziehungen s. näher JANCKE, Gastfreundschaft (wie Anm. 9), S. 296–304; zu frühneuzeitlichen Gesellschaften als Haushaltsgesellschaften s. ebd. S. 147–214, bes. S. 212–214, und S. 438–440, sowie DIES.: Gastfreundschaft in frühneuzeitlichen Haushaltsgesellschaften: Ökonomie, soziale Beziehungen, Haushaltstypen, in: Das Haus in der Geschichte Europas. Sozialer Raum, Identitätsort, Ordnungskonzept. Ein Handbuch, hg. v. JOACHIM EIBACH und INKEN SCHMIDT-VOGES in Verbindung mit SIMONE DERIX, PHILIP HAHN, ELIZABETH HARDING, MARGARETH LANZINGER und ERIC PILTZ (in Vorb.). 22 In Absetzung vom individualistisch gedachten Konzept des homo oeconomicus könnte man mit MAX WEBER: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. rev. Aufl., besorgt von Johannes Winckelmann, Studienausgabe, Tübingen 1980, S. 199, formulieren, dass Vergemeinschaftungen „ihrer ganz überwiegenden Mehrzahl nach irgendwelche Beziehungen zur Wirtschaft“ haben. Ein „nach der Schätzung des Handelnden, knapper Vorrat von Mitteln und möglichen Handlungen zu seiner Deckung“ ist „Ursache eines spezifisch mit ihm [dem Mangel] rechnenden Verhaltens“. Zwischen ‚Wirtschaft‘ und der sozialen Formierung kooperierender bzw. geschlossener Gemeinschaften – aus den weiteren Ausführungen Webers geht hervor, dass er darunter keineswegs nur Zünfte versteht – besteht ein unauflöslicher Konnex. Wo Konkurrenz um Ressourcen und Gewinnoptionen besteht, organisieren sich Menschen in Gruppen, um sich bestmögliche Chancen auf optimales Fortkommen
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ter von E-Business und Internet-Börse die Vorstellung einer entpersonalisierten Ökonomie kursiert, kommt außer in der Mausklick-Finanz ohne Beziehungsdimension kein Geschäft zustande, selbst wenn die Beteiligten auf unterschiedlichen Kontinenten leben und sich nie begegnen werden. 23 Wo sich Wirtschaftsgeschichte nicht mit Strukturen oder mit Wirtschaftstheorien historischen Ursprungs befasst, ist sie von der Überlieferungslage unweigerlich auf die ökonomischen Praktiken verwiesen. Produktionsformen, Verteilkonflikte, Gerichtsfälle, Anweisungen zum guten Wirtschaften, Erwerbsarbeit als Subsistenzgrundlage der Meisten – in diesen und vielen weiteren Handlungsfeldern machen Quellen zuerst einmal Praktiken sichtbar. Und weil diese Praktiken ihrem Wesen nach in kollektiven Kontexten situiert sind, schwingen in ihnen stets auch soziale Beziehungen von unterschiedlicher Qualität und Intensität mit. Das relationale Moment menschlichen Wirtschaftens verdeutlicht eine antithetische Aufzählung ökonomischer Handlungs- und Verhaltensweisen: geben/nehmen, haushalten/verschwenden, bürgen/schulden, testieren/erben, horten/verteilen, riskieren/konservieren, vorschießen/betreiben, offenlegen/unterschlagen, produzieren/konsumieren, ausbeuten/pflegen, anbauen/verwüsten, arbeiten/faulenzen, teilen/usurpieren, schenken/stehlen, besteuern/beisteuern, tauschen/monopolisieren, verleihen/borgen, pachten/besitzen, wuchern/feilbieten etc. Diese Liste könnte selbstverständlich noch verlängert werden. Allerdings geht es hier nicht um Vollständigkeit, sondern um einige spontane Assoziationen, die unwillkürlich auf die zwischen den potentiell Agierenden bestehenden Herrschafts- oder Abhängigkeits- bzw. Vertrauens- oder Gunstverhältnisse, auf die Profitierenden und die VerliererInnen und überhaupt auf die Verteilung von Kosten und Nutzen in unterschiedlichen Ausgangslagen verweisen. Und gerade weil die genannten ökonomischen Praktiken die Beziehungen zwischen den involvierten Personen tangieren, evoziert das Nachdenken über subjektives Gebaren und objektives Geschehen intuitive moralische Wertungen. Für den Primatologen Frans de Waal ist das „Teilen von Ressourcen“ – mit Blick auf Ökonomie könnte auch allgemein vom Umgang mit Ressourcen gesprochen werden – „Hauptthema der menschlichen Moral“, die er in Essenz einzig zwischen den „Polen Helfen und zu sichern. TONY JUDT: Das Chalet der Erinnerungen, München 2012, S. 112, sieht in der abstrakten Vorstellung „monadischer Produktionseinheiten, die auf möglichst großen privaten Vorteil setzen und sich weder um Gemeinwohl noch um Konventionen scheren“, eine entscheidende Formel, um kapitalistische Wirtschaftsformen und deren implizite Regeln der Reichtumsverteilung zu legitimieren. 23 Zu den Strategien und Instrumenten zwecks Substituierung der im Handel von Angesicht zu Angesicht intuitiv stattfindenden Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit von GeschäftspartnerInnen im Internetbusiness durch Referenzen (statt der persönlichen Empfehlung) und Bewertungen (anstelle des über Jahre gepflegten Rufs des lokalen Fachgeschäfts) vgl. in Anlehnung an Niklas Luhmanns Überlegungen zur Kategorie ‚Vertrauen‘ den Beitrag von DANIEL SCHLÄPPI: Marktakteure und -beziehungen ohne „Markt“? Frühneuzeitliches Handeln und Aushandeln im Licht ökonomischer Theorien, in: Regulierte Märkte: Zünfte und Kartelle ‒ Marchés régulés: Corporations et cartels, hg. v. MARGRIT MÜLLER, HEINRICH R. SCHMIDT und LAURENT TISSOT, Zürich 2011 (Schweizerische Gesellschaft für Wirtschaftsund Sozialgeschichte 26), S. 121–139, hier S. 131.
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Schaden“ verortet, weil alles, „was mit den beiden Polen Helfen oder Schaden nichts zu tun“ hat, „außerhalb der Moralität“ steht, „selbst wenn es als Moralisches hingestellt“ wird, obwohl es sich dann wahrscheinlich „um bloße Konvention“ handelt. 24 Wird Ökonomie als Bereitstellung und Verwendung, als Bewirtschaftung und Distribution vielfältiger Ressourcen verstanden, begreift sie soziale Kontexte notwendigerweise mit ein und markiert so einen Dreh- und Angelpunkt sozialer Beziehungen. Dies wird verdeutlicht durch die unwillkürliche moralische Ächtung, welche jene Praktiken erfahren, die zwingend auf Kosten anderer gehen oder sozialhierarchisch begründete Macht zwecks Maximierung des eigenen Profits ausnützen: Schacher, Wucher, Bestechung, Bankrott/Konkurs, Raub, Feilschen, Unterschlagung, Betrug, Pfandwesen, Kreditwirtschaft, Enteignung, Erpressung, Verleumdung, Versklavung. 25 Umgekehrt gelten andere Praktiken kurzweg als nützlich, weil sie – so der unmittelbar einleuchtende Gedankengang – anderen Menschen, denen die Handelnden relational verbunden sind, nützen: Sparen, Sammeln, Speichern, Vorsorgen, Verzichten, Belohnen, Abfinden. Aus der Forschung ist hinlänglich bekannt, dass ökonomische Praktiken unmittelbar soziale Resonanz in Form von Auseinandersetzungen über Preis, Nahrung und Auskömmlichkeit auslösen. Tatsächlich ist die Dialektik von Schaden und Nutzen – der Frühen Neuzeit geläufig im Begriffspaar Eigen- und Gemeinnutz 26 – charakteristisch für viele herrschaftliche Konflikte, deren wahre Gründe oft in wirtschaftlichen ebenso wie in relationalen Asymmetrien lagen. In diesem Licht kommt der Untersuchung und Beschreibung von Beziehungen unterschiedlicher Nähe, Qualität und Intensität sowie den sie beeinflussenden und fallweise gar determinierenden Machtgefällen entscheidende Bedeutung zum Verständnis ökonomischer Praktiken zu. Die relationale Dimension reicht selbst in als ökono24 FRANS DE WAAL: Der Affe in uns. Warum wir sind, wie wir sind, München/Wien 2005, S. 264f. – In der besagten Logik kann man auch Brechts berühmte Ballade „Wovon lebt der Mensch?“ verstehen: „Ihr Herrn, die ihr uns lehrt, wie man brav leben / Und Sünd und Missetat vermeiden kann. / Zuerst müsst ihr uns was zu fressen geben. / Dann könnt ihr reden: damit fängt es an / […] Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral / Erst muss es möglich sein auch armen Leuten / Vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden“. 25 Vgl. EDWARD PALMER THOMPSON: Die „moralische Ökonomie“ der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: DERS.: Plebejische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, hg. v. DIETER GROH, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1980 (11971); RENATE BLICKLE: Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns, in: Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, hg. v. GÜNTER BIRTSCH, Göttingen 1987, S. 42–64, die beide zuerst auf die politische Dimension von Ressourcenverteilung und daran angelagerte Moraldiskurse hingewiesen haben. 26 Zur Figur des Gemeinen Nutzens vgl. PETER BLICKLE: Der Gemeine Nutzen. Ein kommunaler Wert und seine politische Karriere, in: Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe, hg. v. HERFRIED MÜNKLER und HARALD BLUHM, Berlin 2001, S. 85–107, und WINFRIED SCHULZE: Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), S. 591–626.
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misch rational und vordergründig unverdächtig eingestufte Praktiken wie Budgetieren, Bilanzieren, Zählen, Abrechnen oder Prognostizieren hinein, obwohl rechenhaftes Wirtschaften sich gerne mit der Behauptung rechtfertigt, es sei durch höhere Ziele und eine unbestechliche ökonomische Ratio legitimiert. Bei näherem Hinsehen sind selbst den abstraktesten Rechenmodellen beziehungswirksame Vorstellungen über die Verteilung von Nutzen und Kosten eingeschrieben. 4.2 Das Wesen von Ressourcen Am Anfang des Nachdenkens über die Zusammenhänge, die schließlich als Ökonomie sozialer Beziehungen bezeichnet wurden, stand die empirische Beobachtung eines für die Vormoderne ubiquitären Transfers unterschiedlichster Güter. In den Sozialwissenschaften ist es üblich geworden, derartige Phänomene im Bourdieu’schen Koordinatensystem zu verorten und von unterschiedlichen Kapitalsorten zu reden. 27 Ohne dadurch einem kruden Ökonomismus Vorschub leisten zu wollen, darf die Kulturgeschichte die Erkenntnis, dass menschliches Handeln von ökonomischen Logiken geprägt sein konnte, als Gewinn verbuchen. 28 Allerdings lohnt es sich, über Wesen und besondere Charakteristika von in sozialen Kontexten verhandelten Gütern nachzudenken. Wird in interpersonalen Transaktionen wirklich ‚Kapital‘, verstanden als speicherbare Wertgrößen von bestimmbarem Wert, transferiert? Bei vertieftem Nachdenken wird deutlich, dass Bourdieus Kapitalkategorien einerseits den Blick auf entscheidende Aspekte geöffnet haben, andererseits aber auch Einsichten in das Eigenleben von Gütern aller Art verstellen, die zum Verständnis menschlichen Wirtschaftens von entscheidender Bedeutung sind. So lenkt allein schon die Semantik des Begriffs ‚Kapital‘ das Denken in eine spezifische Richtung, denn sie weckt unweigerlich die Assoziation von sicht-, greif- und konservierbarem Reichtum, über den die Besitzenden bei Bedarf verfügen und aus dem sie Profit schlagen können. Im Licht vorhandener Befunde ist es angebracht, die Palette an denkbaren Gütern unter dem Begriff ‚Ressourcen‘ zu fassen: Diese Wortwahl denkt mit, dass die meisten materiellen und immateriellen Güter instabil, vergänglich, schwer konservierbar und ihre Allokation, Bewirtschaftung und Pflege in sozialen Beziehungsgefügen zu organisieren und umzusetzen waren. Es gibt Güter, die ökonomisch und sozial von großer Bedeutung sind, die jedoch nicht per se existieren oder besitzrechtlich angeeignet werden können und über die nicht frei verfügt werden kann wie über ein ‚Kapital‘. Sie müssen vielmehr fall-
27 Vgl. PIERRE BOURDIEU: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Soziale Ungleichheiten, hg. v. REINHARD KRECKEL, Göttingen 1983 (Soziale Welt, Sonderband 2), S. 183–198. 28 Exemplarisch hierfür PEČAR, Die Ökonomie der Ehre (wie Anm. 4); s. auch jüngst den Band: Kultur der Ökonomie. Zur Materialität und Performanz des Wirtschaftlichen, hg. v. INGA KLEIN und SONJA WINDMÜLLER, Bielefeld 2014.
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weise hergestellt bzw. von Potenz in Aktion überführt werden: 29 Privilegien müssen im historischen Prozess stetig neu erinnert und durchgesetzt, Symbole mit Bedeutung belegt, Beziehungen, Ehre und sozialer Friede gepflegt, Legitimation hergestellt, Rituale und politische Verfahren den sich wandelnden Umständen angepasst werden. Potenzen in soziale Praxis überführen zu können setzt voraus, dass die fraglichen Ressourcen in sozialer, materieller und kultureller Reichweite und im Interesse der Agierenden liegen. Diese Faktoren werden beispielsweise von reduktionistischen Rational-Choice-Theorien vernachlässigt, die für alle Akteurinnen und Akteure einheitlich einen starken Willen zur individuellen Nutzenoptimierung bzw. Gewinnmaximierung als handlungsleitende Größe einsetzen. Aus diesem Menschenbild, 30 das klassische ökonomische Theorien inspiriert hat, leitet sich beispielsweise das von konservativen Lehrmeinungen chronisch wiederholte Motiv des unvermeidlichen Zerfalls kollektiver Ressourcen ab (mit Stichworten wie ‚Allmenddilemma‘ und ‚Trittbrettfahrertum‘). 31 Dabei gerät in Vergessenheit, dass auch Interesse am Erhalt einer Ressource, an der Konsolidierung ökonomischer Sicherheiten oder an der Absicherung von Standesprivilegien soziales Verhalten leiten können. Als eigener Faktor von beträchtlichem Gewicht zumindest für die Frühe Neuzeit sind die geschriebenen und ungeschriebenen sozialen Regeln von persönlichen Beziehungen und Gruppen zu nennen, durch die ökonomisches Verhalten vielfältig geleitet wurden. Jede Transformation einer Ressource von Potenz in Aktion bedarf spezifischen Wissens, sozialer und kultureller Techniken sowie der Investition anderer Ressourcen und der Kooperation oder mindestens des Konsenses weiterer Akteurinnen und Akteure. Häuser und Infrastrukturen wollen nachhaltig genutzt und in Stand gehalten, Vermögen intelligent bewirtschaftet und angelegt, Privilegien periodisch bestätigt, Beziehungen angebahnt und gepflegt werden. Während materielle Güter in Form von Immobilien, Land, Kassen oder Darlehen physisch gespeichert werden können, erfolgt die Konservierung immaterieller Güter über so-
29 Vgl. dazu aus betriebswirtschaftlicher Perspektive EDITH TILTON PENROSE: The Theory of the Growth of the Firm, Oxford 1959. – Vgl. auch die Beiträge von Daniel Schläppi, Christof Jeggle, Sebastian Kühn und Gabriele Jancke in diesem Band. 30 Diese klassischen Vorstellungen vom homo oeconomicus sind vielfach kritisiert worden, vgl. etwa: Beyond Economic Man. Feminist Theory and Economics, hg. v. MARIANNE A. FERBER und JULIE A. NELSON, Chicago u.a. 1993; Feminist Economics Today: Beyond Economic Man, hg. v. MARIANNE A. FERBER und JULIE A. NELSON, Chicago u. a. 2003; Genus Oeconomicum. Ökonomie – Macht – Geschlechterverhältnisse. Unter Mitarbeit v. Vera Pache, hg. v. MEIKE LEMKE, CORNELIA RUHE, MARION WOELKI und BÉATRICE ZIEGLER, Konstanz 2006; GUDEMAN, The Anthropology of Economy (wie Anm. 14), S. 41f.; CHRIS HANN/KEITH HART: Economic Anthropology. History, Ethnography, Critique, Cambridge/Malden, MA 2011. 31 Dazu z. B. die prägnante Darstellung und Kritik bei OSTROM, Governing the Commons (wie Anm. 1), S. 1–28.
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ziale Praktiken (Soziabilität, Rituale), aktive Nutzung, symbolische Inszenierung und die Pflege einschlägiger Narrative. 32 Welchen Nutzen Individuen oder Gruppen aus dieser zunächst offenen Ausgangslage zu schlagen vermögen, ist abhängig von Charaktereigenschaften, Wissen, Einfallsreichtum, Ehrgeiz und Durchsetzungsvermögen, auch von der Fähigkeit, taugliche Allianzen zu schmieden und Beziehungen zu erhalten. Für Gruppen sind außerdem der innere Organisationsgrad bzw. funktionierende Verfahren und Institutionen, die allein eine produktive Selbstregulation ermöglichen, von entscheidender Bedeutung. Selbst der ‚Wert‘ einer Ressource konstituiert sich in Relation zu den Interessen, Ideen und zum Handlungsvermögen der potentiellen Nutznießerinnen und Nutznießer, ist letztlich also Gegenstand subjektiver oder kollektiver Einschätzungen. Agierende müssen den Wert einer Ressource überhaupt erst erkennen und als für sich relevant definieren, um sie nutzen zu können. Wertzuschreibungen differieren in Abhängigkeit vom sozialen Status der Individuen sowie von der Organisationsstruktur bzw. der Interaktionsmodi innerhalb eines Gruppenverbands. Ressourcen sind fluide, sprich: sie verflüchtigen sich, wenn sie nicht stetig gepflegt werden. Selbst physisch vorhandene Werte können durch Nichtgebrauch oder unsachgemäße Nutzung zum völligen Verschwinden gebracht werden. Gebäude und Anlagen zerfallen, wenn sie nicht bewohnt und in Stand gehalten werden. Kulturland verödet, wenn es nicht bestellt wird. Auch Geldreserven schmelzen dahin, wenn sie nicht haushälterisch verwendet und nachhaltig angelegt bzw. investiert werden. Veränderungen auf der Flur und der Vegetation verschieben ‚natürlich‘ gewachsene Grenzen. Neue Praktiken überholen hergebrachte Ordnungsvorstellungen. Gewohnheitsrecht und Privilegien verblassen oder gehen an die politische oder ökonomische Konkurrenz verloren, wenn sie nicht regelmäßig erinnert, durchgesetzt oder eingeklagt werden. Verfahren, Rituale und Geselligkeit werden vergessen, wenn sie nicht praktiziert werden. Ohne soziale Praxis löst sich die innere Kohäsion der Gruppe auf. Ehre nimmt Schaden und Loyalitäten werden brüchig, wenn eine Seite die andere beleidigt und sich nicht gebührend ‚entschuldigt‘. Die eben angestellten Überlegungen zum flüchtigen Wesen von Ressourcen finden sich bestätigt in der Theorie der Strukturierung von Anthony Giddens. Ihm zufolge resultieren ‚Strukturen‘ aus dem Zusammenwirken von ‚Ressourcen‘ und 32 Zur Rolle der Narrative am Beispiel der Verwendung von Geschichte als Ressource s. DANIEL SCHLÄPPI: Schweiß, neue Traditionen, ehrwürdige Erzähler: Authentisches Erinnern als symbolisches Kapital, in: Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen, hg. v. EVA ULRIKE PIRKER, MARK RÜDIGER, CHRISTA KLEIN, THORSTEN LEIENDECKER, CAROLYN OESTERLE, MIRIAM SÉNÉCHEAU und MICHIKO IUKE-BORMANN, Bielefeld 2010 (Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen | History in Popular Cultures), S. 251–267, sowie DERS.: Geschichte als Gemeinbesitz. Vom Umgang mit der Historie in korporativen Milieus, in: Formen und Funktionen sozialen Erinnerns. Sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen, hg. v. RENÉ LEHMANN, FLORIAN ÖCHSNER und GERD SEBALD, Wiesbaden 2013 (Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen ‒ Memory Studies 1), S. 259–275.
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‚Regeln‘, das sich in Form von ‚Praktiken‘ manifestiert, wobei die genannten Bauprinzipien bei Giddens mechanistisch streng getrennt bleiben. 33 Auch Giddens beschreibt Ressourcen als volatile Größen statt als erratisches Kapital, und er unterscheidet zwischen ‚allokativen‘ und ‚autoritativen‘ Ressourcen. Bei ersteren handelt es sich um „an der Generierung von Macht beteiligte materielle Ressourcen einschließlich der natürlichen Umwelt und physischer Artefakte“, die sich „aus der Herrschaft des Menschen über die Natur“ herleiten. Demgegenüber erweisen sich letztere als an „der Generierung von Macht beteiligte nichtmaterielle Ressourcen, die sich aus dem Vermögen, die Aktivitäten menschlicher Wesen verfügbar zu machen, herleiten“, wobei sie auf „der Herrschaft von Akteuren über andere Akteure“ beruhen. 34 Mit Blick auf die Vormoderne ist an dieser Stelle über Giddens hinaus zu denken. Seiner Theorie liegt ein soziologisch geprägtes Weltverständnis zugrunde, das Gesellschaft nur als Variation der Leitmotive Macht und Konkurrenz komponieren kann. Viele frühneuzeitliche Praktiken beruhten indes auf den – vielfach unfreiwillig befolgten – Leitprinzipien Kompromiss und Kooperation innerhalb ständischer Gefüge. Die Allokation unentbehrlicher Güter setzte zwingend Gruppenhandeln, Anwesenheit und symbolische bzw. materielle Partizipation voraus: Agrarwirtschaft, Armenwesen, politische Legitimität, Gruppenzusammenhalt, Identität, Ehre, Kredit, befriedete Räume, Rituale, die Produktivität pluralistischer Kommunikationszusammenhänge (Gelehrtenwelt). 35 Diesen Gütern waren Praktiken und soziale Beziehungen – die hier unverzichtbare Kategorie, welche bei Giddens fehlt und sich kaum unter ‚Regeln‘ subsumieren lässt (vgl. den nächsten Abschnitt) – nicht nachgelagert, sondern vielmehr immanent eingeschrieben. Der entscheidende Wesenszug dieser Güter, man könnte sie relationale Ressourcen nennen, liegt anders als bei Giddens nicht in der Verfügungsgewalt (verstanden als Eigentum) oder der Art und Weise, wie Ressourcen an der „Generierung von Macht“ beteiligt waren, sondern wie jeweils Nutzungsrechte und faktische Parti33 ANTHONY GIDDENS: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, (3. Aufl.), Frankfurt am Main 1997. – Mit Blick auf Praktiken ist entscheidend, dass unter ‚Regeln‘ nicht nur Normen oder formalisierte Vorschriften, sondern vielmehr methodische Verfahrensweisen zu verstehen sind, die als „verallgemeinerbare Verfahren“ in der „Ausführung/Reproduktion sozialer Praktiken angewendet werden“. Es können dies bloße Routinen oder auch ausformulierte Gesetze sein (ebd. S. 73). 34 GIDDENS, Konstitution der Gesellschaft (wie Anm. 33), S. 429. 35 Zum Verständnis der ‚Gelehrtenrepublik‘ als einem wesentlich von ‚Pooling‘, dem freiwilligen Zusammenlegen vielfältiger Ressourcen, bestimmten und von kollektiven Ressourcen zehrenden System vgl. DANIEL SCHLÄPPI: Corporate Property, Collective Resources and Statebuilding in Older Swiss History, in: Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300–1900, hg. v. WIM BLOCKMANS, ANDRÉ HOLENSTEIN und JON MATHIEU in collaboration with Daniel Schläppi, Aldershot 2009, S. 163–172, hier S. 171; s. auch die Beiträge von Sebastian Kühn und Gabriele Jancke in diesem Band. – Zur Analyse von staatlichen Strukturen als System von sozialen Beziehungen und deren Ökonomie, analysiert am Beispiel von Diplomaten im Dienst der schwedischen Krone, s. HEIKO DROSTE: Im Dienst der Krone. Schwedische Diplomaten im 17. Jahrhundert, Berlin/Münster 2006 (Nordische Geschichte 2).
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zipation gegeneinander ausgehandelt wurden. Nutzungsrechte und vielfältige Formen der Teilhabe spielten in vormodernen ökonomischen Logiken eine wichtigere Rolle als Privatbesitz und Verfügungsmacht. Je nach den historischen Rahmenbedingungen war es einfacher und kostengünstiger, nur von einem Anteil an einer Sache zu profitieren (Stichwort: gemeiner Nutzen) als die Sache selbst zu besitzen. Naheliegendes Beispiel wäre die Zugehörigkeit zu einer Kirchgemeinde, in der die Seelsorge die Einzelnen viel billiger zu stehen kam als über den Betrieb einer Privatkapelle. Die kollektive Kontextualität relationaler Ressourcen verweist auf die Bedeutung von impliziten und expliziten Normen. Von der unmittelbar einsichtigen Ambivalenz von Nutzen und Schaden als untrüglichem Marker der relationalen Dimension in der Ökonomie war bereits die Rede. Doch auch in Normen, die Kollektive zum Zweck der Selbstregulation aushandelten, wurden die üblichen Hegemonieansprüche oftmals von Gruppenlogiken überblendet. So entwickelten republikanisch geprägte Stadtverfassungen zur Ämterbesetzung ausgeklügelte Wahlreglemente, welche systemisch gegebenen Oligarchisierungstendenzen mittels auf Verteilgerechtigkeit abzielenden Verfahrensschritten entgegenwirkten (Loswahlen, Rotation, Ausstandspflichten, Wartezeiten bis zur Übernahme neuer einträglicher Posten, finanzielle Kompensationsleistungen der Gewählten an die Nutzungsberechtigten). 4.3 Der Konnex von Beziehungen, Praktiken und Ressourcen Eingängige Forschungsbegriffe wie ‚soziales System‘ oder ‚Netzwerk‘ haben im Nachdenken über Beziehungen in den vergangenen Jahrzehnten Karriere gemacht. Ohne die erwiesenen Verdienste dieser Konzepte und Forschungsstränge in Abrede zu stellen, scheinen dazu einige grundsätzliche Gedanken angebracht: a) Die Semantiken der beiden etablierten Leitbegriffe suggerieren eine technisch präzise, auf Knopfdruck funktionierende, von vielen Vernetzten gebildete Beziehungsmechanik. In diesem Sinn wurden unzählige Beziehungslandschaften wie Schaltpläne komplizierter Räderwerke kartiert. Derartige Visualisierungen eignen sich bestens als leicht verständliche Schematisierungen komplexerer Realitäten und sind entsprechend einprägsam. Ganz nebenher präjudizieren sie spezifische Rationalitäten, welche in Beziehungen hineinprojiziert werden können. Oft wird davon ausgegangen, dass Beziehungsnetze zu zweckrationalem Beziehungshandeln im Sinne von unmittelbarem Nutzen, Protektion, Begünstigung oder für hegemoniale Zielsetzungen instrumentalisiert wurden. b) Derartige Sichtweisen greifen jedoch zu kurz, sobald man sich vergegenwärtigt, dass es ganz verschiedene Qualitäten und Intensitäten von relationalen Bindungen gab. 36 Gabriele Jancke beispielsweise weist mit Nachdruck auf die 36 Exemplarisch für eine differenziertere Sicht auf unterschiedliche Beziehungen: MARK S. GRANOVETTER: The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology 78, 6 (1973), S. 1360–1380. – Eine Gleichsetzung von persönlichen Beziehungen mit automatisch funktio-
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Bedeutung von Nah- und zugleich Ferndimensionen in persönlichen Beziehungen hin; in frühneuzeitlichen Gesellschaften waren Beziehungen in den Kombinationen und Mischungen von Nah- und Ferndimensionen für die Akteurinnen und Akteure von Bedeutung. 37 Mindestens ebenso wichtig waren die situativen Kontexte, in denen sich Beziehungen aktualisierten (im Alltag, vor Gericht, im Beichtstuhl, im Ratssaal, beim Augenschein, im Wirtshaus, im Haushalt etc.). c) Neben den räumlichen Rahmenbedingungen wirkten auch institutionelle Gebilde mit den ihnen zugehörigen normativen Implikationen in das relationale Geschehen hinein. Verwandtschaft, Patenschaft, Vormundschaft, Dorfgenossenschaft, Herrschaft etc. markieren jeweils spezifische Handlungsfelder, denen gewisse Beziehungsmodi angemessen waren und andere nicht. Entscheidend waren dabei neben herrschaftlichen und lebensweltlichen Hierarchien bzw. Abhängigkeiten auch (gewohnheits)rechtlich definierte Verantwortlichkeiten (Sorgepflicht, Haftung für und durch die Sippe, korporativ organisiertes Armenwesen etc.). Weiter definierten in der Vormoderne Haushalte für viele Menschen den primären Lebenszusammenhang, aus deren jeweiligen Beziehungsgefügen es mit Blick auf die individuelle materielle Absicherung kein Entrinnen gab. 38 d) Norbert Furrer hat unlängst den technischen Begriff ‚Vernetzung‘ kritisiert und demgegenüber das Bild der ‚Verknüpfung‘ bemüht. Dieses sei angemessener, um „das Wesen zwischenmenschlicher Bindungen zu versinnbildlichen. Er denkt dabei an Kategorien wie Verlässlichkeit und Dauerhaftigkeit als wichtige Größen in dauerhaften Verhältnissen. Aus ‚Verknüpfungen‘ entstehen nach Furrer situativ und kontextabhängig ‚Knoten‘, die, „einmal gebildet“, die „Beziehungsgeflechte zwischen Menschen“ zusammenhalten. 39 Man denkt dabei unwillkürlich an die Freundschaft fürs Leben, an den Bekannten, mit dem man nach langer Abwesenheit im Gespräch genau da weiterfahren kann, wo man ein Jahrzehnt vorher aufgehört hatte. Doch wahrscheinlich läuft die durch das Bild des ‚Knotens‘ evozierte Vorstellung von Stabilität in Beziehungen auf eine schiere Idealisierung hinaus. Realiter sind die meisten Beziehungen im Fluss und steter Veränderung durch kaum beeinflussbare Faktoren unterworfen (zum Beispiel soziale Ächtung durch üble Nachrede). Man sollte sich Beziehungen nicht als statische Verbindungslinien zwischen Individuen vorstellen. Vielmehr gibt es unterschiedliche Qualitäten und Konstellationen von Beziehungen, die in der Analyse zuerst qualitativ zu beschreiben und dann nach ihren inneren Logiken zu befragen sind. Denkt man an Nachbarschafts-, Markt- oder Kreditverhältnisse, so wird unweigerlich deutlich, dass der Eigensinn bestimmter Beziehungsmodi auf bestimmte Praktiken hinausnierender Solidarität und Unterstützungsleistungen hat neuerdings Simon Teuscher mit guten Gründen am Beispiel von Verwandtschaftsbeziehungen kritisch beleuchtet, s. SIMON TEUSCHER: Schulden, Abhängigkeiten und politische Kultur. Das Beispiel der Kleinstadt Thun im Spätmittelalter, in: Prekäre Ökonomien, hg. v. SIGNORI (wie Anm. 16), S. 243–261. – Vgl. auch den Beitrag von Margareth Lanzinger in diesem Band. 37 S. o. Anm. 21. 38 Vgl. etwa den Beitrag von Kristina Bake in diesem Band. 39 NORBERT FURRER: Geschichtsmethode. Eine Einführung für Humanhistoriker, 2. überarb. und erw. Aufl., Zürich 2014, S. 38–40.
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läuft und andere verbietet. Insofern könnte man sagen, dass Beziehungen Praktiken generieren. Gleichzeitig sind Beziehungen auch Produkte von Praktiken, nämlich insofern Beziehungsanbahnung, -konsolidierung und -verstetigung zu den anspruchsvollsten Praktiken sozialer Existenz gehören. Als komplizierte und aufwändige Kulturtechniken, die man einerseits nicht nur kennen, sondern auch können sollte, die andererseits auch erhebliche Investitionen an materiellen und immateriellen Ressourcen erfordern können, haben letztlich auch Praktiken Ressourcencharakter. Dieser Aspekt wird etwa deutlich in der Problematik der Vererbung immaterieller Ressourcen. 40 e) Damit schließt sich abermals der Kreis zu den bereits erwähnten Ressourcentransfers, die in vielfältigen Beziehungskonstellationen zu beobachten sind, und deren immanente Intentionalität sich erst vor dem Hintergrund des Konnexes von Beziehungen, Ressourcen und Praktiken erschließt. Ressourcen werden in sozialen Konstellationen nicht einfach instrumentell im Sinne von eindimensionalen Ursache-Wirkungs-Beziehungen eingesetzt, wie es etwa in rudimentären Vorstellungen von Korruption oder Klientelwirtschaft anklingt. Wenn Wertgrößen verschenkt, ausgeliehen oder verpachtet werden, geschieht das immer auch mit Blick auf eine langfristige Stabilisierung oder Intensivierung relationaler Bindungen. Zeitnaher Gabentausch dürfte nur in seltenen Fällen das Handlungsziel darstellen. Vielmehr geht es darum, Beziehungen anzubahnen, aufrecht zu erhalten, zu gestalten. Die Investierenden mögen mehr oder weniger konkrete Erwartungen hinsichtlich des Nutzens der auf diese Weise generierten Verpflichtungen haben. Allerdings können die tatsächlichen Ansprüche erst irgendwann später von Fall zu Fall verhandelt werden, dies im Gegensatz zu kurzfristigen Tauschverhältnissen, die strenge Reziprozität verlangen würden. 41 f) Praktiken des Ressourcentransfers wollen also meist dauerhafte Verpflichtungen erzeugen. Diese umfassen jedoch mehr mögliche Handlungsfelder und auch einen breiteren AdressatenInnenkreis als eindimensionale, kurzfristige und weniger verflochtene Beziehungen. Entsprechend teurer kommen sie zu stehen. Überhaupt stellten auf dauerhafte Bindungen und Loyalitäten angelegte Beziehungen besonders wertvolle Ressourcen dar. Nicht umsonst treibt selbst die heut40 Vgl. hierzu demnächst: DANIEL SCHLÄPPI: Schwiegersöhne als Stammhalter. Transgenerationeller Ressourcentransfer in Stellvertretung durch die Matrilinie. Das Beispiel Bern, in: Dreiecksverhältnisse: Aushandlung von Stellvertretung, hg. v. MALTE GRUBER und SEBASTIAN KÜHN, Berlin 2015 (Beiträge zur Rechts-, Gesellschafts- und Kulturkritik 13); GABRIELE JANCKE: „Individuality“, Relationships, Words About Oneself: Autobiographical Writing as a Resource (15th/16th centuries) – Konrad Pellikan’s Autobiography, in: The „I“ Between SelfReference and Hetero-Reference. Individuality in the modern and pre-modern period, hg. v. FRANZ-JOSEF ARLINGHAUS, Turnhout (in Vorb.); grundsätzlich bereits das wichtige Werk von LEVI, Das immaterielle Erbe (wie Anm. 2). 41 Den Beziehungsmodus der offenen bzw. aufgeschobenen Verpflichtung hat TRIVERS: The Evolution of Reciprocal Altruism (wie Anm. 10), beschrieben. ‚Reziproker Altruismus‘ meint das Faktum, dass viele Individuen zunächst ohne Anspruch auf konkrete Gegenleistungen in das Wohl von Gruppen investieren. Indes erwarten sie, dass die anderen Gruppenmitglieder einen allfälligen Vergütungsanspruch oder Unterstützungsbedarf in einer späteren Notsituation bedingungslos einlösen.
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zutage global über Internet operierende Geschäftswelt zur Herstellung von Vertrauen immer noch erheblichen Aufwand für Dienstreisen. In der Frühen Neuzeit erfüllten Gesandtschaften und regelmäßige Korrespondenz ähnliche Funktionen. 42 g) Aus Sicht der Handelnden bleiben Investitionen in Beziehungsgefüge stets ambivalent. Erstens lässt sich ihr Ertrag nicht einmal ansatzweise errechnen. Zweitens können Verpflichtungen, wenn sie die materiellen Möglichkeiten und die durch den Sozialstatus umrissenen Handlungsspielräume der Beteiligten überstrapazieren, leicht ins Gegenteil umschlagen. Verbundenheit kann aufgekündigt und von Rückweisung und Abbruch selbst unverbindlicher Soziabilität abgelöst werden. Drittens behalten Ressourcen auch im Transfer zwecks Beziehungspflege ihr entscheidendes Wesensmerkmal, die Flüchtigkeit, das heißt ihr Wert lässt sich bestenfalls nach Aufwand veranschlagen. Denn werden Wertigkeiten in soziale Interaktionen investiert, gehen sie in einen anderen Aggregatszustand über. Das von einem großzügigen Gastgeber servierte Festessen verschwindet materiell, und über seinen Symbolwert entscheiden Gewohnheiten und Geschmack der geladenen Gäste und das kollektive Urteil darüber, ob die impliziten Normen bezüglich des dem Anlass angemessenen Aufwandes eingehalten wurden. Ob sich aus einer persönlichen Einladung tatsächlich eine wechselseitige Verpflichtung ergibt, ist völlig offen, weil sich nicht voraussagen lässt, ob intentional generierte Bindun-
42 Vgl. FRANCESCA TRIVELLATO: The Familiarity of Strangers. The Sephardic Diaspora, Livorno, and Cross-Cultural Trade in the Early Modern Period, New Haven/London 2009; ANDREAS WÜRGLER: Die Tagsatzung der Eidgenossen. Politik, Kommunikation und Symbolik einer repräsentativen Institution im europäischen Kontext (1470‒1798), Epfendorf, Neckar 2013, S. 335–385; SCHLÄPPI, Marktakteure (wie Anm. 23), S. 132, 138. Die vielschichtigen Zusammenhänge zwischen kommunikativen Praktiken und sozialen Beziehungen veranschaulicht die Umschlagillustration dieses Bandes in grandioser Manier. In seinem Gemälde «Meisterin und Magd» hat Jan Vermeer (1632–1675) die Komplexität und Allgegenwart des Relationalen selbst im Alltäglichen in einer Momentansicht gebannt. Auf den ersten Blick mag irritieren, dass die ständisch tiefergestellte Person kompositionshierarchisch höher rangiert. Bei näherem Hinsehen erklärt das im kunstvollen Arrangement erahnbare Geschehen die situationsbedingte Umkehr der gewohnten Ständeordnung. Die alerte Haltung, die das Kinn touchierenden Fingerspitzen der Herrin künden von Zweifel oder gar Beunruhigung, die nur die Magd auszuräumen vermag, indem sie genau schildert, wer ihr zuvor an der Haustür den Brief mit welcher verklausulierten mündlichen Mitteilung übergeben hat. Hat der Bote etwas über den Absender erzählt? Konnte die Magd etwas erhorchen? Das Zusatzwissen der Bediensteten in Verbindung mit ihrem Mitwissen – die Magd hat Zugang zur Schreibstube, dem heiligsten der Privaträume, wo das Intime zu Papier gebracht wird – stellt die regulären Hierarchien auf den Kopf. Doch auch wenn brieflicher Informationstransfer zwangsläufig Vertraulichkeit oder gar Komplizenschaft zwischen BotInnen und KommunikationspartnerInnen generiert, lässt die Szenerie keinen Zweifel darüber offen, dass die Verfügungsgewalt über die kostbaren materiellen Güter und herrschaftlichen Haltungen und Codes (Wert- und Schmuckgegenstände, Kleidung, Interieur, die korrekt diensteifrige Haltung der Magd) bei der Herrin liegt. Allerdings wird deutlich, dass in der Ökonomie sozialer Beziehungen exklusiver Zugriff auf spezifische Ressourcen (z. B. Information und Indiskretion) die etablierten Herrschaftslogiken zumindest zwischenzeitlich zu konterkarieren vermag. Zum Briefeschreiben und -bekommen s. auch den Beitrag von Claudia Jarzebowski in diesem Band.
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gen im Härtetest halten. Menschliche Loyalität hängt von vielfältigen Faktoren und Kontexten ab. Geschenke entfalten ihre ‚relationale Rendite‘ in der subjektiven Wertzuschreibung der Empfangenden. Natürlich gibt es gesellschaftliche Konventionen, welche die Wertigkeiten von Zuwendungen gleichsam objektivieren sollten. Dennoch kennen wir alle das Gefühl des von den Beschenkten nicht angemessen gewürdigten oder gar verschmähten Geschenks. Doch auch kleine Fehler in kürzeren oder längeren Handlungsketten können die intendierte Wirkung von Ressourcentransfers ins Gegenteil verkehren. Auch ein nach allen Regeln der Kunst und unter erheblichem Aufwand durchgeführtes Ritual wird vollkommen entwertet, wenn ein, zwei entscheidende Personen nicht anwesend waren. Ein einmaliger Zinserlass kostet den Gläubiger zunächst wenig und ist vielleicht sogar mit einem vorübergehenden Prestigegewinn verbunden. Hingegen kann er langfristig teuer zu stehen kommen. Wenn beispielsweise Schulden auflaufen und es irgendwann zur Betreibung kommt, verliert je nach sozialem Gefüge auch der Gläubiger das Gesicht. 43 Das Weiterreichen einer subjektiv als unbedeutend eingeschätzten Information kann für die empfangende Seite von höchster Wichtigkeit sein und schließlich auch für den Informanten oder die Informantin negative Folgen haben. Die Geldspende eines oder einer Reichen, der freche Geistesblitz in einer gelehrten Rede sind nebensächliche und mit wenig Aufwand verbundene Handlungen und beinahe kostenlos. Aber vielleicht ziehen sie negative Langzeitfolgen nach sich, dann etwa, wenn sich jemand beleidigt fühlte. Die Ressourcen spontan zugeschriebenen Wertigkeiten verändern sich im Kontext sozialer Beziehungen und der ihnen zugehörenden Praktiken. Umgekehrt verändern sich Beziehungen unter dem Eindruck der in sie investierten Ressourcen. Unannehmbare Geschenke sind Gift selbst für sehr stabile Bindungen. h) Die geschilderten Praktiken generieren eine ausgeprägte Interdependenz zwischen Beziehungen und Ressourcen, deren Effekte aufgrund der Flüchtigkeit von Ressourcen und sich wandelnder sozialer und situativer Umstände schwer planbar und vorhersehbar bleiben. Komplizierend wirkt schließlich, dass auch Beziehungen unberechenbar bleiben, wenn sie nicht durch rechtliche, ökonomische oder soziale Zwänge eingehegt sind. Halten persönliche Beziehungen tatsächlich, was sie zu sein versprechen: glaubwürdig, verlässlich, unerschütterlich? Es ist gar nicht so einfach, die Beteuerungen und Handlungen von Mitmenschen korrekt zu dechiffrieren. Die Glaubwürdigkeit anderer AkteurInnen kann letztlich nur mit Behelfsoperationen getestet werden. Zentrale Kategorie ist dabei ‚Vertrauen‘, das sich daraus ableitet, ob ein Akteur oder eine Akteurin die von ihm/ihr selbst geprägte oder auf seine/ihre Person projizierte ‚Rollenerwartung‘ auf Dauer zu erfüllen vermag, ohne aus der Rolle zu fallen. 44 Außerdem lässt sich die Art 43 Vgl. den Beitrag von Mischa Suter in diesem Band. 44 Vgl. die zu diesem Themenkreis in Anlehnung an: Vertrauen. Historische Annäherungen, hg. v. UTE FREVERT, Göttingen 2003, und NIKLAS LUHMANN: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1968, entwickelten Überlegungen bei DANIEL SCHLÄPPI: Höflichkeit als Schmiermittel des Staatsapparates und kommunikativer Kitt in re-
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und Weise, wie ein Mensch in sozialen Beziehungen die ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen investiert oder hortet, auch auf ihn oder sie selbst beziehen. Als authentische Requisiten in der Selbstdarstellung jedes Menschen lassen interpersonal transferierte Ressourcen Rückschlüsse auf spezifische Charakterzüge zu. Das Bewusstsein für die unterschiedlichen Dimensionen und Wirkungsweisen der Ökonomie sozialer Beziehungen im Spannungsfeld von Ressourcen, Beziehungen und Praktiken erlaubt es, hierzu Fragen zu stellen. Forschungstechnisch ist es ausgesprochen schwierig, vorgespielte und echte Freundschafts- und Treueverhältnisse auseinander halten zu können. Die Korrelation von Verhaltensweisen mit den Handlungskontexten erlaubt es unter Einbezug der transferierten Ressourcen, die Intentionen und Strategien der Agierenden an korrespondenzweise verbal beteuerter Treue und sublimen Affektbezeugungen zu messen. 45 5 UNTERSCHIEDLICH REZIPIERTE FORSCHUNGSSTRÄNGE Die bis hier präsentierten Argumentationslinien sind weitgehend aus eigenen Forschungen, im Kreis des Berliner Workshops und zu späteren Anlässen im Kreis einiger Beteiligter sowie im Hinblick auf die Münchner Tagung entstanden. Bevor abschließend die Beiträge dieses Bandes zusammengefasst werden, soll an ältere Forschungen erinnert werden, die auch schon auf den Eigenwert von Beziehungen in ökonomischen Kontexten hingewiesen haben, wenn auch mit anderen Akzentsetzungen. Zuerst zu nennen ist Gabriel Tarde (1843–1904), der in seinem Spätwerk Kritik an der Figur des homo oeconomicus übte. Den Ökonomen, die diesen konzipiert hätten, seien zwei „sehr missbräuchliche“ Abstraktionen unterlaufen, nämlich „einen Menschen ohne irgendetwas Menschliches im Herzen konzipiert zu haben, und eine weitere, sich dieses Individuum als losgelöst von jeder Gruppe, Körperschaft, Sekte, Partei, Assoziation vorgestellt zu haben“. 46
Während Tarde die Grundfrage nach dem hinter jeder ökonomischen Theorie stehenden Menschenbild und dem daraus resultierenden Gesellschaftsmodell aufwarf, erklärte Karl Polanyi (1886–1964) die relationale Einbettung von Individuen und Gruppen in soziale Zusammenhänge nachgerade zum überragenden Epopublikanisch verfassten Gemeinwesen der alten Eidgenossenschaft, in: Konjunkturen der Höflichkeit in der Frühen Neuzeit, hg. v. GISELA ENGEL, BRITA RANG, SUSANNE SCHOLZ und JOHANNES SÜSSMANN, Frankfurt am Main 2009 (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 13, Heft 3/4), S. 274–299, hier S. 284–290. 45 DANIEL SCHLÄPPI: „In allem Übrigen werden sich die Gesandten zu verhalten wissen“. Akteure in der eidgenössischen Aussenpolitik des 17. Jahrhunderts. Strukturen, Ziele, Strategien am Beispiel der Familie Zurlauben von Zug, in: Der Geschichtsfreund 151 (1998), S. 3‒90, hier S. 39f., 55–58. 46 GABRIEL TARDE: Psychologie économique, Paris 1902, Bd. 1, S. 115f., zit. nach: BRUNO LATOUR/VINCENT LÉPINAY: Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen, Frankfurt am Main 2010, S. 39.
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chenmerkmal der feudal-ständischen Vormoderne, welches durch eine sich verselbstständigende Ökonomie und die Herausbildung der Marktgesellschaft in der Großen Transformation ausgelöscht worden sei. 47 Ein ähnlich ambitiöser Verallgemeinerungsanspruch steckt auch schon in der bereits zitierten Aussage von Max Weber (1864–1920). 48 Und will man den forschungsgeschichtlichen Bogen noch weiter zurückschlagen, wären die vorwiegend deutschen Forschungen zum vormodernen Genossenschaftswesen zu nennen, die bei Otto von Gierke (1841–1921) in monumentalen vier Bänden zum deutschen Genossenschaftsrecht kulminierten. 49 Alle genannten Forschungsleistungen verweisen implizit auf die Bedeutung der sozialen Beziehungen, die unter dem Platzhalter Commoning allmählich auch in der Commons-Forschung in der Tradition der Untersuchungen von Elinor Ostrom (1933–2012) thematisiert werden. 50 Ebenfalls mehrheitlich außerdeutscher Provenienz ist das anthropologische Interesse für Ressourcentransfers unter Chiffren wie Gabentausch oder Reziprozität und allgemeiner Schenkökonomie. 51 Die meistzitierten Inkunabeln dieser Denktradition finden sich in den Werken von Marcel Mauss (1872–1950) oder Bronislaw Malinowski (1884–1942). Die Zahl der AdeptInnen in diversen Disziplinen ist groß und kann hier nicht im Detail rekapituliert werden; häufig werden dabei die Thesen der Arbeiten von Mauss und Malinowski wie etwas allgemein Gültiges auf andere Kontexte angewandt. 52 Interessant sind aber zum einen jüngere ethnologische Studien, die sich mit komplexeren Beziehungsmodalitäten und deren ökonomischen Implikationen auseinandergesetzt haben. Zum anderen sind aus der historischen Forschung zum Mittelalter und der Frühen Neuzeit wichtige Überlegungen zur historischen Differenzierung hervorgegangen. 53 47 48 49 50
KARL POLANYI: The Great Transformation, New York 1944. S. o. Anm. 22. OTTO VON GIERKE: Das deutsche Genossenschaftsrecht, 4 Bde., Berlin 1868–1913. Vgl. OSTROM, Governing the Commons (wie Anm. 1); s. dazu auch: The Drama of the Commons, hg. v. COMMITTEE ON THE HUMAN DIMENSIONS OF GLOBAL CHANGE; ELINOR OSTROM, THOMAS DIETZ, NIVES DOLŠAK, PAUL C. STERN, SUSAN STONICH und ELKE U. WEBER, Washington, DC 2002 (Division of Behavioral and Social Sciences and Education, National Research Council). – Im deutschsprachigen Commonsblog findet sich neuerdings eine – aktuell noch etwas holzschnittartige – Begriffsdefinition von Commoning, die unter dem Motto „kein commons ohne community“ einräumt, die gemeinsame Bewirtschaftung von Gütern führe „zu grundsätzlich anderen sozialen Beziehungen als das Konkurrenzsystem der Marktwirtschaft“ (URL: http://blog.commons.at/commons/was-ist-commoning, 26.03.2014). 51 MARCEL MAUSS: Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques, in: L’Année Sociologique N. S. 1 (1923−24), S. 30–186; BRONISLAW MALINOWSKI: Kula. The Circulating Exchange of Valuables in the Archipelagoes of Eastern New Guinea, in: Man 20 (1920), S. 97–105. 52 Vgl. in diesem Zusammenhang die differenzierten Bemerkungen von Ostrom zum Umgang mit Theorie: OSTROM, Governing the Commons (wie Anm. 1), bes. S. 45f. sowie S. 182–185 und 214–216. 53 Vgl. SINGERMAN, Avenues of Participation; WHITE, Money; GUDEMAN, The Anthropology of Economy (alle wie Anm. 14). – NATALIE ZEMON DAVIS: The Gift in Sixteenth-Century France, Madison, Wisconsin/London 2000 (dt. Übers.: Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der französischen Renaissance, München 2002); Negotiating the Gift. Pre-Modern Figura-
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Neben dem oben bereits genannten und kaum bekannten Visionär Gabriel Tarde ist in der Geschichtswissenschaft namentlich die Arbeit von Giovanni Levi (geb. 1939) zu zurückhaltend gewürdigt worden. Anhand von Notariatsakten und Katastern aus dem ländlichen Raum kam Levi zum überaus überraschenden Befund, dass die durchschnittlichen Preise bei Verwandten am höchsten und bei Fremden am niedrigsten waren. 54 Dieser Sachverhalt irritiert zunächst, weil er quer zur marktwirtschaftlichen Logik und ebenso zu Vorstellungen von Verwandtschaft und Fremdheit steht. Er erklärt sich aber vor dem Hintergrund der Ökonomie sozialer Beziehungen. So waren die Haushalte in Verwandtschafts- und Solidaritätsnetze verstrickt, die über Kernfamilie und Nachbarschaft hinausreichten. Jede Besitzänderung markierte eine Zäsur in einem generationsübergreifenden Kontinuum materieller und immaterieller Verpflichtungen, in der über Jahre geleistete Hilfestellungen und „die komplexeren Netze von materieller und psychologischer, emotionaler und politischer Unterstützung“ verrechnet wurden. Sie bildeten „sich in Übereinstimmung mit der konkreten sozialen Situation“ und unter „Berücksichtigung des Beziehungsgeflechts, in dem die Transaktion sich abwickelte“, heraus und waren „nicht allein das Ergebnis des unpersönlichen Spiels von Angebot und Nachfrage nach knappen Gütern“. Insofern muss Ökonomie in den Bedeutungszusammenhang gestellt werden, der „zwischen dem materiellen Fluß der Güter und der politischen und kulturellen Sphäre sowie den sozialen Beziehungen“ besteht. Levis Untersuchungen lassen für Christoph Conrad eine „verdeckte kollektive Realität wieder erstehen“, in der selbst die banale Handlung des Verkaufs einer Kuh oder eines kleinen Gartens „nur im Netz sozialer, familiärer und symbolischer Determinanten erklärbar“ ist. 55 Nach Levi waren „Strategien bei der Schaffung von Beziehungen“ ein Teil der „Techniken zur Kontrolle der Umwelt“. Sie charakterisierten eine „Gesellschaft auf der Suche nach Sicherheit“, in der „ökonomische Besserstellung“ ein „der Erweiterung und Betätigung der sozialen Beziehungen untergeordnetes Ziel“ darstellte. Eine „allzu ökonomistische Lesart dieser Gesellschaft“ würde zu einseitig den Akzent auf die persönliche „Bereicherung legen und dabei die große kollektive und alltägliche Bemühung verhüllen, die Institutionen zu festigen, die eine größere Vorhersehbarkeit ermöglichen“. tions of Exchange, hg. v. GADI ALGAZI, VALENTIN GROEBNER und BERNHARD JUSSEN, Göttingen 2003 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Institutes für Geschichte 188), darin v. a. GADI ALGAZI: Introduction. Doing Things with Gifts, S. 9–27; ILANA KRAUSMAN BENAMOS: The Culture of Giving. Informal Support and Gift-Exchange in Early Modern England, Cambridge u. a. 2008 (Cambridge Social and Cultural Histories 12); JULIE CLAUSTRE: Vers une ethnographie des transactions de crédit: la relation de dette à Paris à la fin du Moyen Âge, in: Prekäre Ökonomien, hg. v. SIGNORI (wie Anm. 16), S. 35–51. 54 Die folgenden Ausführungen und Zitate basieren auf LEVI, Das immaterielle Erbe (wie Anm. 2), S. 50, 55f., 87f., 94, 100f., 106. 55 CHRISTOPH CONRAD: „How much, schatzi?“ Vom Ort des Wirtschaftens in der new cultural history, in: Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, hg. v. HARTMUT BERGHOFF und JAKOB VOGEL, Frankfurt am Main 2004, S. 43–67, hier S. 55.
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6 BEITRÄGE IM LICHT DES KONZEPTES Die in diesem Band vereinigten Aufsätze greifen anhand von Fallbeispielen allesamt ausgesuchte der in den vorangehenden Abschnitten thematisierten theoretischen Anregungen auf. In einem ersten Abschnitt setzen sich zwei Beiträge noch einmal eingehender mit der Forschung auseinander und widmen sich allgemeineren Fragen von Theorien und Methoden. Im Beitrag „Ökonomie als Dimension des Relationalen. Nachdenken über menschliches Wirtschaften jenseits disziplinärer Raster und Paradigmen“ reflektiert Daniel Schläppi methodisch-begriffliche Aspekte und Fragen der disziplinären und paradigmatischen Verortung der präsentierten Überlegungen im Spannungsfeld von Kultur- und Wirtschaftsgeschichte. Dabei stellt sich heraus, dass zwischen ökonomischem und sozialem Handeln ein unauflöslicher Konnex besteht. Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass selbst vordergründig zweckfreiem Beziehungshandeln ökonomisch relevante Praktiken eingelagert sein können, wie es beispielsweise bei ritualisierten Formen des Ressourcentransfers der Fall ist. Zugang zu und möglicher Erfolg bei der Bewirtschaftung von Ressourcen hängen eminent vom sozialen Status und der persönlichen Einbindung in einschlägige Verkehrskreise ab. Vor dem Hintergrund, dass sich Beziehungsökonomie in spezifischen Handlungs- und Verteilungslogiken manifestiert, wird schließlich darüber reflektiert, welche konzeptuellen Implikationen die angestellten Überlegungen in Bezug auf herkömmliche Denkweisen und etablierte Forschungsparadigmen haben. Unter dem Titel „Ressourcen, Märkte und die Ökonomie sozialer Beziehungen“ beleuchtet Christof Jeggle die Grundgedanken des Bandes im Licht von Theoremen der Wirtschaftsgeschichte. Dabei markiert er einerseits einen Gegensatz zur auf Transaktionskosten fixierten neuen Institutionenökonomie, betont andererseits die engen Bezüge zu Wirtschaftsethnologie und ‚Moral Economy‘. Unter Hinweis darauf, dass Beziehungsökonomien hohes Konfliktpotential aufwiesen und deshalb wesentlich von rechtlichen Normsetzungen mitgeprägt wurden, erweist sich die relationale Dimension beispielsweise als zentral für die Kreditwürdigkeit von Kaufleuten oder die Sphäre der Produktion und der Qualitätskontrolle. Nicht einheitlich zu klären ist, inwiefern und wie stark soziale Beziehungen das Marktgeschehen auf Umschlagplätzen beeinflussten, die auf unterschiedlichen Strukturen beruhten und verschiedenen Logiken gehorchten. Anhand der Fallbeispiele italienischer Fruchthändler in Nürnberg und savoyardischer Textilhändler am Hochrhein wird deutlich, dass geographisch weit gefächerte Beziehungen ausländischer Händler zu Konflikten mit der ansässigen lokalen Konkurrenz führten, die ihren eigenen Mangel an Beziehungen als Nachteil wahrnahm. Verwandtschaftliche Ökonomien sozialer Beziehungen erweisen sich als Grundlage fast jeder Handelsgesellschaft, wobei die wirtschaftlichen Möglichkeiten untrennbar mit sozialen Beziehungen verbunden waren.
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Der zweite thematische Block unter dem Titel „Ressourcen im Transfer“ befasst sich mit den Charakterisitka und dem Stellenwert von Ressourcen im interpersonellen Austausch. Der Beitrag „Status-Ökonomie. Notwendige Investitionen und erhoffte Renditen im höfischen Adel der Barockzeit“ von Andreas Pečar fragt anhand von Beispielen aus Versailles und Wien nach der spezifischen Ökonomie des höfischen Adels. Tatsächlich erweisen sich ökonomische Überlegungen für adlige Lebensgestaltung als zentral, wenn auch nicht Geld im Zentrum adligen Gewinnstrebens stand. Vielmehr wurde der Hof des Herrschers als Lebensmittelpunkt gesucht, um in führenden Ämtern die Gunst des Herrschers zu gewinnen. Auf diese Weise sollte die eigene Position stabilisiert werden, um in einem weiteren Schritt bei der Verteilung von Ämtern, Privilegien, Auszeichnungen und Einkünften zu profitieren. Die Verfolgung dieser Ziele bedingte erhebliche auf langfristige Horizonte angelegte Vorleistungen, die von der erweiterten Verwandtschaft mitgetragen werden mussten. Finanzielle Defizite wurden durch Mehrung symbolischen Kapitals und Distinktionsgewinne gegenüber konkurrierenden Familien aufgewogen. Den mit dem Leben am Hof verbundenen Chancen stand das Risiko gegenüber, die prekäre Gunst des Herrschers zu verlieren. In Ungnade zu fallen minderte die Chancen im Wettkampf um materielle Ressourcen, Ämter und Auszeichnungen. Stetig drohendem Statusverlust wurde über eine kostspielige Repräsentationspraxis entgegengearbeitet – beispielsweise durch extensive Bautätigkeit. Insgesamt erweist sich die Lebenspraxis des Hofadels „als Ergebnis rationaler Kalkulation“, auch wenn diese anderen Regeln gehorchte als das kapitalistische Kalkül. In seinem Aufsatz „Ein Sack Morcheln und die Astronomie. Ressourcenzirkulation und -konversion in der Naturforschung um 1700“ zeigt Sebastian Kühn, wie sich Morcheln für die Astronomie nutzbar machen ließen. Auf Basis tiefenscharfer Einblicke in im Gelehrtenmilieu gepflegte ökonomische Praktiken treten unterschiedliche Transfermodalitäten zu Tage. So gehorchte der Gütertransfer unter Gelehrten primär den Logiken des Tauschs, wobei von vielpoligen Tauschbeziehungen auszugehen ist. In Anlehnung an M. Sahlins und E. Ostrom beschreibt Kühn die gelehrte Ressourcenzirkulation (von Wissen und Dingen) als „kollektives Pooling“. In einen von allen Beteiligten in diesem Sinn verstandenen und in Gang gehaltenen Güterkreislauf konnten mehr Leute vielfältigere Ressourcen einbringen als bloß die für die Vermehrung gelehrten Wissens bedeutsamen Objekte. In diesem Sinn fungierten Gelehrtenhaushalte als kreative Produktionsgemeinschaften mannigfaltiger Ressourcen, zum Beispiel eben Morcheln. Anders gestalteten sich die Verhältnisse, wenn Gelehrte wissensrelevante Objekte kauften oder verkauften. Hier sahen sie sich konträren Bewertungslogiken ausgesetzt, etwa jenen von Bergarbeitern, deren Schlauheit und Sachverstand die Preisbildung beeinflussten. Gekaufte Objekte konnten das Ansehen eines Gelehrten im Sinne der Erstentdeckung zwar steigern. Aktualisiert werden musste die Anerkennung des Ansehens aber über Tauschökonomie innerhalb der Peergroup. Die ökonomischen Logiken Tausch, Kauf und Haushalt führten zu verschachtelten Verhältnissen, welche den Zugang zu und die Verfügungsrechte über Ressourcen nach sozial hierarchisierten und genderkodierten Kriterien strukturierten.
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Ein dritter Teil des Bandes schließlich befasst sich mit Beziehungslogiken. Fünf Beiträge fächern am Beispiel ausgewählter Beziehungstypen und unterschiedlicher Kontexte sowie mit ganz verschiedenen Quellen auf, was ‚Ökonomie sozialer Beziehungen‘ im Einzelnen heißen kann. Dabei geht es etwa um Freundschaft, Ehe, Liebe oder Verwandtschaft. Neben den damit verbundenen familiären, häuslichen und emotionalen Dimensionen von Nähe kommen jeweils auch größere Zusammenhänge in den Blick, mit denen diese Beziehungen eng verflochten sind – das Dorf sowie die rechtlichen und politischen Verhältnisse eines größeren Gemeinwesens in den Umbrüchen des 19. Jahrhunderts; die katholische Kirche bis hin zur höchsten Ebene in Rom; gelehrte Gruppenkulturen mit ihren überregionalen Netzwerken, ihren gemeinwesenbezogenen Funktionen und ihren transepochalen Bezügen; die neue nordamerikanische Umgebung nach der Auswanderung und die transatlantischen Kontakte mit den (noch) nicht ausgewanderten Verwandten; oder schließlich grundsätzliche Regeln für die Gestaltung einer gesellschaftlich und religiös strukturierten Welt ausgehend von der Ebene der Haushalte und ihrer Ehe-Ökonomie. Unter dem Titel „Der Wert der Worte – Bewerten und Prozessieren in Handlungsketten im Kontext von frühneuzeitlicher Gastlichkeit“ vermittelt Gabriele Jancke aufschlussreiche Einblicke in die Ressourcenlogiken der von wechselweisen und gleichzeitig in Kaskaden aneinandergereihten Gütertransfers durchwirkten Geselligkeit, wie sie für das Gelehrtenmilieu charakteristisch war. In den besagten Handlungsketten wurde Wertschätzung demonstriert und Ehre generiert, beides Güter, die sich gegebenenfalls auch in harte Währung wechseln ließen. Erasmus von Rotterdam beispielsweise bezifferte den Wert erhaltener Geschenke und war fasziniert vom materiellen Potential, das im Gebrauch seines Namens an rechter Stelle steckte, obwohl Geld für ihn keine hochrangige Ressource darstellte. Mit Ressourcentransfers kombinierte Gastlichkeit funktionierte nur in Gruppen, welche den gleichen Normenkatalog und gemeinsame Auffassungen darüber teilten, welches die wertvollsten Ressourcen seien. So konnten mit der gelehrten Rede Ressourcen erzeugt, gesammelt, aufbewahrt, gespeichert und weitergegeben werden, wobei der Wert von Worten nur durch ständige und situationsorientierte Evaluation ermittelt werden konnte. Um „Liebe, Ehe, Ökonomie. Materielle und immaterielle Ressourcen im Kontext von Verwandtenheiraten“ dreht sich der Beitrag von Margareth Lanzinger, welche dem „Verhältnis von Ökonomie einerseits, Liebe und Ehe andererseits“ einen besonderen Stellenwert zuschreibt. Vor diesem Hintergrund sind die von der katholischen Kirche grundsätzlich verbotenen Heiraten im Verhältnis der Schwägerschaft zu reflektieren. Zu dem Zweck, in einem gemeinsamen Haushalt ein Auskommen zu finden, versuchten viele Paare in der Konstellation Witwer und Schwägerin über komplexe Verfahren ein höchstinstanzliches Dispens zu bekommen. Dieses Unterfangen erforderte neben finanziellen Mitteln auch die Mobilisierung sozialer Beziehungen. Die Befähigung, die zielführenden Strategien zu verfolgen, wird dabei als Potential bzw. als Ressource im oben erläuterten Sinn verstanden, denn sie bestand nicht per se, sondern musste einer jeweiligen situativen Logik adäquat unter Einbezug weiterer Ressourcen (gesellschaftliche
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Stellung, Position, Bildungsstand, Vernetzung, Wissen, Freundeskreis, soziale Beziehungen und finanzielle Investitionen etc.) aktiviert werden. In seinem Beitrag „‚Rechtstrieb‘. Schulden, Personen und Verfahren im liberalen Kapitalismus (Schweiz, 19. Jahrhundert)“ beschäftigt sich Mischa Suter mit einer spezifischen Institution der Zwangsvollstreckung und stellt damit ein rechtliches Instrument des Umgangs mit Schulden, das in einer Situation der Überschuldung bzw. des Konkurses angewandt wurde, in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Schulden werden als relationaler Modus verstanden, der im Rahmen einer moralischen Ökonomie der Schulden verhandelt wurde und auf vielfache Weise durch Recht vermittelt war. Die untersuchten dörflichen Beispiele des Rechtstriebes im 19. Jahrhundert zeigen Zwangsvollstreckung als einen Schauplatz, auf dem alltägliche Konflikte und Transaktionen sich in der rechtlichen Regulierung niederschlugen, wobei Recht grundsätzlich eine Ressource darstellte. Während des 19. Jahrhunderts verfestigten sich zunehmend distanzierte Verfahren, und die Rechtshandlungen der Zwangsvollstreckung bekamen eine spezifisch liberale Wendung. In Forderungen nach einer Klassifikation der Falliten konturierte sich mit der Kategorie des ‚unverschuldeten Unglücks‘ eine objektive Faktenordnung der Ökonomie, und damit zog in die Konflikte um Schulden eine weitere Problematisierung ein. Beziehungen innerhalb der Verwandtschaft, die nach der Auswanderung einiger Mitglieder per Korrespondenz über den Atlantik hinweg aufrechterhalten wurden, stehen in „‚üeber das große, weite, ungestüeme Meer‘. Die Familie Fahnenstück und ihre Briefe, 1728–1765“ von Claudia Jarzebowski zur Debatte. Nach der Auswanderung waren die Briefe das Medium, mit dem die Beziehungen weiter betrieben und bearbeitet werden konnten. Briefe und die in ihnen enthaltenen Informationen werden als Ressourcen verstanden, die Briefe werden als Träger von Ressourcen wie etwa Emotionen (in Worten und in der in den detaillierten Anweisungen enthaltenen Fürsorge) aufgefasst, durch die neue Ressourcen gebildet oder bestehende bestärkt und modifiziert werden. In dem Zusammenhang von Ressourcen, Emotionen und Interessen konnten die BriefschreiberInnen unterschiedliche Ziele verfolgen. Ebenso wie die EmpfängerInnen gingen sie in ihren Reaktionen und ihrem Umgang mit dem, was ihnen an Informationen und Wissen, an Zutrauen, Mut und Hoffnung zur Verfügung gestellt wurde, ganz anders um als erhofft, erwartet und verabredet. Eben diese vielseitige, ungerichtete und in gewisser Weise nicht kalkulierbare Wirkung und Nutzung macht die Eigenheit von Emotionen als Ressource aus, die ebenso zur Verfügung steht wie gebildet werden muss. Der abschließende Beitrag von Kristina Bake befasst sich aus kunsthistorischer Sicht mit „Manus manum lavat. Von der Ökonomie des Eheglücks – die Haushaltung in der populären Druckgraphik“. Es geht um eine Ökonomie in sozialen Beziehungen, wie sie in diesen Quellen im Rahmen eines normativen Diskurses entfaltet wird, und insbesondere um die in sozialen Beziehungen eingelagerten ökonomischen Logiken. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass bildliche Darstellungen in Verbindung mit den ihnen beigegebenen Texten für eheliche Haushalte die Frage stellen, unter welchen Voraussetzungen eine partnerschaftliche
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Ökonomie funktionieren könnte oder sollte. Dabei ist das materielle Wirtschaften eine Kategorie unter mehreren. Bei genauem Hinsehen kommen dann aber auch andere Ressourcen in den Blick, die flüchtig sind und erheblicher Investitionen bzw. Anstrengungen bedürfen – von Bedeutung sein können aus der Sicht der Künstler und Textverfasser etwa körperliche und alltägliche Liebe, Respekt, Kommunikation, Konflikt- bzw. Konsensfähigkeit, der Charakter (exemplarisch dafür der Topos des ‚zänkischen Weibes‘), Verzichtbereitschaft, Anpassungsfähigkeit, das Management der Außenbeziehungen des Haushaltes etc. Im gemeinsamen Haushalt, in dem alle Beteiligten ihre festgelegten, auf den gemeinsamen Zweck abgestimmten Aufgaben haben, muss das Zusammenleben dauerhaft organisiert werden – genau so, wie es die hier diskutierten Quellen anstreben. Immer wieder taucht in allen Beiträgen das Bewirtschaften, Verwalten oder Bewerten von Ressourcen als gemeinsame Angelegenheit auf. Persönliche soziale Beziehungen und ihre Logiken öffnen viele Perspektiven auf gemeinsame Formen des Besitzens, ebenso wie auf ständige gemeinsame – und dabei auch konflikthafte – Arbeit an solchen Ressourcen und auf unterschiedliche – zum Teil sich überschneidende – Gemeinschaften, die sich über kollektiv besessene bzw. bewirtschaftete Ressourcen konstituieren und verändern.
FORSCHUNGSBEZÜGE, THEORIEN UND METHODEN
ÖKONOMIE ALS DIMENSION DES RELATIONALEN. NACHDENKEN ÜBER MENSCHLICHES WIRTSCHAFTEN JENSEITS DISZIPLINÄRER RASTER UND PARADIGMEN Daniel Schläppi Seit im September 2010 in Berlin der Workshop zur Ökonomie sozialer Beziehungen stattgefunden hat, gingen das Nachdenken und der Austausch über die damals andiskutierte Art und Weise, wie menschliches Wirtschaften jenseits disziplinärer Raster beschrieben und verstanden werden könnte, unter den an diesem Buch beteiligten Autorinnen und Autoren weiter. Im Rahmen eines Panels anlässlich der im September 2013 in München stattgefundenen 10. Arbeitstagung der AG Frühe Neuzeit wurde der vorgeschlagene Denkansatz in einer konzeptuellen Einleitung sowie anhand von Vorträgen zu vier Fallbeispielen nochmals vertieft. Dabei flossen aus dem angesprochenen Diskussionszusammenhang gewonnene Erkenntnisse ein. Es stellte sich aber auch heraus, dass es sich lohnen würde, über konzeptuelle und empirische Ansätze hinausgehend auch über die disziplinäre und paradigmatische Verortung einerseits, über methodisch-begriffliche Aspekte andererseits nachzudenken. Diesen beiden Themenkreisen widmet sich der folgende Aufsatz. Dabei stellt sich zunächst die Frage, wie und unter Zuhilfenahme welcher Begrifflichkeiten sich das präsentierte Konzept im Spannungsfeld von Kultur- und Wirtschaftsgeschichte situieren lässt (Kap. 1). Danach wird auf den untrennbaren Konnex zwischen ökonomischem und sozialem Handeln eingegangen (Kap. 2), wobei namentlich die wechselseitige Bedingtheit und Durchdringung von sozialen Tatsachen und materiellen Gütern interessiert (Kap. 3). Vor dem Hintergrund, dass sich Beziehungsökonomie in spezifischen Handlungs- und Verteilungslogiken manifestiert (Kap. 4), wird schließlich darüber reflektiert, welche konzeptuellen Implikationen die angestellten Überlegungen in Bezug auf herkömmliche Paradigmen und Denkweisen haben (Kap. 5). 1 DAS „GEWEBE DES LEBENS“ IN ANDERER PERSPEKTIVE UND BEGRIFFLICHKEIT Seit längerer Zeit wird das Verhältnis von Kultur- und Wirtschaftsgeschichte rege diskutiert und zeitweise auch heftig darüber gestritten. 1 Ein sich abzeichnender 1
CHRISTOPH BOYER: Kulturwissenschaft in der Wirtschaftsgeschichte, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 94, 2 (2007), S. 186‒188, befürchtete etwa, eine rein
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Modus vivendi läuft darauf hinaus, Kultur und Wirtschaft als komplementär, aber doch als voneinander gesonderte Sphären zu sehen, womit die positivistische Ökonomie ebenso wie die relativistische Kulturwissenschaft leben zu können scheinen. 2 Doch tragen dichotomische Konzepte dieser Art tatsächlich zum Verständnis menschlicher Existenz bei? Inspirierend scheint hierzu die Frage von Jorge Semprún danach, ob man irgendeine Erfahrung verarbeiten könne, „ohne sie sprachlich mehr oder weniger zu meistern? Das heißt, die Geschichte, die Geschichten, die Erzählungen, die Erinnerungen, die Zeugnisse, das Leben? Den Text, ja die Textur, das Gewebe des Lebens?“ 3
Semprún redet davon, dass jedes Nachdenken auf eine Sprache angewiesen ist, die ihm seine Grundlagen liefert und seinen Entfaltungshorizont aufscheinen lässt. 4
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kulturwissenschaftliche Perspektive könnte auf „impressionistisch-kontextfreie Nacherzählungen der ‚Diskurse‘“ hinauslaufen. Einen Abriss des mitunter angespannten Verhältnisses der beiden Disziplinen mit Hinweisen auf jüngere Literatur lieferten zuletzt CHRISTOF DEJUNG/MONIKA DOMMANN/DANIEL SPEICH CHASSÉ: Editorial. Wissen und Wirtschaften, in: WerkstattGeschichte 58 (2011), S. 3‒7, hier S. 3‒5. Bezeichnend ist die im besagten Beitrag vertretene Programmatik, die „Kultur und Wirtschaft als zwei im historischen Wandel eng verknüpfte Konzeptionen“ versteht (S. 4f.). JORGE SEMPRÚN: Was für ein schöner Sonntag, Frankfurt am Main 2008 (11981; zuerst frz.: Quel beau dimanche!, Paris 1980), S. 59. Charakteristisch für von klassischen Kategorien eingehegtes ökonomisches Denken steht ein Beitrag des Schweizer Journalisten DANIEL BINSWANGER: „Und vergib uns unsere Schulden“, in: Das Magazin 7 (2012), S. 24‒30, der sich mit den Überlegungen von DAVID GRAEBER: Schulden. Die ersten 5000 Jahre, Stuttgart 2012 (zuerst engl.: Debt. The First 5000 Years, Brooklyn, NY 2011) befasst. Hier wird beispielsweise kein expliziter Unterschied zwischen beziffer- und bilanzierbaren Geldschulden und auf sozialen Interaktionen bzw. Bindungen beruhenden Verpflichtungen gemacht. Vielmehr wird behauptet, Kreditsysteme funktionierten nur, „wenn Schulden vollstreckt werden können“, wobei eine zentrale Kontrollmacht (gemeint sind implizit staatliche Autoritäten) dafür sorgen müsse, dass die Kredite auch bedient würden. Nicht in Erwägung gezogen wird, dass Kreditsysteme in der ökonomischen Alltagspraxis genau dann am besten funktionieren, wenn Schulden niemals vollstreckt werden und statt dessen in Form dauerhafter, uneingelöster Verpflichtungen auflaufen, wie Gabriele Jancke zuletzt gezeigt hat (s. GABRIELE JANCKE: Gastfreundschaft in der frühneuzeitlichen Gesellschaft – Praktiken, Normen und Perspektiven von Gelehrten, Göttingen 2013 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 15), bes. S. 304–315). Schließlich wird der Welt des Tausches ‒ ein solcher sei ohnehin nur mit Stammesfremden möglich ‒ ein idealisierter „Basiskommunismus“ gegenübergestellt, der sich in Teamarbeit realisiere, weil dann „die Frage, was der Einzelne für seinen Einsatz zurückbekommt“, neutralisiert sei (S. 29). Aussagen wie „Teamarbeit ist Basiskommunimus“ klingen vordergründig gut, lenken aber vom Wesentlichen ab, denn es wird unterstellt, hinter dem Engagement für kollektive Interessen stünden per se keine eigennützigen bzw. egoistischen Motive und keine Machtverhältnisse. Bei näherem Hinsehen lassen sich individuelle Strategien im Dienste von Gruppen aber plausibler als Manifestationen von reziprokem Altruismus nach Robert Trivers erklären. Diesem Modell zufolge erwarten Individuen für ihre Investitionen ins Kollektiv keine unmittelbare äquivalente Gegenleistung, aber sie haben zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt Anrecht auf Solidarleistungen aus dem Pool der vom Kollektiv über lange Zeiträume allozierten und konservierten Ressourcen. Auch wenn Teamwork im Zeitalter des garantierten Monats-
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Ein solches Postulat mag zunächst seltsam anmuten, zumal Forschende als professionell Lesende und Schreibende über ‚Sprache‘ als wichtigstes Handwerk unbeschränkt zu verfügen meinen. Allerdings versteht sich dieser Beitrag als Plädoyer für eine Kultur- und Wirtschaftswissenschaft, die Gesellschaften auf der Grundlage von persönlichen Beziehungen wahrnehmen, beschreiben und verstehen will, und die in diesem theoretisch-methodischen Anliegen einen gemeinsamen Dreh- und Angelpunkt finden könnte. Da historische Subjekte sich in willentlicher und zufälliger Überlieferung in der Regel nur implizit über persönliche Beziehungen äußern – wenn überhaupt –, bedarf es zur Rekonstruktion der relationalen Dimension des sozialen Geschehens umständlicher Verfahren, wovon noch die Rede sein wird (vgl. unten Kap. 3). Zwischenmenschliche Beziehungen sind jedoch ein Kernthema der Literatur. In grandiosen belletristischen Texten – wie beispielsweise bei Semprún, aber längst nicht nur bei ihm – steht viel Essentielles über humane Bindungen. Da viele SchriftstellerInnen vielleicht nicht zwingend analytisch, aber doch mit investigativer Liedenschaft – durchaus im Sinn einer Lebensfrage – über soziale Beziehungen nachgedacht haben, wird in diesem Beitrag wiederholt aus literarischen Werken zitiert. Diese Passagen sollen die historischen Quellenbeispiele keineswegs konkurrieren oder ersetzen. Davon gibt es in diesem Text und im ganzen Band ja ausreichend viele. Auch sollen diese Bezüge keinesfalls zu einem generalisierenden Sprechen über die bzw. zu einer Enthistorisierung der ‚Vormoderne‘ verleiten. Es geht vielmehr darum, im Sinn von Semprúns Anregung zu einer adäquaten Sprache zu finden. Hierzu müssen einerseits Begriffe hinterfragt und geklärt werden – auch dazu gleich noch mehr. Andererseits bedarf Sprache als Instrument unseres Denkens stimmiger Narrative, Leitmotive und Sinnbilder, wenn sie Sachverhalte präzise fassen und plastisch beschreiben will. Der Rückbezug der hier vorgetragenen Überlegungen auf literarische Quellen soll als Inspirationsquelle für ein Nachdenken in Varianten dienen. Denn möglicherweise lassen sich soziale Beziehungen in künstlerisch-literarischer Verdichtung besser und präziser veranschaulichen, als wenn sie in soziologischem Jargon zergliedert werden. Ganz in diesem Sinn beginnt die in diesem Band angedachte Untersuchung der Ökonomie sozialer Beziehungen mit der Benennung des Ungesagten bzw. Sichtbarmachung des Unsichtbaren. Oder besser: des bzw. der in hegemonialer Überlieferung Verschwiegenen und durch strukturell begründete Erzählmacht unsichtbar Gemachten. Auf der Suche nach dem Konnex von sozialen Beziehungen und Ökonomie werden beispielsweise in der Beschäftigung mit dem häuslichen Wirtschaften vormoderner Gelehrtenhaushalte nicht nur spezifische ökonomische Logiken deutlich, die den sozialen Beziehungen im Gelehrtenmilieu eingeschrieben waren. Vielmehr rücken plötzlich auch ‚namenlose‘ AkteurInnen in den Fokus, die in den männlichen gelehrten Genealogien als Individuen unkenntlohnes auf den ersten Blick auf purem Altruismus zu beruhen scheint, müssen Modi der Kooperation zwingend auf der Folie der jeweiligen sozialen Systeme reflektiert werden; vgl. ROBERT TRIVERS: The Evolution of Reciprocal Altruism, in: Quarterly Review of Biology 46 (1971), S. 35−57.
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lich sind, obwohl ohne ihre Mitarbeit der vormoderne Wissenschaftsbetrieb gar nicht hätte funktionieren können. 5 Ein Hauptanliegen einiger der vorliegenden Beiträge war, möglichst alle in sozialen Beziehungen verortbaren Personen als Menschen mit ‚Biographie‘, also mindestens mit Lebensdaten, auftreten zu lassen. Dass dies namentlich bei den erwähnten Frauen nicht durchgehend bewerkstelligt werden konnte, belegt die Persistenz männlicher Strategien der Besitzstands- und Statuswahrung kraft simpler, eingängiger und einprägsamer Erzählmotive als entscheidende Instrumente der Traditionsbildung. Im angesprochenen Beispiel läuft die Frage nach der Ökonomie sozialer Beziehungen auf eine Gegendarstellung zur Meistererzählung vom maskulin-genialischen Innovator, vom schöpferischen männlichen Individuum hinaus, welches das Bild des Wissenschaftsbetriebs immer noch prägt. 6 Aus diesem Blickwinkel gehen die angestammten Reviere der Wirtschaftsgeschichte einerseits, der Kulturgeschichte andererseits ineinander auf. Und wenn etablierte Denkmuster und Grenzziehungen mit Absicht kontrafaktisch reflektiert werden, erscheinen angestammte und eifersüchtig verteidigte disziplinäre Untersuchungsfelder nicht mehr als Gegensätze und separierte Dimensionen menschlichen Handelns (zum Beispiel die rituell-soziale versus die chrematistisch-merkantile Sphäre). Ein solcher Perspektivenwechsel legt vorsätzlich Hand an die Dichotomie von Wirtschafts- und Kulturgeschichte, die beide mit den kategorialen Schranken des real existierenden Forschungsbetriebs ganz gut leben und sich an den Schwächen des epistemologischen Alter Egos aufzubauen und zu profilieren gelernt haben. Er bezweckt bewusst nicht, die Disziplinen sich im interdisziplinären Zwiegespräch ‚befruchten‘ zu lassen. Dies im gewollten Kontrast zu jenen Konzepten von Interdisziplinarität, die implizit von der Grundannahme einer unterschwelligen Dichotomie ausgehen, wie es etwa Hartmut Berghoff und Jakob Vogel in ihrem Versuch „Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte“ tun, wenn sie als Kernanliegen ihres Ansatzes deklarierten, die „Neugierde der Wirtschaftshistoriker auf die neue Kulturgeschichte und die der Kulturhistoriker auf die Wirtschaftsgeschichte zu wecken und die Synergiepotentiale aufzuzeigen“, weil dieses Ziel „die Mühen des interdisziplinären Austausches“ rechtfertige. 7 Der hier eingeschlagene Weg folgt 5 6
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Vgl. die Beiträge von Gabriele Jancke und Sebastian Kühn in diesem Band. Vgl. die analogen Relativierungen zum homo oeconomicus in Anm. 30 der Einleitung zu diesem Band sowie genereller Forschungen zu Personkonzepten wie z. B. bei GABRIELE JANCKE/CLAUDIA ULBRICH: Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, in: Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, hg. v. JANCKE und ULBRICH, Göttingen 2005 (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung 10), S. 7–27. HARTMUT BERGHOFF/JAKOB VOGEL: Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Ansätze zur Bergung transdisziplinärer Synergiepotentiale, in: Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, hg. v. BERGHOFF und VOGEL, Frankfurt am Main 2004, S. 9–41, hier S. 32. Im gleichen Band grenzt sich CHRISTOPH CONRAD: „How much, schatzi?“ Vom Ort des Wirtschaftens in der new cultural history, in: ebd., S. 43–67, hier S. 51, von Exkursionen „in Gebiete“ ab, „die man gemeinhin eher den Kulturwissen-
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vielmehr der von Arnold Esch gelegten Fährte, der sich durch das „Spezialistentum mancher Teilhistoriker“ an Kinder erinnert fühlt, „die ihr Spielzeugauto zwar zerlegen, aber nicht mehr zusammensetzen können […]. Der Ruf nach interdisziplinärer Arbeit und nach Teamwork“ werde „viel zu oft beschworen und viel zu selten praktiziert“. Realistischer wäre es, „Teamwork zunächst einmal im eigenen Kopfe stattfinden zu lassen, bevor man mit solchem Ansinnen an Nachbardisziplinen herantritt. Man kann nicht Spezialisten vereinigen und glauben wollen, allein dadurch habe man bereits ein Ganzes“. 8
Will sich analytisches Denken diesem Programm getreu aus disziplinären Zwängen emanzipieren, müssen etablierte, längst nicht mehr reflektierte Axiome sowie von den gängigen Paradigmen apodiktisch eingeklagte kategoriale Grenzziehungen hinterfragt werden. Alsdann sind Fragestellungen und Forschungstechniken zu entwickeln, anhand derer geläufige Interpretationslogiken und konsolidierte Lehrmeinungen konterkariert werden können. Bezweckt wird dadurch ein realitätsnahes Verständnis für Verhaltensweisen und Praktiken ökonomisch Handelnder einerseits, von umfassend verstandenen wirtschaftlichen Kreisläufen und Transaktionsverhältnissen andererseits. Um die implizit stets als in einem dichotomischen Verhältnis zueinander stehend gesehenen Dimensionen ‚Ökonomie‘ und ‚Kultur‘ zusammen zu denken, müssen eingeschliffene Terminologien dekonstruiert sowie die scheinbar eindeutigen Begriffen wie ‚Ökonomie‘, ‚Tausch‘, ‚Kapital‘, ‚Wert‘, ‚Eigentum‘, ‚Gewinn‘, ‚Schulden‘, ‚Produktion‘, ‚Konsum‘, ‚Subsistenz‘ etc. eingelagerten Logiken dechiffriert und mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand bei Bedarf redefiniert werden. Erst wenn landläufige Kategorien fundamental zur Disposition gestellt werden, öffnet sich der Blick auf alternative Ansätze des Verstehens, die quer zu bekannten ökonomischen Theorien laufen und diesen durchaus widersprechen dürfen. Es gibt also nicht hier die ‚Wirtschaft‘ und da die ‚Kultur‘. Wirtschaft ist auch nicht ‚eingebettet‘ in einen ‚kulturellen Kontext‘. Ökonomie ist im Gegenteil integraler Bestandteil menschlicher Existenz. Seit der Vertreibung der Spezies aus dem Paradies muss sie arbeiten, fallweise die Erde urbar machen oder per Email
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schaften zuordnet, also die gesamten Bereiche der cultural economics, zum Beispiel […] Arbeiten über den Austausch von Gaben und Geschenken“. In Betracht der für das vorliegende Buch erkenntnisleitenden Beobachtung des für die Vormoderne charakteristischen, omnipräsenten Ressourcentransfers zwischen unterschiedlichen HandlungsträgerInnen erscheint solch rigorose Abgrenzung wenig zielführend. Auch SUSANNE HILGER/ACHIM LANDWEHR: Zur Einführung. Wirtschaft ‒ Kultur ‒ Geschichte: Stationen einer Annäherung, in: Wirtschaft ‒ Kultur ‒ Geschichte. Positionen und Perspektiven, hg. v. HILGER und LANDWEHR, Stuttgart 2011, S. 7‒26, hier S. 8f., gehen implzit von einer disziplinären Zweiteilung aus, wenn die Kulturgeschichte einerseits die „zuvor vielfach vernachlässigten subjektiven, symbolischen und alltäglichen Dimensionen des Historischen“ betont, während andererseits die „Betrachtung kultureller Komplexität“ nicht „ohne Berücksichtigung wirtschaftlicher Zusammenhänge“ auskommt, „weil dadurch zentrale Grundlagen menschlichen Lebens ausgeblendet werden und ein wichtiger Produzent kultureller Sinnbildung unberücksichtigt bleibt“. ARNOLD ESCH: Der Historiker und die Wirtschaftsgeschichte, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 43 (2007), S. 1–27, hier S. 26.
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kommunizieren. Wirtschaften gehört zum Dasein wie Gesundheit, Wetter, Verwandtschaft, Abstammung, Emotionen, Denken, Fühlen. Es begründet und entscheidet Kriege, schafft Freund- oder Feindschaften. 9 Die Fragen danach, wer wie viel hat, wie man zum Notwendigen oder zu mehr kommt, was unsere Arbeit wert sein soll, wie man jemandem auf legale Weise etwas wegnimmt, was wir mit Überschüssen anfangen, wie wir in Engpässen bestehen, welche Werte wir Dingen und Ressourcen zuschreiben usw. durchdringen das soziale Mit- und Gegeneinander in vielfältiger Weise. Vor diesem Hintergrund interessiert, welche ökonomischen Logiken den Praktiken der vielfältigen menschlichen Handlungsfelder eingeschrieben sind bzw. welche Ziele die Agierenden damit verfolgen. Dabei interessieren materielle und immaterielle Mehrwerte ebenso wie auf das Diesoder Jenseits abzielende Investitionen. Arbeiten, tauschen, geben, nehmen, investieren, verschwenden, haushalten, horten, (ver)erben, schulden, schenken, stiften, produzieren, speichern, sparen, schachern, wuchern, zählen, berechnen, budgetieren, bilanzieren, sammeln, züch9
Ganz so neu ist diese Erkenntnis nicht, räumte doch schon AUGUST VON MIASKOWSKI: Die schweizerische Allmend in ihrer geschichtlichen Entwicklung vom XIII. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Leipzig 1879, S. VIIIf., ein, es möge auf den ersten Blick als „befremdende Thatsache“ erscheinen, wenn sich eine Abhandlung „eines Socialökonomen vorwiegend der Darstellung der historischen Rechtsentwickelung und des gegenwärtigen Rechtszustandes“ widme. Gleichzeitig sei dieses Vorgehen „die Frucht der sich immer weiter Bahn brechenden Erkenntnis, daß der wirthschaftliche Zustand, die sociale Gliederung und die Rechtsordnung eines bestimmten Volkes in einer gegebenen Zeit in unlöslichem Zusammenhang untereinander stehen und daß die Rechtsordnung einer- und der wirthschaftliche Zustand sowie die sociale Gliederung anderseits sich zu einander verhalten wie das Feste, Dauernde zu dem Flüssigen, Beweglichen oder um in einem Bilde zu sprechen, wie das Knochengerüste zu den übrigen Theilen des menschlichen Körpers.“ Von überraschender Seite und aus zitiertechnisch nicht unproblematischem Kontext stammt das folgende, forschungsstrategisch an Miaskowski anschließende Plädoyer für einen historisierenden Zugang zum Ökonomischen: „Dem Historiker handelt es sich um die Beschreibung der wirtschaftlichen Struktur konkreter geschichtlicher Einheiten und höchstens in zweiter Linie um die Frage nach dem Verhältnis dieser Wirtschaftsform zum modernen Wirtschaftsleben. Ihm kommt es darauf an, das innere Funktionieren dieses vergangenen Gebildes auch nach seiner wirtschaftlichen Seite hin darzulegen. Ob er hierbei überhaupt die Wirtschaft als relativ autonomen Bereich wird darstellen können, wie weit die Frage der Marktwirtschaft und der Rationalität für ihn Bedeutung hat, wird ganz von der jeweiligen Struktur des zu beschreibenden Gebildes abhängen. Erfordert es die Lage, wird sich der Historiker nicht scheuen, überhaupt auf Beschreibung eines für sich stehenden Bereiches Wirtschaft zu verzichten. Er ist dann gezwungen, die einzelnen konkreten Gebilde zu beschreiben, die auch Wirtschaft, gleichzeitig aber auch andere Funktionen erfüllen, ohne deren Darlegung sie nicht verstanden werden können.“ So äußerte sich zu NS-Zeiten OTTO BRUNNER: Zum Problem der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in: Zeitschrift für Nationalökonomie 7 (1936), S. 671‒685, hier S. 678. Analog dazu halten BRUNO LATOUR/VINCENT LÉPINAY: Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen. Frankfurt am Main 2010, S. 97, fest, es gebe keine „‚Einbettung‘ der Ökonomie im Sozialen“, weil „das Soziale keine eigene Domäne ist, sondern ein Assoziations- und Ansteckungsprinzip“. Ebenso existiere „kein Reich der Politik, welches entlang einer klar zu ziehenden Grenze das Reich der Ökonomie begrenzen würde“. Es gebe „überhaupt keine Domäne: Es existiert nur ein expandierendes Gewebe der Verflechtung von Begehren und Überzeugungen“.
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ten, verleihen, borgen, bürgen, (ver)kaufen, mieten, nutzen, pachten, quittieren, abrechnen, bestechen, Bankrott/Konkurs gehen, rauben, feilschen, spekulieren, unterschlagen, betrügen, stehlen, (ver)pfänden, konfiszieren, einziehen, stunden, anschreiben, versilbern, Almosen geben, verzichten, Kredit aufnehmen, vorsorgen, riskieren, handeln. Jedes dieser Verben umschreibt Verhaltensformen, die einerseits durch historische Realität bedingt bzw. begünstigt sind und normative Haltungen zu Wirtschaft und Politik ihrerseits prägen. Andererseits verweisen sie auf hinter sozialen Praktiken stehende wirtschaftliche Logiken und Zielsetzungen. Diese unvollständige Aufzählung ökonomischer Praktiken verdeutlicht, dass die in diesem Band angestellten Überlegungen von den Agierenden, den Handelnden her gedacht sind. Ökonomisches Geschehen interessiert nicht im Sinne von anonymen Prozessen, die entsprechend hier nicht strukturalistisch gedacht oder quantitativ analysiert werden sollen, obwohl dies in künftigen Schritten hin zu einem vertieften Verständnis der Ökonomie sozialer Beziehungen durchaus wünschenswert wäre. 10 Vielmehr geht es darum, welche Motivationen und welches ökonomische Denken im alltäglichen Wirtschaften von Menschen erkennbar
10 Eine diesbezüglich visionäre Auffassung vertrat GABRIEL TARDE: Psychologie économique, Paris 1902, Bd. 1, S. 63, 73, 117, zit. nach: LATOUR/LÉPINAY, Ökonomie als Wissenschaft (wie Anm. 9), S. 15f., 31, 38f., der in jeder Hinsicht avant la lettre bereits um die Jahrhundertwende an den Grundfesten wirtschaftswissenschaftlicher Axiome rüttelte und dafür plädierte, entscheidende Größen der ökonomischen Theorie wie Fragen der Wertzuschreibung bzw. Preisbildung als „Übereinstimmung der kollektiven Urteile über die Tauglichkeit der Objekte […], an die mehr oder weniger und von einer mehr oder weniger großen Anzahl von Personen geglaubt wird“, also als massenpsychologische Phänomene zu analysieren. Weshalb sollte bloß „die Fabrikation bestimmter Artikel in größerer oder geringerer Qualität“ – das Verhältnis von Angebot und Nachfrage also – wissenschaftlich untersuchbaren Gesetzmäßigkeiten unterliegen? Warum, so Tarde, sollte es nicht auch „Naturgesetze“ geben, welche „das Auftauchen, das Wachstum, die Zunahme oder Abnahme der popularen Begeisterung“ regulieren? Die „tumultuöse Welt der ökonomischen Aktivität, das heißt diese herzzerreißende und tiefe, leidende und mühselige Welt“, könne unmöglich „von einer geometrischen Deduktion kalter Theoreme à la Ricardo regiert werden, anwendbar auf ich weiß nicht welchen groben – schematischen oder mechanischen – Menschen!“ Es sei Aufgabe der „ökonomischen Psychologie“, die „ganze sogenannte gefühlsmäßige Seite der Produktion, der Verteilung, der Konsumtion der Reichtümer wieder an ihren wahren Platz, den ersten, zu setzen“. Wie avantgardistisch Tardes Ansatz war, verdeutlicht die Würdigung seiner Person durch Latour und Lépinay als „Kopernikus, dessen Buch niemand gelesen hat“. Tarde sei viel weiter gegangen „als die vorsichtigen Forscher von heute, die sich damit begnügen, das reine und vollkommene System des Marktes zu korrigieren, indem sie es um eine Vielzahl von Epizykeln erweitern, die sich in alle möglichen Richtungen drehen – Verträge, Vertrauen, Information, Regeln, Normen, Koalitionen“ (S. 40). Tardes Theoreme feiern gegenwärtig eine späte Renaissance, indem sich heutige Forschungen stark für die von Social-Media-Plattformen gerahmte massenhafte Vernetzung und die sich via Like-Kultur herausbildenden Konsumentengruppen mit ihrem spezifischen Schwarmverhalten interessieren. Im Gegensatz zu den auf die soziale Bedingtheit der Condition humaine abzielenden Fragestellungen Tardes sind die heutigen Untersuchungen in erster Linie vor dem Hintergrund der Nutzbarmachung des Internets zwecks Optimierung finanzieller Gewinnmöglichkeiten zu sehen.
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sind und wie untrennbar ökonomische Praktiken mit sozialen Beziehungen verwoben sind. 11 2 KEIN ÖKONOMISCHES HANDELN OHNE PERSONALE VERBINDUNGEN ‒ AKTEUR/INNEN IN SOZIALEN STATT BLOß WIRTSCHAFTLICHEN INTERAKTIONEN Wenn Menschen sich ökonomisch betätigen, tun sie das beinahe zwangsläufig in enger Interaktion mit anderen Menschen. 12 Wo immer Gruppen oder auch bloß zwei Menschen im Hinblick auf ein gemeinsames Ziel agieren, interessieren deshalb die Beziehungen zwischen den Beteiligten bzw. die Frage, ob die jeweiligen Beziehungsqualitäten einen Einfluss auf die wirtschaftlichen Interaktionen haben. 13 Giovanni Levi hat in seinen wegweisenden Arbeiten nachgewiesen, dass persönliche Beziehungen nicht nur über das Zustandekommen von Transaktionen am lokalen Bodenmarkt entschieden, sondern dass die Beschaffenheit der Beziehungen zwischen den an einem Geschäft Beteiligten die Preisbildung entscheidend beeinflusste. 14 Selbstverständlich lassen sich Levis subtile Beobachtungen und differenzierte Interpretationen nicht linear auf ‚unpersönliche‘ oder anonyme
11 Vgl. die Überlegungen bei JAKOB TANNER: Die ökonomische Handlungstheorie vor der „kulturalistischen Wende“? Perspektiven und Probleme einer interdisziplinären Diskussion, in: Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte, hg. v. BERGHOFF und VOGEL (wie Anm. 7), S. 69‒98, hier S. 74. 12 Vgl. die in der Einleitung dieses Bandes, Anm. 22, zitierten Passagen von Max Weber. 13 Solchem Denken verpflichtet, reden JOSEF EHMER/REINHOLD REITH: Märkte im vorindustriellen Europa, in: Märkte im vorindustriellen Europa, hg. v. EHMER und REITH, Berlin 2004 (Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2004/2), S. 9–24, hier S. 22, nicht vom Markt „im Sinn der neoklassischen Theorie“, sondern im Plural von Märkten, „die von den verschiedensten Interessengruppen beeinflusst, reguliert und beschränkt wurden, und die eine starke soziale und kulturelle Dimension aufwiesen.“ UTE DANIEL: Alte und neue Kulturgeschichte, in: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Arbeitsgebiete – Probleme – Perspektiven. 100 Jahre Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, hg. v. GÜNTHER SCHULZ et al., Stuttgart 2004, S. 345–358, hier S. 358, hat ihrerseits eine „Kulturgeschichte des Marktes“ vor Augen, aus der „man etwas darüber lernen kann, was Marktbeziehungen für die Menschen bedeutet haben, wie sie in ihnen (oder gegen sie) agiert haben.“ 14 Vgl. GIOVANNI LEVI: Das immaterielle Erbe. Eine bäuerliche Welt an der Schwelle zur Moderne, Berlin 1986, S. 88, 91, 94, demzufolge es „sich gerade nicht darum“ handelt, „die Ökonomie zu isolieren, sondern darum, sie in den Beziehungszusammenhang einzuordnen, der zwischen dem materiellen Fluß der Güter und der politischen und kulturellen Sphäre sowie den sozialen Beziehungen im allgemeinen besteht“ (S. 94). Kaum hatte der habliche Bauer Joggeli in JEREMIAS GOTTHELF: Wie Uli der Knecht glücklich wird – Uli der Pächter (Erstausgaben 1841 und 1849), Erlenbach-Zürich/Stuttgart 1962, S. 347, seinen Hof dem Schwiegersohn verkauft, stellte er klar, „Rühmen und Flattieren sei nicht seine Art“. Deshalb „habe er ihm [dem Schwiegersohn] nicht viel gesagt; aber daß er zufrieden sei mit ihm, das hätte er sehen und daraus abnehmen können, daß er ihm das Gut so gegeben; ein Fremder hätte es nicht so erhalten.“
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Märkte übertragen, was aber der Bedeutung von Beziehungen auf ‚persönlichen‘ Märkten keinen Abbruch tut, sondern sie im Gegenteil noch verstärkt. 15 15 Entfesselter, über automatisierte Rechenoperationen und das Internet abgewickelter Börsenkapitalismus beruht auf abstrakten Marktkonzepten, deren Funktionieren nach kalter rechnerischer Logik just die Ausklammerung bzw. Umgehung menschlicher Beziehungsgefüge bedingt. Die AkteurInnen sitzen anonym vor Bildschirmen und fällen aufgrund bestimmter Indizes und des Verhaltens der Konkurrenz ihre Entscheidungen. Gradmesser ihres Handelns sind nicht Verantwortung oder die langfristige Auswirkung ihrer Entscheidungen, sondern allein die Renditen und Gewinnmargen am Ende des ‚Arbeitstages‘. Solch parameterbasierte Arbeit kann ebenso von Maschinen verrichtet werden, und tatsächlich werden erhebliche Umsatzvolumen an den globalen Finanzmärkten von Computern abgewickelt. Der Verweis darauf, dass exuberante Gewinne aufgrund mathematischer Evidenz und somit bar jedes sozialen Rechtfertigungsbedarfs erwirtschaftet werden, dient primär der Rechtfertigung eines exklusiv Privatinteressen dienenden ökonomischen Geschehens, das durchaus weitreichende Folgen für die Globalgesellschaft und die Verteilung der vorhandenen Ressourcen hat. Bei näherem Hinsehen zielt es aber am Wesen der Sache vorbei, die heutige Finanzwirtschaft als bloßes ‚Spiel der Marktkräfte‘ zu sehen. So verweisen zurückliegende und aktuelle Krisenereignisse auf die eminente Bedeutung von ‚Vertrauen‘. Und auch für die großen Coups im ‚Investmentbanking‘ dürfte kaum der ‚Markt‘ verantwortlich sein. Bahnbrechende Übernahmegeschäfte werden schließlich nicht über Leserbriefseiten und Blogs einschlägiger Wirtschaftszeitungen angebahnt. Eher treffen sich entscheidungsmächtige Führungskräfte zuerst unter sich zu Gesprächen im kleinen Kreis. Gute Geschäfte bedürfen konkreter menschlicher Interaktion. Nicht umsonst fliegen Heerscharen von Geschäftsleuten über die Ozeane, um irgendwo auf dem Globus potentielle Partner von Angesicht zu Angesicht zu treffen. Über physische Präsenz und ritualisierte Praktiken wie gemeinsames Essen und Trinken kommt man offensichtlich besser ins Geschäft. Dass in der Schweiz die Ausgaben für Business-Lunches als Gewinnungskosten von den Steuern abgesetzt werden können, dokumentiert den Investitionscharakter geselliger Gepflogenheiten im Geschäftsmännermilieu. Auch wenn alle erfolgreichen Kaufleute rechnen und ‚rational‘ denken können, fällen sie wichtige Entscheide nie allein nach Vernunftkriterien. Wie könnten sonst Hochstapler und wertgeschätzte Milliardenbetrüger auch im 21. Jahrhundert noch gute Geschäfte machen? Zur Bedeutung der Geschäftsreise in der Vormoderne vgl. zuletzt MARTIN OTT: Salzhandel in der Mitte Europas. Raumorganisation und wirtschaftliche Aussenbeziehungen zwischen Bayern, Schwaben und der Schweiz, 1750–1815, München 2013, S. 350–354, 429f., 432–444, 535. Unter den vielfältigen Beispielen bei Ott ist eine Geschäftsreise von Johann Sebastian Clais besonders bezeichnend. Dieser amtete als nach Umsatz bezahlter Intermediär im bayerischen Salzgeschäft, hegte aber gleichzeitig biographisch begründete Loyalitäten zum Kanton Bern, dem zu seiner Zeit wichtigsten Abnehmer bayerischen Salzes. Nachdem Johannes Jenner, langjähriger Berner Ansprechpartner und früherer Mentor von Clais, wegen gravierender finanzieller Unregelmäßigkeiten zuerst untergetaucht und kurz danach per Freitod aus dem Leben geschieden war, fuhr Clais umgehend persönlich nach Bern. Mit der Reise bezweckte er, sofort ein gutes Verhältnis zu Johann Karl Steiger, Jenners Nachfolger in der Leitung des Salzhandels, zu etablieren. Brieflicher Austausch allein reichte dazu offensichtlich nicht aus. Die Brisanz der Situation verlangte vielmehr nach der persönlichen Begegnung. Diese verlief übrigens erfolgreich, wie die ersprießliche spätere Zusammenarbeit von Clais und Steiger nahelegt (ebd. S. 429f.; zu Jenner vgl. auch ebd. S. 273, 289–297, 402f., 411, 424, 429, 440ff.). Im gleichen Zusammenhang bezeichnend ist auch die Art und Weise, wie Johann Gabriel Lori, geheimer Referendär im bayerischen Departement für auswärtige Geschäfte und für das Salzwesen zuständig, eine Generation früher den ersten Kontakt zum damaligen bernischen Salzdirektor und Gelehrten Albrecht von Haller herstellte. Zwischen den beiden war zunächst nicht von Geschäften die Rede. Vielmehr fragte Lori über Mittelsleute an, ob Haller Mitglied der neu
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Eine Vielzahl ökonomischer Verflechtungen war in der Frühen Neuzeit ausgeprägt personalisiert (Kreditwesen, Produktionsformen in Landwirtschaft, Gewerbe und Protoindustrie, Konsummärkte, Lehen, Pacht, Abgaben, Steuern). Wirtschaftende AkteurInnen bewegten sich in vielpoligen, sich stetig verändernden Beziehungsgeweben. 16 Wie diese funktionierten, konnte man weder verlässlich voraussagen noch zielsicher beeinflussen. Vielmehr musste man an ihnen kraft eigener Beteiligung stetig mitstricken. Versteht man lokale Gesellschaften, korporative Institutionen oder auch bloß informell konstituierte Gruppen als personalisierte Interaktionssysteme auf dem Untergrund persönlicher Bindungen, wird evident, dass zu ihrem Verständnis plurale Transferkonstellationen und verflochtene Handlungslogiken in Anschlag gebracht müssen, denen mit klassischen Konzepten wie ‚Gabentausch‘, ‚Reziprozität‘, ‚Patronageressourcen‘, ‚Eigennutz‘ oder ‚Gemeinnutz‘ nicht beizukommen ist. Hier kommt man weiter, wenn unterschiedliche Beziehungsqualitäten in die Analyse einbezogen werden, die soziale Interaktionsweisen und Umgangsformen maßgeblich prägen (Konkurrenz, Feindschaft, Freundschaft, Kooperation, Konspiration, Komplizenschaft, Patronage, Nachbarschaft, Verwandtschaft oder Ehe). Die für die Vormoderne charakteristischen Korporationen (Gilden, Zünfte, Bruderschaften, Gemeinden etc.) bildeten als eng umrissene Personengefüge stabile und überschaubare Rahmungen für Beziehungshandeln. Solche genossenschaftliche Gebilde hatten stets einen materiellen Untergrund, einen Gemeinbesitz. Ihr Sinn und Zweck war die Organisation der gemeinsamen Nutzung der kollektiven Ressourcen. 17 Dass für die selbstverwaltenden Institutionen korporativer gegründeten bayerischen Akademie werden möchte. Die Zusage Hallers verschaffte der Akademie ein internationales Aushängeschild sowie einen inspirierenden Mitarbeiter und Lori eine vielversprechende und wertvolle Beziehung zu einem gebildeten Politiker. Sie legte auf informellem Weg aber auch die Basis für eine wichtige Geschäftsbeziehung, denn erst einige Zeit später würde Haller sogar ohne offizielles Verhandlungsmandat wegen Versorgungsschwierigkeiten in Salzfragen mit Lori in Verbindung treten und Bern in den folgenden Jahrzehnten zum wichtigsten Abnehmer bayerischen Salzes werden (ebd. S. 378–381, 385–392). 16 CHRISTIAN STEGBAUER: Reziprozität. Einführung in soziale Formen der Gegenseitigkeit, Wiesbaden 2002, S. 22, hält für erwiesen, „dass mit vielen Austauschbeziehungen zwar ökonomisches Kalkül verbunden sein mag, dieses aber keineswegs hinreicht, um die Vielfalt des Tausches von Waren, Gaben und Leistungen erklären zu können. Zur Erklärung der unterschiedlichen Phänomene, die mit dem Tausch zusammenhängen, muss die Beziehungsdimension als Erklärungsvariable mitbetrachtet werden. Dabei reicht es nicht aus, die Beziehungsvariable als Anhängsel anzusehen – diese ist in den meisten Fällen entscheidend.“ Für MARSHALL SAHLINS: Stone Age Economics, New York 1972, S. 185f., ist eine „material transaction“ nicht mehr als „a momentary episode in a continuous social relation“. Mit anderer Akzentsetzung zuletzt: GABRIELE JANCKE/DANIEL SCHLÄPPI: Ökonomie sozialer Beziehungen. Wie Gruppen in frühneuzeitlichen Gesellschaften Ressourcen bewirtschafteten, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 22 (2011), Heft 1: „Mitgift“, hg. v. KARIN GOTTSCHALK und MARGARETH LANZINGER, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 85‒97. 17 Für KARL SIEGFRIED BADER: Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde. Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes, Weimar 1962, S. 5, ist Genosse „nicht nur, wer nach gleichem Recht lebt, sondern wer in irgendeiner Form mit Menschen seiner Art genießt [im
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Organisationen gesellige Aspekte eine wichtige Rolle spielten, zeugt von der eminenten Bedeutung sozialer Interaktion für die kollektive Bewirtschaftung von Ressourcen. Die Akteure kannten sich und begegneten sich bei politischen Versammlungen und profanen Verwaltungsakten von Angesicht zu Angesicht. Die Gruppe pflegte eine kollektive Erinnerung sowohl im Sinn des Wissens um Verdienste oder Verfehlungen der Vorfahren gegenwärtiger AkteurInnen als auch im Sinn eines gemeinsamen Herkommens. 18 Ökonomisches Handeln und der Transfer von Ressourcen waren in auf lange Dauer ausgelegte Beziehungssysteme eingebaut. Das Wesen gegenseitiger Verpflichtungen bestand nicht darin, diese möglichst bald abzugelten, wie es im Modell des ‚Gabentauschs‘ vorgestellt wird. Vielmehr ging es darum, Verpflichtungen überhaupt erst zu erzeugen, um Beziehungen zu erhalten – so lange etwas offen war, konnte man nicht quitt sein und auseinandergehen. 19 Und wenn die Sinne von: nutzen].“ Baders Definition verdeutlicht, dass korporative Politik und soziale Koexistenz auf einer dinglich-materiellen Basis beruhten. Vgl. dazu DANIEL SCHLÄPPI, Das Staatswesen als kollektives Gut. Gemeinbesitz als Grundlage der politischen Kultur in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft, in: Neue politische Ökonomie in der Geschichte, hg. v. JOHANNES MARX und ANDREAS FRINGS, Köln 2007 (Historical Social Research / Historische Sozialforschung, Special issue, 32/4), S. 169–202. 18 Vgl. DANIEL SCHLÄPPI: Verwalten statt regieren. Management kollektiver Ressourcen als Kerngeschäft von Verwaltung in der alten Eidgenossenschaft, in: Verwalten und regieren. Traverse, Zeitschrift für Geschichte 2 (2011), S. 42‒56; DERS.: Geschichte als Gemeinbesitz. Vom Umgang mit der Historie in korporativen Milieus, in: Formen und Funktionen sozialen Erinnerns. Sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen, hg. v. RENÉ LEHMANN, FLORIAN ÖCHSNER und GERD SEBALD, Wiesbaden 2013 (Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen ‒ Memory Studies 1), S. 259‒275. 19 Vgl. JANCKE, Gastfreundschaft (wie Anm. 4), S. 310, sowie ihren Beitrag in diesem Band. GRAEBER, Schulden (wie Anm. 4), S. 41–43, dessen Konzept von monetären Schulden in eine andere Richtung zielt als die hier zu Grunde gelegte Vorstellung von Schulden als interpersonale Verpflichtungen, räumt ein, dass in kleinräumigen Settings die soziale Verortung der beteiligten Personen darüber entscheidet, wie sich ein allfälliger Schuldendienst manifestieren könnte. Ausgehend von seinem imaginären Beispiel von „Henry“ und „Joshua“ stellen sich für Graeber aus Sicht der Forschung folgende Fragen: „Wer sind sie [Schuldner und Gläubiger]? Sind sie verwandt? Anscheinend leben sie in einer sehr kleinen Gemeinde. Zwei Menschen, die seit Langem in derselben kleinen Gemeinde leben, werden eine komplizierte Geschichte haben. Sind sie Freunde, Rivalen, Verbündete, Liebhaber, Feinde oder mehreres zugleich“? Gleichzeitig ist es „nur eine Frage der Zeit“, bis der eine etwas vom anderen brauchen wird. Ob Graebers Behauptung stimmt, in „kleinen Gemeinschaften“ merke sich einfach jeder, „wer wem was schuldet“, ist fraglich. Vielleicht ist es für das Funktionieren einer Verpflichtungswirtschaft entscheidender, dass das Kollektiv die Details über erbrachte und verweigerte Leistungen vergisst und statt von einer feinsäuberlichen Buchhaltung von einem grundsätzlichen Konnex wechselseitiger Verbindlichkeit ausgeht. Von der Macht, Unverzichtbarkeit und Unausweichlichkeit des Vergessens künden die just gegen das Erlöschen der Erinnerung getroffenen Maßnahmen wie etwa die in korporativen Milieus allgegenwärtigen Donatorentafeln, Stiftungsurkunden und -verzeichnisse, Inschriften, nach ihren Urhebern benannte Rituale usw. – wesentlich bedeutsamer als eine detailgetreue Kontoführung sind von allen Betroffenen geteilte Deutungen und akzeptierte Narrative darüber, wer woran Schuld getragen oder sich wofür verdient gemacht hat. Sich über solche Fragen einig zu werden, kann für heterogen zusammengesetzte Gruppen mit erheblichem Aufwand verbunden sein.
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gegenseitigen Schulden nicht klar bezifferbar waren, wurde es erst recht schwierig, wechselseitige Verpflichtungen per Saldo aufzukündigen. 3 VOM KONNEX ZWISCHEN BEZIEHUNGEN UND ÖKONOMISCH VERWERTBAREN GÜTERN Bekanntlich ist die frühneuzeitliche Überlieferung für die Analyse von ‚Beziehungen‘ in einem modernen Begriffsverständnis nicht sehr gesprächig. 20 Dennoch lassen sich personale Bindungen heuristisch fassen. 21 Vielfältige Rechnungen geben Einblick in wirtschaftliche Aktivitäten und die dabei wirksamen Beziehungsmodi. Handelsbücher bilden neben der Geschäftstätigkeit auch Kreditnetze und Geschäftspartnerschaften ab. Wirtschaftspolitische Verordnungen lassen Rückschlüsse auf ökonomische Interaktionen zu. Konflikte, die vor Gericht enden, erzählen von gescheiterten bzw. gestörten Beziehungen und selbstverständlich von sozialhierarchischen Gegensätzen und ökonomischen Abhängigkeiten. 22 Die Semantik technischer Begriffe wie ‚Netzwerk‘ suggeriert ein mechanistisches Verständnis personaler Interaktionen. Aber Geschäftspartnerschaften und Gläubiger-Schuldner-Verhältnisse sind mehr als bloße Punkte und Kuchendia20 Ein schönes Beispiel dafür, wie Beziehungen über die Verbindung unterschiedlicher Quellengattungen rekonstruiert werden müssen/können, findet sich bei CHRISTINE AKA: Bauern, Kirchen, Friedhöfe. Sachkultur und bäuerliches Selbstbewusstsein in der Wesermarsch vom 17. bis 19. Jahrhundert, Cloppenburg 2012, S. 196f., die ausgehend von den nachträglich in einer Dorfkirche in der Wesermarsch verewigten Stifternamen und unter Einbezug weiterer Quellen ein ganzes lokales Beziehungsgefüge aufschlüsseln konnte. Warum bestimmte Objekte überhaupt gestiftet wurden und welchen Sinn und Zweck die Donatoren damit verfolgten, erklärt sich erst in Rückkoppelung an die vor Ort bestehenden und konstitutiven personalen Verbindungen unter Familien und Individuen. 21 Ein gutes Beispiel hierfür ist der kürzlich erschienene Sammelband: Prekäre Ökonomien. Schulden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. GABRIELA SIGNORI, Konstanz/München 2014 (Spätmittelalterstudien 4), in dem sich gleich mehrere Beiträge mit sozialen Beziehungen befassen und damit belegen, dass die Hauptschwierigkeit weniger in den Quellen als vielmehr darin liegt, ob im Forschungsprozess überhaupt nach Beziehungen gefragt bzw. die Wahrnehmung dafür geschärft wird. 22 Nach MARIA GFELLER: Von Schulden und Verträgen. Das Zivilgericht in Worb 1700‒1846, in: Worber Geschichte, unter Mitarbeit von Ernst Aebi, Thomas Brodbeck, Marco Jorio, Peter Lüthi-Ott, Andrea Schüpbach und Daniel Weber, hg. v. HEINRICH RICHARD SCHMIDT, Bern 2005, S. 334‒347, S. 335, ging es vor dem Zivilgericht der Gemeinde Worb beinahe ausschließlich um Konflikte mit ökonomischem Hintergrund. Und obwohl die in Worb festgestellten Konfliktlagen (Verträge, Schulden/Konkurse, Erbsachen, Ehegerichtssachen/Bevogtungen, Nutzungsrechte) für lokales Wirtschaften exemplarischen Charakter haben, sollte nicht vergessen werden, dass in den gerichtlichen Auseinandersetzungen nur ein minimaler Bruchteil des alltäglichen Wirtschaftsgeschehens in den Blick kommt. Nicht jeder Konflikt führte zum Gerichtsfall, denn ökonomisch schlaues Verhalten gebot eben auch, mitunter Hand zu einem Kompromiss zu bieten, einen maximalen Gewinn fahren zu lassen, um im Gegenzug die Chance auf spätere Gegengeschäfte zu wahren. Verzicht und Nachsicht in der Gegenwart machten sich möglicherweise in der Zukunft bezahlt.
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gramme auf topographischen Karten, welche ‚Beziehungsnetze‘ abbilden sollen.23 Und nicht jede Klientelverbindung ist so asymmetrisch, wie das Begriffspaar ‚Patron/Klient‘ mit seinem hegemonial-sozialhierarchisch determinierten Unterton evozieren mag. So sinnierte etwa der Kölner Kaufmannspolitiker Hermann von Weinsberg (1518‒1597) über Sinn und Zweck einer Wahl in den Rat und meinte: „man ist auch beim bret und hat zu zeiten ein wort im fass und mach eim gutten frunde ein gut wort lenen. […] Nuhe, ich diene mir wol und bin doch nit nur vur mich, dan vur min vatterlant, min kirspel, dar ich geborn und min graff erwelt, und gutte nachpar und frunt disse welt mich geleint worden“. 24
Nicht primär Macht resultierte also aus einem hohen politischen Amt, sondern Verpflichtungen gegenüber vielfältigen Institutionen und Personengruppen. Dass hier von eindimensionalem Klientelismus keine Rede sein kann, untermauert auch Gerd Schwerhoffs Beobachtung, dass „das gemeinsame Essen und Trinken – in seiner Banalität leicht zu übersehen, aber in Weinsbergs Chronik von solcher Ubiquität“ sei, dass es kaum ein Thema gebe, „dem der Schreiber mehr Zeilen gewidmet hat“. Es müsse sich also um „um ein geselliges wie gesellschaftliches Tun“ gehandelt haben, „das fundamental zur Vernetzung der städtischen Gesellschaft“ 25 bzw. zur Stabilisierung wesenhaft labiler und flüchtiger Beziehungskonstellationen beitragen sollte. 26 23 Über den eminenten Stellenwert sozialer Beziehungen zur Absicherung von Handelskontakten kraft familiärer Verbindungen, Verwandtschaft, Patenschaften, Vormundschaften oder den Einbezug von Freunden der Familie zur Testamentvollstreckung besteht Einigkeit. ROLF HAMMEL-KIESOW: Die Hanse, unter Mitarbeit von Matthias Puhle und Siegfried Wittenburg (Fotos), Darmstadt 2009, S. 102, hat gezeigt, dass erweiterte Verkehrskreise und Kooperationen wie Mitgliedschaften in kaufmännischen Gilden oder Fahrtgemeinschaften sowie in Bruderschaften, in der Pfarrgemeinde sowie in Nachbarschaften die soziale Topographie bedeutender Individuen zusätzlich konturierten und bereicherten. Für Hammel-Kiesow konnten sich Beziehungen bei hohem Sozialstatus „über die Ratsmitgliedschaft eines Familienmitglieds bis in den Rat und darüber hinaus bis zu den Treffen der Ratssendeboten auf den Hansetagen bzw. bei diplomatischen Unternehmungen an Adels-, Fürsten- oder Königshöfen erweitern bzw. über Familienangehörige geistlichen Stands bis in die Domkapitel der Bischofssitze oder in Abteien und Klöster hinein. Alle diese Kontakte konnten wirtschaftlich genutzt werden, und es liegt auf der Hand, dass viele Kontakte viele Informationen bedeuteten und viele Informationen, wenn möglich ein Informationsvorsprung vor anderen, einen Vorteil beim Abschluss der Handelsgeschäfte darstellten.“ Damit ist viel über den potentiellen Wert, aber noch nichts über das jeweilige Wesen von Beziehungen gesagt. 24 Zit. nach: GERD SCHWERHOFF: Handlungswissen und Wissensräume in der Stadt. Das Beispiel des Kölner Ratsherren Hermann von Weinsberg (1518‒1597), in: Tradieren, Vermitteln, Anwenden. Zum Umgang mit Wissensbeständen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten, hg. v. JÖRG ROGGE, Berlin 2008 (Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften 6), S. 61‒102, hier S. 81. 25 SCHWERHOFF, Handlungswissen (wie Anm. 24), S. 88. 26 Zwei Kurzgeschichten aus dem 19. Jahrhundert stehen exemplarisch dafür, wie sich Literatur am Konnex von Ökonomie und sozialen Beziehungen abgearbeitet hat: GOTTFRIED KELLER: Die drei gerechten Kammacher. Novelle (Erstveröffentlichung 1856), Stuttgart 1998, und MARC TWAIN: Die Eine-Million-Pfund-Note und andere ausgewählte Erzählungen. Aus dem Englischen von Ana-Maria Brock und Otto Wilck (Erstveröffentlichung 1893), Zürich 2006.
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Integraler Bestandteil gesellig-gastlicher Praktiken war der stete Transfer materieller (Speisen, Getränke, Geschenke) und immaterieller (Ehrenbezeugungen, Statusbestätigung durch Sitzordnung) Güter. 27 Auf soziale Beziehungen bezogene Ressourcentransfers sind in der Frühen Neuzeit nicht nur in städtischen Kontexten auf Schritt und Tritt zu beobachten. Entsprechungen finden sich auch in ländlichen Milieus. 28 So berichtete Pfarrer Gottlieb Samuel Lauterburg um 1800 über die Lenk, ein Dorf im bernischen Obersimmental, man müsste den reichsten Eheleuten der Gemeinde „zu ihrem Ruhme nachsagen, dass sie ihr Gut nicht blos für sich besaßen. Sie dienten darmit, wo sie nur konnten“. 29 Andernorts beklagte sich eine Bäuerin, jeden Moment stehe jemand vor der Türe, dem sie Pate stehen müsse. 30 Derartige Äußerungen machen deutlich, dass in der Vormoderne ‒ einem minimalen gesellschaftlichen Konsens geschuldet ‒ mannigfaltige Transferbeziehungen gepflegt werden mussten. Besitz verpflichtete mindestens so weit, wie sich die Habenden öffentlicher Beobachtung nicht entziehen konnten. Solche Logiken sind heutigen kranken- und sozialversicherten HistorikerInnen, die regel-
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Beide Novellen thematisieren, wie sich zwischenmenschliche Verhältnisse im Licht ökonomischer Interessen, enttäuschter Erwartungen und generell der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen fundamental verändern können. Ein spannendes Untersuchungsfeld böte diesbezüglich auch die Märchenwelt. JANCKE, Gastfreundschaft (wie Anm. 4), S. 215–409. DANIEL SCHLÄPPI: Politische Riten, Ämterkauf und geschmierte Plebiszite. Ritualisierter Ressourcentransfer in der alten Eidgenossenschaft (17. und 18. Jahrhundert), in: State, Power and Violence. Rituals of Power and Consent, hg. v. MARGO KITTS et al., Wiesbaden 2010 (Ritual Dynamics and the Science of Ritual 3), S. 293–315. Zit. nach: GEORG L. C. SCHMIDT: Der Schweizer Bauer im Zeitalter des Frühkapitalismus. Die Wandlung der Schweizer Bauernwirtschaft im achtzehnten Jahrhundert und die Politik der Ökonomischen Patrioten, Bd. 2: Quellenmässige Darstellung, Bern 1932, S. 87. Bemerkenswert sind die Überlegungen der weiblichen Hauptfigur bei GOTTHELF, Knecht, Pächter (wie. Anm. 14), S. 781. Vreneli, die Ehefrau des anfänglich unglücklichen Knechts Uli, erbt als vermeintlich illegitimes Kind später das Vermögen von Hagelhans, des reichsten Bauern am Ort, der sich damit implizit und mit viel Verspätung zur Vaterschaft bekennt. Vreneli will aber unbedingt vor ihrem Gatten geheim halten, dass sie plötzlich eine reiche Erbin ist. Weil sie wegen des Geldes Ärger in und mit der Gemeinde befürchtet, erklärt sie Hagelhans, Uli und sie kämen „langsam vorwärts“ und „möchten das plötzlich Reichwerden nicht vertragen, könnten uns nicht darein finden“. Hagelhans solle sie nur allmählich vermögend werden lassen. Denn wären sie plötzlich reich, „wäre es [den Leuten] nicht recht. Lebten wir sparsam, würden sie schreien, ließen wir es rutschen, würden sie wieder schreien. Niemandem könnten wir es treffen, und vielleicht würden wir wirklich das Rechte auch nicht treffen. Sind wir in einigen Jahren in guten Stand gekommen, so lernen wir auch so nach und nach mit dem Gelde ohne Ängstlichkeit umgehen. Wenn dann später noch mehr dazukömmt [das Erbe von Hagelhans], ist der Sprung nicht so groß, die Leute gönnen es uns besser, und wir schicken uns besser dazu.“ SCHMIDT, Bauer (wie Anm. 29), S. 180. URS KÄLIN: Die Urner Magistratenfamilien. Herrschaft, ökonomische Lage und Lebensstil einer ländlichen Oberschicht, 1799–1850, Zürich 1991, S. 200f., weist nach, dass in Altdorf, dem Hauptort des Landes Uri, die erfolgreich in Politik und Soldgeschäften involvierten Honoratioren mehr als 50 Prozent aller Patenschaften übernahmen. Allein Johann Sebastian Jauch (1674–1731) hatte 87 Patenkinder.
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mäßig ein Gehalt überwiesen bekommen, offenkundig fremd und nachgerade suspekt. Dabei ist das Weltbild des saturierten Lohnempfängers eine noch junge Minderheitenperspektive des wohlstandsfixierten ausgehenden 20. Jahrhunderts in bestimmten Ländern und Weltregionen. Die in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen Überlebenden der Vormoderne und große Teile der derzeitigen Weltbevölkerung kannten und kennen keine soziale und materielle Sicherheit jenseits sozialer Beziehungen. 31 Um diesen Sachverhalt zu erklären, wird gerne ‚Reziprozität‘ als menschlichen Verhaltensweisen immanente Konstante bemüht. 32 Allerdings sollten intellektuelle Plausibilisierungen altruistischen Verhaltens nicht von idealisierenden Menschenbildern her argumentieren. Zielführender dürfte sein, über die in soziale Interaktionen eingebauten Logiken nachzudenken und deren Eigensinn zu dechiff31 Dabei ist eine Varietät von Beziehungsmodi in Anschlag zu bringen, die sich gegenseitig überlagern, durchdringen, neutralisieren oder dominieren können. Diesen Sachverhalt bringt CARLO LEVI: Christus kam nur bis Eboli (dt. Übers. von „Cristo si è fermato a Eboli“, 1945), München 2003, S. 95f., anhand des Motivs der ‚Blutsverwandtschaft‘ eindrücklich auf den Punkt. Als die von den italienischen Faschisten in eine unwirtliche, urtümliche Gegend mit archaischen Gesellschaftsstrukturen verbannte männliche Hauptfigur des Romans Besuch von seiner Schwester bekommt, verändert sich die Wahrnehmung des Fremden durch die ansässigen Bauern grundlegend: „Die Entdeckung, daß auch ich Blutsverwandte auf dieser Erde hatte, schien für sie in erfreulicher Weise eine Lücke auszufüllen. Mich mit meiner Schwester zusammen zu sehen, rührte an eines ihrer tiefsten Gefühle, das der Blutsgemeinschaft, das hier, wo es weder Staatsgefühl noch religiöses Empfinden gibt, um so stärker an deren Stelle tritt. Es handelt sich dabei nicht um die Einrichtung der Familie, dieses soziale, juristische und gefühlsmäßige Band, sondern um die geheiligte, geheime und magische Bedeutung der Gemeinschaft. Das ganze Land ist durch komplizierte Bande verknüpft, die nicht allein solche einer tatsächlichen Verwandtschaft (der ‚Bruder-Vetter‘ ist wirklich wie ein Bruder), sondern die symbolischen und erworbenen der Gevatterschaft sind. Der Sankt-JohannsBruder ist fast mehr als ein leiblicher Bruder; er gehört wirklich durch Wahl und rituelle Weihe zu der gleichen Blutsverwandtschaft: und innerhalb dieser ist einer dem anderen heilig; Heiraten sind unter den Mitgliedern unstatthaft, dieses brüderliche Band ist das stärkste unter den Menschen.“ Denkt man an die Bedeutung, welche Bruderschaften für die Frühe Neuzeit hatten, fallen hier doch Analogien auf. Wenn rein maskuline Verbindungen selbst verwandtschaftlichen Beziehungen übergeordnet werden, lässt dies auf Konzepte von Vergesellschaftung schließen, die ihren hegemonialen Primat daraus ziehen, dass sie sich als Trägersubstanz exklusiv männlicher Verkehrskreise und der damit verbundenen Formen der Geselligkeit bedienen. 32 Eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Thematik liefert STEGBAUER, Reziprozität (wie Anm. 16). Als heuristische Kategorie wird ‚Reziprozität‘ verwendet bei DANIEL SCHLÄPPI: Reziprozität und sanfte Regulierung. Legitimität und Funktionsweise politischer Herrschaft im Raum der alten Eidgenossenschaft, in: Politische Herrschaft jenseits des Staates. Zur Transformation von Legitimität in Geschichte und Gegenwart, hg. v. JOHN EMEKA AKUDE, ANNA DAUN, DAVID EGNER und DANIEL LAMBACH, Wiesbaden 2011, S. 209‒234, hier S. 220‒224. Mit Blick auf die in diesem Buch präsentierten theoretischen Überlegungen und empirischen Beispielen erscheint einseitig auf ‚Reziprozität‘ fokussierte Theoriebildung jedoch als zu eindimensional. Bei aller Variabilität und Vielschichtigkeit der bei Stegbauer nachzulesenden Überlegungen suggeriert das Reden von ‚Reziprozität‘ ein mechanistisches Verständnis von Gegenseitigkeit, das sich im Wissen um die hier grundlegende Erkenntnis der Fluidität und Interdependenz von Beziehungen letztlich nicht halten lässt.
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rieren. Geben und Nehmen sind nicht gottgegebene Handlungsweisen, sondern erlernte Kulturtechniken, die sich lokal und historisch unterschiedlich ausprägen und doch immer wieder auf Grundsätzliches zurückführen. Oder in den Worten des Primatologen Frans de Waal: „Wir vergelten empfangene Hilfe mit Hilfe und erlittenen Schaden mit Schaden und sorgen damit in Bezug auf die Menschen um uns herum für eine gewisse Ausgewogenheit der Pole Helfen und Schaden. Unnötiges Ungleichgewicht mögen wir nicht.“ 33
Diese Pauschalfeststellung leuchtet einerseits ein. Andererseits trägt sie wenig zur analytischen Durchdringung relationaler Ressourcentransfers bei, da hierfür unterschiedliche Beziehungsqualitäten veranschlagt werden müssen. Dazu nochmals de Waal: „In engen Beziehungen tut man sich fast unbewusst ständig einen Gefallen. Im Allgemeinen sind solche Beziehungen in hohem Maße reziprok, aber sie bieten auch Raum für ein vorübergehendes Ungleichgewicht und manchmal ein permanentes, beispielsweise wenn ein Freund oder ein Lebenspartner schwer erkrankt. Nur bei distanzierten Beziehungen werden Konten geführt. Ähnlich wie Schimpansen vergelten wir es einem Bekannten oder Kollegen, wenn er unerwartet freundlich zu uns war, aber nicht notwendigerweise unserem besten Kumpel. Auch die Hilfe des letzteren ist willkommen, aber Teil einer tiefer gehenden, flexibleren Beziehung“, 34
in einer Verbindung also mit längeren Rhythmen, deren Fortbestand nicht von der unmittelbaren Abfolge von Gabe und Gegengabe abhängt. Eine in diesem Sinn geschärfte Sicht auf Beziehungen verhilft zu einem differenzierteren Verständnis von Reziprozität, die plötzlich als Teil vernünftiger ökonomischer Strategien erscheint, wie aus Frans de Waals Verständnis von Verteilungskonflikten abgeleitet werden kann: „Das Problem dabei ist aber, dass Gewinnen und Verlieren nur die Hälfte der Geschichte ausmachen. Wenn das Leben davon abhängt, dass man zusammenarbeitet […], laufen die Streitlustigen Gefahr, etwas viel Wichtigeres zu verlieren als nur den anstehenden Sieg. Manchmal kann man einen Kampf nicht gewinnen, ohne einen Freund zu verlieren. Neue Theorien betonen Versöhnung, Kompromisse und die Notwendigkeit guter Beziehungen. Anders ausgedrückt: Dinge wieder ins Reine zu bringen ist keine Frage von Nettigkeit, sondern dient der Aufrechterhaltung von Kooperation.“ 35
Nachdem sich Generationen von Forschenden für sozialhierarchische Verwerfungen, Ausprägungen von Herrschaft, Patronage, Korruption, Widerstand, Konflikte und Staatsbildung interessiert haben, eröffnen Fragestellungen hinsichtlich Kooperation, Interaktion und sozialen Bindungen neue Perspektiven, zumal sich auch das Verständnis der Materialität von Objekten und der Wesensmerkmale von Ressourcen wandelt. 36
33 FRANS DE WAAL: Der Affe in uns. Warum wir sind, wie wir sind, München/Wien 2005, S. 274. 34 DE WAAL, Der Affe in uns (wie Anm. 33), S. 274. 35 DE WAAL, Der Affe in uns (wie Anm. 33), S. 211f. 36 Vgl. die Überlegungen in der Einleitung dieses Bandes.
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Dafür zeichnet nicht zuletzt die Erkenntnis verantwortlich, dass viele Güter den ihnen zugeschriebenen Wert bzw. ihr Vorhandensein allein situativen sozialen Interaktionen einerseits, bald volatilen und dann wieder persistenten sozialen Bindungen andererseits verdanken. Schon Giovanni Levi hat auf das „untrennbare Band zwischen dem Fluss materieller Güter und den sozialen Beziehungen“ hingewiesen. 37 Mit ihrer Leitidee der „Dinge im Schnittpunkt sozialer Beziehungsnetze“ hat Katharina Simon-Muscheid an ihn angeschlossen und den Konnex zwischen physischen Objekten und sozialen Beziehungen betont, indem sie zeigen konnte, dass die sachlich-dingliche Sphäre entscheidend in relationale Interaktionen hineinspielt. Wichtig dabei ist die Beobachtung der „Bedeutungsvielfalt von Objekten und ihre[r] Dynamik in den Beziehungsnetzen“, 38 wobei die Agierenden den „ökonomischen und ideellen Stellenwert“ der Objekte subjektiv einschätzten und ihre Handlungsweisen auf dieses Kalkül ausrichteten. Doch nicht nur dies: Ob in einer saturierten Zunftökonomie, im prekären Privathaushalt oder in einer Hauswirtschaft unter weiblicher Führung (durch Witwen), überall waren ökonomisch verwertbare Werte und Gegenstände für das alltägliche Über-die-RundenKommen der Menschen von entscheidender Bedeutung. Aus den Tausch- und Transferpraktiken unterschiedlicher Ressourcen kann auf eine Fülle vielfältiger Beziehungsmodi, deren generelle Instabilität und stetige Wandelbarkeit geschlossen werden. Besonders augenfällig werden die Verquickungen der Sach- und der Beziehungsebene in Vorgängen am Totenbett und den anschließenden Erbgängen. 39 37 LEVI, Das immaterielle Erbe (wie Anm. 14), S. 104. Levis Namensvetter und Onkel, Carlo LEVI, Christus kam nur bis Eboli (wie Anm. 31), S. 87, beschreibt, wie kompliziert das lebensweltliche Kalkül sein konnte, wenn relationale und rechnerische Größen verrechnet werden mußten. So fragten sich die faschistischen Dorfoberen des fernab des Weltgeschehens gelegenen Romanschauplatzes Gagliano (tatsächlich Aliano), ob die Post statt wie bisher mit Maultieren neuerdings mit dem einzigen am Ort befindlichen Auto abgeholt werden sollte. Davon hätten auch die Reisenden profitiert, die im entfernten Nachbarflecken mit dem Autobus ankommen oder abfahren mußten. Aber „da Zeit und Arbeit in dieser Gegend nicht zählen und nichts kosten, so ergab sich zwischen dem Maulesel und dem Auto ein kleiner Kostenunterschied, und außerdem tauchten wohl Schwierigkeiten wegen verwandtschaftlicher und freundschaftlicher Beziehungen auf. Das Problem wurde immer bis morgen vertagt, und bei meiner Abreise war es noch nicht gelöst.“ 38 KATHARINA SIMON-MUSCHEID: Die Dinge im Schnittpunkt sozialer Beziehungsnetze. Reden und Objekte im Alltag (Oberrhein, 14. bis 16. Jahrhundert), Göttingen 2004 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 193), S. 375. 39 SIMON-MUSCHEID, Dinge (wie Anm. 38), S. 79, 286, 298–300, 318, 320, 303. Welche Macht kurzzeitig von Objekten auf Beziehungen ausgehen kann, wird augenfällig, wenn sich kleine Kinder im Sandkasten um ein Eimerchen oder eine Schaufel streiten. Oberflächlich betrachtet wollen zwei oder mehrere Kinder das gleiche Spielzeug, zerren daran und schreien sich an. Tatsächlich aber stellen sie ihre Beziehung auf die Probe und verändern je nach innerer Dynamik des Streits auch ihre Relation zum Objekt und dessen Bedeutung, dann nämlich, wenn die Schaufel kurzerhand zur Waffe umfunktioniert wird. Interessant dabei, wie die umstrittenen Objekte sofort vergessen werden, wenn eine Auseinandersetzung mittels Ablenkung durch ein neues Objekt oder ein hinzukommendes Kind beendet wird. Bemerkenswert außerdem, dass knappe Ressourcen – wenig Spielzeug – paradoxerweise zu weniger Verteilkämp-
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Die Forschung kann Beziehungen nicht messen. 40 Sie sollte aber unbedingt versuchen, sie und die ihnen immanenten Logiken genau zu beschreiben und auf diesem Weg ihre Qualität und Tragfähigkeit zu ermitteln. Sinnvollerweise orientiert sich solche Reflektion an allgemein verständlichen Eigenschaften von Beziehungen (Nähe, Distanz, Dauerhaftigkeit, Verpflichtung, Schuld, Förderung, Schaden, Abhängigkeit, Loyalität, Treue, Vertrauen, Versorgung, Würdigung, Beratung, Loyalität, Förderung, Bürgschaft, Empfehlung, Anerkennung, Respekt, Verantwortung). In dieser Perspektive wird deutlich, dass an die Individuen gebundene Faktoren wie Stand, ökonomisches Potential, Zugang zu und Verfügungsrechte über spezifische Ressourcen, Verwandtschaft, Genossenschaft, rechtliche Privilegien, aber auch die soziale und naturräumliche Topographie stark in die jeweiligen Beziehungs- und Interaktionsgefüge hineinspielen, diese möglicherweise gar determinieren. Es ist deshalb sinnvoll, individuelle und kollektive Handlungsspielräume von Agierenden stets in Relation zu den äußeren rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten zu hinterfragen. 41 4 BEZIEHUNGSÖKONOMIE MANIFESTIERT SICH IN SPEZIFISCHEN HANDLUNGS- UND VERTEILUNGSLOGIKEN Wie allfällige Handlungsspielräume wahrgenommen, welche Strategien verfolgt und welche Entscheidungen getroffen wurden, kann als Ausdruck spezifischer Prioritätensetzungen und Mentalitäten gedeutet werden, die auf der Folie heutigen Wirtschaftsdenkens nicht a priori rational erscheinen, weil sie von einem vielschichtigeren Menschenbild ausgehen, als es ökonomische Theorien vielfach tun. Insofern steht vormodernes Wirtschaften quer zu reduktionistisch verstandenen Rational-Choice-Theoremen, welche für alle AkteurInnen als handlungsleitende fen führen. Kinder können ganz ohne Objekte eigentlich am besten spielen. Untereinander getroffene Vereinbarungen wie: „Ich wäre jetzt die Hexe und Du der Zauberer“ legen die Basis für einen vollkommen konfliktfreien Höllenritt auf imaginären Hexenbesen über den Spielplatz. An die Stelle der Okkupation tritt die Interaktion – das Sein ersetzt das Haben. Die Thematik des dialektischen Zusammenspiels von Beziehungen und Objekten wurde filmisch meisterhaft visualisiert im Spielfilm „The Gods Must Be Crazy“ (1980): Ein überaus friedliebender afrikanischer Eingeborenenstamm droht wegen Konflikten um eine von einem Piloten achtlos aus seinem Buschflugzeug geworfene Cola-Flasche in Agonie unterzugehen. Das Zusammenleben normalisiert sich erst, als die Eingeborenen das gläserne ‚Gottesgeschenk‘ mit viel rituellem Getöse aus ihrer Welt schaffen. 40 Vgl. STEGBAUER, Reziprozität (wie Anm. 16), S. 24f., 149, 152. 41 Vgl. DANIEL SCHLÄPPI: Mehrdimensionale Räume als heuristische Modelle zur Beschreibung und Analyse der Marktchancen von Kleinproduzenten in Geschichte und Gegenwart, in: Figurer l’espace en sciences sociales, Transeo 2, 3 (2010), S. 1–15 (URL: www.transeoreview.eu/Mehrdimensionale-Raume-als.html), der hierfür als analytischen Begriff ‚Aktionsräume‘ vorschlägt. ‒ LEVI, Das immaterielle Erbe (wie Anm. 14), S. 61, 86, macht deutlich, dass die individuellen Handlungsspielräume abnehmen, je tiefer jemand in der sozialen Hierarchie steht.
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Größe einen starken Willen zur kurzfristigen Nutzenoptimierung bzw. Gewinnmaximierung voraussetzen. 42 Wenn von ‚Handlungslogiken‘ die Rede ist, so meint dieser Begriff ökonomische Handlungsweisen, die für historische Gesellschaften charakteristisch waren, die sich aber nicht zwingend mit eigennützigen Privatkalkülen zu decken brauchten, die Individuen in der Tendenz aber trotzdem fallbedingt ähnliche Entscheidungen fällen ließen. Dahinter steht die Überlegung, dass gesellschaftliche Auffassungen und Standards viele Einzelne zu analogen Verhaltensweisen brachten. Voraussetzung dazu sind „Deutungs- und Handlungsmuster, die an der Ausgestaltung und Bewältigung des Alltags beteiligt sind“. 43 Zu deren Beschreibung kann die Forschung auf etablierten Konzepten aufbauen, die anhand unterschiedlicher Methoden und empirischer Daten entwickelt wurden und sich als erklärungsstarke Interpretamente bewährt haben. Im Zentrum stehen dabei drei Themenblöcke: 42 In lesenswerter und unterhaltsamer Weise hat EDWARD PALMER THOMPSON: Die „moralische Ökonomie“ der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: DERS.: Plebejische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, hg. v. DIETER GROH, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1980 (11971), S. 67–130, hier S. 68f., gegen den „krassen ökonomischen Reduktionismus“ der „Wachstumshistoriker“ polemisiert, denn sie löschen „die komplexen Zusammenhänge von Motiv, Verhalten und Funktion in einer Weise aus, die sie protestieren ließe, wenn sie bei einem marxistischen Kollegen darauf stießen. Die Schwäche, die diesen Erklärungen gemeinsam ist, ist eine verkürzte Sicht des wirtschaftenden Menschen. […] Wir wissen alles über das feine Gespinst von sozialen Normen und Reziprozitäten, die das Leben der Trobriand-Insulaner beherrschten, und über die psychischen Energien, die bei den Chargo-Kulturen der Melanesier eine Rolle spielten. Aber plötzlich, an irgendeinem Punkt der Entwicklung, wird dieses melanesische Individuum in unseren historischen Darstellungen der englische Bergmann des 18. Jahrhunderts, der sich mit seinen Händen ‚spasmodisch‘ auf den Bauch schlägt und auf elementare ökonomische Stimuli reagiert.“ Weniger polemisch, dafür aber unmissverständlich bringt TARDE, Psychologie économique (wie Anm. 10), S. 115f., die soziale Bedingtheit menschlichen Wirtschaftens auf den Punkt: „Als sie den homo aeconomicus [sic] konzipierten, nahmen die Ökonomen eine zweifache Abstraktion vor. Eine erste Abstraktion – und eine sehr missbräuchliche – besteht darin, einen Menschen ohne irgend etwas Menschliches im Herzen konzipiert zu haben, und eine weitere, sich dieses Individuum als losgelöst von jeder Gruppe, Körperschaft, Sekte, Partei, Assoziation vorgestellt zu haben“ (zit. nach: LATOUR/LÉPINAY, Ökonomie als Wissenschaft [wie Anm. 9], S. 39). 43 CLAUDIA ULBRICH: Shulamit und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, Wien/Köln/Weimar 1999 (Aschkenas, Beiheft 4), S. 158. Interessant in diesem Zusammenhang ist eine Episode, die TONY JUDT: Das Chalet der Erinnerungen, München 2012, S. 112, schildert und hinsichtlich der darin zum Ausdruck kommenden Wertehaltungen implizit in Verbindung zur hegemonialen ökonomischen Ideologie bringt. Es ging darum, ob die Aufwartefrauen, die in den Zimmern der Studenten in Cambridge aufräumten, über Regelverstöße bezüglich untersagten Damenbesuchs hinwegsehen sollten, was sie aber nicht taten. Während die Studenten „ungeachtet ihrer sorgfältig gepflegten linken Einstellung“ wie „moderne Ökonomen“ die Auffassung vertraten, dass die „menschlichen Beziehungen auf rational kalkuliertem Eigennutz gründen sollten“ und „sich weder um Gemeinwohl noch um Konventionen“ scherten, forderte eine der Bediensteten den ihr gebührenden Respekt ein. Für Judt mochte sie „eine einfache, ungebildete Frau sein, aber sie hatte instinktiv einen sehr genauen Begriff von den sozialen Verhältnissen, von den ungeschriebenen Gesetzen und Moralvorstellungen, auf denen eine Gesellschaft beruht.“
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1. Subsistenzwirtschaften – Ökonomie zwischen Reservebildung und Verknappung, 2. Condition humaine – Haushälterisches Wirtschaften im Licht individueller Sicherheitsbedürfnisse zum Zweck der Risikominimierung, 3. Moralgestützte Kategorien – Vertrauen, Nahrung, Hausnotdurft. Leider hat sich die Forschung bislang wenig darum bemüht, nach Synergiepotentialen dieser drei Theoreme zu fragen. Ausgehend von einem konkreten Forschungsbeispiel, bin ich vor einiger Zeit in einem Aufsatz der Frage nachgegangen, wie sich die genannten Modelle für die empirische Arbeit applizieren lassen, selbst wenn sie methodisch und terminologisch weit auseinander liegende Akzente setzen. 44 Aus der Synthese der unterschiedlichen Ansätze werden folgende Zusammenhänge deutlich: Vormodernes Wirtschaften hieß für die meisten Menschen, dass sie mit beschränkten, normalerweise nur mühsam oder auch gar nicht vermehrbaren Ressourcen über die Runden kommen mussten. Nur wenigen war es möglich, ausrei44 Vgl. DANIEL SCHLÄPPI: Marktakteure und -beziehungen ohne „Markt“? Frühneuzeitliches Handeln und Aushandeln im Licht ökonomischer Theorien, in: Regulierte Märkte: Zünfte und Kartelle ‒ Marchés régulés: Corporations et cartels, hg. v. MARGRIT MÜLLER, HEINRICH R. SCHMIDT und LAURENT TISSOT, Zürich 2011 (Schweizerische Gesellschaft für Wirtschaftsund Sozialgeschichte 26), S. 121–139. Dort findet sich auch die eingehende Auseinandersetzung mit den Kernargumenten der einschlägigen Theorien. Es ist hier nicht der Ort, um auf die einzelnen Argumente vertiefend einzugehen. Stattdessen sei ohne Anspruch auf Vollständigkeit auf einige Schlüsseltexte verwiesen: RENATE BLICKLE: Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns, in: Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, hg. v. GÜNTER BIRTSCH, Göttingen 1987, S. 42– 64; FRANK S. FANSELOW: The bazaar economy or how bizarre is the bazaar really?, in: Man 25 (1990), S. 250–265; DERS.: Bizarre economies, in: The Royal Geographical Society Magazine 64, 5 (1992), S. 16–19; DIETER GROH: Strategien, Zeit und Ressourcen. Risikominimierung, Unterproduktivität und Mußepräferenz – die zentralen Kategorien von Subsistenzökonomien, in: Ökonomie und Zeit, hg. v. EBERHARD K. SEIFERT, Frankfurt am Main 1988, S. 131–188; NIKLAS LUHMANN: Wirtschaft als soziales System, in: DERS.: Soziologische Aufklärung 1, 3. Aufl. (11970), Opladen 1972; DERS.: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1968; HANS MEDICK: Familienwirtschaft als Kategorie einer historisch-politischen Ökonomie. Die hausindustrielle Familienwirtschaft in der Übergangsphase zum Kapitalismus, in: Historische Familienforschung, hg. v. MICHAEL MITTERAUER und REINHARD SIEDER, Frankfurt am Main 1982, S. 271–299; ELINOR OSTROM: Die Verfassung der Allmende, jenseits von Staat und Markt. Übersetzt von Ekkehard Schöller, Tübingen 1999 (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 104) (zuerst engl.: Governing the Commons. The Evolution of Institutions for Collective Action, Cambridge 1990); WERNER SOMBART: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, 3 Bde., München etc. 1916; THOMPSON, Moralische Ökonomie (wie Anm. 42); ALEXANDER TSCHAJANOW: Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft. Versuch einer Theorie der Familienwirtschaft im Landbau, Berlin 1923; DERS.: Zur Frage einer Theorie der nichtkapitalistischen Wirtschaftssysteme, in: Vademecum zu einem russischen Klassiker der Agrarökonomie, hg. v. BERTRAM SCHEFOLD, Düsseldorf 1999, S. 140–177 (Erstdruck in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik 51/3, Tübingen 1924).
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chend Reserven für Investitionen zu bilden, die aus der Endlosspirale der Subsistenzökonomie hinausgeführt hätten. Kleine Überschüsse wurden lieber konsumiert oder zum Anlass für eine Reduktion der Arbeitsbelastung genommen, als zur Seite gelegt. Weil aber gleichzeitig die Bedrohung durch äußere Risiken (Krisen, Krankheiten, Kriege) erheblich war, suchten viele Menschen Zugang zu kollektiven Sicherungssystemen (Familie, Verwandtschaft, Korporation, Bürgerschaft, Nachbarschaft). Für eine „Gesellschaft auf der Suche nach Sicherheit“, so Giovanni Levi, war ökonomische Besserstellung „ein der Erweiterung und Betätigung der sozialen Beziehungen untergeordnetes Ziel“. Die „Suche nach Sicherheit in der Gruppensolidarität“ überwog „gegenüber den abenteuerlichen Formen individuellen Erfolgs“. 45 Dies erklärt einerseits, weshalb ständische Qualität im Sinne von Zugehörigkeit zu einem korporativen Privilegienverband für die mit einem Bürgerrecht oder anderen Nutzungsrechten ausgestatteten Individuen so attraktiv war. Andererseits wird aber auch deutlich, weshalb sich die Vorstellung vom ‚Haus‘ als allumfassender ökonomischer Basiseinheit in der Forschung so hartnäckig hat halten können. 46 In der Tat war grundsätzlich in einer solideren ökonomischen Position, wer an einer häuslichen Ökonomie partizipieren konnte. Haushaltungen bündelten Ressourcen (Gebäude, Land, Produktionsmittel, Werkzeug, Arbeitskräfte, Lebensmittelvorräte, Nahbeziehungen mit Aussicht auf Reziprozität, Kredibilität, Reputation etc.), 47 dienten als Umschlagplätze relationaler Ressourcen, boten die
45 LEVI, Das immaterielle Erbe (wie Anm. 14), S. 56, 104. 46 Kontrapunktisch dazu VALENTIN GROEBNER: Ökonomie ohne Haus. Zum Wirtschaften armer Leute in Nürnberg am Ende des 15. Jahrhunderts, Göttingen 1993, S. 20, der zu Recht gegen OTTO BRUNNER: Das „ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik“, in: DERS.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 31980, S. 103–127, antritt und kritisiert, es gebe in dessen Haus nur „kleine Hausväter oder deren Untergebene“, nämlich als Objekte einer herrschaftlichen Ökonomie. Es fehlten aber völlig „ökonomische Subjekte, die selbst eine eigene Ökonomie betreiben – eben eine solche ohne Haus“. Mit diesen befasst sich Groebner in seiner Arbeit eingehend. 47 Für CRAIG MULDREW: The Economy of Obligation. The culture of credit and social relations in early modern England, Basingstoke 1998, S. 149, waren Haushalte „the basic economic unit“, wobei der Ruf über die Kreditwürdigkeit der Angehörigen einer Reproduktionsgemeinschaft entschied. Wohlstand (wealth) war „an attribute of the household and family, and not simply of the husband or wife“ (S. 158). Dass auch im Verwandtschaftsverband bewirtschaftete Ressourcen als zum gleichen ‚Haushalt‘ gehörig angesehen werden konnten, dokumentiert ein Brief von Beat II Zurlauben (1597–1663) an seinen Bruder Heinrich I Zurlauben (1607–1650) datierend vom 7. November 1633, in: ACTA HELVETICA: Regesten und Register zu den Acta Helvetica, Gallica, Germanica, Hispanica, Sabaudica etc. necnon genealogica tremmatis Zurlaubiana, bearb. von Kurt-Werner Meier, Josef Schenker, Rainer Stöckli, hg. v. der Aargauischen Kantonsbibliothek, Aarau 1983ff., Bd. 5, Nr. 103. Der ältere der beiden Brüder zeigte sich in seiner Rolle des am Stammsitz in Zug weilenden Familienoberhauptes befremdet darüber, dass er die Beförderung des als Gardeoffizier in Paris tätigen Jüngeren zum „Gentilhomme ordinaire de la Chambre de Sa Majesté” von diesem nicht mitgeteilt bekommen hatte. Schließlich bedeutete die Erlangung einer derartigen Titulatur einen Prestige-
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Chance auf regelmäßige Erwerbsarbeit (im Gegensatz zur Gelegenheitsarbeit der Taglöhner) und versprachen den Menschen etwas mehr Krisensicherheit, als wenn sie als Individuen allein auf sich gestellt gewesen wären. Analoge Mechanismen wie bei Haushalten spielten im Fall von Korporationen (Gemeinden, Genossenschaften, Nachbarschaften, Zünfte etc.) eine Rolle, die neben materiellen Ressourcen wie Geld, Immobilien, Land auch Zugang zu immateriellen Gütern wie rechtlichen Privilegien, Wissen, Beziehungsnetzen etc. vermittelten. 48 Die durch Bevölkerungswachstum und die Verelendungsbedrohung breiter Schichten begründete Nachfrage nach kollektiv vermittelten Sicherheiten erklärt auch, weshalb sich korporative Institutionen vehement gegen jede Art von Zuziehenden abschlossen, etwa in Form restriktiver Bürgerrechtspolitik. Ebenso wie im individuell-häuslichen werden auch im korporativen Wirtschaften für die Frühe Neuzeit spezifische Logiken sichtbar, so etwa das Ziel einer nach Möglichkeit zu garantierenden Versorgung von in prekären Umständen lebender Angehöriger. Zeitgenössische Kategorien wie ‚Nahrung‘, ‚Hausnotdurft‘, ‚eigene Nothdurft‘ oder auch die von E. P. Thompson ermittelte ‚Moral Economy‘ unterlegen deutlich, dass vormoderne Gesellschaften bestimmte Auffassungen von gerechter bzw. anständiger (im Sinne von statusgerechter) Versorgung teilten. Charakteristisch waren schließlich generationsüberschreitende Handlungshorizonte, die als moralisch verwerflich deklarierten, die von den Ahnen zugunsten späterer Generationen angesparten Reserven zu verschleudern. Namentlich korporatives Wirtschaften charakterisierte sich durch einen haushälterischen Umgang mit den zur Verfügung stehenden Mitteln. Laufende Kosten wurden grundsätzlich aus den Erträgen gedeckt, denn die Kapitalsubstanz sollte nicht angegriffen werden. Spekulation war verpönt. gewinn für die ganze Familie. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Andreas Pečar in diesem Band. 48 Als ‚kollektive Ressourcen‘ können u. a. folgende Güter angesprochen werden: Korporative Privilegien, Formen materieller und politischer Partizipation, Rechtstitel und -status (Gemeinde als Rechtspersönlichkeit), Gesetze, Rechtsprechung, -swege und -ssicherheit, Bußen-, Gebühren-, Zins- und Erbwesen, Bodenmarkt, Notariat, Modi des Konfliktaustrags (Vermittlung, Schlichtung und Vergleich), öffentliche Sicherheit bzw. korporativ befriedete Räume, Konventionen, Wertehaltungen, Symbole und ihre Nutzung, kollektive Erinnerung, historische Narrative, Brauchtum, Zugang zu ständisch hermetisierten Räumen (faktisch galten namentlich in der halböffentlichen Sphäre subtile Abstufungen des Zugangs zu Räumlichkeiten, wobei soziale Beziehungen für den Einlass entscheidend sein konnten, denn irgendjemand musste ja die Türe aufschließen oder vorher den Ofen einheizen) und Märkten (im technischen Wortsinn), Soziabilität, Geselligkeit, Einbindung in soziale und rituelle Praktiken, Wissen über ökonomisches Geschehen und Ressourcenkreisläufe vor Ort, korporative Monopole auf ‚staatlichen‘ Regalien, Versorgungsansprüche, -instanzen und -logiken, Vormundschaftswesen, Kredibilität des Gemeinwesens und der Mitglieder, Ehre, Loyalität, Stand, Konfession und Seelsorge, Kirchenraum, Reliquien, Pfarrwahl, Bildungswesen. Die genannten Ressourcen waren Produkte kollektiver Verständigung über Grundsatzfragen des Zusammenlebens. Außerdem erforderte ihre Bereitstellung mitunter beträchtliche Investitionen aus dem Korporationsvermögen.
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5 PARADIGMEN UND BEGRIFFLICHKEITEN IN NEUEM LICHT Abschliessend ist anhand einiger Beispiele zu fragen, ob und wie die dargelegten Überlegungen den Umgang mit in der Geschichtswissenschaft etablierten Erklärungsansätzen und deren paradigmatischen Stellenwert beeinflussen könnten. a) Modernisierung und Innovation versus konservative Wirtschaftsformen: Dem beschriebenen Wissensstand zum Trotz stößt man auch heute noch auf Forschungsdesigns, die an traditionellen Konzepten festhalten, allen voran der ‚Modernisierung‘, verstanden als von mutigen und findigen Innovatoren top-down initiierter und durchgesetzter Makroprozess. Werden indes die Bedeutung von Beziehungen, die verbreiteten Handlungs- und Verteilungslogiken sowie die impliziten Schwierigkeiten der Ressourcenbewirtschaftung ins Kalkül einbezogen, entlarvt sich der von den sich apodiktisch auf Kategorien wie ‚Fortschritt‘ und ‚Wachstum‘ berufenden Vordenkern des 18. Jahrhunderts angestrebte Modernisierungsprozess realiter als unfreiwilliges Am-Ort-Treten, begleitet von wiederkehrenden Rückschritten. 49 Entscheidend dabei ist, dass nicht nur – wie meist behauptet – kurzsichtiger Eigennutz uneinsichtiger Bauern dafür verantwortlich war, sondern vielmehr die in enger Verbindung zu den Nutzungsweisen kollektiver Güter stehenden Beziehungskonstellationen. Ebenso wie die korporativen Besitzstrukturen konnten diese nicht über Nacht revolutioniert werden. 50 Die durch einen kulturgeschichtlichen Zugang in den Fokus genommenen Dimensionen erklären gut, weshalb der Wandel nicht wie geschmiert über die Bühne ging, obwohl alle ‚vernünftigen‘ Argumente dafür gesprochen hätten. 51 49 Stellvertretend für die breit aufgestellte Forschung zur Thematik der Allmendteilungen hier der Hinweis auf einige jüngere Arbeiten zu Schweizer Beispielen: PETER RÁSONYI: Promotoren und Prozesse institutionellen Wandels. Agrarreformen im Kanton Zürich im 18. Jahrhundert, Berlin 2000 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 60), S. 223–225; BARBARA SOMMER: Von großen Hoffnungen und bescheidenen Ergebnissen, zum Beispiel Bleienbach. Allmendepolitik Berns im ausgehenden 18. Jahrhundert, Lizentiatsarbeit, Bern 2006; REGULA WYSS: Reformprogramm und Politik. Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung von Reformideen der Oekonomischen Gesellschaft Bern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Manuskript Bern 2012, S. 104–121. 50 Vgl. dazu DANIEL SCHLÄPPI: Grenzen der Gleichheit. Wie und warum die helvetischen Regenten vor dem Gemeinbesitz von Korporationen kapitulierten, in: Grenzen des Grenzen des Zumutbaren. Erfahrungen mit der französischen Okkupation und der Helvetischen Republik (1798–1803), hg. v. ANDREAS WÜRGLER, Basel 2011, S. 46‒65. 51 Wenn ‚vernünftig‘ hier in Anführungen steht, soll damit markiert werden, dass sich die Plausibilität des heute als ‚Modernisierung‘ gedeuteten Prozesses erst in der Retrospektive und nach zwei Jahrhunderten im Zeichen ‚moderner‘ Wirtschaftstheorien ergibt. Für die Frühe Neuzeit sollten jedoch andersartige Rationalitäten veranschlagt werden, die einen Wandel in der von der Aufklärung proklamierten Form vorerst ausschlossen. Gleichzeitig haben Bauernschaften ihre rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen von sich aus andauernd verändert, wenn Bedarf bestand und mit den Umständen verträgliche Lösungen gefunden werden konnten, wie dies ANDREAS INEICHEN: Innovative Bauern. Einhegungen, Bewässerung und Waldteilungen im Kanton Luzern im 16. und 17. Jahrhundert, Luzern/Stuttgart 1996 (Luzerner Historische Veröffentlichungen 30), gezeigt hat. Der Redlichkeit halber sei hier bemerkt, dass sich auch das 21. Jahrhundert trotz vollkommen verändertem Status der Wis-
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Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass beziehungsbasierte Sicherungssysteme den beteiligen Individuen konservative Strategien auferlegten. Das heißt nicht, dass Veränderungen ausgeschlossen waren. Allerdings wurden Innovationen nur dann umgesetzt, wenn ihr Nutzen garantiert war. Nach verbesserter Sicherheit strebende Lokalgesellschaften standen Experimenten kritisch gegenüber. Die Erhaltung von Werten und das Bestreben, Ressourcen vor dem Zerfall zu bewahren, genossen höheren Stellenwert als eine über aufwändige Investitionen zu steigernde Produktivität. In derartigen Verhaltensweisen manifestierten sich der Eigensinn und reziproke Logik vormodernen Wirtschaftens gleichermaßen. Für die historischen Subjekte fanden die Hungersnot, die Teuerung im eigenen Dorf oder der eigenen Stadt statt und nicht auf einem fremden, weit entfernten Kontinent. Man wusste, wer mit preistreibender Spekulation von der Not der Massen profitierte. Das Verdingkind arbeitete im eigenen Haushalt oder beim Nachbarn und nicht anonym in einer Kleiderfabrik in China, der Arme saß im „Umgang“ immer mal wieder am Küchentisch. Wer schlechte Produkte verkaufte, musste damit rechnen, der verärgerten Kundschaft von Angesicht zu Angesicht zu begegnen – spätestens beim sonntäglichen Kirchgang. b) Ritualhandeln mit materialistischem Kern: In vielen Symbolhandlungen und Ritualen ‒ beides klassische Forschungsgegenstände der Kulturgeschichte – schwang eine prosaische, dinglich-sachliche Note mit. So war namentlich affirmatives Gemeinschaftshandeln oftmals mit vertikalem Transfer materieller Ressourcen verbunden. 52 Dass sich ökonomische Praktiken in rituellen Handlungen einnisteten und diese möglicherweise sogar vorrangig der Verschleierung profaner materieller Interessen dienten, ist anzunehmen. Genau deshalb sollte hinterfragt werden, wie und zu welchem Tarif vordergründig durch Rituale generierte Symbolgüter wie Ehre, Loyalität oder Zustimmung zu herrschaftlichen Strukturen von einfachen Leuten mit anderen Werten verrechnet werden. Wenn es gelingt, die ökonomischen Anteile symbolischer Praktiken aufzuzeigen, wird deren ‚Eigensinn‘ besser verständlich. c) Märkte als Kulturereignisse und relationale Logiken der Preisbildung: Die Frühneuzeitforschung denkt schon länger über die Brauchbarkeit analytischer Kategorien wie ‚Markt‘ und ‚Preisbildung‘ nach. Die Rede ist von durch eine Vielzahl von InteressentInnen und AkteurInnen definierten ‚Märkten‘ und von ‚Marktbeziehungen‘. Josef Ehmer und Reinhold Reith haben in Anlehnung an Craig Muldrew festgehalten, die „Dichotomie zwischen ‚traditionellen‘ Gesellschaften und ‚Marktgesellschaften‘“ sei irreführend. Vielmehr brauche es eine „Kulturanthropologie der Tauschbeziehungen“, die Einblick in eine Epoche gebe,
senschaft (Stichwort: Wissensgesellschaft) mit ‚vernünftigen‘ Lösungen schwer tut. So können auch heutzutage ganz viele dringend nötige Veränderungen nicht an die Hand genommen werden, weil sie nicht in den maßgebenden Rationalitätsrahmen passen. 52 JANCKE, Gastfreundschaft (wie Anm. 4), S. 317–409; SCHLÄPPI, Politische Riten (wie Anm. 18).
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in der „eine Transformation des, nicht eine Transformation zu einem marktorientierten ökonomischen Verhalten stattfand“. 53 Sicher waren Märkte primär Orte des physischen Warentausches. Sie gaben aber auch Gelegenheit, andere Menschen zu treffen und insofern gerade für periphere Gebiete – natürlich aber auch in den urbanen Zentren, die sich vielfach gar erst wegen ursprünglich verliehener Marktrechte zu Ballungsgebieten herausbildeten – auch kulturelle Ereignisse, die soziales Geschehen produzierten und operational einrahmten. 54 Die relationale Dimension des Wirtschaftens ist jedoch selbst bei Märkten erkennbar, die nicht physisch ‚stattfanden‘, von den AkteurInnen keine Anwesenheit verlangten und von denen man annehmen würde, dass sie aufgrund der Seltenheit und Kostspieligkeit und des formalisierten Ablaufs der Transaktionen Preisbildung unter Laborbedingungen erlaubt hätten ‒ nämlich als Abbild der Spannung zwischen Angebot und Nachfrage. Wie bereits gezeigt, ermittelten sich selbst die Preise harter Größen wie Grundstücke, Liegenschaften bzw. Boden- und Kapitalpreise unter dem Einfluss von Beziehungsgrößen. d) Distinktion und Konsum beruhen auf milieuspezifisch-relationalen Bewertungsmodi: Dass Wertzuschreibungen auf dem Boden sozialer Verbindungen vorgenommen werden, verdeutlicht sich in Praktiken sozialer Distinktion, die namentlich in der Elitenforschung der letzten Jahrzehnte breiten Raum eingenommen haben. 55 Soziale Distinktion über Konsumgüter höherer Ordnung läuft letztlich darauf hinaus, dass alle Angehörigen eines konkret umrissenen Personengefüges – einer lokalen Oberschicht eben – den gleichen materiellen Gütern höchsten Wert zuschreiben. Der Begriff der ‚Distinktion‘ ist insofern ambivalent, als sich die bezweckte ‚Unterscheidung‘ innerhalb der Gruppe paradoxerweise so manifestiert, dass im fraglichen Referenzrahmen alle das Gleiche besitzen wollen, dieses sich aber nur wenige leisten können. Diese innere Logik von Distinktion illustriert idealtypisch eine wunderbare Passage aus dem Roman Liebe in Zeiten der Cholera von Gabriel García Márquez. Fermina Daza, die materiell privilegierte weibliche Hauptfigur des Romans, bereist mit ihrem wohlhabenden Ehemann die Welt und kauft unterwegs manisch ein: „Mit einem halben Dutzend sargähnlichen Schrankkoffern, riesig, aus Messing kehrte Fermina Daza jedesmal heim, Herrin und Gebieterin über die letzten Weltwunder, die jedoch ihren Preis in Gold nur in dem flüchtigen Augenblick wert waren, da sie jemand aus ihrer Welt hier
53 EHMER/REITH, Märkte (wie Anm. 13), S. 15. 54 Vgl. MICHAELA FENSKE: Marktkultur in der Frühen Neuzeit. Wirtschaft, Markt und Unterhaltung auf einem städtischen Jahr- und Viehmarkt, Köln 2006. 55 Zu globalisierten Konsumgewohnheiten zwecks provinzieller Distinktion vgl. zuletzt FRANK SCHMEKEL: „Glocal Stuff“ – Trade and Consumption of an East Frisian Rural Elite (18th Century), in: Preindustrial Commercial History. Flows and Contacts between Cities in Scandinavia and North Western Europe, hg. v. MARKUS A. DENZEL und CHRISTINA DALHEDE, Stuttgart 2014, S. 251–268.
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Daniel Schläppi zum ersten Mal sah. Denn dafür waren sie gekauft worden: damit die anderen sie ein einziges Mal sähen.“ 56
Márquez dechiffriert gehobene Konsumgewohnheiten hier als Peergroup-Geschehen und nimmt damit vorweg, was Facebook und generell soziale Medien im 21. Jahrhundert in abstracto über das Zählen von Mausklicks bzw. ‚Likes‘, Empfehlungen und Bewertungen für die grosse Masse potentieller Konsumenten zu substituieren versuchen. Hinsichtlich der ihnen immanenten Logik sind diese digitalen Werkzeuge gar nicht so neu, übernehmen sie letztlich doch bloß die Funktion der ‚Konversation‘, welche in der Einschätzung Gabriel Tardes „den Ökonomen ganz besonders interessiert“ oder dies zumindest tun sollte. Für Tarde gibt es „keine ökonomische Beziehung zwischen Menschen, die nicht zunächst begleitet wäre von Worten, gesprochenen Worten oder geschriebenen, gedruckten, telegrafierten, telefonierten. […] Meist wiederum nur dank Konversationen, die die Idee eines neuen zu kaufenden oder zu produzierenden Produkts von einem Gesprächsteilnehmer zu einem anderen verbreitet haben und mit dieser Idee das Vertrauen in die Qualitäten dieses Produkts oder seinen baldigen Absatz, schließlich den Wunsch, es zu konsumieren oder zu fabrizieren. Würde das Publikum 56 GABRIEL GARCÍA MÁRQUEZ: Die Liebe in Zeiten der Cholera. Roman aus dem kolumbianischen Spanisch übersetzt von Dagmar Ploetz, Köln 1987, S. 440f. Materialitäten bzw. die Materialisierung sozialer Beziehungen erfreuen sich aktuell erheblichen Interesses in der Wissenschaftsgemeinde. Die Rede ist etwa von der ‚Agency der Dinge‘, oder Objekte werden als ‚Aktanten‘ bezeichnet. In der Logik dieses Bandes aktualisieren sich materielle und immaterielle Ressourcen jedoch nur unter dem Zutun von Menschen. Márquez ironisiert den kindlichen Glauben an eine magische Beseeltheit der Dinge zum Schluss der Passagen über die Sammelwut Fermina Dazas. In den Augen der ihrer Objektobsession hilflos ausgelieferten Hausherrin entzogen sich die in ihrem Besitz befindlichen Gegenstände nämlich humaner Kontrolle. Die stumme, statische Welt der Objekte mutierte kraft autokinetischer Energien in eine entfesselte, unkontrollierbare Materialität, welche die Herrschaft über Raum und Zeit zu übernehmen drohte. Márquez entlarvt die Objektangst Fermina Dazas als pure Einbildung und führt den Sachverhalt auf seine eigentliche, subjektbedingte Ursache zurück: Wenn in den Wohngemächern die Dinge überhandnahmen, wechselten sie urplötzlich den Standort und wanderten „von ihren privilegierten Plätzen […] in die ehemaligen Pferdeställe, die sich in Restelager verwandelten, während sich der befreite Raum, ganz wie Juvenal Urbino [Fermina Dazas vernunftaffiner Gatte] vorausgesagt hatte, wieder zu füllen begann, bald drängten sich dort die Gegenstände, die einen Augenblick lang lebten, um dann in den Schränken zu sterben […]. Sie [Fermina Daza] sagte: ‚Es müßte etwas für die Sachen erfunden werden, die zu nichts zu gebrauchen sind, die man aber auch nicht wegwerfen kann.‘ So war es: Die Gier, mit der sich die Dinge in die Lebensräume fraßen, die Menschen zurückdrängten und einkesselten, beängstigte Fermina Daza solange, bis sie alles irgendwohin gepackt hatte, wo es nicht zu sehen war. Denn sie war nicht so ordentlich, wie man glaubte, sie hatte nur ihre eigene verzweifelte Methode, so zu scheinen: Sie versteckte die Unordnung“ (ebd. S. 441). Im gleichen Zusammenhang unbedingt sehenswert auch der Dokumentarfilm von ULRICH GROSSENBACHER: Messies. Ein schönes Chaos (2012). Dass Dinge Bedeutung und Wert überhaupt erst aus ihrer Relation zu den sie erstrebenden oder besitzenden Menschen entfalten, verdeutlicht die Erfahrung von LUKAS BÄRFUSS: Koala, Göttingen 2014, S. 20f., beim Verteilen der Habseligkeiten seines durch Selbstmord aus dem Leben geschiedenen Bruders: Alles „wurde über die Stadt und das Land verstreut […]. Die Dinge, so schien mir, die sich im Leben an die Person binden, um die man sich bemüht, damit sie nicht verloren gehen, mit denen wir uns umgeben und an denen uns die anderen erkennen, lösen sich nach dem Tod von den Menschen“.
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niemals plaudern, so wäre die Auslage der Waren fast stets verlorene Mühe und die hundert Millionen Trompeten der Reklame würden vergeblich erschallen. Wenn in Paris nur für acht Tage die Konversationen verstummten, so würde man bald die eigenartige Verringerung der Anzahl der Käufe in den Läden bemerken. Es gibt demnach keinen mächtigeren, wenn auch indirekten Produktionsfaktor als das Geplauder der Individuen in ihren Mußestunden.“ 57
e) Wirtschaften als Ensemble wissens- und beziehungsbasierter Strategien: Auf den Märkten für Güter des Grundbedarfs (Nahrungsmittel) bestimmte das Spiel von Angebot und Nachfrage flankiert von spekulativen und betrügerischen Geschäftspraktiken die Preise. Obrigkeitliche Politik war um den Ausgleich zwischen den Interessen der Produzierenden und denjenigen der Konsumierenden bestrebt. 58 Bei anderen Gütern hing die Preisbildung jedoch bloß sekundär von Marktkräften ab. Als entscheidender erwiesen sich individuelle Wertzuschreibungen, die je nach sozialer Lage, Kaufkraft und konkreten Lebensumständen erheblich variieren konnten. Ein zentrales Kriterium individueller Preisbildung stellte der Wiederverkaufswert einer Sache dar, wie die florierenden Gebrauchtwarenmärkte der Vormoderne vermuten lassen. 59 Zweites Hauptkriterium war die Unentbehrlichkeit eines Gegenstandes, die darüber entschied, ob ein Stück in der Not ins Pfandhaus wanderte oder nicht. 60 Im Feld dazwischen wurde geborgt, gefeilscht, gewuchert, angeschrieben, ausgeholfen, verpachtet und – vielleicht seltener – geschenkt. 57 TARDE, Psychologie économique (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 195, zit. nach: LATOUR/LÉPINAY, Ökonomie als Wissenschaft (wie Anm. 9), S. 70f. Für den hier angesprochenen Sachverhalt mitverantwortlich ist nach Tarde die in jedem Akt des Kaufens und Verkaufens anklingende relationale Dimension jeder sozialen Existenz: „Niemals, in keiner Epoche der Geschichte, haben sich ein Produzent und ein Konsument, ein Verkäufer und ein Käufer gegenübergestanden, ohne dass sie erstens durch irgendeine ganz sentimentale Beziehung miteinander verbunden waren, sei es Nachbarschaft, Mitbürgerschaft, religiöse Vereinigung, Kulturgemeinschaft, ohne dass jeder von ihnen zweitens von einem unsichtbaren Gefolge von Assoziierten, Freunden, Mitgläubigen eskortiert wurde, deren Denken während der Diskussion über Preis und Lohn an ihnen zerrte und oft zum Nachteil ihres strikt individuellen Interesses den Ausschlag gab“ (TARDE, Psychologie économique [wie Anm. 10], Bd. 1, S. 115f., zit. nach: LATOUR/LÉPINAY, Ökonomie als Wissenschaft [wie Anm. 9], S. 39f.). 58 Vgl. DANIEL SCHLÄPPI: Der Lauf der Geschichte der Zunftgesellschaft zu Metzgern seit der Gründung, in: Der volle Zunftbecher. Menschen, Bräuche und Geschichten aus der Zunftgesellschaft zu Metzgern, hg. v. der Zunftgesellschaft zu Metzgern Bern, Bern 2006, S. 15–199, 302–304, hier S. 60f., 167; DERS.: Lebhafter Einzelhandel mit vielen Beteiligten. Empirische Beobachtungen und methodische Überlegungen zur bernischen Ökonomie am Beispiel des Fleischmarkts im 17. und 18. Jahrhundert, in: Einzelhandel, kulturhistorisch. Traverse, Zeitschrift für Geschichte 3 (2005), S. 40−53, hier S. 48‒50; GROEBNER, Ökonomie ohne Haus (wie Anm. 46), S. 111f. 59 Vgl. LAURENCE FONTAINE: Die Zirkulation des Gebrauchten im vorindustriellen Europa, in: Märkte, hg. v. EHMER und REITH (wie Anm. 13), S. 83‒96, die feststellt, dass „die Leute Handel trieben, dass sie Dinge wieder verkauften, benutzten, und dabei sehr viel mehr als heute an ihren möglichen Wiederverkaufswert dachten: Sie hatten eine Kultur, die der Lohnempfängergesellschaft der entwickelten Länder des 21. Jahrhunderts verloren gegangen ist“ (ebd. S. 94). 60 Zur Frage variierender Wertzuschreibungen vgl. auch GROEBNER, Ökonomie ohne Haus (wie Anm. 46), S. 261.
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Alle diese Praktiken verweisen auf die Kreativität in ökonomischen Belangen, die Menschen in prekären Verhältnissen an den Tag legen mussten. Zu wissen, wie man gute Beziehungen statt mit finanziellen Investitionen mit Loyalität pflegen konnte, um sie bei Bedarf aktivieren und spielen lassen zu können, gehörte mit Sicherheit zu den erfolgversprechendsten Überlebenstechniken. Die von Bekannten erfragten Informationen, wo man einen kleinen Verdienst oder eine gut bezahlte Arbeit finden konnte, wie man zu Unterstützung durch karitative Institutionen, seine Korporation oder die Verwandten kam, waren unbezahlbar. 61 Eine Bezahlung wurde aber auch nicht erwartet, denn die Information kostete den Informanten nichts. Dafür hatte er vom Informierten einen Hinweis gut. Und wenn er das nächste Mal selber dringend auf einen Erwerb angewiesen war, konnte er sein Wissen ja auch für sich behalten. Ähnlich verhielt es sich mit dem Wissen darum, wo Güter jenseits der obrigkeitlich erlaubten Märkte zu günstigen Preisen gehandelt oder getauscht wurden. 62 Und damit kommt eine – in modernen Kategorien gedacht – halblegale ‚Schattenökonomie‘ ins Spiel und mit ihr eine besondere Beziehungsqualität. Fallweise kriminalisiert, lebten der Schleichhandel und der omnipräsente graue Markt geradezu von Komplizenschaft, Vertrauen und Verschwiegenheit, wobei diese vormoderne ‚Omertà‘ nichts anderes darstellt als ein strategisches Pendant, das lautlose Parallelphänomen zu gruppengerahmtem Gerede und damit nochmals belegt, dass zu den Kernkompetenzen beziehungsbasierten Wirtschaftens gehörte, Informationen kontrolliert im gewünschten Kreis kursieren und Kommunikation auf einen bestimmten Zirkel beschränken zu können. 63 Allen interaktiven und inklusiven Implikationen der hier beschriebenen ökonomischen Praktiken zum Trotz gehört natürlich auch der vorsätzliche Ausschluss von Beziehungen zu den wesenhaften Charakteristika der Ökonomie sozialer Beziehungen. 61 Als der aus der Stadt stammende Hauptprotagonist bei LEVI, Christus kam nur bis Eboli (wie Anm. 31), S. 113, in ein eigenes Haus einzog, sah er sich mit dem Problem konfrontiert, dass es vor Ort bloß eine rudimentäre Nahrungsmittelversorgung durch direkt vermarktende Bauern und keinen regelmäßigen Markt für Konsumgüter gab. Zur Deckung des täglichen Bedarfs bedurfte es Beziehungen und des aus diesen fließenden Wissens, das nur über eine Haushälterin zu beschaffen war, die „das Nötigste“ beschaffen konnte und wusste, „wo Holz und Kohle zu finden waren und wo man sich ein Fass für Wasser ausleihen konnte, bis zur Ankunft des fliegenden Händlers, der welche verkaufte. Julia [die Haushälterin] kannte alle und wusste alles: die Häuser von Gagliano hatten keine Geheimnisse für sie“. 62 Vgl. LAURENCE FONTAINE: L’économie morale. Pauvreté, crédit et confiance dans l’Europe préindustrielle, Paris 2008. 63 Obwohl der Nachweis dafür schwierig zu erbringen ist, geht der Dialektologe OTTO VON GREYERZ: Das Berner Mattenenglisch und sein Ausläufer. Die Berner Bubensprache, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 29 (1929), S. 217–255, hier S. 217, 222, 229, 248, davon aus, dass besagtes „Mattenenglisch“ als in einem Berner Unterschichtenquartier bis ins 20. Jahrhundert verwendeter Soziolekt seinen Ursprung im sog. „Rotwelsch“, einer zu Geheimhaltungs- und Konspirationszwecken erfundenen und gesprochenen Gaunersprache, habe. Zum Schleich- und Grauhandel sowie allgemein Vollzugsproblemen bei der Durchsetzung marktpolitischer Maßnahmen vgl. SCHLÄPPI, Zunftgesellschaft zu Metzgern (wie Anm. 58), S. 65–83, 168–175.
RESSOURCEN, MÄRKTE UND DIE ÖKONOMIE SOZIALER BEZIEHUNGEN Christof Jeggle 1 EINLEITUNG: DIMENSIONEN VON ÖKONOMIEN SOZIALER BEZIEHUNGEN Der von Otto Brunner in seinem Beitrag Das „Ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik“ konstatierte Gegensatz von häuslicher Ökonomie und marktwirtschaftlicher Verkehrswirtschaft ist inzwischen von Forschungspositionen abgelöst worden, die von einer Einbindung häuslicher Ökonomien in vielfältige soziale Beziehungen ausgehen und holistische Vorstellungen des Hauses mit Ansätzen vom Haus im Kontext ablösen. 1 Wie in anderen Bereichen der historischen Forschung werden holistische Entitäten zugunsten pragmatisch-konstruktivistisch basierter Figurationen sozialer Interaktion aufgelöst. 2 Ein weiterer Ansatz in diese Richtung ist der einer Ökonomie sozialer Beziehungen. 3 Dieser richtet sich auf den Transfer von Ressourcen innerhalb stabilisierter bzw. ritualisierter sozialer Beziehungen. Der Nutzen dieser Beziehungen folgt nicht kurzfristigen Kalkülen von Interaktionen des Tausches, sondern ist in die Logiken der gegenseitigen Verpflichtung in sozialen Beziehungen als Element der ihnen zugrundeliegenden Interaktionen integriert. 4 Als Rahmen werden Haushalte gesehen und die Bedeutung von sozialen Nahbeziehungen wie Freundschaft, Feindschaft, Verwandtschaft, 1
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OTTO BRUNNER: Das „Ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik“, in: DERS.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 1956, S. 103–127; JOACHIM EIBACH: Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 38, 4 (2011), S. 621–664. Vgl. dazu allgemein GADI ALGAZI: Kulturkult und die Rekonstruktion von Handlungsrepertoires, in: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 11, 1 (2000), S. 105–119; zum Haus EIBACH, Das offene Haus (wie Anm. 1). GABRIELE JANCKE/DANIEL SCHLÄPPI: Ökonomie sozialer Beziehungen. Wie Gruppen in frühneuzeitlichen Gesellschaften Ressourcen bewirtschafteten, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 22 (2011), Heft 1: „Mitgift“, hg. v. KARIN GOTTSCHALK und MARGARETH LANZINGER, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 85‒97. JANCKE/SCHLÄPPI, Ökonomie sozialer Beziehungen (wie Anm. 3), S. 88, negieren die Vorstellung einer klaren Rechenschaft über den Stand einer bestimmten Beziehung. Das kann für die Mehrheit sozialer Beziehungen durchaus zutreffen, wäre aber zu belegen, denn zumindest in den diplomatischen Beziehungen von Adel und Kommunen wurde durchaus genau über den Stand des Ressourcentausches Buch gehalten, vgl. Materielle Grundlagen der Diplomatie. Schenken, Sammeln und Verhandeln in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. MARK HÄBERLEIN und CHRISTOF JEGGLE, Konstanz 2013 (Irseer Schriften 9).
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Nachbarschaft sowie gastliche Situationen als Grundlage frühneuzeitlicher Ökonomien betont, ebenso Eheschließungen als Anlass vielfältiger Ressourcentransfers. Als Ressourcen werden dabei Kredite, Bürgschaften, Protektion, Loyalität, Privilegien, Förderung, Unterstützung, Beratung, Anerkennung, Empfehlung, Respekt, Würde, erleichterter Zugang zu Märkten sowie zu speziellen Gütern wie Konsum- und Luxuswaren und zu hermetischen Sozialräumen genannt. Neben ritualisierten Formen sozialer Interaktion ist auf die grundlegende Bedeutung des Zivilrechts als handlungsleitender Faktor zu verweisen, das in Anbetracht des großen Konfliktpotentials der Ökonomien sozialer Beziehungen einerseits mitprägend für die ökonomischen Praktiken war und im Fall von Konflikten die rechtliche Grundlage zahlreicher Gerichtsverfahren bildete, die sich letztendlich mit der Frage legitimer Verfügungsgewalt über umstrittene Ressourcen befassen mussten. Damit wird zugleich deutlich, dass die potentiell einvernehmlichen Ökonomien sozialer Beziehungen ein hohes Konfliktpotential aufwiesen und in einem gewissen Maß auch von rechtlichen Normsetzungen mitgeprägt wurden, also nicht grundsätzlich situativ-spontanen Logiken folgten. 5 Dieser Ansatz der Ökonomie sozialer Beziehungen ist der durch die Neue Institutionenökonomie geprägten Sichtweisen fast diametral entgegengesetzt, denn die Neue Institutionenökonomie interessiert sich zwar im Gegensatz zu neoklassischen Wirtschaftstheorien für die dem Wirtschaften zugrundeliegenden sozialen Beziehungen, sieht diese jedoch in erster Linie unter dem Gesichtspunkt möglicher Transaktionskosten. Durch die Prämisse von nutzenmaximierenden Akteuren, die dazu tendieren, eigennützig zu handeln und nur durch regulierende Institutionen im Sinne eines Interessenausgleichs gesteuert werden können, wird die Option moralisch motivierten Handelns zum Kostenfaktor oder gar zum Risiko irrationalen und ineffizienten Handelns. 6 Inzwischen wird auch von kritischen Ökonomen geltend gemacht, dass wirtschaftliches Handeln zugleich auch als moralisch motiviertes Handeln betrachtet werden sollte. 7 Insofern bietet der Ansatz einer Ökonomie sozialer Beziehungen eine interessante Neufassung der schon von Edward P. Thompson geltend gemachten moral economy. Etwas überraschend ist die Argumentation hinsichtlich der Forschungsperspektiven für Ökonomien frühneuzeitlicher Gesellschaften, die sich nicht auf 5
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Vgl. z. B. KARIN GOTTSCHALK: Eigentum, Geschlecht, Gerechtigkeit. Haushalten und Erben im frühneuzeitlichen Leipzig, Frankfurt am Main/New York 2003 (Geschichte und Geschlechter 41); Eigentumskulturen und Geschlecht in der Frühen Neuzeit, hg. v. NICOLE GROCHOWINA und HENDRIKJE CARIUS, in: Comparativ 15, 4 (2005), S. 7–108; MARGARETH LANZINGER/GUNDA BARTH-SCALMANI/ELLINOR FORSTER/GERTRUDE LANGER-OSTRAWSKY: Aushandeln von Ehe. Heiratsverträge der Neuzeit im europäischen Vergleich, Köln/Weimar/Wien 2010 (L’Homme Archiv 3); CHRISTINE SCHEDENSACK: Nachbarn in Konflikt. Zur Entstehung und Beilegung von Rechtsstreitigkeiten um Haus und Hof im frühneuzeitlichen Münster, Münster 2007 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster N. F. 24). Vgl. z. B. SHEILAGH OGILVIE: A Bitter Living. Women, Markets, and Social Capital in Early Modern Germany, Oxford 2003. GEOFFREY M. HODGSON: From Pleasure Machines to Moral Communities. An Evolutionary Economics without Homo Economicus, Chicago 2013.
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Märkte und Kaufleute beschränken dürften, sondern weiter abzustecken seien, 8 da die geforderte breitere Perspektive in unterschiedlichen Ausprägungen zumindest international in vielen Bereichen der frühneuzeitlichen Wirtschafts- und Sozialgeschichte vertreten wird. 9 Es ist vielmehr zu fragen, wie diese Ökonomien systematisch analysiert und dargestellt werden können. In diesem Zusammenhang stellt das bereits von Brunner angesprochene Spannungsverhältnis heutiger Wirtschaftstheorien, die bewusst auf aus ihrer Sicht kaum kalkulierbare moralische Kategorien verzichten und mit abstrakten Mengen und Kostenrelationen im Rahmen abstrahierter Marktmodelle argumentieren, und Theorien des Wirtschaften, die sich auf die Sozialität und damit auch moralische Dimensionen wirtschaftlichen Handelns richten, die eigentliche Herausforderung dar. Zu letzteren können sowohl die frühneuzeitlichen Ökonomiken wie gegenwärtige Ansätze der Wirtschaftsethnologie und -soziologie zugeordnet werden. 10 Einzelne Theoreme wirtschaftswissenschaftlichen Denkens sind so weit in die gesellschaftlichen Elementardiskurse aufgenommen worden, dass sie gar nicht mehr als Konstrukte oder Prämissen wissenschaftlicher Spezialdiskurse wahrgenommen werden. Insofern stellt der Ansatz der Ökonomie sozialer Beziehungen eine theoretisch-methodische Herausforderung dar, die aber aufgrund der vorliegenden Forschungen durchaus eingelöst werden kann. Insofern stellt sich daher weniger die Frage, wie eine Ökonomie sozialer Beziehungen jenseits von Märkten und Kaufleuten aussieht, sondern wie die unterschiedlichen Bereiche frühneuzeitlicher Ökonomien durch ihre sozialen Beziehungen zusammenhingen. Daher scheint die Ausrichtung auf Haushalte im Sinne eines nicht nur sozialen, sondern auch räumlich gedachten Nahbereichs zumindest für Teile der frühneuzeitlichen Gesellschaften in mancher Hinsicht zu eng gesetzt, da in der Praxis die zeitgenössische Wahrnehmung dessen, was als Haushaltung wahrgenommen worden ist, von situativen Faktorenbündeln abhing und vielleicht eher als Resultat einer jeweils situierten Ökonomie sozialer Beziehungen gesehen werden sollte, denn als Rahmen. 11 Zudem konnten sich die meisten der genannten Formen sozia8 9
JANCKE/SCHLÄPPI, Ökonomie sozialer Beziehungen (wie Anm. 3). Wegen des Umfangs der jeweiligen Forschungsliteratur sei nur generell auf die, zumindest international gesehen, zahlreichen Beiträge zu Krediten als soziale Beziehungen, dem Vermögenstransfer unter Verwandten und zur materiellen Kultur sowie zur Konsumgeschichte verwiesen. 10 Während sich wesentliche Teile der neueren Wirtschaftssoziologie von den etablierten Wirtschaftstheorien absetzen, vgl. The Handbook of Economic Sociology. Second Edition, hg. v. NEIL J. SMELSER und RICHARD SWEDBERG, Princeton/New York 2005, ist das Bild in der heutigen Wirtschaftsethnologie weniger eindeutig. Dort finden sich sowohl Autoren, die, wenn auch zum Teil kritisch, auf Grundlage wirtschaftswissenschaftlicher Theoreme argumentieren, als auch solche, die Gegenentwürfe vertreten, vgl. MARTIN RÖSSLER: Wirtschaftsethnologie. Eine Einführung, Berlin 22005 (11999); A Handbook of Economic Anthropology. Second Edition, hg. v. JAMES G. CARRIER, Cheltenham 22014 (12005); CHRIS HANN/KEITH HART, Economic Anthropology. History, Ethnography, Critique, Cambridge 2011; Market and Society. The Great Transformation Today, hg. v. CHRIS HANN und KEITH HART, Cambridge 2009. 11 Vgl. die Überlegungen von EIBACH, Das offene Haus (wie Anm. 1).
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ler Beziehungen auch über große Distanzen im Sinne einer Ökonomie sozialer Beziehungen entwickeln. Die meisten Personen waren zwar fast zwangsläufig in räumliche Nahbeziehungen eingebunden, durch die weit verbreitete Migration müssen diese jedoch nicht die ökonomisch relevantesten gewesen sein. Ein weiterer Aspekt, der genauer zu untersuchen bleibt, ist das Verhältnis einer Ökonomie sozialer Beziehungen zu Märkten. Diese lassen sich weder als Antipoden einer Ökonomie sozialer Beziehungen auffassen, dies impliziert auch der Hinweis auf den Zusammenhang von Sozialbeziehung und Marktzugang, noch folgen soziale Beziehungen besonders häufig den spezifischen Mustern marktförmigen Tausches, 12 sondern es ist davon auszugehen, dass Märkte unter bestimmten Bedingungen aus den Ökonomien sozialer Beziehungen heraus entstehen und von diesen auch geprägt werden. 2 RESSOURCEN UND MÄRKTE Der aus dem Französischen kommende Begriff Ressource scheint erst relativ spät in den deutschen Sprachgebrauch eingegangen zu sein. 13 Weder das UniversalLexicon von Johann Heinrich Zedler, noch die damit verwandte Allgemeine Schatz=Kammer Der Kaufmannschaft Oder Vollständiges Lexicon Aller Handlungen und Gewerbe kennen ein entsprechendes Lemma, trotz zahlreicher französischer Begriffe, die erklärt werden. 14 Vielleicht war der Begriff in seiner Bedeutung im Vergleich zu den Terminologien des Wechselhandels, deren französische Begrifflichkeiten enthalten sind, zu unspezifisch und damit zu irrelevant, um in den praktischen Sprachgebrauch aufgenommen zu werden. Der Begriff Ressource kann daher außerhalb des französischen Sprachgebrauchs für die Frühe Neuzeit nur als gegenwartsbezogener analytischer Begriff verwendet werden, der Wirtschaftsgüter zunächst einmal nur sehr generell bezeichnet, während deren spezifische Qualität und gesellschaftliche Relevanz sich erst aus den jeweiligen Kontexten ergibt. Aufgrund der Verknüpfung von Materialien mit wirtschaftlichen Aktivitäten, also mit der friedlichen Ausübung von Verfügungsgewalt, 15 böte sich der 12 Wenn man davon ausgeht, dass Märkte Arenen sind, in denen die Akteure um die Gelegenheit des Tausches konkurrieren, gilt dies sowohl für wirtschafts- wie sozialwissenschaftliche Marktmodelle. In vielen sozialen Situationen ist nicht grundsätzlich von konkurrierenden Akteuren auszugehen; vgl. ROBERT C. HUNT: One-way Economic Transfers, in: A Handbook of Economic Anthropology, hg. v. JAMES G. CARRIER, Cheltenham 2005, S. 290–301. 13 Darauf verweist auch FRIEDRICH KLUGE: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 252012, das von einem Gebrauch seit dem 18. Jahrhundert ausgeht. 14 JOHANN HEINRICH ZEDLER: Universal-Lexicon, Bd. 31, Leipzig/Halle 1742; CARL GÜNTHER LUDOVICI: Allgemeine Schatz=Kammer Der Kaufmannschaft Oder Vollständiges Lexicon Aller Handlungen und Gewerbe, Leipzig 1742, Bd. 3, M-R, Bd. 5, Supplement. Diesen Befund bestätigt eine Recherche mit der Suchmaschine www.woerterbuchnetz.de, 16.03.2014, die in den historischen Wörterbüchern nur einen Eintrag bei JOHANN GEORG KRÜNITZ: Oekonomische Encyklopädie, Bd. 123, Berlin 1813, S. 218, ergab. 15 Vgl. MAX WEBER: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., hg. v. JOHANNES WINCKELMANN, Tübingen 1985, S. 31.
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Ansatz einer Dispositivanalyse an, 16 der jedoch aufgrund der fehlenden historischen Referenzdiskurse für außerfranzösische Sprachräume in der Frühen Neuzeit nicht vollständig anwendbar wäre. Hier wäre es interessant zu verfolgen, wann und wie der Begriff in die politisch-ökonomische Sprache seit dem späten 18. Jahrhundert übernommen wurde, und zugleich nach äquivalenten Begriffen im deutschen Sprachgebrauch zu fragen. Im Folgenden wird der Begriff Ressource auf Grundlage der französischen Begriffserklärung in einer im Vergleich zum heutigen Gebrauch erweiterten Bedeutung verwendet. Die französische Encyclopédie vermerkt zum Begriff: 17 „Ressource, est un moyen de se relever d’un malheur, d’un désastre, d’une perte, d’une maniere qu’on n’attendoit pas; car il faut entendre par ressource un moyen qui se présente de lui-même; cependant quelquefois il se prend pour tout moyen en général.“
Ressourcen wurden hier als Mittel zur Lösung akuter Probleme definiert, ein Aspekt, der im gegenwärtigen Gebrauch zugunsten der generellen Referenz auf Produktionsfaktoren in den Hintergrund getreten ist. 18 Im Mittelpunkt eines Diskussionsforums anlässlich des 49. Deutschen Historikertags, der 2012 in Mainz unter dem Motto „Ressourcen – Konflikte“ stattfand, standen dementsprechend Ressourcen als Produktionsfaktoren und darauf bezogene Möglichkeiten der Forschung im Fokus, während andere Formen der Ressourcen, insbesondere immaterielle, mit Skepsis betrachtet wurden. 19 Wie der Diskussionsrunde durchaus bewusst war, entspricht dies dem gegenwärtigen Sprachgebrauch. 20 Gerade die spezielleren Bemerkungen zu Kaufleuten, die im Artikel der Encyclopédie den bereits zitierten allgemeinen Ausführungen in einem eigenen Absatz folgen, deuten für die Frühe Neuzeit ein etwas anderes Verständnis an: „Ce marchand a de grandes ressources, il lui reste encore du crédit & des amis. Sa derniere ressource 16 Vgl. ANDREA D. BÜHRMANN/WERNER SCHNEIDER: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008. 17 DENIS DIDEROT & JEAN D’ALEMBERT: Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, Bd. 14, Neuchâtel 1765, S. 192. 18 Im Duden wird dies dahingehend offensichtlich, dass die Ausgaben 1937 als Erklärung nur „Hilfsmittel“, 1982 „Hilfsmittel; [Hilfs]quellen; Geldmittel“ und die Ausgabe 2009 „Rohstoff-, Erwerbsquelle, Geldmittel“ anbietet; Der große Duden. Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter, Leipzig 111937, S. 467; Duden. Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter, Mannheim/Wien/Zürich 181980, S. 578; Duden. Die deutsche Rechtschreibung, Mannheim/Wien/Zürich 252009, 900. Die älteren Bedeutungen finden sich auch in KRÜNITZ, Oekonomische Encyklopädie (wie Anm. 14), S. 118: „Ressource, 1) Hülfsquelle, Zuflucht. 2) Ein zum gesellschaftlichen Vergnügen, mehrentheils einer geschlossenen Gesellschaft, bestimmter Ort.“ Die zweite Bedeutung verweist auf eine eher sehr spezifische Bedeutungsvariante von Zuflucht. 19 H-Soz-u-Kult Debatte zu ‚Ressourcen‘ in den Geschichtswissenschaften, 4 Teile, hg. v. HSK Redaktion, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?pn=forum&type=diskussionen& id=1876, …id=1885, …id=1886, …id=1887, alle 24.09.2012. 20 Vgl. z. B. das Gabler Wirtschaftslexikon, http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/4191/res source-v11.html, 16.03.2014, wobei sich hier mit dem Verweis auf „Information als Ressource: Informationsproduktion, Informationsmärkte, Rechte an Informationen“ die Frage nach immateriellen Ressourcen neu stellt.
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fut de se jetter dans un couvent.“ 21 Obwohl Kaufleute gerne als die Protagonisten der ‚modernen‘ Wirtschaft präsentiert werden, 22 erwähnt die Encyclopédie die von ihnen umgesetzten Güter in keiner Weise, sondern verweist auf Kreditwürdigkeit und Freunde als deren großen Ressourcen. Diese Einschätzung wird von der Forschung geteilt. 23 Nicht ohne Ironie ist wohl der Hinweis zu verstehen, dass der Gang ins Kloster die letzte Ressource des Kaufmanns sei. 24 Sie deckt jedoch auch, wenn man Krünitz folgt, die Bedeutung von „Zuflucht“ ab. 25 Die Ökonomie sozialer Beziehungen wird dadurch geradezu zur zentralen Ressource von Kaufleuten deklariert. Dies kann jedoch nicht bedeuten, dass soziale Beziehungen als substantiierte Ressourcen konstruiert werden, vielmehr stellt sich die Frage nach den damit verbundenen Praktiken und deren Bezug zur geschäftlichen Tätigkeit von Kaufleuten. 26 Damit wird deutlich, dass bei Kaufleuten, aber auch bei Produzenten, die Produkte verkaufen, einerseits Ressourcen notwendig sind, um sich an wirtschaftlichen Interaktionen beteiligen zu können, andererseits die Ressourcen, die Gegenstand der wirtschaftlichen Tätigkeit sind. In Bezug auf Märkte ist daher zu fragen, welche Ressourcen notwendig sein konnten, um an Märkten teilnehmen zu können, und welche Ressourcen dann auf diesen Märkten umgeschlagen wurden. Nachdem es seitens der Wirtschaftswissenschaften kein umfassendes Modell der sozialen Konstituierung von Märkten gibt, 27 wird im Folgenden auf Marktmodelle der neueren Wirtschaftssoziologie zurückgegriffen, die Märkte als Form der sozialen Interaktion betrachten. 28 Ausgangspunkt der methodischen Überlegungen 21 DIDEROT & D’ALEMBERT, Encyclopédie (wie Anm. 17), S. 192. 22 Ein frühes Beispiel ist WERNER SOMBART: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, Leipzig/München 1913. Das von der Wirtschaftsgeschichte seit dem späten 19. Jahrhundert in vielen Studien geprägte Bild von Kaufleuten als nationalen Heroen wirtschaftlicher Entwicklung wird erst in neuerer Zeit von post-nationalen und hinsichtlich der wirtschaftlichen Aktivitäten ausgewogeneren Darstellungen abgelöst. 23 Die sozialen Beziehungen und die Kreditwürdigkeit von Kaufleuten sind ein zentrales Thema der Forschung, vgl. z. B. MARK HÄBERLEIN: Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts, Berlin 1998 (Colloquia Augustana 9); FRANCESCA TRIVELLATO: The Familiarity of Strangers. The Sephardic Diaspora, Livorno, and Cross-cultural Trade in the Early Modern Period, New Haven 2009, und Commercial Networks and European Cities, 1400– 1800, hg. v. ANDREA CARACAUSI und CHRISTOF JEGGLE, London 2014 (Perspectives in Economic and Social History 32). 24 In diesem Sinne fährt der Eintrag dann auch fort: „Le galimathias de la distinction est la ressource ordinaire d’un theologien aux abois.“ DIDEROT & D’ALEMBERT, Encyclopédie (wie Anm. 17), S. 192. Als weitere Erklärung wird in einem eigenen Lemma mit einer anderen systematischen Zuordnung noch eine bestimmte Eigenschaft von Pferden angeführt. 25 KRÜNITZ, Oekonomische Encyklopädie (wie Anm. 14), S. 118. 26 JANCKE/SCHLÄPPI, Ökonomie sozialer Beziehungen (wie Anm. 3), S. 96f. 27 Vgl. dazu The New Institutional Economics of Markets, hg. v. EIRIK G. FURUBOTN und RUDOLF RICHTER, Cheltenham 2010. 28 Überblicke bei PATRIK ASPERS: Markets, Cambridge 2011; ALEX PREDA: Information, Knowledge, and Economic Life: An Introduction to the Sociology of Markets, Oxford 2009. Die in diesem Abschnitt in der männlichen Form bezeichneten Akteure sind als theoretische
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zur Konstituierung von Märkten sind diejenigen Akteure, die innerhalb der Ströme von Wirtschaftsgütern mittels spezifischer Handlungsrepertoires Tauschbeziehungen durchführen. Dabei werden Märkte als komplexe Figurationen sozialer Interaktion verstanden, auf denen Akteure um die Gelegenheit eines Tausches konkurrieren. 29 Es sind daher mindestens drei Teilnehmer notwendig. Diese sozialen Figurationen dienen dem Tausch von Rechten, die es ermöglichen, Personen, Unternehmen und deren Leistungen sowie Produkte in ihren Qualitäten zu bewerten und sich auf einen Preis zu verständigen. Auf Grundlage dieser Wertzuschreibungen können Transaktionen zwischen den Marktteilnehmern vollzogen werden. Ein wichtiges Merkmal dieser Transaktionen ist, dass sie nicht auf stabilen sozialen Beziehungen basieren, wie sie die Ökonomie sozialer Beziehungen betont, sondern sich auf eine einmalige Interaktion beschränken können. Märkte können daher als mögliche Schnittstellen zwischen Netzwerken verstanden werden, die auf den Interaktionen einer Ökonomie sozialer Beziehungen basieren. Ketten sozialer Beziehungen können nicht unendlich erweitert werden, ohne ihre spezifische Sozialität zu verlieren, und basieren auf Kriterien der Inklusion und Exklusion, die der Partizipation Grenzen setzen. Zugleich überschreiten Ketten wirtschaftlicher Waren- und Werteströme Grenzen aller Art, nicht zuletzt um Ressourcen zwischen den Netzwerken der Ökonomien sozialer Beziehungen auszutauschen. Hier bieten Märkte die Möglichkeit, über die sozialen Beziehungen hinaus flexible Austauschbeziehungen einzugehen. Es müssen lediglich gemeinsame Regeln des Tausches vereinbart und gewährleistet werden. Die Marktteilnehmer müssen akzeptieren, dass die getauschten Güter in die Verfügungsgewalt des Empfängers übergehen und die Ansprüche des Anbieters erlöschen. Aus dem Tauschvorgang können sich allerdings Verpflichtungen der Tauschpartner hinsichtlich der Gewährleistung zugesagter bzw. vereinbarter Leistungen wie Produktqualitäten und der Einhaltung von Zahlungsverpflichtungen ergeben. Die Akteure auf Märkten und die Märkte als Figuration sind auf vielfältige Weise in soziale Beziehungen eingebunden, da nicht von Märkten als abstraktem Ort des Tauschs ausgegangen wird, sondern davon, dass spezialisierte Märkte innerhalb von Produktions- und Distributionsnetzwerken von Personen hervorgebracht werden, die um die Möglichkeit eines Tauschs spezieller Güter konkurrieren. 30 Die Transfers auf Märkten sind mit Unsicherheiten verbunden, die sich drei Koordinationsproblemen zuordnen lassen: Konkurrenz, Kooperation und Bewertung. 31 Die Akteure auf Märkten stehen in einem Spannungsverhältnis von KonNeutra zu verstehen, denen empirisch situativ spezifische Eigenschaften wie Gender zugeschrieben werden. 29 Zum Folgenden PATRIK ASPERS: Markets, Evaluations and Rankings, in: Historical Social Research 36 (2011), S. 19–33. 30 Vgl. HARRISON C. WHITE: Markets from Networks. Socioeconomic Models of Production, Princeton 2002. 31 JENS BECKERT, Die soziale Ordnung von Märkten, Köln 2007 (MPIfG Discussion Paper 07/6), Abdruck in: Märkte als soziale Strukturen, hg. v. JENS BECKERT, RAINER DIAZ-BONE und HEINER GANßMANN, Frankfurt am Main/New York 2007, S. 43–62; revidierte englische
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kurrenz und Kooperation. Die Vorstellung freier Konkurrenz wird zwar häufig generell mit Märkten assoziiert, in ihrer historischen Genese war jedoch bereits die Idee des homo oeconomicus mit der Vorstellung moralischen Handelns verknüpft. 32 Obwohl die Marktteilnehmer in einem Konkurrenzverhältnis stehen, müssen sie bei der Durchführung von Transaktionen auch kooperieren, um die Unsicherheiten, die mit den Transaktionen verbunden sind, so weit kalkulierbar zu gestalten, dass diese durchgeführt werden können und die Stabilität des Marktes nicht gefährden. Daher findet für den Tausch eine Bewertung der Marktteilnehmer und der angebotenen Güter und Leistungen statt, um die Qualitäten und den jeweiligen Wert der Tauschobjekte festzulegen. Diese Sicht entspricht dem Konkurrenzverhalten Florentiner und oberdeutscher Kaufleute im Mittelalter. 33 Entsprechend der Ausrichtung des konkurrierenden Verhaltens am Fortbestand des Marktes sind auch Preisbildungsprozesse nicht allein am kurzfristig erreichbaren Optimum auf Kosten anderer Marktteilnehmer ausgerichtet, sondern häufig an längerfristigen Perspektiven stabilisierter Tauschbeziehungen. 34 Dabei ergeben sich unterschiedliche Muster der Koordination auf den Märkten. Hinsichtlich der Unvorhersehbarkeit der Dynamiken, die mit Tauschbeziehungen einhergehen und Qualität wie Quantität der Produkte betreffen, wird zwischen Risiko und Unsicherheit unterschieden. 35 Während Risiken als messbare Form der Unsicherheit gelten, mit denen kalkuliert werden kann, entzieht sich die ‚Unsicherheit‘ einer Messbarkeit. Um die Unvorhersehbarkeit der Unsicherheiten wirtschaftlichen Handelns zu minimieren, sind Formen der Koordination notwendig, zu denen auch die bereits erwähnten Interaktionsformen der Ökonomie sozialer Beziehungen gehören. Sämtliche Formen von Handlungsrepertoires oder ritualisierter Interaktionen dienen auch dazu, Unsicherheiten zu reduzieren.
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Fassung: The Social Order of Markets, Köln 2007 (MPIfG Discussion Paper 07/15), Abdruck in: Theory and Society 38 (2009), S. 245–269. ALEXANDER ENGEL: Homo oeconomicus trifft ehrbaren Kaufmann. Theoretische Dimensionen und historische Spezifität kaufmännischen Handelns, in: Praktiken des Handels. Geschäfte und soziale Beziehungen europäischer Kaufleute in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. v. MARK HÄBERLEIN und CHRISTOF JEGGLE, Konstanz 2010, S. 145–172. RICHARD A. GOLDTHWAITE: The Economy of Renaissance Florence, Baltimore/London 2009; KURT WEISSEN: Das deutsche Handelsnetzwerk der Florentiner Banken in Rom 1410– 1470, in: Netzwerke im europäischen Handel des Mittelalters, hg. v. GERHARD FOUQUET und HANS-JÖRG GILOMEN, Ostfildern 2010 (Vorträge und Forschungen 72), S. 213–228; MARCO VERONESI: Bruderschaftliche Elemente im oberdeutschen Fernhandel? Ein Versuch am Beispiel Genua, in: Mittelalterliche Bruderschaften in europäischen Städten. Funktionen, Formen, Akteure, hg. v. MONIKA ESCHER-APSNER, Frankfurt am Main u. a. 2009, S. 321–348. Zur Problematik der Preiskalkulationen im Fernhandel vgl. FLORENCE EDLER: The Van der Molen, Commission Merchants of Antwerp: Trade with Italy, 1538–44, in: Medieval and Historiographical Essays in Honor of James Westfall Thompson, hg. v. JAMES LEA CATE und EUGENE N. ANDERSON, Chicago 1938, S. 78–145, hier S. 116–119. Diese Unterscheidung geht auf den Ökonomen FRANK H. KNIGHT: Risk, Uncertainty and Profit, Boston/New York 1957 (11921) zurück. Sie ist auch grundlegend für die Wirtschaftssoziologie, die nach Formen gesellschaftlicher Ordnung fragt, die Unsicherheiten reduzieren; vgl. JENS BECKERT: Was ist soziologisch an der Wirtschaftssoziologie? Ungewißheit und die Einbettung wirtschaftlichen Handelns, in: Zeitschrift für Soziologie 25 (1996), S. 125–146.
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Hinsichtlich von Waren und Märkten lassen sich einige Grundmuster feststellen. Zur Konsolidierung ihrer Produktion müssen Produzenten wegen der Vielfalt der Möglichkeiten entweder Produkte mit definierten Eigenschaften anbieten, die es ihnen ermöglichen, kalkulierbare Tauschbeziehungen einzugehen, oder hochspezialisierte bzw. einzigartige Kompetenzen, bei denen eine geringe Konkurrenz besteht. Dementsprechend kann zwischen standardisierten, nach festgelegten Mustern generisch reproduzierten, und speziellen, also einzigartig gestalteten Wirtschaftsgütern unterschieden werden. Die Vorstellungen von Originalität und Standardisierung unterliegen spezifischen kulturellen Ausprägungen und damit auch einem historischen Wandel. Mit der Differenzierung in gewidmete und standardisierte Produkte korrespondiert die Unterscheidung zwischen zwei Produktionsprinzipien, die sich als serielle und variable Herstellungsverfahren kategorisieren lassen. Die Serienproduktion korrespondiert mit einer Ökonomie der Skalenerträge, also dem Verhältnis von Produktionsvolumen und Ertrag, die variablen Verfahren mit einer Ökonomie der Vielfalt. 36 Das heißt, die Beschaffenheit der auf Märkten umgeschlagenen Ressourcen beeinflusst die Formen der sozialen Beziehungen auf Märkten. Hinsichtlich der Interaktionen, die Märkte konstituieren, lassen sich zwei Grundstrukturen unterscheiden. 37 Auf Tauschmärkten treten die Teilnehmer auf demselben Markt als Verkäufer wie als Käufer auf. Dies ist vor allem auf Finanzmärkten der Fall; daher ist es problematisch, Finanzmärkte als Standardmodell für sämtliche Märkte anzusehen, wie es in Teilen der heutigen Wirtschaftsanalyse geschieht. Die meisten Märkte sind hingegen Rollenmärkte, bei denen die Teilnehmer feste Rollen als Verkäufer und Käufer einnehmen, wie es bei Waren-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkten der Fall ist. Mit einer Rollenteilung, die sich auf vielen Märkten für die Akteure nicht umkehren lässt, können auch Konstellationen ungleicher Machtbalancen verbunden sein. Eine zweite grundsätzliche Unterscheidung lässt sich aufgrund der Bewertung der getauschten Güter und Leistungen sowie der beteiligten Akteure zwischen Standard- und Statusmärkten treffen. 38 Auf Standardmärkten werden normierte Produkte gehandelt, wobei die Gewährleistung der standardisierten Produktqualität für die Transaktionen entscheidend ist, weniger die persönlichen Eigenschaften der Marktteilnehmer. 39 Auf Statusmärkten ist hingegen der Wert der zum Tausch 36 ROBERT SALAIS/MICHAEL STORPER: Les mondes de production. Enquête sur l’identité économique de la France, Paris 1993 (Civilisations et Sociétés 88), S. 36–40; LUCIEN KARPIK: L’économie des singularités, Paris 2007; PAUL DUGUID: Networks and Knowledge: The Beginning and End of the Port Commodity Chain, 1703–1860, in: Business History Review 79 (2005), S. 453–466. 37 ASPERS, Markets (wie Anm. 28), S. 88–100. 38 Vgl. PATRIK ASPERS: Wissen und Bewertung auf Märkten, in: Berliner Journal für Soziologie 17 (2007), S. 431–449. FRANÇOIS EYMARD-DUVERNAY: Coordination des échanges par l’entreprise et qualité des biens, in: Analyse économique des conventions, hg. v. ANDRÉ ORLÉAN, Paris 1994, S. 307–334, hier S. 329, führte diese Unterscheidung mit der Terminologie Marchés de produit und Marchés d’organisation ein. 39 ASPERS, Markets (wie Anm. 28), S. 112–131.
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vorgesehenen Güter vom jeweiligen sozialen Kontext abhängig und beschränkt sich nicht auf eine formalisierte Norm. Daher ist der soziale Status der Marktteilnehmer für die Bewertung der Güter entscheidend. 40 Die in der historischen Forschung häufiger diskutierte Ökonomie des Basars entspricht diesem Typus des Marktes und sollte daher nicht für alle Märkte der Frühen Neuzeit verallgemeinert werden. 41 Diese Grundmuster lassen sich noch weiter ausdifferenzieren, zum Beispiel hinsichtlich von Produkten, die stark von der Nachfrage der Käufer geprägt sind und möglichst kurzfristig ausgeliefert werden sollten, wie modische Bekleidungen und Accessoires oder Produkte, die auf den individuellen Bedarf genau zugeschnitten werden. 42 Eine in der Forschungsdiskussion bislang zu wenig beachtete Differenz ist diejenige zwischen den Transfers von Produzenten und Zwischenhändlern innerhalb eines Produktionsprozesses sowie dem anschließenden Vertrieb im Großhandel (business-to-business) und dem Verkauf an Endverbraucher (business-tocustomer). Ein Großteil der handelshistorischen Überlieferung und Forschung befasst sich mit Business-to-Business-Geschäften, die sich hinsichtlich der Geschäftspraktiken, beispielsweise bei der Verpackung, Zertifizierung und Kennzeichnung von Produkten sowie der Handelsmarken, zum Teil grundlegend vom 40 ASPERS, Markets (wie Anm. 28), S. 132–147. 41 Zum Konzept der Ökonomie des Basars CLIFFORD GEERTZ: Peddlers and Princes. Social Development and Economic Change in Two Indonesian Towns, Chicago 1963, S. 30–47; DERS.: The Bazaar Economy: Information and Search in Peasant Marketing, in: American Economic Review 68 (1978), S. 28–32; DERS.: Suq: the bazaar economy in Sefrou, in: DERS./HILDRED GEERTZ/LAWRENCE ROSEN: Meaning and Order in Moroccan Society. Three Essays in Cultural Analysis, Cambridge 1979, S. 123–313, sowie FRANK S. FANSELOW: The Bazar Economy or How Bizarre is the Bazar really?, in: Man 25 (1990), S. 250–265; DERS.: Bizarre Economies, in: Geographical. The Royal Geographical Society Magazine 64, 5 (1992), S. 16–19, die unterschiedliche Handelspraktiken bei Waren mit schwer einschätzbaren Qualitäten und bei standardisierten Waren mit definierten Qualitäten darstellen. Aus soziologischer Sicht dazu ASPERS, Markets (wie Anm. 28), S. 108–111. Die einschlägigen historischen Studien befassen sich mit nicht standardisierten Gütern wie Lebensmitteln und Vieh, vgl. ANNE MONTENACH: Espaces et pratiques du commerce alimentaire à Lyon au XVIIIe siècle. L’économie du quotidien, Grenoble 2009, S. 351–365; MICHAELA FENSKE: Kredit im Kontext der frühneuzeitlichen Marktkultur. Zahlungspraktiken auf einem Jahr- und Viehmarkt, in: Praktiken des Handels. Geschäfte und soziale Beziehungen europäischer Kaufleute in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. v. MARK HÄBERLEIN und CHRISTOF JEGGLE, Konstanz 2010 (Irseer Schriften 6), S. 477–492, hier S. 484; DANIEL SCHLÄPPI: Geschäfte kleiner Leute im Spannungsfeld von Markt, Monopol und Territorialwirtschaft. „Regionaler Handel“ als heuristische Kategorie am Beispiel des Fleischgewerbes der Stadt Bern im 17. und 18. Jahrhundert, in: ebd., S. 451–475, hier S. 463. 42 Vgl. dazu ausführlich SALAIS/STORPER, Les mondes de production (wie Anm. 36), S. 25–55; zur historischen Forschung mit dem Ansatz CHRISTOF JEGGLE: Pre-industrial Worlds of Production: Conventions, Institutions and Organizations, in: Conventions and Institutions from a Historical Perspective / Konventionen und Institutionen in historischer Perspektive, hg. v. RAINER DIAZ-BONE und ROBERT SALAIS, Historical Social Research / Historische Sozialforschung 36 (2011), Special Issue, S. 125–149; DERS.: Interactions, Networks, Discourses and Markets, in: Commercial Networks, hg. v. CARACAUSI und JEGGLE (wie Anm. 23), S. 45–63.
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Endverbrauchergeschäft unterschieden. Während der Großhandel dazu tendiert, einer Ökonomie der Skalenerträge zu folgen, bei der die umgesetzten Mengen standardisierter Güter den Ertrag ausmachen, sind gerade im frühneuzeitlichen Einzelhandel soziale Beziehungen zwischen den Akteuren und die auf den persönlichen Bedarf der Abnehmer ausgerichteten Sortimente grundlegend für die Geschäftsbeziehungen. Diese Unterscheidung war in der Frühen Neuzeit ein wesentliches Kriterium für die Regulierung von Märkten. Während der Zugang zum permanenten Einzelhandel sehr häufig den lokalen Händlern vorbehalten war und Auswärtige nur während bestimmter, oft eng begrenzter Marktperioden ihre Waren anbieten konnten, durften Großhändler ihren Handel ebenfalls oft nur unter der Bedingung dauerhaft betreiben, dass sie sich vollständig des Einzelhandels enthalten würden. 43 Die Einhaltung dieser Regelungen führte zu allgegenwärtigen Konflikten, die zeigen, dass die legitime Beteiligung an Märkten sehr stark von einer Ökonomie der sozialen Beziehungen abhing. Der Transfer von möglicherweise als Ressourcen benötigen Gütern hing von der Ressource des Marktzugangs ab. Durch die große Bedeutung der Produktbeschaffenheit für die Koordination wirtschaftlicher Interaktionen war die Bestimmung der Produktqualität von großer Wichtigkeit. Der Ansatz einer économie de la qualité ist für vorindustrielle Ökonomien besonders geeignet, da diese zwar mit Produktnormen operierten, aber nicht in der Lage waren, völlig identische Produkte in Serie herzustellen. 44 In der Praxis konnten damit keine Einheitsqualitäten, sondern bestimmte Mindestqualitäten eingefordert werden. 45 Das Erkennen spezifischer Produktqualitäten war in der vorindustriellen Wirtschaft die zum Teil qualifizierte Kompetenz von Connaisseuren, und die Preisbildung konnte nicht allein anhand der Annahme identischer Produkte geschehen, sondern wurde bei der Bewertung der tatsächlichen Produktqualitäten ausgehandelt. 46 Diese Problematik prägte auch die Praktiken 43 Vgl. KATHARINA MIDDELL: „En gros“ und „en détail“. Konflikte um den Kleinhandel außer den Messen, in: Leipzigs Messen, 1497–1997, hg. v. HARTMUT ZWAHR, THOMAS TOPFSTEDT und GÜNTER BENTELE, 2 Bde., Köln/Weimar/Wien 1999, Teilband 1: 1497–1914, S. 231– 242. 44 Zum Ansatz LUCIEN KARPIK: L’économie de la qualité, in: Revue Française de Sociologie 30 (1989), S. 187–210, hier S. 207, sowie MICHEL CALLON/CÉCILE MÉADEL/VOLOLONA RABEHARISOA: The Economy of Qualities, in: Economy and Society 31 (2002), S. 194–217. Im Kontext frühneuzeitlicher Luxuswaren CHRISTOF JEGGLE: Economies of Quality as a Concept for Research on Luxury, in: Luxury in the Low Countries. Miscellaneous Reflections on Dutch and Flemish Material Culture (1400–2000), hg. v. RENGENIER C. RITTERSMA, Brüssel 2010, S. 26–44. 45 REINHOLD REITH: Technische Innovationen im Handwerk der frühen Neuzeit? Traditionen, Probleme und Perspektiven der Forschung, in: Stadt und Handwerk in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. KARL HEINRICH KAUFHOLD und WILFRIED REININGHAUS, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 21–60, hier S. 50. 46 WILLIAM M. REDDY: The Structure of a Cultural Crisis: Thinking about Cloth in France before and after the Revolution, in: The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, hg. v. ARJUN APPADURAI, Cambridge 1986, S. 261–284; PIERRE CLAUDE REYNARD: Manufacturing Quality in the Pre-Industrial Age: Finding Value in Diversity, in: Economic
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der Produktkontrolle und die Reputation von Anbietern sowie der Personen und Organisationen, die Qualitätszertifikate vergaben. 47 Da insbesondere im Fernhandel mit Massenwaren bereits im Mittelalter Effizienzvorteile durch Produktkonventionen mit entsprechenden Zertifizierungen gesehen wurden, führten die Schwierigkeiten, einheitlich gestaltete Produkte herzustellen, zu dauerhaften Prozessen des Aushandelns von Verfahren zur Sicherung akzeptabler Produktstandards. 48 Gerade Produkte, die zum kommerziellen Vertrieb hergestellt wurden, wurden also nicht einfach produziert, sondern die Definition von Produktqualitäten war mit Formen sozialer Koordination verbunden. Damit wird auch deutlich, dass sich daraus ein komplexer Umgang mit Ressourcen als Mittel zur Lösung von Problemen ergibt. Produkte, die als Ressourcen im Sinne materieller Wirtschaftsfaktoren dienten, sollten nicht nur gewissen Standards folgen, um den Fernhandel effizienter zu gestalten und damit die Gewinnaussichten der Kaufleute zu erhöhen, sondern die Wahrung von Qualitätsstandards war eine wesentliche Voraussetzung für die Arbeitsteilung entlang von Produktlinien. Die politische Macht, Qualitätsstandards zu definieren, die Hoheit über die Produktkontrolle auszuüben und Abweichungen zu sanktionieren, kann als wirkmächtige wirtschaftliche Ressource betrachtet werden. Einerseits wurde das Problem gelöst, nach zeitgenössischen Maßstäben fungible Güter zu produzieren, andererseits entstand so ein Mechanismus der Inklusion und Exklusion möglicher Produktvarianten. Dies wirkte sich umso deutlicher aus, wenn es neben dem Handel mit zertifizierten Produkten einen mit disqualifizierten Produkten gegeben hat, über den massiver Druck auf die Produzenten ausgeübt werden konnte. Die Ausübung der Kontrolle war häufig Gegenstand politischer Auseinandersetzungen zwischen Produzenten, Kaufleuten und Obrigkeiten, die zum Teil als Gruppen, zum Teil aber auch intern fraktioniert, sehr unterschiedliche Interessen mit der Produktkontrolle verbanden. Daher kann allein schon die Definition der materiellen Qualitäten von Ressourcen als ein komplexes Beispiel einer Ökonomie sozialer Beziehungen gelten. 49
History Review, 2. Ser. 53 (2000), S. 493–516; JEAN-YVES GRENIER: Une économie de l’identification. Juste prix des marchandises dans l’Ancien Regime, in: La qualité des produits en France (XVIIIe–XXe siècles), hg. v. ALESSANDRO STANZIANI, Paris 2003, S. 25–53; Concepts of Value in European Material Culture, 1500–1900, hg. v. BERT DE MUNCK und DRIES LYNA, Farnham 2015 (History of Retailing and Consumption) (im Druck). 47 BERT DE MUNCK: Technologies of Learning. Apprenticeship in Antwerp Guilds from the 15th Century to the End of the Ancien Régime, Turnhout 2007; DERS.: La qualité du corporatisme. Stratégies économiques et symboliques des corporations anversoises, XVIe–XVIIIe siècles, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 54 (2007), S. 116–144. 48 JEGGLE, Pre-industrial Worlds of Production (wie Anm. 42). 49 Vgl. dazu ausführlich JEGGLE, Pre-industrial Worlds of Production (wie Anm. 42), und DERS.: Labelling with numbers? Weavers, Merchants and the Valuation of Linen in 17th-Century Münster, in: Concepts of Value, hg. v. BERT DE MUNCK (wie Anm. 46).
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3 ÖKONOMIEN SOZIALER BEZIEHUNGEN UND DIE VERFÜGUNG ÜBER RESSOURCEN 3.1 Italienische Fruchthändler in Nürnberg Welche Verknüpfungen zwischen den Ökonomien sozialer Beziehungen und der Verfügung über verschiedene Ressourcen in der Frühen Neuzeit hergestellt werden konnten, lässt sich anhand von zwei Beispielen aus den verbreiteten Konflikten zwischen immigrierten Kaufleuten und lokal ansässigen Händlern zeigen. 50 In Nürnberg zogen sich diese Konflikte durch die gesamte zweite Hälfte des 17. bis ins 18. Jahrhundert. Ausgelöst wurden sie immer wieder durch Beschwerden der Spezereihändler, die in den italienischen Früchtehändlern eine unzulässige Konkurrenz im Einzelhandel vermuteten. 51 Ein Bericht und Gutachten der Marktvorgeher enthält eine interessante zeitgenössische Darstellung, wie der Handel der Italiener sich etablieren konnte: Während der kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Schweden seien die Italiener, darunter auch angesehene „Casaden“, „aus erheblichen Ursachen aus hiesiger statt […] ausgeschaffet worden“. 52 Bald darauf habe es jedoch an italienischen Früchten gemangelt, woraufhin zwei Nürnberger diese auf eigene Rechnung oder in Kommission beschafft und damit die Krämer versorgt hätten. Die in der Konsumgeschichte wohl eher irrtümlich als vergleichsweise wenig konsumfreudig geltenden frühneuzeitlichen Deutschen, unter ihnen zumindest diejenigen, die sie sich leisten konnten, betrachteten italienische Früchte offensichtlich als kulinarische Ressource, deren Versorgung zu gewährleisten war. 53 Allerdings fanden sich in diesem Geschäft auch bald „schlechte 50 Vgl. z. B. CHRISTIAN HOCHMUTH: Globale Güter – lokale Aneignung. Kaffee, Tee, Schokolade und Tabak im frühneuzeitlichen Dresden, Konstanz 2008 (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 17); CHRISTIANE REVES: Vom Pomeranzengängler zum Großhändler? Netzwerke und Migrationsverhalten der Brentano-Familien im 17. und 18. Jahrhundert, Paderborn 2012 (Studien zur Historischen Migrationsforschung 23). 51 Ein Überblick zu den italienischen Kaufleuten bei GERHARD SEIBOLD: Zur Situation der italienischen Kaufleute in Nürnberg während der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 71 (1984), S. 186–207. 52 Stadtarchiv Nürnberg (StadtAN), E 8, Handelsvorstand, Nr. 3931, 28.08.1677, o. f. Von einer regelrechten Vertreibung von italienischen Kaufleuten ist bislang in der Forschung nichts bekannt. Bis zum Einzug der Schweden 1632 gehörten die Italiener zu den umsatzstärksten Großkaufleuten in der Stadt. Allerdings hatten sie seit den 1620er Jahren begonnen, sich wieder nach Italien zurückzuziehen, vgl. LAMBERT F. PETERS: Der Handel Nürnbergs am Anfang des Dreißigjährigen Krieges. Strukturkomponenten, Unternehmen und Unternehmer, Stuttgart 1994 (VSWG Beihefte 112), und RITA MAZZEI: Convivenza religiosa e mercatura nell’Europa del Cinquecento. Il caso degli italiani a Norimberga, in: La formazione storica della alterità. Studi di storia della tolleranza nell’età moderna offerti a Antonio Rotondò, hg. v. HENRY MÉCHOULAN, RICHARD H. POPKIN, GIUSEPPE RICUPERATI und LUISA SIMONUTTI, 3 Bde., Florenz 2001, Bd. 1, S. 395–428. 53 Zum Handel mit Zitrusfrüchten RAINER BECK: Lemonihändler. Welsche Händler und die Ausbreitung der Zitrusfrüchte im frühneuzeitlichen Deutschland, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2004/2, S. 97–123; zur kulturellen Bedeutung: Die Frucht der Verheißung.
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Pommeranzen Träger und Hausierer“ ein, die zuerst auf den gewöhnlichen Märkten handelten, um sich dann in bestimmten Wirtshäusern niederzulassen und Gewölbe und Keller für ihre Waren einzurichten. Da sie ihre Früchte „wohlfeyler“ als die Nürnberger Händler anbieten konnten, hätten sie auch größeren Zulauf bekommen. Auf diese Weise hätten sie im Lauf der Zeit ihr Gewerbe ausgebaut und „ein starck Capital gemacht“. Sie hätten außerdem ihr eingeführtes Sortiment über die Früchte hinaus um „welsche“ Seidenstrümpfe, Seidentuch und anderes erweitert sowie ihre Lager auf andere Orte ausgedehnt. Ebenso würden sie mit Leinwand und verschiedenen anderen Waren handeln und den „Handwerksleuthen ihre Manufacturen“ abpressen, um damit Orte in Italien zu versorgen. Dabei hätten sie den einheimischen Bürgern die sonst üblichen Kommissionen genommen, und selbst ihre Provisionen hätten diese verloren. Aufgrund der Beschwerden habe man deshalb, um die weitere Zunahme zu verhindern, dann die Anzahl der italienischen „Casaden“ auf sieben begrenzt und keine weiteren mehr zugelassen. Diese Darstellung gibt zwar ein von den Abläufen her wohl einigermaßen zutreffendes Bild, in den Einzelheiten ist sie jedoch deutlich pejorativ gegen die Italiener gerichtet und übergeht viele Einzelheiten, die sich aus den Akten zu den diversen Beschwerden ergeben. 54 Die dokumentierten Auseinandersetzungen können durchaus als vielschichtige Konflikte um Ressourcen betrachtet werden. Wann die Regulierung der italienischen Kaufleute genau begonnen hat, lässt sich aufgrund der fragmentarischen Überlieferung nicht genau feststellen. 55 In einem Bericht von 1685 wird angegeben, dass 1629 die Schutzverwandtschaft für sieben „Casaden“ zum Fruchthandel verliehen worden sei. 56 In den überlieferten Verordnungen wird insbesondere der Einzelhandel untersagt und die zu verkaufenden Mindestmengen für die einzelnen Produkte festgelegt. Zudem war den Italienern nur gestattet, sich in Gasthöfen niederlassen, während ihnen untersagt wurde, Wohnräume anzumieten. Die Waren sollten in den Gewölben des Zollhauses gelagert werden und durften nur an bestimmten Orten angeboten werden. Diese Vorschriften wurden in den verschiedenen Ordnungen unterschiedlich ausführlich behandelt, im Kern bestanden sie kontinuierlich fort. 57 Die Anzahl von sieben
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Zitrusfrüchte in Kunst und Kultur. Begleitband zur Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums, Nürnberg, 19. Mai–11. September 2011, bearb. v. YASMIN DOOSRY, CHRISTIANE LAUTERBACH und JOHANNES LAUTERBACH, Nürnberg 2011. Bestimmte Formulierungen lassen vermuten, dass der Bericht aus den zumindest teilweise noch vorliegenden Akten zusammengestellt wurde. Möglicherweise würde eine systematische Durchsicht der sehr umfangreichen Ratsverlässe genaueren Aufschluss geben. StadtAN, E 8, Handelsvorstand, Nr. 3940, 06.11.1685, o. f. Dieses Jahr läge dann vor dem oben erwähnten Einfall der Schweden im Jahr 1632. Eine vollständige Übersicht zu den erlassenen Ordnungen fehlt zur Zeit, nicht zuletzt weil diese in den Akten zu den Beschwerden oft nur auszugsweise beigefügt sind. Einige Beispiele ohne Hinweis auf den verwendeten Aktenbestand bei JOHANN FERDINAND ROTH: Geschichte des Nürnbergischen Handels. Ein Versuch, 4 Bde., Leipzig 1801, Bd. 3, S. 197–204; die älteste derzeit vorliegende Ordnung in StadtAN, B 19, Reichsstädtische Deputation, Nr. 343, 15.07.1641, o. f.
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„Casaden“ wurde zumindest bei den offiziellen Untersuchungen nie überschritten und mit der Verordnung von 1689 auf vier begrenzt. 58 Vom Status her waren die Italiener „Schutzverwandte“, die sich als „Unbürger“ gegen ein Schutzgeld in der Stadt niederlassen konnten. 59 Neben einigen fluktuierenden Namen werden verschiedene Mattoni und Carli sowie einige Vertreter unterschiedlicher Linien der Brentano genannt. 60 Sämtliche Kaufleute stammten aus der Lombardei, insbesondere aus der Region des Comer Sees. In den Akten des Handelsvorstands sind drei Untersuchungen seitens der städtischen Obrigkeiten überliefert, die einerseits eine Kontinuität der Vorbehalte gegen die italienischen Kaufleute zeigen, dabei jedoch unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte setzen. Im Juni 1651 reichten „Burger offene Kauff: und Handels=leuth auch Cramer alhier“ eine mit 26 Unterschriften versehene „Klage über eingerissene Missstände“ ein, in der sie den „Welschen“ vorhielten, sich zu einer Compangnie von mindestens 20 Personen zusammengeschlossen zu haben und in einer Reihe von Wirtshäusern eigene Gewölbe zu unterhalten, die täglich geöffnet seien, und wo sie Einzelhandel treiben würden. 61 Im Rahmen der Beratungen des Rates wurden vier Punkte mit Vorschriften beschlossen, nach denen sich die italienischen Kaufleute richten sollten: Erstens sollten sie sich in den Schutz der Stadt begeben und wie die anderen Einwohner und Schutzverwandten ein Schutzgeld bezahlen, das hier auf 200 Gulden gr. festgelegt wurde; zweitens sollten die ihre Waren in den entsprechenden Gewölben der „Duana“, gemeint war die Obere Waage, einlagern und dafür Mietzins entrichten; drittens sollten sie von allen Waren, die sie einführten, ein Prozent Abgabe zahlen und von allem, was sie in Nürnberg erwarben, Gebühren entsprechend der Waagordnung entrichten; viertens wurden ihnen Mindestabgabemengen vorgeschrieben. Zur Stellungnahme aufgefordert, reichten die italienischen Kaufleute daraufhin „Gegenberichte“ ein, in denen sie die Geschäftspraktiken aus ihrer Sicht darstellten. Die Reaktionen fielen etwas unterschiedlich aus, einige wirken eher defensiv, mit der Tendenz, die Auflagen des Rates zu akzeptieren, während die Gesellschaft Jacomo Matone & Carlo Maffio Brentani & Compagni mit einem sechsseitigen deutlichen Protestschreiben reagierte. 58 Vgl. den Abdruck bei ROTH, Geschichte (wie Anm. 57), S. 202–204. 59 Vgl. hierzu WALTER BAUERNFEIND: Unbürger und Unbürgeramt, in: Internetdatenbank Stadtlexikon Nürnberg, http://online-service2.nuernberg.de/stadtarchiv/dok_start.fau?prj= biblio&dm=Stadtlexikon, 21.10.2013; WERNER SCHULTHEISS: Das Bürgerrecht der Königsund Reichsstadt Nürnberg. Beiträge zur Verfassungsgeschichte der deutschen Städte, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag am 19. September 1971, hg. v. Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 2 Bde., Göttingen 1971 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 36/II), Bd. 2, S. 159–194, bes. 192. 60 Zu den Brentano ALFRED ENGELMANN: Die Brentano am Comer See, Rößlberg/München 1974 (Genealogia Boica 2); REVES, Pomeranzengängler (wie Anm. 50). 61 StadtAN E 8, Handelsvorstand, Nr. 3928, o. f., o. D. In Nürnberg war es anscheinend eher unüblich Suppliken, Berichte und ähnliche Akten seitens der Verfasser zu datieren. Die Zeitangaben erfolgen daher in diesen Fällen aufgrund der Kanzleivermerke, die in der Regel die Vorlage beim Empfänger dokumentieren.
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Zum Verständnis der Argumente ist ein Blick auf das Warensortiment aufschlussreich, mit dem die Kaufleute handelten: Citronen, Pomerantzen, Citronaten, Granat, Castanien, Oliven, Cappern, Prunellen, Datteln, Pinole, Pistacien und Mandeln in Schalen, Paumöl, Gartzer Öel, Parmesan Käs, Lohrbeer, Lohröel, Lombardische Nüß, Manna, Romari, Gesaltzene Citronaten, Lemoni, Reiß, Sartellen, Austern, Vornatzer und Rosatzer Wein, Granatenblühe, Granatensaft, Rosinen, Welsche candirte Frücht, Jeßmanyn Pomada, Allerhandt welsche Bäume und Blumenwerckh, alß von Citronen, Pomerantzen, Jeßmanin, Roßen und dergleichen, Venedisch Post Papyr, Weiße Irrden Mayländisch Geschirr. 62
Auf den Vorwurf des Detailhandels reagierten die Kaufleute mit dem Hinweis, dass der Aufwand, die Früchte zu sortieren, so groß sei, dass sie schon deshalb keine Zeit für den Einzelhandel hätten. Das Auswiegen einzelner Stücke sei zu aufwändig, zudem brächten angebrochene Fässer zusätzliche Verlustrisiken. Den einzigen Detailhandel, den sie – aus ihrer Sicht legitimer Weise – trieben, wäre der mit Waren, vor allem Früchten, die sonst verderben würden. Hausierer lehnten die Kaufleute vielmehr explizit ab. Wegen der Verderblichkeit ihrer Ware bräuchten sie ständigen Zugang, weshalb sie nur haltbare Waren wie Käse, Reis, Öl und Papier bei der Oberen Waage einlagern könnten. Matone und Brentani legten außerdem noch dar, dass ihre Gesellschaft zwar aus 14 Personen bestünde, diese aber in Italien, München, Regensburg, Breslau, Prag, Leipzig und Dresden tätig wären und die regulären Messen besuchen würden. Durch diese Verteilung hätten die wenigen Personen vor Ort sehr viel zu tun. Da sie neben kleinen Mengen an Mailänder Krügen und Papier ausschließlich mit welschen Früchten handeln würden, die „keinen besonderen verlag“, also Investitionen, erfordern würden, sondern viel Arbeit und Mühe, wären sie auch nicht sonderlich vermögend und würden daher weder seidene oder andere kostbare Waren führen. 63 Konsequenterweise wandte sich die Gesellschaft sehr deutlich gegen die aus ihrer Sicht völlig überhöhten Geldforderungen und verwies darauf, dass Verwandte in Frankfurt am Main für weniger Geld, 12 Goldgulden, frei handeln dürften. Insgesamt wurden die vier Punkte ausführlich als Zumutung beschrieben und auf die hohen Summen an Abgaben verwiesen, die die Gesellschaft zum Wohl der Stadt leisten würde. Eine andere Gesellschaft verwies auf ihren Export von Nürnberger Waren im Wert von 5000 bis 6000 Gulden nach Mailand, der aus ihrer Sicht zum Wohl der Stadt beitrug. Der Kaufmann machte auch geltend, dass er eher seine Niederlassung in Mailand aufgeben würde als diejenige in Nürnberg, denn er habe sogar seine Kinder dorthin geholt und sie dazu vorher drei Jahre in die Schule geschickt, damit sie Deutsch lernen würden. Das war nicht die Regel, denn in einem anderen
62 StadtAN, E 8, Handelsvorstand, Nr. 3928, aus verschiedenen Aufstellungen zusammengefasst. 63 Zum Seidenhandel vgl. RITA MAZZEI: Traffici e uomini d’affari italiani in Polonia nel Seicento, Mailand 1983.
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Fall wurde protokolliert, dass der Sohn kein Deutsch spreche und der Vater abwesend sei, weshalb keine Auskunft eingeholt werden konnte. 64 Vermutlich konnten sich die Kaufleute gegen das hohe Schutzgeld durchsetzen. Die anderen Punkte blieben virulent, denn 1656 wurden die Bestimmungen erneut in einer Ordnung festgelegt und im September 1658 erfolgte eine Visitation zur Untersuchung des Vorwurfs des irregulären Einzelhandels. 65 Die bekannten Vorwürfe des unzulässigen Einzelhandels wurden 1672 wiederholt, unter anderem mit dem Hinweis, dass die Italiener keine andere Wohnung als ihre Gewölbe hätten und sie diese deshalb ständig, selbst sonn- und feiertags, offenhielten. Die italienischen Kaufleute verwiesen hingegen darauf, dass viele Tiroler Bauern ihnen und den hiesigen Krämern als Hausierer Konkurrenz machen würden. Die Apotheker würden nun nicht mehr wie bisher angestoßene Früchte kaufen. 66 Eine weitere Beschwerde der Spezereihändler erfolgte 1677 wegen der Niederlassung von Italienern in Wohnhäusern. 67 In ihren Repliken verlangten die Kaufleute das Recht, geeignete Gewölbe frei mieten zu können, und verwiesen auch darauf, dass das Mieten von Wohnraum Schutzverwandten eigentlich freistünde. Die weitere Untersuchung ergab mehrere Mietverhältnisse zwischen Bürgern und italienischen Kaufleuten, die seit drei bis vier Jahren liefen. In einem Fall setzte der Rat die Beendigung in einer längeren Auseinandersetzung durch und erließ 1679 einen Zusatz zu den bereits geltenden Ordnungen, dass die italienischen Kaufleute keine Bürgershäuser, sondern nur öffentliche Wirtshäuser bewohnen dürften. Diese Regelung explizierte vermutlich nur, was aus Sicht des Rates ohnehin galt. Den italienischen Kaufleuten war demnach nur gestattet, in Gasthäusern zu wohnen, weshalb einige auch regelmäßig in den Akten als Aufenthaltsort erwähnt werden. Die Italiener scheinen diese als längerfristige Niederlassungen genutzt zu haben. Dennoch bestand, vermutlich wegen der Kosten, des Komforts und der Wahrung einer gewissen Privatsphäre, offensichtlich der Wunsch, sich in eigenen Wohnräumen niederzulassen, zumal zumindest einige Kaufleute mit ihren Angehörigen in Nürnberg lebten. Allerdings werden nur Söhne und keine Frauen, weder Ehefrauen noch Töchter, in den Akten erwähnt. Die männlichen Angehörigen haben den Akten zufolge im Handel mitgearbeitet. Ihre Waren sollten die italienischen Kaufleute eigentlich in der Oberen Waage lagern, aus den bereits genannten Gründen scheinen sie jedoch Gewölbe angemietet zu haben, ohne dies vom Rat bewilligen zu lassen. Vermutlich sahen sie dies als ihr gutes Recht als zahlende Schutzverwandte an und wollten sicherlich auch mühsame Verhandlungen vermeiden, indem sie Fakten schufen und auf Duldung hofften. Ob die Gewölbe auch als Wohnraum genutzt wurden, lässt sich nicht sicher nachvollziehen, vermutlich wurde in den Gasthäusern übernachtet und der Tag im Gewölbe verbracht, auch
64 StadtAN, E 8, Handelsvorstand, Nr. 3928, o. f. Die Akten sind auf den Juli 1651 und März 1652 datiert. 65 StadtAN, E 8, Handelsvorstand, Nr. 3928, o. f. 66 StadtAN, E 8, Handelsvorstand, Nr. 4082, o. f. 67 StadtAN, E 8, Handelsvorstand, Nr. 3931, o. f.
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um die aufwändige Arbeit des ständigen Kontrollierens und Sortierens durchzuführen. 1682 baten die italienischen Kaufleute den Rat um Hilfe, um ihre Waren aus der Seuchenquarantäne der spanischen Regierung in Mailand heraus zu bekommen. Der Rat holte daraufhin eine Stellungnahme der nach Italien handelnden Kaufleute ein, die nach ihren Äußerungen zum Sachverhalt die Bemerkung anschlossen: 68 „Es sey ehe deme von Ihnen hießigen Burgern viel=faltig geklagt worden, daß diese in dem Schutz alhier sich enthaltende Italiäner fast alle Handlung und Com[m]siones in Italien aus der Burger Hände, und an sich gezogen, weilen aber auf solche Klagen Ihnen keine Verhülfe gedyen, müßten sie es wohl dabey bewenden laßen.“
Wohl infolgedessen, wenn auch erst ein Jahr später, forderte der Rat beim Bancoamt als zuständiger Marktaufsicht einen Bericht wegen der unbefugten Vermehrung und Ausbreitung der italienischen Händler und zu den Möglichkeiten, diese fremden Praktiken abzustellen, an. 69 Im Januar 1684 stellte dann ein Bericht fest, dass die Casaden der „Welschen“ zum großen Nachteil des Handelsplatzes sehr viele „Compagnons“ hätten, ebenso sehr viele Diener und Jungen, die sie auf dem Land umher schicken könnten. Daher solle man die Italiener einschränken, damit sie nicht so viele Gesellschafter aufnähmen, um so ihre Gesellschaften permanent fortzuführen, ohne dass diese abgehen könnten, während sie zugleich versuchten, diese durch die vielen Kapitalien zu verstärken. 70 Ein anderer Bericht kam zu dem Ergebnis, dass nicht sieben, sondern zehn „Casaden“ ein Konto beim Banco publico, der Nürnberger Wechselbank für den Großhandel, 71 hätten und man doch jede „Casade“ mit ihren Gesellschaftern genau registrieren solle. 72 Hintergrund dieser Vorwürfe scheint ein Konkurs einer der Gesellschaften zu sein. In diesem Zusammenhang wurde die Behauptung aufgestellt, die Verantwortlichen seien verschwunden und hätten viele Tausend Reichstaler Schulden hinterlassen, während andere Italiener ihre Geschäfte übernehmen würden, obwohl sie nicht sehr vermögend seien. Sowohl den Gesellschaftern der in Konkurs gegangenen Gesellschaft wie den Italienern generell wurde vorgeworfen, dass sie städteübergreifend intransparente Netzwerke von Handelskompanien betreiben würden. Außerdem würden sie die Geheimnisse der Handwerke ausforschen. Wenn man ihre verdeckten und nicht immer gleich ins Auge fallenden Vorteile zusammenstellen würde, dann käme heraus, dass sie ihre Waren um etliche Prozente wohlfeiler als andere zum Verkauf brächten. 73 Eine Untersuchung der Personen ergab, dass etliche der 68 StadtAN, E 8, Handelsvorstand, Nr. 3940, o. f., 06./07.10.1682. 69 StadtAN, E 8, Handelsvorstand, Nr. 3940, o. f., 27.11.1683. Zum Bancoamt WILHELM SILBERSCHMIDT: Die Entstehung des deutschen Handelsgerichts, Leipzig 1894, S. 90–98; THEODOR HEERDEGEN: Das Merkantil-, Friedens- und Schiedsgericht der Stadt Nürnberg. Juristische Dissertation Erlangen, Nürnberg 1897, S. 13–19. 70 StadtAN, E 8, Handelsvorstand, Nr. 3940, o. f., 18.10.1684. 71 MARKUS A. DENZEL: Der Nürnberger Banco Publico, seine Kaufleute und ihr Zahlungsverkehr, Stuttgart 2012 (VSWG-Beiheft 217). 72 StadtAN, E 8, Handelsvorstand, Nr. 3940, o. f., 18.10.1684. 73 StadtAN, E 8, Handelsvorstand, Nr. 3940, o. f.
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älteren Inhaber entweder verstorben oder abgewandert waren und jüngere die Geschäfte übernommen hatten. In einer Aufstellung wurden dann unter Angabe der Referenzseite des Verzeichnisses des Unbürgeramtes der Zeitpunkt des Erwerbs des Status des Schutzverwandten, die beteiligten Gesellschafter sowie die Diener und Jungen aufgeführt. In einem Fall scheint der Wechsel der Gesellschafter dem Unbürgeramt nicht angezeigt worden zu sein. Die Größe der Gesellschaften belief sich auf zwei bis drei Inhaber und ebenso viele Diener und Knaben, wobei nicht alle Personen permanent in Nürnberg anwesend waren. 74 Von besonders großen und unübersichtlichen Gesellschaften kann demnach nicht die Rede sein. Vielmehr scheinen die flexiblen, städteübergreifenden Geschäftsbeziehungen unter den Italienern bzw. deren anscheinend dichte Ökonomie sozialer Beziehungen zu Irritationen geführt zu haben. In Folge dieser Auseinandersetzungen erließ der Rat zum Jahreswechsel 1688/89 erneut eine Ordnung für die italienischen Händler und reduzierte die zugelassenen Kompanien bzw. „Casaden“ auf vier. 75 Die Nürnberger Spezereihändler, die auch gegen andere vermeintliche oder tatsächliche illegitime Konkurrenten Konflikte führten, 76 sahen in den italienischen Kaufleuten offensichtlich eine irreguläre Konkurrenz, die in die Schranken zu weisen war. Vermutlich nicht ganz zu Unrecht verwiesen die Italiener darauf, dass ihre Interessen auf gänzlich andere Märkte gerichtet waren als die der Spezereihändler. Während die Spezereihändler auf den Detailhandel mit Gewürzen, Rosinen und Zucker ausgerichtet seien, würden sie vor allem Früchte und Lebensmittel en gros verkaufen. Zum Teil würden Spezereihändler auch bei ihnen größere Mengen einkaufen. Insofern handelte es sich nicht um einen einfachen Ressourcenkonflikt um Marktanteile, wobei sich nicht klären lässt, inwiefern die italienischen Händler das Verbot des Einzelhandels überschritten haben. Neben dem zulässigen Verkauf der vom Verderben bedrohten Waren scheint es einen gewissen Handel mit kleinen Mengen gegeben zu haben. Bei den meisten Fernhandelsgesellschaften war dies jedoch nicht das Hauptgeschäft und, wie die Italiener selbst erläutern, von Aufwand, Umsatz und Ertrag her nur begrenzt attraktiv. Möglicherweise wurden die Waren auch weitgehend innerhalb der Netzwerke der Italiener gehandelt und nur am Ende der Distributionskette über die Märkte des Einzelhandels vertrieben. Wie die italienischen Kaufleute selbst erläuterten, wickelten sie ihren Handel mit größeren Gebinden ab und mussten sich um die Qualität ihrer Ware intensiv kümmern, was anscheinend erhebliche Arbeitskraft gebunden hat, die für einen extensiven Einzelhandel fehlte. Anhand des Aufwands, den die Italiener hinsichtlich der Wahrung der Produktqualität trafen, wird deutlich, welche produktspezifischen Schwierigkeiten im Lebensmittelhandel auftreten und dass die Waren nicht ohne weiteres in standardisierten Gebinden vertrieben werden konnten. Andererseits gehörten Qualitätskontrollen und Nachsor-
74 StadtAN, E 8, Handelsvorstand, Nr. 3940, o. f., 25.01.1684. 75 Vgl. den Abdruck bei ROTH, Geschichte (wie Anm. 57), S. 202–204. 76 In StadtAN, E 8, Handelsvorstand, finden sich eine Reihe weiterer Fälle in denen die Spezereihändler sich abgrenzten. Vgl. auch ROTH, Geschichte (wie Anm. 57), S. 195–207.
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tierungen zu den üblichen Praktiken des frühneuzeitlichen Handels. 77 Wo die Waren en gros hin verkauft wurden und über welche Märkte, bleibt eher unklar. Daher lässt sich auch nicht eindeutig entscheiden, ob diese Waren über Status- oder Standardmärkte gehandelt wurden und welche Art der sozialen Beziehungen den Geschäften zugrunde lag. Wegen der notwendigen Sorgfalt zum Erhalt der Produktqualität dürfte die persönliche Zuverlässigkeit der Akteure auch bei standardisierten Warengebinden wichtiger als bei unverderblichen Gütern gewesen sein, und die Lebensmittel konnten nicht als völlig anonyme Ware gehandelt werden. Die gezielte gesellschaftliche Exklusion der Italiener wird im restriktiven Wohnrecht deutlich, das nur das Wohnen in öffentlichen Wirtshäusern zuließ. In einigen Beschwerden wurde nicht nur die Zunahme der Italiener beklagt, sondern auch die Gefahr beschworen, dass diese sich festsetzen und die Einheimischen verdrängen sowie die katholische Religion verbreiten würden. Andererseits scheinen die italienischen Kaufleute mit jenen Faktoren zusammengearbeitet zu haben, die den Fruchthandel nach dessen Unterbrechung durch die Schweden wieder aufgenommen hatten, und einige Bürger scheinen durchaus bereit gewesen zu sein, ihre Wohnräume und Häuser zu vermieten. Da ein Teil der italienischen Kaufleute oft auf längeren Reisen unterwegs war, könnte die Einbindung in die städtische Gesellschaft auch dadurch begrenzt gewesen sein. Unter dem Gesichtspunkt einer Ökonomie sozialer Beziehungen ist die wiederkehrende Behauptung von Interesse, die Italiener würden große Handelsgesellschaften betreiben und auf dieser Grundlage unlauteren Geschäften nachgehen und große Kapitalien anhäufen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass selbst der für die Gewerbe Nürnbergs existenziell notwendige Warenexport, den die Italiener in die Lombardei betrieben, kritisch und zum Nachteil der Nürnberger dargestellt wurde. Möglicherweise betrieben die Italiener diesen Handel mit Metallwaren aller Art sowie mit Kämmen, Federn und Federkielen, weil sich nur so eine ausgeglichene Handelsbilanz erzielen ließ, da ein Ausgleich durch den Nürnberger Eigenhandel nicht stattfand bzw. aus Sicht der Nürnberger Händler von den Italienern durch die Größe ihrer Handelsgesellschaften verhindert wurde. Sämtliche Aufstellungen des Rates ergeben keine besonders großen Gesellschaften, und die Darstellungen der Italiener selbst verweisen eher auf wenige geographisch weitläufig operierende Akteure. Vermutlich waren es genau diese sozialen Beziehungen, die auf Herkunft, Verwandtschaft und gemeinsamen Handelsgesellschaften basierten, mit denen die Italiener möglicherweise sehr viel flexibler und koordinierter im europäischen Maßstab operieren konnten, als es anscheinend den meisten Nürnberger Händlern möglich war. Dies wird auch an der Bezeichnung der italienischen Gesellschaften als „Casaden“ deutlich, die vom italienischen casata abgeleitet ist und hier wohl im Sinne von Verwandtengruppe zu verstehen ist. Darin kam vermutlich die Vorstellung zum Ausdruck, dass hinter den vor Ort tätigen Vertretern der Handelsgesellschaften größere Verwandtschaftsnetzwerke standen, die den italienischen Kaufleuten die Möglichkeit gaben, ökonomisch und strategisch zu Ungunsten der Nürnberger Spezereihändler zu agieren. In diesem 77 REYNARD, Manufacturing Quality (wie Anm. 46).
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Zusammenhang ist interessant, dass sich Jobst Christoff Peller (1638–1709) als Marktvorgeher und Vertreter einer der größten deutschen Handelsgesellschaften im Italienhandel in einer eigenen Stellungnahme zur Quarantänefrage im Gegensatz zu den anderen Nürnberger Kaufleuten jeder Polemik gegen die Italiener enthielt. 78 Nicht nur im überregionalen, sondern auch im lokalen Maßstab scheinen die sozialen Beziehungen der Italiener ausreichend gewesen zu sein, um das verbliebene Vermögen aus dem Konkurs einer der Gesellschaften zu erwerben und die Geschäfte weiterzuführen. 79 Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass die Darstellung in den Akten parteilich darauf ausgerichtet war, unseriöse Praktiken hervorzuheben, während die Geschäfte der Italiener untereinander nach einem Konkurs möglicherweise nicht ganz so reibungslos verliefen. Aus Sicht der klagenden Nürnberger Händler war diese Ökonomie sozialer Beziehungen eine Ressource, auf die die Italiener zurückgreifen konnten, um sie zum Nachteil der Nürnberger Händler einzusetzen, und die es deshalb zu beschränken galt. Dennoch muss das Geschäft für die Italiener so attraktiv gewesen sein, dass es trotz der wiederkehrenden Anfeindungen auf Dauer lukrativ erschien. In einem Teil der Stellungnahmen und zum Teil auch mit ihren Praktiken ließen die Italiener deutlich werden, dass sie die engen Regulierungen als unangemessen empfanden, zumal sie aus ihrer Sicht zum Wohl der Stadt beitrugen. Gegenüber anderen Gruppen von Händlern waren die italienischen Kaufleute ihrerseits wenig tolerant, denn sie distanzierten sich explizit von den Tiroler Wanderhändlern und befürworteten eine Verfolgung des Hausierhandels. In diesem Punkt verfolgten sie ähnliche Strategien wie die Spezereihändler. 3.2 Savoyardische Textilhändler am Hochrhein Der Umgang mit den Italienern in Nürnberg war nicht ungewöhnlich. 80 Im späten 18. Jahrhundert wurde den aus Savoyen stammenden und im Hochrheingebiet tätigen Perrollaz-Cartier ebenfalls unterstellt, sie würden mit ihrem Textilhandel und den damit verbundenen Kundenkrediten die regionale Wirtschaft nachteilig dominieren. 81 Außerdem würden sie durch die Einfuhr auswärts produzierter Tex78 StadtAN, E 8, Handelsvorstand, Nr. 3940, o. f., 10.10.1682. Der Gründer der Gesellschaft Bartholomäus Viatis war selbst aus Italien zugewandert und Nürnberger Bürger geworden; vgl. GERHARD SEIBOLD: Die Viatis und Peller. Beiträge zur Geschichte ihrer Handelsgesellschaft, Köln/Wien 1977 (Forschungen zur internationalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 12). Das im frühen 17. Jahrhundert erbaute Pellerhaus war sehr prunkvoll angelegt; vgl. DIETER BÜCHNER: Das „Schöne Zimmer“ aus dem Pellerhaus. Ein bürgerlicher Repräsentationsraum im Nürnberg des frühen 17. Jahrhunderts, Nürnberg 1995 (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 55). 79 StadtAN, E 8, Handelsvorstand, Nr. 3940, o. f., o. D. [ca. 1684/1685]. 80 Vgl. auch MIDDELL, „En gros“ und „en détail“ (wie Anm. 43). 81 Generallandesarchiv Karlsruhe, Akten Breisgau Generalia 79/710 und 79/717. Die negative Darstellung wurde von EBERHARD GOTHEIN: Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes und der angrenzenden Landschaften, Bd. 1 [mehr nicht erschienen], Straßburg 1892, S. 740–41, in die Geschichtsschreibung übernommen und ungeprüft bis in die neuere Forschung fortge-
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tilien und den Transfer der Gewinne nach Savoyen der Wirtschaft des Landes schaden. Ein Bericht des Obervogtamtes Laufenburg, wo die Gesellschaft ihre Niederlassung hatte, ergab jedoch, dass in der Region praktisch keine lokalen Anbieter von Waren ansässig waren, neben dem Textilhandel der Perrollaz würden nur die Brentano italienische Spezialitäten anbieten. 82 Die vorderösterreichische Regierung in Freiburg am Breisgau stellte daraufhin verschiedene Überlegungen an, wie die Perrollaz besser in die Binnenwirtschaft eingebunden oder vertrieben und einheimische Kaufleute angesiedelt werden könnten, um am Ende feststellen zu müssen, dass sie praktisch keine Handhabe hatte. Die Perrollaz-Cartier setzten ihren Handel jahrzehntelang fort, und eine Auswertung ihrer Geschäftsbücher ergibt auch in diesem Fall, dass es sich nicht um eine große Handelsgesellschaft handelte, sondern um ein Konglomerat kleinerer Handelsgesellschaften mit begrenzter regionaler Reichweite. 83 Dennoch wurde auch hier die Ökonomie sozialer Beziehungen über große Distanzen mit Misstrauen und als illegitime Verfügung über Ressourcen betrachtet und über Verfolgung nachgedacht. Wie prägend unterschiedliche Ökonomien sozialer Beziehungen sein können, lässt sich an den Geschäftsbüchern der Perrollaz-Cartier ablesen. 84 Für den en gros-Einkauf von Textilien auf den Zurzacher Messen führten sie ein sauber geschriebenes Buch mit doppelter Buchführung, das eine kontinuierliche Kontrolle der Schuldverhältnisse ermöglichte. Hier ging es offensichtlich darum, professionell auf einem Business-to-Business-Markt des Großhandels zu operieren und hinsichtlich der Geschäftsbeziehungen keine Unsicherheiten hinsichtlich der Kreditwürdigkeit aufkommen zu lassen. Ganz anders sehen die Bücher aus dem Einzelhandel mit den Kunden im Umland von Laufenburg aus. Zwar wurde von sämtlichen Kundinnen und Kunden, die auf Kredit Stoffe gekauft hatten, ein kontinuierliches Journalkonto geführt, die chronologisch angeordneten Einträge können sich jedoch über verschiedene Seiten erstrecken, je nachdem wo gerade Platz war. Eine kontinuierliche Bilanzierung war so nicht möglich, sondern die Konten schrieben, vgl. z. B. FRANZISKA RAYNAUD: Savoyische Einwanderungen in Deutschland (15. bis 19. Jahrhundert), Neustadt a. d. Aisch 2001, S. 8, 73f. 82 Diese Konstellation scheint zumindest in Süddeutschland nicht so ungewöhnlich gewesen zu sein, vgl. auch SHEILAGH OGILVIE/MARKUS KÜPKER/JEANNINE MAEGRAITH: Krämer und ihre Waren im ländlichen Württemberg zwischen 1600–1740, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 59, 2 (2011), S. 54–75. 83 Schweizerisches Wirtschaftsarchiv (SWA) Handschriften (HS) 210; MARK HÄBERLEIN: Savoyische Kaufleute und die Distribution von Konsumgütern im Oberrheingebiet, ca. 1720– 1840, in: Geschichte des Konsums. Erträge der 20. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozialund Wirtschaftsgeschichte, 23.–26. April 2003 in Greifswald, hg. v. ROLF WALTER, Stuttgart 2004 (VSWG-Beiheft 175), S. 81–114, 94–96. 84 Das Folgende basiert auf SWA, HS 210. Eine ausführlichere Darstellung erfolgt in CHRISTOF JEGGLE: Provisioning the Countryside. The Retail Sale of Textiles of the Perrollaz-Cartier in Laufenburg / Rhine around 1800, in: Il commercio al minuto. Domanda e offerta tra economia formale e informale, secc. XI–XVIII / Retail Trade. Supply and Demand in the Formal and Informal Economy from the 13th to the 18th Centuries, Istituto Internazionale di Storia Economica „F. Datini“, Prato, Atti della XLVI Settimana di Studi, 4–7 maggio 2014, hg. v. SIMONETTA CAVACIOCCHI, Florenz 2015, S. 403–419.
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wurden vermutlich regelmäßig überprüft und auf eigenen Aufstellungen bilanziert. Die Firma unterhielt zum Teil sehr langfristige Geschäftsbeziehungen mit ihrer Kundschaft. Das soziale Spektrum des Kundenkreises war sehr breit, Männer wie Frauen aus unterschiedlichen sozialen sozialen Gruppen waren Kundinnen und Kunden der Perrollaz-Cartier, denen anscheinend eine ausreichende Bonität – deren Kriterien in den Unterlagen nicht expliziert wurde – ausreichte, um Geschäftsbeziehungen einzugehen. Vielleicht genügte der mögliche Rechtsweg als ausreichende Sicherheit, denn in manchen Fällen ließ die Gesellschaft Schulden durch die jeweils zuständigen Amtsleute exekutieren. Die Kriterien für diesen Schritt gehen aus den Unterlagen nicht hervor, in einzelnen Fällen unterstützten die Behörden die Betroffenen in den Konflikten. In einem Fall finanzierte eine Witwe ihre Rückzahlungen aus den Raten, die sie von den Brentano für den Verkauf ihres Hauses erhielt. 85 Diese Geschäftsbeziehungen können als Teil der in der Frühen Neuzeit üblichen Kreditbeziehungen gesehen werden, die stark von sozialen Beziehungen geprägt waren und in diesem Fall über die Kreditbeziehungen einer Kundin die beiden Handelsgesellschaften indirekt in Verbindung brachten. Im Einzelhandel waren die Geschäftsbeziehungen der Perrollaz-Cartier nicht offensichtlich geschlechterdifferenziert – so lange bezahlt wurde, war ihnen jeder Kunde und jede Kundin einschließlich Dienstboten und -botinnen recht. In einzelnen Fällen wurden die Perrollaz-Cartier von Bedürftigen um Hilfe durch einen Kredit oder dessen Verlängerung gebeten. Es ist nicht ersichtlich, wie sie reagierten. Die Verflechtungen vor Ort umfassten auch Schneider, die zum Teil direkt für Kundenaufträge beliefert wurden. Leider lässt sich der von der Regierung erhobene Vorwurf des Kapitaltransfers nach Savoyen nicht überprüfen, verwandtschaftliche Beziehungen nach Savoyen lassen sich vereinzelt erkennen. 4 SCHLUSS Nachdem eine Substituierung der Perrollaz-Cartier mit einer einheimischen Gesellschaft nicht realistisch war und aus Sicht der Regierung der Bedarf der Bevölkerung mit einer adäquaten Ressourcenversorgung bedient werden sollte, wurden die Perrollaz-Cartier bei ihrer Niederlassung trotz der behördlichen Untersuchungen nicht behindert, vielmehr gingen die strategischen Interessen der Regierung dahin, diese aus fiskalischen Interessen in die lokale Gesellschaft zu integrieren. Im Gegensatz zu Nürnberg fehlten lokale Einzelhändler, die eine ungebührliche Konkurrenz geltend machten. Die Italiener in Nürnberg bedienten zwar auch einen anerkannten Mangel an spezifischen Ressourcen, sie wurden jedoch, auch aufgrund ihrer weitläufigen sozialen Beziehungen über die Stadt hinaus, ständig als illegitime Konkurrenz betrachtet, weshalb auf die Forderungen der Spezereihändler hin seitens der städtischen Obrigkeiten kontinuierlich versucht wurde, ihre Einbindung in die städtische Gesellschaft zu begrenzen. Diese Ausgrenzung könnte auch dazu geführt haben, dass die Italiener untereinander stärker kooperierten, 85 SWA, HS 210, Bd. A, Nr. 61, 16.08.1808.
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als sie es sonst getan hätten, was wiederum den Argwohn der Nürnberger Händler verstärkt haben könnte. Da sie – zumindest nach eigenem Bekunden – im Großhandel tätig waren, der sich auf die beteiligten Kaufleute mit den Usancen des Business-to-Business-Handels beschränkte, kamen die bei den Perrollaz-Cartier zu beobachtenden, für den Einzelhandel typischen sozialen Beziehungen mit den Kunden nicht zu Stande. Leider lassen sich die Geschäftsbeziehungen mit den Nürnberger Handwerkern bislang nicht nachvollziehen, die zumindest potentiell ebenfalls von einer Ökonomie sozialer Beziehungen geprägt gewesen sein dürften. Die Beispiele zeigen, dass es für die Analyse frühneuzeitlicher Ökonomien wichtig ist, Kaufleute und Märkte weder als Repräsentanten der ‚eigentlichen‘ Wirtschaft isoliert oder privilegiert zu betrachten, denn die Systeme des Businessto-Business-Handels basierten an ihren Kanten auf den Beziehungen mit lokalen Ökonomien und deren Angebot von und ihrer Nachfrage nach Ressourcen. Noch sollten die vielfältigen Formen der Ökonomien sozialer Beziehungen im situativen Kontext als Untersuchungsgegenstand grundsätzlich von Kaufleuten und Märkten unterschieden werden, sondern vielmehr ist nach den Beziehungen zwischen den verschiedenen Figurationen wirtschaftlicher Interaktion zu fragen. Verwandtschaftliche Ökonomien sozialer Beziehungen waren die Grundlage fast jeder Handelsgesellschaft, und die meisten Menschen der Frühen Neuzeit agierten als Anbieter und Käufer auf Märkten, wobei ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten dort untrennbar mit den Ressourcen ihrer Ökonomien sozialer Beziehungen verbunden waren.
RESSOURCEN IM TRANSFER
STATUS-ÖKONOMIE. NOTWENDIGE INVESTITIONEN UND ERHOFFTE RENDITEN IM HÖFISCHEN ADEL DER BAROCKZEIT Andreas Pečar 1 AUF DER SUCHE NACH EINER ÖKONOMIE DES HOFADELS In der Moderne steht der homo oeconomicus für das Modell eines Menschen, der nach Nutzenmaximierung strebt und dementsprechend stets rational kalkuliert, welche Ausgaben nutzbringend sein könnten und daher sinnvolle Investitionen darstellen, und welche Ausgaben Kosten darstellen, die man eher vermeiden sollte. Meist wird dem homo oeconomicus das Kalkül einer Profitmaximierung unterstellt. Der Nutzen bemisst sich also wesentlich in der Steigerung der finanziellen Ressourcen. Erfolg lässt sich in dieser Taxonomie in erster Linie messen an der Menge des verfügbaren ökonomischen Kapitals und der Fähigkeit, dieses Kapital zu steigern. Dieses Modell ist von vielen Seiten mit guten Argumenten als zu reduktionistisch angegriffen worden. 1 Gleichwohl liefert es für unsere Fragestellung gute Stichworte: Unterstellen wir, dass auch die Mitglieder des Hofadels kalkulierende Menschen waren, die ihre Ressourcen zielgerichtet eingesetzt haben, um damit einen für sie besonderen Nutzen zu erreichen, so ergeben sich aus dieser Prämisse folgende Fragen: Welches Ziel wurde seitens des Hofadels angestrebt? Welche Mittel wurden als Ressourcen verstanden und auf welche Weise eingesetzt, also investiert? Welche Rolle spielt in diesem Kosten-Nutzen-Kalkül das Verhältnis zwischen materiellen und immateriellen Gütern? Handelte es sich bei diesem Kosten-Nutzen-Kalkül um eine gruppenspezifische Rationalität des Hochadels, und falls ja, auf welche Weise wurde diese Rationalität in der Gruppe produziert, kommuniziert und weitergegeben? All diese Fragen lassen sich letztlich in einer einzigen Frage zusammenfassen: Gab es eine spezifische Ökonomie des höfischen Adels? Dieser Frage möchte ich anhand zweier prominenter Höfe des späten 17. und des 18. Jahrhunderts nachgehen, anhand des französischen Königshofs von Versailles und des habsburgischen Kaiserhofs in Wien. 1
Vgl. GEBHARD KIRCHGÄSSNER: Homo oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 3. erw. Aufl., Tübingen 2008; MANFRED TIETZEL: Die Rationalitätsannahme in den Wirtschaftswissenschaften, oder: Der homo oeconomicus und seine Verwandten, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft 32 (1981), S. 115–138; HANS JÜRGEN SCHLÖSSER: Das Menschenbild der Ökonomie. Die Problematik von Menschenbildern in den Sozialwissenschaften – Dargestellt am Beispiel des homo oeconomicus in der Konsumtheorie, Köln 1992.
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Es war eines der zentralen Anliegen des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, die Reduzierung des Kapitalbegriffs auf rein ökonomische Ressourcen zu kritisieren und stattdessen für einen erweiterten Kapitalbegriff einzutreten, der neben materiellen Gütern auch immaterielle Güter in die Kalkulation mit einbezieht. 2 Bourdieu unterscheidet dabei zwischen ökonomischem Kapital, sozialem Kapital und kulturellem Kapital. Ökonomisches Kapital umfasst Geld und Vermögenswerte jeglicher Art. Soziales Kapital meint die gesellschaftlichen Kreise, in denen man verkehrt, die Kontakte, über die man verfügt, und die Handlungschancen, die sich einem eröffnen, weil man diese Kontaktnetze hat und andere nicht. Kulturelles Kapital erwirbt man sich schließlich durch die Aneignung kulturellen Wissens, was sich zum einen in formalen Bildungstiteln und Abschlusszeugnissen niederschlagen kann, sich zum anderen aber auch im Lebensstil einer Person dokumentiert. Das kulturelle Kapital ist in bestimmten Milieus notwendige Bedingung der Zugehörigkeit. Drei Dinge sind bei Bourdieus aufgefächertem Kapitalbegriff besonders hilfreich zur Analyse auch vormoderner Eliten wie dem Hofadel. Erstens stellt sich stets die Frage nach der Übertragbarkeit des Kapitals: Lässt sich das Kapital einfach von Person zu Person weitergeben, zum Beispiel durch Schenkung oder Erbschaft, oder muss sich jede Person aufs Neue dieses Kapital aneignen, zum Beispiel durch länger dauernde Sozialisations- und Lernprozesse? Für jede der genannten Kapitalsorten wird man diese Frage anders beantworten müssen. Ökonomisches Kapital lässt sich vererben und damit an die nachfolgende Generation weitergeben. Soziales Kapital, das heißt die Kontaktnetze und der Grad der Verflechtung einer Familie, kann ebenfalls über Generationen Bestand haben, bedarf aber der kontinuierlichen Pflege und der Investition von Zeit, bedarf eines dementsprechenden Heiratsverhaltens etc. Kulturelles Kapital muss individuell angeeignet werden. Auch wenn hier die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu dies vereinfachen mag, müssen Bildungstitel, müssen Wissensinhalte individuell erworben werden. Nicht jede Kapitalsorte lässt sich also vererben. Vielmehr können bestimmte Kapitalsorten nur durch individuelle Anstrengungen, durch den länger dauernden Einsatz von Zeit, Geld, und Mühe erworben werden. Damit ist zweitens das Phänomen der Konvertierbarkeit der Kapitalsorten bereits angesprochen. Um soziales Kapital erwerben oder aufrechterhalten zu können oder um kulturelles Kapital zu erwerben, bedarf es einer bestimmten Menge ökonomischen Kapitals als Voraussetzung. Geld kann also unter zusätzlichem Einsatz von Zeit und den jeweiligen sozialen Beziehungen gemäßen Praktiken ‚konvertiert‘ werden in andere Kapitalsorten. Soziale Kontakte können ebenso wie die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu oder das Vorhandensein von Bildungstiteln Erwerbschancen eröffnen und damit wiederum hilfreich sein, um Geld zu erwerben. Über die grundsätzliche Frage, welche der Kapitalsorten je-
2
PIERRE BOURDIEU: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Soziale Ungleichheiten, hg. v. REINHARD KRECKEL, Göttingen 1983 (Soziale Welt, Sonderband 2), S. 183–198.
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weils in welchen Milieus besonders begehrt war und die größten Distinktionsgewinne abwarf, ist damit noch nichts ausgesagt. Und drittens demonstriert Bourdieu mit seiner Auffächerung des Kapitalbegriffs eine soziale Logik menschlichen Handelns, die zwar dem homo oeconomicus vergleichbar Aufwand und Nutzen gegeneinander abwägt. Hierbei geht es aber nicht um ökonomische Profitsteigerung als Selbstzweck, sondern um ein anderes kostbares Gut: um Statusgewinne, um die Möglichkeit sozialer Distinktion, um Zugehörigkeit zu bestimmten Kreisen und Abgrenzung von anderen, um Exklusivität. 3 Geld ist hierfür eine notwendige Voraussetzung, aber kein Selbstzweck, nicht das Ziel allen Strebens. Der höfische Adel scheint in besonderer Weise eine Elitenformation zu verkörpern, die sich dem Ziel verschrieben hat, alle drei Kapitalsorten vor allem zu dem Zweck zu akkumulieren, um symbolisches Kapital zu erwerben und dieses Kapital möglichst auf Dauer zu sichern. Gleichwohl lässt sich Bourdieus für die Analyse der Gegenwartsgesellschaft konzipiertes Kapitalmodell nicht einfach auf den höfischen Adel übertragen, sondern es bedarf dafür der Modifikation. Welche Kategorien in die Untersuchung mit einbezogen werden müssen, gilt es in diesem Beitrag zu prüfen. Dabei wird zunächst exemplarisch ein Mitglied des Hochadels zu Wort kommen, der seinem Sohn und Nachfolger mehrere umfangreiche Verhaltenslehrschriften vorgelegt hat (Kap. 2). Diese Verhaltenslehren geben bereits einen Einblick in das Selbstverständnis und die kulturelle Identität des Hochadels. Dann geht es um den Hof als gewählten Lebensmittelpunkt und die Gründe dafür, die zurückgeführt werden auf eine für den höfischen Adel spezifische KostenNutzen-Rechnung (Kap. 3). Dabei wird auch eine Rolle spielen, dass die Selbstdarstellung des Hofadels nach anderen Kriterien funktionierte als die Verhaltenspraxis am Hof (Kap. 4). Zum Schluss wird es dann darum gehen, das spezifische Kosten-Nutzen-Kalkül des Hofadels auf den Begriff zu bringen (Kap. 5). 2 RATSCHLÄGE EINES HAUSHERRN: DIE LEHRSCHRIFTEN DES KARL EUSEBIUS VON LIECHTENSTEIN Dem Fürsten Karl Eusebius von Liechtenstein verdanken wir eine umfangreiche Instruktionsschrift, mit der er seinem Sohn und Nachfolger, dem Prinzen Johann Adam von Liechtenstein, Verhaltensratschläge erteilte. 4 Außerdem verfasste Karl Eusebius eine Schrift über die Notwendigkeit der Errichtung repräsentativer Bau-
3
4
Vgl. hierzu auch PIERRE BOURDIEU: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1989, S. 104–114, 298–310, 322–330, 748–752; DERS.: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main 1987, S. 205–221; DERS.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main 1998, S. 108–115. HAL Vaduz, Sign. VA 5-2-2: Instruction des Karl Eusebius von Liechtenstein für seinen Nachfolger Johann Adam Andreas (ca. 1680).
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werke, sein Werk von der Architektur. 5 Nimmt man beide Verhaltenslehren zusammen, erhält man eine umfassende Darlegung über Karl Eusebius’ Vorstellungen von Rationalität, über sein Kosten-Nutzen-Kalkül. Der Einsatz von Geld wird von Karl Eusebius durchaus thematisiert: Er unterscheidet „nutzliche Capitalia“, „Spesen“ mit „emolumentum“, also Ausgaben, die Nutzen und Gewinn nach sich ziehen und „Spesen“, die „blosse ausgaab“ seien. 6 Als nützliches Kapital versteht der Fürst Gelder, die zurückgelegt werden, um mit deren Zinsen die Apanage für die nachgeborenen Söhne bezahlen zu können. Da die Güter in Familienhand stets ungeteilt dem Ältesten vermacht wurden und die nachgeborenen Söhne sich daher nicht von den Gütern ernähren konnten, waren für sie jährliche Zuwendungen vorgesehen, mit denen sie ein standesgemäßes Leben führen konnten. 7 Damit diese Zahlungen nicht den Kapitalstock des Familienbesitzes aufzehrten, hatte die Familie für diese regelmäßigen Ausgaben ein bestimmtes Vermögen bereitzustellen. Der Nutzen dieser Rückstellung bemaß sich also daran, dass dadurch der Familienbesitz selbst geschont werden konnte. Interessant sind auch die Auslassungen des Fürsten zu Spesen mit Gewinnaussicht, also zu den in seinen Augen sinnvollen Investitionen. Darunter versteht er Ausgaben in „denkwürdige Sachen“, mit denen sich „Ruhm und Nutzen“ der Familie steigern lasse. Die erhofften oder angestrebten Gewinne sind also nicht materieller Natur, sondern zielen auf Status- und Prestigegewinne. Der Nutzen bemisst sich hierbei nicht in Geld, sondern am Ruhm. Was damit genau gemeint sein könnte, wird in der Beschreibung seines Architekturtraktats noch deutlich werden. Besonders eigentümlich ist die Einschätzung des Fürsten, was er als nutzlose Spesen, also als bloße Ausgaben abqualifiziert. Damit beschreibt er die Lebensform des höfischen Amtsträgers in kaiserlichen Diensten, vor der er seinen ältesten Sohn dringend warnt. Zum einen würde er durch seine Abwesenheit von seinen Gütern die Aufgaben als Hausherr vernachlässigen und damit dem Familiennutzen zuwiderhandeln. Zum anderen würde eine Amtsträgerschaft in kaiserlichen Diensten „ein gar zu grosse Summa geldts erfordern“, da ein solcher Dienst am Kaiserhof es notwendig mache, in der Residenzstadt dauerhaft Hof zu halten und den eigenen fürstlichen Status angemessen zu repräsentieren. 8 Die Warnung vor einer Bekleidung kaiserlicher Ämter war aber nicht gleichbedeutend mit einer Warnung vor einer Präsenz am Kaiserhof generell, im Gegenteil. Der Fürst empfiehlt seinem Sohn ausdrücklich, sich zwei Mal im Jahr für ca. vier Wochen am Kaiserhof aufzuhalten und dort „dein unterthänigste Schuldigkeit deiner höchsten obrigkeit [zu] erweysen“. 9 Neben dieser Loyalitätsbekundung sei 5 6 7 8 9
Fürst Karl Eusebius von Liechtenstein als Bauherr und Sammler (1611–1684), hg. v. VICTOR FLEISCHER, Wien/Leipzig 1910 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Neuere Geschichte Österreichs 1). HAL Sign. VA 5-2-2: Instruction, S. 256f. HAL Sign. VA 5-2-2: Instruction, S. 335f. Für jeden nachgeborenen Sohn sah Karl Eusebius von Liechtenstein 6000 fl. Jahreszahlungen vor. HAL Sign. VA 5-2-2: Instruction, S. 256. HAL Sign. VA 5-2-2: Instruction, S. 257.
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es notwendig, sich im Kreis des Hofadels zu bewegen und dort als großzügiger Gastgeber in Erscheinung zu treten. Er schlägt seinem Nachfolger vor, in der Zeit der Aufenthalte in der Residenzstadt täglich einige Mitglieder des Hofes an der eigenen Tafel zu bewirten und dadurch wichtige Kontakte zu pflegen. 10 Die wohl nicht unerheblichen Kosten solcher Wienreisen einschließlich der empfohlenen Freigiebigkeit verbucht der Fürst augenscheinlich nicht unter den nutzlosen Ausgaben, sondern rechnet sie den Investitionen zu. Der Nutzen bemisst sich zum einen daran, kulturell auf dem Laufenden zu bleiben und „Mode“ und „gute maniren“ des Hofadels aus eigener Anschauung zu kennen. Zum anderen sind diese Residenzbesuche für das soziale Kapital, die Beziehungspflege unter den einflussreichen Familien am Hof, unverzichtbar. Auch die Demonstration politischer Loyalität gegenüber dem Kaiser erfordert offenkundig persönliche Präsenz in der Residenzstadt, und sei es auch nur während zweier Monate im Jahr. Misst man diese Verhaltensempfehlungen des Fürsten Karl Eusebius von Liechtenstein an seinen Sohn am Ideal des homo oeconomicus, so fallen sowohl Übereinstimmungen als auch Unterschiede ins Auge. Der Fürst lässt sich bei seinen Verhaltensvorschlägen ganz von einem Kosten-Nutzen-Kalkül leiten. Als Kosten schlagen bei ihm insbesondere zwei Faktoren zu Buche, nämlich Zeit und Geld – die Abwesenheit von den heimischen Gütern steht als Kostenpunkt der investierten Zeit in der Residenzstadt gegenüber. Der Nutzen des empfohlenen Verhaltens ist hingegen vielgestaltiger: In seinen Auslassungen über das ökonomische Kapital geht es vor allem darum, den Familienbesitz nicht zu schmälern, sondern wenn möglich zu erweitern. Doch daran allein wird das Verhalten seines Sohnes nicht gemessen. Dieser solle vielmehr auch das soziale Kapital der Familie erhalten und daher mit der höfischen Gesellschaft des Kaiserhofes Verbindung pflegen, auch wenn der Fürst eine formelle Mitgliedschaft in der kaiserlichen Hofgesellschaft und die damit einhergehende Präsenzpflicht am Hof für wenig erstrebenswert hält und allein bei den nachgeborenen Söhnen als denkbaren Lebensweg ansieht. Und schließlich müsse sein Nachfolger sich auch um das kulturelle Kapital regelmäßig bemühen, den kulturellen Code des Hofadels beherrschen, um sich hier unter Gleichen bewegen zu können. Sowohl die Pflege des sozialen als auch des kulturellen Kapitals machten regelmäßige Aufenthalte in der kaiserlichen Residenzstadt unerlässlich und verursachten beträchtliche Kosten, die der Fürst aber nicht nur für erlaubt, sondern sogar für notwendig erachtet, sie also als Investitionen ansieht. Investitionen sind für den Fürsten Karl Eusebius von Liechtenstein insbesondere diejenigen Ausgaben, die zum „Ruhm“ der Familie beitragen. Es geht also um Statusgewinne, um Distinktion und Auszeichnung der Familie, um symbolisches Kapital. Nichts trägt dazu in seinen Augen so sehr bei wie die Errichtung repräsentativer Bauten, mit denen der Familienname dauerhaft verbunden ist. Familienpaläste hätten einen doppelten Nutzen für den Bauherrn und seine Nachkommen:
10 HAL Sign. VA 5-2-2: Instruction, S. 257.
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Erstens erreiche der Schlossbau die größte Sichtbarkeit unter allen Investitionen in den eigenen Status. Mit der Architektur wird aber nicht nur ein Bauwerk sichtbar, sondern die Standesqualität des Bauherrn seiner Familie. Nur adligen Standespersonen komme es zu, Herrschaftsarchitektur zu bauen. 11 Wirkung habe das Bauwerk aber auf Personen aller Stände: Ein ansehnlicher Palast „ziechet und wendet aller Anschauen an sich, ob seiner Brachtigkeit und habenden Annehmlichkeit in sich […] der Vornehme und Witzige zu noch mehrerer Verwunderung die Kunst erkennent und ermessent, der Ungelehrte aber, wessen Standt er wehre, ob vorstehenden Bracht und Majestet mit Verwunderung gestellet und aufgehalten wiert“. 12
Mit der Sichtbarkeit des Bauwerks werden daher zugleich zahlreiche Unterschiede markiert: zwischen Bauherr und Betrachter, zwischen dem Kenner der angewandten Mittel, der die Kunstfertigkeit des Gebäudes zu bewundern vermag, und dem Unwissenden, der die Majestät des Bauwerks bestaunt. Für die Standesgenossen ist der Palastbau ein Ausweis dafür, dass der Bauherr über den kulturellen Code des höfischen Adels verfügt, er beweist damit Zugehörigkeit zur obersten Standeselite. Für den Gemeinen Mann zeigt sich daran die Herrschaftsqualität des Bauherrn, er erkennt an den Bauten die Legitimität seiner Herrschaftsstellung. Beide Botschaften – die der Zugehörigkeit zur geschmacksbildenden höfischen Adelselite und der Legitimität der eigenen Herrschaftsstellung – könnten nur Bauwerke und Kunstwerke vermitteln, nicht aber finanzielle Reichtümer, wie der Fürst mehrfach betont: „Geld kann jeder haben, dergleichen Gemahl [= Gemälde] aber nicht“ – da dem gemeinen Mann der Sinn für die nobilitierende Kraft seltener und hochrangiger Kunstwerke fehle, nicht notwendiger Weise aber auch das Geld dafür. 13 Nur der Transfer von ökonomischem Kapital in kulturelles Kapital ermöglicht die Herstellung zeichenhafter Unterschiede, erlaubt die Visualisierung von Status, von Standesqualität. Und zweitens führt Karl Eusebius von Liechtenstein als größten Nutzen eigener Bauwerke deren Dauerhaftigkeit an. Der Beweggrund für das Errichten von Familienpalästen sei „der unsterbliche Nahmen und Ruhm und ebige Gedechtnus, so von dem Structore hinterlassen wiert“ 14 – ein geradezu topisches Argument, das sich auch in den klassischen Lehrschriften zur Architektur wiederfindet. 15 Das Bauwerk wird beim Fürsten von Liechtenstein zu einem Erinnerungsort des Status und der Gloire der Bauherrnfamilie: es ginge darum, „Monumenta zu hinterlassen zue ebigen und unsterblichen Gedechtnus“. 16 Die Sichtbarkeit und die Dauerhaf-
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Liechtenstein als Bauherr, hg. v. FLEISCHER (wie Anm. 5), S. 94f. Liechtenstein als Bauherr, hg. v. FLEISCHER (wie Anm. 5), S. 91. Liechtenstein als Bauherr, hg. v. FLEISCHER (wie Anm. 5), S. 193. Liechtenstein als Bauherr, hg. v. FLEISCHER (wie Anm. 5), S. 89. LEON BATTISTA ALBERTI: Zehn Bücher über die Baukunst. Ins Deutsche übertragen, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Max Theuer, Darmstadt 1975, S. 13. Das Architekturtraktat, das für Liechtensteins Ausführungen wohl Pate stand, war GIACOMO BAROZZI DA VIGNOLA: Regola delli cinque ordini d’architettura; vgl. hierzu Liechtenstein als Bauherr, hg. v. FLEISCHER (wie Anm. 5), S. 84. 16 Liechtenstein als Bauherr, hg. v. FLEISCHER (wie Anm. 5), S. 185.
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tigkeit der Bauwerke machten sie zur am besten geeigneten Anlageform mit nachhaltiger Rendite, da ein Familienpalast „unser aller lebendige Histori representiret und angezeiget und unseren Namen jetzt und bei aller folgenden Posteritet glorwierdig und ebig machet mehr als kein geschriebene Histori“. 17
Der Fürst betont ausdrücklich, dass die Herrschaftsarchitektur verknüpft ist mit dem „Nahmen und Wapen“ der Bauherrnfamilie, es geht also um Memoria für die Namensträgerfamilie, nicht um Erinnerung an den Bauherrn selbst. Seine Investition in den Schlossbau sollte der Familie zum dauerhaften Ruhm gereichen, er selbst aber hinter die Familie zurücktreten. Investitionen in Herrschaftsarchitektur transferieren also nicht nur ökonomisches Kapital in kulturelles Kapital, sie transferieren auch aktuelle Statusqualitäten des Bauherrn in dauerhaften Ruhm für den Familiennamen insgesamt. Liechtensteins Lehrschriften für seine Nachfolger erlauben bereits erste Modifikationen der Kapitalsortenlehre von Pierre Bourdieu, um dieses Modell für den hohen Adel der Frühen Neuzeit besser handhabbar zu machen. Der wichtigste Aspekt ist die soziale Einheit, deren Interessen im Mittelpunkt stehen: die Namensträgerfamilie insgesamt, also die Interessen derjenigen, die den Familiennamen tragen und die Zukunft der Familie verkörpern, und vor allem die Interessen des jeweils ältesten Nachfolgers, der als Familienoberhaupt die Gesamtfamilie repräsentiert. 18 Die Rationalität des Handelns beim Einsatz von Kapital, der Konversion der Kapitalsorten und der dabei erhofften Rendite bemisst sich also nicht anhand der Interessen einzelner Akteure, sondern anhand der Interessen einer Gruppe: der Namensträgerfamilie. Das Familieninteresse weist aber allen Familienmitgliedern jeweils unterschiedliche Rollen und Aufgaben zu: Folgt man den Vorschlägen des Fürsten Karl Eusebius von Liechtenstein, so hat der älteste Sohn auf den eigenen Besitzungen zu residieren und dafür zu sorgen, dass das Familienkapital nicht geschmälert wird. Dafür geht der Familienbesitz ungeteilt auf ihn über. Die nachgeborenen Söhne erhalten jährliche Zuwendungen, um ihnen damit einen standesgemäßen Lebensstil zu ermöglichen. Sie haben aber selbst für ihr Fortkommen zu sorgen, sei es am Hof, im Militär oder in kirchlichen Diensten. Während Karl Eusebius von Liechtenstein seinen ältesten Sohn ausdrücklich vor einer Ämterkarriere am Hof warnt, da dies den Interessen des eigenen Hauses zuwiderlaufe, ist die Übernahme kaiserlicher Ämter und Dienste für die nachgeborenen Söhne in seinen Augen durchaus sinnvoll. Bei der Beurteilung der Strategien des Adels zur Kapitalakkumulation ist die dabei zu berücksichtigende Einheit also weder der Hofadlige als Individuum noch die Familie insgesamt mit allen agnatischen und kognatischen Verwandten, sondern die Namensträgerfamilie im engeren Sinne, also vor allem der Fürst sowie seine männlichen Nachkommen, insbesondere der jeweils älteste Sohn. 17 Liechtenstein als Bauherr, hg. v. FLEISCHER (wie Anm. 5), S. 92. 18 Zum Begriff vgl. LEONHARD HOROWSKI: Die Belagerung des Thrones. Machtstrukturen und Karrieremechanismen am Hof von Frankreich 1661–1789, Ostfildern 2012 (Beihefte der Francia 74), S. 438.
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Die dementsprechend höchste Rendite haben für den Fürsten von Liechtenstein Investitionen, die das symbolische Kapital dieser Namensträgerfamilie dauerhaft erhöhen, weshalb er sich so energisch für die Förderung des Schlossbaus, für die Errichtung repräsentativer Familienpaläste stark macht. Diese Palais tragen den Familiennamen, nicht den des Bauherrn, sie visualisieren also den herausgehobenen Status der Familie über den Tod des Bauherrn hinaus, versprechen daher eine langandauernde, tendenziell eine zeitlose Rendite für die Familie insgesamt. 3 STATUSGENERATOREN Es stellt sich natürlich die Frage, inwiefern man die Lehrempfehlungen des Karl Eusebius von Liechtenstein an seine Nachfolger als Maximen des höfischen Adels insgesamt verstehen darf oder nicht. Sicher lassen sich nicht all seine Verhaltensrichtlinien verallgemeinern. So zeigen die Inhaber der höchsten Hofämter am Kaiserhof, dass seine Empfehlung an den ältesten Sohn, sich einer Karriere am Hof zu verweigern, nur von wenigen beherzigt wurde. Selbst sein Sohn Johann Adam Andreas von Liechtenstein hatte immer wieder kaiserliche Dienste übernommen. 19 Auch andere ranghohe Minister am Hof hatten zugleich das Familienmajorat inne, was sie nicht daran hinderte, am Kaiserhof höchste Ämter zu bekleiden. 20 Blickt man von Wien nach Versailles, so gilt dies in noch viel stärkerem Maße. Gerade der jeweils älteste Zögling hatte sich um eine Hofkarriere zu bemühen und die von seinem Vater bekleideten Ämter nach dessen Ausscheiden möglichst zu übernehmen. Hier wetteiferten die Familien mit bemerkenswertem Erfolg beim König darum, für die ältesten Söhne bereits zu Lebzeiten des Amtsträgers eine Anwartschaft für die Nachfolge zu erwerben, damit das Amt möglichst in Familienhand bleiben konnte. 21 Der Hofdienst wurde damit im Kreis der höchsten Adelsfamilien im späteren 17. und im 18. Jahrhundert zunehmend als geeignetes Mittel angesehen, um die Kapitalakkumulation für die eigene Adelsfamilie zu ermöglichen, und nicht als Gefährdung des Familienkapitals. Das Verhalten der höfischen Führungsschicht am Kaiserhof in Wien wie am französischen Königshof in Versailles lässt aber auch erkennen, dass sich die höfische Führungsschicht bei ihren Anstrengungen um Kapitalakkumulation insbesondere um eine Verstetigung bzw. um eine Steigerung des symbolischen Kapitals der Namensgeberfamilie bemühte. Offenbar schien ihnen der Fürstenhof der Ort zu sein, wo sich für das symbolische Kapital der Familie die höchsten Investitionsrenditen erzielen ließen. Dabei galten am Hof besondere Bedingungen, gehorchten die Investitionen und die Renditeerwartungen des Hofadels einer eige19 HERBERT HAUPT: „Der Namen und Stammen der Herren von Liechtenstein“. Biographische Skizzen, in: „Der ganzen Welt ein Lob und Spiegel“. Das Fürstenhaus Liechtenstein in der frühen Neuzeit, hg. v. EVELIN OBERHAMMER, Wien/München 1990, S. 213–222, hier S. 217. 20 ANDREAS PEČAR: Die Ökonomie der Ehre. Höfischer Adel am Kaiserhof Karls VI. (1711– 1740), Darmstadt 2003 (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne 5), S. 22–53. 21 HOROWSKI, Belagerung (wie Anm. 18), S. 145–148.
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nen Logik, deren Regeln sich wesentlich aus dem persönlichen Dienstverhältnis des Hofadels gegenüber ihrem Monarchen ableiteten. Inwiefern ließen sich am Hof für die Familie der höfischen Amtsträger Statusgewinne erzielen? Welche Statusindikatoren waren für die Identität des höfischen Adels überhaupt konstitutiv? Der primäre Statusindikator eines jeden Adligen war wohl sein geburtsständischer Rang, der ihn nicht nur als Mitglied des Adelsstandes auswies, sondern darüber hinaus auch innerhalb des Adelsstandes seine gesellschaftliche Rangposition markierte. 22 Vergleicht man die beiden Hofgesellschaften in Wien und in Versailles miteinander, so hat man es in beiden Fällen in den höfischen Führungsämtern mit Mitgliedern des Hochadels zu tun, mit Grafen und Fürsten im Falle des Kaiserhofes oder mit Mitgliedern des Schwertadels – vorwiegend herzogliche Familien – im Falle von Versailles. 23 Dieser geburtsständische Rang war vererbbar – zu seinem Erhalt war permanente Präsenz am Hof nicht mehr zwingend erforderlich. Wer indes auf eine Standesverbesserung hoffte und am Kaiserhof noch nicht über einen fürstlichen bzw. in Versailles noch nicht über einen herzoglichen Rang verfügte, für dessen Familie war Hofpräsenz die Voraussetzung für die Rangerhöhung. 24 In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts sind am Kaiserhof noch Fälle bekannt, in denen Reichsfürsten, die soeben erst in diesen Rang erhoben worden waren, ihren Dienst in kaiserlichen Ämtern quittierten, da sie aufgrund ihres fürstlichen Ranges auf eine zeremonielle Vorrangstellung in kaiserlichen Ratsgremien wie dem Geheimen Rat pochten und ihnen ein solches Vorrecht nicht gewährt wurde. 25 Vielmehr bemaß sich der Rang innerhalb des Hofes nach bestimmten vom Kaiser verliehenen Ehrenämtern – dem Amt des Geheimen Rates und dem Amt des Kammerherrn. 26 Die Geheimen Räte bzw. die Kammerherren unterei22 Vgl. hierzu ANDREAS PEČAR: Prestige zwischen Fremdzuschreibung und Besitz. Allgemeine Überlegungen am Beispiel des höfischen Adels in der frühen Neuzeit, in: Ansehenssache. Formen von Prestige in Kulturen des Altertums, hg. v. BIRGIT CHRISTIANSEN und ULRICH THALER, München 2012 (Münchner Studien zur Alten Welt 9), S. 61–79, hier S. 66f. 23 PEČAR, Ökonomie (wie Anm. 20), S. 34f. und 37–40; HOROWSKI, Belagerung (wie Anm. 18), S. 218. 24 HARRY SCHLIP: Zur Erhebung in den Reichsfürstenstand und zur Aufnahme in den Reichsfürstenrat im 17. und 18. Jahrhundert, in: Fürstliches Haus und staatliche Ordnung. Geschichtliche Grundlagen und moderne Perspektiven, hg. v. VOLKER PRESS und DIETMAR WILLOWEIT, München/Wien 1987, S. 251–292; HOROWSKI, Belagerung (wie Anm. 18), S. 119–125. 25 THOMAS WINKELBAUER: Fürst und Fürstendiener. Gundaker von Liechtenstein, ein österreichischer Aristokrat des konfessionellen Zeitalters, München 1999 (Beihefte der MIÖG 34), S. 291–313. 26 MARK HENGERER: Kaiserhof und Adel in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Eine Kommunikationsgeschichte der Macht in der Vormoderne, Konstanz 2004 (Historische Kulturwissenschaft 3), S. 187–197; DERS.: Hofzeremoniell, Organisation und Grundmuster sozialer Differenzierung am Wiener Hof im 17. Jahrhundert, in: Hofgesellschaft und Höflinge an europäischen Fürstenhöfen in der Frühen Neuzeit (15.–18. Jahrhundert), hg. v. KLAUS MALETTKE unter Mitarb. v. Petra Holz, Münster/Hamburg/Berlin 2001 (Forschungen zur Geschichte der Neuzeit 1), S. 337–368.
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nander leiteten ihren Rang vom Zeitpunkt der Berufung in das Amt ab. Der geburtsständische Rang spielte in dieser hofinternen Hierarchie keine Rolle. Was für den neu ernannten Fürsten Gundaker von Liechtenstein aber noch eine Zumutung darstellte, der er sich nicht beugen wollte, um seinen frisch erworbenen Status nicht zu gefährden, wurde von den Fürsten in kaiserlichen Diensten seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts widerspruchslos hingenommen – obwohl sie weiterhin keine zeremonielle Bevorzugung erfuhren. 27 Offenbar war der Kaiserhof für die Fürsten trotz dieser Einschränkung attraktiv genug, um sich damit zu arrangieren, in der hofinternen Ranghierarchie mitunter Grafen den Vortritt zu lassen. In Versailles hingegen war der herzogliche Rang zugleich auch ein besonders prestigeträchtiger Rang innerhalb des Hofes und deswegen besonders begehrt. In Versailles gab es im Gegensatz zum Kaiserhof in Wien keine klaren hofinternen Rangkriterien, sondern mehrere konkurrierende Rangfaktoren, deren Gewichtung je nach Ort und Anlass der Zusammenkunft unterschiedlich ausfallen konnte. Allein der Herzogtitel verbürgte in jeder Situation eine privilegierte Rangposition.28 Umso mehr Gründe gab es also, sich um diesen Rang zu bemühen. Neben den funktionalen Aspekten war die geburtsständische Exklusivität auch Selbstzweck. Der Herzogtitel bzw. der Fürstenrang – idealerweise kombiniert mit einem reichsunmittelbaren Territorium und einem Sitz im Reichstag – bürgte für eine solche ständische Exklusivität und verlieh den solcherart ausgezeichneten Hofmitgliedern zugleich die Aura herrschaftlicher Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Die Toleranz gegenüber der ostentativen Zurschaustellung einer solchen Selbstständigkeit war in den beiden Monarchien unterschiedlich entwickelt. Am Kaiserhof gab es mehrere Fälle, in denen die Selbstdarstellung einzelner Hofmitglieder wie des Fürsten Johann Adam Andreas von Liechtenstein oder später des Prinzen Eugen die Repräsentation des Kaisers überstrahlte und der dabei zur Schau gestellte Autonomiegestus unverkennbar war; gleichwohl wurde dies von kaiserlicher Seite nicht als Affront gedeutet, sondern als Mittel zur Glanzentfaltung des kaiserlichen Hofes begrüßt. 29 In Frankreich hatten hingegen mehrere Hofmitglieder den Zorn König Ludwigs XIV. zu spüren bekommen, wenn sie mit ihren Statusprätentionen den Eindruck erweckten, mit dem Königshaus selbst in Konkurrenz treten zu wollen. Der Surintendant der Finanzen Nicolas Fouquet wurde im Jahr 1661 zwar nicht nur, aber auch wegen seiner ostentativen Prachtentfaltung in seinem barocken Neubau in Vaux-le-Vicomte in Zeiten leerer Kassen abgestraft 27 PEČAR, Ökonomie (wie Anm. 20), S. 233–235. 28 HOROWSKI, Belagerung (wie Anm. 18), S. 111–114. 29 Vgl. hierzu FRIEDRICH POLLEROß: „Des Kaysers Pracht an seinen Cavalliers und hohen Ministern“. Wien als Zentrum aristokratischer Repräsentation um 1700, in: Polen und Österreich im 18. Jahrhundert, hg. v. WALTER LEITSCH, STANISLAW TRAWKOWSKI und WOJCIECH KRIEGSEISEN, Warschau 2000, S. 95–122; DERS.: Utilità, virtù e bellezza – Fürst Johann Adam Andreas von Liechtenstein und sein Palast in der Rossau, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst- und Denkmalpflege 47 (1993), S. 36–52, hier S. 36–40; HELLMUT LORENZ: Ein „exemplum“ fürstlichen Bauens in der Barockzeit – Bau und Ausstattung des Gartenpalastes in Wien, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 43 (1989), S. 7– 24.
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und für den Rest seines Lebens weggesperrt. 30 Und die historische Erinnerungspolitik des Kardinals Emmanuel-Théodose Bouillon de La Tour d’Auvergne, der sowohl mit den Mitteln der Grablege als auch der Historiographie herausstellen ließ, dass sein Haus an Alter und Vornehmheit auch die regierenden Bourbonen in den Schatten stellte, endete für den Kardinal im Exil, nachdem Ludwig XIV. das Grabmahl in Cluny demonstrativ zerstören ließ, der Familientitel „Grafen der Auvergne“ ausdrücklich aberkannt und deren Rang zurückgestuft wurde. 31 Sieht man von solchen Ausnahmefällen aber einmal ab, blieb den diensttuenden Adelsfamilien genügend Raum für eine Selbstdarstellung, in der die eigenen Exklusivitätsansprüche artikuliert werden konnten. Die Inhaber der obersten Hofämter stammten sowohl am Kaiserhof als auch in Versailles beinahe alle aus Familien, deren geburtsständischer Adelsrang ihnen besondere Exklusivität verlieh. Die Dienstbarkeit am Hof des französischen Königs bzw. des Kaisers schien diese Exklusivität eher zu unterstreichen denn zu gefährden, was sich an der gleichbleibend hohen Attraktivität der beiden Höfe für die Mitglieder des Hochadels ablesen lässt. Es gab offenbar neben dem geburtsständischen Rang zahlreiche weitere Statusgeneratoren, für deren Erhalt ein Aufenthalt am Hof notwendig oder förderlich war. Neben die hohe Herkunft qua Geburt trat am Hof ein weiteres, bedeutsames Statuskriterium: die Nähe zum Thron, die Gunst des Herrschers. Diese Gunst zeigte sich allen Beteiligten auf institutionalisierte Art und Weise in den vom Herrscher verliehenen Ämtern und Auszeichnungen, vor allem die Aufnahme prominenter Mitglieder des Hofadels in die jeweiligen höfischen Ritterorden am Hof: den Orden vom goldenen Vlies am Kaiserhof oder die Mitgliedschaft im Heiliggeistorden in Versailles. 32 Neben den geburtsständischen Status trat also am Hof der Status qua Amt und qua Mitgliedschaft. Diesen Status erhielt man aufgrund von Gunstzuweisungen des Herrschers. Ausgezeichnet wurde dabei stets eine Person, nicht die Familie insgesamt. 33 Auch wenn die Inhaber der obersten Hofämter in Versailles alles daran setzten, um bereits zu Lebzeiten ihren Söhnen die Anwartschaft auf das von ihnen bekleidete Amt zu verschaffen und damit das Amt der Familie zu erhalten, und auch wenn diese Strategie oftmals mit Erfolg gekrönt war und tatsächlich zahlreiche Familien bestimmte Hofämter über mehrere Generationen hinweg kontinuierlich bekleiden konnten, war diese Kontinuität doch abhängig von Entscheidungen des Herrschers, musste man sich stets aufs 30 Vgl. DANIEL DESSERT: Fouquet, Paris 1987; CHRISTINE HOWALD: Der Fall Nicolas Fouquet. Mäzenatentum als Mittel politischer Selbstdarstellung 1653–1661, München 2011 (Pariser Historische Studien 96). 31 Vgl. hierzu MARTIN WREDE: Ohne Furcht und Tadel – Für König und Vaterland. Frühneuzeitlicher Hochadel zwischen Familienehre, Ritterideal und Fürstendienst, Ostfildern 2012 (Beihefte der Francia 75), S. 94–111. 32 PEČAR, Ökonomie (wie Anm. 20), S. 235–237; HOROWSKI, Belagerung (wie Anm. 18), S. 107–111. 33 Zu diesem Problem grundsätzlich ANDREAS PEČAR: Zeichen aristokratischer Vortrefflichkeit. Hofzeremoniell und Selbstdarstellung des höfischen Adels am Kaiserhof (1648–1740), in: Ordnung und Distinktion. Praktiken sozialer Repräsentation in der ständischen Gesellschaft, hg. v. MARIAN FÜSSEL und THOMAS WELLER, Münster 2005 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertsysteme 8), S. 181–197.
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Neue der Gunst des Herrschers versichern, um das Amt auch weiterhin verliehen zu bekommen. 34 Es war aber nicht nur die Gunst des Herrschers allein, die dem Hofadel die Bekleidung der obersten Hofämter gewährte. Um mit hohen Hofämtern bedacht zu werden, bedurfte es darüber hinaus über einen längeren Zeitraum finanzieller Vorleistungen, mit denen man dem Herrscher seine persönliche Dienstbereitschaft signalisierte. Für die Kosten-Nutzen-Rechnung am Hof war es letztlich nicht entscheidend, ob man das Amt gleichsam käuflich erwerben musste wie in Frankreich, oder ob man dem Kaiser mehrfach Kredite gewährte wie am Kaiserhof – in beiden Fällen hatte man beträchtliche Summen zu investieren, verbunden mit einer Renditeerwartung, die sich aber erst in der Zukunft erfüllen konnte. Das Risiko dieses Geschäfts lag auf Seiten des Höflings und dessen Adelsfamilie. Mit seinen Vorleistungen verpflichtete er den Herrscher darauf, sich ihm gegenüber erkenntlich zu zeigen. Verstarb der Herrscher allerdings, waren diese Investitionen häufig verloren, hatte der Nachfolger seinerseits Personen zu versorgen, die sich bereits seit längerer Zeit um seine Gunst bemühten. Ebenso konnte auch der Höfling sterben, bevor ihm die erhoffte Rendite zuteil wurde. Barbara StollbergRilinger hat dieses Risiko mit der Logik des am Hof praktizierten Gabentauschs herausgestellt. Das Verhältnis zwischen Fürst und Diener sei bestimmt von asymmetrischer Reziprozität: die Hofmitglieder bewiesen ihre Leistungsbereitschaft in unbezahlten Ämtern oder mit Finanzleistungen für den Herrscher, der Herrscher entschied zu gegebener Zeit darüber, diese Dienstbarkeit auf angemessene Art und Weise zu vergelten. 35 Hofämter wurden also nicht primär angestrebt, um finanzielle Gewinne zu erzielen, auch wenn sich eine Hofkarriere am Ende des Tages für einzelne Amtsträger auch finanziell als lohnend herausstellte. Der ökonomische Gewinn blieb aber für die meisten Amtsträger selbst der obersten Chargen eher ungewiss, ohne dass die Ämter deswegen an Attraktivität einbüßten. 36 Auf zwei anderen Feldern warfen die Ämter allerdings in jedem Fall Gewinn ab: Zum einen gingen mit den obersten Hofämtern automatisch gestiegene Einflussmöglichkeiten einher. Man bewegte sich in der persönlichen Umgebung des Herrschers, hatte dadurch Möglichkeiten, eigene Bitten vorzutragen, sei es für sich selbst, sei es für andere Familienmitglieder oder für Klienten der eigenen Familie. Man konnte auf diese Weise auch andere Personen mit Ämtern versorgen, ausstehende Gehaltszahlungen in Erinnerung rufen und vieles mehr. 37 Der Amtsträger mochte bei seiner Karriere 34 HOROWSKI: Belagerung (wie Anm. 18), S. 142–151; JEROEN DUINDAM: Vienna and Versailles. The Courts of Europe’s Dynastic Rivals 1550–1780, Cambridge 2003, S. 181–219. 35 BARBARA STOLLBERG-RILINGER: Zur moralischen Ökonomie des Schenkens bei Hof (17.–18. Jahrhundert), in: Luxus und Integration. Materielle Hofkultur Westeuropas vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, hg. v. WERNER PARAVICINI, München 2010, S. 187–202, hier S. 192f. 36 PEČAR, Ökonomie (wie Anm. 20), S. 103–126; HOROWSKI, Belagerung (wie Anm. 18), S. 205. 37 PEČAR, Ökonomie (wie Anm. 20), S. 92–103; LEONHARD HOROWSKI: Der Preis des Erfolgs. Gunst, Kapital und Patrimonialisierung am Hof von Versailles (1661–1789), in: Zeitschrift für historische Forschung 36 (2009), S. 71–92; DERS.: Belagerung (wie Anm. 18), S. 207– 216.
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am Hof zunächst finanzielle Opfer erbringen, Kosten, die letztlich seine Familie zu tragen hatte – bekleidete er aber erst einmal eines der obersten Ämter am Hof, so boten sich dadurch auf vielfältige Weise Profitmöglichkeiten für die Familie insgesamt. Zum anderen ging die privilegierte Amtsstellung am Hof stets auch mit einer erhöhten Sichtbarkeit und einer privilegierten Rangposition innerhalb des Hofstaates einher. 38 Bedient man sich der Bourdieuschen Kategorien, bemaß sich der Nutzen der obersten Ämter am Hof für die Amtsinhaber nicht nur in den Möglichkeiten, Kapital zu akkumulieren, sondern auch darin, über mehr Möglichkeiten als alle anderen Adligen zu verfügen, Kapital zu konvertieren: Beziehungen und die Nähe zum Herrscher boten gesteigerte Möglichkeiten, die Ressourcen des Hofes für die eigene Familie verfügbar zu machen, finanzielle Vorleistungen konnten sich auszahlen in sichtbaren Gunsterweisen, in Privilegien, aber auch materiell, die herausgehobene Position am Hof verschaffte den Amtsträgern symbolisches Kapital, das wiederum gesteigerte Möglichkeiten sozialer Vernetzung verlieh, die Optionen profitabler Eheschließungen verbesserte etc. Diese Vorteile hingen ab von der Nähe zum Herrscher, von den Möglichkeiten, sich aufgrund dieser Nähe besser seiner Gunst versichern zu können als Adlige, die am Hof nicht dauerhaft präsent waren. Daher erklärt sich, weshalb selbst besonders prestigeträchtige Positionen in der Habsburgermonarchie abseits des Kaiserhofes wie das Amt des Vizekönigs in Neapel von den damit betrauten Amtsträgern nicht nur als Auszeichnung verstanden wurden und deren Inhaber sich oftmals darum bemühten, von diesem Posten wieder entbunden zu werden und nach Wien zurückkehren zu dürfen. 39 Auch Gesandtschaften und Botschafterposten waren keineswegs beliebte Möglichkeiten der Auszeichnung: die Abwesenheit vom Hof setzte die im Ausland weilenden Gesandten nicht nur großen finanziellen Risiken aus, da diese in besonderer Weise Ausgaben vorfinanzieren mussten und nur wenig Möglichkeiten hatten, diese Gelder erstattet zu bekommen, solange sie sich nicht persönlich darum kümmern konnten, und sie waren auch ausgeschlossen von den Möglichkeiten persönlicher Einflussnahme am Hof. 40 Es hat sich daher nicht nur am Kaiserhof die Praxis etabliert, die Gesandtschaftstätigkeit als eine Art Vorleistung für Amtsträger am Hof zu verstehen; erst nach der Übernahme kostspieliger Gesandtschaften konnten die Amtsträger darauf hoffen, am Hof mit lukrativen Ämtern versorgt zu werden. 41 38 PEČAR, Vortrefflichkeit (wie Anm. 31), S. 188–191. 39 Dies galt in besonderem Maße für Aloys Thomas Raimund Graf Harrach, Vizekönig in Neapel von 1728 bis 1733; vgl. PEČAR, Ökonomie (wie Anm. 20), S. 51–53. 40 Vgl. hierzu das Beispiel Fürstenberg; ESTEBAN MAUERER: Südwestdeutscher Reichsadel im 17. und 18. Jahrhundert. Geld, Reputation, Karriere: Das Haus Fürstenberg, Göttingen 2011 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 66), S. 248–295; ferner FRIEDRICH POLLEROß: Die Kunst der Diplomatie. Auf den Spuren des kaiserlichen Botschafters Leopold Joseph Graf von Lamberg (1653–1706), Petersberg 2010, S. 215–359. 41 KLAUS MÜLLER: Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648–1740), Bonn 1976 (Bonner Historische Forschungen 42), S. 180–187; PEČAR, Ökonomie (wie Anm. 20), S. 41–53.
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4 HÖFISCHE PRAXIS UND HÖFISCHE SELBSTDARSTELLUNG Für den Hochadel sowohl in Frankreich als auch in der Habsburgermonarchie entwickelte sich der Hof im Laufe des 17. Jahrhunderts zunehmend zum bevorzugten Ort, um das Kapital der eigenen Familie zu akkumulieren und die Einflussmöglichkeiten für die Familie zu sichern. Dies erklärt die Attraktivität des Hofes, die große, nicht enden wollende Bereitschaft des Hochadels, in die persönlichen Dienste des Herrschers zu treten. Überblickt man die Amtsinhaber der führenden Ämter an den beiden Höfen in Versailles und in Wien, so zeigt sich, dass es ein überschaubarer Kreis ranghoher Familien war, der bei diesem Wettlauf um die höchsten Ämter über längere Zeiträume hinweg besonders erfolgreich war. 42 Diese Familien verfügten über das notwendige finanzielle Kapital, ohne das man keine Chance hatte, bei der Ämtervergabe berücksichtigt zu werden, sie verfügten über die notwendigen Einflussmöglichkeiten, um den aktuellen privilegierten Status auch für die kommenden Generationen zu sichern. Gleichwohl war der Hofdienst für das Selbstbild und das Selbstverständnis des Hochadels nicht gänzlich unproblematisch. So wichtig und bedeutsam eine Position in der unmittelbaren Umgebung des Herrschers auch war – in der Repräsentation des eigenen Status war ein Interesse der Adligen an Ämtern am Hof tabu. Leonhard Horowski hat resümiert, dass in der umfangreichen Memoirenliteratur adeliger Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts die Autoren nie haben verlauten lassen, welche Ämter sie zu erringen hofften. 43 Bestenfalls lassen sich in dieser Textgattung despektierliche Kommentare über die Ambitionen anderer Adeliger finden, niemals wurde aber der eigene Wunsch nach Ämtern thematisiert. Und mit Blick auf die Repräsentationspraktiken des höfischen Adels in Wien drängt sich der Eindruck auf, dass das Dienstverhältnis gegenüber dem Kaiser nicht zu den Themen gehörte, die in der eigenen Selbstdarstellung prominent herausgestellt wurden. Die eigenen Repräsentationspraktiken – insbesondere im Schlossbau – waren eher darauf ausgerichtet, mit ostentativen Prachtbauten den Status der eigenen Familie zu demonstrieren und die Zugehörigkeit zum Kreis des Hofadels nicht als Folge kaiserlicher Gunst erscheinen zu lassen, sondern als Konsequenz familiärer Exklusivität und Größe. 44
42 PEČAR, Ökonomie (wie Anm. 20), S. 54–57; HOROWSKI, Belagerung (wie Anm. 18), S. 217– 235. 43 HOROWSKI, Belagerung (wie Anm. 18), S. 203f. 44 ANDREAS PEČAR: Schloßbau und Repräsentation. Zur Funktionalität der Adelspalais in der Umgebung des Kaiserhofes in Wien (1680–1740), Berlin 2007, S. 179–199; DERS.: Ökonomie (wie Anm. 20), S. 249–252 und S. 297–301. Eine ähnliche Bewertung trifft für Frankreich und die dort errichteten Adelspaläste KATIA BÉGUIN: Höfe abseits des Hofes. Adelige Prachtentfaltung im Reich Ludwigs XIV., in: Luxus, hg. v. PARAVICINI (wie Anm. 33), S. 53–63.
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5 SCHLUSSBETRACHTUNG: EINE ÖKONOMIE DER EHRE? Kehren wir zur Ausgangsfrage zurück: Gab es eine spezifische Ökonomie des höfischen Adels? In diesem Beitrag wurde Ökonomie gleichgesetzt mit kalkuliertem Handeln; es geht also um Handlungen, denen ein Kosten-Nutzen-Kalkül zugrunde lag. In der Tat lassen sich einige Besonderheiten beim Kosten-NutzenKalkül des Hofadels aufzeigen: a) Der Hofadel entschied sich dafür, den Hof des Herrschers zu seinem eigenen Lebensmittelpunkt zu machen, dort eine Karriere anzustreben, das heißt möglichst eines der führenden Ämter zu bekleiden, die Gunst des Herrschers zu gewinnen, um dadurch die eigene Position am Hof zu stabilisieren, den eigenen Einfluss geltend zu machen und bei der Verteilung von Ämtern, Privilegien, Auszeichnungen und Einkünften zu profitieren. b) Um diese Ziele erreichen zu können, waren die Amtsträger am Hof auf die Unterstützung ihrer Familie angewiesen, bedurfte es großer vor allem finanzieller Vorleistungen, bevor man eventuell in den Genuss der zahlreichen Profitmöglichkeiten kam. Das Kosten-Nutzen-Kalkül war daher zum einen langfristig angelegt: der Nutzen stellte sich meist erst auf dem Höhepunkt der Karriere ein, zuvor hatte man Investitionen zu erbringen, ohne sich des zukünftigen Gewinns wirklich sicher sein zu können. Zum anderen ging es weniger um den Nutzen des einzelnen Amtsträgers, sondern der Namensträgerfamilie insgesamt. Selbst falls sich die Amtskarriere eines Familienmitglieds bis zum Ende als ökonomisch defizitär erwies, konnte die Familie gleichwohl davon profitieren, ein Familienmitglied in der persönlichen Umgebung des Herrschers zu haben. c) Der Hofadel konkurrierte untereinander aber nicht nur um materielle Ressourcen und Einfluss, sondern auch um Status und Rang. Höfische Adlige wählten den Hof als Lebensmittelpunkt, da sie davon ausgingen, dass sie dort nicht nur den größten Einfluss ausüben konnten, sondern dort auch ihren Status und Rang besser wahren bzw. ausbauen konnten als an anderen Orten. Die Teilhabe am Hofstaat garantierte ja bereits eine größere Sichtbarkeit, die Mitgliedschaft in der Hofgesellschaft ging einher mit einer hofinternen Rangposition, die die Hofmitglieder gegenüber den Außenstehenden privilegierte. Die Gunst des Herrschers, die sich in der Mitgliedschaft in der Hofgesellschaft niederschlug, zeichnete die Hofmitglieder innerhalb der Aristokratie aus und verlieh ihnen eine besondere Aura und Exklusivität. Beim Kosten-Nutzen-Kalkül des Hofadels, so darf vermutet werden, spielte dieses symbolische Kapital, das sich nur am Hof in dieser Weise gewinnen ließ, eine besonders wichtige Rolle. Distinktionsgewinne rechtfertigten beinahe alle finanziellen Kosten. d) Der Hof bot seinen Mitgliedern spezifische Chancen auf Ressourcengewinnung, auf Auszeichnung und Distinktion, er beinhaltete aber auch spezifische Risiken: Chancen und Risiken lassen sich letztlich auf dieselbe Ursache zurückführen: die prekäre Gunst des Herrschers, die man gewinnen, aber auch verlieren konnte. Die Zeichen von Status und Rang waren dabei in unterschiedlichem Maße der Gefahr des Gunstverlustes ausgesetzt: Der geburtsständische Rang war den Hofadligen sicher. Auch Ämter wurden den Inhabern selbst im Falle des Gunst-
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verlustes nur in seltenen Fällen entzogen – wenn Hofmitglieder auf ihre Güter verbannt wurden und sie demonstrativ in Ungnade fielen. Im Normalfall bedeutete sinkende Gunst vor allem sinkende Einflusschancen für den Höfling; im Wettkampf um materielle Ressourcen, Ämter und Auszeichnungen drohte man, hinter die anderen Hofmitglieder zurückzufallen und damit, statt Distinktionsgewinne zu erzielen, Statusverlust zu erleiden. e) Um sich gegen solche Statusverluste zu immunisieren, bedienten sich viele Hofmitglieder einer ostentativen und sehr kostspieligen Repräsentationspraxis, um mit diesen sichtbaren Zeichen der eigenen Größe, Magnifizenz und Exklusivität etwas unabhängiger zu werden von den Gunstbeweisen des Herrschers, um den eigenen Status mit der eigenen Familie zu verknüpfen statt mit der Position am Hof und in der Hofgesellschaft. Die Lebenspraxis des Hofadels wurde hier als Ergebnis rationaler Kalkulation, als Folge einer Kosten-Nutzen-Rechnung dargestellt. Es wurde dargelegt, dass die Handlungen des Hofadels Strategien folgten, die ausgerichtet waren auf spezifische Ziele (Statusgewinne / Exklusivität / Distinktion) und auf den Hof als Ort der Umsetzung dieser Strategien. Im Rahmen der selbst gesteckten Ziele erscheint das Verhalten des Hofadels sowohl in Versailles als auch am Kaiserhof rational: Die Lebensführung, die Investitionen, die angestrebten Karrieren, die Heiratsstrategien und die innerfamiliären Rollenzuweisungen waren alle darauf abgestimmt, das Ziel zu erreichen, innerhalb des Adels eine herausgehobene Position zu erringen und für die Zukunft abzusichern. Welche Ziele den Hofadligen als Maßstab ihres Handelns dienten und als unmittelbar plausibel und erstrebenswert einleuchteten, war allerdings nicht die Folge rationaler Abwägung und Entscheidung und damit spezifisch für konkrete Personen und Situationen, sondern das Ergebnis der Zugehörigkeit zur Gruppe des Hochadels. Innerhalb des Hochadels hat sich über lange Zeit ein kultureller Code, ein spezifischer Habitus ausgebildet, der die eigenen Wertvorstellungen, die eigene Standesidentität, standesspezifische Wahrnehmungsweisen und Handlungsmaximen beinhaltete. Dieser Habitus legte den Hofmitgliedern ihre höfische Existenz als beste aller möglichen Lebensformen nahe und veranlasste sie dazu, innerhalb der Hofgesellschaft um Einfluss, Rang und Status miteinander zu konkurrieren. Außenstehenden fiel es dagegen bereits in der Frühen Neuzeit schwer, die höfische Existenz als rational nachzuvollziehen – die Gattung der Hofkritik legt für dieses Unverständnis zahlreicher Zeitgenossen beredt Zeugnis ab. In meiner Doktorarbeit habe ich diese soziale Logik des höfischen Adels als „Ökonomie der Ehre“ bezeichnet. Der Begriff ist seitdem auch von anderer Seite gerne aufgegriffen worden. Berücksichtigt man aber die zeitgenössischen Quellenbegriffe und deren Semantik, so wird man diesen Titel wohl überdenken müssen. Da Ökonomie kalkuliertes Handeln umschreibt, das dazu dienen soll, den eigenen Nutzen zu steigern – worin dieser auch jeweils definiert ist –, bedarf es hierfür skalierbarer Größen. Ehre erfüllt diese Eigenschaft aber nur sehr bedingt. 45 45 Vgl. hierzu CHRISTIAN KÜHNER: Politische Freundschaft bei Hofe. Repräsentation und Praxis einer sozialen Beziehung im französischen Adel des 17. Jahrhunderts, Göttingen 2013
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Ehre hatten Adelige wie Nichtadelige gleichermaßen, und sie verdankte sich der familiären Herkunft ebenso wie der sozialen Position und dem eigenen untadeligen Lebenswandel im Einklang mit den Normvorstellungen der Zeit und des eigenen sozialen Standes und Milieus. 46 Ehre ließ sich verlieren, wenn man gegen die Standesnormen und die Moralvorstellungen der Zeit verstieß; dann drohte die Unehre, der Gesichtsverlust in Augen der Standesmitglieder und der Gesellschaft insgesamt. Das binäre Begriffspaar Ehre / Unehre umschrieb für die Zeitgenossen daher feststehende Qualitäten, keine Abstufungen oder Hierarchien. Anders ist das bei Begriffen wie Reputation, Ansehen und Status, dem Bedeutungsgehalt des Begriffes „crédit“. 47 Diese Begriffe werden verwendet, um feine Abstufungen auszudrücken, Zugewinne und Verluste zu verbuchen. Den Strategien des Hofadels lag eine Status-Ökonomie zugrunde, in der die Investitionen daraufhin kalkuliert waren, dass sie am Ende Statusgewinne abwarfen, für die einzelnen Amtsträger am Hof, aber vor allem für dessen Familie. Die Unterschiede zwischen dem französischen Königshof in Versailles und dem Kaiserhof in Wien leiten sich aus den unterschiedlichen Bedingungen ab, die das Hofleben an beiden Höfen jeweils bestimmten. Die Status-Ökonomie allerdings, die die Mitglieder der beiden Hofstaaten ihren Handlungen zugrunde legten, sie dürfte an beiden Höfen dieselbe gewesen sein.
(Freunde – Gönner – Getreue. Studien zur Semantik und Praxis von Freundschaft und Patronage 6), S. 147–151. 46 Vgl. hierzu nur exemplarisch: Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. KLAUS SCHREINER und GERD SCHWERHOFF, Köln/Weimar/Wien 1995 (Norm und Struktur 5). 47 KÜHNER, Freundschaft (wie Anm. 45), S. 148; HOROWSKI, Belagerung (wie Anm. 18), S. 206f.
EIN SACK MORCHELN UND DIE ASTRONOMIE. RESSOURCENZIRKULATION UND -KONVERSION IN DER NATURFORSCHUNG UM 1700 Sebastian Kühn 1 RESSOURCENLOGIK UND WISSENSCHAFTSGESCHICHTE Maria Kirch (1670–1720), die Ehefrau des Berliner Astronomen Gottfried Kirch (1639–1710), schrieb gelegentlich an die gelehrten Freunde ihres Mannes. An den Leipziger Kalendermacher Ulrich Junius etwa schickte sie unter anderem einen Sack Morcheln, mit den besten Grüßen an die Frau Prof. Pfautzin (?–?) und die Frau Dr. Olearius (?–?), die Morcheln seien auch für deren Küche. 1 Rein ‚häusliche‘, ‚weibliche‘ Bereiche scheinen in diesem Brief und der dazugehörigen Naturaliensendung angesprochen, von Naturforschung ist nicht die Rede. Der Sack Morcheln und die Astronomie haben nichts miteinander zu tun. – Zumindest auf den ersten Blick. Denn es lohnt sich, genauer hinzuschauen und dabei festzustellen, dass ein Sack Morcheln Teil der frühneuzeitlichen Naturforschung sein konnte, dass er näher mit der Astronomie verbunden ist, als man glauben möchte. Doch zunächst sind einige Vorüberlegungen nötig, die vielleicht die unmotiviert scheinende Frage begründen können, was ein Sack Morcheln mit der Astronomie zu tun haben konnte. Interessanterweise wurde dieser Brief (und ähnliche Korrespondenzen von Familienmitgliedern des Kirch-Haushaltes) nicht in die sonst mustergültige Edition der Kirch-Korrespondenz aufgenommen. Dort wurden nur diejenigen Briefe abgedruckt, die, so der Herausgeber, im Auftrag des Astronomen Gottfried Kirch verfasst worden waren. 2 Die hinter dieser Editionsentscheidung stehenden Annahmen sind durchaus verbreitet: Briefe, wie andere Dinge auch, werden zwischen zwei individuell festlegbaren Instanzen ausgetauscht; diese dyadische Struktur lässt sich dann gegebenenfalls um weitere Dyaden (ein Auftrag Kirchs an seine Frau, die Weitervermittlung ihrer Grüße und Morcheln an andere Leipziger Frauen) erweitern. Weitere Vorannahmen treffen implizit Entscheidungen darüber, was Wissenschaft sei und wer und was zur Wissenschaft gehört – und wer und was nicht. Ein Sack Morcheln offenbar nicht. Die Frauen und Kinder auch nicht, es sei denn, sie führten (deutlich untergeordnet) die Aufträge der gelehrten 1 2
Universitätsbibliothek Leipzig, Teilnachlass Kirch, Ms 01322, Bl. 200ar–200bv (Maria Kirch an Ulrich Junius, o. O. [Guben], o. D. [zwischen 23.09. und 14.10.1699]). Die Korrespondenz des Kalendermachers Gottfried Kirch (1639–1710), hg. v. KLAUS-DIETER HERBST, 3 Bde., Jena 2006, Bd. II, S. 498.
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Männer aus. Haushalt und Wissenschaft bleiben so deutlich getrennt, und mithin auch die Geschlechter, die entsprechend diesen beiden Sphären zugeteilt werden. Es ist zu fragen, ob dieser kategoriale Rahmen angemessen ist. An dieser Einordnung können zumindest Zweifel aufkommen. Man darf also vielleicht doch testweise fragen, was ein Sack Morcheln und Maria Kirch mit der Astronomie zu tun haben könnten. Allgemeiner formuliert: Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Frauen, Kindern, Haushalten, nicht-gelehrten Personen und der Naturforschung in der Zeit um 1700 beschreiben? Mit der Antwort auf diese Fragen lässt sich dann vielleicht auch genauer bestimmen, was Wissenschaft um 1700 gewesen sein konnte. Das Beispiel der Maria Kirch und ihres Sacks Morcheln ist kein Einzelbeispiel. Lebensmittel wurden auch zwischen anderen gelehrten Haushalten transferiert: So schickte beispielsweise Hans Sloane (1660–1753), Sekretär der Royal Society, regelmäßig die damaligen kostspieligen Luxusartikel Zucker und Schokolade an Frau und Töchter seines Botaniker-Freundes John Ray (1627–1705). Martin Lister (1639–1712), ebenso Mitglied der Royal Society und Arzt, ließ sich von der Frau eines Pariser Korrespondenten modische Socken schicken. Und der Londoner Apotheker und Entomologe James Petiver (1665–1718) sandte Schuhe an die Frau eines Korrespondenten nach Moskau. 3 Welche sozialen Handlungsmuster lassen sich in diesen Transfers erkennen? So interessant diese Versendungen von Gebrauchsgütern für eine Kulturgeschichte des Alltags, auch des gelehrten Alltags, vielleicht sein mögen – man wird darüber hinaus schon fragen müssen, was Socken, Morcheln, Zucker, Schokolade und Damenschuhe genauer mit der gelehrten Welt, mit Wissenschaft zu tun haben könnten. Gewiss mussten auch Gelehrte essen und trinken, ihre Frauen und Kinder versorgen, sich kleiden; doch ein direkter Zusammenhang mit ihren gelehrten Tätigkeiten, der Astronomie oder Botanik etwa, drängt sich nicht gerade auf. Konsumgüter scheinen einer ganz anderen Ressourcenkategorie anzugehören als Bücher etwa, Instrumente, Informationen, oder gar Loyalitäten, Vertrauen, Anerkennung. Eine solche Einteilung in ‚endliche Ressourcen‘ auf der einen Seite (die sich verbrauchen, Essen etwa, oder Kleidung), und auf der anderen Seite ‚regenerierbare Ressourcen‘ (die durch Arbeit regeneriert werden müssen, Wissen etwa oder Status) und ‚generative Ressourcen‘ (die sich im Gebrauch vermehren, Anerkennung, Loyalität, Vertrauen, Können etwa) wurde für die Wirtschaftswissenschaften von Manfred Moldaschl vorgeschlagen, ist aber in einer allgemeinen Gesellschaftstheorie verankert. 4
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British Library, Ms. Sloane 4038, 4 und 70f. (Ray an Sloane, 1700). Oxford, Bodleian Library, Ms. Lister 3, 57f. (Butterfield an Lister, 01.10.1698). British Library, Ms. Sloane 3340, 99v; Ms. Sloane 3340, 99 (Petiver an Alexander Christie, 18.03.1714/15). MANFRED MOLDASCHL/THOMAS DIEFENBACH: Regeln und Ressourcen, in: Ökonomischer und soziologischer Institutionalismus. Interdisziplinäre Beiträge und Perspektiven der Institutionentheorie und -analyse, hg. v. MICHAEL SCHMID und ANDREA MAURER, Marburg 2003, S. 139–162, v. a. S. 153f. Moldaschl schließt hier grundsätzlich an die Theorie der Strukturierung von ANTHONY GIDDENS: Die Konstitution der Gesellschaft – Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt am Main 1988, an, gerade in der wechselseitigen Bedingtheit
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Dabei ist einer der Vorteile des Ressourcenbegriffs ja seine Offenheit und Anwendbarkeit auf ganz unterschiedliche Verfügbarkeiten. Materielle Dinge, Waren oder etwa soziale Beziehungen, moralische Werte und Wissen können Ressourcen sein bei allen Unterschieden, die nicht übersehen werden sollten. Diese sind aber nicht feststehend: Ressourcen, so eine Grundannahme, sind nicht ein für allemal eindeutig in Wert, Bedeutung und Charakter festgelegt, sondern sie ändern sich in ihrem Gebrauch. 5 Morcheln können gegessen werden und verschwinden dann als Dinge; nicht immer allerdings wird man davon ausgehen können, dass das ihre einzige Bedeutung war. Ihre Gegenständlichkeit und Essbarkeit war im obigen Beispiel gerade damit verbunden, dass sie geschenkt werden konnten, Zeichen einer dauerhaften sozialen Beziehung waren, die mit dem Verschwinden des Bedeutungsträgers nicht endete. Der Begriff der Ressource verweist nicht darauf, wie mit ihr umgegangen wird (ob sie etwa gekauft, getauscht, gemeinsam besessen, investiert oder gehortet werden kann). Diese Unbestimmtheit des Begriffs, analytisch gewiss auch ein Nachteil, ist zugleich ein Vorteil etwa gegenüber dem Kapitalbegriff Pierre Bourdieus, der die Umgangsweisen und Bedeutungsebenen vorgängig voneinander trennt und in eine Hierarchie bringt, so sehr seine Überlegungen auch weiterhin maßgeblich sind. 6 Ähnlich wäre auch die Unterscheidung von allokativen und autoritativen Ressourcen (das heißt Ressourcen, die Macht über Dinge und solche, die Macht über menschliche Akteure implizieren) bei Anthony Giddens zu hinterfragen. 7 Die unterschiedlichen Verwendungsweisen von Ressourcen wären Unteraspekte, die zugleich Gemeinsames anzeigen: Man kann über Ressourcen verfügen, das allerdings in sehr unterschiedlicher Weise. Das heißt, nicht nur die Ressourcen selbst sind veränderbar, sondern auch die sozialen Beziehungen, in denen sie stehen, und damit auch der Status der mit ihnen verbundenen Personen. Mit dem Ressourcenbegriff operationalisiert man mithin ein dynamisches soziales System. Im Folgenden werden drei mögliche Verfügungsrahmen von Ressourcen kurz vorgestellt, nämlich Tausch, Kauf und Haushalt. Dies sind nur drei von vielen möglichen Verfügungsrahmen; zu denken wäre auch an institutionalisiertere Organisationsformen von Ressourcenzirkulation, für die hier angesprochene Epoche
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von Ressourcen und Regeln, möchte aber dessen Ressourcenbegriff theoretisch weiter ausbauen und differenzieren. Vgl. den mittlerweile klassischen wirtschaftswissenschaftlichen Verweis auf EDITH PENROSE: The Theory of the Growth of the Firm, Oxford 42009 (11959), S. 22: „exactly the same resource when used for different purposes or in different ways and in combination with different types or amounts of other resources provides a different service or set of services“. Penrose insistiert auf der Heterogenität von möglichen Gebrauchsweisen von Ressourcen, seien es materielle oder personelle Ressourcen. Dadurch gebe es eine Interaktion zwischen beiden Ressourcenarten, d. h. Dinge werden verändert, da Menschen sie unterschiedlich gebrauchen können (ebd., S. 66f.). PIERRE BOURDIEU: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Soziale Ungleichheiten, hg. v. REINHARD KRECKEL Göttingen 1983 (Soziale Welt, Sonderband 2), S. 183–198. GIDDENS, Die Konstitution der Gesellschaft (wie Anm. 4), S. 86f.
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und das Thema etwa Manufaktur und Verlag. 8 Mit den drei hier skizzierten Verfügungsrahmen soll nur ein Feld angedeutet werden. Dazu werden einige sehr vorläufige Überlegungen angestellt, die theoretisch und empirisch erst im Ansatz durchdacht sind, aber den Versuch rechtfertigen, einen anderen analytischen Rahmen für Ökonomien im weiteren Sinn auszuprobieren. Es interessieren dabei vor allem zwei Aspekte: Zum einen der Transfer von Ressourcen innerhalb und zwischen verschiedenen Verfügungsrahmen. Gemeint ist damit die Zirkulation von bestimmten Ressourcen in unterschiedlichen Wertregimes (also beispielsweise der Weg einer Pflanze von einer Weide über den Kauf in die Sammlung eines gelehrten Haushalts und von dort über den Tausch in andere gelehrte Haushalte). Dieser Aspekt fragt eher von den Ressourcen aus, von ihrer ‚Biographie‘ in verschiedenen Kontexten. Für unser Thema hieße das zu fragen, wie etwa Dinge (Steine oder Pflanzen etwa) zu wissenschaftlichen Dingen werden. Zum anderen interessiert der Aspekt der Ressourcenkonversion. Der Begriff der Konversion wird gegenüber jenem des Tausches bevorzugt, weil er mehrere Bedeutungsschichten enthält, die hier zentral sind. Zunächst kann etwa eine Währung in eine andere konvertiert werden, getauscht, gewechselt. Dann bedeutet Konversion auch Umwandlung, etwa in religiöser Hinsicht. Genau diese beiden Bedeutungsschichten sind nun wichtig bei der Ressourcenkonversion: Ressourcen werden ausgetauscht, dabei aber auch verändert. Gemeint ist also die Konversion einer Ressource in eine andere (ein Buch wird in Geld konvertiert, eine Pflanze in Anerkennung etc.) – eine Konversion, die sich aus der Perspektive der Akteure zu Handlungsketten verbinden und soziale Handlungsmuster ausbilden kann. Dieser Aspekt fragt entsprechend danach, welche Anstrengungen unternommen werden, welche sozialen Logiken bestehen müssen, um eine bestimmte Ressource für eine andere konvertierbar zu machen – allgemein also: Wie kann ein Tausch sehr unterschiedlicher Ressourcen funktionieren? Konkret hieße das etwa: Wie lassen sich Morcheln für die Astronomie nutzbar machen? Bei beiden Aspekten ist zu fragen: Welche sozialen Beziehungen werden dadurch ermöglicht, welche Handlungsspielräume und Zugriffsmöglichkeiten haben die Akteure (männliche und weibliche, unterschiedlichen Alters und sozialen Standes etc.), wie ändern sich dabei die Ressourcen? Mit diesem Untersuchungsrahmen ist vielleicht besser erklärbar, was ein Sack Morcheln mit der Astronomie zu tun haben konnte, was Frauen oder andere Nicht-Gelehrte und Haushalte mit Wissenschaft. Jenseits des Dualismus von Inklusion und Exklusion erschließen sich über Ressourcenzirkulation und Ressourcenkonversion Aspekte frühneuzeitlicher Naturforschung, die den Begriff von Wissenschaft überdenken lassen.
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Vgl. ausführlicher dazu, auch wenn die Überlegungen einem früheren Stadium angehören: SEBASTIAN KÜHN: Wissen, Arbeit, Freundschaft. Ökonomien und soziale Beziehungen in den Akademien von London, Paris und Berlin um 1700, Göttingen 2011 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 10).
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2 TAUSCH Als der Londoner Botaniker James Petiver einen Brief an den in Boston lebenden Geistlichen Cotton Mather (1663–1728) schrieb und ihn mit „Yr great Admirer & most affectionate Friend“ unterzeichnete (statt mit dem üblichen „your humble servant“), war nicht eine lang gereifte, besonders enge affektive Beziehung angezeigt: Es war die erste Kontaktaufnahme. Petiver bat um Zusendung von Pflanzen und Insekten, schickte selbst einige Exemplare und einen Schmetterlingsfänger. 9 Er zeigte mit seiner Freundschaftsrhetorik nicht nur an, dass er überhaupt in einen Austausch treten möchte, sondern auch, in welcher Form dieser Tausch stattfinden soll. Der Tausch unter Freunden sollte frei und gleich sein und sich damit von den Regeln des Marktes ebenso abgrenzen wie von hierarchischen Herrschaftsbeziehungen. Cotton Mather scheint wie gewünscht geantwortet zu haben: einige Zeit später wurde er in einer Publikation Petivers ehrend als gelehrter Beiträger erwähnt. 10 Petivers Korrespondenten in Übersee wurden für ihre mitunter mühsame Arbeit im Urwald nicht bezahlt, lehnten solcherlei Angebote sogar entrüstet ab.11 Hingegen drangen sie darauf, dass Petiver ihnen auch schreibt und ihre Wünsche erfüllt: seien es medizinische Pflanzen, Bücher und Zeitungen oder etwa die Vermittlung eines Apothekerlehrlings. Die Freundschaft erhielt sich nur in Zirkulation und Konversion ganz unterschiedlicher Ressourcen. Die Attraktivität der Beziehung beruhte unter anderem darauf, dass nicht festgelegt war, welche Ressource oder Ressourcenart mobilisiert werden konnte. Freundschaft war damit ein höchst flexibles System, an alle möglichen Ressourcen zu gelangen und diese wiederum nutzbar zu machen. Unter frühneuzeitlichen Bedingungen von Ressourcenknappheit (nicht nur an Geld, sondern an fast allen Ressourcen, und das auch für Wohlhabende) 12 erklärt das die Bedeutung der sozialen Beziehung Freundschaft für eine Ökonomie des Tausches. In London angekommen, zirkulierten die exotischen Objekte aus Übersee wieter unter Freunden. Petiver musste mitunter im Namen der Freundschaft daran erinnert werden, dass er ja einige Pflanzen versprochen hatte. So schrieb ein Freund aus der Nähe Londons eindringlich: „you still thereine remain my debtor. I think its now time to put you in mind of you promis and to request of you the payment of that debt by the first opportunity“. 13 Die Worte ‚Schuld‘ und ‚Bezahlung‘ rückten diesen Tausch in die Nähe des Kaufs, aber die Logik des Tauschs unter Freunden herrschte auch hier vor: Der Wert der Ressourcen war nicht festgelegt, zwischen den jeweiligen Investitionen konnte eine mitunter große Zeitspanne liegen. Zugrunde lag diesem Tauschverhältnis das Vertrauen, dass der 9 10 11 12
British Library, Ms. Sloane 3340, 155r–157r (Cotton Mather an Petiver, 06.04.1715). Petiveriana III, London 1717, n. p. British Library, Ms. Sloane 3321, 84f. (Bulkley an Petiver, 09.11.1701). S. dazu GABRIELE JANCKE: Gastfreundschaft in der frühneuzeitlichen Gesellschaft: Praktiken, Normen und Perspektiven von Gelehrten, Göttingen 2013 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 15), S. 216–234. 13 British Library, Ms. Sloane 3321, 57f. (Dale an Petiver, 23.10.1700).
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Freund über etwas verfügen wird, auf das man Zugriff hat; dass man sich letztlich auf ihn verlassen kann. In der Ökonomie des Tausches unter Freunden stellten daher Loyalität, Vertrauen und Verpflichtung wesentliche moralische Ressourcen dar, 14 die immer wieder aktualisiert werden mussten. Freundschaft war im Modus gegenseitiger Verpflichtung auf Dauerhaftigkeit angelegt. Man stand immer in der Schuld, etwas zu leisten; im Notfall waren Freunde zu verteidigen gegen Angriffe und Kritik. Wurde diese Erwartung zur Loyalität den Freunden gegenüber nicht erfüllt, konnte die Freundschaft in Feindschaft umschlagen, in der man sich bitter bekämpft, verunglimpft und beschimpft. Die vielen Ehrstreite unter Gelehrten zeugen davon. Die meisten Ehrstreite entzündeten sich am Erstentdeckungsrecht. Der Erstentdecker einer Pflanze, eines Steines oder Kometen musste ehrend genannt werden. Jede Nicht-Nennung wurde als Beleidigung angesehen und musste gesühnt werden. Die Distinktion gelehrter Tätigkeit bemaß sich an dieser Ehrvorstellung. Diese kollektive Anerkennung war wichtig, da darüber weitere Ressourcen erschlossen werden konnten: Man konnte so zu neuen Freunden, Patronen, vielleicht sogar zu einem Posten gelangen. Doch wären wir damit schon bei anderen Verfügungslogiken. Einige Schlussfolgerungen ergeben sich aus dem bisher Gesagten zum Tausch. Bisher habe ich versucht, gängige Bezeichnungen und Kategorien zu vermeiden, mit denen der Tausch bisher weitgehend verbunden war: Gabe und Gegengabe, deren Reziprozität, die dadurch etablierte dyadische Beziehung. 15 Dieser analytische Rahmen scheint nicht ganz angemessen. Kritisiert wurde die Gegensätzlichkeit von Altruismus und Eigennutz, die dyadische Konzeption von Tauschakten, die Reziprozitätsannahme. 16 Stattdessen möchte ich vorschlagen, den Tausch eher als ein kollektives Pooling zu verstehen. Marshall Sahlins hat diesen Begriff für eine bestimmte Tauschform eingeführt, allerdings eher im Sinne einer zentralisierten Distributionslogik.
14 Vgl. dazu FRANZ MAUELSHAGEN: Netzwerke des Vertrauens. Gelehrtenkorrespondenzen und wissenschaftlicher Austausch in der Frühen Neuzeit, in: Vertrauen. Historische Annäherungen, hg. v. UTE FREVERT, Göttingen 2003, S. 119–151, hier S. 140f. 15 Vgl., so unterschiedlich die Autoren argumentieren, MARCEL MAUSS: Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques, in: DERS.: Sociologie et anthropologie, Paris 51993, S. 143–279; MARSHALL SAHLINS: On the Sociology of Primitive Exchange, in: The Relevance of Models for Social Anthropology, hg. v. MICHAEL BANTON, London 1965, S. 186–225; PIERRE BOURDIEU: Ist interessenfreies Handeln möglich?, in: DERS.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main 1998, S. 139–157. 16 Vgl. etwa ALAIN CAILLE: Don, intérêt et désintéressement. Bourdieu, Mauss, Platon et quelques autres, Paris 1994; NATALIE ZEMON DAVIS: The Gift in Sixteenth-Century France, Madison, Wisc. 2000; BEATE WAGNER-HASEL: Egoistic Exchange and Altruistic Gift. On the Roots of Marcel Mauss’ Theory of the Gift, in: Negotiating the Gift. Pre-Modern Figurations of Exchange, hg. v. GADI ALGAZI, VALENTIN GROEBNER und BERNHARD JUSSEN, Göttingen 2003, S. 141–171; MAUELSHAGEN: Netzwerke des Vertrauens (wie Anm. 14).
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Elinor Ostrom hat die Idee des kollektiven Pooling weitergeführt. 17 Daran anschließend, das Konzept zugleich abwandelnd, möchte ich den Begriff verwenden als einen dezentralen (wenn auch hierarchisch strukturierten), gemeinschaftlich genutzten Ressourcenpool, über den eine bestimmte Gruppe (hier: Gelehrte) verfügen und in den sie investieren kann. Gruppenzugehörigkeit drückt sich eben dadurch aus, dass über den Pool verfügt werden kann – wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße. Jede Tauschhandlung wäre demnach nicht nur an ein personalisiertes Gegenüber gerichtet, sondern auf die Gruppe insgesamt. Diese Konzeptionalisierung von Tauschhandlungen im gelehrten Feld bietet den Vorteil, dass soziale Praxis und normative Selbstbeschreibung der Gelehrtenrepublik nicht einander gegenüber gestellt werden müssten, beispielsweise als Praxis des persönlichen Eigennutzes gegen die verschleiernde Rhetorik des Gemeinwohls, sondern in ein Modell integriert werden können. 18 Ein weiteres Merkmal des Pooling im gelehrten Tausch war, dass darüber dauerhafte Beziehungen gestiftet wurden. Man konnte nicht einmalig etwas investieren und dann dem Pool entnehmen (so das klassische Tauschmuster von Gabe und Gegengabe), womit wieder eine Balance hergestellt wäre. Statt von der Gabe her zu denken, die zur Gegengabe verpflichtet, schlage ich vor, das Pooling von der Verschuldung her zu denken: Schon ein einmaliger Zugriff auf den Pool musste immer wieder und immer neu abgegolten werden, ohne dass das vollständig möglich gewesen wäre. Als Teilhaber des Pools stand man dauerhaft in Kredit, der nie abzubezahlen war, aber weiterhin Kreditfähigkeit attestierte. Eine Erstentdeckung etwa war nicht mit einmaliger Anerkennung auszugleichen, das Zuschicken von Pflanzen konnte nicht durch eine einmalige Gegensendung abgegolten werden, sondern musste dauerhaft und immer wieder honoriert werden. Es gibt daher auch keine Balance der Reziprozität, sondern nur jeweils ein Aushandeln des Angemessenen, um Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und (abgestufte) Zugänglichkeit zu den Ressourcen zu bestimmen. Die Hierarchien wurden über diesen Prozess hergestellt, in dem geregelt wurde, wer zu welchen Ressourcen und zu welchen Bedingungen Zugang hat. Dieses Pooling lässt sich auch besser verstehen, wenn man die Handlungssequenzen nicht dyadisch konzipiert, sondern triadisch, wodurch der gemeinschaftliche Charakter operationalisierbar wird. Fast immer sind Konstellationen anzutreffen, an denen mindestens drei Instanzen 19 beteiligt waren – und das in ganz 17 SAHLINS, On the Sociology of Primitive Exchange (wie Anm. 15), S. 141; ELINOR OSTROM: Governing the Commons. The Evolution and Institution of Collective Actions, Cambridge 1990. 18 Vgl. die Sicht auf die Gelehrtenrepublik als ein wesentlich von Pooling bestimmtes politisches Gemeinwesen der Vormoderne etwa bei DANIEL SCHLÄPPI: Corporate Property, Collective Resources and Statebuilding in Older Swiss History, in: Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300–1900, hg. v. WIM BLOCKMANS, ANDRÉ HOLENSTEIN und JON MATHIEU in collaboration with Daniel Schläppi, Aldershot 2009, S. 163–172, hier S. 171. 19 GEORG SIMMEL: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 6 1983, Kap. II.
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unterschiedlichen Konstellationen: Die Rolle des Publikums, der Öffentlichkeit, war für Fragen der Anerkennung, Ehre und des Status wichtig; Empfehlungen, Stellvertretung, Mittler, Vermittler und Richter stellten andere mögliche Formen triadischer Konstellationen dar. In spezifischen Trinkritualen zwischen einem Gelehrten und einem Objektmittler im Gedenken an den abwesenden Sender lässt sich das besonders gut greifen. 20 James Petiver war so öfters zu finden in den Gasthäusern und Tavernen bei den Docks, wie er ein Glas hebt zusammen mit Schiffsoffizieren (den Überbringern der fragilen Fracht exotischer Pflanzen und Tiere) auf die Gesundheit seiner Korrespondenten in Übersee, denen er umgehend darüber berichtete. Alle Beteiligten, darunter auch Frauen, hatten Zugriff auf den Pool der gelehrten Welt, zumindest vermittelt über Petiver: sie wurden ehrend erwähnt in Petivers Schriften; sie konnten an Informationen oder an andere Ressourcen aus dem gelehrten Pool gelangen. Über das kollektive Pooling des gelehrten Tauschs konnten so sehr verschiedene Ressourcen zirkulieren und konvertiert werden, und das unter Beteiligung vieler (auch weiblicher) Akteure, um mit diesen Praktiken erst eine zugleich distinkte und offene, hierarchisch strukturierte und männlich dominierte Gelehrtengemeinschaft zu schaffen. Der Tausch ermöglichte vor allem die Konversion von Ressourcen sehr unterschiedlicher Natur (Informationen, Wissen, Fähigkeiten, wissenschaftliche Objekte, Instrumente, Speisen und Getränke, Anerkennung, Loyalität, Vertrauen, Ehre, Beziehungen, Geld, Ämter und Posten etc.), gerade weil diese Ressourcen im gelehrten Pool zusammen kamen. Das machte die Offenheit und Stärke dieses gemeinschaftlichen Tauschsystems aus, das eben darauf beruhte, viele Ressourcen und Akteure mobilisieren zu können. Auf der anderen Seite musste dafür gesorgt werden, dass der Kreis der Teilnehmenden nicht beliebig erweiterbar war. Anerkennung als Gelehrter oder gar Mitgliedschaft in gelehrten Institutionen blieb Vielen verwehrt, nicht nur Frauen – sie hatten nur vermittelt Zugriff auf einige der gelehrten Ressourcen. Deutlich wird diese begrenzte Vermittlung an den Verfügungsrahmen des Kaufs und Haushalts. 3 KAUF Wie schwierig es war, allen Verpflichtungen gegenüber gelehrten Freunden gerecht zu werden, soll ein weiteres Beispiel aus England zeigen. Der Botaniker und Geologe John Ray (1627–1705) hatte in seinem Buch über die Erdentstehung darauf hingewiesen, dass er die Kenntnis eines Fossilsteines von seinem Freund Edward Lhwyd (1660–1709) habe – ganz im Sinne des gelehrten Pooling, wo die 20 Vgl. dazu ausführlicher SEBASTIAN KÜHN: „We have not fail’d to remember you on all occasions & to drink constantly your health“ – Drinking Rituals and the Social Model of Triads in Early Modern Scholarly Friendship, in: Varieties of friendship. Interdisciplinary perspectives on social relationships, hg. v. BERNADETTE DESCHARMES, ERIC ANTON HEUSER, CAROLINE KRÜGER und THOMAS LOY, Göttingen 2011 (Freunde – Gönner – Getreue. Studien zur Semantik und Praxis von Freundschaft und Patronage 1), S. 175–190.
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Erstentdeckung immer wieder honoriert werden musste. Bei Edward Lhwyd nun beschwerte sich ein dritter Gelehrter, William Cole (1635–1716), dass er beleidigt sei, nicht von John Ray erwähnt worden zu sein, denn Lhwyd habe ja erst den Stein bei ihm, Cole, gesehen. 21 Das Interessante an diesem Fall aber ist, dass Cole, der beleidigte Kläger, schildert, er habe den Stein von Bergarbeitern erhalten, die mit dem Namen und den Eigenschaften des Steins offenbar durchaus vertraut waren. Deren möglicherweise verletzte Ehre wird von keinem der Gelehrten in Erwägung gezogen. Der Rückschluss wäre falsch, zu behaupten, die Bergleute hätten keine Ehre. Nur drückt sie sich vielleicht nicht im Austausch an wissenschaftlich relevanten Informationen und Objekten aus. William Cole hatte sie für diesen Stein bezahlt, und damit war die Transaktion abgeschlossen; hier ist es nicht nötig, ständig an den arbeitenden Verkäufer zu erinnern und seine Verschuldung deutlich zu machen. Damit sind wir in der völlig anderen Ökonomie des Kaufes. Während der Tausch unter Freunden eine gewaltige soziale und moralische Investition voraussetzte (dauerhafte Verschuldung, Vertrauen, Verpflichtung, Loyalität, Ehre, Anerkennung in der Gemeinschaft), ist davon beim Kauf zunächst nichts festzustellen. Der Kauf ist ein simultaner Tausch ‚Ware gegen Geld‘ bzw. ‚Ware gegen Ware‘. Allerdings sind damit auch, wie neuerdings öfter betont wird, Aspekte von Vertrauen, Loyalitäten und Ehre verbunden. Tausch und Kauf gehen ineinander über, und oft war es Verhandlungssache, in welchem System man sich bewegte. Idealtypisch kann vielleicht formuliert werden, dass im Kauf das Interesse am sofortigen Erwerb sehr bestimmter, konkreter Ressourcen überwog (Geld oder eine andere Ressource). Es wurde um den Preis gehandelt, aber nach der Bezahlung waren nicht zwangsläufig gegenseitige Verpflichtungen vorhanden. Im Vergleich zur Ökonomie des Tausches konnte das zunächst eine große Entlastung sein. Allerdings fehlte nun auch die Option, künftig gute Ware zum guten Preis zu kaufen. Und: Im Kauf war man nicht Teil des kollektiven Pools. Und so wurden ganz folgerichtig die Bergarbeiter gar nicht in Erwägung gezogen. Die Ökonomie des Kaufes befreite die Beteiligten von weitergehenden Verschuldungen; in den Wissenschaften war sie eine Technik zur schnellen Umwandlung von ökonomischen in soziale und kulturelle Ressourcen. Ein Gelehrter konnte Objekte kaufen und damit sein Ansehen im Sinne der Erstentdeckung steigern. Die Anerkennung des Ansehens konnte aber nur in der Ökonomie des Tausches unter Freunden aktualisiert werden. In den Wissenschaften verwies der Kauf immer auf den Tausch. Die Objekte selbst wandeln ihren Status beim Kauf. Ressourcen haben, wie Igor Kopytoff und Arjun Appadurai programmatisch aufzeigten, 22 ein kulturelles und soziales Leben: In ihrer ‚Biographie‘ erfahren sie Bedeutungs- und Wertver21 Bodleian Library Oxford, Ms. Ashmole 1817a, 222 (Ray an Lhwyd, 26.11.1693). 22 ARJUN APPADURAI: Introduction: Commodities and the Politics of Value, in: DERS.: The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986, S. 3–63; IGOR KOPYTOFF: The Cultural Biography of Things: Commoditization as Process, in: ebd., S. 64– 91.
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änderungen, was auch daran liegt, dass sie verschiedene Wertregimes (zum Beispiel als Ware, als Erbe, als Geschenk, als Diebesgut, als Museumsstück etc.) durchlaufen. Bei den Bergarbeitern waren die Steine weniger ihres wissenschaftlichen Wertes als ihres ökonomischen Tauschwertes wegen geschätzt. Zunächst Teil von verwertbaren Bausteinen, Kohle oder Schuttabfall, hatten die Bergarbeiter offenbar so viel Wissen, den wissenschaftlichen Wert dieses Steins zu erkennen und ihn auszusondern aus dem übrigen Material. Bei ihnen schon (nicht erst bei den Gelehrten!) setzte die Singularisierung zum einmaligen wissenschaftlichen Ding ein; sie bestimmten den Kaufwert nicht nach der Bau- oder Heizfähigkeit, geschweige denn nach dem Wert von Schutt, sondern nach gelehrten Bedürfnissen. Dieser Statuswandel der Objekte in der Ökonomie des Kaufes (vom primär ökonomischen zum wissenschaftlichen Ding) markiert eine der Bruchstellen zwischen dem, was als Wissenschaft anerkannt wird und wer als Gelehrter gilt, und was bzw. wer nicht. Interessant ist, dass dieser Statuswandel dem gelehrten Pooling vorgelagert war. In der Ökonomie des Tausches unter gelehrten Freunden war dieser Transfer dann schon vollzogen: Hier wurden wissenschaftliche Objekte getauscht, deren Status grundsätzlich gleich blieb. Das mit ihnen verbundene Ansehen verblieb beim (gelehrten) ‚Erstentdecker‘, was alle anderen loyal anzuerkennen hatten. Halten wir diesen Befund noch einmal fest: Dinge zirkulieren in verschiedenen Verfügungsrahmen und verändern dabei ihren Wert, ihre Bedeutung, damit auch den Status der mit ihnen verbundenen Akteure. Ein Stein wurde schon von Bergarbeitern singularisiert und in seinem Wert verändert; er war nun nicht mehr einfaches Baumaterial, sondern wissenschaftlich interessant. Er verblieb aber im Verfügungsrahmen des Kaufes – und wurde so von Gelehrten erworben. Im Kauf schon, außerhalb des gelehrten Pooling, findet die Bedeutungsveränderung zu einem wissenschaftlichen Gegenstand statt. Die Gelehrten erwerben einen schon singularisierten wissenschaftlichen Gegenstand (nicht sie schaffen ihn!), führen ihn aber einem anderen Verfügungsrahmen zu: dem des gelehrten Tauschs. Hier erst wurde der Stein untrennbar mit personalisierter wissenschaftlicher Anerkennung im Pool versehen (um die man sich, wie das obige Beispiel zeigte, durchaus streiten konnte) – seine Bedeutung wurde dauerhaft festgeschrieben. Nur im Tausch konnte er nahezu beliebig in andere Ressourcen konvertiert werden. Selbst wenn er nun weiter an einen Patron verkauft oder verschenkt wurde, behielt er grundsätzlich seine Qualität als personalisierter wissenschaftlicher Gegenstand bei. 4 HAUSHALT Der Kauf hatte Vorteile für die Gelehrten; schnell konnten Ressourcen erworben werden – allerdings ohne Garantie darauf, das auch weiterhin tun zu können. Der Markt für wissenschaftlich interessante Objekte war um 1700 sehr umkämpft. Verkäufer konnten vielfältig verkaufen oder ihre Kenntnisse und Fähigkeiten anderweitig einsetzen. Der Wunsch nach Loyalität und Vertrauen in Personen, die
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nicht dem gelehrten Pool angehörten, auf die Gelehrte aber dennoch angewiesen waren, ließ sich aber auch anders erfüllen: über eine längerfristige Anstellung etwa. Von Robert Boyle (1627–1692) ist bekannt, dass er viele seiner chemischen und physikalischen Versuche von Helfern ausführen ließ. Sie mussten schwören, das in sie gesetzte Vertrauen nicht zu missbrauchen. Diese Anstellung gehört nun wieder zu einer anderen Ökonomie: der des Haushalts. Die Helfer Boyles wohnten in seinem Haus, wurden von ihm auf mindestens ein Jahr angestellt und versorgt. 23 Männliche Angestellte, Diener, Schüler und Lehrlinge gehörten zu Haushalten dazu wie Frauen, Mägde und Kinder. Der Haushalt stellt den wohl grundlegendsten Verfügungsrahmen über Ressourcen in der Vormoderne dar, allerdings immer in Verbindung mit den anderen Verfügungsrahmen. Über den Tausch vor allem zirkulierten wichtige Ressourcen zwischen Haushalten; andere Ressourcen wurden gekauft. Die Haushalte versorgten sich mit dem nötigen Geld über verschiedene Kanäle. Bei den Kirchs etwa war die Patronage wichtig: 24 Gerade nach dem Tod Gottfried Kirchs konnte seine Frau ihren Witwenhaushalt über Patronage als einen Astronomenhaushalt erhalten: Sie erhielt Wohnung und Observatorium, wohl auch finanzielle Mittel vom Baron von Krosigk (1656–1714). Weiterhin erstellte und verkaufte sie Kalender für verschiedene Verlage – eine Tätigkeit, die der Kirch-Haushalt seit frühester Zeit ausübte und nicht unerhebliche Mittel dafür erhielt. Ein Gehalt von der Akademie als königliche Astronomen erhielten nur die männlichen Haushaltsmitglieder: Gottfried Kirch, später dann sein Sohn Christfried (1694–1740). Doch auch Maria Kirch konnte, wie zu Zeiten ihres Mannes, astronomische Schüler und Lehrlinge aufnehmen – zugleich eine weitere Einnahmequelle und Hilfe bei der astronomischen Haushaltsarbeit. Innerhalb dieser Ökonomie des Haushalts arbeiteten alle mit, um das Einkommen und Ansehen des Haushaltes zu steigern. Es war eine interdependente Arbeits- und Lebensform, die unsere Begriffe von Eigentum und Individualität hinterfragt. Hier finden wir ebenso einen Verfügungsrahmen von gemeinsamen Ressourcen, ein Pooling, das aber etwas anders organisiert ist als im Tausch. Der Haushalt verteilte die Ressourcen zentralistisch, in deutlicheren Hierarchien. Dennoch handelte es sich um gemeinsam verantwortete Ressourcen. Das Ansehen des Haushaltes etwa wurde nicht nur durch den oft zitierten Hausvater gesichert und erstreckte sich nicht nur auf ihn. So reagierte der französische Hugenotte Dénis Papin (1647–1714) äußerst heftig, als seine Frau von der Magd des Nachbarn beleidigt wurde: 25 Die Beleidigung betraf den ganzen Haushalt und spielt sich auf dem Hintergrund eines theologischen Streites um cartesianische Positionen ab. Ebenso sah 1726 auch die Schwester (?–?) des verstorbenen Pariser Geografen 23 STEVEN SHAPIN: The Invisible Technician, in: American Scientist 77 (1989), S. 554–563, hier S. 560. 24 S. dazu ausführlicher: KÜHN, Wissen, Arbeit, Freundschaft (wie Anm. 8), S. 88–122. 25 EDUARD WINTZER: Dénis Papin’s Erlebnisse in Marburg. 1688–1695, Marburg 1898, S. 27– 41; LOUIS DE LA SAUSSAYE/ALONZO PEAN: La vie et les ouvrages de Denis Papin, Bd. I, Blois 1894, S. 317–320.
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Guillaume Delisle (1675–1726) das Ansehen des ganzen Haushalts gefährdet, sollten die wahren Umstände seines Todes bekannt und vielleicht sogar in dem öffentlichen Éloge des Akademiesekretärs Fontenelles (1657–1757) erwähnt werden. Aus Schmerz, schreibt sie an ihren anderen Bruder Louis, würde sie sterben, sollte auch er solchen schmachvollen Neigungen (Alkoholismus) nachgehen. Sie bemühte erfolgreich einflussreiche Freunde in der Pariser Académie des Sciences, um das öffentliche Ansehen ihres verstorbenen Bruders, und damit ihr eigenes und das des gesamten Haushalts, zu retten. 26 Alle Haushaltsmitglieder waren aufeinander angewiesen und bildeten über den Tod hinaus eine interpersonale Einheit. Ehre, Ansehen, aber auch Güter und Wissen waren größtenteils gemeinsam verantwortete Ressourcen. Die Morcheln, die Maria Kirch schickte, mussten nicht unbedingt im expliziten Auftrag ihres Mannes verschickt werden, um zu diesem gemeinsamen Pool des Gelehrtenhaushalts zu gehören. Das Pooling im Haushalt gehorchte aber anderen Verteilungslogiken als das im gelehrten Tausch. Im Haushalt der Kirchs etwa arbeiteten Frauen und Kinder, Schüler und Mägde entsprechend ihrer Fähigkeiten mit. Die so gemeinsam erwirtschafteten Ressourcen (Instrumente, astronomisches Wissen, Kalender etc.) wurden der Berliner Akademie vorgelegt, die sich durchaus über die Tätigkeiten der Haushaltsmitglieder im Klaren war, aber nur den männlichen Haushaltsvorstand als Gelehrten akzeptierte, in die Akademie aufnahm und für seine Leistungen entlohnte. Nach dem Tode Gottfried Kirchs wurde dessen noch sehr junger Sohn Christfried explizit mit dem Verweis als Astronom berufen, dass er ja seine erfahrene Mutter zur Hilfe habe. 27 Wie die Aufgaben im Haushalt verteilt waren, konnte sehr unterschiedlich sein. Bei den Kirchs scheint die Ehefrau gleichberechtigt neben ihrem Mann, später neben ihrem Sohn gearbeitet zu haben. Bei der Pariser Astronomenfamilie de la Hire können wir nur rekonstruieren, dass die noch minderjährige Tochter (?–?) zumindest gelegentlich bei Beobachtungen aushalf; der Londoner Astronom Flamsteed (1646–1719) aber scheint seine Ehefrau Margareta (ca. 1670–1730) und seine männlichen Lehrlinge ebenfalls gleichberechtigt behandelt zu haben. 28 Im Haushalt wurden so gemeinsame Fähigkeiten ausgebildet, gefördert und zum Einsatz gebracht, die kaum über andere Arbeitsökonomien zu erlangen waren. Dadurch wurde vor allem praktisches Wissen weitergegeben, ein implizites 26 Paris, Assemblée, MS 1508, nr. 28, zitiert nach NELSON-MARTIN DAWSON: L’Atelier Delisle. L’Amérique du Nord sur la table à dessin, Sillery (Québec) 2000, S. 184. 27 Archiv der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, I – IV – 6, 118vf.; I – XIV – 26, 14 und 18. 28 MONIKA MOMMERTZ: Schattenökonomie der Wissenschaft. Geschlechterordnung und Arbeitssysteme in der Astronomie der Berliner Akademie der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, in: Frauen in Akademie und Wissenschaft. Arbeitsorte und Forschungspraktiken 1700– 2000, hg. v. THERESA WOBBE, Berlin 2002, S. 31–63; ROB ILIFFE/FRANCES WILLMOTH: Astronomy and the Domestic Sphere: Margaret Flamsteed and Caroline Herschel as AssistantAstronomers, in: Women, Science and Medicine 1500–1700. Mothers and Sisters of the Royal Society, hg. v. LYNETTE HUNTER und SARAH HUTTON, Stroud 1997, S. 235–265. Paris Observatoire, D 1.2 (La Hire: Observations), 19.08.–09.09.1683.
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Wissen, 29 das nicht durch Bücher erworben werden konnte. Die Abstimmung der Intentionen bei einer Zeichnung etwa erforderte enges und dauerhaftes Zusammenarbeiten, das durch Kauf oder Tausch nur in den seltensten Fällen zu erlangen war. Im ständigen Austausch unter Haushaltsmitgliedern ließen sich Probleme eher lösen. Handgriffe wurden eingeübt, wie astronomische Instrumente zu bedienen, wie chemische Apparaturen zu verwenden seien. Johann Leonhard Frisch (1666–1743) nahm in seinen Haushalt den chemischen Praktiker Diessbach (?–?) auf, um von ihm in praktischer Chemie und Alchemie unterrichtet zu werden. An Leibniz (1646–1716) schrieb er: „In Handgriffen ist er [Diessbach] in der Chymie vortrefflich, aber er hat kein fundament der Wissenschafft und der Natur. Ich habe ihn wegen seiner treue und willigkeit über 14 Jahr den meisten Unterhalt gegeben“.
Als Leibniz nach Einzelheiten fragte, konnte Frisch nur antworten, es „Kann auch keinem der die Handgriffe nicht mit ansieht, so deutlich beschrieben werden“. 30 Implizites Wissen entzieht sich der Versprachlichung und ist auf gleichzeitige räumliche Anwesenheit angewiesen. Ein permanenter Austausch von Fähigkeiten findet statt, der nicht den Regeln des personalisierten Tausches folgt, weil die Fähigkeiten dem gemeinsamen Haushalt untergeordnet sind. Wie im Tausch unter Freunden basiert die Arbeitsökonomie des Haushalts zwar auch auf gegenseitigem Vertrauen und Loyalität, doch sind diese eher auf den Haushalt als auf die Person gerichtet. Das Vertrauen resultiert weniger aus der sozial-moralischen Investition aus freiwilliger gegenseitiger Verschuldung, denn aus existentiellem AufeinanderAngewiesensein. Im Tausch konnten große zeitliche und räumliche Entfernungen überbrückt werden. Der Wissenstransfer im Haushalt beruhte aber auf dauerhafter räumlicher Nähe. 31 Auf der anderen Seite bestand aber eine grundsätzliche Hierarchie der Haushaltsmitglieder in ihren Beziehungen zur Außenwelt und zu gelehrten Kontexten. Nur der Haushaltsvorstand, in der Regel der Hausvater, konnte Akademiemitglied sein und galt als Gelehrter. Das im Haushalt produzierte Wissen wurde unter seinem Namen publiziert und in das System des Kaufes oder Tausches überführt. Die wissenschaftliche Reputation der Erstentdeckung verband sich mit seinem Namen. Leonhard Frisch galt als Gelehrter und hatte auf den gelehrten Pool Zugriff unter anderem durch die Entdeckung des Berliner Blaus; die Erfindung selbst hatte sein Angestellter Diessbach gemacht, der auch die chemische Arbeit verrichtete. Maria Kirch entdeckte 1702 einen Kometen, über den aber dann ihr Mann unter seinem Namen die gelehrte und nicht-gelehrte Welt unterrichtete. Denis Papin verfertigte eine Vakuumpumpe, konzipierte damit Experimente, führte sie durch und verfasste ein Buch darüber, das aber unter dem Namen Robert Boyles
29 KARL POLANYI: Implizites Wissen, Frankfurt am Main 1985. 30 Niedersächsische Landesbibliothek Hannover, LBr 289, 63r ff., 79r ff. (Frisch an Leibniz, 14.09.1715, 13.06.1716). 31 S. grundlegend und differenziert zu diesen Aspekten von Nähe und Ferne JANCKE, Gastfreundschaft (wie Anm. 12), S. 296–304.
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erschien, bei dem er angestellt war und in dessen Haushalt er lebte. 32 Dieses im Haushalt geschaffene Wissen war damit aber nicht das persönliche Eigentum des Haushaltsvorstandes. Er fungierte als Scharnier zur Außenwelt; sein Name funktionierte eher wie ein Label des Familienunternehmens. Nach seinem Tode war das praktische und theoretische Haushaltswissen die wichtigste Ressource des verbleibenden Haushaltes. Der Haushalt bot für marginalisierte Gruppen (Frauen, Kinder, Lehrlinge etc.) einen Schutzraum vor weiterer Ausgrenzung: Hier konnten sie sich wissenschaftlich betätigen und ihre Fähigkeiten geltend machen, hatten aber nur vermittelt über den Haushaltsvorstand Zugriff auf den Pool des gelehrten Tauschs, galten selbst nicht als gelehrt. Über die Ressourcen des Haushalts konnte von außen nicht einfach verfügt werden. Wollte sich Hans Sloane etwa der Mitarbeit der Frau (?–?) und Töchter (?–?) John Rays versichern, um Pflanzen zu sammeln, zu ordnen, zu beschreiben, so musste er sie einbinden – mit der Investition von eher dem Haushalt zugeordneten Ressourcen (Zucker, Schokolade). Vermittelt über den Haushaltspool durch Einsatz von Konsumgütern konnten so auch die gelehrten Tätigkeiten anderer Haushaltsangehöriger in den Pool gelehrten Tauschs transferiert werden. Und so lässt sich auch die Umwandlung von einem Sack Morcheln in astronomische Informationen in dieser Handlungskette beschreiben. Indem Maria Kirch dieses dem Haushalt zugeordnete Gut an einen Kalendermacher (zugleich ihr Schwager) und an die Frauen von Universitätsprofessoren schickte, verband sie gelehrte Haushalte miteinander (nicht einfach nur gelehrte Personen), deren Transaktionen dann auch in den Pool des gelehrten Tausches überführt werden konnten. Ihr Briefpartner und die beiden anderen Gelehrtenfrauen (und deren Männer) ließen herzlich danken für die Morcheln und kommunizierten weiterhin auch wissenschaftliche, astronomische Informationen. 33 Die Morcheln waren Teil einer verschränkten Ökonomie von Haushalt und gelehrtem Tausch. Ohne Morcheln und andere scheinbar ganz banale Ressourcen wäre Gottfried Kirch nicht an die astronomischen Beobachtungen gelangt, die für die gelehrte Tätigkeit benötigt wurden. 5 VERSCHRÄNKTE VERFÜGUNGSRAHMEN VON RESSOURCEN Der Einsatz von Ressourcen in den jeweiligen Ökonomien war nicht willkürlich. Das Begehren und die Verwendung bestimmter Ressourcen waren sozial hierarchisiert und genderkodiert. Nicht zufällig wurden Konsumgüter (Essen, Kleidung etwa) vor allem im Zusammenhang mit Frauen erwähnt. Das Interesse an Geld, 32 Zu Frisch und Diessbach: S. Anm. 29. Zu Maria Kirchs Kometenentdeckung: Paris, Observatoire B 3.7, Nr. 83 und 41 B; B 3.5, Beobachtungsbuch 1702, 33. Archiv der Berlin Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Kirch 32. Zu Denis Papin im Haushalt Boyles: ROBERT BOYLE: Experimentorum novorum physico-mechanicorum continuatio secunda, London 1680, in: The Works of Robert Boyle, hg. v. MICHAEL HUNTER und EDWARD B. DAVIES, Bd. 9, London 2000, S. 121–263. 33 Korrespondenz Kirch, hg. v. HERBST (wie Anm. 2), Bd. II, S. 347–350 (Junius an Kirch, 21.10.1699).
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Versorgung und anderen materiellen Ressourcen wurde so aus dem gelehrten Pooling ausgegliedert in andere Ökonomien, die damit aber verbunden waren. Subalterne (Frauen, Kinder, Angestellte, Diener) waren vor allem auf diese Ökonomien des Kaufs und Haushalts verwiesen. So ist es kein Zufall, dass die Frau (?–?) des Londoner Botanikers Bradley (ca. 1688–1732) den Verkauf seiner botanischen Sammlung regelte, und nicht er selbst. In dieses Bild passen dann topische Zuschreibungen von Handeln, wie etwa diese Wertung über Maria Merian (1647– 1717): „cette dame ne reserve rien pour elle mesme vendant tout ce quelle recoit, n’ayant autre but que de rirer de Largent de tout ce quelle fait et recoit, vous pouvez conjecturer du reste“. 34
Wer hingegen als Gelehrter verkaufte und so Interesse an Geld zeigte, machte sich verdächtig. Als der Berliner Arzt Maximilian Spener (1678–1714) wegen Schulden dazu gezwungen war, seine Naturaliensammlung zu verkaufen, rechtfertigte er ausführlich seine ökonomische und gelehrte Ehre, die er offenbar angegriffen sah. Der Verkauf entzog Ressourcen aus dem Pool gelehrten Tausches. Daher erklärt sich auch die Weigerung der Korrespondenten Petivers, sich bezahlen zu lassen. Man testete eher die Grenzen des Tauschs aus (Ware gegen Ware), indem man auch sehr konkret um bestimmte Ressourcen bat für die geschickten exotischen Pflanzen und Beschreibungen: Zeitschriften, Medikamente, auch Kleidung. Petiver wollte sich dem immer wieder entziehen, verwies auf die ehrenhaften Nennungen in seinen Publikationen, auf Zugang zur Royal Society – auf weniger festlegbare Ressourcen. Zugang zu diesen Ressourcen war für viele Siedler in den Kolonien wenig sinnvoll. Petiver ging daher immer mehr dazu über, für deren Dienste zu bezahlen. Die Transferlogiken änderten sich so bei gleichbleibenden Ressourcen und Beteiligten. Deren jeweiliger Status war aber damit ebenso tangiert: Die Pflanzen wurden zur austauschbaren Ware, mit einem Stückpreis; die Verkäufer wurden von gelehrten Partnern, deren Erstentdeckungsrechte anerkannt werden mussten, zu anonymen Zuträgern. Durch diese miteinander verschachtelten verschiedenen Ökonomien des Tauschs, Kaufs und Haushalts konnten Gelehrte zahlreiche Ressourcen mobilisieren. Sie etablierten ständeübergreifende Beziehungen in sehr unterschiedliche soziale Felder, strukturierten und verknüpften sie. In der Hierarchisierung der Verfügungsrechte zeigt sich eine Einhegung der gelehrten Welt auf den Tausch, auf ein gruppenbezogenes Pooling, zu dem Frauen und Kinder etwa oder Subalterne nur beschränkt und vermittelt Zugang hatten, zu dem sie aber beitrugen über die Ökonomien von Haushalt oder Kauf. Diese gesellschaftliche Semantik von Wissenschaft um 1700 lässt sich nur sehen, wenn die Zirkulation von Ressourcen und ihre Konversion in unterschiedlichen Verfügungsökonomien verfolgt werden. Erst dann wird erklärbar, dass auch Bergarbeiter, Ehefrauen und Kinder, Angestellte und Diener zwar beitrugen zur Wissenschaft, zugleich aber aus der dazuge34 British Library, Ms. Sloane, 3340, 5v–6v (Petiver an Bradley, 03.08.1714); Ms. Sloane 3322, 66f. (Bradley an Petiver, 20.08.1714); Ms. Sloane 4064, 3 (Levinus Vincent an James Petiver, Amsterdam 26.04.1704).
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hörigen Verfügungsökonomie des gelehrten Tausches ausgegliedert wurden. Erst dann wird erklärbar, dass ein Sack Morcheln Teil einer Konversionskette ist, die in den gelehrten Tausch von astronomisch interessanten Informationen mündet.
BEZIEHUNGSLOGIKEN
DER WERT DER WORTE – BEWERTEN UND PROZESSIEREN IN HANDLUNGSKETTEN IM KONTEXT VON FRÜHNEUZEITLICHER GASTLICHKEIT* Gabriele Jancke In einem Brief an seinen mehrfachen Gastgeber Erhard v. d. Marck, Bischof von Lüttich, schrieb Erasmus von Rotterdam (1466/69–1536) im Februar 1519 aus Löwen: „ne talem Principem, a quo sic essem prouocatus officiis, denuo vacuus et asymbolus conuenirem, aut ne putares ab hac tua florentissima Academia praeter aromatiten nihil mitti, litterarium hoc xeniolum pauculis hisce diebus adornaui, Paraphrasin in duas Epistolas ad Corinthios, quo Paulum illum vnicum nostrae religionis antistitem, tecum quocunque lubitum fuerit circumferas; posthac absque prolixis commentariis tecum dilucide familiariterque confabulaturum.“ 1
Erasmus schickt dem Bischof einen gelehrten Text aus eigener Feder, ein literarisches Gastgeschenk. Die Rede ist von Worten, die als Gegengabe für genossene Gastfreundschaft gegeben werden. Worte werden durch bestimmte Praktiken als Ressourcen eingesetzt, und der Begleitbrief erklärt, in welchem Sinn der übersandte Text als Ressource zu verstehen und wofür er zu gebrauchen sei. Die folgenden Überlegungen bezwecken, über den Umweg analytisch-technischer Abstrahierung die diachron und synchron, also gestaffelt und gleichzeitig zum Tragen kommenden inneren Logiken des Vorgangs zu dechiffrieren und die auf diese Weise sichtbar gemachten Denk- und Handlungsweisen in eine adäquate * 1
Ich danke Daniel Schläppi und Sebastian Kühn sehr herzlich für ihre wichtigen Kommentare zu einer ersten Fassung dieses Beitrages. [DESIDERIUS ERASMUS VON ROTTERDAM:] Opus epistolarum Desiderii Erasmi Roterodami, hg. v. P. S. ALLEN und H. M. ALLEN, Bd. 3: 1517–1519, Oxford 1913, Nr. 916 (Brief an Erard de la Marck, Löwen 05.02.1519), S. 480–491, hier S. 481f.; dt. Übers. nach: ERASMUS VON ROTTERDAM: Briefe, verdeutscht und hg. v. WALTHER KÖHLER. Erw. Ausg. v. ANDREAS FLITNER, mit 8 Abb., Darmstadt o. J. (= reprogr. ND der 3., v. Andreas Flitner erw. Aufl., Bremen 1956 = 4. Aufl. Leipzig 1995 mit neuem Vorw. und neuer Bibl.) (11938), Nr. 138, S. 224, mit Korrekturen von mir (G. J.): „Um nicht zu einem Fürsten, von dem ich so nachdrücklich durch Gefälligkeiten dazu aufgefordert bin (prouocatus officiis), wieder mit leeren Händen und ohne Erkennungszeichen der Zugehörigkeit (vacuus et asymbolus) zu kommen, und damit Du nicht glaubst, von dieser, Deiner so blühenden Hochschule werde außer Gewürzwein nichts geschickt, habe ich dieses literarische kleine Gastgeschenk (litterarium hoc xeniolum) in wenigen Tagen hergerichtet, eine Paraphrase zu den beiden Korintherbriefen, damit Du den Paulus, diesen einzigartigen Oberpriester unserer Religion, nach Belieben bei Dir tragen kannst, er wird dann ohne lange Kommentare lichtvoll und herzlich (dilucide familiariterque) mit Dir ein Gespräch führen.“
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Begrifflichkeit zu fassen. Anschließend soll das herausgearbeitete analytischterminologische Instrumentarium anhand von Fallbeispielen erprobt werden. a) Worte tauchen hier in einem Handlungskontext als Objekte auf, die von einem Akteur zu einem anderen transferiert werden können. Als solche transferierbare Objekte stehen sie auf einer Stufe mit anderen transferierbaren Objekten wie zum Beispiel Gewürzwein oder die zuvor genossenen gastlichen Ressourcen – Übernachtung, Essen, Trinken etc. Worte als transferierbare Objekte werden definiert durch den Stellenwert, der ihnen in der aktuellen Transfersituation im Verhältnis zu anderen möglichen Objekten zukommt. Zugleich wird ihre Funktion bestimmt im Verhältnis zu anderen Objekten, die zuvor bereits Gegenstand von Transferhandlungen gewesen waren. 2 Damit sind sie diachron in einer Handlungskette von Gabe und Gegengabe aufgereiht. Synchron sind sie in einem spezifischen Kontext verortet. Darin geht es dem Geber um die Wahl einer Ressource, die sich hier als Gabe verwenden lässt. In diesem Kontext werden Worte einerseits präsentiert als derjenige Gegenstand, der in der aktuellen Entscheidungssituation als geeignete Ressource ausgewählt wurde. Andererseits werden sie einem Gegenüber dargereicht, mit dem den Geber bereits vorausgegangene Handlungen des Gebens und Nehmens verbunden hatten. Zu einer Ressource werden die Worte dadurch, dass sie in einem Kontext von Gabe und Gegengabe eingesetzt werden als ein Tauschobjekt, das im Rahmen von Gastfreundschaft höchsten Wert erlangen kann und das von jenen, die über die dazu erforderlichen Kulturtechniken verfügen, mit entsprechenden Absichten verwendet wird bzw. worein sie investieren. b) Analytisch gesehen, geht es hier nicht nur um die Gegengabe, sondern auch darum, inwieweit die Gabe im Kontext – passend für die Situation, für die beteiligten Akteure und für deren Beziehung – etwas Neues mit hineinbringt. Das Synchrone zu beachten ist wichtig, um dem scheinbaren Kreislauf von Gabe und Gegengabe auch theoretisch zu entrinnen: Die Wertzuschreibung von Ressourcen erfolgt von zwei Bezugspunkten aus, zum einen von der diachronen Abfolge von Gabe und Gegengabe her und zum anderen vom synchronen Kontext der aktuellen Bedürfnislage, Bewertungen etc. her, wo Gegenstände als verwendbare Ressourcen gefunden, erkannt und definiert werden können. c) Die Worte werden als ein handfestes materielles Ding übergeben, das einerseits Sinn und Bedeutung der Worte konserviert, das der Empfänger andererseits mit sich herumtragen, bei sich aufbewahren oder anderen Menschen zeigen 2
Es ist hier durchgängig die Terminologie des Transferierens bzw. des Transfers verwendet, um die ökonomische Dimension dieser Praktiken deutlich zu machen. Mögliche Alternativen in der deutschen Sprache wie ‚übermitteln‘, ‚übertragen‘ o. ä. sind undeutlicher, zumal in dem hier diskutierten, nicht von vornherein ökonomischen Kontext; zudem tragen sie vielfach eine moralisch wertende Dimension ökonomischen Handelns in sich (dazu s. DANIEL SCHLÄPPI: Rechnungen und Rituale. Kollektive Praktiken als Schnittstelle zwischen den Finanz- und Beziehungshaushalten alteidgenössischer Personenkorporationen. Vortrag bei der 10. Arbeitstagung der AG Frühe Neuzeit: Praktiken der Frühen Neuzeit, München 12.– 14.09.2013; s. o. Einleitung nach Anm. 23), weshalb zugunsten einer ganz technischen Beschreibung des Vorgangs auf sie verzichtet wurde.
Der Wert der Worte
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kann. Über dieses Objekt kann er sodann ganz wie über jedes beliebige materielle Objekt verfügen. Darüber hinaus kann er es auf eine Weise verwenden, die spezifisch für dieses Objekt ist. Die benannte Verwendungsweise ist ihrerseits sehr speziell und setzt die Kompetenzen und Orientierungen von Gelehrten voraus, die ihr Begehren auf Worte (insbesondere solche in lateinischer Sprache) und auf einen besonderen Umgang mit Worten richten. Für diese Orientierungen besitzen das Verarbeiten und Zirkulieren von Worten einen hohen Stellenwert. d) Der Geber ist der Produzent der aktuell überreichten Worte, die schriftlich in Textform daherkommen. Die Worte selbst aber sind Ergebnis eines Verarbeitungsprozesses, den der schreibende Akteur an schon existierenden Worten vorgenommen hat, die ihrerseits ebenfalls in textueller Form zugänglich waren (die Korintherbriefe des Paulus in griechischer Sprache). Das vorliegende Wort-Objekt ist eine durch Um- und Neuschreiben in einer anderen (der lateinischen) Sprache daraus hergestellte neue Version, die als Produkt auf einen eigenen Autor zurückgeführt wird. Dieses neue Erzeugnis markiert einen Moment in einer Überlieferungskette – als einer der zahlreichen Aneignungs- und Verwendungsakte, die in einem Prozess aktiven und kreativen Umgangs vieler Akteurinnen und Akteure mit diesem gemeinsamen Fundus der religiösen und gelehrten Tradition ein langes Kontinuum vielfältiger Handlungen bilden. Das aktuell vom Geber präsentierte Wort-Objekt wird nach der einen Seite hin durch den vorausgehenden Text und Autor, nach der anderen Seite auf eine folgende Situation dieses Aneignungsprozesses hin definiert. e) Aus dem materiellen Wort-Objekt, das sich als Gabe in einer Transferhandlung von Ressourcen verwenden lässt, kann und soll, so lässt der Geber den Empfänger wissen, im Gebrauch eine kommunikative Situation hervorgehen, in der das überreichte Wort-Objekt für den Empfänger als Medium zu einem besonders begehrten Gesprächspartner, Paulus, fungiert. An dieser Stelle werden die Worte nicht mehr (nur) als Objekt gesehen, das sich im Rahmen einer Transferhandlung als Ressource so wie andere Ressourcen einsetzen lässt, sondern (zusätzlich) als Quelle einer aktuell stattfindenden, lebendigen Kommunikation zwischen verschiedenen menschlichen Akteuren. Insofern das Wort-Objekt das Medium für die Führung eines Gespräches abgibt, stellt es eine Ressource dar, mit der sich die lebendige, direkte Kommunikation als das letztlich angestrebte Ziel realisieren lässt, und insofern es Zugang zu einem der Akteure eines Gespräches gewährt bzw. einen solchen repräsentieren kann, kann es diese längst tote Person (Paulus) als aktuelles Gegenüber eines Gesprächs ins Leben zurückholen. Das Geschenk hat damit handlungsleitenden Charakter – hin auf ein an sich begehrtes Gut, und speziell hin auf eines der in theologischen und humanistischen Kreisen höchsten Güter überhaupt. Aus dem festen Wort-Objekt wird am Ende der Handlungskette wieder eine direkte Interaktion mit Worten. Die feste textuelle Form ist nicht als Ziel, sondern als Medium weiterer Akte eines kommunikativen Austausches markiert. f) Dieser Ressourcentransfer läuft auf etwas hinaus, was als ein Gut in sich gesehen ist. Damit unterliegt das Wort-Objekt auch einer Bewertung, die über den Wert und Nutzen als Ressource im gastlichen Gabentausch hinausgeht und zentra-
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le Güter des Lebens mit umfasst. Das Wort-Objekt erfährt aus diesem Grund eine besondere Art der Bewertung als Ressource, die aber zugleich im Verhältnis zu anderen Ressourcen steht. Grundsätzlich sind die Bewertungskriterien dafür innerhalb eines Referenzsystems zu sehen und zu interpretieren. Letztlich lassen sich Bewertungslogiken stets nur unter Einbezug des an bestimmten Wertigkeiten interessierten Personenkreises aufspüren und verstehen. g) Das Wort-Objekt, so wie es hier von Erasmus vorgestellt wird, ist durch eine Reihe von Bewertungslogiken konstituiert: Es ist erstens Ergebnis eines prozessierenden Umgangs mit bereits existierenden Worten (das heißt des Umgangs mit den Paulus-Briefen), zweitens ein materialisiertes Bedeutungs- und Wertkondensat innerhalb einer Handlungskette von Ressourcentransfers (für Gastfreundschaft und Gewürzwein etwa) und drittens eine Ressource, mit der sich durch geeigneten Gebrauch eine weitere begehrte Ressource herstellen lässt, die zugleich als ein hohes Gut in sich angesehen wird (ein Gespräch mit Paulus), was viertens als ein Handlungsfeld beständiger Produktion und Evaluation von Wert(en) kenntlich gemacht und fünftens durch verbale und andere Akte des Benennens und Bewertens realisiert wird (im Brief des Erasmus). Zeitlich gesehen, spielen sich diese Bewertungslogiken in einer von diachronen und synchronen Aspekten zugleich bestimmten Situation ab. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit Worten als Ressourcen; Ausgangspunkt ist Gastlichkeit als Handlungsfeld einer Ökonomie sozialer Beziehungen. 3 Worte können, wie Erasmus’ Ausführungen bereits deutlich gemacht haben, sowohl als materielle Objekte als auch in immateriellen Formen eine Rolle spielen, als Ressourcen mit einem wenn schon nicht quantifizier-, so doch benennbaren Nutzencharakter und entsprechend funktionalen Verwendungen, in einer breiten Palette von Praktiken und mit Funktionen, bei denen Ökonomisches eng mit Religiösem, Gelehrtem, Politischem verknüpft sein kann und sich nicht als ‚das Ökonomische‘ aus dieser Verschränkung herauslösen lässt. 4 Gastlichkeit ist als Umschlagplatz 3
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Zugrunde liegt meine ausführliche Studie zu frühneuzeitlicher Gastfreundschaft, v. a. im deutschsprachigen Raum; die dort vorgetragenen Überlegungen sind hier weiter geführt: GABRIELE JANCKE: Gastfreundschaft in der frühneuzeitlichen Gesellschaft – Praktiken, Normen und Perspektiven von Gelehrten, Göttingen 2013 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 15), insbes. Kap. 3: Ressourcen – eine Ökonomie sozialer Beziehungen, S. 215– 315, sowie Kap. 4: Ritualisierte Lebensweisen – mit materiellen Gegenständen soziale Räume machen: Betten, Tische, Becher, Worte, S. 317–409, zu Worten ebd. S. 374–384, die z. T. wörtlichen Übereinstimmungen mit Teilen dieser Kapitel sind hier nicht eigens ausgewiesen; vgl. mit Fokus auf das Verhältnis von Worten und Geld auch DIES.: Gäste, Geld und andere Güter in der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur. Über den Umgang mit Ressourcen in einer Ökonomie sozialer Beziehungen, in: Prekäre Ökonomien. Schulden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. GABRIELA SIGNORI, Konstanz/München 2014 (Spätmittelalterstudien 4), S. 181–220. Dazu vgl. GABRIELE JANCKE/DANIEL SCHLÄPPI: Ökonomie sozialer Beziehungen. Wie Gruppen in frühneuzeitlichen Gesellschaften Ressourcen bewirtschafteten, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 22 (2011), Heft 1: „Mitgift“, hg. v. KARIN GOTTSCHALK und MARGARETH LANZINGER, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 85‒97.
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von Ressourcen, als Ort von Gaben-, Tausch- oder Kaufbeziehungen eines der prädestinierten Handlungsfelder, auf denen Ökonomie praktiziert und gleichzeitig mit anderen Angelegenheiten sowie anderen Handlungsfeldern verflochten werden kann. Worte sind, so wie sie hier von Erasmus thematisiert werden, in ihrer Bedeutung über die damit verbundenen sozialen Praktiken zu fassen. Erst in ihrer Einbindung durch solche Praktiken in Handlungskontexte werden ihre Inhalte wirksam; für ein analytisches Verständnis der Strategien und Wirkungsweisen ist diese Einbettung mit zu berücksichtigen. Schon in dem kurzen Zitat wird deutlich, wie differenziert ein Gelehrter wie Erasmus solche praktischen Verwendungsweisen von Worten wahrnehmen und im Handeln auch praktisch einsetzen konnte. Ebenso tritt ein ausgeprägtes Interesse an den ökonomischen Aspekten und Verwendungsweisen von Worten hervor. Es zeichnet sich ab, dass diese ökonomischen Praktiken zum einen mit vielfältigen Formen des Prozessierens von Worten, zum anderen mit Bewertungshandlungen verbunden sind. Erasmus’ Brief an Erhard v. d. Marck stellt ebenfalls eine solche Bewertungshandlung dar, die genau wie andere schriftliche Äußerungen nicht mit den außertextuellen Praktiken identisch ist, aber zu den ökonomischen Praktiken mit dazugehört. Methodisch ergibt sich daraus die Folgerung, die Perspektiven der hier verwendeten Quellen – vorwiegend von männlichen Autoren verfasst und vorwiegend von solchen Gelehrten, die sich als Theologen oder Juristen in verschiedenen praktischen Tätigkeitsfeldern professionell für gesellschaftliche Normen zuständig fanden und dabei Worte auch als zentrale Objekte ihres Tuns behandelten – mit zu berücksichtigen. 5 Ressourcen existieren nicht einfach als solche. AkteurInnen müssen sie als solche erkennen, und zugleich werden sie durch ständige Ausübung von Praktiken und Bewertungshandlungen kulturell hergestellt bzw. definiert und mit dem weitreichenden „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ 6 (Hannah Arendt) verflochten. Dieser im Prinzip breite gesellschaftliche Prozess, der keineswegs frei von Machtverhältnissen stattfindet, soll hier in einem auf Gelehrte fokussierten Ausschnitt ins Auge gefasst werden. Im Folgenden wird Gastlichkeit als ein spezifisches Handlungsfeld betrachtet, das sich wesentlich über den Umgang der Agierenden mit vielfältigen Ressourcen definiert – den Ressourcen von Haushalten, verwaltet von den Haushaltsvorständen. Für Gäste aller Art kam es darauf an, Zugang zu diesen Ressourcen zu erhalten. Für Gastgebende ging es darum, Zugang zu solchen Ressourcen zu gewähren – und sie, die Gastgebenden, hatten sich vielfach auch die Frage zu stellen, wem 5
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Diese Perspektive unterscheidet sie von anderen Gelehrten, die mit eher naturkundlichen Interessen materielle Gegenstände aller Art untersuchten, sammelten, tauschten und in die Ökonomie ihrer Gelehrtenhaushalte und -netzwerke einbanden. Zu den hier untersuchten Gelehrten vgl. JANCKE, Gastfreundschaft (wie Anm. 3), S. 47–50 und passim; zu naturkundlich arbeitenden Gelehrten s. SEBASTIAN KÜHN: Wissen, Arbeit, Freundschaft. Ökonomien und soziale Beziehungen an den Akademien in London, Paris und Berlin um 1700, Göttingen 2011 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 10), sowie seinen Beitrag in diesem Band. HANNAH ARENDT: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 81994 (11958), Kap. 25.
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sie diesen Zugang boten und bis zu welchem Ausmaß sie das taten. Nicht zuletzt konnte die Frage im Raum stehen, ob, was und wie viel für das Gebotene wiederum zu geben sei. Essen, Trinken, ein Bett, oft auch eine Bezahlung dafür in Form von Geld – auf diese Begriffe lässt sich Gastlichkeit bringen, wenn sie unter dem Gesichtspunkt von Ressourcen betrachtet wird. Diese Liste von materiellen Objekten ist jedoch, wie Erasmus’ Bemerkung zeigt, unvollständig. Andere Arten von Ressourcen wie zum Beispiel Worte konnten ebenfalls eine Rolle spielen. Für gastliche Gaben wurde eine Gegengabe erwartet, und so mussten die AkteurInnen ständig die Frage im Auge haben, wie diese unterschiedlichen Ressourcen zu bewerten und in welche Verhältnisse sie zu setzen waren. Ich konzentriere mich auf Gelehrte und frage: Wie setzten sie Worte in diesem Kontext als Ressourcen ein? Wie bewerteten sie Worte neben solchen gastlichen Ressourcen wie Essen, Trinken, einer Schlafgelegenheit und evt. einer Bezahlung in Form von Geld? Welche ökonomischen Funktionen konnten Worte übernehmen? Welche Praktiken waren dafür wichtig? Mit welchen Praktiken wurden Worte als Ressourcen bearbeitet und verwendet? Wie wurden Worte als Ressourcen in Praktiken eingebaut und in Handlungskontexten eingesetzt? Wie waren diese Praktiken wiederum in soziale Beziehungen eingebettet? Welche Ökonomie wird hier erkennbar, und wie ist sie auf andere gesellschaftliche Handlungsfelder bezogen? 1 GASTFREUNDSCHAFT ALS HANDLUNGSFELD EINER ÖKONOMIE SOZIALER BEZIEHUNGEN – WORTE ALS RESSOURCEN Mit seinem literarischen Gastgeschenk aus eigener Feder behandelte Erasmus Worte, mündlich wie schriftlich und ganz besonders in gelehrten Formen, als Ressourcen, die sich tauschen, bewerten und in vielen Formen verarbeiten ließen. Während er selbst vielleicht nicht nur, aber auf jeden Fall auch materielle gastliche Ressourcen wie Essen, Trinken, ein Bett erhalten hatte, über die er jedoch kein Wort verliert, hat er seinerseits im Grunde etwas Immaterielles anzubieten. Erasmus’ Idee war die, dass der Bischof vermittelt durch seine Paraphrase der biblischen Korintherbriefe direkt mit deren eigentlichem Verfasser Paulus ins Gespräch kommen könne – und wolle. Das Potential für ein Gespräch war die Gabe, die er seinem mehrfachen Gastgeber mit seinem literarischen Gastgeschenk überreichte. Über diese eher immaterielle Ressource hatte er dann etliche Worte zu sagen. Damit tritt (indirekt) eine weitere, mit solchen Worten verbundene Ressource in den Blick: Geselligkeit. In diesem Fall bezog sich Erasmus auf die Gastfreundschaft des Bischofs, die er bereits mehrfach genossen hatte. Nun wollte er ihm im Nachhinein eine Gegengabe zukommen lassen. Diese Handlung war weniger als eine Art Bezahlung im Rahmen einer zweiphasigen Interaktion zu verstehen, sondern eingebettet in eine längerfristige soziale Beziehung zu seinem Patron, die er auf diese Weise aufrechterhalten wollte. Für beide Akteure stand die gastliche Ressourcen-Interaktion im Rahmen einer bestimmten sozialen Beziehung, die weit vor die hier im Brief
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sichtbar werdende Handlung zurückreichte und sie auch überdauern sollte. Das betreffende soziale Wissen ist in die Handlung implizit eingeflochten, musste aber für die Beteiligten selbst nicht expliziert werden. Die Handlungslogiken, denen sie folgten, werden aus der Handlung und ihrer Thematisierung aber so weit ersichtlich, dass sie auch für Außenstehende (HistorikerInnen) rekonstruierbar sind. Erasmus äußerte sich in seinen Briefen besonders vielfältig und direkt zum Ressourcencharakter von Worten in gastlichen Situationen. Das Gespräch war mit seinem Stellenwert im Ensemble von gastlichen Ressourcen, mit seinen Formen und den darin praktizierten Verhaltensweisen die Schlüsselressource der gastlichen Situation, die es anzustreben und in den Mittelpunkt zu stellen, gemeinsam herzustellen und schließlich auch zu bewerten und weiter zu verarbeiten galt. In seinen Briefen bot Erasmus dann eine solche Weiterverarbeitung in Form einer Erzählung über einzelne gastliche Situationen, die mit den dargestellten Ereignissen auch seine eigenen Wertmaßstäbe transportierte. So beschrieb er in einem Brief an Johann Sixtin ein Gastmahl, das sich nach seiner Darstellung zwar in Bezug auf das Trinken angemessen maßvoll entwickelte, jedoch in seinen gelehrten Debatten in einen Streit ausartete, der die Schärfe einer Disputation annahm. Um das Gespräch wieder in die Gleise einer gelassenen Heiterkeit zurückzuführen, habe er eine kleine Geschichte erzählt, die er dann wiedergibt und so auch seine Version eines gelungenen Gelehrtengastmahls brieflich weiter verbreitet. 7 So wie hier machte er daraus auch in anderen Fällen ein Exemplum, das er in seinen Brief mit einschloss, um ein vorbildliches gelehrtes Gastmahl oder eine andere Art von gastlicher Situation mit den wesentlichen Elementen als ein auch für andere wertvolles Wissen zirkulieren zu können. Dadurch fügte er es dem Fundus an gemeinsamen Wissensbeständen hinzu, die von Gelehrten geteilt wurden. Solche Exempla von gelehrten Gastlichkeiten waren ein wichtiger Bestandteil eines gegenwarts- und praxisorientierten gemeinsamen Schatzes an gelehrtem Wissen, der durch die Verschriftlichung in verfügbare und zum Ansammeln geeignete Form aufbereitet und durch die briefliche Verbreitung zugleich einem allgemeineren Nutzen zur Verfügung gestellt wurde. Häufig wurde ein Text als eine zwischen verschiedene Gesprächssituationen geschaltete Ressource mit Mittlerfunktion verwendet, um in verschriftlichter Form das relevante Wissen fixieren und dadurch haltbar, transportabel, für andere über die Situation hinaus zugänglich und wieder verwendbar zu machen. In besonders expliziter Weise wurde das von Konrad Pellikan (1478–1556), Hebraist und Professor für Altes Testament in Zürich, formuliert, der seine Autobiographie als materielles Medium eines imma-
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[DESIDERIUS ERASMUS VON ROTTERDAM:] Opus epistolarum Desiderii Erasmi Roterodami, hg. v. P. S. ALLEN, Bd. 1: 1484–1514, Oxford 1906, Nr. 116 (Brief an Johann Sixtin, Oxford November 1499), S. 268–270, hier S. 268f.; ausführlicher besprochen in JANCKE, Gastfreundschaft (wie Anm. 3), S. 236f. – Zu Disputationen und der Veränderung ihrer Rolle im frühneuzeitlichen System gelehrter Kommunikation s. ANITA TRANINGER: Disputation, Deklamation, Dialog. Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus, Stuttgart 2012 (Text und Kontext 33).
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teriellen Erbes von Exempla und Lebenslehren für die nachfolgenden familiären Generationen, insbesondere die gelehrten Männer, konzipierte. 8 Was über Differenzen hinweg von allen direkt und indirekt Beteiligten als ein Wort von ausgesprochen hohem Wert angesehen wurde, war der Name. So waren Empfehlungsbriefe oder zumindest ein handschriftlich geschriebenes und an den Vorzeigenden adressiertes Billett eine Währung, mit der sich ein Unbekannter – das heißt jemand ohne eigenen Namen in der betreffenden Gruppenkultur – Zutritt zu und einen gewissen Kredit bei den Berühmten verschaffen konnte. Sie bescheinigten dem Träger, dass er im Blick auf die Werte der Gelehrtenkultur etwas vorzuweisen hatte sowie zu weiteren Hoffnungen berechtigte und aufgrund dessen auch Zugang zu den durch die etablierten Personen kontrollierten Ressourcen erhalten sollte. Der berühmte Name, mit dem er dann ankam, konnte dabei eine eigenständige Geltung seiner Person durch einen bereits erworbenen Ruf ersetzen. Sein (noch) fehlender Ruf wurde durch den Ruf dessen, der ihm mit seinen Briefen oder Zetteln seinen eigenen Namen gewissermaßen geliehen hatte, ausgeglichen. Eine Empfehlung bedeutete so etwas wie einen Vorschuss, der dann durch entsprechendes Verhalten wieder zu begleichen war. Dabei stand der Name des Erasmus in besonders hohem Kurs, 9 aber für ihn galt im Prinzip das gleiche wie für alle anderen, die in Empfehlungsbriefen mit ihrem eigenen Namen für jemanden eintraten, die mit ihrem Eintrag in ein album amicorum dem Empfänger die Unterschrift mit ihrem Namen als wertvolle Gabe überließen oder die auch nur einen Brief oder einen Gruß durch jemanden überbringen ließen. Erasmus hatte auch dazu Geschichten zu erzählen, wie jemand aus seinem, Erasmus’, Namen Kapital schlug – im wahrsten und jedenfalls durchaus materiellen Sinn des Wortes. Interessant ist, was an Ressourcen zugänglich wurde mit Berufung auf den Namen eines berühmten und angesehenen Mannes wie Erasmus. In einem Fall nannte Erasmus dabei etwa ein kostbares Pferd und die Summe von 40 Gulden als Gastgeschenk des sächsischen Herzogs. Vorausgesetzt war, dass eine persönliche soziale Beziehung bestand, die anderen gegenüber geltend gemacht werden konnte. So ließ sich bei Freunden, Bekannten und allen, die den berühmten Mann schätzten, vom Eintritt in soziale Beziehungen und Netzwerke bis hin zu vielerlei materiellen Gütern ein erhebliches Potential an Ressourcen verfügbar machen. Je weiträumiger Beziehungen und Netzwerke gespannt waren, umso anfälliger konnte diese Art der Ökonomie sozialer Beziehungen für Missbrauch sein, was wiederum den Ruf schädigte und den Wert des be8
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Dazu JANCKE, Gastfreundschaft (wie Anm. 3), S. 257–259, sowie DIES.: „Individuality“, Relationships, Words About Oneself: Autobiographical Writing as a Resource (15th/16th centuries) – Konrad Pellikan’s Autobiography. In: May I Introduce Myself? The „I“ between self-reference and hetero-reference. Individuality in the modern and pre-modern period, hg. v. Franz-Josef Arlinghaus, Turnhout 2015 (Utrecht Studies in Medieval Literacy) (im Druck); vgl. auch GIOVANNI LEVI: Das immaterielle Erbe. Eine bäuerliche Welt an der Schwelle der Moderne, Berlin 1986 (zuerst it.: L’eredità immateriale. Carriera di un esorcista nel Piemonte del Seicento, Turin 1985). Für Erasmus’ intensive Arbeit daran s. LISA JARDINE: Erasmus, Man of Letters. The Construction of Charisma in Print, Princeton, NJ 1993.
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rühmten Namens beschädigen konnte. Auch hier wurden Worte als Ressourcen eingesetzt, um solche Schäden zum Beispiel in brieflicher Form zu begrenzen. Für manche gastliche Situationen zog Erasmus im Nachhinein eine negative Bilanz. Nach seiner eigenen Beschreibung hatte er aber bereits vorher jede einzelne Handlung dieser Begegnung mit einem prüfenden und wertenden Blick begleitet. Ständige Evaluation war in der Tat nötig, wenn es bei gastlichen Begegnungen unweigerlich um wertvolle Ressourcen und Güter ging, die in einer angemessenen Ökonomie als Gaben von beiden Seiten in Verhältnisse zu setzen waren, und wenn es ganz verschiedene Vorstellungen schon darüber gab, was überhaupt als Ressourcen oder Güter anzusehen und wie es jeweils zu bewerten sei. 10 Der Wert von Geld konnte dabei völlig entgegengesetzt veranschlagt werden: Für den Besucher konnte Geld oft erstrebenswert und notwendig sein – oft handelte es sich um junge Männer, die Studenten waren oder dies werden wollten oder es zumindest vorgaben; auch reisende Bettelmönche sprachen bei Erasmus vor –, wenngleich es neben den eigentlich erhofften Empfehlungsbriefen, die Zugang zu den Freunden des berühmten Gelehrten hätten verschaffen können, von geringerem Wert war. Demgegenüber stellte Geld für Erasmus, der als berühmter Gelehrter aufgesucht wurde, etwas dar, was ohnehin in seiner Werteskala weit unten rangierte und was er nur dann zu geben bereit war, wenn sein eigenes gelehrtes Wertesystem wenigstens ansatzweise auch von seinem Gast honoriert wurde. War dies nicht der Fall, wie er es von einem jungen Franziskaner berichtet, der sich am Gespräch mit Erasmus und an dessen reichlich angebotener Gastfreundschaft wenig interessiert zeigte und statt dessen auf Empfehlungen oder wenigstens Geld beharrte, 11 empfand er den ganzen Besuch als entwertend gegenüber seiner eige-
10 Ein weiteres Beispiel für eine gründliche Evaluation eines gelehrten Kollegen durch diejenigen, die ihm Gastfreundschaft gewährten, findet sich etwa bei FELIX PLATTER: Tagebuch (Lebensbeschreibung) 1536–1567, hg. v. VALENTIN LÖTSCHER, Basel/Stuttgart 1976 (Basler Chroniken 10), S. 49–533, hier S. 182–185. Für seine Studienzeit in Montpellier beschreibt er die Ankunft Heinrich Pantaleons aus Basel, der ihm und seiner Gruppe erzählte, dass er nun nicht mehr Pfarrer, sondern Mediziner sei – was Platter und die anderen Mediziner unter den Studenten als Anmaßung empfanden; sie hielten Pantaleon für einen Scharlatan. Während sie ihn in ihre Gruppe einluden, seine Zeche bezahlten, ihm eine Unterkunft besorgten und einen Ausflug zum Meer mit ihm machten, stellten sie auch eine Art Prüfung mit ihm an, indem sie ihm mehrere Pflanzen und Früchte vorlegten. Von seinem Unwissen bereits einigermaßen erschüttert, war dann für Felix offenbar der Gipfel der Unbildung sprachlicher Natur: dass Pantaleon mit allen Leuten lateinisch zu sprechen versuchte, der Meinung, wer Französisch spreche, könne auch Latein, und dass er bei dem Versuch, einen lateinischen Vers zu machen, von dem anwesenden Dichter Lotichius korrigiert werden musste. Die Evaluation, die Felix Platter und seine Studienkollegen mit Pantaleon vornahmen, verhinderte keineswegs eine reichliche Gastfreundschaft. Gastfreundschaft wurde ihm gewährt wie anderen Landsleuten und Gelehrten, und bei dieser Gelegenheit ließ sich herausfinden, wie man ihn als zukünftigen Berufskollegen einzuschätzen hatte. 11 [DESIDERIUS ERASMUS VON ROTTERDAM:] Opus epistolarum Desiderii Erasmi Roterodami, hg. v. P. S. ALLEN/H. M. ALLEN, Bd. 8: 1529–1530, Oxford 1934, Nr. 2126 (Brief an Alfonso Valdes, Basel 21.03.1529), S. 89–96; ausführlicher dargestellt bei JANCKE, Gastfreundschaft (wie Anm. 3), S. 244–251.
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nen Person – und darin auch exemplarisch für die mit anderen geteilten Vorstellungen von gemeinsamen gelehrten Gütern. Gleichzeitig mit einer solchen detailliert begründeten Bilanz suchte Erasmus aber in seinen Briefen bei solchen Fällen seinen Ruf wieder herzustellen und aus der Geschichte wiederum nützliches Wissen über prekäre Entwicklungen von gastlichen Situationen, über richtiges und falsches Verhalten zu produzieren und weiterzugeben. So gab es am Ende wenigstens ein neues Exemplum für den Fundus an Wissen über die Ökonomie von Gastlichkeit in der Gelehrtenkultur. So wie bei dem Beispiel von Erasmus und seinem ehemaligen Gastgeber Erhard v. d. Marck war die zumeist in Haushalten angesiedelte und auf deren Ressourcen zurückgreifende Gastlichkeit oft in längere Handlungsketten eingebettet. Solche Handlungsketten bezogen ihre Handlungslogiken aus sozialen Beziehungen wie Freundschaft oder Patronage, die über die Haushalte hinausreichten, sie miteinander verknüpften und entscheidende Vergesellschaftungsleistungen in frühneuzeitlichen Gesellschaften erbrachten. Normative Quellen wie Ökonomiken entwerfen Gastlichkeit im Rahmen der Ökonomie von Haushalten, gleichzeitig aber auch ganz explizit im Rahmen einer Ökonomie der Freundschaft und des Vertrauens, die ihre Verfasser trotz der Investitionen materieller und immaterieller Ressourcen in Gastfreundschaft als wesentlich günstiger erachteten als eine Ökonomie, die es etwa in der Nachbarschaft mit Feindschaftsbeziehungen zu tun hatte. 12 Worte wurden damit als Ressourcen fest mit Haushalten verknüpft. Die Ökonomie dieser Haushalte wurde beschrieben als die Bewirtschaftung von materiellen und immateriellen Ressourcen. Gleichzeitig wurde sie konzipiert als eingebettet in und organisiert durch inner- und außerhäusliche soziale Beziehungen. Haushalte hatten dann die Aufgabe, im Rahmen dieser häuslichen Ressourcen auch Worte zu bewirtschaften, die entsprechenden Kompetenzen zu produzieren und sodann wieder für die Ökonomie eines Haushaltes nutzbar zu machen. Ein Beispiel dafür ist Felix Platters (1536–1614) ausführliche Darstellung des Austausches junger Männer zwischen den jeweiligen Herkunftshaushalten zum Zweck des Studiums am Ort des jeweils anderen Haushaltes. Das ansonsten nötige Bargeld für Unterbringung und Verpflegung des jungen Mannes konnte so von beiden Haushalten eingespart werden, wodurch deren Studium erst finanzierbar wurde. Dieser gastliche Austausch war in längerfristige Haushaltsstrategien in Bezug auf die jungen Männer und ihre gelehrte Ausbildung eingebunden. In seiner Autobiographie zeichnete er sie für seine eigene Person und sein Medizinstudium in Montpellier detailliert nach. Felix Platters gelehrte Ausbildung in Montpellier war demnach ein Teil der lange vorher von seinem Vater geplanten häuslichen Bewirtschaftung von Worten: Nachdem Felix’ Studium in Montpellier durch die gastliche Aufnahme im Haushalt des Apothekers Catalan im Gegenzug für die Aufnahme der beiden Catalan-Söhne im Baseler Platter-Haushalt ermöglicht worden war, folgte nach seiner Rückkehr zunächst seine Doktorpromotion und Heirat, um 12 S. JANCKE, Gastfreundschaft (wie Anm. 3), S. 277–304; JANCKE/SCHLÄPPI, Ökonomie sozialer Beziehungen (wie Anm. 4), S. 87.
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sodann das junge Paar im elterlichen Platter-Haushalt zu integrieren, dem die Gewinne an Prestige und häuslicher Mitarbeit für mehrere Jahre zugute kamen. 13 Wenn Gastlichkeit so wie hier als Handlungsfeld einer gelehrten Ökonomie sichtbar wird, dann zeigt sich, dass bei dieser Bewirtschaftung von Worten nicht gelehrtes Wissen als solches produziert werden sollte, auch nicht für so etwas wie ein scheinbar für sich bestehendes bzw. als für sich bestehend konstruiertes soziales Feld ‚Wissenschaft‘. 14 So sehr auch Haushalte ihre Ressourcen darauf abstellten, gelehrtes Wissen zu produzieren, so wenig ging es für sie um die Neuheit solchen Wissens noch auch um einen Zweck solchen Wissens ausschließlich im Rahmen gelehrter Praktiken oder von Praktiken innerhalb einer gelehrten Gruppenkultur. Gelehrtes Wissen wurde als Ressource produziert, die sich weiter verwenden ließ und mit der sich wichtige Dinge im Leben tun ließen. Neben bloßem Wissen waren damit auch gelehrte Kompetenzen als Ressource im Blick, die in Form verschiedener Praktiken zu Lebensweisen und Strategien in sozialen Kontexten umzusetzen waren. Die Inhalte gelehrten Wissens waren zusammen mit solchen performativen Aspekten von Tätigkeiten und Verhaltensweisen gedacht. So waren etwa Felix Platters Kompetenzen als gelehrter Mediziner, mittels langfristig geplanter Strategien mehrerer beteiligter Haushalte durch den Austausch ihrer jungen Männer zum Zwecke eines Studiums ermöglicht, gut für seine PatientInnen, für die medizinische Wissenschaft und Lehre, für seinen Wert auf dem Heiratsmarkt, für den sozialen Status, den er als Person für sich selbst, aber auch für seine Frau und seinen eigenen Haushalt ebenso wie für seine Herkunfts- und seine Schwiegerfamilie dadurch erwerben konnte und der sich potentiell wiederum in andere Ressourcen umsetzen ließ. Einerseits wurden gelehrtes Wissen und gelehrte Kompetenzen als Ressourcen behandelt, mit denen sich die Gemeinschaft einer gelehrten Gruppenkultur herstellen ließ: Sie waren es, die eine gemeinsame Basis an Gütern abgaben, die in diesem Falle nicht materieller Art waren 15 und dazu führten, dass in diesem Rahmen auch materielle Güter geteilt wurden. Dabei lag die Reproduktion gelehrten 13 Für eine ausführliche Darstellung s. JANCKE, Gastfreundschaft (wie Anm. 3), S. 216–237. Für die starke Wort-Orientierung auch von Medizinern s. o. Anm. 10. 14 Zu erinnern ist daran, dass hier vorwiegend die Perspektiven von Juristen und Theologen in ihren verschiedensten Tätigkeitsfeldern ausgewertet wurden, deren Verständnis von Gelehrsamkeit und von den Funktionen gelehrten Wissens stark an Worten orientiert waren. Diese Perspektiven können also nicht verallgemeinert werden. Sie zeigen aber, dass die naturkundlichen Gelehrten, wie sie etwa von Sebastian Kühn auf ihre Praktiken und Konzepte von gelehrtem Wissen hin untersucht worden sind, mit ihren Vorstellungen und Praktiken gelehrten Wissens für die Frühe Neuzeit ebenfalls nicht verallgemeinerbar sind, s. KÜHN, Wissen, Arbeit, Freundschaft (wie Anm. 5). 15 So weit STEPHEN GUDEMAN: The Anthropology of Economy. Community, Market, and Culture, Malden/Oxford/Carlton 2001, S. 28, mit der Überlegung, dass jede Gemeinschaft auf der Grundlage eines geteilten, gemeinsamen Besitzes entsteht und dass dessen Substanz je nach der jeweiligen Gemeinschaft sehr verschieden sein kann: „The substance of the base varies widely, comprising more than real and productive property. For example, by communicating and sharing knowledge, scholars make a community. They hold and enjoy knowledge in common which sustains both community and individual goals.“
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Wissens und gelehrter Wissens- und Gruppenkulturen, also von haushaltsübergreifenden und ihrerseits nicht unbedingt auf Haushalte bezogenen Gemeinschaften, z. T. in Haushalten mit allen den Ressourcen, die dort verfügbar waren – nicht unähnlich dem, was Bourdieu unter der Rubrik ‚kulturelles Kapital‘ auch für das 20. Jahrhundert beschrieben hat. 16 Nur fand diese Orientierung von Haushaltsressourcen in der Frühen Neuzeit nicht in einer so engen Beschränkung auf die eigenen Kinder statt, und gastliche Situationen spielten dann auch eine viel größere Rolle dabei als in modernen Verhältnissen. Was in Bourdieus Szenario eine individuelle und separate Bemühung einzelner Haushalte lediglich für die Familienmitglieder darstellt (so dass es die Haushalte des 20. Jahrhunderts sind, die hier als in sich abgeschlossene und auf sich bezogene Einheiten erscheinen), war in der Frühen Neuzeit in großem Ausmaß ein kooperatives Unterfangen, bei dem verschiedene Einzelne ebenso wie unterschiedliche Haushalte ihre Ressourcen zusammen organisieren und bündeln mussten. 17 Andererseits aber bildeten, wie es etwa das Beispiel von Felix Platter zeigt, gelehrtes Wissen und gelehrte Kompetenzen auch einen Teil der gemeinsamen Ressourcengrundlage eines Haushaltes und seiner Reproduktionsstrategien. Dieser gelehrte Anteil der gemeinschaftlichen Haushaltsressourcen wiederum stellte eine entscheidende Voraussetzung für das materielle Prosperieren des Haushaltes dar, wurde aber gleichzeitig – und auch dies abweichend von den bei Bourdieu beschriebenen Verhältnissen in einem Industriestaat des 20. Jahrhunderts – teilweise wieder über gastliche Situationen direkt in gemeinschaftliche Zusammenhänge eingebracht. 2 RITUALISIERTE PRAKTIKEN – EINORDNEN, PLATZIEREN UND BEWERTEN IN HANDLUNGSKETTEN Gastlichkeit konnte auch selbst als eine Abfolge verschiedener Handlungen strukturiert sein. Darin hatten Worte einen Platz – bei Gelehrten einen entscheidenden Platz. 16 PIERRE BOURDIEU: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Soziale Ungleichheiten, hg. v. REINHARD KRECKEL, Göttingen 1983 (Soziale Welt, Sonderband 2), S. 183–198. 17 Eine Theorie von vormodernen Haushalten als in sich geschlossenen, sozial autonomen und ökonomisch autarken Einheiten, wie sie etwa von Otto Brunner explizit formuliert bzw. unter Berufung auf ihn in der Rezeption angenommen worden ist, könnte also, von Bourdieu her gelesen, ihre eminente Wirksamkeit vor dem Hintergrund moderner Haushaltskonzepte (seit dem 19. Jahrhundert) erhalten haben. Auf sachlicher Ebene ist diese Theorie längst kritisiert und widerlegt worden, und der Dekonstruktion folgt mittlerweile eine Phase mit Neuansätzen der Rekonstruktion, dazu: JOACHIM EIBACH, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für historische Forschung 38, 4 (2011), S. 621–664; Das Haus in der Geschichte Europas. Sozialer Raum, Identitätsort, Ordnungskonzept. Ein Handbuch, hg. v. JOACHIM EIBACH und INKEN SCHMIDT-VOGES in Verbindung mit SIMONE DERIX, PHILIP HAHN, ELIZABETH HARDING, MARGARETH LANZINGER und ERIC PILTZ (in Vorb.), sowie JANCKE, Gastfreundschaft (wie Anm. 3), S. 147–214.
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Abraham Scultetus (1556–1624), kurpfälzischer Hofprediger, notiert wie andere Gelehrte immer wieder, wen er besucht hatte. Oft reicht ihm die Notiz, dass er bestimmte Gelehrte aufgesucht habe – diese Form der Mitteilung, die nur den Gelehrtenkontakt als solchen festhält, findet sich am häufigsten. Wie der Besuch sich abspielte, wird nur in wenigen Fällen etwas genauer erwähnt. Wenn Scultetus genauer wird, enthält eine solche Beschreibung zunächst inhaltliche Details über die Gespräche, die geführt wurden – eine wichtige Form der Markierung der Zugehörigkeit zur Gelehrtenkultur und ihren Werten und Normen, wobei diese Markierung in ritualisierter Form sowohl im unmittelbaren situativen Handeln als auch in der betonten Form des Aufschreibens in Selbstzeugnissen vorgenommen wurde. Manchmal geht er noch darüber hinaus, um die ihm erwiesene Gastfreundschaft besonders hervorzuheben. Hier zeichnet sich dann das Muster einer in drei Steigerungsstufen gestaffelten Gastlichkeit ab, wie er es etwa für seinen Besuch des Propstes in Eton darstellt: „Praefectus Etoniensis Collegii erat Nobilissimus Vir Henricus Savilius; qui viginti florenorum millia in editionem Chrysostomi Graeci impendit. Hunc mihi Virum omnino salutandum duxi, quem deprehendi, non, ut plerumque fit, minorem, sed majorem fama, atque adeo in omni (ut olim loquebantur) scibili eruditum, Latinum, Graecum, Mathematicum, Theologum bonum. Alloquium viri petii: at ille coenam & hospitium nocturnum obtulit: & ne tertia Gratiarum a nostro convivio abesset, loci pastorem advocavit, Richardum Montacutum, eruditissimum virum, qui in Annalibus Baronianis confutandis, non dubitavit certare cum Doctissimo Causabono, & eruditionis suae specimen in editione aliquot opusculorum Graecorum Nazianzeni luculentum edidit.“ 18
18 ABRAHAM SCULTETUS: De curriculo vitae imprimis vero de actionibus Pragensibus Abrah. Sculteti (Professoris nuper Theologi in florentissima tunc Academia Heidelbergensi,) Narratio apologetica (qua decus famae et doctrinae ipsius a virulentis nominis eius Mastigibus modeste vindicatur. Accesserunt Orationes nonnullae quarum in hac narratione mentio.), Emdae 1625, S. 62f.; die 1628 ebenfalls in Emden erschienene deutsche Übersetzung dieser Autobiographie (von Andreas Kregelius) liegt in einer kommentierten modernen Edition vor: Die Selbstbiographie des Heidelberger Theologen und Hofpredigers Abraham Scultetus (1566– 1624), neu hg. und erl. v. GUSTAV ADOLF BENRATH, Karlsruhe 1966 (Veröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der evangelischen Landeskirche in Baden 24), S. 63: „Der Oberste desselben Collegii war der Edle Henricus Savilius, welcher zwanzigtausend Gulden auf den Druck des Chrysostomi in griechischer Sprach gewendet hat. Diesen Mann anzusprechen hab ich für ein Notdurft geachtet und hab ihn gefunden, nicht, wie gemeiniglich geschicht, geringer, sondern grösser und berümbter, als ich von ihm gehört habe. Denn er war in allem erfahren, er war ein guter Lateiner, Griech, Mathematicus und Theologus. Ich hab ihn zwar nur begehrt anzusprechen, er aber hat mir auch das Abendessen und die Nachtherberge angebotten, und damit es an dem dritten Mann [lat. ist von den drei Grazien die Rede, G. J.] nicht mangelte, hat er den Pfarrer des Orts dazu berufen, Richard Montacutum, einen sehr gelehrten Mann, der in der Widerlegung der Annalium Baronii nicht Bedencken gehabt zu streiten mit Casaubono und hat eine schöne Prob seiner Erudition getan, indem er etliche Opuscula des Nazianzeni griechisch außgehen lassen.“ – Ausführlich dazu s. GABRIELE JANCKE: Gelehrtenkultur – Orte und Praktiken am Beispiel der Gastfreundschaft. Eine Fallstudie zu Abraham Scultetus (1566–1624), in: Frühneuzeitliche Universitätskulturen, hg. v. BARBARA KRUG-RICHTER und RUTH-E. MOHRMANN, Köln/Weimar/Wien 2009 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 65), S. 285–312, hier S. 296–300.
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Demnach wäre das bei Gelehrtenbesuchen Normale und Erwartete, ein Gespräch mit dem Besuchten führen zu können. Dass diese Gespräche offenbar auch als eine Art Prüfung praktiziert wurden, geht aus dieser Notiz wie nebenbei mit hervor: Der Gastgeber wird in seiner Gelehrsamkeit gewürdigt, aber zugleich macht Scultetus deutlich, dass bei weitem nicht jeder besuchte Gelehrte sich bei persönlicher Bekanntschaft als so beeindruckend erwies, wie sein Ruhm es vorgespiegelt hatte. Die Besuche konnten also auch dazu dienen, die wahre Qualität der Gelehrten mit eigenem Urteil festzustellen und evt. eine allgemein verbreitete Einschätzung zu revidieren. Damit werden wiederum Prüfung und Evaluation als Bestandteile gelehrter Begegnungen deutlich, wobei die gegenseitige Beurteilung hier zum ritualisierten Element dieser Form von Gastlichkeit wurde. Der Propst von Eton ging aber in seiner Gastlichkeit über dieses erwartete Maß weit hinaus. Neben der Fülle seiner eigenen Gelehrsamkeit, die er seinem Gast zu dessen offensichtlicher Freude darbot, lud er noch einen weiteren Gelehrten mit dazu, der ebenfalls, wie Scultetus erfreut festhält, „& eruditionis suae specimen […] edidit“ (deutsche Übersetzung: „eine schöne Prob seiner Erudition getan“ hatte) und mit seiner dadurch erwiesenen gelehrten Qualität dem Gast noch mehr Ehre erwies. Im Vordergrund steht die Begegnung als Gelehrte und insbesondere im gelehrten Gespräch. Scultetus hebt hervor, dass er das Verhalten der Beteiligten an einer solchen Situation unter dem Aspekt des ritualisierten Gebens und Empfangens von Gaben beurteilt: Nicht nur die Aufnahme als Gast ist ihm wichtig. Als Gaben zählt er insbesondere den gelehrten Austausch und das gegenseitige Demonstrieren von Kenntnissen und Fähigkeiten. Die Einladung eines weiteren, ansässigen Gelehrten kann als eine zusätzliche Gabe hinzukommen, denn so gibt es noch mehr gelehrtes Potential, das versammelt und einem Austausch zugänglich gemacht wird. Die Ehrung, die dies für den auswärtigen Gast bedeutet, bildet ein weiteres ritualisiertes Element der von allen Beteiligten in einen ritualisierten Austauschprozess eingebrachten dargebotenen Gaben. All dies zählt Scultetus mit Anerkennung als Gaben auf – wobei er seinen Dank als letztes ritualisiertes Element der gastlichen Situation zwar erst Jahre später, aber dafür in einer gedruckten Schrift vor der Öffentlichkeit der gelehrten Welt abstattet. Durch den Hinweis auf die drei Grazien, die latinisierten Schutzgöttinnen der Reziprozität im antiken Griechenland, 19 wird der gelehrte Besuch als Austausch im Sinne eines Gabentausches gekennzeichnet, so dass für ein gelehrtes Publikum die klare Botschaft übermittelt wurde, dass hier ein ritualisierter Austauschprozess vorlag, der auf eine spezielle Gruppenkultur zugeschnitten war. Interessanterweise 19 Vgl. BEATE WAGNER-HASEL: Egoistic Exchange and Altruistic Gift: On the Roots of Marcel Mauss’ Theory of the Gift, in: Negotiating the Gift, hg. v. ALGAZI, GROEBNER und JUSSEN, S. 141–171, hier S. 165, 168–170; vgl. auch ALEXANDER NAGEL: Art as Gift: Liberal Arts and Religious Reform in the Renaissance, in: ebd., S. 319–360, hier S. 348 (Hinweis auf die drei Grazien als visuelles Emblem für Senecas Schrift De beneficiis), d. h. in der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur war diese Symbolsprache bekannt und üblich, so wie hier auch von Scultetus vorausgesetzt. S. ferner KARL DEICHGRÄBER: Charis und Chariten – Grazie und Grazien, München 1971 (Tusculum-Schriften), sowie VERONIKA MERTENS: Die drei Grazien. Studien zu einem Bildmotiv in der Kunst der Neuzeit, Wiesbaden 1994.
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ändert die zeitgenössische deutsche Übersetzung hier ein wichtiges Detail und schreibt: „damit es an dem dritten Mann nicht mangelte“ statt „& ne tertia Gratiarum a nostro convivio abesset“. Die dritte Grazie mit ihrer Anspielung auf die Reziprozität der Gabenkultur wird durch den dritten Mann ersetzt, so dass die ritualisierte gelehrte Gabenökonomie aus dem deutschen Text verschwindet. Bei dieser Gelegenheit lässt die deutsche Übersetzung auch gleich weg, dass im lateinischen Text diese Situation als convivium bezeichnet wurde, als Gastmahl oder gesellige Zusammenkunft. Dass gelehrte Kommunikation und auch schon die Präsenz eines gelehrten Mannes als Gabe angesehen und im Rahmen einer ritualisierten gastlichen und v. a. geselligen Austauschbeziehung von gelehrten Gütern verstanden wurde, sollte also vor allem für Gelehrte deutlich erkennbar sein. Dem Übersetzer erschien dies nicht nur als entbehrliche Information, auf die sein Publikum ohne weiteres verzichten konnte. Zusätzlich griff er mit dem „dritten Mann“ offenbar auf den geläufigen Spruch vom Kollegium zurück: „Tres faciunt collegium“ („Drei machen ein Kollegium aus“). 20 Damit war nun eher ein sozialer Prozess der Gruppenbildung bezeichnet, und die Regeln für das interne Funktionieren dieser Gruppe in ihren Interaktionen waren ohne Bedeutung. Wichtig war nur die Mitteilung, dass durch die gelehrte Interaktion Zugehörigkeit hergestellt und nicht zuletzt auch in ritualisierter Weise markiert wurde. Zusätzlich, so vermerkt Scultetus, sei der Propst über diese ja schon reichhaltigen Gespräche hinausgegangen und habe ihn sowohl zum Abendessen als auch danach noch zur Übernachtung in seinem Haus eingeladen. Ähnlich schreibt er etwa zu seinem Besuch als Student bei Caspar Peucer in Dessau: „Veni igitur Dessaviam sub finem anni 89: & juvenis a Sene non solum ad colloquium, sed ad coenam, sed ad hospitium etiam admissus“, um sodann noch etwas näher auf die Gespräche mit dem Gastgeber einzugehen. 21 Wenn hier und an einigen anderen Stellen die Einladung zu einer Mahlzeit und erst recht die zur Übernachtung als etwas ganz Besonderes hervorgehoben wird, dann erstreckte sich offenbar die bei Scultetus entfaltete Gastlichkeit von Gelehrten untereinander in der Regel zunächst auf Gespräche, während sie Essen, Trinken und Übernachtung üblicher20 Vgl. die Wendung „Tres faciunt collegium“ („Drei machen ein Kollegium aus“), die aus dem Corpus Iuris Civilis des Kaisers Justinian stammte (Digesten 50,16,85) und insbesondere im Universitätsleben Bedeutung hatte: GEORG BÜCHMANN: Geflügelte Worte. Der klassische Zitatenschatz, 40. Aufl., neu bearb. v. WINFRIED HOFMANN, Frankfurt am Main/Berlin 1995, S. 344f.; für diesen Hinweis danke ich Gudrun Emberger. Vgl. auch: Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, zusammengestellt, übersetzt und erläutert v. DETLEF LIEBS, Darmstadt 1983, S. 209. 21 SCULTETUS, De curriculo vitae 1625 (wie Anm. 18), S. 19f., dt. Übers. nach SCULTETUS, Selbstbiographie, hg. v. BENRATH (wie Anm. 18), S. 25: „Bin derwegen nach Deßaw kommen umb den Ausgang des 89. Jahrs und als ein junger Mensch von dem alten nicht allein zum Gesprech, sondern auch zum Abendessen, ja zur Herberg zugelassen worden“. Vgl. auch SCULTETUS, De curriculo vitae 1625, S. 26f., dt. Übers.: SCULTETUS, Selbstbiographie, hg. v. BENRATH, S. 32 (Kloster Bebenhausen); SCULTETUS, De curriculo vitae 1625, S. 57, dt. Übers.: SCULTETUS, Selbstbiographie, hg. v. BENRATH, S. 58 (Hugo Grotius in Leiden); SCULTETUS, De curriculo vitae 1625, S. 74, dt. Übers.: SCULTETUS, Selbstbiographie, hg. v. BENRATH, S. 75 (zu Johann Jakob Grynäus in Basel).
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weise nicht mit umfasste. Kamen sie vor, wurden sie als eine seltene, feierliche und zugleich persönliche – freundschaftliche – Steigerungsform der gelehrten, aufs Gespräch konzentrierten Gastlichkeit angesehen, die angehängt werden konnte, aber nicht musste, und die durch diesen erweiterten Zugang zu den Ressourcen des Haushaltes und seines Hausherrn nicht nur mehr Ehre vermittelte, sondern vor allem auch Gelegenheit zu weiteren Gesprächen gab. Genau gesagt, wird hier eine ritualisierte Hierarchisierung gastlicher Ressourcen zugunsten von Worten vorgenommen. Angesichts dieser offensichtlichen Schreibstrategie der Bewertung lassen sich die zugrundeliegenden Praktiken selbst nicht eindeutig dingfest machen, ohne weitere Quellen heranzuziehen. Ob die Nichterwähnung von Essen und Trinken auch bedeutete, dass diese nicht vorkamen oder von den Gelehrten nicht geschätzt wurden, lässt sich also nicht aus diesen Texten ableiten; vermutlich war dies keineswegs der Fall. Möglicherweise müsste zwischen verschiedenen Gelehrtentypen und ihren Haushalten, zwischen den Perspektiven verschiedener TeilhaberInnen an der jeweiligen gelehrten Ressourcenbewirtschaftung und zwischen unterschiedlichen Textsorten und Schreibmotivationen differenziert werden. 22 An dieser gestaffelten Reihenfolge werden Ritualisierungen des gelehrten Umgangs miteinander erkennbar. Es zeichnet sich eine mögliche Handlungskette von Elementen ab, die einzeln vorkommen konnten (so wie oft das Gespräch), häufig aber in einer feststehenden Reihe aufeinander folgten (die ihrerseits nicht vollständig umgesetzt werden musste): (1) der Besuch, der evt. lediglich das Absolvieren der ‚Sehenswürdigkeit‘ umfasste, also nicht notwendigerweise einen intensiveren Kontakt bedeutete, aber meist (1a) den Namen des Besuchten als ritualisierte Form der Orientierung gelehrter Gruppenkultur auf hervorgehobene Personen sichtbar machen sollte, um (1b) sowohl den Besuchten dadurch zu ehren als auch dem Besucher soziales Kapital aufgrund dieses Kontaktes zuwachsen zu lassen; (2) das Gespräch, dabei (2a) die Ausbreitung gelehrter Fähigkeiten und Kompetenzen als ritualisierte Form der Gabe; (2b) die gegenseitige Prüfung und Beurteilung als ritualisiertes Element des Umgangs damit; (2c) gelehrte Kommunikation als ritualisierter Austauschprozess und (2d) als ritualisierte Form der Herstellung und Markierung von Zugehörigkeit; (2e) die Einladung weiterer Gäste dazu, um die Austauschmöglichkeiten zu vermehren und (2f) die Zugehörigkeit zur Gruppenkultur intensiver und feierlicher zu gestalten sowie (2g) um den Gast in dieser Form zu ehren; (3) eine Mahlzeit und (3a) auch hierzu möglicherweise die Einladung weiterer Gäste, unter Umständen 22 Vgl. dazu etwa den Beitrag von Sebastian Kühn in diesem Band.
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(3b) als förmliches Gastmahl gestaltet mit (3bα) hierarchischer Tischordnung, (3bβ) ritualisierter Zahl und Abfolge von Gerichten und (3bγ) ritualisierten Formen des Zutrinkens; (4) eine Übernachtung, immer verknüpft mit weiteren Gesprächen zwischen Gast und Gastgeber, möglicherweise auch (4a) mit Zusammenschlafen in einem Bett verbunden, 23 um (4b) dem Gast Gesellschaft zu leisten und/oder (4c) ihm dadurch Respekt zu erweisen; (5) ein Dank des Gastes an den Gastgeber, zunächst (5a) direkt in mündlicher Form, oft auch (5b) im Nachhinein in schriftlicher Form v. a. in Selbstzeugnissen – in dieser Form hier als Quelle zugänglich –, dadurch auch (5c) sichtbar gemacht für Dritte, die als Publikum eines solchen Textes indirekt an der Situation teilnehmen, wenn auch im Nachhinein und häufig wohl erst in der nächsten Generation, die dadurch aber auch (5d) in die ritualisierten Formen dieser Gruppenkultur mit einbezogen werden; (6) ein Gastgeschenk des Gastgebers an den Gast und/oder umgekehrt; (7) ein Geleit des Gastes vom Haus aus ein Stück seines Weges. Durch ihren möglichen Stellenwert in einer Abfolge erhalten die einzelnen Elemente eine symbolische Bedeutung, die Scultetus in seinen gelegentlichen Kommentaren andeutet. Jede einzelne Phase erbrachte einen Zuwachs an symbolischem Kapital für mindestens einen der Beteiligten und auch für die gesamte Gruppe, mit deren Zugehörigkeit diese ritualisierten Umgangsformen verknüpft waren, so dass die Kommunikation des Geschehens an Dritte im Nachhinein, wie sie etwa in Selbstzeugnissen, alba amicorum etc. vorgenommen wurde, ebenfalls einen wichtigen Bestandteil dieser ritualisierten Verhaltensweisen ausmachte. Eine Logik dieser Ritualisierungen bestand darin, Handlungselemente möglichst zu Handlungsketten zu kombinieren und diese dann zu fein verästelten und weit ausgreifenden Strängen zu verdichten, um in dieser Form Personen und Geschehen möglichst deutlich einbinden oder aber auch zugleich ebenso klar unterscheiden und ausgrenzen zu können. Diese Formen der Ritualisierung deuten darauf hin, dass es spezielle Formen ritualisierter Gastlichkeit im gelehrten Milieu gab, in denen das gelehrte Gespräch das vorrangige Element darstellte und als die zentrale gastliche Gabe aufgefasst wurde. Die Handhabung der einzelnen Elemente stand den Beteiligten und insbesondere den Gastgebern offensichtlich frei; und sie wurde zur Gestaltung gelehrter Beziehungen genutzt, in denen neben professionellen auch einerseits persönlich23 Dazu s. GABRIELE JANCKE: Ritualisierte Verhaltensweisen in der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur – Bettgeschichten, in: Gelehrtenleben. Wissenschaftspraxis in der Neuzeit, hg. v. ALF LÜDTKE und REINER PRASS, Köln/Weimar/Wien 2008 (Selbstzeugnisse der Neuzeit 18), S. 235–246.
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freundschaftliche und andererseits politische Ressourcen liegen konnten. Ritualisierungen zeigen sich sodann vor allem für gelehrte Gespräche und für verschiedene Formen des Argumentierens und des Streitens, 24 das heißt die gelehrte Kommunikation steht im Mittelpunkt der im Rahmen von gelehrter Gastlichkeit praktizierten Ritualisierungen, während andere Elemente der Gastlichkeit – wie Essen, Trinken, Übernachtung – in ihren ritualisierten Details in diesem sozialen Kontext nicht unbedingt relevant sein mussten. Dieses Bild jedenfalls zeichnen männliche Gelehrte konsistent in ihren unterschiedlichen Texten – was allerdings nicht heißt, dass eine so eindeutig wort-orientierte Hierarchisierung von Ressourcen für ihre sozialen Praktiken ebenso zutreffen müsste wie für ihre schriftlich festgehaltenen Sichtweisen. Solche Schreibstrategien sind zunächst einmal als spezifische Praktiken bestimmter Akteure zu verstehen. Diese Praktiken spiegelten nicht unbedingt den praktizierten Wert der Worte wider, trugen aber zur Erzeugung dieses Wertes Entscheidendes bei. Die beschriebenen Praktiken mit ihren symbolischen Bedeutungen – Einschätzung und Bewertung, Ehrung und Würdigung, Gabe und Austausch, Dank – fanden in Gelehrtenhaushalten statt und machen deutlich, dass dies keine rein privaten Räume im Sinne eines Rückzugs von Sozialität und Geselligkeit waren. Zum anderen zeigt sich hier, dass gelehrte Kommunikation als soziale Praxis verstanden und in ritualisierten, der jeweiligen Situation und Beziehung angepassten Formen gehandhabt wurde. Ökonomische Aspekte wie die Bewertung von Personen und Ressourcen, die Gestaltung von Situationen und die Einstufung von Handlungen sowie die Einordnung in Handlungsketten wurden mit ritualisierten Praktiken vorgenommen. Die Ökonomie, die hier praktiziert wird, ist in soziale Beziehungen eingebettet und wird von hier aus und auf sie hin organisiert. Auch wenn in der Gastlichkeit dieser Gelehrtenkultur gelehrte Inhalte, Argumente und problembezogene Debatten auftauchen, dann sind sie zumeist in ein bestimmtes gelehrtes Gespräch zwischen zwei gelehrten Menschen aus Fleisch und Blut eingebettet. Damit sind sie als Teil der zwischen diesen Personen stattfindenden Interaktion gekennzeichnet, also kontextuell in der gelehrten Kommunikation und Geselligkeit verortet und zugleich auf die im Text skizzierte soziale und (konfessions-)politische Welt bezogen. Keineswegs werden gelehrtes Wissen und gelehrte Kompetenzen hier allein im Buch noch auch allein im Lehrbetrieb der Universität verankert. Sie sind, Scultetus’ Autobiographie zufolge, in komplexe, ritualisierte Praktiken eingebunden, denen eminente performative Wirkung zuzuschreiben ist. Für Gelehrte wie Abraham Scultetus oder den Tübinger Gräzisten Martin Crusius (1526–1607) waren diese gemeinschaftsbildenden Prozesse in ritualisier24 Zu den ritualisierten Kommunikationsweisen der Gelehrten untereinander vgl. am Beispiel der Streitschriftenkultur MARTIN GIERL: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die theologische Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 129), am Beispiel der Promotionsverfahren MARIAN FÜSSEL: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006 (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), S. 149–187.
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ter Weise auf Ressourcen bezogen, die zugänglich gemacht, verteilt und in geregelter Weise genossen wurden. Die drei Grazien und auch überhaupt die Zahl drei standen bei ihnen und vielen anderen für diese Art der geselligen Gabenkultur, gleich ob es sich um Trinkbecher oder Worte handelte. 25 Auch in Kontexten, in denen es nicht nur um das Verhalten von Gelehrten bei Gastlichkeiten geht, wird dem Umgang mit Worten ein entscheidender Stellenwert dafür zugeschrieben, was tatsächlich bei der gastlichen Tischgemeinschaft als performatives Ergebnis der ritualisierten Verhaltensweisen entstehen soll: „Laertius hat ein Buch geschrieben de conuiuijs Philosophorum, darinn erzehlt er vnter andern / daß die Philosophie offt pflegen einander zu Gast zuladen / aber nicht auff meynung / zu pancketieren / sondern jhre opiniones vnd jrrungen zuuergleichen / nicht zugreinen vnd zuzancken / sondern freundlich vnnd lieblich zuconuersiren / nicht mit halb vnd gar außtrincken / sondern mit darstellung vnnd herfür bringung schöner sententien vnnd Sprüch. O glückselige conuiuia vnd Gastereyen waren diese / vnd noch vil glückseligere Gäste waren dise. Dann zu disen vnsern zeiten versamblen sich nit die Sophisten / sonder potisten / man disputirt nit / sonder man murmelt / man redet nicht vonn Gott / sondern vonn der Eytelkeit / schampere vnnd vnnütze Gottlose wort vnnd narrenthäding seynd das benedicite vnd gratias. Man bringt keine schöne sententien, noch verborgene Fragen auff die baan / sondern das Gespräch ist nur von den besten Weinen / vonn den aller besten Vögeln / vnnd von den aller besten Fischen. Man vnterrichtet einander nicht / sondern man richtet einander auß / man confirmirt keine freundtschafften / sondern man stifftet nur feindtschafften / Ja / was mehr ist / man wird mit einander vneins / nit von wegen der herrlichen fürgebrachten sententien sonder von wegen der meisten vnnd grösten Becher / die einer dem andern soll bescheidt thun.“ 26
Nicht zuletzt werden just die Becher mit dem Ritual des Bescheidtrinkens kritisch beleuchtet. Wenn das „freundlich vnnd lieblich zuconuersiren […] mit darstellung vnnd herfür bringung schöner sententien vnnd Sprüch“ gegen das „halb vnd gar außtrincken“ und „von wegen der meisten vnnd grösten Becher / die einer dem andern soll bescheidt thun“ ins Feld geführt wird, dann werden Worte gegen Speisen und Getränke gesetzt. Jedoch ist nicht ein schlichtes Austauschen der Objekte – Worte statt Becher – das Thema, sondern wie man mit Bechern und Worten umgeht, in welche Verhaltensweisen und Handlungsketten man sie einbindet. Letztlich geht es darum, Freundschaften zu befestigen, sich gegenseitig zu unterrichten, Differenzen zu klären – statt, wie der Verfasser es für die kritisierten Verhaltensweisen sagt, Feindschaft zu stiften. Während die Priorität von Essen und Trinken aus dieser Sicht fast unweigerlich zu destruktiven Folgen führt, könne die 25 Dazu JANCKE, Gastfreundschaft (wie Anm. 3), Kap. 1.1. bei Anm. 63 und 64. 26 AEGIDIUS ALBERTINUS: De conuiuijs & compotationibus: Darinn mit lustigen Historien vnd Exempeln von den gebräuchen der Gastereyen/ Pancketen vnd Zechens/ so wol auch von der antiquitet, tugent/ effect vn[d] wirckung deß Weins […] discutirt wirdt, in: ANTONIO DE GUEVARA (übers. v. Aegidius Albertinus): Zwey schoene Tractaetl/ dern das eine: Contemptvs Vitae Avlicæ, & Laus Ruris: intitulirt […]; Das ander aber: De conuiuijs & compotationibus: Darinn mit lustigen Historien vnd Exempeln von den gebräuchen der Gastereyen/ Pancketen vnd Zechens/ so wol auch von der antiquitet, tugent/ effect vn[d] wirckung deß Weins […] discurrirt wirdt/ Antonius de Guevarra. – jetzt zum drittenmal mit Fleiss vbersehen vnd in Druck geben, München: Hainrich, 1604, fol. 15v–16v. – Ein Buch mit dem Titel De conviviis philosophorum hat Diogenes Laertios nicht geschrieben.
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Priorität von Worten beim gastlichen Umgang mit Objekten und Menschen weit eher die gewünschte gemeinschaftsstiftende Funktion haben. Als Vorbilder führt der Autor antike Philosophen und ihre Gastmähler an, die bereits vom zitierten antiken Schriftsteller Diogenes Laertios (wahrscheinlich 3. Jh.) zu Exempla verarbeitet worden waren. Die Gelehrten sind es also, die für den katholischen Schriftsteller und Hofbibliothekar Herzog Maximilians in München Aegidius Albertinus (1560–1620) unter Berufung auf eine antike Tradition ein Beispiel geben: mit ihren gegenseitigen Besuchen und Gastmählern, mit der Priorität der Worte vor anderen gastlichen Objekten und nicht zuletzt mit ihrem disziplinierten und maßhaltenden Umgang mit allen vorhandenen Objekten, seien es Speisen und Getränke, seien es Becher oder Worte. Das so vielfach in den Selbstzeugnissen der Gelehrten thematisierte Gespräch, vor allem beim Gelehrtenbesuch, zeigt sich hier als eine bestimmte ritualisierte Umgangsweise mit Worten als Objekten in gastlichen Situationen. Was für die Gelehrten selbst begreiflicherweise besonders wichtig sein konnte, wurde zugleich für andere als Maßstab präsentiert – wobei es nicht die gelehrten Inhalte waren, sondern das kommunikative Verhalten im Gespräch oder beim Umgang mit Bechern und Trinkritualen, das als Standard transferierbar auch auf andere Bevölkerungsgruppen erschien. Dieses Wertesystem wurde von zölibatär lebenden Geistlichen wie Erasmus ebenso wie von verheirateten Gelehrten wie Scultetus, Crusius oder Pellikan gleichermaßen vertreten. Bei Erasmus, Scultetus and anderen wird eine dreistufige Gastfreundschaft unter Gelehrten deutlich: (1) Besuch und Gespräch, was offenbar für alle möglich war, (2) eine Einladung zum Essen, sie wurde gesondert und nur an besonders erwünschte Gäste ausgesprochen, (3) ein Aufenthalt im Haus des Gastgebers für eine gewisse Zeit, wenn dem Gastgeber die Person des Besuchers besonders gefiel. Die zweite und dritte Stufe beinhalteten materielle Gaben des Gastgebers. Ein solches Gefallen beruhte für Erasmus und andere auf der Fähigkeit zum gelehrten Gespräch und auf angemessenem Verhalten, das an den Gütern der Gelehrtenkultur orientiert sein sollte. Diese wiederum sahen sie als wichtig für die Gestaltung von Gemeinwesen an – und damit hatten die Praktiken auf der Mikroebene immer auch Bedeutung für die gesellschaftliche Makroebene. Die in drei Phasen angelegte Gastfreundschaft zeigt, dass bei einem Gelehrtenbesuch Essen und Übernachtung als Teil der Wertschätzung eines gelehrten Gegenübers behandelt wurden. Wenn Essen, Trinken oder eine Übernachtung überhaupt erwähnt wurden, dann ging es meist um ihre Einbindung in eine solche Handlungskette und um die Ehre, die daran sichtbar wurde. Deutlich wird, dass hier normative Konzepte in die Beschreibung von Praktiken eingelagert sind. Normative Anliegen wurden von den Gelehrten ganz ausdrücklich nicht nur in ihren eindeutig normativen Schriften wie Ökonomiken, Predigten oder juristischen Traktaten verfolgt, sondern auch in deskriptiven Textsorten wie autobiographischen Darstellungen einschließlich Briefen. Sie beabsichtigten mit ihrer jeweiligen Wiedergabe von Wirklichkeit, deren normativ relevante Aspekte zu vermitteln, die über die konkreten Personen, Situationen, Orte und Zeiten hinausreichten. Die wieder und wieder beschriebene Werthierarchie von Worten und materiellen Gegenständen dürfte selbst in der
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Sichtweise dieser Gelehrten nicht eindeutig und situationsübergreifend gültig, sondern je nach Situation unterschiedlich sowie einer performativen Herstellung durch die jeweils Beteiligten bedürftig gewesen sein. Auch bei Abraham Scultetus folgt dem Gespräch, wie bei Erasmus, eine Einladung zum Essen, sodann eine zur Übernachtung, und als vierte Möglichkeit wird ein weiterer Gast eingeladen, durch dessen Gesellschaft Scultetus nicht zuletzt deshalb besonders geehrt wird, weil auch dieser ein kompetenter Gelehrter ist. Der gelehrte Besuch wird als Austausch im Sinne eines Gabentausches gekennzeichnet, so dass eine klare Botschaft übermittelt wurde: Alle gelehrten Themen und Kompetenzen, die in der Konversation eine Rolle spielten, waren Gaben, die man sich gegenseitig zugänglich machte und in einen geselligen Austausch einbrachte. Das Essen und auch die Übernachtung hingegen sind hier nicht mehr als kleine Elemente in einer ritualisierten Kette der Ehrung, wie man sie einem gelehrten Gast erweisen kann, so dass für ein gelehrtes Publikum eine klare Botschaft übermittelt wurde. Damit sind wir wieder bei der Frage von Ressourcen angelangt. Ganz deutlich wird an dieser Stelle, dass Gelehrte ihre Kompetenzen als Ressourcen ansahen, die weit mehr bedeuteten als nur die Möglichkeit, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Auch Ruhm und Ehre, Kontakte und Empfehlungen in verschiedenen Netzwerken konnten damit erworben werden. Und das bedeutete unter anderem auch Status in einer ständischen Gesellschaft, der sich etwa in Form von hierarchisch gestaffelten Sitzordnungen bei Gastmählern manifestieren konnte. Nicht zuletzt aber zeigt sich bei Scultetus das Konzept einer bestimmten Lebensform: Gelehrte wie Pellikan, Erasmus, Scultetus und viele andere sahen im gelehrten Studium den Inbegriff eines ethisch und religiös vollkommenen Lebens, und zwar in seinen Inhalten ebenso wie in der Disziplin, die für das Studieren notwendig war. 27 Deswegen waren zumindest in ihren Texten gelehrte Kompetenzen die wichtigste Ressource, um die sich auch in ihrer Gastlichkeit alles drehte. Gelehrte Wissenskultur ist also von gastlichen Praktiken ebenso wenig zu trennen wie von Haushalten und ihrer Ökonomie und von ethischen und religiösen Aspekten der jeweiligen Lebensweise. In Texten konnten VerfasserInnen solche Praktiken beschreiben und benennen, zu Handlungsketten und längerfristigen Strategien anordnen, bewerten, zu Geschichten mit normativen Botschaften über ritualisierte Lebensweisen verarbeiten, speichern, zirkulieren, als Erbe an folgende Generationen weitergeben. Worte ließen sich intensiv nutzen, um Praktiken zu prozessieren und um bestimmte Ressourcen zu transferieren. Gelehrte organisierten ihre Gastlichkeit in einer ritualisierten Form: als eine Handlungskette, die in einer bestimmten Abfolge angelegt war. Die einzelnen Elemente hatten nicht nur in sich selbst, sondern auch aufgrund ihrer Platzierung 27 Besonders deutlich aufgerufen wird die schon für antike Philosophen maßgebliche Vorstellung vom ‚guten Leben‘, griech. ‚eudaimonia‘ oder lat. ‚ars bene vivendi‘ oder hebr. ‚shlemut‘ genannt, bei Konrad Pellikan; dazu vgl. JANCKE, „Individuality“, Relationships, Words About Oneself (wie Anm. 8). Als selbstverständliche Hintergrundfolie ist sie bei anderen Gelehrten ebenso präsent.
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etwas zu bedeuten. Und schließlich bewirkten sie auch etwas, besaßen also performative Aspekte, indem sie zum Beispiel Ehre verliehen. Damit waren einzelne Praktiken in ritualisierte Verhaltensweisen eingebunden, die ihrerseits, wie die Ritualforschungen der letzten Jahre gezeigt haben, ein Grundprinzip frühneuzeitlicher Gesellschaft bildeten. 28 Ein besonders spannendes Thema für die Frage nach Ressourcen ist es, wie durch solche Praktiken aus Objekten wie Betten, Tischen, Trinkbechern oder eben auch Worten soziale Tatsachen gemacht wurden. Die Ökonomie, wie sie sich bei gastlichen Handlungsfeldern zeigt, war in soziale Beziehungen eingelagert. Sie wurde von den für die jeweiligen Beziehungstypen maßgeblichen Regeln definiert und organisiert. Ritualisierung war dabei Teil der Ökonomie. In ihrer dreistufigen Steigerung bot sie dem Gastgeber die Möglichkeit, die verschiedenen gastlichen Gaben beider Beteiligter gemäß ihrer Bewertung zu platzieren: Die materiellen wie die immateriellen Gaben ließen sich so in einer Handlungskette an- und einander zuordnen, ohne sie zugleich in exakter Quantifizierung gegeneinander zu verrechnen. Sie konnten dadurch in mehrfache Verhältnisse zueinander gebracht werden, für die dann die Abfolge und die Logik der Steigerung einen Bewertungsmaßstab abgaben. Die Bewertung durch relative Platzierung statt durch exakte Messung und Quantifizierung ermöglicht eine variable Einbettung in Kontexte und Beziehungen und erlaubt es, den Hand-
28 Vgl. EDWARD MUIR: Ritual in Early Modern Europe, Cambridge 1997 (New approaches to European history); ferner SUSAN C. KARANT-NUNN: The Reformation of Ritual. An interpretation of early modern Germany, London/New York 1997 (Christianity and society in the modern world); ausgezeichneter Forschungsüberblick bei BARBARA STOLLBERG-RILINGER: Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Zeitschrift für historische Forschung 27, 3 (2000), S. 389– 405, sowie DIES.: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für historische Forschung 31 (2004), S. 489–527. – Interaktionsrituale: GABRIELA SIGNORI: „Sprachspiele“. Anredekonflikte im Spannungsfeld von Rang und Wert, in: Zeitschrift für historische Forschung 32 (2005), S. 1–15; MARIAN FÜSSEL/STEFANIE RÜTHER: Einleitung, in: Raum und Konflikt. Zur symbolischen Konstituierung gesellschaftlicher Ordnung in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. CHRISTOPH DARTMANN/MARIAN FÜSSEL/STEFANIE RÜTHER, Münster 2004 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 5), S. 9–18, hier S. 15. Vgl. vorher schon die mikrosoziologischen Ansätze etwa bei ERVING GOFFMAN: The Representation of Self in Everyday Life, Garden City, NY 1959; DERS.: Interaction Ritual. Essays on face-to-face behaviour, Garden City, NY/Chicago 1967; auch weiterhin interessiert sich die (Mikro-)Soziologie für dieses Feld des ritualisierten Verhaltens in alltäglichen Kontexten, vgl. RANDALL COLLINS: Interaction Ritual Chains, Princeton/Oxford 2004 (Princeton Studies in Cultural Sociology). – Planung, Aushandlungsprozesse und Veränderbarkeit von Ritualen betont besonders GERD ALTHOFF: Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter, Darmstadt 1990, sowie DERS.: Die Veränderbarkeit von Ritualen im Mittelalter, in: Formen und Funktionen öffentlicher Kommunikation im Mittelalter, hg. v. GERD ALTHOFF, Stuttgart 2001 (Vorträge und Forschungen 51), S. 157–176. Seine Einsichten treffen auch über das Mittelalter hinaus für viele Bereiche ritualisierten Handelns zu. – Zum hier behandelten Themenfeld s. auch JANCKE, Gastfreundschaft (wie Anm. 3), S. 25f., 317– 409, mit weiterer Literatur; zu Ritualen in der Gelehrtenkultur s. o. Anm. 24.
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lungslogiken der jeweiligen sozialen Beziehungen Priorität in Bezug auf Ressourcen einzuräumen. 3 DER WERT DER WORTE UND WERTE – BEWIRTSCHAFTUNG VON GEMEINGUT IN EINER ÖKONOMIE SOZIALER BEZIEHUNGEN Wenn Erasmus, der Propst von Eton oder Caspar Peucer für einen Besucher so viel und in gesteigerter Form investieren wollten, bezeugte dies auf ritualisierte Weise und gleichzeitig auch in materieller Form die Wertschätzung des Gastes, die dieser wiederum als Ehre zu verstehen und zu bewerten hatte. Diese Ehre ließ sich anderswo dann in handfeste materielle Ressourcen umsetzen, worüber Erasmus etliche Geschichten in seinen Briefen zu erzählen hatte. Man konnte mit Gastfreundschaft und Geschenken aller Art überhäuft werden, die Erasmus auch in ihrem Geldwert präzise bezifferte – zugleich ärgerlich über den Missbrauch, der mit seinem Namen und seinen Freundschaften betrieben wurde, und fasziniert von den materiellen Möglichkeiten, die im Gebrauch seines Namens an den richtigen Stellen offenbar steckten. Als Medium eines solchen Tausches dienten Worte – ein von Erasmus geschriebener Empfehlungsbrief, oder einfach eine Berufung auf seinen Namen. So etwas konnte natürlich nur im Rahmen einer Sozialität funktionieren, in der die Akteure und Akteurinnen die Regeln für eine solche Ökonomie sozialer Beziehungen kannten und als entsprechende Handlungsimpulse handhabten. Ein gastliches Gabensystem konnte aber auch völlig entgleisen, wenn die Wertehierarchie verschieden war und sich dies im Laufe der Interaktionen herausstellte. Statt eine Kette von Gaben von beiden Seiten zu bilden, die mit Dank und eventuell einem Gastgeschenk des Gastes nach dem Abschied endete und beiden Seiten etwas gab, konnte es passieren, dass die Handlungskette Zug um Zug aus negativen ‚Gaben‘ mit schädigender Wirkung bestand, so dass am Ende eine oder beide Seiten einen Verlust davontrugen. 29 Gastlichkeit war in der frühneuzeitlichen Gesellschaft, für Gelehrte wie für Adlige, Handwerker oder andere, unweigerlich mit Gruppenkulturen verbunden. Aber diese Gruppenkulturen unterschieden sich danach, welche Ressourcen sie am höchsten bewerteten. Erasmus ebenso wie Aegidius Albertinus und andere kontrastierten einen Typ, der ihnen zufolge ausschließlich am Zechen und damit primär an der Ressource Alkohol orientiert war, mit einem anderen Typ, der sich auf Disziplin und Gespräche ausrichtete. Ganz nach antiken philosophischen Vorbildern mahnten sie die Orientierung dieser Geselligkeit auf die so viel billigere Ressource des Wortes an, deren Verwendung der Disziplin bedurfte. 30 Entfaltet 29 Zur unterschiedlichen Bewertung etwa von Geld s. o. bei Anm. 10 und 11. 30 PLUTARCH: Moralia, vol. 2, Cambridge, Mass./London 2002 (Loeb Classical Library 222), The Dinner of the Seven Wise Men (Septem sapientium convivium), 150 C–D („In such repartee as this did those men indulge while dining; but to me, as I was noticing that the dinner was plainer than usual, there came the thought that the entertainment and invitation of wise
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wird hier eine wahrhaft moralische Ökonomie nach E. P. Thompson und Lorraine Daston: Askese in leiblichen Dingen, evt. auch in Worten; eine Ökonomie, die auffallend mit der von Studenten kontrastiert, wohl auch der bürgerlicher und v. a. unterbürgerlicher Schichten. 31 Ökonomiken greifen diesen Punkt auf und betonen den ökonomischen Wert von Gesprächen zunächst für Haushalte, aber auch für das ganze soziale Gefüge einer Haushaltsgesellschaft. Was Erasmus in seinen Briefen mit ausführlichen Geschichten beschreibt und als Exempla im Rahmen der Gelehrtenkultur in Umlauf bringt, findet sich achtzig Jahre später im Rahmen einer Ökonomik für einen Gelehrtenhaushalt. Der Freiburger Professor für Griechisch und Geschichte Johann Jakob Beurer schreibt: „Distribuendus est etiam dies in certas horas studiorum, & praxeως, & colloquiorum cum viris doctis.“ 32 Ganz lakonisch wird das colloquium cum viris doctis als Vorschrift zu einer ökonomischen Einteilung des Tages formuliert. Diese Ökonomik, die speziell für die Haushalte von Gelehrten gedacht war, wies dem gelehrten Gespräch und damit auch der Gastlichkeit und der Geselligkeit mit anderen Gelehrten einen Ort zu, an dem es im Rahmen der Ökonomie eines Gelehrtenhaushaltes funktional sein konnte und sollte. Die Worte der Gelehrten wurden damit als Ressourcen in einer Ökonomie der Gegenseitigkeit behandelt, die gelesenen und geschriebenen ebenso wie die im Gespräch mit anderen Gelehrten gewechselten.
and good men involves no expense, but rather curtails expense, since it does away with overelaborate viands and imported perfumes and sweetmeats and the serving of costly wines, all of which were in fairly free use every day with Periander in his royal position and wealth and circumstance“, d. h. es ist billiger, weise Männer bzw. Gelehrte einzuladen, weil bei ihnen eher die Unterhaltung wichtig ist); vgl. dazu auch DAVID E. AUNE: Septem sapientium convivium (Moralia 146B – 164 D), in: Plutarch’s Ethical Writings and Early Christian Literature, hg. v. HANS DIETER BETZ, Leiden 1978 (Studia ad Corpus Hellenisticum Novi Testamenti 4), S. 51–105, hier S. 52 (das zentrale Thema ist die oikonomia oder die gute Verwaltung von Staaten, Haushalten und Kosmos). 31 Zur moralischen Ökonomie bei Gelehrten s. KÜHN, Wissen, Arbeit, Freundschaft (wie Anm. 5), S. 61f., wo auch auf EDWARD PALMER THOMPSON: The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century (11971), in: DERS., Customs in Common, New York 1991, S. 185–258, und LORRAINE DASTON: Die moralischen Ökonomien der Wissenschaft, in: DIES., Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt am Main 2001, S. 157–184, hingewiesen wird. Für Gelehrte vgl. auch Gadi Algazis Forschungen, etwa GADI ALGAZI: Gelehrte Zerstreutheit und gelernte Vergesslichkeit, in: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne, hg. v. PETER VON MOOS, Köln/Weimar/Wien 2001 (Norm und Struktur 15), S. 235–250, sowie DERS., Scholars in Households: Refiguring the Learned Habitus 1480–1550, in: Science in Context 16, 1+2 (2003), special issue: Scientific Personae, hg. v. LORRAINE DASTON und OTTO SIBUM, S. 9–42, wo aber nicht die Verbindung zur moralischen Ökonomie gezogen wird. 32 JOHANN JAKOB BEURER: Oeconomia Sophoclea: sive De Re Familiari Eruditi Viri, quem Graeci πεπαιδευμενον vocant, Praeceptionum, admonitionum quaedam ex Cornelis Nepot. Attico. & Xenophontis Oeconomico Συγκομίσματα [?], Hannover 1598, c. X, S. 126; dt. Übers.: „Auch ist der Tag in feste Stunden der Studien und Übung und des Gesprächs mit gelehrten Männern aufzuteilen.“
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Für Erasmus wie für andere Gelehrte waren gastliche Ressourcen danach in einer Hierarchie von Werten anzuordnen. Alkohol und eine auf das gemeinsame Trinken von Bier oder Wein konzentrierte Geselligkeit fand wenn überhaupt dann eher kritische Aufmerksamkeit von ihrer Seite. Erasmus zufolge waren solche Gastlichkeiten die pure, nutzlose Verschwendung; selbst die an sich hoch bewertete Geselligkeit war unter solchen Umständen für ihn keine Gabe, sondern eher das Gegenteil: Für keinen der Beteiligten kam etwas Gutes dabei heraus, und ihm selbst stahl sie die Zeit und die Kräfte, die er für anderes brauchte. Diese Art von Geselligkeit war eine ‚Gabe‘, die bloß Ressourcen aufsaugte und nutzlos aufzehrte – für ihn also eher eine Plage. Seine Ökonomie auch für soziale Beziehungen war eine, die an den höchsten Gütern eines geistlichen Lebens ausgerichtet war. Dazu konnte, wie bei Konrad Pellikan explizit genannt, auch ein Verständnis von Worten als geistliche Speise gehören, durch die eine Tischgemeinschaft von gelehrten Männern mit religiösen, in christlichem Kontext biblischen und eucharistischen, Anklängen konstituiert wurde. 33 Viele Beschreibungen oder bildliche Darstellungen der Tischgemeinschaften gelehrter Männer dürften vor diesem Hintergrund einer Gleichsetzung gelehrter Werte und Lebensweisen mit höchsten – insbesondere religiösen – Werten zu verstehen sein. Da Pellikan, Erasmus und andere diese höchsten Güter eines gelehrten Lebens jedoch als gelehrte Praktiken des Wortes definierten, bewegten sie sich zugleich im Rahmen einer gelehrten Gruppenkultur, wo ebenfalls Worte als Teil von Verhaltensweisen gewogen und Argumente auf ein für wahr gehaltenes Argumentationsziel ausgerichtet wurden. Die Wahrheitsfrage wiederum war zu einem gewissen Teil eine ethische und religiöse, so dass es während der ganzen Frühen Neuzeit große Überschneidungsbereiche zwischen einer religiösen und einer gelehrten Ökonomie der Worte geben konnte. Bei dem Gastmahl hingegen, das Erasmus gegenüber Sixtin in brieflicher Form würdigte, 34 war für ihn nicht nur die Geselligkeit in sich selbst eine wertvolle Gabe aller Beteiligten füreinander. Vielmehr ergab sich dabei auch noch ein Überschuss: Der vorbildliche Charakter dieses gelehrten Gastmahls konnte zu einer Erzählung verarbeitet werden und als Exemplum wiederum für andere eine Ressource darstellen, wenn sie durch Zirkulation zugänglich gemacht wurde. Worte in einer verschriftlichten Form waren die am besten geeignete Form, um solche Ressourcen speichern, aufbewahren, sammeln und erneut verwenden zu können, und so war sein Brief an Sixtin mit dieser Erzählung eine auf das Gastmahl zurückgehende, von ihm produzierte Gabe für einen anderen Kontext. An einer solchen Geselligkeit war auch ihre Produktivität wichtig: Durch den Umgang mit Worten konnte etwas Gemeinwesenrelevantes hergestellt werden, statt 33 Zu Konrad Pellikan näher JANCKE, Gastfreundschaft (wie Anm. 3), S. 91–95, mit weiteren Literaturhinweisen; vgl. auch eine ähnliche Sicht der Worte gelehrter Männer in einer Tischgesellschaft als höchster Wert bei dem osmanischen jüdischen Gelehrten Ha’im Yoseph David Azulai (1724–1806), dazu s. ebd. S. 424f. 34 S. o. bei Anm. 7.
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Hans Holbein d. J. (ca. 1497/98–1543): Porträt Sir Thomas More (1527) Hans Holbeins Porträt des Thomas Morus zeugt von den roten Samtärmeln bis zu den Bartstoppeln vom Wert der Worte in der Ökonomie sozialer Beziehungen: Holbein war 1526 von Basel aus mit einer Empfehlung von Erasmus nach England gegangen, um sich dort nach Aufträgen umzusehen – desselben Gelehrten Erasmus, den er zuvor mehrfach porträtiert hatte und der eng mit Thomas Morus befreundet war. Auch wenn Holbein 1528 nochmals nach Basel zurückkehrte, wo er als Bürger mit Frau, Kindern, Haushalt, Hausbesitz und Förderung des Rates der Stadt ansässig war, begründete dieser erste England-Aufenthalt doch seine spätere Karriere als englischer Hofmaler und erfolgreicher Porträtist finanzkräftiger Eliten. Das ist um so bemerkenswerter, als er vom Basler Rat ein lukratives Angebot mit dauerhaft gesichertem finanziellem Auskommen aus der korporativ bewirtschafteten Kasse der Reichsstadt besaß, in England aber in unsicheren Auftragsverhältnissen arbeiten musste. Auch seinen zweiten Aufbruch nach England 1532 begleitete wiederum eine Empfehlung von Erasmus, und auch wenn Erasmus sich beklagte, Holbein hätte sein Vertrauen missbraucht (die Gründe sind nicht klar), verhalf sie ihm erneut, sich nunmehr dauerhaft in England zu etablieren und so eine erfolgreiche geschäftliche Existenz als Maler in London aufzubauen. Das 1527 entstandene Porträt von Sir Thomas More, der damals als Sekretär und Ratgeber Heinrichs VIII. einer der politisch einflussreichsten Männer in England war, demonstriert den sozialen und politischen Rang von Holbeins Mäzen und Auftraggeber in eindrucksvoller Üppigkeit der Kleidung und anderer materieller Accessoires. Während Holbein Gelehrte wie Erasmus oder den Morus’schen Hauslehrer Nikolaus Kratzer in schlichter Gelehrtenkleidung und entsprechendem Ambiente – mit ihren gelehrten Werkzeugen und Produkten – darstellte, zeigt sich der 1521 geadelte Morus hier nicht direkt als Gelehrter. Anders als später sein Nachfolger und Widersacher Thomas Cromwell ließ sich Morus von Holbein mit aufwändiger Kleidung darstellen, die seinem politischen Rang entsprach und in diesem Status auch die Werte des humanistischen Gelehrten verkörperte. Ein besonders prominentes Accessoire ist die Kette, mit der Morus sich zeigt: Mit der daran hängenden Tudor-Rose weist sie den Träger als Diener des Königs aus. Das gilt ganz gleich, ob es sich um eine offizielle Amtskette oder um ein von Morus persönlich in Auftrag gegebenes Schmuckstück handelte, das seinem Status als hochrangiger geadelter Höfling entsprechen sollte, auch gleich ob es diese Kette überhaupt real gab oder ob sie für die Zwecke der Porträtierung erfunden wurde, und ebenfalls gleich ob die ZeitgenosInnen die so auffällig in S-Form gestalteten Kettenglieder in ihrer Bedeutung einordnen konnten oder spekulieren mussten wie heutige BetrachterInnen: „S“ für „Service“? oder für „Scientia“? oder als Möglichkeiten für beides? Auch wenn diese prunkvolle Kette unter Umständen schon für die ZeitgenossInnen real und materiell nicht eindeutig identifizierbar gewesen sein mag, so war der damit manifestierte Status real und ließ sich in der sozialen Wirklichkeit wirksam machen – performativ realisiert durch Holbeins bildliche Darstellung. Holbein wiederum hatte mit diesem einflussreichen altgläubigen Politiker einen Gönner gefunden, der seine eigene Ausgangsbasis, die Basler Empfehlung des Erasmus, in demonstrierbare Anerkennung auf hoher sozialer Ebene umgewandelt und ihm damit weitere Möglichkeiten eröffnet hatte. Mit seiner detaillierten und reichhaltigen Materialität erzählt das Porträt auch vom Wert der Worte – jener des Erasmus nämlich – und der dem Bild zugrunde liegenden Ökonomie sozialer Beziehungen, die nicht nur zwei bedeutende humanistische Gelehrte verband, sondern auch die Wege zu mächtigen und sozial hochrangigen Personen ebnete. Dem Maler öffneten sich Zugänge zu sozialen Räumen und den Eliten vorbehaltenen Ressourcen allein durch das sich im meisterhaften Kunstwerk materialisierende Immaterielle. Das Bild steht beispielhaft für eine erfolgreiche Ressourcenkonversion. – Aus Worten wurde am Ende wieder etwas ganz Materielles, das seinerseits den Wert und Status des an Worten orientierten gelehrten Dargestellten mit der Materialität seiner Kleidung und der Malerei selbst inszenierte.
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nur einfach kostbare materielle Ressourcen zu verbrauchen und zu verschwenden. Die Praktiken in gastlichen Situationen sah Erasmus als zentralen Indikator dafür, auf welches höchste Gut hin sich die jeweiligen Beteiligten ausrichteten, welche Ressourcen sie dabei tatsächlich suchten und wie sie damit wirtschafteten. Für ihn wie für andere Gelehrte waren gastliche Ressourcen in einer Hierarchie von Werten anzuordnen, in der Alkohol und Geld eher unten rangierten, Worte aber ganz oben platziert wurden, da sie als Medium viele andere Ressourcen erschließen konnten und entscheidende Funktionen bei der Regierung politischer und religiöser Gemeinwesen besaßen. 35 In einem seit dem Spätmittelalter und die ganze Frühe Neuzeit hindurch stattfindenden Prozess vermochten Gelehrte diese Bewertung und die damit verknüpften praktischen Folgerungen für die Verwaltung und Bewirtschaftung von Gemeinwesen überaus erfolgreich bei den adligen Eliten und in der Gesamtgesellschaft zu etablieren. 36 4 SCHLUSS Der Blick auf Praktiken zeigt, dass Worte als Ressourcen gebraucht werden konnten und dass es dafür viele Möglichkeiten gab. Besonders intensiv befassten sich Gelehrte damit, diese Funktionen von Worten auszuleuchten und ihre Praktiken damit anzureichern. Nicht nur Erasmus, sondern auch viele andere waren fasziniert davon, was man mit Worten alles machen konnte und wofür sie sich verwenden und verarbeiten ließen. Wenn man auf Gastfreundschaft als Handlungs35 Dazu näher JANCKE, Gastfreundschaft (wie Anm. 3), S. 115–123. 36 Dieser Prozess wird oft dahingehend formuliert, dass „die humanistischen Bildungsbestrebungen doch auch Eingang in wohl meist bessergestellte adlige Kreise“ gefunden hätten, so etwa bei MICHAEL SIKORA: Der Adel in der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2009 (Geschichte kompakt), S. 106; zur Adelsbildung ausführlicher und differenzierter RONALD G. ASCH: Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung, Köln/Weimar/Wien 2008, Kap. 4: Adelsbildung und kulturelle Hegemonie, S. 132–162 (zur Frage von Abgrenzungen und ständischer Selbstbehauptung), sowie Kap. 7: Staatsbildung und adelige Selbstbehauptung, S. 235–274, bes. S. 239–252 (zu bürokratischen und schriftlichkeitsorientierten Herrschaftsmethoden); vgl. auch LISA JARDINE: Worldly Goods. A New History of the Renaissance, London 1996, Kap. 3: The Triumph of the Book, S. 133–180, und Kap. 4: Learning to Be Civilized, S. 181–228, wo es aus einer anderen Perspektive um den Wert (value und worth, S. 192) von Büchern und gelehrt-humanistischen Orientierungen geht, die von adligen und nicht-adligen Machthabern bis zu einem gewissen Grad übernommen wurden: Jardine beschreibt, wie die Käufer, Sammler, Besitzer von Büchern und Handschriften sich als Teilhaber am Wertekanon von humanitas, Tugend, Gelehrsamkeit, Disziplin betrachteten und darstellten – auch ohne notwendigerweise selbst sehr viel darin zu studieren. – Jedoch handelt es sich um weit mehr als nur um eine Ergänzung adliger Strategien und Lebensweisen, nämlich um einen Prozess der Um- und Neuformierung adliger und gelehrter Eliten nach gelehrten Vorstellungen und Praktiken, in dessen Verlauf adlige Herrschaftspraktiken und Männlichkeitskonzepte grundlegend verändert wurden. Dieser Prozess führte zu einer für die Frühe Neuzeit charakteristischen Allianz der jeweiligen männlichen Eliten und zu tiefgreifenden Veränderungen in den Methoden der Herrschaftsausübung; s. dazu JANCKE, Gastfreundschaft (wie Anm. 3), S. 123– 134.
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rahmen solcher Praktiken sieht, dann wird die Ökonomie des Umgangs mit Ressourcen fassbar in ihren Verflechtungen, die über die Haushalte in die größeren Zusammenhänge der frühneuzeitlichen Gesellschaft hineinreichten. Worte erfüllten in dieser Ökonomie viele Funktionen. 37 Mit Worten konnten Ressourcen erzeugt, gesammelt, aufbewahrt, gespeichert, zerstört und weitergegeben werden, unmittelbar in face-to-face-Situationen oder auch dauerhaft und langfristig über räumliche und zeitliche Entfernungen hinweg. Besonders gut eigneten sie sich für immaterielle Ressourcen wie Status, Ehre, Memoria, Lebenslehren oder für soziale Beziehungen und alles, was sich darüber zugänglich machen ließ (zum Beispiel in Form von Autobiographien). Worte waren aber auch in vielen Hinsichten selbst eine Ressource. Schließlich konnten Worte darüber hinaus ein hohes Gut sein, das um seiner selbst willen gesucht und dann in unterschiedlichen Varianten ausgestaltet wurde. Das zeigt sich in so unterschiedlichen Formen wie dem Empfehlungsbrief oder dem album amicorum, in Texten der religiösen und gelehrten Tradition (Korintherbriefe des Paulus im Neuen Testament, Korintherbrief-Paraphrasen des Erasmus, philosophische Texte von Plutarch u. a.), in Ökonomiken und anderen normativen Schriften und vor allem immer wieder in der Form des Gesprächs. Mit den Praktiken, die ich hier nur schlaglichtartig vorgeführt habe, konnte man aus Worten ein allgemein gültiges und für andere Ressourcen passendes Tauschmittel machen, einen Wertspeicher, eine zirkulierbare und weithin gültige Währung. Sie konnten damit ähnlich wie Geld benutzt werden, während Geld längst nicht in allen Kontexten und für alle Arten von Transaktionen die passende Währung darstellte. Welche Währung wann und wofür passend war, mussten die Beteiligten zunächst danach entscheiden, was überhaupt verfügbar war. Diese Funktionen – als Medium des Austausches, Berechnungseinheit, Wertspeicher etc. – allein dem Geld zuzuschreiben, würde also zu sehr eingeschränkten Perspektiven führen, worauf ethnologische Arbeiten für zeitgenössische Gesellschaften bereits nachdrücklich hingewiesen haben. 38 Frühneuzeitliche Akteurinnen und Akteure kannten auch Worte als ein solches multifunktionales Medium zum Umgang mit Ressourcen. Worte als Objekte neben anderen Arten von Objekten, ihre Bewertung im Verhältnis zu anderen Objekten und Ressourcen, ihre diversen Verwendungsweisen u. a. als Ressourcen oder Währung: All dies wurde durch Praktiken realisiert. Vor allem aber wurde der hohe Stellenwert von Worten im Verhältnis zu anderen Ressourcen und Gütern durch Praktiken und ihre beständige Ausübung in repetitiver Weise immer wieder performativ hergestellt. Gelehrte waren besonders prädestinierte, engagierte und findige Akteure dafür, durch Praktiken aus Worten 37 Was hier über Gespräch und Geselligkeit bei Gelehrten ausgeführt wurde, wäre auch in dem größeren Kontext zu verorten, den Daniel Schläppi unter dem Stichwort ‚Gerede‘ für die ökonomischen Aspekte von Gespräch und Konversation skizziert; vgl. den Beitrag in diesem Band (bei Anm. 57). 38 Zu den möglichen Gebrauchsweisen von Geld vgl.: Money and the Morality of Exchange, hg. v. JONATHAN PARRY und MAURICE BLOCH, Cambridge 1989.
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soziale Tatsachen zu machen. Ihre eigene Gelehrtenkultur war ein vorrangiger Schauplatz der entsprechenden Praktiken. Wie das spezielle Handlungsfeld der Gastlichkeit zeigt, ging es ihnen bei ihren Verwendungsweisen von Worten als sozialen Tatsachen um grundlegende Fragen der Lebensweise im Sinne eines ‚guten Lebens‘ (eudaimonia, ars vivendi). Worte als Ressourcen waren in diesen Kontext eingebettet und wurden als Teil eines gemeinsamen Fundus verstanden, der einer gemeinsamen Bewirtschaftung ebenso bedurfte wie auch dafür zugänglich war. Durch ihre vielfältigen Tätigkeitsfelder als Pfarrer, Juristen, Lehrer, Professoren, Berater etc. besaßen sie ebenso viele Handlungsfelder, auf denen sie den Wert der Worte auch anderen historischen AkteurInnen gegenüber plausibel zu machen verstanden – nicht notwendigerweise auf dem Weg überzeugender Argumentationen, aber auf jeden Fall und vermutlich nachhaltiger durch die Wirksamkeit ihrer Praktiken. Der konkrete Wert von Worten konnte nur durch eine ständige und situationsorientierte Evaluation ermittelt werden, war aber meist keine genau quantifizierbare Größe und immer in Situationen, Beziehungen und konkrete Verhaltensweisen eingebettet. Auf einer analytischen Ebene sind Worte als Ressourcen also nicht als beziehungsfreie oder statische Größen zu konzipieren. Sie sind relational und performativ, das heißt sie bedürfen in hohem Maße sozialer Praktiken und eines Rahmens von sozialen Beziehungen und der dort verhandelten Werte und Wertrelationen, um als Ressourcen wirksam werden zu können. Im Rahmen von sozialen Beziehungen und mit ritualisierten Verhaltensweisen wurde entschieden, ob es sich jeweils um Gaben-, Tausch- oder Kaufpraktiken handelte, welche Objekte in welchen Wertverhältnissen zueinander standen und welche im jeweiligen Kontext als Ressourcen wofür einsetzbar waren. Ob es sich dabei um Worte als geistliche Speise oder als Währung handelte, musste dabei keineswegs im Gegensatz zueinander stehen. Für das Bewerten und Prozessieren von Worten spielten Gelehrte eine Schlüsselrolle: Sie waren die Spezialisten und außerhalb der Gelehrtenkultur auch Autoritäten für vieles, was sich mit dem Wert der Worte machen ließ. Besonders intensiv waren sie damit beschäftigt, diesen Wert zu erzeugen und aufrechtzuerhalten – womit sie die Werte ihrer eigenen Gelehrtenkultur sehr erfolgreich in ihrer Gesellschaft insgesamt verbreiteten. Umgekehrt trugen sie auch viele ökonomische Aspekte in ihre Gelehrtenkultur hinein und arbeiteten daran, sie mit ihren gelehrten Wort-Praktiken aufs engste zu verflechten. Worte wurden als Ressourcen, als Währung, als immaterielles Erbe, als geistliche Speise in einem umfassenden Wertgefüge verortet, das ökonomische, aber auch religiöse und andere Aspekte enthielt. Soweit es an den Wort-Praktiken ablesbar ist, war dieses Wertgefüge nicht ausschließlich von der Frage nach nutzbaren Ressourcen her aufgebaut und konzipierte auch Ressourcen nicht innerhalb eines abgetrennten und in sich geschlossenen Bereiches von ‚Ökonomie‘. Was gegebenenfalls als Ressource in Frage kommen konnte, wurde von AkteurInnen im Rahmen von Gruppenkulturen und Machtverhältnissen durch Praktiken im Horizont eines solchen Wertgefüges bestimmt. Je nach Situation konnte dies bei komplexen Handlungslogiken zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen.
LIEBE, EHE, ÖKONOMIE. MATERIELLE UND IMMATERIELLE RESSOURCEN IM KONTEXT VON VERWANDTENHEIRATEN Margareth Lanzinger In der ‚Ökonomie sozialer Beziehungen‘ nimmt die Frage nach dem Verhältnis von Ökonomie einerseits, Liebe und Ehe andererseits einen besonderen Stellenwert ein, insofern als deren Verknüpfung in der westlichen Moderne als widersprüchlich wahrgenommen wird. 1 Diese Ambivalenz ist nicht zu trennen von der ab Ende des 18. Jahrhunderts virulent werdenden Kritik an arrangierten Ehen, deren Zustandekommen von wirtschaftlichen und statusbezogenen Erwägungen getragen war. Charles Fourier beispielsweise setzte sie in seiner Théorie de quatre mouvements (1808) einem mitgiftbasierten Geschäft gleich, bei dem „das junge Mädchen“ als „eine Ware jedem feilgeboten“ würde, „der ihren Erwerb und Alleinbesitz aushandeln“ wolle. 2 Fouriers Gesellschaftstheorie, die von Ideen der Aufklärung getragen war und bereits die Vorstellung einer Gleichberechtigung von Männern und Frauen enthielt, hatte zugleich utopische Züge. Wirkmächtiger war dem gegenüber das Paar- und Ehekonzept, das bürgerliche Intellektuelle im Zeichen der so genannten romantischen Liebe entwarfen. Letztere rüttelten allerdings nicht an der grundsätzlichen Ungleichheit der Geschlechter. 3 Dennoch: Eine
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Paradigmatisch brachte dies etwa Wolfgang Müller-Funk, ein Literatur- und Kulturwissenschaftler, in den 1990er Jahren zum Ausdruck, wenn er schrieb: „Jeder neue Schub der Modernisierung beinhaltet zugleich eine Ökonomisierung immer neuer Lebensbereiche: der Kultur, der Liebe, der Religion, und es ist strittig, ob diese Ökonomisierung eine prinzipielle Grenze kennt, ob es noch Dinge geben kann, die nicht käuflich sind“ (WOLFGANG MÜLLER-FUNK: Einleitung, in: Die berechnende Vernunft. Über das Ökonomische in allen Lebenslagen, hg. v. WOLFGANG MÜLLER-FUNK, Wien 1993, S. 13–20, hier S. 13). CHARLES FOURIER: Œuvres complètes, I: Théorie des quatre mouvements, Paris 1966 (11808), S. 130, hier zit. in der Übersetzung aus: CHARLES FOURIER: Aus der neuen Liebeswelt, Berlin 1977, S. 77. Ute Gerhard hat darauf verwiesen, dass die Ehe seit der Aufklärung und Französischen Revolution zwar „zunehmend aus der kirchlichen Jurisdiktion herausgelöst und grundsätzlich als bürgerlicher, privatrechtlicher Vertrag definiert worden“ sei, jedoch unter widersprüchlichen Prämissen, die den Ehevertrag zu einer „systematische[n] Bruchstelle zwischen der geschichtsmächtigen Idee von der Gleichheit aller Menschen und einem ‚Sonderrecht‘ für verheiratete Frauen“ werden ließ, da sie dem Ehemann als „Haupt“ der Familie „zu Gehorsam, Unterwerfung und persönlicher Dienstleistung jeder Art verpflichtet“ wurden bzw. blieben. UTE GERHARD: Die Ehe als Geschlechter- und Gesellschaftsvertrag. Zum Bedeutungswandel der Ehe im 19. und 20. Jahrhundert, in: Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer
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Eheanbahnung sollte frei von Sachzwängen sein und sich an der Übereinstimmung der Gemüter sowie an positiven Gefühlslagen orientieren. Daraus resultierte ein „bürgerliches Liebesprojekt, das die Einheit von Ehe und Liebe proklamierte“ und dabei die Liebe jeden „Ökonomieverdachts“ enthob. 4 Ein allzu offensichtlicher Konnex zu materiellen Interessen erhielt davon ausgehend eine negative Färbung. So kritisierte Schlegel in seiner Lucinde paradigmatisch für seine Zeit und Geisteshaltung das herkömmliche Eheverständnis: „Da liebt der Mann in der Frau nur die Gattung, die Frau im Mann nur den Grad seiner natürlichen Qualitäten und seiner bürgerlichen Existenz und beide in den Kindern nur ihr Machwerk und Eigentum.“ 5
Jean Paul forderte stattdessen kurz und bündig: „Liebe um Liebe“. 6 1 LIEBE, EHE UND ÖKONOMIE Während für die Frühe Neuzeit die Relevanz ökonomischer Aspekte in Zusammenhang mit Eheschließungen hervorgehoben wird, 7 scheint dieser Konnex in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in ein etwas schiefes Licht geraten zu sein. 8 Karin Hausen stellt in Zusammenhang mit ihrer Durchmusterung von Heiratsanzeigen aus der Zeit zwischen den 1870er und 1970er Jahren fest: „Ehe und Markt auf einander zu beziehen, bedeutet die Überwindung der im 19. Jahrhundert unter dem Gebot der Liebesheirat sorgfältig kultivierten und im 20. Jahrhundert lange bewahrten Scheu, das hehre Institut der Ehe in die Nähe des Marktes zu rücken.“ 9
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Geschlechterbeziehungen, hg. v. INGRID BAUER, CHRISTA HÄMMERLE und GABRIELLA HAUCH, Wien/Köln/Weimar 2005, S. 449–468, hier S. 451. EDITH SAURER: Zur Liebe-Markt-Geschichte, in: Die berechnende Vernunft (wie Anm. 1), S. 218–236, hier S. 218. FRIEDRICH SCHLEGEL: Lucinde. Ein Roman, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, I. V, München u. a. 1962 (Berlin 11799), S. 3–82, hier S. 33. JEAN PAUL: Levana oder Erziehlehre, in: DERS.: Sämtliche Werke, I.5, S. 515–874, hier S. 805. Vgl. The Marital Economy in Scandinavia and Britain 1400–1900, hg. v. MARIA ÅGREN und AMY LOUISE ERICKSON, Aldershot 2005. Zu nennen wäre auch das Konzept des ‚Arbeitspaares‘, das ökonomische Ehelogiken impliziert. HEIDE WUNDER: „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, insbes. Kap. 4. Vgl. PETER BORSCHEID: Geld und Liebe. Zu den Auswirkungen des Romantischen auf die Partnerwahl im 19. Jahrhundert, in: Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, der Geschlechts- und Generationsbeziehungen in der Neuzeit, hg. v. BORSCHEID und HANS J. TEUTEBERG, Münster 1983, S. 112–134, hier S. 119: „Konkret gesprochen suchte der Mann eine Frau zu finden, die möglichst viel Mitgift mitbrachte, die kräftig und fleißig war und einen guten Ruf besaß. Andererseits lag es im Interesse der Frau, einen Mann zu finden, der ebenso als reich, ehrsam, angesehen und tüchtig galt. Materieller und geistiger Besitz, Einkommen, Prestige und Macht bestimmten neben körperlichen Vorzügen den jeweiligen ‚Tauschwert‘.“ KARIN HAUSEN: Die Ehe in Angebot und Nachfrage. Heiratsanzeigen historisch durchmustert, in: Liebe und Widerstand (wie Anm. 3), S. 428–448, hier S. 429.
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Einschlägige Untersuchungen zeigen jedoch mehr als deutlich, dass eine „gesicherte Versorgung von Frau und Kindern“ weiterhin „die Voraussetzung für eine Eheschließung bei Männern“ blieb. 10 Auf die Diskrepanz zwischen dem Diskurs und dessen Wirkmacht als „Ideologie“ und „Norm“ einerseits und der sozialen Praxis, der „sozialen Reichweite“ andererseits hat bereits Peter Borscheid in seiner Studie hingewiesen. Die wesentlichen Erkenntnisse daraus sind, dass „[d]as Schema von sexuell unterbauter Intimität als Basis der Ehe“ zwar „die Moral und die Norm Alteuropas [sprengte]“, dass dies aber nur „für eine kleine elitäre Minderheit […] praktische Bedeutung“ erlangen konnte, für „eine kleine Schicht wohlhabender, ‚freischwebender‘ Personen“. Dem entsprechend und so „als ob kein Zufall existierte, heiratete man weiterhin nur einen finanziell ebenbürtigen Partner“, was zur Folge hatte, dass die „ausschlaggebende Bedeutung sachlicher Kriterien bei der Partnerwahl“ durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch anhielt. Der befürchtete Effekt, dass die Eheschließung „[d]urch die Aufwertung der Liebe als einzig legitimen Grund der Partnerwahl […] an sozial nicht mehr kontrollierbare Zufälle gekoppelt“ werde, war also keineswegs eingetreten. Auch wenn der äußere Befund, die geringe soziale Mobilität bei der Wahl von Ehepartnerinnen und Ehepartnern und die Bedeutung der sozialen und ökonomischen Positionierung für Eheschließungen, Kontinuität suggeriert, so haben sich in dieser Zeit die in einem auf Homogamie hin orientierten Heiratsmuster geknüpften Paarbeziehungen in ihren Konstellationen und Qualitäten zum Teil zumindest dennoch verändert. Borscheids Feststellung, dass das Erzählen über Liebe und Liebesehen in Autobiographien des 19. Jahrhunderts „meist nicht mehr als dünne Tünche war, um die handfesten materiellen Absichten zu verdecken“, 11 muss man sicher differenzieren. Der Zugriff auf Emotionen über Quellen ist in jedem Fall ein methodisch sensibles Unterfangen, umso mehr, wenn es, wie im zweiten Teil dieses Beitrags, um Dokumente geht, die in Verwaltungszusammenhängen entstanden und von Dritten geschrieben, das heißt, gefiltert und in institutionelle Logiken eingepasst sind. 12 10 SYLVIA MÖHLE: Partnerwahl in historischer Perspektive, in: Partnerwahl und Heiratsmuster. Sozialstrukturelle Voraussetzungen der Liebe, hg. v. THOMAS KLEIN, Opladen 2001, S. 57– 73, hier S. 69f. Sie wertet u. a. Dokumente von Brautpaaren aus, die beim zuständigen Konsistorium ansuchten, ohne die elterliche Einwilligung heiraten zu dürfen – so auch Heinrich Kahle, ein Jurist und Sohn eines Göttinger Superintendenten, 27 Jahre alt, und Friederike Conradi, Tochter eines Konditors, 18 Jahr alt. Friederike Conradi schrieb im Jahr 1805 an das Konsistorium: „Vor nicht langer Zeit that mir der Doctor juris Heinrich Kahle zu München den Antrag, mit ihm in eine eheliche Verbindung zu treten. Da ich gegen seine Person keine Abneigung hegen konnte, und nach eingezogener sorgfältiger Erkundigung mich von seinen reichlichen Einkommen überzeugt hatte, eröffnete ich den mir gemachten Antrag meiner Mutter.“ 11 BORSCHEID, Geld und Liebe (wie Anm. 8), S. 112., 112f., 115, 132, 122, 127, 118f., 120ff., 130. 12 Wofür ‚Liebe‘ situativ und kontextuell stehen konnte und auf welche Weise sie in einem Verfahren von amtswaltenden Personen (mit-)konstruiert wurde, haben vor allem Studien über Ehescheidungsprozesse überzeugend analysiert und dargestellt. S. dazu CAROLINE ARNI, Entzweiungen. Die Krise der Ehe um 1900, Köln/Weimar/Wien 2004; BIRGIT STALDER, „Der
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2 HOMOGAMIE UND HORIZONTALISIERUNG VON VERWANDTSCHAFTSBEZIEHUNGEN Einen Ansatz, um das Auseinanderfallen und den Widerstreit zwischen Ökonomie und Liebes- bzw. Ehekonzepten zu überbrücken und aus diesem Dilemma des Gegensatzes herauszukommen, haben Hans Medick und David Sabean mit ihrem Postulat, „Emotionen und materielle Interessen“ zusammenzudenken, vorgeschlagen. 13 Eine Konkretisierung dessen hat zuletzt die Historische Verwandtschaftsforschung erarbeitet und zur Diskussion gestellt. Elisabeth Joris etwa weist der Soziabilität, in der Frauen als broker fungierten, eine tragende Rolle für Eheanbahnungen in bürgerlichen Kreisen, die Emotionen und Status auf nahezu ideale Weise verbanden, zu. Frauen hätten über Korrespondenzen, Geschenke, Einladungen und verschiedene Formen von Zusammentreffen halböffentliche Arenen und einen geeigneten Rahmen dafür geschaffen. 14 „Invitations, regular visits, and celebrations created the milieu in which emotional kinship and love could flourish between young women and men. Outwardly, the mothers and other female relatives involved would underline the uniqueness of the bridal couple’s emotional attachment while strictly controlling the selection of possible marriage candidates. This meant that the bride was supposed to talk about love but not about material interests, whereas the latter was naturally of far greater concern to her family, for marriage continued to be central to economic and social power, both of the family and the individual marriage partner.“ 15
Damit in Zusammenhang bringt die Historische Verwandtschaftsforschung das Ansteigen von Verwandtenheiraten, insbesondere in der Konstellation Cousin und Cousine ersten und zweiten Grades – nicht zuletzt als Folge einer in der Elterngeneration vorausgehenden intensivierten Geschwisterbeziehung. Ein wesentliches Element dessen ist die Bewertung von Vertrautheit und Nähe als zentralem Kriterium der PartnerInnenwahl. Homogamie als Verbindung unter Gleichen als Ideal, das Ehediskurse und Ehelehren auch der Frühen Neuzeit durchzieht, ist in diesem Kontext weiter zu fassen. Nicht nur in sozio-ökonomischen Parametern oder an einen balancierten Altersabstand, also an eine an abstrakten, beziehungsunabhängigen Kriterien gemessene Nähe, wird dabei gedacht, sondern auch an geteilte Eigenschaften und Werte bis hin zu gemeinsamen Erfahrungsräumen der Kindheit im Sinne einer geteilten an kontaktabhängigen Kriterien festgemachten GeschichEhehimmel begann schon früh sich zu trüben …“. Geschlechterbeziehungen und Machtverhältnisse in Scheidungsprozessen zwischen 1876 und 1911. Ein interkonfessioneller Vergleich, Berlin 2008, S. 285–304. 13 HANS MEDICK/DAVID SABEAN: Emotionen und materielle Interessen in Familie und Verwandtschaft: Überlegungen zu neuen Wegen und Bereichen einer historischen und sozialanthropologischen Familienforschung, in: Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung, hg. v. MEDICK und SABEAN, Göttingen 1984, S. 27–54. 14 ELISABETH JORIS: Kinship and Gender: Property, Enterprise, and Politics, in: Kinship in Europe. Approaches to Long-Term Development (1300–1900), hg. v. DAVID WARREN SABEAN, SIMON TEUSCHER und JON MATHIEU, New York/Oxford 2007, S. 231–257, hier S. 242. 15 JORIS, Kinship and Gender (wie Anm. 14), S. 244.
Liebe, Ehe, Ökonomie
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te, die eine nahezu exklusive Vertrautheit zu begründen vermochte. Christopher H. Johnson charakterisiert die Beziehungen zwischen den von ihm untersuchten führenden bürgerlichen Familien im bretonischen Vannes über die quasi geschwisterliche Nähe unter Cousins und Cousinen, die nicht nur soziale, sondern auch räumliche Nähe zur Voraussetzung hatte: „Cousins were little differentiated from siblings, and the two families lived around the corner from each other in the heart of Vannes.“ 16 Dieses Phänomen der „Liebe der Geschwister“ 17 und der zunehmenden Paarkonstellation Cousin und Cousine wird in der neueren Forschung mit einer „Horizontalisierung von Verwandtschaftsbeziehungen“ am Übergang von der Frühen Neuzeit in das 19. Jahrhundert in Verbindung gebracht und als eine wesentliche „transition“ des europäischen Verwandtschaftssystems insgesamt erachtet. 18 Horizontalisierung bedeutet, dass im Verwandtschaftsdenken und -handeln jene Personen, die derselben generationalen Ebene und damit zugleich den Seitenlinien angehören, zunehmend wichtiger werden – während dieses in der Frühen Neuzeit stärker auf eine vertikale, also abstammungsorientierte, patrilineale Logik ausgerichtet war. Das bislang hauptsächlich auf Geschwister, Cousins und Cousinen zentrierte Paradigma der Horizontalisierung soll hier weiter ausgedehnt werden und Beziehungen zwischen nahe Verschwägerten mit einschließen. Im Kontext von Liebe und Ehe, aber auch – und damit vielfach in enger Verbindung stehend – im Kontext der häuslichen Organisation nimmt jene zwischen einem Witwer und dessen Schwägerin den ersten Rang ein. Jede Konstellation von Verwandtenheiraten folgte eigenen Logiken. Die zweite oder dritte Eheschließung eines Witwers stand unter ganz anderen Vorzeichen als jene eines jungen ledigen Paares – etwa Cousin und Cousine. Letztere mussten ihren Hausstand erst etablieren und konsolidieren, während Witwern, vor allem wenn sie kleine Kinder hatten, hauptsächlich an einer möglichst nahtlosen Fortführung der häuslichen Agenden gelegen war. Insofern dominierten hier tendenziell die sozialen Erfordernisse an eine Ehe bzw. Ehefrau und weniger sozioökonomische, an Besitz und Status gemessene Interessen, die im Fall von CousinCousinen-Heiraten insbesondere in begüterten Familien Teil eines generationenübergreifenden sozialen Platzierungsplans sein konnten. Über die konkrete Beziehungsebene hinaus stand die Paarkonstellation Witwer und Schwägerin im 19.
16 CHRISTOPHER H. JOHNSON: Siblinghood and the Emotional Dimensions of the New Kinship System, 1800–1850: A French Example, in: Sibling Relations & the Transformation of European Kinship 1300–1900, hg. v. JOHNSON und DAVID WARREN SABEAN, New York/Oxford 2011, S. 189–220, hier S. 194. 17 Vgl. dazu das so betitelte Themenheft von L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 13, 1 (2002), und zuletzt LEONORE DAVIDOFF: Thicker than Water. Siblings and Their Relations, 1780–1920, Oxford 2012. 18 Zur Konzeptualisierung dieses Übergangs vgl. DAVID WARREN SABEAN/SIMON TEUSCHER: Kinship in Europe. A New Approach to Long-Term Development, in: Kinship in Europe (wie Anm. 14), S. 1–32, hier S. 16–24.
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Jahrhundert prominent im Brennpunkt zeitgenössischer Debatten, und zwar insbesondere in der britischen Öffentlichkeit und in Teilen der katholischen Welt. 19 3 DER WITWER UND DIE SCHWÄGERIN In England unterlagen Eheschließungen zwischen Cousins und Cousinen keinerlei Beschränkungen, während die Heirat zwischen einem Witwer und der Schwester seiner verstorbenen Frau seit 1835 verboten war. Debatten um die Aufhebung dieser „Marriage with a Deceased Wife’s Sister Bill“ sollten das englische Parlament ab 1842 bis in das beginnende 20. Jahrhundert hinein regelmäßig beschäftigen 20 und RomanschreiberInnen vielfältigen Stoff für dramatische Geschichten liefern. 21 Im katholischen Kontext war die Schwägerschaft – basierend auf der Vorstellung, dass Mann und Frau durch den Geschlechtsakt „ein Fleisch“ werden – parallel zur Blutsverwandtschaft als Eheverbot konstruiert. Mit den Dispensen stellte die Kirche ein Instrument bereit, über das solche Eheverbote aufgehoben werden konnten. Je näher der Grad, umso schwieriger, aufwändiger und teurer war es, eine Dispens zu erlangen. Eheschließungen in den nahen Graden scheinen außerhalb des Adels, der diesbezüglich entsprechende Privilegien genoss, regional unterschiedlich etwa ab Mitte oder Ende des 18. Jahrhunderts auf. Dies gilt auch für Heiraten im ersten Grad der Schwägerschaft, das heißt in der Konstellation Witwer und Schwester der verstorbenen Frau bzw. Witwe und Bruder des verstorbenen Mannes. 22 Bald waren kirchlicherseits Klagen über diese Veränderung zu vernehmen. Immer wieder zitiert wird eine Bemerkung von Pius VII. (1800– 1823), die er auf dem Totenbett gemacht haben soll: „Es scheine, daß in Deutsch19 Der Text basiert auf dem im Rahmen eines Hertha Firnberg- und eines Elise RichterProjektes des Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) erhobenen Quellenmaterial und daraus erarbeiteten Ergebnissen. S. dazu die Habilitationsschrift MARGARETH LANZINGER: Verwaltete Verwandtschaft. Eheverbote, kirchliche und staatliche Dispenspraxis im 18. und 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2015. 20 Vgl. dazu NANCY F. ANDERSON: The „Marriage with a Deceased Wife’s Sister Bill“ Controversy: Incest Anxiety and the Defense of Family Purity in Victorian England, in: Journal of British Studies 21, 2 (1982), S. 67–86; MARGARET MORGANROTH GULLETTE: The Puzzling Case of the Deceased Wife’s Sister: Nineteenth-Century England Deals with a SecondChance Plot, in: Representations 31, 2 (1990), S. 142–166; SYBIL WOLFRAM, In-Laws and Outlaws: Kinship and Marriage in England, London/Sydney 1987, S. 30–40. 21 Vgl. MARY JEAN CORBETT: Husband, Wife, and Sister: Making and Remaking the Early Victorian Family, in: Sibling Relations (wie Anm. 16), S. 263–287. 22 Das josephinische Ehepatent von 1783 griff im österreichischen Raum erstmals in diese Domäne der Kirche ein und reduzierte u. a. die bis zum vierten Grad und damit bis zu den gemeinsamen Ur-Urgroßeltern zurückreichenden Eheverbote in der Blutsverwandtschaft und Schwägerschaft auf den zweiten Grad. Vgl. dazu MARGARETH LANZINGER: Staatliches und kirchliches Recht in Konkurrenz. Verwandtenehen und Dispenspraxis im Tirol des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in: Geschichte und Region / Storia e Regione 20, 2 (2011), S. 92– 105. Für die hier zur Debatte stehende Schwägerschaftskonstellation bestand also sowohl von Seiten der Kirche als auch von Seiten des Staates ein Ehehindernis.
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land für Schwäger es keine anderen Weiber mehr gebe als Schwägerinnen“. 23 Daraus lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen: Eine gewisse Häufung dieser Paarkonstellation dürfte es zum einen im deutschsprachigen Raum gegeben haben, und zum anderen überwog in der Wahrnehmung die Variante Witwer und Schwägerin gegenüber dem nach Geschlechtern umgekehrten Pendant Witwe und Schwager. Bald wieder, nämlich mit dem Amtsantritt von Papst Gregor XVI. (1831– 1846), verminderten sich die Chancen für nahe verschwägerte Paare, die heiraten wollten, drastisch. Solche Ehevorhaben waren ab 1831 von Seiten der römischen Kurie, da für die Erteilung von Dispensen in den nahen Graden die päpstlichen Stellen zuständig waren, und infolge dessen auch seitens der bischöflichen Konsistorien, die die Ansuchen dorthin übermittelten, mit enormen Restriktionen konfrontiert. Gregor XVI. hatte nämlich angeordnet, dass Dispense in den nahen Graden der Schwägerschaft nur mehr dann erteilt werden dürften, wenn ansonsten die „Gefahr des Abfalls vom Glauben“ bestünde, also die hohe Wahrscheinlichkeit einer Konversion gegeben sei. Diese spezifische Situation – so die These – erweitert den ressourcenrelevanten sozialen Raum. Denn zu fragen ist nicht nur, in wieweit die Paarkonstellation Witwer und Schwägerin unter dem Gesichtspunkt materieller oder an bestimmten Kompetenzen gemessener Ressourcen Eigenlogiken folgte, sondern auch danach, welche immateriellen Ressourcen – und hierzu zählen zentral soziale Beziehungen – mobilisiert werden konnten oder mussten, um unter verschärften Bedingungen eine Ehedispens und damit eine Heiratserlaubnis zu erhalten. Davon ausgehend scheint es sinnvoll – analog zu den Bourdieu’schen Kapitalsorten –, mit einem Ressourcenbegriff zu operieren, der Materielles und Immaterielles gleichermaßen mit einschließt, 24 der Ressourcen als Mittel und Potenzial fasst, als Befähigung zum Handeln. Immaterielle Ressourcen lassen sich zwar schwerlich in ihrer Quantität berechnen und bemessen, und deren Wert hängt von der jeweils situativen Logik ab. Doch können sie, indem sie aktiviert und eingesetzt werden, in ihrer Verfügbarkeit und Wirkmacht insbesondere in neuralgischen biographischen Momenten sichtbar gemacht werden. 4 EINE HEIRAT MIT HÜRDEN: CARL MÖRZ UND JOSEPHA KIRCHER Bedeutung und Einsatz verschiedener Ressourcen sollen paradigmatisch an einem Handlungszusammenhang analysiert werden, und zwar anhand der Geschichte des Zustandekommens einer Ehe zwischen Schwager und Schwägerin in der zuvor
23 JOHANN KUTSCHKER: Das Eherecht der katholischen Kirche nach seiner Theorie und Praxis mit besonderer Berücksichtigung der in Österreich zu Recht bestehenden Gesetze, V, Wien 1857, S. 82f. 24 Der Artikel von REINHOLD REITH: Ressourcennutzung, in: Enzyklopädie der Neuzeit, XXI, Stuttgart 2010, Sp. 122–134, beschränkt sich dem gegenüber auf materielle Ressourcen im Sinne von ökonomischen ‚Produktionsfaktoren‘, Sp. 122.
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skizzierten, von Restriktionen gegenüber solchen Verbindungen geprägten Zeit. 25 Es geht um die im Jahr 1831 in die Wege geleitete Heirat des Innsbrucker Handelsmannes Carl Mörz mit der Innsbrucker Bürgerstochter Josepha Kircher, der Witwe von dessen Bruder. Diese Paarkonstellation ist im Ressourcenkontext deshalb von Interesse, weil sie deutlicher von ökonomischen Erwägungen mitgetragen gewesen zu sein scheint als umgekehrt, Verbindungen zwischen Witwer und Schwägerin. Als Quellen dienen hauptsächlich die in der zuständigen Diözese Brixen eingereichten Dispensansuchen und der damit verbundene Aktenlauf. Je schwieriger es für die betroffenen Paare war, eine Dispens zu erlangen, desto umfangreicher und dichter ist das überlieferte Material. Da unter anderem die Wahl des Partners, der Partnerin begründet werden musste, sind darin vielfältige Argumente im Vorfeld solcher Eheschließungen dokumentiert. Zwar ist der strategische Charakter dieser Kommunikation in Rechnung zu stellen, doch werden zugleich Handlungsoptionen greifbar, die im Falle der Abweisung eines Ansuchens vornehmlich Männern offen standen und von diesen genutzt wurden, und ebenso soziale Beziehungen, auf die sie rekurrierten. Im April 1831 erschien der Innsbrucker Handelsmann Carl Mörz bei dem zuständigen Dekan in Innsbruck. 26 Mörz brachte sein Anliegen vor: Man möge sein Ansuchen um eine römische Dispens unterstützen, damit er „die hinterlassene Wittwe seines Bruders, des vor einem Jahre hier verstorbenen Kaufmanns Joseph Mörz ehelichen“ könne. 27 Der Dekan unterstrich, dass die von den Dispenswerbern vorgebrachten Gründe „in häuslicher Hinsicht allerdings von großer Wichtigkeit“ seien, dass er „die Sache“ aber auch „als äußerst schwierig dargestellt“ habe. Der Bräutigam Carl Mörz war 55, die Braut Josepha Kircher 35 Jahre alt. Er handelte mit Mode- und Putzwaren 28 und hatte zwei „Boutiquen“ in der Stadt. Näherinnen arbeiteten in seinem Haus unter Aufsicht der Schwägerin. Die Abweisung des Ansuchens folgte auf dem Fuß: „Zur Erwirkung der Ehedispens in Rom für den Handelsmann Carl Mörz im ersten Grade der Schwagerschaft“ sei „keine Aussicht vorhanden“, hieß es von Seiten des fürstbischöflichen Konsistoriums in Brixen. Einige Monate später, im Juli 1831, wiederholte Carl Mörz „sein dringendes Ansuchen“ und führte als Argumente für seinen Heiratswunsch folgende an: 25 Im Rahmen der in Anm. 19 genannten Habilitationsprojekte wurden über 2000 Dispensansuchen der Diözese Brixen aus der Zeit zwischen 1831 und 1890 in einer Datenbank erfasst und ausgewertet. Des Weiteren wurde eine größere Anzahl von Dispensansuchen in den benachbarten Diözesen Chur, Salzburg und Trient erhoben und bearbeitet. 26 Diözesen waren in mehrere Pfarreien umfassende Dekanate eingeteilt, denen jeweils ein Dekan vorstand. Dieser fungierte in den Dispensverfahren als Mittler zwischen dem lokalen Pfarrer des Brautpaares und dem fürstbischöflichen Konsistorium in Brixen. Es gab in dieser Diözese in Dispensangelegenheiten in der Regel keine direkte Kommunikation zwischen Ortspfarrern und dem Konsistorium. 27 Diözesanarchiv Brixen (DIÖAB), Konsistorialakten 1832, Fasz. 5a, Römische Dispensen, Nr. 5. Darin befinden sich auch alle im Weiteren genannten Dokumente dieses Ansuchens. 28 Putzwaren dienten der Verzierung insbesondere von Kleidern und Hüten: Spitzen, Stickereien, Bänder, Schnüre, Perlen, Flitter u. ä. m.
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„1. leide die Zucht und Hausordnung, wenn mehrere männliche und weibliche Personen ohne hausmütterliche Aufsicht in einer Wohnung leben; es sey aber der Bittsteller schon aus dem Grunde nicht frei in der Wahl seiner Gattin, weil wenn er nicht die Wittwe des verstorbenen Bruders ehelichen könnte, die Hinausbezahlung derselben in Folge Testaments zum großen Nachtheile seiner Handlung erfolgen müßte. 2. Sey zwar ein erwachsener Sohn seines Bruders aus erster Ehe vorhanden, der aber anstatt beim Handlungs-Geschäfte mitzuwirken, vielmehr wegen eines inkurablen innerlichen Defektes fortwährender Krankenpflege bedarf. 3. Ist die Schwester der Dispenswerberin eine verarmte Wittwe mit mehreren zum Theil noch unmündigen Kindern, welche in dem Mörzischen Hause eine Zufluchtsstätte finden würde, falls diese Verehelichung zustande käme. 4. Ist Dispenswerber erbiethig, die Dispensations-Taxe, wenn sich selbe auch über 400 fl [Gulden] belaufen sollte, bereitwilligst zu erlegen.“
Der Haushalt, zugleich Produktionsstätte, mit der als nötig dargestellten Kontrolle von Ordnung und Moral ist in dieser Begründung angesprochen. Ganz unverhohlen verweist Mörz auf den finanziellen Schaden, den er bzw. sein Geschäft nehmen würde, müsste er den für seine Schwägerin testamentarisch verfügten Anteil flüssig machen. Er war – so wie er die Situation darstellt – aus ökonomischen Gründen quasi gezwungen, die Witwe seines Bruders zu heiraten. Der Verweis auf die Pflege des kranken Neffen und auf die mögliche Unterstützung bedürftiger Verwandter zeigt Mörz im Gegenzug als Träger christlicher Tugenden, der auch bereit war, dem Taten folgen zu lassen. Dieses Charakterbild richtete sich an die kirchlichen Adressaten. Die Ankündigung, eine hohe Summe für die Dispens zahlen zu können, untermauert nicht nur die Dringlichkeit des Heiratswunsches, sondern zugleich auch seinen gehobenen sozialen Status. Zugleich signalisierte er damit seine Bereitschaft, der pekuniären Logik der Kirche unterhinterfragt zu folgen. Das Konsistorium erlaubte daraufhin, dass der Dekan das so genannte Matrimonialexamen mit zwei Zeugen, Bräutigam und Braut aufnehmen dürfe. Damit war ein erster wesentlicher Schritt im weiteren Ablauf erreicht. Denn die in diesem Examen gemachten Angaben dienten als Grundlage für das Einschätzen der Chance auf eine positive Erledigung des Ansuchens in Rom und für die im Schreiben an die päpstliche Datarie anzuführenden Begründungen. Aufgenommen wurde das Examen im August 1831. Als erster Zeuge 29 fungierte der aus einer Innsbrucker Patrizierfamilie stammende Magistratsrat Carl Carnelli, der angab, Mörz von Jugend auf zu kennen. 30 Er sei „mit demselben in mehrfacher Berüh29 Wie dies häufig bei den Matrimonialexamen der für den Zeitraum zwischen 1831 und 1890 ausgewerteten Ansuchen der Fall ist, bleibt der zweite Zeuge auch hier gegenüber dem ersten im Hintergrund. Weder wird dessen etwaige Beziehung zum Brautpaar – die eventuell gar nicht gegeben war – charakterisiert, noch liegen Aussagen zu den einzelnen Punkten der Befragung vor, sondern nur der Vermerk, dass er sich im Übrigen „auf die Aussagen des ersten Zeugen“ beziehe. 30 Im Oesterreichischen Beobachter, 19.11.1821, 323, S. 1461, ist Carl Carnelli als Stadtkämmerer in Innsbruck genannt; im Hof- und Staats-Schematismus des österreichischen Kaiserthums, I, Wien 1827, S. 583, scheint er in der Rubrik „K. K. Stadt- und Landrecht, dann Wechselgericht zu Innsbruck“ als „Beysitzer aus dem Handelsstande“ auf; laut Hof- und Staats-Schematismus des österreichischen Kaiserthums, II, Wien 1834, S. 384, in dem er als
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rung gewesen“; auch Josepha Kircher sei ihm „seit mehreren Jahren gut bekannt“. Er sprach von einer „außerordentliche[n] Zuneigung dieser Personen“ und erklärte anschließend, was es mit der testamentarischen Verfügung des verstorbenen Bruders Joseph Mörz zugunsten der Witwe genau auf sich habe: Dieser habe in Unkenntnis seiner finanziellen Lage der Witwe ein „beträchtliches jährlich zu empfangendes Legat“ vermacht, jedoch sei es für Carl Mörz als Übernehmer des Geschäfts kaum zu leisten, diese Verfügung, die nur eine neben anderen war, zu erfüllen. Konkret handelte es sich dabei um jährlich 200 Gulden. Dies sei ihm – so Carnelli – „ganz verläßlich bekannt“, da er bei der Abfassung des betreffenden Testaments als Zeuge dabei gewesen sei. Aus dem Konsistorium in Brixen kam jedoch wiederum eine abschlägige Antwort: Angesichts der geschilderten Verhältnisse und Dispensgründe sei die Erwirkung der Dispens in einem so nahen Grad in Rom nicht zu erwarten. Carl Mörz gab nicht auf. Im November 1831 unternahm er einen weiteren Versuch. Der Dekan in Innsbruck entschuldigte sich gegenüber dem Konsistorium in Brixen für dessen Beharrlichkeit. Er stand demnach hinter Mörz und dessen Anliegen, denn nicht selten klagten Dekane über die unverschämte Zudringlichkeit von einmal oder mehrfach abgewiesenen Brautpaaren. In diesem Fall befand er jedoch, dass „dieser immer bittende, suchende und anklopfende Dispenswerber Erhörung finden“ müsse. Im Zuge dieses neuerlichen Anlaufs schrieb Mörz selbst einen langen Brief, dem er ein ärztliches Zeugnis über den bereits zu Beginn des Unterfangens erwähnten Herzfehler und die Leiden seines Neffen, eines Sohnes des verstorbenen Bruders aus erster Ehe, beilegte. 31 Er spezifizierte in dem Brief: „Mein Gewerbe erfordert einige junge Mädchen zur feinen Näharbeit, die Aufsicht und Leitung über dieselben war von jeher und ist noch meiner Schwägerin überlassen.“
Sechs Monate im Jahr befinde er sich auf Reisen: auf den Märkten in Bozen, Verona und Trient. So lange sein Bruder und „Compagnon“ gelebt habe, hätten sie sich abgewechselt, einer von ihnen sei jeweils zu Hause geblieben. „[N]un aber, da dieser mein Bruder nicht mehr ist, bin ich in die dringendste Nothwendigkeit versetzet, mich um eine rechtschaffene Gattin zu bewerben, welcher ich in meiner Abwesenheit die Obsorge meines kränkelnden Neffen und die Aufsicht über die jungen Mädchen, Handlungsdiener und Dienstbothen, ja meines ganzen Hauses ruhig und unbesorgt anvertrauen kann. Diese in meiner Lage unentbehrliche Haußmutter finde ich in aller Hinsicht nur an meiner Schwägerin.“
Deren gute Eigenschaften und „kluge Häuslichkeit“ werden im folgenden Absatz hervorgehoben. Ein zweites ärztliches Zeugnis attestierte Carl Mörz selbst eine „niederschlagende Melancholie“, an der er seit geraumer Zeit leide und in deren Magistratsrat bezeichnet wird, war er im Vorstand der „Sparcasse zu Innsbruck“. In den Beiträgen zur Geschichte, Statistik, Naturkunde und Kunst von Tirol und Vorarlberg, VIII, Innsbruck 1834, S. 255, sind unter den Wohltätern des Innsbrucker Musikvereins drei Handelsleute der Stadt genannt: der inzwischen verstorbene Joseph Mörz sowie Carl und Anton Carnelli. 31 Aus dieser Ehe des verstorbenen Bruders gab es zwei weitere Kinder: eine bereits verheiratete Tochter und einen Sohn, der damals in Padua Medizin studierte und daher für die Übernahme des Geschäfts wohl nicht in Frage kam.
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Folge einige „Kränklichkeiten“ zusehends „heftiger und bedenklicher“ auftreten würden. Mörz schrieb darauf Bezug nehmend: „Eine dritte Abweisung“ seines Ansuchens würde „seine Gesundheit vollends untergraben, und sicher zu mancherley Verirrungen und auf Abwege verleiten“. 32 Das Konsistorium in Brixen fand sich daraufhin bereit – um „der Zudringlichkeit des Carl Mörz […] nach Möglichkeit zu entgehen“ –, einen Versuch zu machen und das Ansuchen nach Rom weiterzuleiten. Durch den „unvermeidlichen Erlag“ hoher Taxen, so die Begründung, könne „eine außerordentliche Gnade vielleicht erreicht werden“. 33 Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war eine landesfürstliche Genehmigung notwendig, 34 bevor ein Dispensansuchen nach Rom übermittelt werden durfte. Dieses langte Mitte Dezember 1831 in Brixen ein. Eine Woche später ging das Ansuchen, üblicherweise ein knappes lateinisches und relativ formal gehaltenes, an den von der Kirche offiziell anerkannten Dispensgründen 35 orientiertes Schreiben, nach Rom. Begleitet war dieses von einem Brief des Konsistorial-Pro-Kanzlers Georg Prünster, der in diesen Jahren die Korrespondenz mit der k. k. Agentie 36 als vermittelnder Stelle in Rom führte. 37 32 Ärztliche Zeugnisse einzuholen, die eine gesundheitliche Gefährdung im Falle einer abgewiesenen Dispens für wahrscheinlich hielten, zählen zum Handlungsrepertoire von Männern und Frauen, die um eine wenig aussichtsreiche Dispens angesucht haben, ebenso die vage bleibende Andeutung von „Verirrungen“ und „Abwegen“. Es ist anzunehmen, dass in jene Bittbriefe, die Dispenswerber eigenhändig geschrieben haben, Ratschläge von Dritten, die mit den Logiken der Dispenspraxis vertraut waren, im Sinne einer strategischen Kommunikation eingeflossen sind. 33 Eine Dispensation ist der kirchlichen Auffassung nach immer ein Gnadenakt, das heißt es gibt keinerlei Rechtsanspruch darauf. 34 Im Akt sind zwei Versionen des Schreibens an die Landesstelle in Innsbruck enthalten: eine durchgestrichene Standardversion und eine etwas ausführlichere und zugleich eindringlichere zweite Fassung. Auf diese Weise sollte wohl verhindert werden, dass aus Innsbruck eine skeptische oder ablehnende Antwort kommen würde, zumal in den vorangegangenen Monaten Ansuchen in dieser Paarkonstellation in Rom bereits mehrfach abgewiesen worden waren und daher als wenig aussichtsreich gelten mussten. 35 Die offiziell anerkannten Dispensgründe wurden im Laufe der Neuzeit mehr als einmal erweitert. Etliche davon galten nur für Frauen und sollten deren standesgemäße Verehelichung ermöglichen. Dazu zählten das mit 24 Jahren erreichte fortgeschrittene Alter, das Fehlen oder der geringe Umfang der Mitgift, die „Enge des Ortes“, wenn es keinen als Ehemann geeigneten Nicht-Verwandten im Geburts- oder Wohnort der Braut gab, und die Belastung einer Witwe mit Kindern. Aber auch der Erhalt des Vermögens in der Familie, der Erhalt des Friedens zwischen Familien, Verdienste um die Kirche oder die bereits erwähnte „Gefahr des Abfalls vom Glauben“ waren formalisierte Dispensgründe. Allgemein dazu vgl. WILLIAM A. O’MARA: Canonical Causes for Matrimonial Dispensation. An Historical Synopsis and Commentary, Washington 1935. 36 Die k. k. Agentie war ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert als die für Vermittlungstätigkeiten in Zusammenhang mit Dispensansuchen aus der Habsburgermonarchie exklusiv zuständige Stelle in Rom vorgesehen. Vgl. dazu RICHARD BLAAS: Die k. k. Agentie für geistliche Angelegenheiten, in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs, VII, Wien 1954, S. 47–89. 37 Österreichisches Staatsarchiv (ÖSTA), Haus-. Hof- und Staatsarchiv (HHStA), AgentieArchiv Rom, Agentie-Akten II, 1817–1832, Fasz. 39, Bressanone 1831, Schreiben vom 22.12.1831. Die Korrespondenz mit Rom ist – bis auf das Konzept des lateinischen Dis-
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Über dieses übliche Prozedere hinaus war im Vorfeld noch ein besonderes Arrangement getroffen worden: Das Konsistorium hatte Mörz aufgefordert, eine Erklärung zu verfassen, dass er bereit sei, hohe Taxen zu bezahlen und deren Entrichtung direkt mit Rom abzuwickeln. Dieses Schreiben sollte er unmittelbar an den k. k. Legationsrat und Agenten in Rom, den Freiherrn von Genotte, senden. Darauf bezog sich auch Georg Prünster in seinem Begleitschreiben: Die Zahlungsabwicklung in Rom würde über einen Freund von Mörz laufen. Dies war Giovanni Carnelli, ein Bankier aus Innsbruck, der für das fürstbischöfliche Konsistorium in Brixen öfter schon den dispensbezogenen Zahlungsverkehr mit Rom übernommen hatte. 38 Giovanni Carnelli selbst kündigte in einem Schreiben an die Agentie das in Bälde eintreffende Ansuchen seines Freundes, des „Sig[no]r Mörz mio amico“, an, empfahl ihn seinerseits und bekräftigte, dass er die für die Dispens anfallenden Spesen umgehend begleichen werde. 39 Was bei allen Bemühungen jedoch fehlte, war der, wie eingangs erwähnt, mit dem Amtsantritt von Gregor XVI. 1831 in den nahen Graden der Schwägerschaft einzig anerkannte Dispensgrund des „drohenden Abfalls vom Glauben“. Der Agent Genotte schlug in seinem Bericht vom 3. Januar 1832 vor, man möge ihm doch ein neues „Attestat“ senden, das den besagten Dispensgrund enthalte. Falls dies jedoch „nicht thunlich sei“, könne der österreichische Gesandte in Rom vom k. k. Gubernium in Innsbruck um eine „Spezial Empfehlung“ ersucht werden. Einen solchen Versuch solle man jedenfalls unternehmen; für den „glücklichen Erfolg“ könne er sich jedoch nicht verbürgen. Dass die Verweigerung der Dispens einen Konfessionswechsel zur Folge haben würde, ließ sich wohl kaum glaubwürdig darstellen. 40 In letzter Konsequenz wäre eine Dispens, die auf einem vorgeschobenen Dispensgrund basiert, ungültig und damit auch die auf dieser Grundlage geschlossene Ehe. Diese Implikation ist in ihrer Wirkung sicher nicht zu unterschätzen. So blieb die zweite der genannten Möglichkeiten. Noch im Januar 1832 fand sich der Landesgouverneur Friedrich Graf Wilczek bereit, an die k. k. Gesandtpensansuchens „Ad Sedem Apostolicam“ – nicht in den Akten des Diözesanarchivs Brixen enthalten. Sie findet sich im Agentie-Archiv. 38 Vgl. beispielsweise ÖSTA, HHStA, Agentie-Archiv Rom, Agentie-Akten II, 1817–1832, Fasz. 33a, Bressanone 1822, Schreiben vom 28.05.1822 von Georg Prünster, in dem er ankündigt, dass er Giovanni Carnelli die Anweisung gegeben habe, an die Agentie in seinem Namen 50 Scudi zu bezahlen: „ho l’onore di notificarle che ho dato ordine al Sig.re Carlo Carnelli, Banchiere in Innsbruck, di pagarle per mio conto Scudi cinquanta“. 39 ÖSTA, HHStA, Agentie-Archiv Rom, Agentie-Akten II, 1817–1832, Fasz. 39, Bressanone 1831, Schreiben vom 08.12.1831. 40 Darüber berichtet Prünster in einem Schreiben vom Januar 1832. DIÖAB, Konsistorialakten 1832, Fasz. 5a, Römische Dispensen, Nr. 5. Georg Prünster schreibt an die Agentie, dass das Ordinariat das „Attestat“ nicht in diesem Sinn ändern könne, da eine solche Gefahr nicht vorliege – „che l’Ordinariato non può riformare l’Attestato a favore Moerz, per che non sossiste il pericolo di defezione dalla fede cattolica nel caso che venisse negata la de lui richiesta dispensa matrimoniale“ –, sondern dass man den Bittsteller informiert habe, er möge das Landesgubernium um eine Empfehlung ersuchen. ÖSTA, HHStA, Agentie-Archiv Rom, AgentieAkten II, 1817–1832, Fasz. 40, Bressanone 1832, Schreiben vom 20.01.1832.
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schaft in Rom zu schreiben und um die Empfehlung des Ansuchens von Mörz zu ersuchen. 41 Wiederum hatte sich der Innsbrucker Bankier Giovanni Carnelli mit einem Brief an den Agenten in Rom gewandt, das Schreiben des Gouverneurs angekündigt und um den persönlichen Einsatz des Agenten im Fall Mörz gebeten. 42 Anfang März 1832 kam dann tatsächlich die Dispens aus Rom – „nur“, wie es hieß, „durch die sonderheitliche Verwendung S[ein]er Exzellenz des k. k. Herrn Gesandten Grafen von Luzow [Lützow] endlich erwirkt“. Carl Mörz musste dafür die beträchtliche Summe von knapp 500 Gulden bezahlen. 43 5 DER EINSATZ VON RESSOURCEN IM DISPENSKONTEXT Geht man von einem breit gefassten Ressourcenbegriff aus, der sowohl Materielles als auch Immaterielles einschließt und sich auf all das bezieht, worüber man verfügt, dem ein bestimmtes Nutzungspotenzial zukommt und das auf diese Weise zum Handeln befähigt, dann lässt sich immer nur situativ bestimmen, was jeweils als Ressource fungieren kann. Der Ressourcencharakter von Objekten, Beziehungen, Wissen etc. steht also nicht a priori fest. Eine bestimmte sozioökonomische Position, ein gewisser Bildungsstand, eine ausgedehnte soziale Vernetzung, ein größerer Freundeskreis und eine zahlreiche Verwandtschaft erweitern ohne Zweifel den potenziellen Ressourcenpool, der den jeweiligen Möglichkeitsraum und konkrete Handlungsoptionen strukturiert. Im Dispensverfahren von Carl Mörz und Josepha Kircher begegnet zunächst ökonomisches Kapital als ganz wesentliche Ressource. Das Verfügen über Geld und Vermögen war für sich genommen ein wichtiger Faktor, um das Ansuchen überhaupt erst in Gang zu bringen. Es erlaubte Mörz, bereits im Vorfeld zu deklarieren, dass er bereit sei, hohe Dispenstaxen zu bezahlen. Wie sich am Ende zeigt, beliefen sich die Kosten mit 500 Gulden auf den Höchstbetrag, der in den für das 19. Jahrhundert ausgewerteten Dispensansuchen aufscheint. Gesamt gesehen entfielen Summen dieser Art ausschließlich auf Dispensen im ersten Grad der Schwägerschaft – als dem nahest möglichen dispensierbaren Grad. Kein Thema waren in diesem Fall Spenden und Stiftungen zugunsten der Kirche. Wer darauf verweisen konnte, dass sich der Vater, der Großvater oder man selbst in dieser Form um die Kirche verdient gemacht habe, erfüllte einen offiziell anerkannten kanonischen Dispensgrund, und die Chancen, eine Dispens zu erlangen, stiegen damit erheblich. Darüber hinaus war das Verfügen über Geld und Vermögen dem Ansehen eines Dispenswerbers selbst förderlich und dies wiederum erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass die Geistlichen auf lokaler und auf Dekanatsebene ihr 41 Dieses Schreiben findet sich in ÖSTA HHStA, Agentie-Archiv Rom, Agentie-Akten II, 1817–1832, Fasz. 39, Bressanone 1831, Schreiben vom 26.01.1832, beiliegend eine französische Note vom 07.02.1832 gezeichnet von Lützow. 42 ÖSTA, HHStA, Agentie-Archiv Rom, Agentie-Akten II, 1817–1832, Fasz. 40, Bressanone 1832, Schreiben vom 30.01.1832. 43 Nach einem für 1830 ausgewiesenen Index, dem zufolge einem Euro 16,17 Gulden entsprechen, wären dies circa 8000 Euro.
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Möglichstes für einen positiven Ausgang des Ehedispensansuchens taten. Ohne deren Unterstützung war dies nahezu aussichtslos. Eine weitere wesentliche Ressource stellte der Zugang zu Wissen, zu einschlägigen Informationen dar. Mörz schrieb persönlich einen Bittbrief, der Formulierungen und Andeutungen enthielt, die ebenso wie die eingeholten ärztlichen Zeugnisse darauf schließen lassen, dass er beraten wurde – wahrscheinlich vom zuständigen Dekan. 44 Zu vermuten ist, dass auch Ehepaare, die selbst erfolgreich um eine Dispens in einer vergleichbaren Konstellation angesucht hatten, bisweilen als nützliche Informationsquellen in Betracht kamen, wenn entsprechende Hinweise im Aktenmaterial auch nur vereinzelt explizit zu fassen sind. Über die in einem gewissen regionalen Umkreis erteilten Dispensen in den nahen Graden wussten um Dispens Ansuchende jedenfalls vielfach Bescheid. In ein offenes Ressourcenkonzept ließen sich auch persönliche Eigenschaften integrieren. Im Fall von Mörz wie von vielen anderen, die in schwierigen Konstellationen und Situationen um eine Dispens angesucht haben, war entscheidend, nicht aufzugeben, Hartnäckigkeit an den Tag zu legen. Wie da und dort aus den Dispensakten hervorgeht, waren in den nahen Graden erteilte Dispense Thema der Alltagskommunikation und des Disputs in Wirtshäusern. So dürfte auch das Wissen darum, dass Beharrlichkeit zum Erfolg führen konnte, verbreitet gewesen sein. Eine ganz bedeutende Ressource sind schließlich soziale Beziehungen. Der Innsbrucker Dekan war nicht nur ein potenzieller Ratgeber, sondern stand hinter den diversen Anläufen von Carl Mörz, entschuldigte und verteidigte dessen Beharrlichkeit gegenüber dem fürstbischöflichen Konsistorium. Als Mittler nahmen die Dekane eine zentrale Schlüsselposition im administrativen Ablauf der Dispensverfahren ein. Das Ansuchen von Carl Mörz zu unterstützen, fiel dem Dekan nicht schwer: Mörz verfügte über ein gewisses soziales Kapital, er war ein angesehener Stadtbürger. Er hatte sich mit seiner Schwägerin auch nicht „fleischlich versündigt“ – darauf bezog sich eine Frage im Matrimonialexamen. Die über einen moralischen Lebenswandel abgesicherte Ehre und die davon abgeleitete Dispenswürdigkeit ermächtigten den Geistlichen zum vollen Einsatz zugunsten des Paares. Dass Mörz ein persönliches Empfehlungsschreiben des Innsbrucker Landesgouverneurs erhalten hatte, hing zweifelsohne mit seiner sozialen Position zusammen, vielleicht auch mit seinem Freundeskreis, der bis nach Rom reichte. Dazu zählten die Herrn Carnelli: der Innsbrucker Magistratsrat und Handelsmann Carl Carnelli, der als Zeuge beim Matrimonialexamen auftrat und der auch im Testament des verstorbenen Joseph Mörz sowie in dem im Mai 1832 zwischen 44 In der Diözese Brixen war es riskant, in schwierigen Fällen Rat und Unterstützung außerhalb der Kirche zu suchen. Ansuchen, die von – u. U. zivilrechtlich inspirierten – Rechtsanwälten, „Winkeladvokaten“ oder anderen nicht ‚linientreuen‘ Schreibern verfasst wurden, hatten keine Aussicht auf weitere Behandlung – ganz im Unterschied zu Wien und Niederösterreich, wo es üblich war, dass diese im Dispenskontext Bittbriefe schrieben. Vgl. EDITH SAURER: Stiefmütter und Stiefsöhne. Endogamieverbote zwischen kanonischem und zivilem Recht am Beispiel Österreichs (1790–1850), in: Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, hg. v. UTE GERHARD, München 1997, S. 345–366, hier S. 355.
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Carl Mörz und Josepha Kircher abgeschlossenen Heiratsvertrag als Zeuge genannt ist 45 – zusammen mit einem Anton Carnelli. 46 Aus derselben Innsbrucker Patrizierfamilie dürfte der Bankier Giovanni Carnelli stammen, der die für Dispensen zuständigen römischen Stellen von früheren Finanztransaktionen her kannte und dort mehrfach vermittelnd und empfehlend für Mörz eintrat. Deutlich wird, dass unterschiedliche Arten von Ressourcen, die in dem hier skizzierten Handlungsablauf zum Einsatz kamen, miteinander verknüpft sind, sich gegenseitig tragen und verstärken: finanzielle Ressourcen, immaterielle Ressourcen in Form von Ansehen und Zugänglichkeit zu Amtsträgern wie dem k. k. Legationsrat und Agenten in Rom und dem Landesgouverneur in Innsbruck, in Form von Wissensressourcen, Zugang zu Informationen und Ratschlägen, die wiederum mit sozialen Vernetzungen in Verbindung stehen, deren Ressourcenpotential parallel zu Geld und Ansehen steigt. In einer umfassenderen Analyse müsste davon ausgehend weiter gefragt werden, wie der Einsatz von Carl und Giovanni Carnelli verrechnet, wie in diesem Beziehungsgefüge Reziprozität hergestellt wurde. 6 VERWANDTSCHAFTLICHE UND HÄUSLICHE RESSOURCENKONTEXTE Ebenso wenig wie jede andere soziale Beziehung stellte Verwandtschaft nicht per se eine Ressource dar, sondern immer nur ein Potential, das im konkreten Fall erst aktiviert werden muss. 47 Deren Bedeutung bestimmt sich daher nicht durch die Position im Verwandtschaftsgefüge, sondern immer nur in konkreten Handlungszusammenhängen. 48 Nach Todesfällen wurde vielfach auf Verwandte und Ver45 Tiroler Landesarchiv Innsbruck (TLA), Stadt- und Landrecht Innsbruck, Nr. 1255, Ehe-Pacte zwischen Karl Mörz und Josepha Kircher, 21.05.1832. Unterschrieben ist er mit Carl Mörz – die Schreibweise des Vornamens wechselt insgesamt öfter. Ich danke Ellinor Forster für das Überlassen dieses Heiratsvertrages. Vgl. dazu auch ELLINOR FORSTER: Auswirkungen rechtlich-politischer Veränderungsprozesse auf das Aushandeln von Heiratsverträgen unterschiedlicher sozialer Gruppen. Das Stadt- und Landrecht Innsbruck (1767–1842), in: MARGARETH LANZINGER/GUNDA BARTH-SCALMANI/ELLINOR FORSTER/GERTRUDE LANGEROSTRAWSKY: Aushandeln von Ehe. Heiratsverträge der Neuzeit im europäischen Vergleich, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 369–436. 46 Im Oesterreichischen Beobachter, 19.11.1821, 323, S. 1461, scheint Anton Carnelli unter den in Innsbruck gewählten Stadträten auf. 47 S. dazu GABRIELE JANCKE/DANIEL SCHLÄPPI, Ökonomie sozialer Beziehungen. Wie Gruppen in frühneuzeitlichen Gesellschaften Ressourcen bewirtschafteten, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 22 (2011), Heft 1: „Mitgift“, hg. v. KARIN GOTTSCHALK und MARGARETH LANZINGER, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 85–97, hier S. 94. 48 Einen wichtigen Impuls hat die Kategorisierung von Marc Granovetter als strong und weak ties – als starke und schwache Bindungen – aus den 1970er Jahren in die Richtung gegeben, dass andere Beziehungen als Familie und Verwandtschaft, vor allem der losere Freundeskreis, Nachbarn, Leute aus demselben Ort, verstärkt oder überhaupt erst in den Blick genommen wurden. Er hat aufgezeigt, dass sich diese Bindungen in gewissen Situationen, etwa im Migrationskontext, als entscheidend erweisen konnten. Das Problem dieses Ansatzes liegt darin,
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schwägerte zurückgegriffen. Teils wurden sie ins Haus geholt, teils lebten und arbeiteten sie bereits dort, waren mit den Personen und erforderlichen Tätigkeiten vertraut. In Hinblick auf die Pflege von älteren Menschen oder die Betreuung von Kindern, aber auch auf die Arbeiten in der Landwirtschaft, in einem Geschäft, einem Wirtshaus oder sonstigen Betrieb war eine eigene Verwandte oder eine Verwandte der verstorbenen Frau daher oft besonders qualifiziert bzw. aus einem Verpflichtungsgefühl heraus auch bereit, eine solche Aufgabe zu übernehmen. Diesem Bedarfsmuster entspricht vor allem die Konstellation Witwer und Schwester der verstorbenen Frau, zugleich Tante und oft auch Taufpatin der Kinder. Auf die skizzierten Kontexte der räumlichen und sozialen Nähe ging ein Großteil dieser Heiratsvorhaben, wie die Dispensakten zeigen, zurück. 49 In der umgekehrten Konstellation war räumliche und soziale Nähe ebenfalls ein Faktor. Aus der Darstellung von Carl Mörz lässt sich schließen, dass er mit seinem Bruder Joseph und dessen Familie in einem Haus gelebt hatte. Nach dem Tod des Bruders befand er sich nun mit dessen Witwe Josepha Kircher unter einem Dach. Diese war sowohl für die Pflege des kränklichen Stiefsohns zuständig als auch für die Aufsicht über Näherinnen und Dienstboten und daher unabkömmlich, insbesondere da sich Carl Mörz öfter auf Geschäftsreise befand. Hätten sie die Dispens nicht bekommen, dann hätten sie dieses Wohnarrangement auflösen, er oder sie das Haus verlassen müssen. Denn 1807 war eine Verordnung erlassen worden, der zufolge die mit ihren Ansuchen abgewiesenen verwandten oder verschwägerten Paare, sofern sie im selben Haus wohnten, „alsogleich von einander getrennt, und ihnen aller naehere den mindesten Verdacht erregende gemeinschaftliche Umgang auf das Strengste verbothen werden solle“. 50 Ob man sich dem widersetzen konnte und wollte, hing davon ab, inwieweit das unverheiratete, durch das Dispensansuchen unter den Verdacht einer moralisch bedenklichen Nähe geratene Zusammenleben mit Ehrvorstellungen und Ansehen vereinbar war. Eheschließung gewährleistete die Kontinuität der Arbeitsbeziehung und der sozialen Beziehung im Haus. In der Konstellation Witwer und Schwägerin spielten darüber hinaus wiederholt finanzielle Verflechtungen eine Rolle – so auch hier. Durch das erfolgreiche Dispensansuchen und die Eheschließung entkam Carl Mörz seiner Verpflichtung, dass es sich um eine strukturelle Klassifizierung handelt, in der Verwandte automatisch als strong ties eingestuft sind. MARK S. GRANOVETTER: The Strength of Weak Ties, in: The American Journal of Sociology 78, 6 (1973), S. 1360–1380. 49 Vgl. dazu MARGARETH LANZINGER: Schwestern-Beziehungen und Schwager-Ehen. Formen familialer Krisenbewältigung im 19. Jahrhundert, in: Schwestern und Freundinnen. Zur Kulturgeschichte weiblicher Kommunikation, hg. v. EVA LABOUVIE, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 263–282; DIES., Gender and Family Care in Crisis Situations in Nineteenth Century Austria, in: Gender Inequalities, Households and the Production of Well-Being in Modern Europe, hg. v. TINDARA ADDABBO, MARIE-PIERRE ARRIZABALAGA, CRISTINA BORDERIAS und ALASTAIR OWENS, Farnham 2010, S. 95–107. 50 Hofkanzleidekret vom 09.07.1807, Franz des Ersten politische Gesetze und Verordnungen für die Oesterreichischen, Böhmischen und Galizischen Erbländer, XXIX, II, Wien 1809, S. 16f., Nr. 6.
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die einer Kreditbeziehung gleichkam, das für Josepha Kircher bestimmte jährliche Legat von 200 Gulden zu bezahlen. Im Vergleich dazu relativieren sich auch die für die Dispens ausgegebenen 500 Gulden. Zuwendungen dieser Art, von Seiten des verstorbenen Mannes verfügt, waren in der Regel an den Verbleib im Witwenstand gebunden oder reduzierten sich im Falle einer Wiederverehelichung deutlich. War der Zahlungspflichtige noch dazu der Ehemann, war es üblich, dass der etwaige Restbetrag verzinst und die Begleichung der Kapitalschuld auf einen späteren Erbgang verschoben wurde. Gerade bei Ehevorhaben in der nahen Schwägerschaft – die eine Wiederholung einer Allianz zwischen zwei Familien darstellen – konnte es um die Sicherung von Vermögen für die eigene Verwandtschaftslinie gehen, zum Nachteil der zugeheirateten und vermögensrechtlich ‚fremden‘ Frau – vor allem wenn dieser mittels Heiratsvertrag oder Testament Eigentumsrechte am ehemännlichen Besitz zugesprochen worden waren. 51 Insgesamt stellt sich daher gerade auch im häuslichen und verwandtschaftlichen Ressourcenkontext die Frage nach der Gegenseitigkeit, nach Machtbalancen und Imbalancen sowie nach deren geschlechtsspezifischen Implikationen. In Hinblick auf den Zugriff auf das Vermögen während der Ehe eröffnete das im Januar 1787 in Kraft getretene Josephinische Gesetzbuch Ehefrauen die Möglichkeit, die bis dahin im untersuchten Raum auf Grundlage der Tiroler Landesordnung übliche ehemännliche Verwaltung ohne Angabe von Gründen aufzukündigen – sofern sie diese dem Ehemann nicht zuvor explizit übertragen hatten. 52 Davon ausgenommen war das Heiratsgut, mit dem in jedem Fall der Ehemann wirtschaften konnte. In der Praxis spielte die Frage der Verwaltung durch den Ehemann vornehmlich dann eine Rolle, wenn das Vermögen der Braut hoch war oder deutlich höher als jenes des Bräutigams. In Heiratsverträgen dürften tendenziell eher Vermögensvorbehalte von Seiten der Frauen formuliert worden sein, als dass der Schritt eines generellen Verwaltungsentzuges gesetzt worden wäre. 53 Doch fehlen hierzu noch weitgehend einschlägige Forschungen. Bezogen auf die Kinder von Josepha Kircher aus erster Ehe änderte die Verbindung mit Carl Mörz in finanzieller Hinsicht kaum etwas, das heißt, von dieser Seite her gedacht scheint es keine Vorteile für den Onkel gegeben zu haben. Sie waren bereits erwachsen: Die Tochter war verheiratet, ein Sohn studierte Medizin, der andere hatte offensichtlich gesundheitliche Probleme und hielt sich zu Hause auf. Ihnen stand ein väterliches Erbteil und möglicherweise Unterhalt zu, der aus dem nachgelassenen väterlichen Vermögen zu bestreiten war. Bei der hartnäckigen Verfolgung des Ehevorhabens ging es also allem Anschein nach primär um das aufs Engste mit Arbeitsorganisation und Geschäftsabläufen, mit Wohnen und
51 Vgl. dazu MARGARETH LANZINGER: Tanten, Schwägerinnen und Nichten – Beziehungsgefüge, Vermögenskonflikte und ‚Reparaturehen‘ oder: Linie und Paar in Konkurrenz, in: WerkstattGeschichte 10, 46 (2007), S. 41–54. 52 Josephinisches Gesetzbuch, Drittes Hauptstück, § 86 und § 84. 53 Vgl. dazu FORSTER, Auswirkungen rechtlich-politischer Veränderungsprozesse (wie Anm. 45), S. 418.
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Finanzen, mit Ansehen und Moral verbundene Beziehungsarrangement zwischen Carl Mörz und Josepha Kircher. Der von den Beiden 1832 abgeschlossene Heiratsvertrag enthält nur Bestimmungen zu ihren Gunsten. Falls er vor ihr sterben sollte und sie keine Kinder haben würden, sprach er ihr die „ganze Zimmer-Einrichtung“ im dritten Stockwerk des Wohnhauses sowie ein Viertel seines Nachlassvermögens als Eigentum zu – letzteres entsprach den Bestimmungen des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB) von 1811. In Punkt drei wurden die Erben verpflichtet, ihr ein jährliches Legat in der Höhe von 140 Gulden Reichswährung auszubezahlen. Gemäß Punkt vier sollte ihr das dritte Stockwerk unentgeltlich zum Wohnen überlassen bleiben. Die beiden letzten Bestimmungen hatten nur Geltung, solange sie nicht eine neue Ehe einging. 54 Diese Einseitigkeit legt nahe, dass die ökonomische Basis von Braut und Bräutigam sehr ungleich war. In dem im Zuge des Dispensverfahrens verfassten Bittbrief hatte Carl Mörz an einer Stelle angemerkt, dass seine Schwägerin kein Vermögen besitze „und auch von ihren alten noch lebenden Aeltern nur weniges zu hoffen“ habe. Viel und wenig konnte Unterschiedliches meinen, war keine absolute Größe, sondern bemaß sich am sozialen Status. Jedenfalls besaß Josepha Kircher keinen Anteil am „Mörzischen Haus in der Stallgasse“ oder an den zwei „Boutiquen am Franziskaner Graben“ in Innsbruck. In seinem Testament aus dem Jahr 1837 setzte Carl Mörz die Kinder seines Bruders als Erben der Immobilien und insgesamt als Universalerben ein. 55 Im ABGB war Gütertrennung zum gesetzlichen Güterstand erklärt worden, 56 eine Form des Ehegüterrechts, die in Tirol auch in der Frühen Neuzeit weit verbreitet gewesen war. Gütertrennung hat zur Folge, dass sich an einer ungleichen Vermögensverteilung durch eine Eheschließung nichts änderte. Dies machte die nacheheliche Existenzsicherung für jenen Teil, der nicht über Besitz verfügte – sehr viel öfter waren dies Frauen als Männer –, zu einem wichtigen Punkt. Ob über den gesetzlichen Nutzungs- bzw. Eigentumsanspruch am ehemännlichen Vermögen 57 hinaus Vereinbarungen zugunsten der Witwe getroffen wurden und 54 TLA, Stadt- und Landrecht Innsbruck, Nr. 1255, Ehe-Pacte vom 21.05.1832. 55 TLA, Stadt- und Landrecht Innsbruck, Nr. 1255, Testament des Karl Mörz vom 01.07.1837. Darin änderte er auch Bestimmungen aus dem Heiratspakt: Die Übertragung der Zimmereinrichtung des dritten Stockwerks an die Witwe und das unentgeltliche Wohnrecht hob er auf, setzte dafür ein Legat von 6000 Gulden Reichswährung als ihr Eigentum fest, das von seinen Erben mit vier Prozent zu verzinsen war. Wünschte sie die Auszahlung des Kapitals, so durfte sie jährlich maximal 800 Gulden fordern. Im Fall ihrer Wiederverehelichung würde sich das Legat auf 3000 Gulden reduzieren. Diese Änderungen mussten, da einseitig verfügt, nicht wirksam werden, sondern waren Gegenstand des Abwägens und einer Beschlussfassung im Rahmen der Nachlassabhandlung. 56 „Haben Eheleute über die Verwendung ihres Vermögens keine besondere Uebereinkunft getroffen; so behält jeder Ehegatte sein voriges Eigenthumsrecht, und auf das, was ein jeder Theil während der Ehe erwirbt, und auf was immer für eine Art überkommt, hat der andere keinen Anspruch. Im Zweifel wird vermuthet, daß der Erwerb von dem Manne herrühre“ (§ 1237). 57 Laut ABGB hatte der überlebende Eheteil, wenn Kinder vorhanden waren, ein Nutzungsrecht an einem Viertel, bei mehr als drei Kindern an einem gleichen Kindsanteil (§ 757). Im Fall
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welcher Art sie waren, war Gegenstand des Aushandelns eines Ehevertrages. Dabei standen die an die Witwe gemachten Zugeständnisse in Konkurrenz zu den Interessen der Verwandten als Haupterben, das heißt der bei Gütertrennung priorisierten nachfolgenden Generation. Da Carl Mörz und Josepha Kircher keine eigenen Kinder hatten, waren dies seine beiden Neffen und seine Nichte, ihre Stiefkinder. Wie gut die Verhandlungsposition der Braut war, hing nicht nur von deren ökonomischem Kapital ab, sondern auch von symbolischem. Als solches wirkte beispielsweise das deutlich jüngere Alter der Braut, das hier als Pluspunkt zum Tragen gekommen sein dürfte – etwa in dem Sinn, dass damit eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestand, dass sie Kinder haben würden, oder dass dies ihren weiterhin tatkräftigen Einsatz in Haushalt und Betrieb versprach. Josepha Kircher war zum Zeitpunkt des Dispensansuchens 35 und damit 20 Jahre jünger als Carl Mörz. 7 SCHLUSS Kehren wir an den Ausgangspunkt – Liebe, Ehe und Ökonomie – zurück. Von einer „außerordentliche[n] Zuneigung“ zwischen dem Brautpaar sprach im gesamten Dispensverfahren allein Carl Carnelli als Zeuge im Matrimonialexamen. Vielleicht schickte es sich für Carl Mörz aufgrund seines Standes und Alters nicht, Liebesbezeugungen zu äußern, vielleicht folgt er aber auch einem frühneuzeitlichen Ehekonzept, wenn er in seinem bereits mehrfach erwähnten Bittbrief zunächst zahlreiche gute Eigenschaften der Braut aufzählte und daran anschließend bemerkte, dass ihn diese Eigenschaften „an sie hinziehen“ würden und ihm sein Herz und sein Gewissen stets sagen würden, dass er nur mit dieser seiner Schwägerin die ihm verbleibenden Tage glücklich und zufrieden leben könne. Von Seiten der Braut liegt nur die im Rahmen des Matrimonialexamens im Dekanat protokollierte und daher durch den geistlichen Schreiber gefilterte Begründung der geplanten Heirat vor. Darin ist ein emotionales Verhältnis zum Schwager nicht explizit angesprochen. Das führt zu zweierlei Schlüssen: Einerseits ist von einer Vielfalt an Liebes- und Ehekonzepten auszugehen, und andererseits ist Inhalt und Art des Kommunizierten nie unabhängig von dem dafür benützten Medium. Im Mörz’schen Haus begegnet uns nicht die für das bürgerliche 19. Jahrhundert typische „Dissoziation von Erwerbs- und Familienarbeit“, 58 diese bleibt mit den im Haus beschäftigten und von Josepha Kircher beaufsichtigten Näherinnen zum Teil zumindest integriert. Dem entsprechend war die an sie gerichtete Rollenerwartung jene an eine gute Hausmutter. Dabei stellte gerade der Handel eine Branche dar, in der Frauen vielfach ökonomisches Gewicht und Macht innehatten, einer kinderlosen Ehe erbte der überlebende Teil ein Viertel des Vermögens (§ 758). Vgl. dazu KARIN NEUWIRTH: Die lieben Erben – Verwandtenerbrecht in Österreich im 19. und 20. Jahrhundert, in: Politiken der Verwandtschaft. Beziehungsnetze, Geschlecht und Recht, hg. v. MARGARETH LANZINGER und EDITH SAURER, Göttingen 2007, S. 199–224, hier S. 207–209. 58 KARIN HAUSEN: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienarbeit, in: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, hg. v. WERNER CONZE, Stuttgart 1976, S. 363–393.
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nicht nur als selbstständige Handelsfrauen, sondern auch als Ehefrauen von Handelsmännern. Einmal mehr war das Verfügen über finanzielle Ressourcen die Voraussetzung für Letzteres, klassisch als Tochter einer städtischen Handelsfamilie. Dann sahen Eheverträge nämlich ganz anders aus, waren in den getroffenen Vereinbarungen sehr viel ausgewogener zwischen den Geschlechtern und auch zwischen den Generationen formuliert. 59 Eine solche Position von Frauen war auch im 19. Jahrhundert in der Regel weiterhin von ererbtem Vermögen und Status abhängig. Derselbe Befund wie schon bezüglich des Zusammenwirkens von unterschiedlichen Arten von Ressourcen auf dem Weg durch ein erschwertes, aber letztlich erfolgreiches Dispensverfahren zeigt sich auch in der Verflechtung verwandtschaftlicher und häuslicher Ressourcen sowie in der Verbindung dieser beiden Sphären. Die über Verwandtschaft, Erbe, Geschäft begründete Position von Carl Mörz, der Josepha Kircher nichts Vergleichbares entgegen halten konnte, strukturierte auch seine sozialen Beziehungen und Vernetzungen sowie den ihm zugänglichen Kommunikations- und Wissensraum, über den Vermittlung, Empfehlung und Unterstützung erfolgten.
59 Vgl. dazu GUNDA BARTH-SCALMANI: Ausgewogene Verhältnisse: Eheverträge in der Stadt Salzburg im 18. Jahrhundert, in: LANZINGER/BARTH-SCALMANI/FORSTER/LANGER-OSTRAWSKY, Aushandeln von Ehe (wie Anm. 45), S. 121–170; SIGLINDE CLEMENTI: Zur Ökonomie der Ehre. Heiratsgüter in Tirol um 1600, in: Geschichte und Region / Storia e Regione 19, 1 (2010), S. 109–122.
„RECHTSTRIEB“. SCHULDEN, PERSONEN UND VERFAHREN IM LIBERALEN KAPITALISMUS (SCHWEIZ, 19. JAHRHUNDERT) Mischa Suter Die Zwangsvollstreckung von Schulden stellte im 19. Jahrhundert eine schematische Routinehandlung dar, mit Formularen, Fristen, Unterschriften, Quittungen – und doch eröffnete dieses Verfahren die Bühne für unerwartete Erscheinungen. 1 Etwa für den Auftritt von acht Frauen aus Oberweningen, einer zürcherischen Agrargemeinde, im Sommer 1829. Ihre Männer, schrieben diese in einem Brief an die kantonale Regierung, hätten „das traurige Schiksall“ erfahren, in „Auffahlszustand“ (Konkurs) geraten zu sein. Ihre „gerechte Klage“ und „billiche Forderung“ richteten die Frauen an die Kantonsbehörde und umgingen dabei ihre waisenamtliche Aufsicht. 2 Sie verlangten, ebensoviel Brennholz aus dem Gemeindegut beziehen zu dürfen wie die Angehörigen von „aufrechtstehenden Hausvätern“. 3 Die Gemeindevorsteherschaft gestand ihren Familien aber nur die Hälfte des Holzanteils zu. Die Frauen unterschrieben mit dem Namen ihrer Geburtsfamilie, und es waren sie, die an die Behörde gelangten, nicht ihre Männer, die durch das ‚Falliment‘ ihre Bürgerrechte und eheliche Vormundschaft verwirkt hatten. 4 Auf sie sei, schrieben die Frauen weiter, die „Haushaltungslast“ durch den Konkurs gewälzt worden: sie hätten bei der Zwangsversteigerung die Immobilien mit ihren Mitteln übernommen und dadurch verhindert, armengenössig zu werden. In Bezug auf die Lasten gegenüber Gemeinde und Kanton (Steuern, Arbeit zum Straßenbau und Gemeindewerke) müssten sie fast dasselbe leisten wie die übrigen 1 2
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Der Aufsatz greift Überlegungen auf, die in meiner bei Jahresbeginn 2014 an der Universität Zürich eingereichten Dissertation weiter ausgeführt worden sind. Ich danke Gabriele Jancke und Daniel Schläppi für ihre hilfreichen Kommentare. Regula Meyer, Regula Markwalder, Barbara Kistler, Regula Schütz, Anna Merki, Anna Binder, Barbara Ganz, Kleofea Zöbeli. Als neunte Unterschrift firmierten die Erben einer kurz zuvor verstorbenen Anna Mattis. Staatsarchiv des Kantons Zürich (im Folgenden STAZH) KIII 212.1–3, Bezirk Regensberg, Ansuchen an Kommission für administrative Streitigkeiten, 27.08.1829. So paraphrasierte die Gemeindevorsteherschaft von Oberweningen in ihrem Reaktionsschreiben die Forderung der Frauen. STAZH KIII 212.1–3, Bezirk Regensberg, Gemeindevorsteherschaft Oberweningen an Kommission für administrative Streitigkeiten, 21.11.1829. STAZH BVII 208.23 Bevogtigungs-Etat Amt Regensberg, für ein Verzeichnis der Geburtsund Heiratsnamen. Zur Geschlechtsvormundschaft in der Schweiz des 19. Jahrhunderts vgl. ANNAMARIE RYTER: Als Weibsbild bevogtet. Zum Alltag von Frauen im 19. Jahrhundert – Geschlechtsvormundschaft und Ehebeschränkungen im Kanton Basel-Landschaft, Liestal 1994.
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Gemeindemitglieder. 5 Doch seit die Gemeinde fünf Jahre zuvor eine Anzahl Eichen geschlagen und verkauft hätte, würden sie nun bei der Zuweisung des Abholzes „nur als halbe Gemeindsbürgerinnen behandelt.“ 6 Die Gemeindevorsteherschaft reagierte scharf. „Empören“ musste sie die Forderung der Frauen besonders, weil die Gemeinde die erwähnten Eichen deshalb verkauft hätte, um die Kosten fallierter Familien abzufedern. Zudem bestehe seit „undenklichen Zeiten“ der Grundsatz, dass Fallitenfamilien nur die Hälfte des Gemeindeholzes erhielten, weil „der rechtlose Hausvater auch hierin seines Holztheiles entbehren“ müsse. Und schließlich müsse, fand die Gemeindebehörde, eine „geringe Schranke“ bestehen, „welche im Genuss der bürgerlichen Gefälle den aufrechtstehenden Hausvater vom Failliten einzig noch trennt“, da sonst „der ärmere, schuldenbeladene Bürger mit Hohngelächter & sichtlicher Schadenfreude seine Insolvenz erklärt“. 7 Im hier diskutierten Beispiel interessiert weniger der Holzschlag an sich als sein Einsatz in einem Konflikt um Anspruchsberechtigung. 8 Die Frauen ebenso wie die Gemeindevorsteher warfen in ihren Schreiben Fragen der Zugehörigkeit auf. Die kommunale Behörde strich die Konnektivität von Schulden heraus: Fallitenfamilien hätten das Gemeindevermögen belastet, weil die Gemeinde in der Zwangsversteigerung die Güter an sich ziehen musste, um sie dann billig an die Familien zurück zu geben. Tatsächlich verzeichnete die Gemeinderechnung für die 1820er Jahre Defizite und für 1824/25 wurde vermerkt, dass die Gemeinde bei einer Anzahl Konkurse finanziell einspringen musste. 9 In dieser Argumentation war das Recht der Zwangsvollstreckung verbunden mit angeblich seit „undenklichen Zeiten“ bestehenden customs. 10 Der „Rechtstrieb“, wie das entsprechende 5
Zum korporativen Gemeindesystem mit ‚Vollbürgern‘, ‚Hintersassen‘ und ‚Beisassen‘, das in Zürich über das Ancien Régime hinaus wirksam war, RUDOLF GRABER: Zeit des Teilens. Volksbewegungen und Volksunruhen auf der Zürcher Landschaft 1794–1804, Zürich 2003, S. 97f. 6 STAZH KIII 212.1–3, Bezirk Regensberg, Ansuchen an Kommission für administrative Streitigkeiten, 27.08.1829. 7 STAZH KIII 212.1–3, Bezirk Regensberg, Gemeindevorsteherschaft Oberweningen an Kommission für administrative Streitigkeiten, 21.11.1829. 8 Konflikte um Allmenderechte und Holznutzung haben die Sozialgeschichte seit je beschäftigt – überspitzt formuliert, seit der allerersten Zeitungsartikel des Jungjournalisten Karl Marx. Aus der Fülle von Literatur vgl. die neueren Beiträge JONATHAN SPERBER: Angenommene, vorgetäuschte und eigentliche Normenkonflikte bei der Waldbenutzung im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 290 (2010), S. 681–702; RICHARD HÖLZL: Umkämpfte Wälder. Die Geschichte einer ökologischen Reform in Deutschland 1760–1860, Frankfurt am Main 2010. Ferner KARL MARX: Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz. Von einem Rheinländer (1842), in: Marx Engels Werke, Bd. 1, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin (DDR) 1976, S. 109–147. 9 STAZH BVII 208.22 Protokoll der Gemeinderechnungen des Oberamts Regensberg, Januar 1817–Januar 1834. 10 Für E. P. Thompson stellten customs eine umkämpfte Schnittfläche zwischen Recht und agrarischer Praxis dar. Sie bildeten einen Ort, an dem hergebrachte Gebrauchsweisen mit kapitalistischen Rechtsverhältnissen in Konflikt traten. Während die hier vorgeschlagene Vorstellung von Recht als Praxis Thompsons Perspektive verpflichtet ist, wird weniger die konflikt-
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Verfahren zeitgenössisch genannt wurde, verknüpfte verschiedene symbolische und praktische Register. Eine Untersuchung rechtlicher Semantiken soll diese Figuren und ihre Inkonsistenzen im Folgenden weiter beleuchten. Dabei wird die Überlegung von Clifford Geertz aufgegriffen, wonach juristische Begriffe nicht schlicht soziale Realitäten reflektieren, sondern diese mitformen. Recht ist lokales Wissen, weil es standortgebundene Normvorstellungen mit lokal konstituierten Realitätsbeschreibungen verbindet. Aus dieser Perspektive betrachtet, formt Recht Regeln aus, die über einen einzelnen Fall hinausweisen, aber diese typisierende Operation geschieht an einem bestimmten historischen Ort. Recht bezieht kontextabhängige Normen auf ebenso kontextabhängige Klassifikationen von Situationen, die ein Geschehen durch Einordnungen verfestigen und als Fakten erst erkennbar machen. Rechtsbegriffe betreiben Semantisierung, eine Festschreibung dessen, was in einer Situation ‚Sache ist‘. 11 Diese Festschreibung ist spezifisch und die Bedeutungsbildung, die sich dabei vollzieht, nicht abschließbar. Der vorliegende Beitrag untersucht anhand von Beispielen hauptsächlich aus dem Kanton Zürich zwischen 1830 und 1870 die widersprüchlichen Bedeutungen, die im Recht der Zwangsvollstreckung zum Vorschein kamen. Der Verlust der Bürgerrechte im Falliment zog praktische Sanktionen nach sich, zeitigte aber auch ungeahnte Effekte: der Sozialfigur des rechtlosen ‚Falliten‘ stand eine ‚Fallitenfrau‘ gegenüber, die in dieser Situation verstärkte Sichtbarkeit erlangte. 1 EINE VERSCHULDETE GESELLSCHAFT: FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN Eine wachsende Zahl von Beiträgen hat für die westeuropäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts eine anhaltende Bedeutung personaler Schuldenbeziehungen festgestellt. Damit sind Modernisierungsnarrative, die einst den institutionellen Durchmarsch des modernen Bankenwesens angenommen hatten, in Zweifel gezogen worden. 12 Es bleibt fraglich, inwieweit distanzierte, institutionelle Beziehunhafte als die komplementäre Dimension zwischen Recht und habituellen Gebrauchsformen betont. Vgl. EDWARD PALMER THOMPSON: Custom, Law and Common Right, in: DERS.: Customs in Common. Studies in Traditional Popular Culture, New York 1991, S. 97–184. 11 CLIFFORD GEERTZ: Local Knowledge. Fact and Law in Comparative Perspective, in: DERS.: Local Knowledge. Further Essays in Interpretive Anthropology, New York 1983, S. 167–234, hier S. 215, 232. 12 CLARE HARU CROWSTON: Credit and the Metanarrative of Modernity, in: French Historical Studies 34 (2011), S. 7–19; vgl. MISCHA SUTER: Jenseits des „Cash Nexus“. Sozialgeschichte des Kredits zwischen kulturanthropologischen und informationsökonomischen Zugängen, in: WerkstattGeschichte 53 (2009), S. 89–99, für den Versuch eines Überblicks zur neueren Forschung. Die seit 2010 erschienene Literatur umfasst u. a. ERIKA VAUSE: ‚He Who Rushes to Riches Will Not Be Innocent‘: Commercial Values and Commercial Failure in Postrevolutionary France, in: French Historical Studies 35 (2012), S. 321–349; JULIE HARDWICK: Banqueroute. La faillite, le crime et la transition vers le capitalisme dans la France moderne, in: Histoire, Economie & Société 30 (2011), S. 79–93; JAN LOGEMANN/UWE SPIEKERMANN: The Myth of a Bygone Cash Economy: Consumer Lending in Germany from the Nineteenth
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gen soziale Relationen und Abhängigkeiten ablösten. Statt generelle Periodisierungen anzusetzen, ist es hilfreich, das Problem umzuformulieren und heuristische Achsen zu suchen, welche die Vielgestalt von Kreditbeziehungen anerkennen. 13 Das gilt auch, wenn der Blick auf die Modi der Rückerstattung und Eintreibung von Schulden gelenkt wird. Wie, so lässt sich fragen, wirkte sich im Moment der Zwangsvollstreckung das verpflichtende Band zwischen Schuldner und Gläubiger aus? Auf welche Weise fasste diese Verpflichtung den Schuldner, aber auch den Gläubiger in normative Horizonte ein? Die widersprüchliche Verknüpfung von Schulden und Moral hat zu einer neuen Aufmerksamkeit in der Forschung für den Begriff der moralischen Ökonomie geführt. Seit E. P. Thompsons Aufsatz von 1971 ist das Konzept der moralischen Ökonomie erweitert und verlagert worden 14 – heute erhält es in grundlegend geänderter Gestalt neues Gewicht. 15 Dabei geht es in der Debatte um moralische Ökonomie nicht darum, eine vorgeblich frühmoderne moralische Rahmung ökonomischen Austauschs gegen liberalkapitalistische Verhältnisse auszuspielen und damit ein Epochenkonzept zu verfestigen. Vielmehr wird die Strittigkeit verschiedener sozialer Legitimitätsvorstellungen in den Blick genommen. In diesem Aufsatz wird der Vorschlag der Soziologin Ute Tellmann aufgegriffen, in der Auseinandersetzung mit moralischer Ökonomie nicht letzte Größen wie ‚Moral‘ oder ‚ökonomische Rationalität‘ einander entgegen zu setzen, sondern die Problematisierungen zu fokussieren, die in den Konflikten um die Legitimität von Schulden und deren Rückerstattung zur Sprache kamen. 16 So kann man nach den Achsen fragen, auf denen soziale Werte und Bewertungen von Schulden auftraten. Es geht um die Skalierung von Wertmessern, die als Interpretatiosnmuster bei der Beurteilung von Schulden zum Zug kamen. Eine solche Achse, so Tellmann, sind die Formen operativer und symbolischer Kollektivität, die durch Schulden aufgeworfen wurden. Aus dieser Perspektive interessiert, welcher Radius von Gemeinschaft in Schulden auf dem Spiel stand und im Moment der Zwangsvollstreckung gezogen wurde, wenn etwa Laufzeiten von Darlehen oder ‚Gnadenfristen‘ an eine Grenze kamen. Eine andere Achse, so kann man hinzufügen, bilden die Temporalitäten, die in Schulden entworfen werden. Als sequenzieller Vertrag, als Intervall,
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Century to the Mid-Twentieth Century, in: Entreprises et histoire 59 (2010) Nr. 2, S. 12–27, sowie die Heftschwerpunkte „Crediti et debiti“ in: Quaderni Storici 137 (2011) und „Histoire du crédit (XVIIIe–XXe siècles)“ in: Annales HSS 67 (2012), Nr. 4. So CLAIRE LEMERCIER/CLAIRE ZALC: Pour une nouvelle approche de la relation de crédit en histoire contemporaine, in: Annales HSS 67 (2012), S. 979–1009, bes. S. 987f. EDWARD PALMER THOMPSON: Die „moralische Ökonomie“ der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: DERS.: Plebejische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, hg. v. DIETER GROH, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1980 (11971), S. 67–130; DERS.: The Moral Economy Reviewed, in: DERS., Customs (wie Anm. 10), S. 259–351; JOHN BOHSTEDT: The Politics of Provisions: Food Riots, Moral Economy, and Market Transition in England, c. 1550–1850, Burlington, Vt. 2010. DIDIER FASSIN: Les économies morales revisitées, in: Annales HSS 64 (2009), S. 1237–1266; LORRAINE DASTON: The Moral Economy of Science, in: Osiris 2. Ser, 10 (1995), S. 2–24. UTE TELLMANN: Die moralische Ökonomie der Schulden, in: Illinx. Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft 3 (2013), S. 3–24.
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fungiert in einer Kreditbeziehung Zeit als Grunddimension, und dies schlug sich auch in der Zwangsvollstreckung nieder. 17 Die rechtliche Regulierung des Schuldenwesens, so wird im Folgenden argumentiert, umriss Konzepte von Gemeinschaft und Zeithorizonte, die in Konflikten immer wieder neu zur Disposition gestellt wurden. Sie formte dabei soziale Figuren aus, wie den „rechtlosen Hausvater“, und schuf überraschende Sichtbarkeiten, wie jene der acht Frauen von Oberweningen. Bevor sie im Jahr 1889 in einem schweizerischen Bundesgesetz vereinheitlicht wurden, bestanden die regional verschiedenen „Schuldentriebgesetze“ aus einer verwirrenden Zahl von Praktiken. „Auf dem Boden der Routine erwachsen“ seien die entsprechenden Vorschriften, fand eine Broschüre. Die Gesetze würden häufig „nur wenige lückenhafte Bestimmungen“ enthalten und überließen „alles Uebrige der Praxis“. 18 Auch innerhalb der einzelnen kantonalen Gesetze bestanden praktische Divergenzen. Ein Reglement aus Zürich von 1835 sah in den uneinheitlichen Vollzugsformen eine „offenbare Gefährdung unsers Creditwesens“. 19 Habituelle Praktiken strukturierten diese Verfahren insofern, als sie kaum richterliche Intervention nötig machten. In der Deutschschweiz genügte es, die einzutreibende Geldforderung einem Vollzugsbeamten schriftlich mitzuteilen, worauf dieser die Mahnformulare zustellte und schließlich Gegenstände des Schuldners zum Pfand nahm oder den Konkurs einleitete. „Die Eigenthümlichkeit des sogenannten Rechtstriebs in der Schweiz“, schrieb der Bundesrat in der Vorberatung zum Bundesgesetz von 1889, „liegt darin, daß die Zwangsvollstreckung auf bloßes Begehren des Gläubigers, ohne vorgängiges gerichtliches Urtheil, meist ohne gerichtliche Bewilligung und oft ohne alle gerichtliche Mitwirkung vor sich geht.“ 20 Dieses Verfahren benötigte kaum einen Eingriff staatlicher Autoritäten – im Rahmen eines Schemas von Fristen und Sanktionen regelten die Beteiligten ihre Verhältnisse weitgehend selbst. Die Verfahren der Zwangsvollstreckung reichten zeitlich weit zurück, erhielten aber im 19. Jahrhundert eine spezifisch liberale Wendung. 21 Fasst man Liberalismus als eine Regierungstechnik, die aus neuen Formen von Wissen und Expertise entstand, lässt sich darunter eine 17 PIERRE BOURDIEU: Die Ökonomie der symbolischen Güter, in: DERS., Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main 1998 (11994), S. 163–202, der die Diskussion in der Anthropologie von Marcel Mauss, Claude Lévi-Strauss bis zu Bourdieu selbst kurz abreißt. 18 Zur Volksabstimmung vom 17.11.1889. Ein Wort der Aufklärung an das Schweizervolk zum Bundesgesetze über Schuldbetreibung und Konkurs, Bern 1889, S. 6f. 19 Verordnung des Obergerichts des Kantons Zürich vom 27.05.1835, in: Monatschronik der zürcherischen Rechtspflege 5 (1835), S. 493–503, Zit. S. 493. 20 Botschaft des Bundesrathes [vom 06.04.1886] an die Bundesversammlung über den Bundesgesetzentwurf vom 23. Februar 1886 betreffend Schuldbetreibung und Konkurs, Bern 1886, S. 37. 21 FRIEDRICH VON WYß: Die Schuldbetreibung nach schweizerischen Rechten, in: Zeitschrift für schweizerisches Recht 7 (1858), S. 3–114; DERS.: Geschichte des Konkursprozesses in Zürich bis zum Erlasse des Stadt- und Landrechtes von 1715, Zürich 1845; ALEXANDER REICHEL: Das Betreibungsamt im schweizerischen Recht, in: Zeitschrift für schweizerisches Recht 28 (1887), S. 567–607.
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Rationalität verstehen, welche die Lenkung und Formung von Subjekten durch möglichst wenig direkte Eingriffe zum Prinzip erhob: eine Herrschaft auf Distanz, vermittelt durch alltägliche Praktiken und durch die Gestaltung materieller Umgebungen. 22 Solche Formen liberaler Herrschaft waren in der Schweiz, und hier speziell im Kanton Zürich, besonders ausgeprägt. Einer gängigen Forschungsmeinung gemäß bildete die Schweiz nachgerade ein Labor des Liberalismus. 23 Liberales Wissen und Expertise tauchten die auto-regulativen Verfahrensweise der Zwangsvollstreckung in neues Licht. Seit die Aufsichtsbehörde des Kantons Zürich ab 1858 detaillierte Statistiken erstellte, wurde immer wieder vorgeführt, wie selten der Gang vor Gericht stattfand. So betonte die Aufsichtsinstanz, wie auf nur jede achte Mahnung ein Einspruch des Schuldners erfolgte, oder wie auf nur jedes vierunddreißigste Begehren nach einer Zwangsversteigerung verpfändeter Güter auch tatsächlich die Versteigerung folgen musste (und letztlich nur jede hundertachtunddreißigste Mahnung in eine Versteigerung mündete), oder wie bei den hypothekarisch gesicherten Forderungen nur in einem von 31 Fällen ein Einspruch erteilt wurde. 24 Diese Statistiken wiesen aus, wie stark das Verfahren auf Selbstregulation abstützte. Dieses lokale Recht war mit eingeschliffenen Praktiken verbunden, die außerhalb des juristischen Zwangs Wirkung entfalteten und in denen hergebrachte Normen und durch die Praxis bestätigte Gebrauchsformen sich für die Beteiligten mindestens so wirkungsvoll zeigten wie der Rückgriff auf den Buchstaben des Gesetzes. 25
22 So die Studien zur liberalen Gouvernementalität, wie sie im Anschluss an Michel Foucault für das 19. Jahrhundert vor allem für die britische und koloniale Geschichte erprobt wurden. Etwa SIMON GUNN/JAMES VERNON: Introduction: What Was Liberal Modernity and Why Was It Peculiar in Imperial Britain?, in: The Peculiarities of Liberal Modernity in Imperial Britain, hg. v. GUNN und VERNON, Berkeley 2011, S. 1–18, bes. S. 9; PATRICK JOYCE: The Rule of Freedom. Liberalism and the Modern City, London/New York 2003; ANN LAURA STOLER: Along the Archival Grain. Epistemic Anxieties and Colonial Common Sense, Princeton 2009; CHRIS OTTER: The Victorian Eye. A Political History of Light and Vision in Britain, 1800–1910, Chicago 2008. Für eine Bezugnahme auf schweizerisches Staatshandeln vgl. REGULA ARGAST: Schweizer Staatsbürgerschaft und gouvernementale Herrschaft 1848– 1920: Foucaults Konzept der liberalen Gouvernementalität in der Analyse der Staatsbürgerschaft, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 53 (2003), S. 396–408. 23 GORDON A. CRAIG: Geld und Geist. Zürich im Zeitalter des Liberalismus 1830–1869, München 1988; MARC H. LERNER: A Laboratory of Liberty. The Transformation of Political Culture in Republican Switzerland, 1750–1848, Leiden 2012 (Studies in Central European Histories 54); BARBARA WEINMANN: Eine andere Bürgergesellschaft. Klassischer Republikanismus und Kommunalismus im Kanton Zürich im späten 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 2002 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 153); die inhärenten Widersprüche und Ausblendungen des liberalen Politikentwurfs führt die geschlechtergeschichtliche Studie von ELISABETH JORIS vor: DIES.: Liberal und eigensinnig. Die Pädagogin Josephine Stadlin – die Homöopathin Emilie Paravicini-Blumer, Zürich 2010. 24 Acht und zwanzigster Rechenschaftsbericht des Obergerichts an den Großen Rath des Standes Zürich über das Jahr 1858, Zürich 1859, S. 56ff. 25 Vgl. in einem weiteren Kontext die mittlerweile klassische Position von THOMPSON, Customs (wie Anm. 10).
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2 RECHT ALS LOKALES WISSEN Scheine, Verzeichnisse, Register, Unterschriften bildeten das Rückgrat dieses Verfahrens, das durch Fristen punktiert war. Bei niedrigen Einzelforderungen, die nicht mit einem Pfand versichert waren, wies der Schuldenschreiber des Bezirks den Gemeindeammann an, nach einer Mahnung (dem „Rechtsbot“) Wertgegenstände in einem sogenannten Pfandschein zu verzeichnen, die nach einer nochmaligen Frist eingezogen und schließlich verkauft („versilbert“) wurden. 26 Eine Schätzung aus dem Jahr 1858 kam zum Schluss, dass der größte Teil der Forderungen unter 40 Franken zu stehen kam. 27 Bei hypothekarisch verzeichneten Forderungen, oder falls die Pfänder im Haushalt des Schuldners nicht ausreichten, folgte darauf ein Konkursverfahren. Dazu ging als dritte Mahnung eine Warnung vor dem Konkurs ein, die „Schreckzettel“ hieß. 28 Anschließend wurde der Sachverhalt in der Stadt öffentlich angeschlagen bzw. auf der Landschaft an drei Sonntagen in der Kirche verlesen. Zum dritten „Kirchenruf“ erschienen die in verschiedene Klassen eingeteilten Gläubiger zur Fallimentsverhandlung über die zuvor inventarisierten Güter, der „Verrechtfertigung“, wie jener Moment im Kanton Zürich hieß, oder dem „Geldstag“, wie derselbe Termin in Bern und im Aargauischen genannt wurde. Ein Schuldner konnte im Kanton Zürich einen „Blumenschein“ ausstellen und damit seine Feldfrüchte verpfänden. 29 Oder ein Gläubiger mochte im Kanton St. Gallen einen „Glücksschein“ verlangen, mit dem sich für den Fall, dass der konkursite Schuldner zu einer Erbschaft „oder zu einem andern Glücksfalle“ gelangen sollte, eine Nachforderung geltend machen ließ. 30 Ein Schuldner, der falliert hatte, ersuchte seine Gläubiger, deren Guthaben er zurückerstattet hatte, um einen „Liberationsschein“, der Voraussetzung zur Wiedereinsetzung in die bürgerlichen Rechte war. Der Rechtstrieb war gebunden an mediale Techniken wie den „Kirchenruf“. Dieser bildete ein Kommunikationsmedium der Obrigkeit im Ancien Régime. Von der Kanzel herab wurde der wöchentliche Brotpreis verlesen – und dabei verdeutlicht, dass das Brot vom Herrn stammte –, oder eben die Fallimente verkündet. 31 Für den Schuldner stellte der Kirchenruf eine empfindliche Öffentlich26 Hier und im Folgenden, mit einigen Ergänzungen: JOHANN JAKOB LEUTHY: Handbuch der schweizerischen Handels-, Gewerbs- und Niederlassungs-Verhältnisse für Beamte, Rechtsanwälte, Notare, Kaufleute, Geschäftsmänner, u. A., Bd. 4, Zürich 1849, Anhang: S. 2–14. 27 Acht und zwanzigster Rechenschaftsbericht des Obergerichts an den Großen Rath des Standes Zürich über das Jahr 1858, Zürich 1859, S. 65. 28 DAVID VON WYSS: Politisches Handbuch für die erwachsene Jugend der Stadt und Landschaft Zürich, Zürich 1796, S. 183. 29 Privatrechtliches Gesetzbuch für den Kanton Zürich, Zürich 1856, § 879. 30 Staatsarchiv St. Gallen (STASG) KA R 77.2: Anfrage des Bezirksammannamts Neutoggenburg an die Kantonsregierung St. Gallen über die Erstellung eines allgemeinen Glücksscheinsformulars, 06.12.1845. 31 RUDOLF BRAUN: Industrialisierung und Volksleben. Die Veränderungen der Lebensformen in einem ländlichen Industriegebiet vor 1800 (Zürcher Oberland), Erlenbach/Stuttgart 1960, S. 224f; FELIX MEIER: Geschichte der Gemeinde Wetzikon, hg. v. Lesegesellschaft Oberwetzikon, Zürich 1881, S. 447.
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keit dar: eine Novelle des konservativen Publizisten Johann Jakob Reithard aus dem Jahr 1848 erzählte von Furcht und Flucht eines Schuldners vor dem Kirchenruf. 32 Ein Schuldner wurde durch die Maßnahme gekennzeichnet und sein Vermögen rechtlich eingefroren. Die Sichtbarkeit ging mit Beschämung einher. In der zentralschweizerischen Stadt Luzern wurden bis 1848 die Falliten an den Dienstagen und Wochenmärkten ausgestellt. Ein Trompeter sorgte für das bezweckte Aufsehen. 1848 wurde dieses Vorgehen aufgegeben, weil Zeitungen und das Amtsblatt nun die Öffentlichkeit herstellten und weil diese Ehrenstrafe für Konkursiten als unpassend betrachtet wurde, die sich weder korrektionell zu ahndenden „Leichtsinn“ noch kriminalgerichtlich strafbaren „Betrug“ zuschulden kommen ließen. 33 Auch an Stelle des Kirchenrufs übernahmen zunehmend Zeitungen die Rolle der Vermittlung – eine Aufgabe, die ein Gesetz von 1805 nur für nötig befunden hatte, falls „der Verrechtfertigende eigentlichen Handel oder beträchtlichen Gewerb“ betrieb und für alle Übrigen die „Kirchenrüffe“ in der Heimat- und Nachbargemeinde für ausreichend hielt. 34 In den 1840er Jahren wurde dieser Radius einer face-to-face stattfindenden Öffentlichkeit für unangemessen gehalten. Die Zürcher Gantordnung hielt nun fest, dass dort, wo der Kirchenruf noch in Gebrauch sei, „derselbe allmälig durch ein anderes Ankündigungsmittel ersetzt“ werden sollte. 35 In der Gemeinde Wetzikon wurde der Kirchenruf 1852 abgeschafft, als im Zürcher Oberland eine Zeitung eingeführt wurde. 36 Die flächendeckende Verbreitung von Zeitungen und des Amtsblatts schuf neue Kanäle und erweiterte die Kollektivitäten, die in der Zwangsvollstreckung hervorgerufen wurden. Wie alltägliche Anschauung und staatlicher Vollzug sich durchdrangen, aber auch widersprachen, zeigt ein Blick auf die Fristen des Verfahrens. Während „Rechtsstillständen“ genannten Zeitspannen wurden laufende Zwangsvollstre32 JOHANN JAKOB REITHARD: Eine schweizerische Dorfgeschichte, in: Neue Alpenrosen. Eine Gabe schweizerischer Dichter, hg. v. REITHARD, Zürich/Frauenfeld 1848, S. 249–350, hier S. 338ff. Vgl. CLAUDIA WEILENMANN: Johann Jakob Reithard (1805–1857), in: Sagenerzähler und Sagensammler der Schweiz. Studien zur Produktion volkstümlicher Geschichte und Geschichten vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert, hg. v. RUDOLF SCHENDA, Bern 1988, S. 223–244. 33 Staatsarchiv Luzern (im Folgenden STALU) AKT 35.21 A.1, Antrag des Ratsmitglieds Hertenstein, 12.06.1848; Dekret des Präsidenten und Grossen Rats für einstweilige Aufhebung der öffentlichen Ausstellung der Failliten, 15.06.1848; Trompeter Kaspar Sigrist an Polizeikommission des Kantons Luzern, 08.01.1848. 34 Hochobrigkeitliche Verordnung vom 16ten Julii 1805, betreffend die Auffallsverhandlungen, Pfandbücher und Pfandversilberungen, in: Officielle Sammlung der von dem Großen Rathe des Cantons Zürich gegebenen Gesetze und gemachten Verordnungen, und der von dem Kleinen Rath emanierten allgemeinen Landes- und Polizey-Verordnungen, Bd. 3, Zürich 1808, S. 108–113, Zit. S. 108. 35 Gantordnung des Kantons Zürchs, erlassen vom Regierungsrat 9. März 1843, 21. Dezember 1843 in Gesetzessammlung aufgenommen, in: Officielle Sammlung der seit Annahme der Verfassung vom Jahre 1831 erlassenen Gesetze, Beschlüsse und Verordnungen des Eidgenössischen Standes Zürich, Bd. 7, Zürich 1843, S. 98. 36 MEIER, Wetzikon (wie Anm. 31), S. 447.
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ckungen unterbrochen und erst nach Ablauf des „Stillstands“ fortgesetzt. Die Termine folgten kirchlichen Feiertagen und agrarwirtschaftlichen Rhythmen. In den 1820er Jahren waren sie beweglich und lokal formuliert: der sommerliche Erntestillstand begann, wenn im Zürcher Sihlfeld die erste Roggengarbe aufgestellt wurde, der herbstliche Stillstand zur Weinlese dauerte, bis der Schenkhof des Chorherrenstifts geschlossen wurde. 37 In den 1830er Jahren folgten fixierte Daten. Während nicht weniger als 21 Wochen des Jahres war ein Verfahren unterbrochen. 38 In den 1850er Jahren gingen diese Schonzeiten der Schuldner auf 17 Wochen zurück. 39 Die Fristen wurden zunehmend kürzer gehalten und kommerzialisierten Verhältnissen angepasst. Die offiziellen Fristen wurden insgeheim gemildert. Die lokalen Gemeindeammänner verzögerten die Vollstreckung, vor allem vor der „Versilberung“ der Pfandstücke schreckten sie zurück. Seit mit einer liberalen Regierung 1830 im Kanton Zürich neue Formen der justiziellen Aufsicht und der Berichterstattung eingeführt wurden, erscheint ein stetiger Strom von Klagen über diese Nachlässigkeit. 40 Im Spitzenjahr 1855 gingen kantonsweit nicht weniger als 3000 entsprechende Beschwerden ein; vor allem in den nordwestlichen Agrargemeinden – zu denen auch das Dorf Oberweningen gehörte – häuften sich die Ermahnungen der Beamten vor Ort. 41 Die Gemeindeammänner folgten einer Logik lokaler Obrigkeit. Sie suchten mit ihren Verzögerungen die Fälle von Armengenössigkeit zu verhindern, welche die Gemeindegüter belasten würden. 42 In der eingangs besprochenen Episode der acht Frauen von Oberweningen hatten die Gemeindevorsteher hervorgehoben, welche Kosten die Fallimente der Gemeinde bereiteten. Als die Aufsichtsinstanz 1849 eine Anhörung der Schuldenschreiber vornahm, die den Gemeindeammännern vorstanden, meinten diese, dass es durchaus „im Willen des Creditors liege, die Versilberung nicht nach der Strenge des Gesetzes vollziehen zu lassen“, weil mit einer Einigung zwischen Schuldner und Gläubiger günstigere Resultate erzielt würden. Einen Schuldner aus dem fragilen Geflecht von Kreditbeziehungen zu 37 GOTTFRIED VON MEISS: Das Pfand-Recht und der Pfand- oder Betreibungs-Proceß in seinem ganzen Umfang. Nach den Gesetzen und der Uebung des Eidgen. Cantons Zürich/Ein civilrechtlicher Versuch, Zürich 1821, S. 127f. 38 Zürcherischer Schreibkalender auf das Jahr 1836, Zürich. 39 Zürcherischer Schreibkalender auf das Jahr 1852, Zürich. 40 Beamte verschleppten auch im Ancien Régime die Verfahren, die jährlichen Rechenschaftsberichte des Obergerichts, der Aufsichtsbehörde, sorgten ab 1832 nur für eine neue Form von Sichtbarkeit. Vgl. BRAUN, Industrialisierung (wie Anm. 31), S. 235; ERWIN KUNZ: Die lokale Selbstverwaltung in den zürcherischen Landsgemeinden im 18. Jahrhundert, Zürich 1948, S. 29. 41 Fünf und zwanzigster Rechenschaftsbericht des Obergerichts an den Großen Rath des Standes Zürich über das Jahr 1855, Zürich 1856, S. 34f. 42 Zum kommunalen Armengut als Faktor bürgerschaftlichen Ausschlusses, REGULA ARGAST: Staatsbürgerschaft und Nation: Ausschluss und Integration in der Schweiz 1848–1933, Göttingen 2007 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 174), S. 250f.; HELENE BALTENSBERGER: Das Armenwesen des Kantons Zürich vom Armengesetz von 1836 bis zu den Revisionsbestrebungen der 60er Jahre, Zürich 1940.
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reißen, würde Schneeballeffekte bergen. So kam es, meinten die Schuldenschreiber mit Blick auf die Krisenjahre der späten 1840er, dass es „in vielen Fällen dem Gemeindeammann bei dem besten Willen nicht möglich sei, die Versilberung nach gesetzlicher Vorschrift vorzunehmen, wenn er nicht […] dem Schuldner seinen Credit vollends entziehen wolle.“ 43 Mit den stillschweigenden Spielräumen der Vollstreckung und ihrer Information über die Vermögensverhältnisse der Schuldner verfügten die Gemeindeammänner über beträchtliche Macht im Dorf. Die erwähnte Erzählung Eine schweizerische Dorfgeschichte von Johann Jakob Reithard hat einen bigotten Gemeindeammann zum Protagonisten, der „seufzend sein Haupt wiegen” mochte, „wenn er am offenen Wirthstische die Namen derer nannte, die er, von Amts wegen, Schulden halber betreiben mußte und derer, welche ihm wahrscheinlich bald unter die Hände kommen würden.” 44 In der didaktischen Erzählung versuchte dieser „Mann des Rechtstriebs“, mit seinem Informationsvorsprung Vorteil aus dem Los eines unglücklichen Schuldners zu ziehen. 45 Wie in diesem Abschnitt gezeigt wurde, entwarf die Rechtsordnung auf immer wieder neue Weise Radien der Informationsverbreitung in der Zwangsvollstreckung. Damit wurden praktische und symbolische Gemeinschaften entworfen, die an mediale und administrative Formen der Sichtbarkeit geknüpft waren – eng, kommunal gefasst, wie im Kirchenruf, anonym vermittelt und den expandierenden Schuldennetzen angepasst durch Amtsblätter und Zeitungen. Ursprünglich agrarwirtschaftlich angelegt, wurden die Fristen des Rechtstriebs durch die Gemeindeammänner moderiert, die dabei Sonderinteressen lokaler Autorität verfolgten. 3 DIE FIGUR DES FALLITEN Der Konflikt zwischen den Fallitenfrauen und der Gemeindevorsteherschaft von Oberweningen 1829 war entbrannt, weil letztere sich weigerte, die fallierten Ehemänner „mit den aufrechtstehenden Hausvätern in die gleiche Kategorie zu setzen“. 46 Das Falliment bildete einen Prozess intensiver sozialer Klassifikation. Der Fallit, der seine Bürgerrechte verloren und seine rechtliche Handlungsfähigkeit weitgehend eingebüßt hatte, stellte eine Figur der Ungewissheit dar. Ein Beispiel bildet die Präsenz von Falliten an einem fiktiven Ort „irgendwo in der Schweiz“ – Seldwyla. 47 In Gottfried Kellers Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla von 1856 43 STAZH P.5.2.2. Obergericht des Standes Zürich, Aufsicht der Gemeindeammänner durch die Schuldenschreiber, 06.01.1849. 44 REITHARD, Dorfgeschichte (wie Anm. 32), S. 269. 45 REITHARD, Dorfgeschichte (wie Anm. 32), S. 309. 46 STAZH KIII 212.1–3, Gemeindevorsteherschaft Oberweningen an Kommission für administrative Streitigkeiten, 21.11.1829. 47 GOTTFRIED KELLER: Die Leute von Seldwyla, Bd. 1 (11856), in: DERS.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 4, hg. v. WALTER MORGENTHALER u. a., Basel/Zürich 2000, S. 7.
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erscheinen Falliten doppelt verfremdet. Erstens stellte sich Seldwyla als ein „Paradies des Credites“ dar. Die jüngeren Bürger der Stadt widmeten sich, so Keller, der „Betreibung eines trefflichen Schuldenverkehrs“, bis einer „muß fallen lassen“ und Konkurs anmeldete: ein solcher Fallit hielt sich dann „ferner am Orte auf als Entkräfteter und aus dem Paradies des Credites Verstoßener“. 48 Die Falliten stellten ein Parallel- und Gegenmilieu zur seldwylschen Spekulativwirtschaft dar. Der Protagonist der ersten Novelle Pankraz der Schmoller kehrte, nachdem er eine Abenteurerkarriere in der Ferne durchlaufen hatte, zurück nach Seldwyla, wo er sich sogleich „von einer ganzen Versammlung neugieriger und gemütlicher Falliten umgeben sah, wie ein alter Heros in der Unterwelt von den herbeieilenden Schatten.“ 49 Aber – zweitens – genau weil sie eine Kontrastfigur zur papiernen Kreditökonomie der Stadt bildeten, wurden diese Schattengestalten gewerblich tätig. Produktiv waren in Seldwyla die „Falliten und Alten“, indem sie „hämmerten, näheten, schusterten, klebten, schnitzelten und bastelten“. 50 Anwesend, aktiv, sind Falliten mehr als liminale Figuren des ‚bürgerlichen Tods‘. Ihr vielgestaltiger Auftritt in Seldwyla deckt sich mit der Präsenz von Falliten auf den rechtlichen Bühnen der Alltagswirtschaft. Liberale Juristen wie Friedrich Ludwig Keller bemühten sich, die – wirkungsmächtige und auch vielfach vorgebrachte – Trope vom ‚bürgerlichen Tod‘ durch das Falliment zu entkräften. 51 Zweifellos sei das Falliment ein Ereignis mit „weitumfassenden und zum Theil unheilbaren Folgen für die ganze Persönlichkeit des Falliten“, hielt Friedrich Ludwig Keller 1833 fest. 52 Und an der Vorstellung vom ‚bürgerlichen Tod‘ sei auch „etwas Wahres daran“, 53 doch rechtsfähig sei ein Fallit durchaus. Er könne erben, Vermögen erwerben und auch Schulden kontrahieren. Nur stehe den Kreditoren stets der Zugriff auf sein Vermögen offen. Vermögensgegenstände des Falliten sollten aller „Augen hingestellt, fest und nicht zu entrücken“ sein. Vor allem die Verwandlung solcher solider Vermögensstücke in andere, die „leicht verborgen, beyseite geschafft, zerstört, verbraucht“ werden könnten, sollte verhindert werden. 54 Deshalb waren dem Falliten Schenkungen aller Art verboten und besonders die Verschreibung von Immobilien versagt. Hier wurde versucht, die Vermögenssituation des 48 KELLER, Seldwyla (wie Anm. 47), S. 8. Vgl. JÖRG KREIENBROCK: Das Kreditparadies Seldwyla. Zur Beziehung von Ökonomie und Literatur in Gottfried Kellers Die Leute von Seldwyla, in: Gottfried Keller, Die Leute von Seldwyla. Kritische Studien – Critical Essays, hg. v. HANS-JOACHIM HAHN und UWE SEJA, Bern u. a. 2007, S. 117–134. 49 KELLER, Seldwyla (wie Anm. 47), S. 27. 50 KELLER, Seldwyla (wie Anm. 47), S. 19. 51 Friedrich Ludwig Keller, 1799 geboren, hatte bei Savigny in Berlin und in Göttingen studiert, wurde mit dreißig Jahren als Anführer der liberal-radikalen Partei in den Großen Rat von Zürich gewählt und war dort nach der liberalen Wende 1830 Präsident am neu eingerichteten Obergericht. Vgl. KATHARINA M. SALESKI: Theorie und Praxis des Rechts im Spiegel der frühen Zürcher und Schweizer juristischen Zeitschriften, Basel/Genf 2007 (Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte 58), S. 30, 42. 52 FRIEDRICH LUDWIG KELLER: Ueber den Rechtszustand der Falliten, in: Monatschronik der zürcherischen Rechtspflege 1 (1833), S. 113–121, Zit. S. 113. 53 KELLER, Rechtszustand (wie Anm. 52), S. 117. 54 KELLER, Rechtszustand (wie Anm. 52), S. 119.
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Falliten zu fixieren angesichts der Unsicherheit mobiler, flüchtiger Werte. Andererseits lebte ein Fallit in ständiger Ungewissheit über neue Ansprüche seiner Gläubiger. Regimewechsel wie die liberale Wende von 1830 in verschiedenen Kantonen, in religiösem Vokabular artikulierte Protestbewegungen 1839–1841, die Gründung des schweizerischen Bundesstaats 1848 oder die Verfassungsrevisionen der späten 1860er Jahre stellten konfliktreiche Wendepunkte regierungstechnischer Rationalität dar. 55 In diesen Momenten kam es zu Wellen von Petitionen an die kantonalen Regierungen. Fragen staatsbürgerlicher Rechte traten dabei auch im Zusammenhang mit den so genannten „Ehrenfolgen“ des Falliments auf. Viele Petitionen forderten eine größere räumlich-soziale Nähe zu den Vollstreckungsbeamten. Hatte in Zürich zuvor der Schuldenschreiber zentral von der Kantonshauptstadt aus mit vier Beamten die Anweisungen an die Gemeindeammänner erteilt, so verlangten die Eingaben von 1830/31 eine bezirksweise Einsetzung von elf Schuldenschreibern. 56 In den 1860er Jahren wurde die Position des Schuldenschreibers abgeschafft und den Gemeindeammännern übertragen. Nochmals enger gefasste Kreise sollten eher auf Härtefälle Rücksicht nehmen und administrative Kosten sparen. 57 Diese Aufwertung des Lokalen in einem übergeordneten Aufsichtssystem lässt sich als eine Technik liberalen Regierens interpretieren, welche die Gemeinde als ‚natürliche‘ selbstorganisierte Einheit auffasste und die Zentralgewalt eine distanzierte Kontrollfunktion ausüben ließ. 58 Politische Petitionen verbanden das Motiv des Falliten mit Staatsbürgerschaft und Männlichkeit. Staatsbürgerliche Souveränität übersetzte sich in die Stellung als Oberhaupt der Familie. Die symbolische Dimension prekärer Männlichkeit 59 ging einher mit praktischer Einbuße von Verfügungsmacht. Ein amtlich beauftragter Vogt kontrollierte die Finanzen und konnte die Einwilligung in Geldgeschäfte der Ehefrau verweigern. Wie die eingangs erwähnten acht Frauen von Oberweningen 1829 in ihrer Klage gegen die Gemeinde betonten, hatten sie die Güter an sich gezogen und damit in der Familie behalten. Behörden aus landwirtschaftlich geprägten Gegenden wollten die Besitztransfers im Fallimentsfall innerhalb der Familien belassen und hielten die im Entwurf zum zürcherischen Konkursgesetz 55 Für eine solche Lesart, MARTIN SCHAFFNER: Direkte Demokratie: ‚Alles für das Volk – alles durch das Volk‘, in: MANFRED HETTLING u. a.: Eine kleine Geschichte der Schweiz. Der Bundesstaat und seine Traditionen, Frankfurt am Main 1998, S. 189–226. 56 Ausführlich zu den Petitionen, WEINMANN, Bürgergesellschaft (wie Anm. 23), S. 204–267, bes. S. 238f. 57 STAZH M 2.18.1, Eingabe an den Verfassungsrat Nr. 18, Neumünster, 12.05.1868, für ein markantes Beispiel dieser Argumentation. 58 JOYCE, Rule (wie Anm. 22), S. 100. Vgl. auch ARGAST, Gouvernementalität (wie Anm. 22). Zur Gemeinde als zentraler Einheit im schweizerischen Nationalismus vgl. OLIVER ZIMMER: A Contested Nation. History, Memory, and Nationalism in Switzerland, 1761–1891, Cambridge u. a. 2003, S. 151; DERS.: Coping with Deviance: Swiss Nationhood in the Long Nineteenth Century, in: Nations and Nationalism 17 (2011), S. 756–774. 59 TOBY L. DITZ: Shipwrecked; or Masculinity Imperiled: Mercantile Representations of Failure and the Gendered Self in Eighteenth Century Philadelphia, in: Journal of American History 81 (1994), S. 51–80.
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von 1857 vorgesehene automatische Versteigerung von Gütern zwar für „mehr kaufmännische“ Verhältnisse „nicht ungeeignet“, aber für „die bäuerlichen Verhältnisse […] nur nachtheilig“. 60 Integrität des maskulinen Selbst durch Vorherrschaft in der Familie und ein ungeteiltes Gut: dies machten die normativen Kerne aus, die mit dem Falliment angetastet wurden. Die Vorstellung eines intakten Hauswesens blieb selbstredend auf jene Bevölkerungsteile beschränkt, die über Bodenbesitz verfügten. Das Zwangsvollstreckungsrecht zeichnete hier eine agrarische Geltungssphäre, die nur einen Ausschnitt in den industrialisierenden, von Heim- und Fabrikarbeit geprägten Verhältnissen ausmachte. 61 Es verallgemeinerte besondere, nicht allgemein gültige Bedeutungen. Dennoch wies etwas über diesen engen Rahmen hinaus: Immobilien bildeten den Anker des ländlichen Finanzverkehrs, denn bevor in den 1860er Jahren neue Kreditinstitutionen und -instrumente die Finanzsphäre ausweiteten, zirkulierten im Kanton Zürich fast ausschließlich mit Grundpfand gedeckte Schuldbriefe. 62 Der Degradierung in den bürgerlichen Rechten durch das Falliment begegneten die Petitionen, indem sie modifizierte Klassifikationen einforderten. Ende der 1840er Jahre verlangte eine Bittschrift „im Namen einer grossen Anzahl ökonomisch unglücklicher Mitbürger“ eine Unterteilung der Falliten nach Art der Umstände ihres Falliments: „Der angeführte Verfaßungsartikel [§24,4 der Kantonsverfassung von 1831, MS] setzt alle dießfalls Betroffenen in die gleiche Kategorie; den durch Unglück Fallit gewordenen Kaufmann, denjenigen, der dieses Mißgeschick aus Verfolgungssucht, sogar aus Bosheit, wegen einer Kleinigkeit traf, wie denjenigen, der große Summen verschleuderte, oder sonst leichtsinnig zu Werke gieng, und seyne Kreditoren um viele tausend Gulden schädigte.“ 63
Stattdessen, fand die Bittschrift, sollten die Behörden die Falliten in Klassen einteilen, „in unverschuldete, unzurechnungsfähige oder mit größerer Verschuldung, je nach dem Maaße der Unschuld oder Schuld.“ Die Vorstellung des unverschuldeten Unglücks wirkte daran mit, die Auffassung eines Tatsachenzusammenhangs der ‚Wirtschaft‘ zu verfestigen, der unabhängig vom Bemühen der Einzelnen war. Zwar lag nichts Neues darin, dass Falliten auf Wirtschaftskrisen verwiesen. 64 60 STAZH P 5.2.3 Bezirksgericht Regensberg zum [geplanten und 1857 eingeführten] Auffallgesetz, 12.09.1855. 61 Grundlegend zur Industrialisierung im Kanton Zürich: RUDOLF BRAUN: Sozialer und kultureller Wandel in einem ländlichen Industriegebiet im 19. und 20. Jahrhundert, Erlenbach/Stuttgart 1965; BRUNO FRITZSCHE/MAX LEMMENMEIER: Die revolutionäre Umgestaltung von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat 1780–1870, in: Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 3: 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. NIKLAUS FLÜELER u. a., Zürich 1994, S. 20–157. 62 GOTTFRIED FARNER: Das zürcherische Bodenkreditwesen unter den Anforderungen der Gegenwart, Zürich 1863, S. 2. Zum vorindustriellen ländlichen Finanzverkehr vgl. MARKUS MATTMÜLLER: Agrargeschichte der Schweiz im Ancien Régime, Bd. 2, Vorlesung im WS 1978/79 und SS 1979, Mss. Historisches Seminar Basel, Basel 1979, S. 365–392. 63 STAZH P 5.2.2. Petition von Jakob Bänz, Wülflingen, an den Grossen Rat, o. D., ca. Dezember 1849. 64 STAZH P 5.2.1 Petition Heinrich Freytag, Färber in Riesbach und J. Däniker, an den Grossen Rat 28.03.1848.
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Auch das Vokabular von ‚Unglück‘ war lange etabliert. Auf der Beurteilung eines singulären, individuellen Unglücks beruhte etwa jene Epistemologie des Einzelfalls, die das liberale Armenwesen kennzeichnete, und die ihrerseits auf die traditionsreiche Unterscheidung zwischen „würdigen“ und „unwürdigen“ Armen zurückgriff. 65 Was aber vor dem Hintergrund dieser bereits länger eingeführten Rhetorik von ‚Unglück‘ zunahm, das waren die öffentlich beobachtbaren Indikatoren wirtschaftlicher Fluktuation, etwa Konkursstatistiken. Die so genannte „Demokratische Bewegung“ der späten 1860er Jahren, die als Sammelbecken kleinbürgerlich-gewerblicher, bäuerlicher und teilweise proletarischer Kräfte kantonale Verfassungsrevisionen durchsetzte, mobilisierte mit dem Verweis auf die explosionsartig angestiegenen Konkurse in der Wirtschaftskrise jener Zeit. 66 Die Konkursstatistik, welche das Zürcher Obergericht seit 1858 veröffentlichte, fungierte als Konjunkturbarometer. Sie zeichnete ein Bild von etwas Unsichtbarem, der Wirtschaft. 67 Das oppositionelle Volksblatt vom Bachtel schrieb 1867, es würde die Zahl der Konkurse aus den letzten acht Rechenschaftsberichten des Obergerichts zu einem „Bildchen“ zusammenfügen, „welches zeigen soll ob die allgemeine soziale Wohlfahrt des Kantons in der Zunahme oder in der Abnahme begriffen sei. Zum Gegenstand des Bildes erwählen wir die jährlichen Konkurse und zwar nur diejenigen, welche nicht wieder aufgehoben, sondern durchgeführt wurden. Wenn viele Konkurse als ein Glück zu betrachten wären, so hätte sich dieses binnen acht Jahren versechsfacht; einstweilen indessen werden wir das Gegentheil anzunehmen und in dieser Erscheinung einen ernstlich beunruhigenden Krebsschaden des Landes zu erblicken haben.“ 68
Die Zeitung brachte eine besondere Maßeinheit in der Metrologie der Schulden vor, die „allgemeine soziale Wohlfahrt des Kantons“. Dieses Ganze, aggregiert aus der ausschnitthaften Konkursstatistik, bezeichnete für die Autoren ein Tatsachenverhältnis, das nach politischer Abhilfe verlangte. Wenn die Wirtschaft eine bestimmte Faktizität hatte, so lautete die Überzeugung, dann konnte persönliches, moralisches Versagen für einen Teil der Konkursiten ausgeschlossen werden. Um jene Unterscheidung zu treffen, müsste die Klassifikation abgeändert werden, forderten die Vertreter der „Demokratischen Bewegung“. Wenn ein „Familienvater“ 65 Zur Epistemologie des Einzelfalls in der bürgerlichen Philanthropie vgl. CHRISTIAN TOPALOV: Naissance du chômeur 1880–1910, Paris 1994, S. 206ff; zum Armenwesen im Kanton Zürich immer noch HELENE BALTENSBERGER: Das Armenwesen des Kantons Zürich vom Armengesetz von 1836 bis zu den Revisionsbestrebungen der 60er Jahre, Zürich 1940; da ich nur wenig vertraut mit der reichen Literatur zum frühneuzeitlichen Armenwesen bin, sei hierzu allein verwiesen auf ROBERT JÜTTE: Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit, Weimar 2000. 66 MARTIN SCHAFFNER: Die demokratische Bewegung der 1860er Jahre: Beschreibung und Erklärung der Zürcher Volksbewegung von 1867, Basel 1982, S. 121–133, bes. S. 123. 67 Für diese Darstellung des Unsichtbaren vor anderem Hintergrund, der Nationalen Buchhaltung (semi-)kolonialer Staaten im 20. Jahrhundert, vgl. MARY S. MORGAN: Seeking Parts, Looking for Wholes, in: Histories of Scientific Observation, hg. v. LORRAINE DASTON, Chicago 2011, S. 303–325. 68 Schweizerisches Volksblatt vom Bachtel, Nr. 85, 24.10.1867 [unpag.].
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durch „Mißgeschick und ungünstige Zeiten in die Lage des Falitenzustandes“ gekommen sei, fand eine Eingabe beim Verfassungsrat, solle er mittels eines neuen Gesetzes leichter rehabilitiert werden. Und falls „bei den schwächer bemitelten Geschäftsleuten eine derartige Lage (in folge Mißgeschick) durch ernsthaft geprüfte Untersuchungen und Inventarisationen nachgewiesen zu Tage tretten“, dann sei „ein solcher Familienvater“ ohnehin „weit elender und geplagter dahingestelt […] als alle andern“, und deshalb sei den Gläubigern das Recht abzusprechen, jederzeit auf die Güter des Schuldners zugreifen zu dürfen. 69 Eine präzise Inventarisierung sollte die moralische Entlastung eines – in dieser Petition zur rhetorischen Figur aufgeladenen – „Familienvaters“ ermöglichen. Die Belege sind spärlich und verlangen Vorsicht. Doch ist auffällig, wie eine spätere Eingabe, die 1880 in Luzern eine „Classification der Konkursiten“ begehrte, nicht mehr von Unglück allein, sondern von „Zufällen“ sprach: Die Petition suchte nach einer Möglichkeit für Schuldner den Beweis zu erbringen, „daß sie wirklich wegen unverschuldeter Verhältnisse u. Unglücksfälle unzahlungsfähig geworden sind. Die bisherige Gesetzgebung berüksichtigt bis jezt keine Verantwortung über solche Zufälle […]. Die Classifikation der Konkursiten bewirkt einen Schutz vor gänzlicher Ehrlosigkeit, Imoralität oder Verworfenheit u. Verwahrlosigkeit für denjenigen, der in Folge unverschuldeter Unglüksfälle an den Konkurs gerathen oder zahlungsunfähig wird.“ 70
Solche alternativen Klassifikationen verfolgten keine gegenläufige Vorstellung zur herrschenden Moral, sondern suchten die Klassifizierungslogik des Falliments von innen her auszuhebeln. Es bedeutete kein Ende der Ehrenfolgen für das wirtschaftliche Scheitern, sondern eine zunehmend objektivierte Form moralischer Evaluierung. 71 Die statistische Hervorbringung verfestigte soziale Artefakte als objektive Fakten. 72 Diese Beobachtung lässt sich mit Interpretationen in Bezug setzen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Emergenz neuer Kategorien und Objektivierungen des Sozialen postulieren. 73 Die Forderungen der Falliten müssen
69 STAZH M 2.18.1, Eingaben an den Verfassungsrat, Eingabe Nr. 17, Caspar Meyer von Uster, 12.05.1868. 70 STALU AKT 35.21 a.15, Petition an den Grossen Rath des Kantons Luzern um Classification der Konkursiten, 31.12.1880. 71 Auch mit dem Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs von 1889 blieben die kantonal unterschiedlich gestalteten so genannten „Ehrenfolgen“ bestehen. CARL SCHRÖTER: Die öffentlich rechtlichen Folgen der fruchtlosen Pfändung und des Konkurses in der Schweiz, Bern 1902. 72 Dass Statistik dabei ein politisches Kampfterrain bildete und einen unsicheren epistemischen Status hatte, zeigen u. a. MARY POOVEY: Figures of Arithmetic, Figures of Speech: The Discourse of Statistics, in: Questions of Evidence. Proof, Practice and Persuasion across the Disciplines, hg. v. JAMES CHANDLER u. a., Chicago 1994, S. 401–421, und JAKOB TANNER: Der Tatsachenblick auf die „reale Wirklichkeit“: zur Entwicklung der Sozial- und Konsumstatistik in der Schweiz, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 45 (1995) S. 94–108. 73 Mit sehr unterschiedlichen Perspektiven Christian Topalov, der die Kämpfe in der Herausbildung neuer sozialer Klassifizierungen betont, sowie Jacques Donzelot und François Ewald, welche die politische Rationalität der Versicherungslogik hervorheben. TOPALOV, Naissance (wie Anm. 65); JACQUES DONZELOT: L’invention du social. Essai sur le déclin des passions
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aber genau situiert werden: während die „Erfindung des Sozialen“, die manche historische Studien feststellen, auf der Logik verteilter Risiken fußte, in denen das Kalkül von Versicherung das Prinzip individueller Verantwortung beispielsweise von Arbeitsunfällen auflöste, bedeutete die Vorstellung vom unverschuldeten Unglück des Falliten keine Abkehr von einem moralischen Imperativ der Verantwortlichkeit. Die eingeforderte Entlastung des unverschuldeten Unglücks beruhte auf einer individuellen moralischen Diagnostik, in deren Rahmen ein Fallit seine Unschuld beweisen sollte. 74 Was indes das Argument des unverschuldeten Unglücks mit den im späten 19. Jahrhundert auftauchenden sozialen Objektivierungen teilte, war die Vorstellung eines verdinglichten, außerhalb des individuellen Bemühens stehenden Faktengefüges der Ökonomie. Die Degradierung durch den Verlust bürgerlicher Rechte bestätigte eine Grenzziehung in der Metrologie der Schulden. Aber wie die angeführten Petitionen von Falliten zeigen, blieb dieser Klassifikationsprozess nicht unwidersprochen. Der folgende Abschnitt untersucht, inwiefern diese widersprüchliche Situation auch für ihre Gegenspieler, die Gläubiger, galt. 4 KOLLEKTIVITÄT IM KONFLIKT Zwangsvollstreckung intervenierte scharf in das Beziehungsgeflecht der Beteiligten, und das Zwangsmittel des Rechtstriebs bildete eine Ressource, auf die Leute in ihren persönlichen Beziehungen zurückgriffen. Was bedeutete es für einen Gläubiger, den Rechtsweg zu beschreiten? Stand auch für ihn die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft auf dem Spiel? Die folgenden Belege stützen sich auf einen Einzelfall, den Tagebuchschreiber und Volksschriftsteller Jakob Stutz (1801– 1877). Sie zeigen, wie ein Gläubiger im pauperisierten Heimwebermilieu durch eingeforderte Verbindlichkeiten seiner Verwandtschaft unter Druck kam. Die verwendete Quelle gibt keine Aufschlüsse, in welchem Ausmaß Schuldner verwandtschaftliche Beziehungen mobilisierten – dies vermögen Analysen sozialer Netzwerke, nicht jedoch die Auswertung eines einzelnen Tagebuchs. 75 Mir geht es vielmehr darum, nachzuvollziehen, welche Erwartungen, Intentionen und Vorschläge AkteurInnen in diesen sozialen Bindungen formulierten und zu normativen Horizonten verdichteten.
politiques, Paris 1984; FRANÇOIS EWALD: Der Vorsorgestaat, Frankfurt am Main 1993 (11986). 74 Wie erwähnt, kennzeichnete eine solche individuelle Diagnostik auch die liberale Philanthropie des 19. Jahrhunderts. Vgl. TOPALOV, Naissance (wie Anm. 65), S. 203ff., 360ff. 75 Vgl. u. a. mit besonderem Bezug auf die Kategorie Verwandtschaft CHRISTINE FERTIG: Kreditmärkte und Kreditbeziehungen im ländlichen Westfalen (19. Jh.). Soziale Netzwerke und städtisches Kapital, in: Schuldenlast und Schuldenwert. Kreditnetzwerke in der europäischen Geschichte 1300–1900, hg. v. GABRIELE B. CLEMENS, Trier 2008, S. 161–175; GEORG FERTIG: Zwischen Xenophobie und Freundschaftspreis: Landmarkt und familiäre Beziehungen in Westfalen, 1830–1866, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1 (2005), S. 53–76.
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Jakob Stutz lebte im protoindustriellen Milieu des Zürcher Oberlandes, das in den 1840er Jahren den Niedergang der Baumwoll-Heimweberei erfuhr. Er war als Schriftsteller einigermaßen prominent, in der Umgebung für seine Bildungsinitiativen bekannt, und er war homosexuell. Er besetzte eine Position am Rand, aber nicht abseits der Dorfgemeinschaft, inszenierte sich als Einsiedler und lebte materiell genügsam, aber nicht vermögenslos. Nach einer Jugend als Hausknecht, Heimweber, Unterlehrer hatte Stutz seit 1831 in mehreren Bänden Dichtungen und Anekdoten mit dem Titel Gemälde aus dem Volksleben veröffentlicht. 1836 flog erstmals seine Homosexualität auf und er musste von Zürich in den Kanton Appenzell ziehen, 1841 wurde er dort wegen Homosexualität zu einer kurzen Haftstrafe verurteilt, zum Jahresbeginn 1842 zog er in die Gemeinde Sternenberg im Zürcher Oberland, wo zwei seiner Schwestern wohnten. 76 Stutz richtete in der verarmten Gemeinde eine Ersparniskasse für Kinder ein, eine Einkaufsgenossenschaft mit rotierender Einlage, die er „Schillingverein“ nannte, sowie verschiedene Lese-, Theater- und Bildungsgesellschaften. 77 Stutz hielt als Mittlerfigur zwischen bürgerlicher Philanthropie 78 und ländlich-plebejischer Umgebung eine fragile Balance. Finanzielle und soziale Beziehungen waren bei Stutz stets verwoben. Wenn er seine zahlreichen Besucherinnen und Besucher zu wohltätigen Gaben für seine „Rappenkasse“ animierte, wenn er diese Gaben weiter verteilte und die Erfolge seiner lokalen Finanzhilfen in einer selbstverfassten Zeitschrift publik machte – stets wurden Bindungen bekräftigt, umgelenkt und erweitert. Stutz integrierte die monetären Knotenpunkte, die er schuf, in seine Kämpfe um Anerkennung. 79 Doch genau diese Arbeit an der eigenen Unverzichtbarkeit machte Stutz anfällig für Forderungen aus der nächsten Umgebung. Im Nachgang der Wirtschaftskrise von 1848 und in den Teuerungswellen der 1850er Jahre nahmen die Ansprüche der Verwandtschaft zu. Die Haushaltung seines Neffen Hans Jakob
76 Die biographischen Angaben stützen sich auf JAKOB STUTZ’ Memoiren; vgl. DERS.: Siebenmal sieben Jahre aus meinem Leben. Als Beitrag zur näheren Kenntnis des Volkes. Mit einem Nachwort und einer Bibliographie von Wolfgang Haas und Anmerkungen von August Steiger, Frauenfeld 1983 (im Original erschienen 1853); Jakob Stutz 1801–1877: Zürcher Oberländer Volksdichter und Zeitzeuge. Beiträge und Würdigungen, hg. v. Antiquarische Gesellschaft Pfäffikon ZH, Pfäffikon 2001. 77 Von den 1370 EinwohnerInnen im Jahr 1846 waren 464 erwerbslos, 98 almosengenössig, über 60 Haushaltungen mussten aus dem Armengut unterstützt werden und 700 Personen waren bereits ausgewandert. Vgl. ELISABETH JORIS/HEIDI WITZIG: Brave Frauen, aufmüpfige Weiber. Wie sich die Industrialisierung auf Alltag und Lebenszusammenhänge von Frauen auswirkte (1820–1940), Zürich 1992, S. 21. 78 Er pflegte beispielsweise Kontakte zur Gemeinnützigen Gesellschaft, dem größten philanthropischen Verband der Schweiz. Zu dessen Geschichte vgl. BEATRICE SCHUMACHER u. a.: Freiwillig verpflichtet. Gemeinnütziges Denken und Handeln in der Schweiz seit 1800, Zürich 2010. 79 Ausführlicher hierzu MISCHA SUTER: Die Rappenkasse des Jakob Stutz: Erziehung zur Sparsamkeit und die Ökonomie symbolischer Güter im 19. Jahrhundert, in: Traverse: Zeitschrift für Geschichte 16 (2009), S. 120–133.
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Lattmann würde „bis an die Ohren“ in Schulden stehen, 80 notierte Stutz im Februar 1852, so dass dieser sich wohl „kaum des Fallimentes erwehren können“ werde. 81 Stutz postulierte mit seinen Bildungsbestrebungen Sparsamkeit, Entsagung, religiöse Einkehr und hielt mit distinktionsbewusster Respektabilität seinen Verwandten ihre „verkehrten Gewohnheiten“ vor. 82 Finanziell aushelfen musste er ihnen trotzdem. Im März 1852 suchte ihn seine Nichte Annalise Lattmann auf und ersuchte ihn um Geld, um ihr Frauenvermögen zu sichern. Zur Ermöglichung eines „Acordements“ mobilisierte sie verschiedene verwandtschaftliche Beziehungen: „Heute Morgens […] kam Annalise ob der Matt zu mir u bat, ich möchte ihnen doch zu einem Acordement mit ihren Kreditoren 50 fl leihen, ihre Schwester Barb: in Fehraltdorf u meine Schwester Anna, habe jede 25 fl zu diesem Zweck vorausgegeben, damit sie doch einmal aus dem Rechtstrieb könne u sie ihres hergebrachte Heirathsgut von 400 fl sich könnte zustellen lassen. Ich sicherte ihr diesen Betrag schriftlich zu. Was wollte ich anders machen? Und doch weiß ich kaum, woher ich diese Summe nehmen kann. Was mich hiebei am meisten schmerzt, ist, daß ich sicher annehmen kann, daß all dies Geld in den Bach geworfen sei, meine Neffen u die Übrigen werden ihre verderblichen Gewohnheiten in Führung ihres Hauswesens gewiß nicht ändern u ohne dies bleibt ihnen auch nur Schuldenlast von mehr als 300 fl an Zins u laufenden Kosten, ohne meine Forderung, von nahe an 200 fl.“ 83
Der erwähnte Neffe versteigerte einige Monate später sein Gut, um das Falliment abzuwenden, zog aber sogleich mit einer Gegenforderung das Heimwesen wieder an sich. 84 Stutz figurierte nun als Besitzer einer Wiese, auf der wiederum Schulden lasteten. Damit haftete er für den Fall, dass weitere Käufer ihre Zinsen nicht bezahlen konnten. Stutz sah sich „in eine arge Falle gelaufen“. 85 Erst als der Neffe ein zweites Mal sein Gut verkaufte und in eine andere Gemeinde zog, wurde die Verpflichtung abgewälzt 86 – doch auch dann kehrte der Neffe zurück, forderte und drohte, verbal und schriftlich. 87 Die Serie von Forderungen aus der Verwandtschaft riss in diesen Jahren nicht ab. Als sich die Konflikte mit einer Reihe Verwandten zuspitzten, notierte Jakob Stutz 1853: „Mir ist, es werde mir manches Unangenehme begegnen u vermuthe es darum, weil ich meinen Vetter Lattmann für eine Summe, die der Schillingverein auf der Matt an ihn zu fordern hat, an den Rechtstrieb nehmen müßte. Nun wird er wol weidlich über mich lästern, so wie sein Schwager Furrer, im Steienbach, dem ich 25 Fr: hätte leihen sollen, die ich aber nicht
80 Zentralbibliothek Zürich (im Folgenden ZBZH) MS N 626, Tagebuch Jakob Stutz, 16.01.1852, S. 18. 81 ZBZH MS N 626, 13.02.1852, S. 23. 82 ZBZH MS N 626, 16.01.1852, S. 18. 83 ZBZH MS N 626, 03.03.1852, S. 33. 84 STAZH B XI Bauma 67, Notariat Bauma, Bd. 67: Grundprotokoll Sternenberg 1849–1852. 85 ZBZH MS N 628, 19.05.1854, S. 259. 86 ZBZH MS N 628, 20.05.1854, S. 262; 13.06.1854, S. 291ff.; STAZH B XI Bauma 68, Notariat Bauma, Bd. 68: Grundprotokoll Sternenberg 1853–1862. 87 ZBZH MS N 628, 18.06.1854, S. 305; 04.07.1854, S. 329; 21.11.1854, S. 563.
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hatte, u wenn ich sie ihm hätte geben können, gewiß nicht mehr würde bekommen haben, weil er sein Hauswesen auf die verkehrteste Weise führt.“ 88
Das Zitat belegt, wie jemand seine Aussichten abwog. Jakob Stutz war in lokal wirksame Bindungen verstrickt. Die Abfuhr, die er seinen Verwandten mit dem Rechtstrieb erteilte, stellte „manches Unangenehme“ in Aussicht. Soziale Nähe ermöglichte hier Forderungen, deren Zumutungen sich der Einzelne zu entziehen suchte, aber dabei riskierte verlästert zu werden. Angesichts der drohenden Zahlungsverbindlichkeit zog seine Verwandtschaft ein komplementäres Register, soziale Verbindlichkeit. Wiederholt streuten die Verwandten Gerüchte, Stutz würde einen Lieblingsschüler aus seinem Bildungsverein finanziell bevorzugen, während er sie vernachlässige. 89 Doch auch Stutz taxierte seine Schuldner öffentlich im Dorf. Zeichen der „Hartherzigkeit“ 90 gegenüber Verwandten strahlten auf deren Kreditwürdigkeit gegenüber Drittpersonen aus – so klagte ein Vetter, dass Stutz „ihm überall den Kredit raube“, wenn Stutz ihm nichts mehr auslieh, weil sich dies herumspreche. 91 Gerüchte wirkten als Hebel in beide Richtungen, sie isolierten den Gläubiger Stutz, aber auch dessen Schuldner. In solchen personalen Beziehungen hatten Schuldner Spielräume, die in institutionalisierten face-to-faceless-Beziehungen nicht galten. 92 Kollektivität und Ausschluss präsentierten sich im Konflikt zwischen Stutz und seiner Verwandtschaft als eine Frage individueller Kräfteverhältnisse, in denen Begriffe ökonomischer Effizienz und eingeforderte Verwandtschaftssolidarität aufeinander trafen. Entgegen einer Perspektive, die ‚moralische Ökonomie‘ auf ein einzelnes traditionsbestimmtes Skript reduziert, lassen sich im hier untersuchten Konfliktfall verschiedene Register der Legitimierung ausmachen, zwischen denen Akteure auswählten. 93 Damit soll nicht behauptet werden, dass zweckrationale Maximierung diese individuellen Kräfteverhältnisse antrieb. Schulden und ihre Vollstreckungen gereichten zum Nachdenken über soziale Beziehungen, wie bei Jakob Stutz, der über die Zwangsvollstreckung seinen eigenen Status in der Dorfgesellschaft einschätzte. Wenn Stutz das Verhalten seiner Verwandten reflektierte, zeugt die von ihm verwendete Sprache ökonomischer Effizienz weniger von einer Programmatik der Zweckrationalität als von einem Mittel zur Distanznahme in einer ausweglosen Konfliktsituation, 94 waren doch seine ökonomischen Begriffe zugleich in die Vorstellung eines ‚gut geführten Hauswesens‘ eingefügt.
88 89 90 91 92
ZBZH MS N 627, 02.06.1853, S. 115. ZBZH MS N 627, 28.05.1853, S. 99; MS N 628, 23.02.1854, S. 128f. MS N 626, 14.03.1852, S. 34. ZBZH MS N 627, 25.08.1853, S. 251. Zu Recht in face-to-faceless-Beziehungen: LAURA NADER: The Life of the Law. Anthropological Projects, Berkeley 2002, S. 54ff. 93 Dazu auch SIMONA CERUTTI: Microhistory: Social Relations versus Cultural Models?, in: Between Sociology and History. Essays on Microhistory, Collective Action, and NationBuilding, hg. v. ANNA MAJIA CASTRÉN, Helsinki 2004, S. 17–40. 94 Ich verdanke diese Überlegung der ethnographischen Untersuchung von CLARA HAN: Life in Debt. Times of Care and Violence in Neoliberal Chile, Berkeley u. a. 2012, S. 49.
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5 SCHLUSS Dass Schulden einen zutiefst relationalen Modus bilden, ist unlängst wieder schlagartig ins Bewusstsein gerückt. Jüngere ethnographische ebenso wie historische Studien haben Schulden als soziale Beziehungen aufgefasst und in ihrer Temporalität und Sozialtopologie untersucht. 95 Schulden markieren ein Verhältnis, das sich „in between“ vollzieht, „when the two parties cannot yet walk away from each other“, wie die vielbachtete Analyse eines Anthropologen die Relation zwischen Gläubiger und Schuldner beschrieben hat. 96 Diese Relation war auf vielfältige Weise durch Recht vermittelt, und wenn Schulden im Moment ihrer Fälligkeit unbeglichen blieben, transformierte der Rückgriff auf das Recht diese Beziehung. 97 Relationalität verschärfte sich, wenn Schulden unbezahlbar wurden. Recht bildete eine Ressource in Schuldenbeziehungen, und zugleich war das Recht der Zwangsvollstreckung seinerseits im Fluss. Zwangsvollstreckung stellte, so hat dieser Aufsatz zu zeigen versucht, einen Schauplatz, auf dem alltägliche Konflikte und Transaktionen sich in der rechtlichen Regulierung niederschlugen. Die institutionellen Radien der Zwangsvollstreckung waren auch in einer industrialisierenden Gesellschaft eng und agrargesellschaftlich gefasst. Recht als lokales Wissen übersetzte sich in der moralischen Ökonomie der Schulden in verschiedene, widersprüchliche Kollektivitäten. Dies führte zu inkohärenten Situationen, wie dem plötzlichen Auftritt der Fallitenfrauen von Oberweningen im Sommer 1829, oder zu polymorphen sozialen Figuren, wie jener der Falliten, der „herbeieilenden Schatten“ (Gottfried Keller). 98 Die Grenzen und die Effekte, die Schulden und Zwangsvollstreckung in Bezug auf Kollektivitäten setzten, betrafen nicht nur Schuldner, sondern ebenso Gläubiger – Isolierung bildete die Kehrseite der Kollektivitäten, wie der Fall von Jakob Stutz zeigt. Weil Recht als lokales Wissen historisch situiert war, verblieben indes die Verfahren der Zwangsvollstreckung im Lauf der Zeit nicht länger ausschließlich der face-to-face-Kommunikation unter Anwesenden verhaftet. 99 In einer sich wandelnden moralischen Pragmatik und im Rahmen einer individuellen Diagnostik, die ein einzelnes ‚Unglück‘ wirtschaftlichen Scheiterns beurteilte, verfestigten sich während des 19. Jahrhunderts zunehmend distanzierte Verfahren. Die Rechts95 Zu Kredit als Medium sozialen Kontakts in der ländlichen Schweiz des 19. Jahrhunderts vgl. ALEXANDRA BINNENKADE: KontaktZonen. Jüdisch-christlicher Alltag in Lengnau, Köln/Weimar/Wien 2009, Kap. 5. 96 DAVID GRAEBER: Debt. The First 5000 Years, New York 2011, S. 122. 97 Nicht zuletzt werden Schuldenbeziehungen häufig erst durch das Medium des Rechts für eine historische Analyse zugänglich. Für ein Plädoyer, die ‚offene Rechnung‘ zum Ausgangspunkt historischer Kreditforschung zu machen, vgl. CLAIRE LEMERCIER/CLAIRE ZALC: Pour une nouvelle approche de la relation de crédit en histoire contemporaine, in: Annales HSS 67 (2012), S. 979–1009. 98 KELLER, Seldwyla (wie Anm. 47), S. 27. 99 Aus der breiten Diskussion in der Frühneuzeit-Forschung über Kommunikation unter Anwesenden kann hier nur verwiesen werden auf RUDOLF SCHLÖGL: Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden: Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 155–224.
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handlungen der Zwangsvollstreckung, die stark auf Selbstführung abstützten, bekamen im 19. Jahrhundert eine spezifisch liberale Wendung. Die massenhafte Aktualisierung überlieferter Regeln barg eine Veränderungsdrift. Verstärkt trat die Forderung auf, in die Klassifikation des Falliments die Kategorie des unverschuldeten Unglücks einzubeziehen. Dies war nicht die politische Rationalität von Risiken, die durch Versicherungslogik verteilt wurden, wie sie historische Studien für das späte 19. Jahrhundert festgestellt haben. 100 Doch in den Forderungen nach einer Klassifikation der Falliten konturierte sich eine objektive Faktenordnung der Ökonomie, und damit zog in die Konflikte um Schulden eine weitere Problematisierung ein.
100 DONZELOT, Invention (wie Anm. 73); EWALD, Vorsorgestaat (wie Anm. 73); TOPALOV, Naissance (wie Anm. 65).
„ÜEBER DAß GROßE, WEITE, UNGESTÜEME MEER“ DIE FAMILIE FAHNENSTÜCK UND IHRE BRIEFE, 1728–1765 1 Claudia Jarzebowski „Hertz viel geliebte Freunde, und Verwandte, und alle gute Bekannten. In Christo Jesu, hiermit thu ich Euch schreiben und laß Euch wissen, daß ich bin glücklich überkommen in dies Land, Amerika. Und ich kann dem Almächtigen Alwissenlichen Gott, / nicht genügsam danken der uns üeber daß große, weite, ungestüeme Meer, geholfen hat.“
Mit diesen Worten beginnt Johann Diedrich Fahnenstück (1696–1775) seinen Brief, den er am 25. Oktober 1728 an seine in Westfalen verbliebenen Freunde, Verwandte und gute Bekannte schickt. 2 Heute liegt dieser Brief in der Historical Society of Pennsylvania, zusammen mit zwei weiteren Briefen, die den Anlass für weitere Recherchen und den vorliegenden Beitrag bildeten. Anhand der drei Briefe aus den Jahren 1728, 1734 und 1765 ließ sich ein Leben erahnen, das von Hoffnungen, Errungenschaften und Enttäuschungen geprägt war. So war Johann Diedrich Fahnenstück gänzlich unerwartet der Einzige seiner unmittelbaren Familie, der diese Reise antreten sollte. Zudem gab es Schwierigkeiten in der Kommunikation, Briefe aus der Heimat blieben aus oder trafen mit mehrjährigen Verspätungen ein. Informationen blieben stecken und der ins Stocken geratene Austausch erzeugte wiederum Sorge, Angst und – auf eine spirituelle Ebene verlagert – Hoffnung, wie sich anhand der Briefe zeigen lässt. Im Großen und Ganzen aber lebte Fahnenstück mit seiner Frau und insgesamt zehn Kindern ein erfolgreiches Leben. Die Fahnenstücks wurden zu einer bekannten und angesehenen Einwandererfamilie von Ärzten, Richtern, Müllern und Uhrmachern in Pennsylvania im 18. und 19. Jahrhundert. 3 Nachdem nun also Johann Diedrich nicht mehr besonders viel von seinen in Deutschland verbliebenen Verwandten gehört, geschweige denn gesehen oder gelesen hatte und darüber, wie noch zu zeigen sein wird, auch bitter geworden war, machte sich in den 1850er Jahren ein junger Mann aus Haltern/Hagen auf 1
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Für die Unterstützung in der Recherche und anregende Diskussionen möchte ich Kerry A. Mohn (Ephrata Cloister Historical Landmark, Kurator), Eva Lehner, Lorenz Schröter sowie Gabriele Jancke herzlich danken. Erste Überlegungen zu diesem Aufsatz sind in einem Seminar an der FU Berlin im Sommersemester 2011 entstanden. Brief vom 25.10.1728: The Fahnestock Family Papers, 1726–1879, Collection Number 1930 (Historical Society of Pennsylvania, Philadelphia). Es handelt sich hier um eine kleine, in sich unsortierte Sammlung in der Historical Society, bestehend aus sechs Briefen (auf Deutsch) und Briefen sowie Berichten aus der Zeit nach 1850. The Fahnestock Genealogy. Ancestors and Descendants of Johann Dietrich Fahnestock, hg. v. HAROLD MINOT PITMAN, Concord, New Hampshire 1945, S. 20.
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nach Amerika und wurde bei Adam K. Fahnestock, 4 einem Enkel des Johann Diedrich, (1806–1887), als Ziegeleifabrikant und Möbelschreiner noch immer in Lancaster County ansässig, vorstellig. 5 Es handele sich bei ihm, Karl Steffen nämlich, mütterlicherseits um einen Nachfahren der Fahnenstücks aus Westfalen. Offenbar reiste er auf gut Glück zu der Adresse von Johann Diedrich und da dieser ein Mann hoher Reputation gewesen war und seine Kinder und Kindeskinder alle in der Gegend lebten, war es ein Leichtes Adam K. Fahnestock zu finden. Um sich zu legitimieren, legte er einen handgeschriebenen Brief von Johann Diedrich Fahnenstück vor und reiste mit diesem Brief und einem Empfehlungsschreiben des neuen Freundes weiter nach Westen. Dieser Originalbrief von Johann Diedrich war offenbar über 100 Jahre lang weitergegeben worden in der Familie und es sollte sich herausstellen, dass es noch mehrere dieser Briefe gab. Adam K. Fahnestock „then had a strong desire to possess the original letter.“ 6 Diesen konnte er schließlich über seinen Bruder, bei dem der junge Fahnenstück auf seinem Weg nach Westen unterkam, an sich bringen: „The longer I held this valuable relic, the more anxious I was to see the place of his nativity.“ 7 22 Jahre später schließlich stand Adam K. Fahnestock an dem Ort, in dem Haus, von dem aus Johann Diedrich 1726 aufgebrochen war: „This family informed me that I was the first American Fahnestock that ever called on them. I said I was much gratified at seeing Diedrich’s native place just as he has left it one hundred fifty years ago – not thirty days improvement have been made.“ 8
Diese letzte Bemerkung hätte Johann Diedrich vermutlich gefallen. Doch darf der mokante Unterton nicht darüber hinwegtäuschen, dass Adam K. Fahnestock durchaus Ergriffenheit bekundete, etwa wenn er die Blumen, die ihm aus dem Fahnenstück’schen Garten gebracht worden waren, trocknete und mitnahm nach Amerika. 1877 starb der letzte lebende Fahnenstück (des Namens) in Westfalen/Preußen. Schließlich initiierte Adam K. Fahnestock sogar einen Familienfonds, aus dem ein neuer Grabstein aus italienischem Marmor für Johann Diedrich Fahnenstück und seine Frau Anna Margaretha Wirth finanziert wurde. Dieser Grabstein ist bis heute auf dem Friedhof von Ephrata zu sehen. 9 Der Spruch auf der Rückseite des memorials lautet: 4 5 6
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Die Schreibweise des Familiennamens amerikanisiert sich im Laufe der Zeit. Die Familie Fahnenstück ist unter Fahnestock, Fahnestück und Fahnenstock in den unterschiedlichen Archiven und Quellen (s. Grabstein) verzeichnet und auffindbar. S. zu Adam Konigmacher Fahnestock auch: The Fahnestock Genealogy, hg. v. PITMAN (wie Anm. 3), S. 76f. Von Adam K. Fahnestock gibt es sogar ein Foto, s. www.rawnjournals.com/ photos/?p=O00802, 21.08.2013. Adam K. Fahnestock hat eine Erinnerungsschrift an die Begegnung mit Karl Steffen, seine Reise nach Deutschland und die Tätigkeiten nach seiner Rückkehr verfasst. Diese Erinnerungsschrift befindet sich unter dem Titel: Family Memorial of the Fahnestocks of the United States und der Signatur Fa 929.2 F157f 1879 in der Historical Society of Pennsylvania. Family Memorial (wie Anm. 6). Family Memorial (wie Anm. 6). Angaben zum Ephrata Friedhof auf: www.ephratacloister.org/virtualtour.htm, 27.08.2013, unter: #7 God’s Acre.
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„Diedrich and Margarete Father and Mother of the tribe of the Fahnestocks in the United States, who emigrated from Prussia 1726, and settled near Ephrata, PA, we reverence these our most worthy progenitors. Erected by the tribe 1878.“ 10
So schließt sich der Kreis. Aus dem einsamen Auswanderer Johann Diedrich und seiner Frau, der einmal 14 Jahre auf einen Brief wartete und keinen seiner Verwandten jemals wiedersehen sollte, wurde fast auf den Tag genau 150 Jahre nach seiner Ankunft in New York der Gründungsvater einer nunmehr ausschließlich in Amerika beheimateten Familie, die sich – nur teilweise der Semantik der Zeit geschuldet – als tribe (Stamm) selbst in Szene setzt. Dank der Erinnerungsarbeit der Nachfahren und auch dank den Archiven der Gemeinde Ephrata lässt sich der Lebensweg Johann Diedrich Fahnenstücks etwas genauer nachzeichnen und in ein Verhältnis zu seinen Briefen setzen. So soll es möglich werden, der Frage nachzugehen, aus welchen materiellen und immateriellen Ressourcen und mit welchen materiellen und immateriellen Ressourcen soziale Beziehungen gespeist werden, die über Jahre „über das große, weite, ungestüeme Meer“ hinweg gepflegt und aufrechterhalten werden. Wie verändern sich diese Beziehungen und ihre Parameter mit der räumlichen und zeitlichen Distanz? Welche neuen Quellen werden aufgetan? Welche Bedeutung hatten bzw. haben nicht verwandtschaftliche und familiäre Bindungen über Zeit und Raum hinweg? Welchen Anteil hat die Kommunikation und welche Bedeutung hat das zum Teil mehrjährige Nichtwissen umeinander? Was geschieht mit Beziehungen, in deren Pool über längere Zeit nichts „eingezahlt“ wird? Und welche Bedeutung haben persönliche Begegnungen? Um diese Fragen sinnvoll zu bearbeiten, wird zunächst eine lebensgeschichtliche Darstellung erfolgen. Dieses Leben und das seiner Familie diesseits und jenseits des ungestüemen Meeres bildet eine wichtige Bezugsgröße für das Verständnis der Briefe, das sich auf drei Ebenen von den eher materiellen zu den eher immateriellen Ressourcen hin bewegt. 1 DAS LEBEN Johann Diedrich Fahnenstück – the american settler 11 – wurde am 2. Februar 1696 in Haltern/Hagen geboren. 12 Seine Eltern waren Liborius Fahnenstück und Catharina Brenne. 13 Seine Ehefrau, Anna Margarethe Wirth, war am 27. Juli 1702 in Elberfeld geboren worden. 14 Die beiden hatten am 15. Juni 1723 ebendort ge10 Zum Grabstein s.: http://pennsylvaniagravestones.org/view.php?id=39819, 27.08.2013. 11 So lautet die emblematische Benennung in dem einzigen Buch, das zu der Familie erschienen ist: The Fahnestock Genealogy, hg. v. PITMAN (wie Anm. 3), S. 5. 12 Haltern/Hagen gehörte seit dem Erbvergleich im Konflikt um das Herzogtum Jülich-KleveBerg 1666 zum Kurfürstentum Brandenburg und damit zu Preußen. 13 Diese Angaben sind mit Skepsis zu betrachten. 14 Laut den Fahnestock Family Papers (wie Anm. 2) wurde Johann Diedrich Fahnenstück 1696, seine Frau 1702 geboren: HSP (Historical Society of Pennsylvania) 1269, S. 5. Das entspricht auch den Angaben auf den Grabsteinen des Ehepaares, die in Ephrata, PA, heute noch zu se-
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heiratet. Johann Diedrich kam aus einer bäuerlichen Familie. Es ist naheliegend, dass Johann Diedrich als der zweitgeborene Sohn sein Glück in der Ferne suchte, da der elterliche Hof an den älteren Bruder ging. Eine weitere Vermutung in der älteren Forschung stellt die Zwangsrekrutierungen für die Langen Kerls Friedrich Wilhelms in den Mittelpunkt, denen der angeblich hünenhafte Johann Diedrich entgehen wollte. 15 Zwei Söhne, Caspar (geb. 11. April 1724) und Johann (geb. im März 1726), sowie Johann Diedrichs 15jährige Schwester Katharina [Catrina] nahmen sie mit an Bord, als Anna Margaretha und Johann Diedrich Mitte 1726 von Haltern/Hagen nach Amsterdam aufgebrochen waren, um von dort nach England und schließlich nach New York zu reisen. Dort trafen sie am 29. September 1726 ein. 16 Die Reise von England nach New York hatte zehn Wochen gedauert. Zwei Wochen waren sie von Amsterdam nach England unterwegs gewesen und mindestens drei Wochen von Haltern über Duisburg nach Amsterdam. Die Reise hatte also mindestens vier Monate in Anspruch genommen. Johann Diedrich berichtet von der Seekrankheit seiner Frau und seiner Schwester. Er erwähnt insgesamt zwei Kinder, die während der Passage gestorben waren. Eines davon war sein höchstens sechs Monate alter Sohn Johann. Allerdings hätten sie das Schiff mit 105 Leuten bestiegen und mit 107 Leuten verlassen. 17 Mindestens vier Kinder waren demzufolge in diesen zehn Wochen an Bord geboren worden. In New York angekommen, wurde die Familie zunächst in Radentank [Radentantz] ansässig. 18 Zwei Jahre später hatten sie im Amwell County, New Jersey, gelegen am Raritan River, einiges Land gepachtet. 1734 bereits verfügte ihre Farm über mindestens drei Hektar eigenes Land und zahlreiche Kühe, Schweine und Pferde. Spätestens 1741 zogen sie nach Ephrata, Pennsylvania. In Ephrata hatte sich um Conrad Beissel (1691–1768) eine radikalpietistische Sekte niedergelassen, aus der später unter anderem die Sieben-Tages-Adventisten hervorgehen
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hen sind und zuletzt 1878 erneuert wurden. Auf der Homepage ancestry.com sind für beide Partner fehlerhafte Daten übermittelt. Diese halten sich jedoch hartnäckig in Internetquellen. Demnach wäre J. D. Fahnenstück 1711 geboren worden. Das kann aufgrund der Geburtsdaten seiner Kinder keinesfalls stimmen. Auch bei den Todesdaten gibt es fehlerhafte Angaben. Johann Diedrich Fahnenstock ist am 10.10.1775, seine Ehefrau ist am 29.12.1783 gestorben. Auf ancestry.com finden sich der 10.09.1775 sowie der 29.09.1783 als Todesdaten. Der 27.07.1702 als Geburtstag für Anna Margaretha Wirth ist in The Fahnestock Genealogy, hg. v. PITMAN (wie Anm. 3) überliefert, s. S. 9. The Fahnestock Genealogy, hg. v. PITMAN (wie Anm. 3), S. 10; zu den entsprechenden Rekrutierungen: VOLKER SCHOBEß: Die Langen Kerls von Potsdam. Die Geschichte des Leibregiments Friedrich Wilhelms I., 1713–1740, Berlin 2007, S. 85–104. Brief vom 15.10.1726: The Fahnestock Family Papers, 1726–1879, Collection Number 1930 (Historical Society of Pennsylvania, Philadelphia). The Fahnestock Genealogy, hg. v. PITMAN (wie Anm. 3), S. 385. Dieser Ort ließ sich auch mit gründlicher Recherche bisher nicht verifizieren. Es kann sehr gut sein, so etwa der Kurator des Ephrata Cloister, Kerry A. Mohn, dass es sich bei Radentantz um eine zufällige Bezeichnung handelte. Sie lässt sich als Radentank und Radentantz bislang auch nur für die Briefe nachweisen. Für weiterführende Hinweise bin ich dankbar.
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sollten. 19 Johann Diedrich und sein Frau lebten dort als Angehörige der Gemeinde, genannt Hausvater und Hausmutter. Sie begannen mit einer Farm von mindestens sechs Hektar. Als Fahnenstück am zehnten Oktober 1775 starb, verfügte er über acht Hektar Land, weiteres Land in der Nähe, eine Mühle, drei Häuser und zahlreiches Vieh. Mit Anna Margaretha Wirth hatte er insgesamt zehn Kinder, von denen acht das Erwachsenenalter erreichten. Caspar war 1724 noch in Haltern/Hagen geboren, Johann war auf der Reise verstorben. Die anderen Kinder waren Andreas (geb. 1728), 20 Peter (geb. 1730), Diedrich (geb. 1733), Johann (geb. 1735), Daniel (geb. 1737), das einzige Mädchen Joseba (geb. 1742), Benjamin (geb. 1747) und schließlich Borius, genannt nach seinem Großvater Liborius (geb. 1749). Zu diesem Zeitpunkt war Anna Margaretha Wirth 46 Jahre alt. Sie starb acht Jahre nach ihrem Mann, am 29. Dezember 1783 in Ephrata. Seine Schwester Katharina hatte 1729 Heinrich Dierdorff, einen Tischler aus Neuwit [Neuwied], geheiratet. Das ist interessant, weil Neuwied einer der frühen Orte für Religionsflüchtlinge war und Dierdorffs Vater später von Johann Diedrich als sehr frommer Mann bezeichnet wird. 21 Katharina und Heinrich Dierdorff hatten insgesamt acht Kinder, von denen nur drei das Kindesalter überlebten. Katharina starb bereits 1746 mit nur 36 Jahren. Ihr Mann heiratete daraufhin neu, starb aber auch bald – 1749. Seine Witwe lebte mit seinen und den gemeinsamen Kindern und ihrem neuen Mann bald ebenfalls in Ephrata. Johann Diedrich Fahnenstück begründete in diesem Land Amerika eine prosperierende Familiendynastie, die wirtschaftlich äußerst erfolgreich, religiös eingebunden in eine strenge Gemeinde und über seine ebenfalls erfolgreichen sieben Söhne und eine Tochter mit der Gesellschaft um ihn herum vernetzt war. Von allem, was überliefert ist, haben sich die acht Fahnenstücks der zweiten Generation weitgehend in der Nähe des Elternhauses angesiedelt. Zwei (Diedrich und Daniel) waren Ärzte geworden, ein Sohn, der Sägemüller wurde, lebte nahe bey Fahnenstück. Sein Sohn Peter übernahm große Mengen Land in Ephrata, Joseba heiratete einen John Ury [Urich], Benjamin wurde ebenfalls Farmer. Borius schließlich wurde Großmüller und zum Friedensrichter in Adam’s County, PA, ernannt. 22
19 S. zu Conrad Beissel: VIKTOR HANTZSCH: Art. Beissel, Johann Konrad, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 46, Leipzig 1902, S. 341–344, und zu Ephrata: JEFF BACH: Voices of the Turtledoves. The Sacred World of Ephrata, Parkville, Pennsylvania 2003. 20 Neben Johann war Andreas das zweite Kind, das noch im Kindesalter verstorben war. 21 Angabe zu Neuwied als Ort für Religions-Flüchtlinge: WALTER GROSSMANN: Städtisches Wachstum und religiöse Toleranzpolitik am Beispiel Neuwied, in: Archiv für Kulturgeschichte 62/63 (1980/81), S. 207–232; STEFAN VOLK: Peuplierung und religiöse Toleranz. Neuwied von der Mitte des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 55 (1991), S. 205–231. 22 The Fahnestock Genealogy, hg. v. PITMAN (wie Anm. 3), S. 15–29.
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2 DIE BRIEFE Auskunft über sein Leben gibt Fahnenstück vor allem in seinen Briefen. Diese Briefe sind zum Teil unter schwierigen Bedingungen entstanden und nur unzuverlässig transportiert und zugestellt worden. Mindestens ein Brief aus Deutschland war verloren gegangen und ein Brief aus Deutschland brauchte fünf Jahre. Fünfzehn Briefe liegen vor, die Johann Diedrich Fahnenstück an seinen Bruder, seine Schwestern und die Verwandten seiner Frau geschrieben hatte. Zwei Briefe (1735 und 1740) hatten seine Schwester Catrina bzw. sein Schwager, Heinrich Dierdorff, verfasst und an den unbekanten Schwager Johann Heinrich Fahnenstück gerichtet. Diese sind ebenfalls überliefert. Drei Briefe liegen im originalen Deutsch vor, die anderen Briefe sind in englischen Übersetzungen vorhanden, die nach der Kontaktaufnahme Adam K. Fahnestocks mit den deutschen Fahnenstücks aufgetaucht sind. 23 Sicher ist, dass Fahnenstück 1752 davon spricht, seit 14 Jahren nichts von den deutschen Verwandten gehört zu haben. Anhand der Daten lässt sich nachvollziehen, dass es sehr wahrscheinlich nur zwölf Jahre waren, doch ist diese Pause in den Informationen aus Deutschland bemerkenswert. Diese Briefe sind dennoch die wichtigste und auch fast einzige Quelle, um dem – etwas salopp formuliert – Beziehungs- und Sozialleben auf die Spur zu kommen. 24 Das wiederum ist ein vielversprechendes Unterfangen, denn Johann Diedrich ist ein mitteilungsfreudiger und leicht zu bewegender Zeitgenosse. Die Anzahl der Briefe und ihre Länge sowie die vielen unterschiedlichen Informationen zusammen mit dem Auf und Ab zwischen Hoffnung, Vorfreude, schleichender Enttäuschung und Einsicht in den Umstand, dass er niemanden wiedersehen wird, und wiederum Hoffnung, machen diese zu einer aufregenden und wertvollen sozialhistorischen Quelle für Aussagen zur transatlantischen Beziehungsgestaltung in der Frühen Neuzeit. Die Briefe selbst werden also im Kontext dieses Beitrags als Ressource verstanden. Die geringe Anzahl der Briefe mag für einen Zeitraum von fast 40 Jahren überraschen. Warum, fragt man sich unwillkürlich, haben sie nicht öfter geschrieben? Wie kann es zu solchen langen Pausen im Briefverkehr kommen? Johann Diedrich selbst mutmaßt darüber, ob die Verwandten nicht schrieben oder ob die Briefe verloren gingen und erläutert zu diesem Zwecke mehrfach den Ablauf des Briefverkehrs. Sie sollten, so gibt er kund, die Briefe an Peter Kollenbusch [Collenbusz] in Elberfeld übermitteln, am besten persönlich. Dieser würde sie dann zu Johannes Laubach [Bubach] in Creyfeldt [Krefeld] mitnehmen, der wiederum den Transport nach Amerika gewährleisten würde. In New York oder Philadelphia angekommen, würden den Weitertransport der Briefe andere Auswanderer über23 Sie sind abgedruckt bei: The Fahnestock Genealogy, hg. v. PITMAN (wie Anm. 3), S. 383– 407. Die deutschen Originalbriefe sehe ich demnächst in Ephrata und in der Historical Society of Pennsylvania ein. 24 Vgl. auch die herausragende Sammlung auswandererbriefe.de, die unter Leitung von Ursula Lehmkuhl an der Forschungsbibliothek Gotha/Erfurt angesiedelt ist und laufend erneuert wird und deren Schwerpunkt auf dem 19. Jahrhundert liegt.
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nehmen oder junge Leute, die als Boten arbeiteten. 25 Die beste Zeit, so Johann Diedrich, sei es, die Briefe im März in Elberfeld abzugeben, dann wären sie im September/Oktober in Amerika und könnten über den Winter beantwortet werden, bis die nächsten Schiffe den Rückweg nach Europa anträten. Johann Diedrich selbst adressiert seine Briefe an Johann Heinrich Fahnenstück in Haltern, Kirchspiel Hagen, Westfalen, Prussia. Ob die Seltenheit der Briefe dafür spricht, dass nur einige ausgewählte aufgehoben wurden, sei dahin gestellt. Sie erwecken nicht unbedingt diesen Eindruck. Doch ist die Lektüre der Briefe zunächst, auch heute noch, nervenaufreibend, denn die drei deutschen Briefe operieren gewissermaßen im dramatischen Dreischritt Glück/Hoffnung – Enttäuschung – Bitterkeit. Setzt man die Briefe jedoch in ein Verhältnis zur Lebensgeschichte und zu den anderen, in englischer Übersetzung vorliegenden Briefen, stellt sich schnell ein differenzierteres Bild ein. Eine Ebene, die sich durch die Briefe zieht, machen die zahlreichen und detailfreudigen Beschreibungen Amerikas aus. Dabei spielen Vergleiche mit der Heimat eine große Rolle. Diese erste Ebene ist am stärksten von materiellen Ressourcen geprägt, die auch als Wissensgut in Erscheinung treten. Eine zweite Ebene machen die Reisepläne oder die vermeintlichen Reisepläne der zurückgebliebenen Verwandten, vor allem seines Bruders und zweier Schwestern, und die sich damit verbindenden Hoffnungen und Erwartungen aus. Diese Reisepläne werden von Johann Diedrich sehr unterstützt, mit Hinweisen materieller Art, aber auch solchen, die von Sorge um das Überleben der Nachreisenden gekennzeichnet waren. Zudem ist auf einer dritten Ebene auffällig, dass aus den einstigen Auswanderern, die ihre deutsche Heimat aus wirtschaftlichen Gründen verlassen hatten, Angehörige einer radikalpietistischen Vereinigung wurden – die ihr Erbe bis heute pflegt. Eine Möglichkeit der Erklärung liegt darin, diese Spiritualisierung auch kompensatorisch zu verstehen, als Möglichkeit, immaterielle Ressourcen der Beziehungsfindung und Beziehungsgestaltung in der neuen Heimat, die spätestens in Ephrata ihren Ort fand, anzusetzen. Diese Ebenen sind, wie ich abschließend darlegen möchte, eng miteinander verwoben. Es zeichnet sich als sinnvoll ab, zum Verständnis dieser Auswanderergeschichte und der sie dokumentierenden Briefe Ressourcen, Interessen und Emotionen aufeinander zu beziehen. 3 DAS MATERIELLE AMERIKA Den Briefen Johann Diedrichs zufolge ist Amerika ein reich gesegnetes Land. Nach zwei Jahren spätestens meldete sich Fahnenstück bei seinen Daheimgebliebenen und berichtete über sein Fortkommen: „nun hab ich ein Gut gepachtet auf / 5 Jahr und ich hab 2 Kühe und ein Kalb, die kosten mich 25 Reichs Thlr / Und ich hab so viel Land das ich 3 Pferde haben muß. Und ich kann so / viel Kühe halten als ich will. Und ich muß alle Jahr 12 Reichs Thlr / Pacht geben. Und ich habe 2 Verken [Ferkel] die ich meste. Und alle die hier / Land haben, die müssen auch selbst Pferde 25 Brief vom 17.04.1734, in: The Fahnestock Genealogy, hg. v. PITMAN (wie Anm. 3), S. 388.
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Claudia Jarzebowski haben, denn die Leute haben / hier viele Pferde, und Sie gehen hier nicht zu Fuße, sondern sie Reiten / alle auf Pferde und Wagen wenn Sie nach der Kirche wollen […] Und hier sind so viel Tauben, daß die / Zweige von den Bäumen brechen, von lauter Tauben; ich habe all / 62 Stück in einem Schuß geschossen.“ 26
Insbesondere der Hinweis auf die Tauben ist interessant, denn in der Tat litt Nordamerika unter der sogenannten Wandertaube, die dermaßen stark gejagt wurde, dass sie Ende des 19. Jahrhundert ausgerottet war und heute nur noch ausgestopft im Museum zu betrachten ist. 27 Es handelt sich hier also mitnichten, wie sich auch vermuten ließe, um ein biblisch angehauchtes Gleichnis, sondern um die Mitteilung einer realen Erfahrung. Das Land, so Fahnenstück weiter, ist „ein gut / Fruchtbar Land. Hier wächst viel Früchte, viel Weizen, und auch / Türkischen Weizen, Roggen u. Hafer u. Gerste sähen sie hier nicht / viel, denn die Leute Backen hier Brod von Weizen, das Lassen / sie fein Mahlen und die Früchte sind hier etwas / besser.“ 28
Dieser Reichtum an fruchtbarem Land, an Nahrung, an Früchten, an Fleisch, an Vieh und Tieren kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch Defizite und Verbesserungswürdiges gibt. Zum Beispiel mangelt es an Kupferkesseln, an Kurzwaren aller Art (Bänder, Striezen, Ganten, Knöpfe, Dobelstein, Nieten, Seidentücher, Halstücher, Knopfnadeln, Nähnadeln, Kanten und Flicken etc. pp.), „denn die Frauen tragen hier großen Staht“. Damit, so Johann Diedrich, ließe sich einiges Geld machen, denn diese Waren seien „in Amerika theurer als bey uns“. Auch die Kunstfertigkeit sei gefragt: „wer gut Nähen kann, der kriegt alle Tage 48 Stüber und eine Frau / vom Binden 36 Stüber, vom Spinnen 1 Shilling und die Kost / denn hier Arbeitet Niemand auf seine eigene Kost, wo / man Arbeitet da krigt man auch die Kost. Ein Zimmer- / mann den Tag einen Reichs Thlr. Der Schneider den Tag / 36 Stüber die Schumacher verdienen hier auch viel Geld, aber / es sind hier zu wenig, ein Schmit verdient auch viel Geld“. 29
Die Währungsberechnung, das wird deutlich, geht etwas durcheinander. Doch tritt Johann Diedrich bis zum Ende des Briefverkehrs nicht davon zurück, den Daheimgebliebenen die Dinge in ihrer Währung vorzurechnen. So schreibt er nach dem Umzug nach Amwell 1734, dass er nun über 250 ha Land verfüge und dass ein Hektar soviel koste wie in Westfalen. Auch die Maßeinheiten, Acker, Morgen, 26 Brief von 25.10.1728 (aus Radentank): The Fahnestock Family Papers, 1726–1879, Collection Number 1930 (Historical Society of Pennsylvania, Philadelphia). 27 Angabe zur Wandertaube: DAVID E. BLOCKSTEIN: Passenger Pigeon. Birds of North America Species Account, Philadelphia 2002. 28 Brief von 25.10.1728 (aus Radentank): The Fahnestock Family Papers, 1726–1879, Collection Number 1930 (Historical Society of Pennsylvania, Philadelphia). 29 Brief von 25.10.1728 (aus Radentank): The Fahnestock Family Papers, 1726–1879, Collection Number 1930 (Historical Society of Pennsylvania, Philadelphia). An dieser Stelle ist auf einen Übersetzungsfehler hinzuweisen. Bei The Fahnestock Genealogy, hg. v. PITMAN (wie Anm. 3), S. 387, wurde „Wer gut nähen kann, der kriegt alle Tage 48 Stüber“ (Brief vom 25.10.1728 [aus Radentank]: The Fahnestock Family Papers, 1726–1879, Collection Number 1930 [Historical Society of Pennsylvania, Philadelphia]), als „My children earn here 48 Stueber a day“ übersetzt. Das ist sprachlich und sachlich falsch. Zudem waren die Söhne Fahnenstücks zu diesem Zeitpunkt drei Jahre (Caspar) und drei Tage (Andreas) alt.
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acre etc. gehen munter durcheinander, doch bezieht Fahnenstück die neuen amerikanischen Maße jedes Mal zurück auf die aus Deutschland bekannten. Noch 1765 rechnet er seinem in Deutschland verbliebenen Vetter die Landgüter der Söhne in Morgen vor. 30 Den reichen Ertrag rechnet Johann Diedrich ebenfalls präzise vor. Im ersten Jahr in Amwell hat er neun Scheffel Getreide gesät und 250 geerntet. Im zweiten hat er zehn Scheffel Getreide ausgesät und von der Ernte kann er, nachdem er seinen Bedarf gedeckt hatte, mindestens 200 Scheffel verkaufen. Im dritten Jahr hatte er 60 Scheffel Roggen, über 60 Scheffel Weizen, 33 Scheffel Buchweizen sowie Hafer und Flachs (alles Saatgetreide) geerntet. Dabei handelt es sich um große Erträge, wenn man bedenkt, dass ein Scheffel mindestens 55 Liter bedeutet. 31 Die Schilderung der Versorgungslage ist ein Thema, das sich durch alle Briefe zieht. Auch über die Schwester berichtet Johann Diedrich, dass sie der Saison entsprechend immer genug zu essen hätten. 32 Würden Menschen Land neu pachten oder kaufen, so handele es sich dabei zunächst um bewaldetes Land oder Buschland. Dieses müsse man sich urbar machen und sobald alle Bäume gefällt seien, so Fahnenstück, kämen die Nachbarn und würden die geglätteten Baumstämme zu Häusern aufeinander schichten und schließlich ein gezimmertes Dach aufsetzen. Seines sei zum Beispiel aus Zedernholz. 33 Dieses Land Amerika, so lässt sich feststellen, wird vor allem über seine vielen materiellen Ressourcen beschrieben, meist als Land des Überflusses. Dafür sind die Tauben, aber auch die Verweise auf das viele bestellte und noch unbestellt verfügbare Land sprechende Belege. Neben diese den natürlichen Reichtum, den unendlich anmutenden Raum und die enorme Verfügbarkeit unterstreichenden Darstellungen und Bilder gesellen sich allerdings kaum Aussagen zur sozialen Dynamik in Amerika. Lediglich einmal, 1752, beschreibt er, wie die künftigen Arbeiter und Arbeiterinnen direkt von den Schiffen wegengagiert werden. Komme ein Schiff an, so Fahnenstück, würden die, die Arbeiter brauchten, die Schiffspassage der Ankömmlinge bezahlen und diese würden das Geld dann über Jahre abarbeiten. 34 Besonders interessiert seien die, die auf potentielle Mägde, Knechte und ArbeiterInnen warteten, an den Kindern, die mit sieben und acht Jahren auf den Schiffen mitreisten und dann, bis sie volljährig wurden (Mädchen mit 18 Jahren, Jungen
30 Brief vom 17.02.1765 (aus Ephrata): The Fahnestock Family Papers, 1726–1879, Collection Number 1930 (Historical Society of Pennsylvania, Philadelphia), s. auch später in diesem Aufsatz. 31 Der preußische Scheffel liegt bei ca. 54,9 Litern: FRITZ VERDENHALVEN: Alte Meß- und Währungssysteme aus dem deutschen Sprachgebiet, Neustadt a. d. Aisch 1993. 32 Brief vom 07.11.1740 (aus Amwell): The Fahnestock Genealogy, hg. v. PITMAN (wie Anm. 3), S. 395. 33 Brief von 1736 (aus Amwell): The Fahnestock Genealogy, hg. v. PITMAN (wie Anm. 3), S. 391. 34 In der Forschung wird dieses Prinzip als „indentured servants“ oder „indentured work“ (Vertragsknechtschaft) bezeichnet. FARLEY WARD GRUBB: German Immigration and Servitude in America, 1709–1920, London 2011.
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mit 21 Jahren), arbeiten müssten, also länger als die üblichen sieben Jahre. 35 Diese Sequenz ordnet sich jedoch bereits in den stärker werdenden kritischen Diskurs ein, den Johann Diedrich in seinen Briefen auch abbildet. Dazu gehört auch die vermeintliche Verrohung und Vernachlässigung der Gottesfurcht. Die Folie der späteren Sozialkritik bildet neben dem reichen Land Amerika auch sein eigener Wohlstand. Dezidiert beschreibt er seinen Hausbau in der Ephrata Gemeinde (Canastoga) am Cocalico River. Er verfüge, nach zehn Jahren in Ephrata, bereits über zwei Häuser und baue gerade sein drittes: Dieses sei nun endlich auch aus Stein, wie sonst nur in der Stadt üblich, und verfüge über ein Kellergewölbe, das ungefähr die Hälfte des Hauses unterkellere. Im ersten Geschoss (ebenerdig) gebe es zwei größere Räume und einen weiteren in der ersten Etage. Jeder Raum verfüge über einen eigenen Ofen mit fünf Platten. Jeder Ofen wiege ungefähr 400 Pfund. 36 Im Dach lagerten sie einen Teil ihres Getreides. Die Öfen seien gusseisern, nicht geschmiedet, fügt Johann Diedrich hinzu. Das Haus sei gänzlich aus Kalkstein, den sie selbst gebrannt hätten: 350 Wagenladungen. Selbst gebrannt hätten sie auch 4000 Kacheln für Dach und Schornstein. Während also 1737 das Dach aus Zedernholz eine Erwähnung wert war, baut the american settler knapp 15 Jahre schon später das dritte Steinhaus. Interessanterweise aber dient diese Darstellung unter Umständen gar nicht so sehr dazu, den eigenen materiellen Erfolg herauszustellen. Denn durchaus weist Fahnenstück darauf in, dass sie selbst so viel zum Hausbau beitrügen, da Handwerker sehr teuer seien und sie bereits viele, etwa Maurer, beschäftigen mussten. Deren Arbeit hätte 35 Pfund gekostet. Und hier liefert er die Umrechnung ganz explizit mit: Ein Pfund sei 20 Schilling wert und ein Schilling zwölf Stüber. Die Schreiner für Böden und Fenster würden einen Taler pro Tag bekommen, was ungefähr einem Reichsthaler und 20 Stueber entspräche. Deren Bezahlung belief sich am Ende auf über 80 Pfund. En détail beschreibt er Preise und Größen der Schindeln, der Paneele, der Dielen und Scheiben. Die in Deutschland Verbliebenen können – so sie wollten – sich ein überaus genaues Bild von den Lebensbedingungen, Preisen, Umrechnungen und auch Vorlieben (Steinhäuser, Holzhäuser etc.) machen. Auch die Entfernungen und Transportwege werden kleinteilig aufgeführt. 1751 dienen diese Ausführungen nicht mehr dazu, die ausreisewilligen deutschen Verwandten auf ihr Ankommen in Amerika vorzubereiten. 1751 war Fahnenstück längst klar, dass sie nicht mehr kommen würden. Umso bemerkenswerter ist diese detailreiche Bebilderung der materiellen Umstände und Bedingungen seines amerikanischen Lebens.
35 Zu diesen alleinreisenden Kindern bzw. so weit erkennbar, Kindern, die anderen Auswanderern aus der Nachbarschaft ‚mitgegeben‘ wurden, existieren noch keine Studien. 36 Das sind knapp 190 Kilogramm.
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4 HOFFNUNGEN In diese gelegentlich überbordenden Bemessungen des amerikanischen Lebens eingeflochten sind die Sequenzen, in denen Johann Diedrich Fahnenstück seinen Hoffnungen darüber, dass der Bruder und zwei Schwestern, Gertraut und Elisabeth, ebenfalls den Weg nach Amerika antreten würden, Ausdruck verleiht. Diese Hoffnung beruhte allem Anschein nach auf einer Verabredung. Demnach war Johann Diedrich nicht ausgewandert, um unabhängig ein neues Leben in Amerika zu beginnen. Vielmehr war er als der zweitgeborene Sohn unabhängiger, um die Lage auch für den älteren Bruder und die Schwestern zu sondieren. Und genau das setzt er auch um und hierin liegt eine Erklärung für diese detailreichen Schilderungen des materiellen Lebens. Genau deshalb auch lassen sich die materiellen Ressourcen und deren Beschreibungen nicht ohne die eher immateriellen Ressourcen der Hoffnung auf Wohlergehen und Wiedersehen, des Vertrauens und der geteilten Erinnerung verstehen. Voller Tatendrang gibt Johann Diedrich seine Empfehlungen ab: So sollten die Reisenden „wohl ein Fäßchen Butter. Und ein Scheffel Brathmus, und ein / Scheffel Weizen Mehl. Und 12 Kannen Quellenwasser, Brath- / würste und etwas Speck mitbringen. Daß Ihr das auf dem Wasser / thut Essen. Denn die Schifmannskost kann man allezeit nicht / Essen.“ 37
Später sollten sich diese Hinweise noch deutlich konkretisieren, denn die Reisepläne des Bruders und der Schwestern verdichten sich. In einem knapp siebenseitigen Brief, der den Rahmen der anderen Briefe erkennbar sprengt, lässt Johann Diedrich zwölf Jahre nach seiner eigenen Ankunft gewissermaßen alles los, was er weiß, und organisiert die Reise mit allem in seiner Macht Stehenden – und das sind vor allem Ratschläge und Hinweise. Fast entschuldigt er sich dafür, dass er sich nicht abhalten lässt soviel zu schreiben. 38 Zu ihrer eigenen Sicherheit empfiehlt er dringend, mit dem Reeder Lievenus Clarense auf einem seiner Frachtschiffe als Passagiere von Amsterdam nach New York zu reisen. Dessen Schiffe nähmen maximal 130 Passagiere auf und nicht 400–700 wie die anderen, die lediglich Menschen transportierten und damit ihr Geld machten. Von diesen Schiffen seien pro Passage über 100 Tote zu beklagen, während von Lievenus Clarense solches nicht zu hören sei. Lediglich fünf Kinder und zwei alte Menschen seien hier gestorben. Um diese Informationen zu erhalten, war Johann Diedrich eigens nach New York und Philadelphia gereist und hatte mit den dort Ankommenden gesprochen. Ihre Reisekisten sollten doppelte Böden haben – in diese seien die Seiden- und Baumwollstoffe zu verstecken, um sie nicht verzollen zu müssen! Geld bräuchten sie nur für die Passage, alles andere sollten sie in Waren anlegen, die sie in Ame37 Brief vom 25.10.1728 (aus Radentank): The Fahnestock Family Papers, 1726–1879, Collection Number 1930 (Historical Society of Pennsylvania, Philadelphia). 38 Das deutsche Original wurde übersetzt als: „I cannot refrain from writing to you because I see from your letter that you want to come here next year. With brotherly love I want to advise you“, Brief vom 12.11.1738 in: The Fahnestock Genealogy, hg. v. PITMAN (wie Anm. 3), S. 392.
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rika für gutes Geld verkaufen könnten: zwei Dutzend Holzbohrer, die von C. Schrol hergestellt sein sollten, der in Kauttenberg bei Elberfeld lebte, aus Stein, um die Achsenlöcher in Räder zu bohren, ein Dutzend Messer, mindestens 20 Pfund Eisendraht und 20 Pfund Messingdraht, denn beides sei in Amerika Mangelware. Darüberhinaus: Gewehre, leichte, lange und mindestens 240 metallene Knöpfe, eine Stahlaxt von mindestens sechs Pfund, Kupferkessel und zwar die größten, die der Bruder auftreiben könne und ein bis zwei Dutzend Klappmesser sowie zwei Bügeleisen und karierte Stoffe zum Nähen. Er weist vorsorglich darauf hin, dass die Frauen bei ihnen kleine Karos bevorzugten, weiße und bunte Bänder auch. Diese Bänder sollte der Bruder bei Bruegelmann gegenüber 39 kaufen. Darüber hinaus sollte er Baumwollstoffe, aber ohne Blumendrucke, Leinen, Taschentücher und Halstücher mitbringen. Johann Diedrich bestellt außerdem noch eine Hacke, eine lange Kette, die der Bruder schwärzen soll, dann würde sie keinen Zoll kosten, und zwei Axtkeile. All dieses soll er in extra angefertigte, mit Metallplatten verstärkte Holzkisten packen. Für jeden Passagier sei eine solche Kiste erlaubt. Das Dutzend Elfenbeinkämme, deren Zinken nur zu einer Seite gehen sollten, sticht aus der Liste heraus und sollte bei Bollenberg in Elberfeld besorgt werden. Für die Reise selbst empfiehlt der jüngere dem älteren Bruder darüber hinaus geräucherte Würste, eingelegte Äpfel, Muskatnüsse und Nelken mitzunehmen: all dieses könne und solle er in Holland kaufen. Insbesondere Nelken und Muskatnüsse seien auch in Amerika von Nutzen, da sie medizinisch verwendet würden und die Menschen allezeit Angst vor Krankheiten hätten. Empfehlenswert seien auch ein Fässchen Brandy, ein Teekessel sowie Bratwürste und eine Pfanne. Holz und Kohle seien auf dem Schiff erhältlich. Er solle, so Johann Diedrich, nichts mitbringen, was er nicht genannt habe. Aus diesen vielen Hinweisen und Ratschlägen sprechen Wissen, Fürsorge und Besorgnis, Hoffnung und Freude auf das Wiedersehen. Der Einstieg in das amerikanische Leben sollte den drei Auswanderern und ihren Familien so leicht wie möglich gemacht werden und fast lässt sich der Eindruck gewinnen, als wollte Johann Diedrich selbst nach Deutschland reisen, um ihnen zu helfen. Vor allem aber dienen diesen konkreten und auf Erfahrung beruhenden Hinweise dazu, den Auswanderungswilligen die Angst zu nehmen und, aus Johann Diedrichs Perspektive, diesen Schritt in das Neue so einfach und leichtgängig wie möglich zu machen. Damit nimmt er sich gegebenenfalls auch selbst die Sorge, es könne noch etwas dazwischen kommen oder die Überseepassage könne nicht erfolgreich verlaufen. Umso enttäuschender muss die schleichende Einsicht in das Ausbleiben der offenkundig ersehnten Verwandtschaft und auch der erbetenen Güter gewesen sein, deren einige zu seinem eigenen Gebrauch bestimmt waren, er wolle sie auch bezahlen. 40 Im September 1740 hatte er noch einen Brief erhalten, in dem Johann 39 Gemeint ist, dass dieser Bruegelmann gegenüber von Johann Heinrichs Haus liegt. Das ist schon bemerkenswert, dass der american settler zwölf Jahre nach seinem Weggang diese konkreten und in die vorhandene Lebenswelt des Bruders hineinreichenden Hinweise gibt. 40 The Fahnestock Genealogy, hg. v. PITMAN (wie Anm. 3), S. 394.
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Heinrich ihm sein Leid klagte: ein harter Winter hätte ihn schwer getroffen und die Schwester Gertraut sei darüber erkrankt. Insbesondere diese Information treibt Johann Diedrich um und er lädt Gertraut explizit ein, auch alleine nach Amerika zu kommen und bei ihm und seiner Familie zu leben. Er empfiehlt ihr einen Reisekompagnon aus der Familie der Schwägerin (Johannes von Marsch) und verweist insbesondere darauf, dass sie ein von Sorgen befreites Leben erwarten würde. Gertraut war zu diesem Zeitpunkt 27 Jahre alt und noch immer unverheiratet (erst 1744 heiratet sie einen Diedrich Timann), so dass diese Perspektive durchaus sinnvoll sein musste – für sie und aus der Sicht der Brüder ebenfalls. Doch diese Logik setzt sich nicht durch. Johann Diedrich bietet sogar an, ihre Schiffspassage zu bezahlen und sie so vor Vertragsverhältnissen zu bewahren – ein deutliches Zeichen für die Verschmelzung von materiellen Ressourcen und immateriellen Interessen. Acht Jahre später fragt Johann Diedrich nach, ob die Halterner noch lebten, ob es ihnen besser ginge und insbesondere erkundigt er sich nach Gertraut. Mittlerweile waren die amerikanischen Fahnenstücks nach Ephrata gezogen, wo sie alle den Rest ihres Leben verbringen würden. Diese Änderung ihrer Adresse teilten sie eher beiläufig mit. Der Brief gilt der Sorge um die Zurückgelassenen respektive Zurückgebliebenen, über die sie zuletzt eher Beunruhigendes erfahren hatten. Johann Diedrich bittet wiederholt nachdrücklich darum, bei erstbester Gelegenheit über die Umstände in Haltern/Hagen und insbesondere über das Wohlergehen der Schwester informiert zu werden. Sie lässt er für den Fall, dass sie noch lebte, am nachdrücklichsten von allen grüßen. 41 Die Sorge um Gertraut scheint der zentrale Anlass für den Brief zu sein, der unbeantwortet bleiben sollte. Zwei Jahre später dann überzieht Johann Diedrich seine deutschen Verwandten mit den oben dargelegten Details seines Hausbaus. Die Begründung, die er dafür gibt, ist überraschend (und einmalig) bissig. Er schriebe deshalb soviel über seine materiellen Angelegenheiten, weil diese die Leute am meisten interessierten. Vermutlich hofft er, dass die Halterner wenigstens auf diese Informationen reagierten. Er persönlich halte das materielle Leben für wenig relevant, diese Fallstricke der Seele behinderten das Wort Gottes in der Welt. 42 Ohne Überleitung verfällt Johann Diedrich wieder in den Ton der brüderlichen Zuneigung und bittet inständig darum, bald Nachricht zu erhalten. Einmal im Jahr, so Johann Diedrich nach zehn Jahren ohne Nachricht, könnten sie sich schreiben, wenn Johann Heinrich die Briefe über Peter Kollenbusz oder auch über einen gewissen Zwingenberg in Krefeld schicken würde. Als dann schließlich wirklich einmal ein Brief eintrifft, 1752 nämlich, ist die Freude riesengroß (tausendfach). Und wieder schildert er sofort einen möglichen Ablaufplan für die Auswanderung, denn offenbar hatte er die Hoffnung auf ein 41 Brief vom 28.10.1748 (aus Ephrata): The Fahnestock Genealogy, hg. v. PITMAN (wie Anm. 3), S. 398f. 42 In der englischen Übersetzung: „Now, my dear brother, I have written you somewhat about our material affairs, but they cannot satisfy the soul, but instead they are more like a snare imprisoning the soul […] but people would much rather listen to material things than to God’s word“, The Fahnestock Genealogy, hg. v. PITMAN (wie Anm. 3), S. 400 (Brief vom 21.10.1750 aus Ephrata).
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Wiedersehen mit dem Bruder und den Schwestern, denn Gertraut und Elisabeth lebten, und darauf, ihnen allen ein besseres und sorgenfreies Leben bzw. Lebensabend zu ermöglichen, noch nicht ganz aufgegeben. 43 Sein Bruder war mittlerweile 58 Jahre alt. Ein Jahr später erneuert Johann Diedrich seinen Herzenswunsch, den Bruder wiederzusehen und zwar von Angesicht zu Angesicht. Neben dem Bedürfnis, den Bruder zu sehen, gibt es offenbar das Bedürfnis, mit dem Bruder zu sprechen, denn erst dann, so Johann Diedrich, könnten sie sich über vieles austauschen, worüber sich nicht gut schreiben lasse. 44 Dieses ist einer der wenigen Verweise auf eine mögliche Zensur der Briefe durch die Auswanderergesellschaften. Unter Umständen deswegen benennt Fahnenstück wiederholt den bestmöglichen Überbringungsweg der Briefe. Doch dieses reale Wiedersehen mit der Gelegenheit zur offenen Rede, so der Jüngere, werde ihnen kaum beschieden sein, denn sie würden älter werden. Auch wenn er dem Bruder, der eigenen Angaben zufolge mittlerweile an Asthma litt, deswegen von der Reise abraten müsse, so seien doch eines oder mehrere seiner Kinder ihm und seiner Frau jederzeit herzlich willkommen. Er könne ihnen zu dieser Reise nur zuraten und versichere sie all seiner möglichen Hilfe. Bildlich gesprochen, kann der Teppich, der möglichen jungen Auswanderern aus einfachen, ärmlichen bäuerlichen Verhältnissen im preußischen Westfalen Mitte des 18. Jahrhunderts hier ausgerollt wird, breiter nicht sein. Johann Diedrich dehnt seine Fürsorge auf die weitgehend unbekannten Kinder seines Bruders und seiner beiden verheirateten Schwestern aus, 27 Jahre nach seiner eigenen Auswanderung. Vor allem aber, und das scheint mir im Kontext dieses Beitrags bemerkenswert zu sein, veränderte die lange Kommunikationspause nichts an Johann Diedrichs Bereitschaft und seinem Willen, den Bruder, die Schwester, deren Kinder aufzunehmen und willkommen zu heißen. Nichts, so scheint es, kann diese Beziehung, die von so vielen Durststrecken und Erwartungen respektive Enttäuschungen gezeichnet ist, in ihren Grundfesten erschüttern. Dass es fast auf den Tag genau 100 Jahre dauern würde, bis einer der deutschen Fahnenstücks bei einem Sohn seines jüngsten Sohnes Borius vorstellig wird, konnte Johann Diedrich keineswegs vorhersehen. 1755 starb Johann Heinrich und weitere Briefe, etwa an die Schwestern, wurden bislang nicht gefunden. 45 Schließlich ist anzumerken, dass es eine bemerkenswerte, wenngleich schmale Parallelüberlieferung gibt, die in zwei Briefen besteht. Offenbar hatten Johann Diedrichs Schwester Catrina und ihr Mann Heinrich Dierdorff ebenfalls eine kleine Korrespondenz mit Johann Heinrich. 1734 oder 1735 raten sie ihnen in einem 43 In der englischen Übersetzung: „I wish that many of your people who must live so poorly were here“, The Fahnestock Genealogy, hg. v. PITMAN (wie Anm. 3), S. 403 (Brief vom 21.10.1750 aus Ephrata). 44 In der englischen Übersetzung: „If we were together and could talk face to face, I think there could be a good deal that we could say to each other, which cannot very well be written“: The Fahnestock Genealogy, hg. v. PITMAN (wie Anm. 3), S. 405 (Brief vom 21.10.1750 aus Ephrata). 45 Ein weiter unten besprochener Brief richtete sich an Johann Heinrichs ältesten Sohn (1765). Eine Recherche zu weiteren Briefen läuft.
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engagierten Brief stark von einer Auswanderung ab. Diese sei nicht ratsam, zu gefährlich die Passage über den Ozean und zu entbehrungsreich das Leben, bis es einem schließlich besser ginge. Sie selbst hätten es so erlebt. Allerdings konzedieren sie die Qualität des Ackerlandes und die guten klimatischen Bedingungen. Schließlich sichern sie ihnen ihre Unterstützung für den Fall zu, dass sie doch kämen. Interessanterweise hatte Johann Diedrich ein Postskript geschrieben, in dem er die gemeinsame Schwester als Schreiberin des Briefes ausweist und ihren Schwiegervater als einen frommen, gottesfürchtigen Mann, der bereits seit 15 Jahren in Amerika lebte. 46 In Anbetracht seiner feurigen Empfehlungsschreiben muss davon ausgegangen werden, dass er den Brief der Schwester und ihres Mannes nicht gelesen hatte, sondern lediglich die Gelegenheit für einen Gruß nutzte. Fünf Jahre später hatte sich Heinrich Dierdorff dann entschieden, dem unbekannten Schwager einen religiös aufgeladenen Brief zu schreiben, in dem er die Vorsehung Gottes zum Wegweiser über den Ozean erkor. 47 Den kalten Winter, die Hungersnot und die vielen Krankheiten, von denen er aus Deutschland gehört hatte, kündigten den Tag des Jüngsten Gerichts an, weshalb alles Materielle fruchtlos sei. Ob das Jüngste Gericht auch über Amerika hereinbrechen werde, so Heinrich Dierdorff, bliebe abzuwarten. 48 Bemerkenswert ist diese Nebenkorrespondenz aus zwei Gründen. Zum einen eröffnet sie ein anderes und für die meisten Auswanderer vermutlich weitaus realistischeres Amerikabild als es uns aus den Briefen Fahnenstücks entgegentritt. Zum zweiten aber verhandeln beide Briefe die materiellen und die immateriellen Ressourcen offensiv und spielen sie gewissermaßen gegeneinander aus. Anders Johann Diedrich Fahnenstück: Er setzt die materiellen Ressourcen sein gesamtes Leben lang für die Familie ein, die Familienangehörigen in Deutschland eingeschlossen. Der in den Briefen zum Ausdruck kommende emotionale Verlauf seines amerikanischen Lebens schwankte zwischen Hoffnung, Sorge, Bemühen und Enttäuschung hin- und her und pegelte sich schließlich dort ein, wo er die potentielle Fürsorge, die er dem Bruder und den Schwestern – literally – nur halbwegs, nämlich in Worten, nicht aber in Taten zukommen lassen konnte, auf deren Kinder und auch sein eigenes postmortales Leben ausdehnt und so seinen Frieden macht. Letztlich sprechen Heinrichs und Catrinas Briefe aber dafür, dass all das, was Johann Diedrich in steter Bemühung um das Wohlergehen der Geschwister in Deutschland schreibt, herausfindet und vorrechnet, seine Lebensumstände und ernstgemeinten Absichten und gelegentlichen Enttäuschungen getreu abbildet. Durch den Vergleich mit den Briefen der Dierdorffs wird greifbar, welche Mühen und Genauigkeiten Johann Diedrich in die Ermutigungen der Geschwister und damit auch in seine Hoffnung auf das persönliche Wiedersehen investiert, ver46 Brief von 1734/35, den Johann Heinrich am 10.07.1735 erhalten hatte, wie auf dem Briefrand vermerkt ist: The Fahnestock Genealogy, hg. v. PITMAN (wie Anm. 3), S. 390. 47 Brief vom 10.11.1740 (aus Amwell): The Fahnestock Genealogy, hg. v. PITMAN (wie Anm. 3), S. 397f. 48 Das ist eine interessante Vorstellung, dass das Jüngste Gericht gewissermaßen lokal begrenzt über die Welt hereinbrechen kann. Sie stützt die Vorstellung von der Auserwähltheit Amerikas in den radikalpietistischen Gemeinden.
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bunden mit dem Wohlergehen nicht nur der amerikanischen Fahnenstücks, sondern aller Fahnenstücks seiner Familie, gegebenenfalls über seinen Tod hinaus. 5 RESSOURCEN, EMOTIONEN, INTERESSEN Die Briefe der Fahnenstücks bieten die seltene und willkommene Möglichkeit, eine Auswanderergeschichte, die ihren Ausgang Anfang des 18. Jahrhunderts im bäuerlichen Armutsmilieu Westfalens genommen hatte, auf verschiedenen Ebenen nachzuvollziehen. 49 Dabei hat es sich als weiterführend erwiesen, materielle und immaterielle Ressourcen zunächst getrennt voneinander herauszustellen. Es hat sich gezeigt, dass sie eng miteinander verzahnt sind und sich der Umgang mit den materiellen nicht ohne die Bedeutung und Funktion der immateriellen Ressourcen erschließen lässt und umgekehrt. Es stellen sich viele Fragen: Hätte Fahnenstück seinen Geschwistern auch geraten zu kommen, wenn er es nicht zu einigem Wohlstand gebracht hätte? Warum haben die Geschwister nicht die Kraft, das Vermögen oder das Vertrauen aufgebracht, den Weg nach Amerika anzutreten und dort warmherzig und zunächst gesichert von einer großen Familie mit vielen Kindern empfangen zu werden? 50 Welchen Einfluss hatte die schleichende Einsicht in das Ausbleiben der Verwandten auf die Beziehung zu ihnen? Aber auch: Welchen Einfluss hatte das Ausbleiben der Verwandten und hatten auch die ausbleibenden Briefe und Informationen auf die Wahrnehmung von Johann Diedrich Fahnenstück als american settler, als den ihn seine Enkel und Urenkel in ihren privaten Aufzeichnungen bezeichnen (und heroisieren)? Auf diese Fragen können hier nur skizzenhaft Antworten versucht werden. Diese Antworten siedeln sich am ehesten im Feld von Ressourcen, Emotionen und Interessen an, denn diese erweisen sich als eng aufeinander bezogen. Es ist bereits deutlich geworden, dass zwischen materiellen und immateriellen Ressourcen unterschieden werden kann, dass aber die Wahrscheinlichkeit, dass materielle Ressourcen über ihre materielle Bedeutung hinausgehend aufgeladen und wirkmächtig sind, relativ hoch ist.51 Deshalb erscheint es sinnvoll, beides miteinander zu kombinieren. Im Unterschied jedoch zu symbolischen Ordnungssystemen bietet der Zugang über die Frage nach den Ressourcen die Möglichkeiten, die akteur/innenzentrierte Perspektive und die soziale Interaktion stärker in den Vordergrund zu rücken. Briefe und die in ihnen enthaltenen Informationen 49 Zum Vergleich: ANNE-KATRIN HENKEL: „Ein besseres Loos zu erringen, als das bisherige war“: Ursachen, Verlauf und Folgewirkungen der hannoverschen Auswanderungsbewegung im 18. und 19. Jahrhundert, Hameln 1996. 50 Diese Frage lässt sich zuspitzen: Hatten sie überhaupt je vor, ihrem Bruder nach Amerika zu folgen? 51 Vgl. zu der Unterscheidung in materielle und immaterielle Ressourcen: GABRIELE JANCKE: Gäste, Geld und andere Güter in der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur. Über den Umgang mit Ressourcen in einer Ökonomie sozialer Beziehungen, in: Prekäre Ökonomien. Kredit, Schulden und Konkurs in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. GABRIELA SIGNORI, Konstanz/München 2014 (Spätmittelalterstudien 4), S. 181–220.
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sind somit Ressourcen, die Briefe tragen Ressourcen wie etwa Emotionen (in Worten und in der in den detaillierten Anweisungen enthaltenen Fürsorge) und durch sie werden neue Ressourcen gebildet oder bestehende bestärkt und modifiziert. 52 Die weiblichen und männlichen Briefautoren, die im Rahmen dieses Beitrags vorgestellt wurden, konnten sowohl als einzelne Personen als auch in ihren verschiedenen Lebensphasen unterschiedliche Ziele verfolgen. Dasselbe kann für die Briefempfänger und Empfängerinnen gelten, deren Reaktionen und deren Umgang mit dem, was ihnen an Informationen und Wissen, an Zutrauen, Mut und Hoffnung zur Verfügung gestellt wurde, ganz anders umgingen als erhofft, erwartet und verabredet. Eben diese vielseitige, ungerichtete und in gewisser Weise nicht kalkulierbare Wirkung und Nutzung macht ihre Eigenheit als Ressource, die ebenso zur Verfügung steht wie gebildet werden muss, aus. Fahnenstücks – allgemein gesprochen – Freude über den nach wenigen Jahren einsetzenden wirtschaftlichen Erfolg lässt seine Erwartungen an die nachreisenden Verwandten steigen. Er plant sichtlich deren gelingende Ankunft und den gemeinsamen Vorteil durch den Verkauf von mitgebrachter Mangelware bzw. Gütern, die in Deutschland oder in Amsterdam günstiger als in Amerika zu haben waren. Geld, so betont Johann Diedrich mehrfach, sei von kaum einem Wert in diesem Land Amerika. Johann Diedrichs erstes Interesse war es, das amerikanische Terrain für die Fahnenstücks zu sondieren. Demzufolge galt seine Aufmerksamkeit den materiellen Ressourcen und dem, was sich aus ihnen machen ließ. Je deutlicher seine Interessen und die der deutschen Verwandten auseinandergingen bzw. nicht überein kamen, umso wichtiger werden die Emotionen in den Briefen. Sie treten als explizite Ressource hervor, aus der die Beziehung schöpft, bezeichnet etwa als große Freude, tausendfach bedankt, Herzliebster, Geliebter Bruder und ausgedrückt in Nachfragen, der Besorgnis um die gesundheitliche und wirtschaftliche Situation. Damit lässt sich eine neue Dimension in der historischen Emotionenforschung und gegebenenfalls ein Spezifikum der Frühen Neuzeit benennen: Emotionen werden neben materiellen Ressourcen als eine vorrangig immaterielle Ressource greifbar, deren Grenzen zu den materiellen Ressourcen fließend und notwendig durchlässig sind. Wenn Hans Medick und David Sabean bereits sehr früh „Emotionen und materielle Interessen“ als komplementäre (und eben nicht gegenläufige) Stränge in Eheschließungspraktiken (und weiter gefasst: Beziehungspraktiken) für die Frühe Neuzeit erkannt und operationalisierbar gemacht haben, so bietet diese Sichtweise einen geeigneten Anknüpfungspunkt, um Emotionen künftig nicht nur oder nicht vorrangig als von materiellen Interessen steuerbare Gefühle zu verste52 Ressourcentheorien sozialer Beziehungen, die hier Pate gestanden haben: PIERRE BOURDIEU: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Soziale Ungleichheiten, hg. v. REINHARD KRECKEL, Göttingen 1983 (Soziale Welt, Sonderband 2), S. 183–198; GABRIELE JANCKE/DANIEL SCHLÄPPI: Ökonomie sozialer Beziehungen. Wie Gruppen in frühneuzeitlichen Gesellschaften Ressourcen bewirtschafteten, in: L’Homme. Europische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 22 (2011), Heft 1: „Mitgift“, hg. v. KARIN GOTTSCHALK UND MARGARETH LANZINGER, S. 85–97.
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hen. 53 Vielmehr nehmen Emotionen vermittelnde Funktionen ein, lassen sich als Ressource für die Gestaltung von sozialen Beziehungen über große zeitliche und räumliche Distanzen hinweg verstehen. 54 In Ermangelung anderer verfügbarer Praktiken, etwa im Bereich der Alltagsbegegnung, mag diese Distanzen überwindende Eigenschaft das größte Potential von Emotionen als Ressource bergen, die ebenfalls in asymmetrischen, wenig erwiderten Beziehungen wirksam wird. Im Laufe der Zeit treten Emotionen bei Fahnenstück als eine wichtige Ressource für die Aufrecht- und Lebendigerhaltung dieser transatlantischen Beziehung immer stärker hervor und zwar weitgehend unabhängig von den Konjunkturen des Briefverkehrs. Dabei kann man sich des Eindrucks nicht wirklich erwehren, dass diese Beziehung zu den Geschwistern von Johann Diedrich mit größerem Engagement betrieben und belebt wird als es sich von deutscher Seite aus nachvollziehen lässt. Gegen Ende der Briefe – endlich! – spricht er von Eurem Geldt und Unserm Geldt, von Euch, dort bzw. uns, wir (hier) und hier. In den Briefen der ersten Jahre verläuft die Grenze auch semantisch hingegen klar zwischen einem „Uns“, das die Fahnenstücks diesseits und jenseits des großen ungestüemen Meeres umfasste, und dem Land Amerika, dem Neuen und Anderen, Vielversprechenden. Es lässt sich feststellen, dass zwischen dem „Uns“ und dem „Wir hier“ eine längere Phase des Hin und Her gelegen hat, in der die Zuordnungen fließend, anlassbedingt und uneindeutig waren. Das meint in etwa die Zeitspanne bis zum Tod des Bruders (1755). Dieser Tod wird in den Briefen nicht thematisiert. Unter Umständen führt die Feststellung, dass Johann Diedrich in seinen Beziehungsbemühungen die räumliche Distanz offensiv überbrückt, während diese Distanz für die deutschen Verwandten eher verlangsamend in der Beziehungspflege wirkt, gar nicht zu weit ab. Ein Grund dafür könnte darin gelegen haben, dass er diese große Distanz als physisch überwindbar erfahren hatte und regelmäßig andere Menschen, auch aus Elberfeld und Umgebung traf, die dieses große ungestüeme Meer überfahren hatten. Es gibt einen weiteren Brief aus dem Jahr 1765, der an die Verwandten in Lollert 55 zu Halden im Kirchspiel Hagen, adressiert ist, genauer an den werthen und geliebten Vetter Johann Heinrich Fahnenstück. Dieser Vetter, den Johann Diedrich als Kind noch gekannt haben dürfte, scheint nicht mehr als sein verstorbener Vater an der Beziehung zu seinem Onkel interessiert gewesen zu sein, denn dieser schreibt: „ich habe etlich mahl / geschrieben und keine Antwort erhalten, so weiß ich nicht ob / ihr meine Briefe bekommen, oder nicht, wenn ihr sonst schrei- / ben wollt, so schreibet eure
53 Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung, hg. v. HANS MEDICK und DAVID W. SABEAN, Göttingen 1984. 54 David Sabean hat Ähnliches für Verwandtschaft als nutzbare Größe in der Beziehungsgestaltung formuliert, s. DAVID W. SABEAN: Kinship in Neckarhausen, 1700–1870, Cambridge 1998. 55 Vgl. dazu The Fahnestock Genealogy, hg. v. PITMAN (wie Anm. 3), S. 4f. Es handelt sich bei Lollert um den Hof der Familie Fahnenstück, den Johann Heinrich geerbt hatte.
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Briefe nach Creveld an / Wilhelm [Meiker?], derselbe kann sie richtig bestellen, an seine / Bruder in Ephrata, und so bekomme ich sie gewiß.“ 56
Immerhin bedankt er sich für einen Brief, den der junge Johann Heinrich 1760 geschrieben hatte, der aber erst 1765 eingetroffen war – „weiß aber nicht wie es zugegangen / den überbringer habe nicht gesehen, auch gar nichts Von ihm gehört / habe also nichts, als nur so Viel der Brief meldet.“ 57 Damit liegt ein Hinweis auf die Verknüpfung von schriftlichen geschriebenen und mündlich überbrachten Informationen und Mitteilungen vor. Johann Diedrich war es offenbar gewohnt, neben den Brief auch mündlich Informationen aus der alten Heimat, die Deutschland bzw. Westfalen ihm nun geworden war, zu bekommen und hält es für wichtig, auf das mögliche Fehlen dieser zusätzlichen Informationen hinzuweisen. Immerhin entschließt er sich, ein weiteres Mal sein Leben zusammenzufassen und dem jungen Verwandten einen Eindruck zu vermitteln. Er schreibt: „Was meine Haußhaltung betrifft so bin ich nun / 70 Jahr alt, bin aber noch frisch und stark Gott sey Dank, meine / Haußfrau aber ist zimlich schwächlich, wir haben 8 Kinder, / alle Söhne, nur eine Tochter. 5 sind Verheyrathet, die Tochter / sambt 2 Söhnen welche 3 die Jüngsten sind noch ledig, einer / der Söhne ist ein Doctor derselbe wohnet 12 stund wegs von / mir über einem Gewesser Susquehenna genannt, woselbst / ich Vierhundert Morgen Land habe, worauf eine Mühle mit / 3 gang einem Vorsteher, der seine Vorleuthe hat, Wo sein Mehl / auf [----] [----] wie auch eine Sägemühle, auf diesem Land wohnet / erstlich der Dieter, einer auf der Mehl Mühl, und einer auf der / Sägemühl, mein ältester Sohn wohnet nahe bey mir und hält / Einen Winkel, der 2te wohnt nächst bey mir, und hat auch ein / Landgut, nun habe euch zimlich in der Kürtze meine Umstände / berichtet, mögte aber euere gerne wissen […] übrigens / schließe und empfehle euch alle nebst nochmahligen Hertzlichen / Gruß von mir meiner Frauen auch Söhnen und Tochter / mit Nahmen Seba auch meiner Söhne Weiber und biß / in den Todt getreuen und aufrichtiger Oheim, in dem Schutz / des aller Höchsten.“ 58
Diese Aufzählung ist schon fast chronikalisch, auffällig hingegen ist, dass Johann Diedrich seine Einladungen nicht erneuert. Stattdessen bittet er darum, mehr von den Lebensumständen der Verwandten zu erfahren. Ob ihm dieser Wunsch erfüllt wurde, muss offen bleiben. Weitere Briefe wurden bislang nicht gehoben. Es lässt sich also festhalten, dass Johann Diedrichs Ausgangsinteresse, die Lage in diesem Land Amerika zu sondieren, einherging mit dem Anspruch, die Beziehungen zu den deutschen Verwandten zu pflegen. Dieser zweite Aspekt wurde stärker, je mehr Zeit verging und je klarer sich das Ausbleiben der Verwandten respektive deren Planwechsel sich abzeichnete. Diesem Interesse der Beziehungspflege bleibt Johann Diedrich bis zum letzten Brief verpflichtet. Doch auch der amerikanische Johann Diedrich verändert sich über die Zeit und auch in der Beziehung zu seinen Geschwistern in Westfalen. So ist es kein Zufall, dass die 56 Brief vom 17.02.1765 (aus Ephrata): The Fahnestock Family Papers, 1726–1879, Collection Number 1930 (Historical Society of Pennsylvania, Philadelphia). 57 Brief vom 17.02.1765 (aus Ephrata): The Fahnestock Family Papers, 1726–1879, Collection Number 1930 (Historical Society of Pennsylvania, Philadelphia). 58 Brief vom 17.02.1765 (aus Ephrata): The Fahnestock Family Papers, 1726–1879, Collection Number 1930 (Historical Society of Pennsylvania, Philadelphia).
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amerikanischen Fahnenstücks 1741 in die Ephrata Gemeinde ziehen. Nicht ihre materielle Situation, die eher von Überfluss denn dessen Gegenteil gekennzeichnet war, war ausschlaggebend für diesen erneuten Umzug. Johann Diedrich begründete den Umzug vielmehr mit der bei den sogenannten Siebentägnern 59 praktizierten Gottesfürchtigkeit, dem Leben im Dienste Gottes. Sie waren nicht der Gruppe beigetreten, waren aber der 70 Menschen umfassenden, zölibatären Regeln folgenden Gemeinde als Hausvater und Hausmutter verbunden und feierten die Gottesdienste am Sabbath gemeinsam. 60 Johann Diedrich und seine Frau haben in Ephrata ihre bleibende neue Heimat gefunden, in enger Verbindung mit einer urchristlichen Spiritualisierung ihres Lebens und ihrer Lebenseinstellung. Diese Spiritualisierung unterscheidet sich maßgeblich von ihren deutschen Verwandten, nicht aber von den angeheirateten Verwandten, den Dierdorffs. Diese folgen ihnen später in die Gemeinde und Heinrich Dierdorff beklagte bereits in seinem Brief von 1735 das Vertrauen auf Gott als alleinige Grundlage eines gelingenden Lebens. Es wäre sicherlich zu kurz gegriffen, diese Spiritualisierung und den gemeindlichen, fast klösterlichen Hafen, den die Fahnenstücks nach 15 Jahren Amerika als Ort der Sesshaftwerdung erkoren hatten, in kausaler Beziehung zu der zunehmend als defizitär wahrgenommenen Beziehung zu den deutschen Verwandten zu verstehen. Die stärker werdenden Gottesbezüge dienen aber auch dazu, das Vertrauen auf ein Wiedersehen im Jenseits zu etablieren, auch in den Briefen. Zudem handelt es sich bei dieser Gemeinde fast um den einzigen nennenswerten Raum für andere soziale Beziehungen, außer familiären, die sie in Amerika eingegangen sind. Zwischen dem weltlichen Leben als einem materiellen Leben und dem spirituellen Leben als einem von immateriellen Ressourcen des Glaubens, des Gottvertrauens und der Gottesfurcht gekennzeichneten Leben wird mit dem Umzug nach Ephrata immer klarer unterschieden. Diese hier greifbar werdende Ebene der Selbstverortung kann und soll als eine Möglichkeit betrachtet werden, die unterschiedlichen Interessen auszugleichen und die emotionalen Auf- und Abwärtsbewegungen auszutarieren. Das betrifft sowohl das zunehmend religiös gebundene Leben in Ephrata als auch das nach Deutschland gewandte Verlangen, die Beziehungen nicht abbrechen zu lassen. Indem Fahnenstück Emotionen auch zur Ressource seines eigenen Lebens in Bezug auf sich selbst werden lässt, erfährt der Ressourcenbegriff eine weitere Facette. Diese liegt darin, dass es so möglich wird, neben Beziehungen auch die Beziehung zu sich selbst mit Emotionen aus dem verfügbaren Pool der immateriellen Ressourcen auszustatten. Hier ist wichtig zu betonen, dass Fahnenstück sich diesen Pool selbst verschafft, indem er diese Briefe schreibt und emotional massiv investiert. Und doch ist das, was Johann Diedrich in seinem mutmaßlich letzten Brief schreibt, als Chronik seines materiellen Lebens zu verstehen. Die Spiritualisierung wäre demnach eine Schattierung in dem Feld von Ressourcen, Interessen 59 Im 19. Jahrhundert wurden daraus die Siebentagesadventisten. 60 Ephrata wurde von C[K]onrad Beissel (1691–1768) als Abspaltung der Tunker Brethren gegründet. S. hierzu: HANTZSCH, Art. Beissel, Johann Konrad (wie Anm. 19).
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und Emotionen als den Größen, die Materielles und Immaterielles einmal verbinden und ausgleichen, ein anderes Mal separieren, oder auch gelegentlich überbrücken. Das lässt sich als kompensatorische Maßnahme ebenso lesen wie als Verweis auf eine alles verbindende Metaebene. Die Geschichte der Fahnenstücks lässt sich zum einen als Erfolgsgeschichte schreiben. Ausgezogen aus dem ärmlichen Milieu Westfalens in eine Neue Welt, erfolgreiche Farmer, aufgehoben im Glauben an Gott – materiell über Generationen abgesichert, mit zehn Kindern und drei Häusern reich gesegnet. Das ist die Lesart, die von den amerikanischen Nachfahren bevorzugt und auch geprägt wurde. Die Geschichte der Fahnenstücks lässt sich auch als Geschichte des Zögerns und der Zweifel schreiben: Reicht es in diesem Land Amerika für alle? Kommen die Geschwister? Haben wir alles getan, um ihnen das Kommen zu ermöglichen oder sie zu unterstützen? Wie lange müssen wir warten? Und schließlich: warum sind sie nicht gekommen? Drittens lässt sie sich als Geschichte stetiger Selbstermächtigung schreiben: Auch wenn sie nicht kommen, bauen wir weiter. Auch wenn sie nicht schreiben, schreiben wir weiter. Auch wenn sie nicht glauben, glauben wir weiter. Es ließen sich weitere Lesarten finden, eines aber hätten alle gemeinsam: den Bezug des eigenen Lebens auf das Leben der anderen. Aus dieser Verbundenheit heraus, die sich von der Seite Fahnenstücks aus als unverbrüchliche Verbundenheit verstehen lässt, kann es keinen so starken Zweifel geben, dass die Beziehung aufgegeben wird. Und doch handelt es sich um eine so oft unerwiderte, asymmetrische Beziehung, die den amerikanischen Fahnestocks eventuell den wirtschaftlichen und sozialen Erfolg als Rechtfertigung abverlangt, der sich in diesem Fall aber auch nachweisen lässt. 61 Eventuell ist es dieser direkte Vergleich, der es den Auswanderern so wenig nachvollziehbar erscheinen lässt, dass die Zurückgebliebenen weiterhin zurückblieben und zurückbleiben wollten. Die Vergeblichkeit ihres Bemühens bleibt in seiner wiederholt praktizierten Vergeblichkeit auch Bestandteil der Beziehungsgestaltung. 62 Und vielleicht ist es wenig überraschend, dass – anders als heute – die deutschen Verwandten weniger an den Auswanderern interessiert sind als umgekehrt. Diese hatten den Erbhof und die eingespielten sozialen Beziehungen. Das Interesse wandelte sich erst 100 Jahre später, als der eingangs erwähnte Karl Steffen mit Johann Diedrichs Briefen ausgestattet nach Amerika geschickt wurde, die alten Bande, das Aussterben der deutschen Fahnenstücks vorwegnehmend, neu zu knüpfen. 61 Vgl. zu geschönten Darstellungen, die insbesondere aus späterer Zeit stammen: „Mir in der Ferne bleibt nichts wie die Erinnerung …“. Annettes Briefe von Iowa nach Ostfriesland, 1885–1915, hg. v. UDA VON DER NAHMER unter Mitarb. v. Wolfgang Henninger, Aurich 2004. Für diesen Hinweis danke ich Gabriele Jancke. 62 Hier lässt sich Fogleman ergänzen, dessen Hopeful Journeys die emotionale Dimension vor allem in der Ankunftsgesellschaft verorten: AARON SPENCER FOGLEMAN: Hopeful Journeys. German Immigration, Settlement, and Political Culture in Colonial America, 1717–1775, Philadelphia 1996.
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In Bezug auf eine Ökonomie sozialer Beziehungen muss konstatiert werden, dass verschiedene Ökonomien am Werk waren. Diese waren jeweils in unterschiedlichen räumlichen und sozialen Kontexten verortet und speisten sich aus unterschiedlichen Quellen, an Erfahrungen, an Eindrücken, an Bedürfnissen und gegenseitigen Ansprüchen, und materiellen sowie immateriellen Interessen. Der sich daraus ergebende Pool an Ressourcen, aus dem geschöpft wurde, wurde unterschiedlich bestückt und genutzt. Die amerikanischen Fahnenstücks greifen, bildlich gesprochen, tiefer hinein, holen deutlich mehr heraus und tragen auch stärker zu seiner Aufrechterhaltung bei als die deutschen Fahnenstücks. Emotionen sind konstitutiver Bestandteil dieser Ökonomien (reich und ausdauernd auf der einen, sparsam – zumindest in Ausdruck und Schreibpraxis – auf der anderen Seite). Bemerkenswert ist die Raum und Zeit überdauernde polyvalente Gültigkeit von Emotionen als Ressourcen in den Ökonomien sozialer Beziehungen, in Bezug auf den transatlantischen Anfang und die Veränderung im Laufe von 100 Jahren. Aus dem Angewiesensein der einen wurde das Angewiesensein der anderen und die amerikanischen Fahnestocks erweisen sich als großzügig in ihren emotionalen Ressourcen, auch nach 100 Jahren. Die transepochale Dimension ermöglicht dabei neuartige Erkenntnisse über (i) das emotionenhistorische Potential in einer an Ressourcen interessierten Lesart von Geschichte und (ii) lässt sich die Frage nach den Speichermedien für die Ressource Emotionen sowie die Modi ihrer Abrufbarkeit über lange Zeiträume hinweg stellen. Als Karl Steffen den Brief Johann Diedrichs vorweist, kannten weder Karl noch Adam Fahnestock den Vorvater. Adams Begehrlichkeit ist sofort geweckt – es verlangt ihn nach dem Brief und die Reise nach Haltern/Hagen dient unter anderem dem Zweck, weitere Briefe zu heben und zu sichern. Die ‚deutsche‘ Seite hingegen trennt sich nun, nachdem die Briefe einen weiteren Zweck erfüllt hatten und der Kontakt vorübergehend etabliert war, leicht von diesen Relikten aus einer nun vergangenen Zeit. Dass die Briefe Johann Diedrich Fahnenstücks so lange aufbewahrt und weitergereicht wurden, spricht dafür, dass sie für die deutschen Verwandten, an die sie adressiert waren, zunächst einen materiellen und immateriellen Wert besessen hatten. Dass sie 100 Jahre später zu der Ressource wurden, mit der sich die gemeinsame Abstammung und Beziehung verifizieren ließ, ließ diesen Briefen, die so oft unbeantwortet geblieben waren, späte Gerechtigkeit widerfahren. Umso eindrucksvoller ist die Geste, den amerikanischen Fahnestocks ein steinernes Denkmal zu setzen und so die Eigenständigkeit der amerikanischen Familie zu untermauern.
MANUS MANUM LAVAT. VON DER ÖKONOMIE DES EHEGLÜCKS – DIE HAUSHALTUNG IN DER POPULÄREN DRUCKGRAPHIK Kristina Bake „Haushaltung, ist eine derer trefflichsten Wissenschafften, dadurch der Menschen Glückseligkeit am ersten erlanget wird“, 1 stellt Zedler fest und unterscheidet zwei Bereiche der Haushaltung: das fürstliche Kameralwesen und „die gemeine Oeconomie“, die von allen Menschen „entweder in der Stadt oder auf dem Lande in Eingangs erwehnter Absicht angestellet wird“. 2 Die Vielzahl der Einträge im Zedlerschen Lexikon, die sich der Ordnung des Hauses und den Aufgaben seiner Bewohner widmen, zeugt vom hohen Stellenwert des Haushaltens für die Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. 3 Dies korrespondiert mit dem Befund, der sich aus der Auswertung eines umfangreichen Konvoluts moralsatirischer Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts ergibt, 4 in denen die Ehe sowie – unmittelbar damit verbunden – der Umgang mit den materiellen und immateriellen Ressourcen eines Haushalts direkt oder indirekt thematisiert werden. Ausgangspunkt dieses Beitrages ist die Beobachtung, dass bildliche Darstellungen in Verbindung mit den ihnen beigegebenen Texten für eheliche Haushalte die Frage stellen, unter welchen Voraussetzungen eine partnerschaftliche Ökonomie funktionieren könnte oder sollte. Dabei ist das materielle Wirtschaften eine (zugegebenermaßen wichtige) Kategorie unter mehreren. Bei genauem Hinsehen kommen dann aber auch andere Ressourcen in den Blick, die flüchtig sind und erheblicher Investitionen bzw. Anstrengungen bedürfen – von Bedeutung sein können aus der Sicht der Künstler und Textverfasser etwa körperliche und alltägliche Liebe, Respekt, Kommunikation, Konflikt- bzw. Konsensfähigkeit, der Charakter (exemplarisch dafür der Topos des ‚zänkischen Weibes‘), Verzichtbereitschaft, Anpassungsfähigkeit, das Management der Außenbeziehungen des Haushaltes etc.
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JOHANN HEINRICH ZEDLER: Art. Haushaltung, in: DERS.: Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste, Leipzig u. a. 1732−1754, Bd. 12 (1735), Sp. 902f., hier Sp. 902. ZEDLER, Art. Haushaltung (wie Anm. 1), Sp. 902. Zum Haushalten in der Frühen Neuzeit s.: KARIN GOTTSCHALK: Eigentum, Geschlecht, Gerechtigkeit. Haushalten und Erben im frühneuzeitlichen Leipzig, Frankfurt am Main/New York 2003 (Geschichte und Geschlechter 41), S. 92–180. KRISTINA BAKE: „Spiegel einer Christlichen vnd friedsamen Haußhaltung“. Die Ehe in der populären Druckgraphik des 16. und 17. Jahrhunderts, Wiesbaden 2013 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 49).
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Die Fragestellung richtet sich im Folgenden auf eine Ökonomie in sozialen Beziehungen, wie sie in diesen Quellen entfaltet wird, und insbesondere auf die in sozialen Beziehungen eingelagerten ökonomischen Logiken. Flugblätter, die zumeist Bild(er) mit Text(en) verbinden, wurden häufig anonym sowie in großen Auflagen produziert. Aus diesen Gründen ebenso wie auch wegen ihrer in der Regel minderen künstlerischen Qualität wurden sie als populäre Druckgraphik traditionell in der Volkskunde verortet und von der kunsthistorischen Forschung ignoriert. Das Burleske, das den moralsatirischen Flugblättern oft eignet, mag ebenfalls zu diesem Umstand beigetragen haben. Obwohl sich diverse Untersuchungen dem Medium der populären Druckgraphik, welches sich durch ein breites Themenspektrum auszeichnet, widmeten, wurde die spezifische Art, in der hier Ehekonzepte und Geschlechterrollen vermittelt wurden, nicht systematisch untersucht. Dieses Desiderat stand in Kontrast zur umfangreichen Forschung zur Geschlechtergeschichte, deren Ergebnisse für die Analyse der Flugblätter genutzt wurden. Die im 15. Jahrhundert mit dem Buchdruck sich herausbildende Gattung der Flugblätter setzte sich im Zuge der Reformation als schnelles und billiges Mittel der Nachrichtenvermittlung und Propaganda durch. 5 Während im 16. Jahrhundert die oberdeutschen protestantischen Städte Nürnberg, Augsburg (seit 1548 paritätisch), Basel und Straßburg Zentren der Flugblattproduktion waren, etablierte sich diese mit der einsetzenden Gegenreformation auch in den katholischen Städten Süddeutschlands (Köln). An der Produktion der Drucke waren mehrere Personen (Autor, Entwerfer, Stecher/Schneider, Drucker/Verleger) beteiligt, durchschnittlich wurden 1000 Abzüge gemacht, die auf Messen oder durch Kolportage verkauft wurden. 6 Die Bezeichnung ‚Flugblatt‘ verweist sowohl auf den Umstand des einzelnen, lose verkauften Blattes als auch auf den mobilen Verkauf. Nachdem das junge Medium zuerst religiöse Themen verarbeitete, wurde es im Verlauf der Reformation zur Polemik zwischen den Konfessionen sowie zunehmend zur Vermittlung einer allgemeinen Morallehre genutzt. Für den konfessionell geteilten deutschen Sprachraum war konfessionelle Neutralität der Inhalte bei diesen Themen der Verkäuflichkeit von Nutzen. 7 Davon abgesehen, dass Flugblätter nachweislich auf Märkten vorgetragen oder in Wirtshäusern ausgehängt wurden, ist über die Rezeption
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Grundlegend zum Flugblatt sind die Arbeiten von Wolfgang Harms und Michael Schilling: Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450–1700). (Tagung in Ascona, Monte Verità), hg. v. WOLFGANG HARMS und ALFRED MESSERLI, Basel 2002; MICHAEL SCHILLING: Bildpublizistik in der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700, Tübingen 1990 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 29). Schilling gibt 1000 bis 2000 Abzüge an: SCHILLING, Bildpublizistik (wie Anm. 5), S. 25. Einer der bekanntesten Autoren, der das Medium Flugblatt gezielt zur Verbreitung seiner Texte, die sich oft der Ehe widmeten, nutzte, war der Nürnberger Hans Sachs (1494–1576). MICHAEL SCHILLING: Der Meister der Medien. Hans Sachs und die Bildpublizistik, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 102, 3 (2008), S. 363–393.
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nur in Ausnahmefällen etwas überliefert. 8 Das betrifft erst recht die Frage, ob die dargestellten satirischen Inhalte auf Heiterkeit oder Entrüstung stießen bzw. zur Nachahmung oder Distanzierung motivierten. Im Gegensatz zu den ausschließlich männlichen Produzenten erfolgte die Rezeption durch beide Geschlechter. Aus verkaufstaktischen Gründen musste das potentielle Publikum so groß wie möglich gehalten werden. 1 VERHÄLTNIS DER EHELEUTE ZUEINANDER Eine Szene von Johann Stridbeck d. J. „Sprich und Denck=Wörter Figuren, zu Nutz und Belustigung Vorgestellet“ (1) 9 setzt den Begriff ‚Haushaltung‘ ganz wörtlich um: „Der Mann helt Haus die frau geth Lauffen“ zeigt, wie ein Mann in nahezu hockender Haltung mit seinem Rücken ein kippendes Haus zu halten versucht, während seine Frau mit wehendem Gewand das Weite sucht. Die Szene führt eine verkehrte Welt vor Augen, in der die Frau das Haus, ihren angestammten Arbeitsbereich, verlässt, während der Mann dem Haus unmittelbar verbunden ist. Das Bild führt ganz wörtlich die existenzielle Bedeutung des Haushaltens vor Augen, die nach Zedler nicht nur in der Kunst bestand, Besitz zu erwerben, sondern ihn vor allem „durch klügliche Anwendung, und verständige Sparsamkeit […] zu vermehren“ 10 sucht – eine Aufgabe, die idealerweise nur gemeinsam von einem Ehepaar wahrgenommen werden konnte. Stridbecks Druck lässt offen, ob das Haus erst als Folge der Flucht der Frau ins Wanken kam oder ob es bereits vorher Schaden genommen hatte. In diesem Fall hätten die mangelnden oder fehlenden haushälterischen Fähigkeiten der Frau den Verfall des Hauses verursacht, während den Mann, in der Legende als Haushalter bezeichnet, keine Schuld treffen würde. Flugblätter, welche die Ehe und/oder Haushaltung thematisieren, reflektieren menschliches Verhalten in der weiten Spanne zwischen Ideal und Realität. Den Eindruck, dass diese nicht zwangsläufig einander ausschließen müssen, erwecken die „Spiegel einer Christlichen vnd friedsamen Haußhaltung“, welche – und das belegt ihre verkaufsförderliche Beliebtheit – in mindestens drei Varianten mit unterschiedlichen Bildern erschienen, deren Texte aber (abgesehen von mundartlichen Eigenheiten) identisch sind. Während der anonyme (2) 11 sowie der Druck
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ALFRED MESSERLI: War das illustrierte Flugblatt ein Massenlesestoff? Überlegungen zu einem Paradigmenwechsel in der Erforschung seiner Rezeption, in: Wahrnehmungsgeschichte, hg. v. HARMS und MESSERLI (wie Anm. 5), S. 23–31, hier S. 29. 9 Abb. in: BAKE, Haushaltung (wie Anm. 4), S. 452, und alternativ in: www.virtuelles-kupferstichkabinett.de/index.php?selTab=3¤tWerk=39919&. Die in Klammern vermerkten Zahlen beziehen sich auf die Nummern im am Ende dieses Beitrags abgedruckten Verzeichnis der erwähnten Druckgraphiken. 10 ZEDLER, Art. Haushaltung (wie Anm. 1), Sp. 902. 11 Abb. in: BAKE, Haushaltung (wie Anm. 4), S. 431.
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von Fürst (3) 12 eine Familie am Tisch im Zusammenhang mit dem Einnehmen der Mahlzeit darstellen, zeigt Bussemachers Druck (4, vgl. Abb. unten) 13 eine sechsköpfige Familie im Gespräch, aber nicht zu Tisch. In einem thronartigen Lehnstuhl sitzt links der solcherart als Haupt der Familie charakterisierte Familienvater, ihm gegenüber auf niedrigerem Schemel die Ehefrau, ein kleines Kind in den Armen haltend. Ihre Blicke und die der drei stehenden Kinder – die Jungen sind dem Vater, die Tochter der Mutter zugeordnet – sind auf den dozierenden Vater gerichtet, der sich seinem ältesten Sohn zuwendet. 14 In geschickter Anlehnung an den Titel stehen sich im Text die Ansichten der Gatten zur Ehe in den beiden Außenspalten spiegelbildlich gegenüber, argumentativ unterstützt durch eine Zusammenstellung von Bibelzitaten in den beiden inneren Spalten. Die Eheleute sprechen sich ausdrücklich in ihrer Funktion als „Hausfrau“ und „Hauswirt“ an bzw. werden als „Mann“ und „Frau“ sowie „Eheweib“ und „Ehemann“ bezeichnet. Entsprechend den Haustafeln des Neuen Testaments (Kol. 3,18–4,1 und Eph. 5,22–6,9) werden die Pflichten der Angehörigen eines christlichen Haushalts thematisiert: Das Verhältnis der Gatten zueinander, das Verhältnis der Eltern zu den Kindern und der Hausherrschaft zum Gesinde. 15 Der Mann zählt zuerst auf, was er von „seiner Haußfrawen“ erwartet. Ganz konkret fordert er, sie solle das Haus hüten und den Haushalt umsichtig, das heißt wirtschaftlich führen: Sie soll das Geld auf dem Markt mit Verstand ausgegeben und 12 Abb. in: Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, 7 Bde., hg. v. WOLFGANG HARMS, München/Tübingen 1980ff., Bd. 1: Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Ethica. Physica, Tübingen 1985, S. 66ff. 13 Abb. in: BERNADETTE SCHÖLLER: Kölner Druckgraphik der Gegenreformation. Ein Beitrag zur Geschichte religiöser Bildpropaganda zur Zeit der Glaubenskämpfe mit einem Katalog der Einblattdrucke des Verlags Johann Bussemacher, Köln 1992 (Veröffentlichungen des kölnischen Stadtmuseums 9), S. 166f. Im Folgenden zitiere ich, wenn nicht anders vermerkt, aus dem Druck von Bussemacher. 14 Dass die hier diskutierten Bildinhalte in einer Semantik der ‚Familie‘ beschrieben werden, erfolgt durchaus bewusst, sind doch vorwiegend Szenerien abgebildet, die dem ‚Familienleben‘ im engeren Sinn zuzuschreiben sind. Die von der jüngeren historischen Forschung bevorzugten Begrifflichkeiten im erweiterten Bedeutungsfeld von ‚Haushalt‘ (Hausvater, Hausmutter bzw. Hausherr und Hausfrau etc.) wollen mit gutem Grund der vorschnellen Rückprojektion moderner Vorstellungen von Kern- oder Kleinfamilien in die Frühe Neuzeit vorbeugen, und in der Tat sind entsprechende Begrifflichkeiten auch den Bildquellen geläufig. Gerade gewerbliche und bäuerliche Betriebsformen operierten ja häufig als erweiterte ‚Haushaltsgemeinschaften‘, deren Zusammenhalt nicht verwandtschaftlich, sondern ökonomisch bedingt war. Dass eindeutig als ‚Gesinde‘ erkennbare Personen auf vielen Druckgraphiken aber fehlen, fällt auf und legt nahe, dass es sich bei den meisten Motiven um normative Stilisierungen einer ‚rechten Eheökonomie‘ handelte, welche mit ihrem erzieherischem Impetus prioritär an der Subsistenzgrenze operierende Kleinhaushalte adressierten. 15 Zu den Haustafeln s.: GEORG STRECKER: Art. Haustafeln, in: Evangelisches Kirchenlexikon. Internationale theologische Enzyklopädie, 5 Bde., hg. v. ERWIN FAHLBUSCH und ULRICH BECKER, Göttingen 1986–1997, Bd. 2 (1989), Sp. 392f.; ALBRECHT PETERS: Kommentar zu Luthers Katechismen. Bd. 5: Beichte, Haustafel, Traubüchlein, Taufbüchlein, Göttingen 1994, S. 95–118; WALTER BEHRENDT, Lutherisch-orthodoxe Ehelehre in der Haustafelliteratur des 16. Jahrhunderts, in: Text und Geschlecht. Mann und Frau in Eheschriften der frühen Neuzeit, hg. v. RÜDIGER SCHNELL, Frankfurt am Main 1997, S. 214–229.
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die Tafel „mit gebür“ versorgen, so dass kein Mangel zu spüren ist. Es gilt, die Familie ausreichend und ihrem Stand angemessen, aber nicht verschwenderisch zu versorgen. Im Gegenzug dazu fordert die Frau ihren „Haußwirdt“ auf, seine Arbeit „mit solchem fleiß“ zu tun, dass „wir all haben vnser speiß / Versorgt ewer Hauß auffs allerbest“. Er soll dem Gesinde keine Zeit für Müßiggang lassen, ihm die Aufgaben zuteilen und es zusammen mit seiner Frau beaufsichtigen. Gemeinsam übernimmt das Paar die Erziehung der Kinder, die vom Vater aber zusätzlich angehalten werden sollen, ihrer Mutter „vnderthänig“ zu sein. Die Auflistung in den „Spiegeln der Haushaltung“ umfasst aber nicht nur haushaltspraktische Aspekte, sondern es werden gleichermaßen Erwartungen bezüglich des Verhaltens der Eheleute formuliert, welche das Paar als solches, ihre eheliche Liebe und Sexualität betreffen: So soll die Frau freundlich und fleißig sein, sie soll nicht schwatzen oder lügen. Der Mann soll nicht nur freundlich, sondern auch nachsichtig sein und sich in seinem Haus nicht „wie ein löw / vnd / wüster pluderer“ aufführen. Das Paar ist sich dessen bewusst, dass im Zusammenleben Konflikte auftreten werden, und ist sich einig, dass diese im vertrauten Gespräch geklärt werden müssen. Darüber hinaus wird sogar der Umgang mit Stimmungen thematisiert, wobei die Eheleute hier unterschiedliche Positionen vertreten: Während der Mann Anpassung und Rücksichtnahme für sich erwartet, plädiert die Frau für eine gewisse Toleranz und einen positiven Umgang mit den Stimmungen des anderen. Der Hauswirt verspricht seiner Frau zärtliche Liebe, wenn sie seine Gebote befolgt: „Hie stell ich für ein spiegel dir / Den halt für augen für vnnd für. / Helst du all dise mein gebott / Verheiß ich dir ohn allen spott. / Mein liebste Haußfraw soltu sein / Sanfft schlaffen in den Armen mein.“
Die Liebe des Ehemannes hängt demzufolge davon ab, ob seine Frau ihre Aufgaben zu seiner Zufriedenheit erfüllt. Im weitesten Sinne interpretiert könnte selbst die (physische) Liebe hier als ein vom Mann zum Zwecke der Belohnung seiner Frau einzusetzendes Mittel verstanden werden. Die Ehefrau dagegen meint, dass eine erfüllte Sexualität bei der Kompensation von Alltagsproblemen hilft: „Das täglich werck verdrießlich ist / Vnd macht mir offtmals lange frist. / Drumb ihr mir solt des tags verdruß / Des nachts vertreiben mit genuß.“ Bibelzitate untermauern die jeweiligen Wünsche und Forderungen, wobei der Mann die Funktion der Ehefrau als Gehilfin betont, während sie den Akzent auf die Vereinigung der Gatten setzt. Die von ihm angeführten Zitate stellen die fleißige und weise Ehefrau der faulen Närrin gegenüber und betonen den Nutzen einer frommen, arbeitsamen und untertänigen Hausfrau. Die Gattin wiederum lobt eine vernünftige Hausfrau als Gabe Gottes, preist ihre Fruchtbarkeit und Liebe sowie die Ehe als positive Institution und fordert die Achtung des Mannes. Die zahlreichen Flugblätter, die sich in der Frühen Neuzeit der Ehe und dem Verhältnis der Geschlechter widmen, zeugen in ihrer Gesamtheit vom Wunsch nach Eheglück. Sie betonen die entscheidende Rolle der Partnerwahl, die über den Verlauf einer Ehe bestimmen wird, und ermahnen, die Katze nicht im Sack – so
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der Titel eines Flugblatts (5) 16 – zu kaufen. In mehreren Flugblättern wird die Heirat als Glücksspiel, als eine Art Lotterie, dargestellt. So in Johann Hofmanns „Schantzen und Wag=Spiel. Unterschiedlich hitzig Verliebten, so Manns alß Frauen Personen“ (6), 17 in dem es heißt: „Bleibt also wol darbey, wer sich beweiben will, / Der thut ein blinden griff, hat ein gewagtes Spiel.“ Während dieses Flugblatt die Partnerwahl als Kegelspiel inszeniert, wird sie in zwei anderen Drucken (7, 8) 18 tatsächlich als „blinder Griff“ dargestellt: Männer und Frauen, denen die Augen verbunden sind, greifen in einen Korb, um sich blindlings einen Ehepartner zu nehmen. In einem Emblembuch wird das gleiche Bild vom Korb wie in den Flugblättern verwendet und der Text betont einmal mehr, wie wenige Menschen in der Ehe mit ihrem Partner glücklich werden: „Glaub mir in Wahrheit wer du bist / Ein blinder Griff der Heurath ist / Ist einer den das Glück erwehlt / So sind jhr zehen den es fehlt.“ 19 Die in den Flugblättern vorgenommene Kontrastierung von Ideal und abschreckendem Negativbeispiel, von Glück und Unglück erhöhte den Entscheidungsdruck. Die Drucke warnen vor überzogenen Ansprüchen und mahnen, die Entscheidung genau zu überlegen. Das Abwägen grundsätzlicher Kriterien wie zum Beispiel der Vermögensverhältnisse offenbart sich auch als Sorge um eine stabile Ehe, als deren entscheidender Garant die Gleichheit der Partner gesehen wurde, welche das Konfliktpotential zwischen den prinzipiell als antagonistisch gesetzten Geschlechtern entschärfen sollte. Die Aufforderung, nicht unbesonnen eine Ehe einzugehen (9), 20 beinhaltete die realistische Einschätzung, ob die finan-
16 Abb. in: Deutsches Leben der Vergangenheit in Bildern. Ein Atlas mit 1760 Abbildungen alter Kupfer- und Holzschnitte aus dem 15. bis 18. Jahrhundert, 2 Bde., hg. v. EUGEN DIEDERICHS, Jena 1907/1908, Bd. 2: Das Zeitalter der Aufklärung, S. 332. Das Flugblatt thematisiert die Enttäuschung, wenn die mit der Partnerwahl verbundenen Erwartungen nicht erfüllt werden. Daneben warnt es explizit vor dem bewussten Betrug, der durch Vortäuschen von Jugend, Vermögen oder Liebe zu einer unbedachten Heirat verführt, und fordert Männer und Frauen zu einer genauen Prüfung des/der Auserwählten auf. 17 Abb. in: BAKE, Haushaltung (wie Anm. 4), S. 418. Obwohl sich der Titel an beide Geschlechter wendet, werden in Bild und Text nur die Männer als aktiv Spielende bzw. Wählende dargestellt. Die Frauen stehen auf den Kegeln, welche die Männer mit ihrer Kugel treffen können. 18 Abb. in: KRISTINA BAKE: „Ein neuer Korb voll Venuskinder“. Die „Weibermacht“ auf illustrierten Flugblättern des 16. und 17. Jahrhunderts. Aus Beständen des Grafischen Kabinetts. Kat. Staatliche Galerie Moritzburg Halle, Landeskunstmuseum Sachsen-Anhalt 2001, S. 11, sowie Abb. in: Flugblätter, hg. v. HARMS (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 204. 19 JOHANN THEODOR DE BRY: Emblemata Secvlaria. […] Weltliche lustige newe Kunststück / der jetzigen Weltlauff fürbildende / mit artlichen Lateinischen / Teutschen / Frantzösischen vnd Niderländischen Carminibus vnd Reimen geziert / fast dienlich zu einem zierliche Stamm vnd Wapenbüchlein. Oppenheim 1611, ND in: Emblematisches Cabinet, hg. v. WOLFGANG HARMS und MICHAEL SCHILLING, Hildesheim/Zürich u. a. 1994, S. 44, Nr. 43. 20 Der „Bericht: wie es gehe / Gar nach dem A, B, C, Welche sich zur Ehe / Vnbesonnen geben“ thematisiert nicht nur die im Verlauf einer Ehe sich einstellende Armut, sondern deutet auch die mit der Eheschließung verbundenen materiellen Übereinkünfte der beteiligten Familien an („Heurath Gut“, „Leykauff“). Das zweite Bild stellt im linken Teil die Eheschließung dar, bei
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ziellen Lebensumstände eine Haushaltsgründung überhaupt gestatteten – ein Umstand, dem insbesondere die Obrigkeit entscheidende Bedeutung beimaß. 21 Deshalb galt es, materielle Interessen und Notwendigkeiten zu beachten. Hanns Paurs Druck „Vom Haushalten“ (10) 22 listet 24 für einen Haushalt nötige Gegenstände auf und gibt jungen Leuten zu bedenken, dass eine materielle Basis für eine Eheschließung unerlässlich ist: „Wer zu der Ee greyffen welle / Der tracht das er dar zu bestelle / Haußrat das er nit mangel hab“. Konkrete Hilfe bietet gar der Druck Martin Wörles „Für ein jeden Burger oder Haußwirt hüpsche Sprüche“ (11) 23 mit einer Aufstellung der jährlich anfallenden Kosten von insgesamt 175 Gulden, 2 Batzen, 2 Kreutzer und 3 Pfennig für einen Haushalt, wobei offen bleibt, welchem Sozialmilieu diese Richtgröße zugedacht wäre. Die Flugblätter diskutieren die Frage, ob Liebe unabhängig von finanziellen Umständen existieren kann oder ob sie tatsächlich nur „auff der seiten da die tasche hangt“, 24 vorkommen könne, wie es in dem eingangs erwähnten Druck von Johann Stridbeck d. J. heißt (1). Im Blatt „Newer Korb voll Venuskinder“ (7) streiten sich Amor und Pecunia über den Wahrheitsgehalt des Sprichwortes „Amor vincit omnia“ 25 und Pecunia triumphiert: „Da ich Pecunia nicht bin / So bist du Amor auch bald hin.“ Während die Graphiken einerseits empfehlen, die finanziell-materielle Basis für die Gründung eines Haushalts genau zu bedenken, warnen sie andererseits davor, sich bei der Wahl eines Partners/einer Partnerin (ausschließlich) von pekuniären Motiven leiten zu lassen. Es galt also, bei der Eheschließung zwischen angemessener finanzieller Planung und (unangemessener) Geldgier abzuwägen. Die Flugblätter warnen wiederholt vor einer Eheschließung aus rein finanziellen Er-
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der ein sitzender Mann möglicherweise die Vereinbarungen schriftlich festhält. Abb. in: Flugblätter, hg. v. HARMS (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 60f. Die Ehe diente in der Frühen Neuzeit zuerst einmal grundsätzlich der materiellen Absicherung. PETER BORSCHEID: Geschichte des Alters, 16.–18. Jahrhundert, Münster 1987 (Studien zur Geschichte des Alltags 7, 1. Teilbd.), S. 79. PETER PARSHALL/RAINER SCHOCH: Die Anfänge der europäischen Druckgraphik. Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch. Kat. National Gallery of Art, Washington, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Nürnberg 2005, S. 214–216. Hans Sachs schildert in einem Hausratgedicht, wie ein verliebter junger Mann nach der Beratung erkennt, dass er die Hochzeit für ein Jahr verschieben muss, um die noch nötigen Vorbereitungen für Ehe und Haushalt zu treffen. Zu den Hausratgedichten von Hans Paur, Hans Folz und Hans Sachs s.: Über die Ehe. Von der Sachehe zur Liebesheirat. Eine Literaturausstellung in der Bibliothek Otto Schäfer, Schweinfurt, hg. v. URSULA RAUTENBERG, Schweinfurt 1993, S. 73– 86. Flugblätter, hg. v. HARMS (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 64f. Abb. in: www.virtuelles-kupferstichkabinett.de/index.php?currentWerk=39932&. Das Sprichwort, illustriert mit einem mächtigen Löwen, welchem durch den auf ihm reitenden Amor Zügel angelegt wurden, findet sich auch in Daniel Heinsius’ 1605 in Amsterdam erschienenen „Emblemata Armatoria“. Abb. in: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, hg. v. ARTHUR HENKEL und ALBRECHT SCHÖNE, Stuttgart/Weimar 1996, Sp. 386; Théâtre d’amour. Vollständiger Nachdruck der kolorierten „Emblemata amatoria“ von 1620, hg. v. CARSTEN-PETER WARNCKE, Köln/London u. a. 2004, o. S. (folio 7).
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wägungen, wenn das Paar ansonsten nicht miteinander harmoniert (zum Beispiel in Bezug auf Alter, Stand und Wesen) oder der Charakter des/der Auserwählten Anlass zu Bedenken gibt. Insbesondere wird von der Ehe mit einer vermögenderen Frau abgeraten, 26 da ihr größeres Vermögen es dem Hausvater erschweren wird, seine Position und die damit verbundenen Befugnisse ihr gegenüber insbesondere im Konfliktfall wahrzunehmen. So heißt es im Untertitel des „Spiegels der Haushaltung“: „Wann das Weib den Mann reich macht / so ist da eytel hader / verachtung vnd schmach“ (3). Um die Gefahr, nur wegen des Vermögens geheiratet zu werden, zu minimieren, bleibt somit neben der genauen Prüfung des Charakters des/der Auserwählten nur die Möglichkeit der Heirat unter Angehörigen des gleichen Standes und vergleichbarer Vermögensverhältnisse. Die Drucke insistieren immer wieder auf der Gleichheit der Gatten. So empfiehlt Hans Sachs in dem um 1570 in Nürnberg gedruckten Flugblatt „Weibermarkt in Schlampampenland“ (12): 27 „Beyde die Frawen vnd die Man / Junckfrawen vnd die jungen gesellen / Wenn sie sich verheyraten wöllen / Das sich jr jedes fleyssig rem / Vnd nur seines gleichen nem / An Reichthumb alter vnd an jugendt / An Adel geschlecht / sitten vnd tugendt.“
Sachs’ Forderung nach Gleichheit der Gatten hinsichtlich Vermögen, Stand und Alter entsprach ganz den Vorstellungen von Geistlichkeit und Obrigkeit. 28 Die in der Ehe-Waage (13, 14) vor allem mit Blick auf das in die Ehe einzubringende Vermögen symbolisierte Gleichheit galt als Voraussetzung einer guten Ehe. 29 Das 26 Auch auf diesen Aspekt weist Zedler im Artikel über den Hauswirt hin: „Denn das HeurathsGut gehöret nicht zum Haupt-Werck des Ehestandes, und der Mann mag es sich zuschreiben daß er seine Frau nicht aus Affection, sondern aus Geld-Begierde genommen.“ ZEDLER, Art. Haus-Wirth, in: DERS., Universallexicon (wie Anm. 1), Bd. 12 (1735), Sp. 912–922, hier Sp. 916. 27 Abb. in: FRIEDRICH WILHELM HEINRICH HOLLSTEIN: German engravings, etchings and woodcuts ca. 1400–1700, Amsterdam 1954ff., Bd. 47, 2000, S. 136f. 28 GABRIELA SIGNORI: Die verlorene Ehre des heiligen Joseph oder Männlichkeit im Spannungsfeld spätmittelalterlicher Altersstereotypen. Zur Genese von Urs Grafs „Heiliger Familie“ (1521), in: Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. v. KLAUS SCHREINER und GERD SCHWERHOFF, Köln/Weimar/Wien 1995 (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 5), S. 183–213, hier S. 194. Die Obrigkeiten forderten darüber hinaus auch Gleichheit der Konfession, was Sachs’ Begriff der „sitten“ implizieren könnte. ELFRIEDE MOSER-RATH: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Alltag im Spiegel süddeutscher Barockpredigten, Stuttgart 1991, S. 122f. Städtische Eheordnungen vertraten das Ebenbürtigkeitsprinzip der Gatten, gerade um die – hier positiv verstandene – Ungleichheit der einzelnen Stände zu wahren. WERNER CONZE: Art. Stand, Klasse. VII. Zwischen Reformation und Revolution (16.–18. Jahrhundert), in: Geschichtliche Grundbegriffe, 8 Bde., hg. v. OTTO BRUNNER, WERNER CONZE u. a., Stuttgart 1972–1997, Bd. 6, 1990, S. 155–284, 206. Einzelne Hinweise auf diverse Ungleichheiten, die als Ehehindernis galten, bei: GUSTAF KLEMENS SCHMELZEISEN: Polizeiordnungen und Privatrecht, Münster/Köln 1955 (Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte 3), S. 25, 36, 50. 29 Die Waage symbolisiert die Gleichheit bzw. Ungleichheit der potentiellen Ehegatten. Das bereits erwähnte Emblembuch De Brys enthält das Emblem „Die Heurahtswage“. In der Darstellung wird Amor die Tür gewiesen, weil die Braut schwerer wiegt als der Mann, sie also über ein größeres Vermögen verfügt und die Kandidaten deshalb nicht als Partner füreinander
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Gleichnis der Waage assoziiert ein vollkommenes Gleichgewicht der Gatten, das im Idealfall selbst die Übereinstimmung der Charaktere umfassen sollte, wie es auch der „Spiegel der Haushaltung“ anspricht (4, vgl. Abb. unten). Die Drucke konzentrieren sich im Wesentlichen mit dem weit verbreiteten Motiv des ungleichen Paares (15, 16) 30 auf den Altersunterschied, der aber immer mit finanziellen Asymmetrien einhergeht: Der/die ältere PartnerIn wird von dem/der erheblich jüngeren in zumeist betrügerischer Absicht allein wegen seines/ihres Vermögens umworben. In den Flugblättern beklagen die EhepartnerInnen einer solchen ungleichen Verbindung in der Regel später ihre Situation und das durch die Heirat erworbene Vermögen kann sie nicht über die negativen Aspekte ihrer Ehe hinweg trösten. Beispielsweise bereut einer der Männer, die sich über ihre Ehen austauschen, seine Frau nur „von der pfennig wegen“ geheiratet zu haben (17). 31 Die Flugblätter geben wiederholt zu bedenken, dass zwar die ökonomische Basis einer Haushaltsgründung entscheidend für den Ehefrieden ist, aber eine aus Geldgier geschlossene Ehe kein Glück bringt, sondern zu Gewalt und Unordnung führt. In Fürsts „Spannener geflochtener Freyerkorb“ (8) heißt es: „Gesellen zuweilen die Gelder bethören / so lange sie Pfennig im Beutel nun hören / so lange das Weiblein sie lieben und ehren / wann aber die Gelder nun nimmer nicht wehren / und alles durch Buhlen und Spielen verschwendet / die feurige Liebe sich wendet und endet / da hebet sich rauffen da hebet sich schlagen / einander zur Klause zum Hause naus jagen.“
Deshalb wird Männern empfohlen, lieber ein anpassungsfähiges und erziehbares junges Mädchen zu heiraten, selbst wenn sie weniger Vermögen in die Ehe einbringt, als eine ältere, vermögendere Frau (18). 32 Eine Warnung ist das Schicksal des Mannes in dem Druck „Die zwelff Eygenschafft eines boßhafftigen verruchten weybs“ (19), 33 welcher, als er das Verhalten seiner Frau kritisiert, von derselben scharf auf ihr in die Ehe eingebrachtes Vermögen und die damit vorgeblich verbundenen Privilegien hingewiesen wird, sich jegliche Kritik an ihrer Person verbittend.
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in Frage kommen. DE BRY, Emblemata (wie Anm. 19), Nr. 45. Dieses Motiv existiert auch als Einblattdruck mit niederländischem (13) und französischem Text (14). Von dem Motiv existieren zahlreiche Varianten. Hier seien als Beispiele nur die Pendants von Hans Sebald Beham / Hans Adam (15, 16) aufgeführt, welche in Bild und Text das Vermögen der Alten – gleichermaßen Objekt der jugendlichen Begierde und Lockmittel der Alten – thematisieren. Geldbörse und -sack sind zentral in der Mitte des Flugblatts positioniert. Abb. in: MAX GEISBERG: The German Single-Leaf Woodcut 1500–1550, 4 Bde., hg. v. WALTER L. STRAUSS, New York 1974, Bd. 1, S. 230f. Ausführlicher zu den ungleichen Paaren äussert sich URSULA RAUTENBERG: Altersungleiche Paare in Bild und Text I. Geldheiraten 1494: „wîben durch guts willen“, in: Aus dem Antiquariat H. 4, 1997 (Beilage zum: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, H. 33, 1997); II. Druckgraphik und illustrierte Einblattdrucke vom Hausbuchmeister bis Hans Sachs. Ebd. H. 7, 1997 (H. 60, 1997); III. Petrarca, Brant und der Petrarca-Meister (1532). Ebd. H. 12, 1997 (H. 1, 1998). Abb. in: GEISBERG, Woodcut (wie Anm. 30), Bd. 3, S. 1124. Auch die jungen Leute im „Weibermarkt in Schlampampenland“ (12) hadern mit ihrer Wahl, wobei sie die Schuld zumeist nur bei den älteren PartnerInnen, nie aber bei sich selbst sehen. Abb. in: GEISBERG, Woodcut (wie Anm. 30), Bd. 4, S. 1270. Abb. in: HOLLSTEIN, Engravings (wie Anm. 27), Bd. 47, S. 40f.
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2 GUTES HAUSHALTEN Vernünftige finanzielle Erwägungen bei der Wahl des potentiellen Ehepartners müssen mit einer genauen Prüfung des Charakters der/des Auserwählten einhergehen. Entscheidend ist die Tugendhaftigkeit der GattenInnen, da nur sie die eheliche Liebe, welche den häuslichen Frieden insbesondere auch in Konfliktsituationen sichern muss, garantiert. Eine wesentliche Rolle für den häuslichen Frieden spielt in der Druckgraphik das gute Haushalten, mit dem Frauen und Männer ihre Position als Hausmütter und Hausväter legitimieren (20). Ziel war eine vernünftige Haushaltsführung, die sich in Fleiß, Sparsamkeit und Sorge um das Wohlergehen anderer ausdrücken sowie an den bürgerlich-christlichen Tugenden nach Muster der frühneuzeitlichen Ökonomiken orientieren sollte. Dies alles zum Zweck, Existenz und Ansehen eines Haushaltes in der Gemeinschaft zu sichern. Mann und Frau agieren dabei gemeinsam als Arbeitspaar. 34 Die verantwortungsvolle, gute Hausfrau erfährt größte Wertschätzung: Sie ist – in Anlehnung an biblische Metaphorik – wertvoller als Gold (2–4, 21) und Perlen (21, 22), 35 die Krone ihres Mannes 36 (2–4, 21), „Mans“ Ehr (23) 37 und der größte Schatz, den er finden kann (24) 38 – ganz im Gegensatz zur faulen, die „Eyter in seinen gebeinen“ ist (2–4). Durch die gute Hausfrau wird „das Hauß erbawt“ (2–4), das eine „Närrin“ mit ihrem Tun zerstört (1–4). Der Hausvater kann sich auf eine gute Hausfrau verlassen und es wird ihm nicht an Nahrung mangeln (2–4). Das ständige Beschwören der allzeit tugendhaften 39 und „frummen“ 40 (24) Hausmutter belegt – bei gleich-
34 Zum Ehepaar als Arbeitspaar: HEIDE WUNDER: „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, S. 91–117. 35 Illustrierte Flugblätter aus den Jahrhunderten der Reformation und der Glaubenskämpfe. Kat. Kunstsammlungen der Veste Coburg, hg. v. WOLFGANG HARMS, bearb. v. BEATE RATTAY, Tübingen 1983, S. 234f. 36 Diesen Vergleich setzt Dirck Volkertsz. Coornhert (1522–1590) bildlich um: Die Ehefrau setzt ihrem Gatten eine Krone auf. DIRCK VOLKERTSZ. COORNHERT / nach MAARTEN VAN HEEMSKERCK: Die tugendhafte Hausfrau ist die Krone ihres Mannes. Aus der Serie „Lob der tugendhaften Hausfrau“, 1555, Wien, Albertina, Abb. in: ILJA VELDMAN: Lessons for Ladies. A Selection of Sixteenth- and Seventeenth-Century Dutch Prints, in: Simiolus. Netherlands Quarterly for the History of Art 16 (1986), S. 113–127, hier S. 116. 37 Abb. in: KRISTINA BAKE: „Unser Leben währet …“ – Die zehn Alter von Mann und Frau des Tobias Stimmer (?) als Spiegel des bürgerlichen Lebens um 1575, in: „Die Güter dieser Welt“ – Schätze der Lutherzeit aus den Sammlungen der Moritzburg Halle. Kat. Lutherhalle Wittenberg, Staatliche Galerie Moritzburg Halle, Landeskunstmuseum Sachsen-Anhalt, hg. v. ULF DRÄGER und KRISTINA BAKE, Halle 2000, S. 23–37, hier S. 25. 38 GEISBERG, Woodcut (wie Anm. 30), Bd. 3, S. 1123. 39 Renate Dürr weist darauf hin, dass unermüdliche Aktivität nicht nur allgemein den Müßiggang, angeblich Ursprung von Lasterhaftigkeit, verhindern sollte, sondern dass das spezifisch für Frauen und Gesinde geltende ‚Gebot rastloser Betriebsamkeit‘ als Zeichen ihrer Unterordnung verstanden wurde. RENATE DÜRR: Von der Ausbildung zur Bildung. Erziehung zur Ehefrau und Hausmutter in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, 2 Bde., hg. v. ELKE KLEINAU und CLAUDIA OPITZ, Bd. 1, Frankfurt am Main/New York 1996, S. 189–206, hier S. 195.
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zeitiger Festlegung auf diese Rolle – ihre existenzielle Bedeutung für die Haushaltung 41 und zeugt von der Anerkennung ihrer speziellen Fähigkeiten, für die sie „lob / ehr vnd preis“ erntet (20). Die Hausmutter, welche in eigener Verantwortung große Teile der Hauswirtschaft organisiert, verrichtet und kontrolliert, ist „folglich die andere Haupt-Person einer Haus-Wirthschafft, ohne welche selbige nicht leicht in guter Ordnung angestellet und geführet werden mag“, und die in Bezug auf Hausherrschaft und Haushaltung als „Frau vom Hause und Befehlshaberin zu achten“ ist. 42 Bei einer nach den „Regeln der Klugheit“ betriebenen Haushaltung geht es eben nicht nur darum, „Haab und Gut zu erwerben, sondern auch das erworbene durch klügliche Anwendung, und verständige Sparsamkeit zu Rathe zu halten und zu vermehren, welches eben eine so grosse ja noch grössere Kunst ist als das Erwerben selbst.“ 43
Der Lexikoneintrag bestätigt den Befund der Druckgraphik: Beide bezeugen die Wertschätzung der Arbeit der Hausfrau, die unverzichtbar für den Bestand eines Haushalts war, denn: „Ein gutes Vermögen, welches eine Frau mitbringt, ist zwar etwas, wodurch sich die meisten betrügen lassen. Weiß aber die Frau nicht die Kunst, ihr Vermögen zu erhalten, so ist solches auf allen Seiten mit Unglück verknüpfft.“ 44
Gleichwohl bedeutete die Konzentration der Frau auf häusliche Aufgaben nicht ihre ‚Loslösung von den öffentlichen Dingen‘, da das Haus als Teil dieser Öffentlichkeit verstanden wurde. 45 Das Verhalten der Gatten in Ehe und Haushalt entschied maßgeblich über ihr Ansehen in ihrer sozialen Umgebung. Über die haushälterischen Verantwortlichkeiten hinaus bzw. nicht von ihnen zu trennen, mussten sich Frauen durch Einhalten umfassender Verhaltensnormen, welche auch 40 Das Adjektiv „frum“ beinhaltet die beiden wichtigsten Eigenschaften einer guten Hausfrau: „tüchtig“ und „brav“. ALFRED GÖTZE: Frühneuhochdeutsches Glossar, Berlin 1967 (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen 101), S. 91. 41 Die Bedeutung der tüchtigen Hausfrau in vormodernen Kulturen spiegelt sich auch im volkstümlichen Erzählgut: Bei Brautproben im Märchen wird die Wahl der Gattin vielfach von ihren haushälterischen Fertigkeiten abhängig gemacht. ELFRIEDE MOSER-RATH: Art. Frau, in: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, 12 Bde., hg. v. KURT RANKE und ROLF WILHELM BREDNICH u. a., Berlin/New York 1975ff., Bd. 5, 1987, Sp. 100–137, hier Sp. 120. 42 ZEDLER, Art. Hausmutter, in: DERS., Universallexicon (wie Anm. 1), Bd. 12 (1735), Sp. 907f., hier Sp. 907. 43 ZEDLER, Art. Haushaltung, in: DERS., Universallexicon (wie Anm. 1), Bd. 12 (1735), Sp. 902. 44 ZEDLER, Art. Ehestand, Ehe, in: DERS., Universallexicon (wie Anm. 1), Bd. 8 (1734), Sp. 360–401, hier Sp. 372. 45 LUISE SCHORN-SCHÜTTE: Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit. Deren Anteil an der Entfaltung frühmoderner Staatlichkeit und Gesellschaft. Dargestellt am Beispiel des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, der Landgrafschaft Hessen-Kassel und der Stadt Braunschweig, Gütersloh 1996 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 62), S. 293. Ausgehend vom Beispiel der Pfarrfrau meint Schorn-Schütte, dass (private) Tätigkeit im Haus und (öffentliche) Gemeindearbeit engstens zusammengehören und zu den Aufgaben jeder christlichen Hausfrau gehörten (S. 311).
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Habitus, Mimik und Gestik betrafen (2–4, 25), 46 allzeit als tugendhaft erweisen. 47 Das von Fischart 1578 in seinem „Ehzuchtbüchlein“ verwendete Sprichwort „Die Hausehr liegt mehr am Weib, dann am Mann“ belegt, dass sich die Ehre des Haushaltes möglicherweise stärker über die Frau als über den Mann definierte48 und erklärt die Konzentration der Disziplinierungsanstrengungen auf das weibliche Verhalten in der Druckgraphik. 3 GEGENSEITIGES PROFITIEREN Die populäre Druckgraphik insistiert auf der Möglichkeit, mit einem vernünftig und im Konsens ausgewählten Gatten (und das meint insbesondere die Gattin) eine gute Ehe führen zu können, in der beide PartnerInnen materiell, aber auch gesundheitlich sowie ideell voneinander profitieren, indem sie gemeinsam die Probleme des Alltags bewältigen. So heißt es in Bussemachers Druck: „Wol dem der ein tugentsam Weib hat / des lebt er noch eins so lang.“ (4, vgl. Abb. unten) – eine Aussage, die durchaus auch wörtlich verstanden werden kann. Die wiederholt in der Druckgraphik verarbeitete Redewendung „manus manum lavat“ 49 (26, 27) 50 illustriert diese Auffassung eindrücklich: Im Gegensatz zur modernen negativen Interpretation der Redewendung „Eine Hand wäscht die andere“, dass eine Gefälligkeit im Gegenzug für eine andere erwiesen wird, wird sie in Bezug auf das Brautpaar in der frühneuzeitlichen Druckgraphik ausdrücklich positiv als Al-
46 GEISBERG, Woodcut (wie Anm. 30), Bd. 4, S. 1511. 47 RALF-PETER FUCHS: Um die Ehre. Westfälische Beleidigungsprozesse vor dem Reichskammergericht 1525–1805, Paderborn 1999 (Forschungen zur Regionalgeschichte 28), S. 252. In diesem Sinne definiert Helmut Puff ‚Keuschheit‘ „als gleichsam universelle Verhaltensanforderung“, die sich „auf sämtliche Lebensäußerungen und -aktivitäten“ erstreckt. Diese beinhalten spezifische weibliche Beschäftigungen, aber auch Zurückhaltung in Gesprächen, schickliche Kleidung u. a. HELMUT PUFF: Die Ehre der Ehe – Beobachtungen zum Konzept der Ehre in der Frühen Neuzeit an Johann Fischarts „Philosophisch Ehzuchtbüchlein“ (1578) und anderen Ehelehren des 16. Jahrhunderts, in: Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen, hg. v. SIBYLLE BACKMANN, HANS-JÖRG KÜNAST u. a., Berlin 1998 (Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg, Colloquia Augustana 8), S. 99– 119, hier S. 112. Puff kommt zu dem Fazit, dass die Ehe als Schnittpunkt von Individuum und Gemeinschaft sowie von Mann und Frau zur Überschneidung verschiedener EhrVorstellungen führte. Entscheidend für das hier behandelte Thema ist, dass die Ehre unmittelbar mit der Ehe verbunden war, diese in der Frühen Neuzeit somit keineswegs ‚nur‘ als privat verstanden werden darf (S. 108). 48 Das war auch Konsens der Ökonomieschriften. HELGA REIMÖLLER: Ökonomik, Kleidung und Geschlecht. Ein stadtbürgerlicher Beitrag zum Haushaltsdiskurs im Spätmittelalter, in: Lustgarten und Dämonenpein. Konzepte von Weiblichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. ANNETTE KUHN und BEA LUNDT, Dortmund 1997, S. 81–108, hier S. 95. 49 LUTZ RÖHRICH: Art. Hand, in: DERS.: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, 3 Bde., Freiburg/Basel u. a. 2003, Bd. 2, S. 639–655, hier S. 652. 50 Abb. in: BAKE, Haushaltung (wie Anm. 1), S. 428, 429.
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legorie einer partnerschaftlichen Ehe verstanden: 51 Das Händewaschen symbolisiert die gegenseitige Unterstützung der Eheleute und lässt darüber hinaus weitere Assoziationen zu. Als Rückgriff auf die Redewendung „die Hände in Unschuld waschen“ 52 könnte damit auch die Reinheit der beiden GattInnen, die Aufrichtigkeit ihres Handelns und ihres Lebenswandels angedeutet werden. Die Eheschließung gereicht beiden PartnerInnen zum Vorteil, der hier keineswegs nur materiell, sondern in einem umfassenden Sinn verstanden wird. In einer auf guten Grundsätzen basierenden Ehe gewinnen beide Gatten durch gegenseitige Zuneigung und Unterstützung bei der Erfüllung ihrer spezifischen Aufgaben und erfüllen so einen wesentlichen Zweck der Ehe, der darin besteht, dass die EhepartnerInnen „ihre Arbeit und Mühe, und den hierdurch erlangten Vortheil, gemeinschafftlich […] haben.“ 53 Gleichzeitig verweist die Redewendung auf die beiderseitige Abhängigkeit: Die Ehe wird idealiter als Interessens- und Handlungsgemeinschaft stilisiert, deren Gelingen vom Verhalten beider Partner gleichermaßen abhängt. Flugblätter transportieren unmittelbar christliche Normen und Werte, indem sie sich wiederholt auf die Bibel und insbesondere das Buch Sirach 54 stützen (2–4, 22, 28, 29). Ihren prägnantesten bildlichen Ausdruck findet die gute Ehe im langlebigen Motiv der gut situierten, betenden Familie am Tisch – Ausdruck eines konfessionsübergreifenden Familienideals (28–31). Paulus Fürst druckte im protestantischen Nürnberg ein nahezu gleiches Blatt (29, vgl. Abb. unten) wie Gerhard Altzenbach im katholischen Köln (28). 55 Einzig der Verweis auf Psalm 128 (protestantische
51 So lautet die erläuternde Bildunterschrift in einem Emblem: „Die Gattin lebt mit dem teuren Gatten in schöner Harmonie, wenn eine Hand die andere wäscht.“ GABRIEL ROLLENHAGEN/CRISPIN DE PASSE D. Ä.: Nucleus emblematum, 2 Bde., Arnheim/Utrecht 1611, 1613, ND in: Sinn-Bilder. Ein Tugendspiegel. Gabriel Rollenhagen, hg. v. CARSTEN-PETER WARNCKE, Dortmund 1983 (Die bibliophilen Taschenbücher 378), S. 268. 52 RÖHRICH, Art. Hand (wie Anm. 49), S. 651f. 53 ZEDLER, Art. Haus-Wirth (wie Anm. 26), Sp. 913. 54 Im 2. Jahrhundert v. Chr. entstanden, enthält das Buch Sirach unter anderem Anweisungen zur Eheführung und Aussagen zur Rolle der Frau. JOHANNES MARBÖCK: Art. Sirach / Sirachbuch, in: Theologische Realenzyklopädie, 38 Bde., hg. v. GERHARD MÜLLER und HORST BALZ, Berlin/New York 1977–2007, Bd. 31 (2006), S. 307–317, hier S. 312, 314; DERS.: Art. Sirach, Buch Sirach, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., 11 Bde., hg. v. WALTER KASPER, Freiburg i. Br./Basel u. a. 1993–2001, Bd. 9 (2000), Sp. 628–630. Verbreitung fand das Sirachbuch in der Frühen Neuzeit vor allem durch einige (wiederholt aufgelegte) Auslegungen, z. B.: CASPAR HUBER: Spiegel der haußzucht. Jesus Syrach genandt. Sampt einer kurtzen Außlegung. Für die armen Haußuätter / vnd jhr Gesinde / Wie sie ein Gottselig leben / gegen menigklich sollen erzeygen. Darinnen der Welt lauff begriffen / vnd wie sich ein jeglicher Christ / in seinem beruff / vnd in der Policey / ehrlich vnd lieblich solle halten, Nürnberg 1556. Der Autor des gleichnamigen Flugblatts (2–4) wurde vermutlich direkt von Hubers Schrift angeregt. 55 Abb. ALTZENBACH (28) in: Religiöse Drucke aus Kölner Produktion. Flugblätter und Wandbilder des 16. bis 19. Jahrhunderts aus den Beständen des Kölnischen Stadtmuseums, bearb. V. BERNADETTE SCHÖLLER, Köln 1995, S. 19; zu (29): Abb. FÜRST (29) in: BAKE, Haushaltung (wie Anm. 4), S. 435; Abb. ferner in: DOROTHY ALEXANDER/WALTER L. STRAUSS: The German Single-Leaf Woodcut 1600–1700. A pictorial Catalogue, 2 Bde., New York 1977,
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Zählung) oder Psalm 127 (katholische Zählung) lässt auf die Konfession schließen. Abraham Bach (31) verwendete das Motiv ohne Hinweis auf eine Konfession und legte sich damit nicht auf eine Zielgruppe fest – die richtige Verkaufsstrategie für Augsburg, in dem beide Konfessionen praktiziert wurden. Ebenso wurde in dem „Spiegel einer Christlichen und friedsamen Haußhaltung“ von Paulus Fürst in Nürnberg (3) und Johann Bussemacher in Köln (4, vgl. Abb. unten) der gleiche Text für ein protestantisches bzw. katholisches Publikum verwendet. Eine gute Ehe zeichnet sich durch eine feste Hierarchie und Einvernehmen der GattInnen, durch Gottesfurcht und klare Aufgabenverteilung aus. Die Aufgaben von Hausvater und -mutter werden in den Drucken immer wieder ausführlich geschildert, wobei der Schwerpunkt auf den vielfältigen häuslichen Aufgaben der Frau liegt. Bei den Hausvätern wird nur allgemein erwähnt, dass sie durch ihre Arbeit für den angemessenen Unterhalt der Familie verantwortlich sind, wobei keine speziellen Berufe genannt werden. Einzig der junge Mann, welcher für eine wohlgeratene Frau für sich betet, erwähnt, dass er ein Handwerk gelernt hat (32, vgl. Abb. unten). 56 4 VERKEHRTE WELT Ein äußerst beliebtes Mittel der populären Druckgraphik, Normen und Ideale zu vermitteln, ist die Verkehrung, welche unweigerlich Lachen über die Absurdität des Falschen erzeugt: Ein Hase jagt den Jäger, Fische fliegen am Himmel, das Kind wiegt die Mutter, die bewaffnete Frau beaufsichtigt den Wolle spinnenden Mann (33). 57 Das Motiv der Verkehrten Welt war über Jahrhunderte eines der beliebtesten und machte, wie das letzte Beispiel zeigt, auch vor dem Verhältnis der Geschlechter nicht halt. 58 In diesem Kontext sind auch die zahlreichen Darstellungen der schlechten Ehe zu verorten, die nicht nur von Gewalt und/oder Ehebruch – zwei äußerst beliebten Motiven der Flugblätter –, sondern zumeist auch von einer unordentlichen und verschwenderischen Haushaltung gekennzeichnet ist.
Bd. 1, S. 51; Abb. (30) in: HERMANN WÄSCHER: Das deutsche illustrierte Flugblatt, 2 Bde., Bd. 1: Von den Anfängen bis zu den Befreiungskriegen, Dresden 1955, S. 29. 56 Abb. in: BAKE, Haushaltung (wie Anm. 4), S. 441. 57 Abb. in: BAKE, Haushaltung (wie Anm. 4), S. 494. 58 DAVID KUNZLE: World Upside Down: The Iconography of a European Broadsheet Type, in: The Reversible World. Symbolic Inversion in Art and Society, hg. v. BARBARA A. BABCOCK, Ithaca/London 1977, S. 39–94. Unverzichtbar für das Motiv der Verkehrten Welt ist die spannende Studie von: KORINE HAZELZET: Verkeerde Werelden. Exempla contraria in de Nederlandse beeldende kunst, Leiden 2007.
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5 KONFLIKTE UND SCHLECHTES HAUSHALTEN Wie im realen Leben entzünden sich auch in Flugblättern die Konflikte oft am schlechten Haushalten. In den Drucken wird männliche Gewalt immer als Strafe für weibliches Fehlverhalten inszeniert und die Vorwürfe zielen auf die Unhäuslichkeit der Frauen, welche ihren Haushaltungs-Pflichten nicht nachkommen. 59 Es sind die gleichen Anschuldigungen, die von angeklagten Männern zur Rechtfertigung ihrer Gewalt vor Gericht angeführt wurden und welche die aus den Rollenerwartungen resultierenden Konfliktfelder aufzeigen: 60 Anstatt Mann und Kinder angemessen mit Nahrung und Kleidung zu versorgen, lassen schlechte Ehefrauen den Haushalt und seine Bewohner verlottern, sind faul und verschwenderisch. Anstatt durch kluge Haushaltung das Bestehende zu erhalten oder gar zu vermehren, vergeuden sie durch ihr verantwortungsloses Verhalten die materiellen und finanziellen Ressourcen des Haushalts. Sie werden in keiner Weise ihrem Amt als Hausmutter gerecht. In dem Druck „Die zwelff Eygenschafft eines boßhafftigen verruchten weybs“ (19) betreibt die Ehefrau keine Vorratshaltung, lässt die Lebensmittel verderben und kocht ungenießbares Essen. Das Geflügel stirbt wegen mangelnder Fürsorge und die Kinder verwahrlosen. Die finanziellen Probleme eskalieren und führen dazu, dass sich die Hausfrau Geld borgen und Besitz versetzen muss. Die Vernachlässigung des Haushalts, die auch die mangelnde Sorge um den Ehemann umfasst, hatte aber nicht nur materielle Bedeutung. In ihr drückte sich auch die Missachtung der Frau gegen ihren Mann aus, denn schlechte Versorgung wurde – ebenso wie ein unfreundliches, mürrisches Wesen – von Männern als Abwertung und Mangel an ehelicher Liebe verstanden. 61 Das Flugblatt „Alhier hütte sich ein Jdere Fraw / Dem langen Schwetzen nicht vertraw“ (34, vgl. Abb. unten) 62 kombiniert mehrere der Vorwürfe: Die Züchtigung der Hausfrau findet in der Küche statt, für deren Unordnung sie verantwortlich ist. Geschirr ist umgestoßen, Nahrungsmittel sind verschüttet, eine Schranktür hängt nur noch schief in den Angeln, Haushaltsutensilien liegen am Boden, Katze,
59 Das passt zum Befund von Alexandra Lutz, die feststellt, dass Gewalt oftmals nicht die Ursache von Konflikten, sondern die Reaktion darauf war, mithin als Mittel des Konfliktaustrags verstanden wurde. ALEXANDRA LUTZ: Ehepaare vor Gericht. Konflikte und Lebenswelten in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main/New York 2006 (Geschichte und Geschlechter 51), S. 337. 60 SILKE LESEMANN: Arbeit, Ehre, Geschlechterbeziehungen. Zur sozialen und wirtschaftlichen Stellung von Frauen im frühneuzeitlichen Hildesheim, Hildesheim 1994 (Schriftenreihe des Stadtarchivs und der Stadtbibliothek Hildesheim 23), S. 115; Männer stellten vor Gericht ihre Gewalt immer als angemessene Reaktion auf weibliches Fehlverhalten dar. So beschwerten sie sich z. B. über Widerspenstigkeit und „übles Hausen“. RAINER BECK: Spuren der Emotion? Eheliche Unordnung im frühneuzeitlichen Bayern, in: Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen. Michael Mitterauer zum 60. Geburtstag, hg. v. JOSEF EHMER, TAMARA K. HAREVEN u. a., Frankfurt am Main/New York 1997, S. 171–196, hier S. 181. 61 LUTZ, Ehepaare (wie Anm. 59), S. 333–339. 62 Abb. in: BAKE, Haushaltung (wie Anm. 4), S. 469.
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Hund und Schwein fressen die ungeschützten Lebensmittel. 63 Die schlechte Haushaltsführung geht einher mit Müßiggang, Schwatzhaftigkeit, Eitelkeit und Ehebruch. Hier werden Verbindungen zwischen Haushaltsführung und ehelicher Treue hergestellt, die Männer zum unverzüglichen Eingreifen veranlassen sollen, da suggeriert wird, dass selbst kleine Nachlässigkeiten schwerwiegende Tatbestände nach sich ziehen werden. Auch die weibliche Sexualität wird hier wie die Arbeitskraft der Hausfrau und materielle Güter als eine Ressource des Haushaltes behandelt. Frauen, welche sich häuslicher Nachlässigkeiten schuldig machen, widersprechen oft auch ihrem Mann oder widersetzen sich ihm in irgendeiner Form, so seine Autorität als Hausvater untergrabend. Die Flugblätter arbeiten gerne mit dem Klischee vom bösen Weib, das alle schlechten Eigenschaften in sich vereint. ‚Unhäuslichkeit‘ umfasst nicht nur eine schlechte Haushaltsführung, sondern auch Boshaftigkeit, verbale Aggressivität, Herrschsucht bis hin zu Gewalt – alles Faktoren, welche den Ehe-Frieden zerstören. Lässt man solche Frauen gewähren, beanspruchen sie bald die Herrschaft im Haus und degradieren ihre Gatten, welche jegliche Autorität verloren haben, zu Narren oder Pantoffelhelden, einem weiteren beliebten Klischee der Druckgrapik: der von seiner Frau beherrschte Mann, welcher an ihrer Stelle die typisch weiblichen Hausarbeiten verrichtet. Im „Weiberbefelich“, der sich an alle „Nichtswichtige vnd nichtsdüchtige Siemänner“ (36, vgl. Abb. unten) 64 richtet, kehrt der Hausvater das Haus, versorgt die Wäsche, kümmert sich um das Essen. Spätestens, wenn er seine Frau und ihren Liebhaber bei Tisch bedient, gibt er sich endgültig der Lächerlichkeit preis. In anderen Drucken üben Ehefrauen sogar körperliche Gewalt gegen ihre Männer aus – so endgültig die verkehrte Welt, in der die christlichen Ordnungsvorstellungen aufgehoben sind, symbolisierend. Die Flugblätter werden nicht müde, Ehemännern durch diese schlechten, aber auch lächerlichen Beispiele immer wieder ihre Verantwortung als Haushaltsvorstände vor Augen zu führen und vermitteln ihnen so den Anspruch, dass sie für einen geordneten Haushalt verantwortlich seien, welcher ein in jeder Hinsicht vorbildhaftes Verhalten umfassen sollte. Ein ungeordneter Haushalt, in dem Hausvater und/oder -mutter nicht ihren standesgemäßen Aufgaben nachkommen, schadet den Betroffenen aber nicht nur unmittelbar, sondern hat über den persönlichen Konflikt hinausreichende Konse-
63 Eine ähnliche Situation ist in dem zweiten Bild von CORTHOYS „Schön / Köstliche / vnd bewehrte Recept / für die Regier vnd Mon süchtigenn bösen Faulen / vnartigen / Weiber“ (35) dargestellt: Die Katze frisst aus einer umgefallenen Schüssel, der Hund schnappt sich etwas aus dem Schrank, überall liegen die Haushaltsutensilien am Boden, während die Frau am Kamin schläft. Abb. in: BAKE, Haushaltung (wie Anm. 4), S. 470. Bild und Text stellen eine Verbindung zum Motiv der faulen Hausmagd her, das sich in Genredarstellungen (besonders in der niederländischen Malerei) und in Flugblättern findet. Z. B. CONRAD ROLEDER: Die faule Haußmagd, Augsburg, 17. Jahrhundert, in: Flugblätter, hg. v. HARMS (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 302f. 64 Abb. in: BAKE, Haushaltung (wie Anm. 4), S. 495.
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quenzen. Der Ehemann in dem häufig verlegten Flugblatt „Von den neun Häuten der bösen Weiber“ (37) 65 erkennt dies und stellt fest: „Wollen halten zu sammen mit trewen. / Wir müssen ja leben beysammen / Was soll den zancken vnd grißgrammen. / Dadurch wir werden gantz veracht / Von allen Leuthen außgemacht. / Die halten dan nichts von vns beyden.“
Hier wird der Zusammenhang zwischen Ehe und Gesellschaft berührt. Die Eheleute sind sich bewusst, dass ihre häuslichen Zustände von ihrer Umgebung zur Kenntnis genommen und bewertet werden. Das von der Öffentlichkeit gefällte Urteil war entscheidend für den Ruf eines Haushalts, für das Ansehen seiner Mitglieder in der Gesellschaft. Unfrieden zwischen den Gatten konnte Verachtung und einen schlechten Ruf bis hin zu öffentlichen Sanktionen nach sich ziehen, da die Eheleute den gesellschaftlichen Normen nicht gerecht wurden, wenn der Hausvater sich nicht durchsetzte und die Hausfrau sich nicht unterordnete. Entscheidender Grund für ein friedliches Zusammenleben ist in diesem Flugblatt vor allem die von der Öffentlichkeit ausgeübte Kontrolle, weniger das persönliche Befinden. Die Einsicht, keine Alternative zum gemeinsamen Leben zu haben, sowie die Angst vor der öffentlichen Meinung beeinflussten das häusliche Leben. 6 DISZIPLINIERUNG DER HAUSVÄTER UND HAUSMÜTTER Die populäre Druckgraphik richtete sich an beide Geschlechter, ermahnte aber insbesondere diejenigen Männer, welche als Hausväter die oberste Gewalt in ihrem Hause ausübten, zu einem ordentlichen, tugendhaften, christlichen Leben. Beide Geschlechter unterlagen einem erheblichen Disziplinierungs- und Erwartungsdruck. Während für Frauen einzig das Ideal der tugendhaften Hausfrau galt, widersprach die von kirchlicher und weltlicher Obrigkeit favorisierte Lebensweise als Hausvater in einigen wesentlichen Aspekten gängigen Vorstellungen von Männlichkeit, so dass Männer einem erhöhten und vor allem widersprüchlichen Sozialdruck ausgesetzt waren, da sie konkurrierenden Männlichkeitsidealen genügen mussten. 66 Die Selbstdisziplinierung, die mit dem relativ neuen Ideal des Hausvaters verbunden war, ist die Kehrseite der männlichen Vormachtstellung, die eine unmittelbare Abhängigkeit vom Verhalten der Angehörigen seines Haushalts, insbesondere seiner Ehefrau beinhaltet. Die Ehre des Hausvaters bzw. des
65 Abb. in: BAKE, Haushaltung (wie Anm. 4), S. 465. 66 Auch dieser Aspekt wird in einem Flugblatt thematisiert (38). Abb. in: GEISBERG, Woodcut (wie Anm. 30), Bd. 3, S. 1120. Lyndal Roper widmet sich explizit dem Gegensatz zwischen der Kultur lediger Männer, welche sich unter anderem durch Alkoholkonsum sowie verbale und physische Aggressivität definierte, und der Herstellung einer Gruppenidentität (z. B. der Gesellen) diente. Ein solches Auftreten wurde als Bedrohung der Ordnung empfunden, weil sie der Verhaltensnorm für Hausväter widersprach. LYNDAL ROPER: Männlichkeit und männliche Ehre, in: Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, hg. v. KARIN HAUSEN und HEIDE WUNDER, Frankfurt am Main/New York 1992 (Geschichte und Geschlechter 1), S. 154–172.
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gesamten Haushalts stellte ein soziales Kapital 67 dar, das von existenzieller Bedeutung für die Familie war. Nur durch tugendsames und in jeder Hinsicht vorbildhaftes Verhalten konnten Hausvater und -mutter ihren Positionen gerecht werden und sich als würdige Mitglieder ihres Standes mit seinen spezifischen Normen ausweisen. Der Hausvater, welcher als Bürger und womöglich Zunftmitglied – die Bildsprache der Druckgraphiken adressiert vorwiegend ein städtischbürgerliches Milieu, wobei auch für die Haushalte von Dorfgenossen sowie jene städtischer und ländlicher Hintersassen ähnliche Logiken zu veranschlagen sind – Anteil an der öffentlichen Kommunikation hatte, stand in seiner Person für den Haushalt sowie dessen Einbindung in das Gemeinwesen. Gleichzeitig personifizierte er dem zeitgenössischen Rechtsverständnis getreu Hausherrschaft, selbst wenn ihm in Fragen des haushälterischen Wirtschaftens die Frau in actu gleichwertig gegenüber gestanden haben mochte. Er nahm mithin eine soziale Schlüsselposition ein, an deren Verantwortung, aber auch Gefährdung (namentlich durch Misswirtschaft) die Drucke wiederholt erinnern. In diesem Rahmen dann werden Ressourcen thematisiert: Ressourcen des Haushaltes als ein Teil und Anliegen des Gemeinwesens und dessen Ordnungsbestrebungen. Mit dem öffentlichen Ehrverlust waren sowohl ideelle als auch konkret materiell-finanzielle Konsequenzen verbunden. Die zahllosen Ratschläge in den Flugblättern zur Führung einer guten Ehe sollten nicht nur dem Glück der daran Beteiligten, sondern vor allem auch dem Erhalt ihres Ansehens in der Gesellschaft dienen. Ein ungeordneter Haushalt wird in den Drucken gleichermaßen als Ursache wie als Ergebnis ungeordneter häuslicher Beziehungen dargestellt, welche aber – auch darauf weisen viele Flugblätter hin – als von Gott gesetzt galten bzw. als solche geltend gemacht wurden. Nur das an die vorgeführten Normen angepasste Verhalten beider Gatten sollte dem Paar die gesellschaftliche Anerkennung garantieren können, die existenziell für einen Haushalt war; darauf weisen sowohl traditionelle Rügebräuche als auch Maßnahmen der Obrigkeit hin. 68 Die Ordnung der Geschlechter wurde in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Ordnung der Gesellschaft, der Natur und somit der Gottes gesehen. Die Verkehrung der Ge-
67 Pierre Bourdieu definiert ‚Sozialkapital‘ als „die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind […], es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“, aus der sich letzten Endes konkrete materielle Profite ergeben. PIERRE BOURDIEU: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Soziale Ungleichheiten, hg. v. REINHARD KRECKEL, Göttingen 1983 (Soziale Welt, Sonderband 2), S. 183–198, hier S. 190–192. 68 S. dazu: CHRISTINA VANJA: Das „Weibergericht“ zu Breitenbach. Verkehrte Welt in einem hessischen Dorf des 17. Jahrhunderts, in: Weiber, Menscher, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 1500–1800, hg. v. HEIDE WUNDER und CHRISTINA VANJA, Göttingen 1996, S. 214–222; JOHANNES BOLTE: Bilderbogen des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 19 (1909), S. 51–82, hier S. 69; MARTIN INGRAM: Charivari and Shame Punishments: Folk Justice and State Justice in Early Modern England in: Social Control in Europe, hg. v. HERMAN ROODENBURG und PIETER SPIERENBURG, Bd. 1, 1500– 1800, Columbus, OH 2004, S. 288–308.
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schlechterrollen in der Ehe wurde deshalb als Aufhebung der göttlichen Ordnung verstanden. Das Flugblatt „Der groß Maulet Hund“ (39) 69 spannt den großen thematischen Bogen, der das Konvolut der Drucke insgesamt charakterisiert, und spricht alle der hier angerissenen Aspekte an: Göttlicher Ursprung der Ehe, gute Ehe, problematischer Ehe-Alltag bzw. schlechte Ehe und der Kampf um geordnete Machtverhältnisse als Ausdruck christlichen Lebenswandels. Dieses Blatt nimmt eine Schlüsselstellung ein, da es den ordnungspolitischen Rahmen der Ehe explizit benennt. Es stellt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen weiblichem Herrschaftsanspruch in der Ehe und Ungehorsam gegen Gott her und zeigt damit den Rahmen auf, in dem die oft humoristischen Flugblätter verortet werden müssen. Die populäre Druckgraphik greift zeitgenössische Ehediskurse in exemplarischer Weise auf und etabliert sie durch ihre massenhafte Verbreitung als normative Leitbilder. Mit ihrer Fülle an Motiven fügen sich die Drucke in den seit dem Spätmittelalter andauernden Diskurs über das grundsätzlich als problematisch charakterisierte Verhältnis der Geschlechter ein. Im gemeinsamen Haushalt, in dem alle Beteiligten ihre festgelegten, auf den gemeinsamen Zweck abgestimmten Aufgaben haben, muss das Zusammenleben dauerhaft organisiert werden – genau so, wie es die hier diskutierten Quellen anstreben. Flugblätter thematisieren die Aspekte gemeinsamen Lebens und Wirtschaftens, denen sich auch die Hausväterliteratur 70 widmet und welche Zedler in seinem Eintrag zur „Privat-Oeconomie“ aufführt. 71 Bei dieser geht es sowohl um die Verwaltung des Hauswesens als auch um die Beziehungen seiner Bewohner. Der Zweck der ehelichen Verbindung besteht darin, den durch die gemeinsame „Arbeit und Mühe […] erlangten Vortheil, gemeinschaftlich zu haben.“ 72 Die bereits erwähnten Drucke, welche eine Familie beim Tischgebet zeigen (28, 29), illustrieren das Ideal einer christlichen Haushaltung auf das Schönste: Das Ehepaar sitzt, umgeben von seiner großen Kinderschar, an dem reich gedeckten Tisch. Der Wohlstand, der sich auch in dem üppigen Wuchs des Weins und im Kindersegen ausdrückt, basiert auf einem tugendhaften Leben, auf dessen Mühen die Überschrift hinweist: „Sihe! also wird gesegnet der Mann der den Herrn förchtet, Du wirst dich nehren deiner Hand Arbeit, Wohl dir! du hast es gut“ (29, vgl. Abb.
69 WILLIAM A. COUPE: The German Illustrated Broadsheet in the Seventeenth Century. Historical and Iconographical Studies, 2 Bde. (1. Text, 2. Bibliographical Index), Baden-Baden 1966/1967 (Bibliotheca Bibliographica Aureliana 17 und 20), o. S. (Nr. 71). 70 GOTTHARDT FRÜHSORGE: Luthers Kleiner Katechismus und die „Hausväterliteratur“. Zur Traditionsbildung lutherischer Lehre vom „Haus“ in der Frühen Neuzeit, in: Pastoraltheologie 73,9 (1984), S. 380–393; JULIUS HOFFMANN: Die „Hausväterliteratur“ und die „Predigten über den christlichen Hausstand“. Lehre vom Hause und die Bildung für das häusliche Leben im 16., 17. und 18. Jahrhundert, Weinheim/Berlin 1959 (Göttinger Studien zur Pädagogik 37). 71 ZEDLER, Art. Privat-Oeconomie, die gemeine Haußhaltungs-Kunst, die Privat-WirthschafftsKunst, in: DERS., Universallexicon (wie Anm. 1), Bd. 29 (1732), Sp. 580–583. 72 ZEDLER, Art. Haus-Wirth (wie Anm. 26), Sp. 913.
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unten). Dass ein Haushalt nur bei kluger Nutzung aller Ressourcen gedeihen kann, legen die Flugblätter eindrücklich nahe. Dabei ist ganz offensichtlich, dass unter Ressourcen nicht nur konkret materieller und finanzieller Besitz verstanden wird, sondern dieser erst durch die ihn nutzenden Personen und deren in konkrete Verhaltensweisen umgesetzten Eigenschaften und Tugenden fruchtbar gemacht wird oder eben verloren geht. Das tägliche Wochengebet der züchtigen Jungfrau und des ehrlichen Junggesellen (32, vgl. Abb. unten) offenbart das Bewusstsein für diesen Zusammenhang. Die jungen Leute wünschen sich natürlich ihrem Alter angemessene und gut aussehende PartnerInnen von freundlichem, häuslichem und treuem Wesen. Selbstverständlich wäre auch ein „zimlich Heyrath Gut“ wünschenswert, da es doch „zur Nahrung auch wohl thut“. Aber man bittet den Herrn nicht nur darum, „gute Nahrung“ zu geben, sondern verspricht auch, selbst „häußlich in Ersparung“ zu sein, Geld nicht zu verschwenden, sich hinfort von dem erlernten Handwerk nähren und mit den zur Verfügung stehenden Mitteln „Hauß zu halten recht“. In diesem Flugblatt verbinden sich auf das Idealste materielle und immaterielle Ressourcen, die – so das Versprechen – Wohlstand und Eheglück des zukünftigen Haushalts sichern werden. Und obwohl sich das elegant gekleidete Paar in dem Druck „Manus manum lavat“ (27, vgl. Abb. unten) vermutlich nicht – wie Bild und Text suggerieren – als Bauern seinen Unterhalt erwirtschaftet, so genießen sie gemeinsam den Wohlstand, über den sie durch ein tugendhaftes Leben und vernünftiges Wirtschaften verfügen: „Schaut! Ehen die werden im Himmel beschlossen / von dannen in Herzen der Menschen gegossen / […] So waschen sie beide einander die Hand / Er säet, sie nehet, und bleiben im Land.“
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Abb. 4, gedruckt mit der freundlichen Genehmigung von: Stiftung Moritzburg Halle (Saale) – Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt
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Abb. 27, gedruckt mit der freundlichen Genehmigung von: Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin
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Abb. 29, gedruckt mit der freundlichen Genehmigung von: Herzog Anton Ulrich-Museum, Kunstmuseum des Landes Niedersachsen
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Abb. 32, gedruckt mit der freundlichen Genehmigung von: Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin
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Abb. 34, gedruckt mit der freundlichen Genehmigung von: Herzog Anton Ulrich-Museum Kunstmuseum des Landes Niedersachsen
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Abb. 36, gedruckt mit der freundlichen Genehmigung von: Stiftung Moritzburg Halle (Saale) – Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt
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VERWENDETE DRUCKGRAPHIK (1) JOHANN STRIDBECK D. J. (1692–1716 nachweisbar): Sprich und Denck=Wörter Figuren, zu Nutz und Belustigung Vorgestellet, Augsburg 1692, Radierungen / graviert, 157 x 224 mm (Blatt), 45 x 60 mm (Platte), Herzog Anton Ulrich-Museum, Kunstmuseum des Landes Niedersachsen: KK 353−356 (2) ANONYM: Spiegel einer Christlichen vnd friedsamen Haußhaltung. Syrach am 25. vnd 26, o. O., o. J., Kupferstich, Radierung / Typendruck, 365 x 284 mm, Stiftung Moritzburg Halle (Saale) – Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt: F 160 (3) PAULUS FÜRST (1608–1666): Spiegel einer Christlichen vnd friedsamen Haußhaltung / Syrach am 25. vnd 26. Capitel, Nürnberg 1651, Kupferstich / Typendruck, 354 x 295 mm, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: IE 30 (4) (Abb.) JOHANN BUSSEMACHER (seit 1577 nachweisbar, vor 1627 gestorben): Spiegel einer Christlichen vnd friedsamen Haußhaltung. Syrach am 25. vnd 26. Capittel, Köln 1615, Kupferstich / Typendruck, 375 x 292 mm, Stiftung Moritzburg Halle (Saale) – Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt: F 161 (5) GERHARD ALTZENBACH (1609–1672 nachweisbar): Katz im Sack, Köln, Mitte 17. Jh., Kupferstich / graviert, 285 x 382 mm, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg: HB 24539, Kapsel 1294 (6) JOHANN HOFMANN (1629–1698): Schantzen vnd Wag=Spiel. Unterschiedlich hitzig Verliebten, so Manns alß Frauen Personen, Nürnberg, um 1680, Kupferstich / Kupferstich, 279 x 392 mm, Stiftung Moritzburg Halle (Saale) – Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt: F 377 (7) ANONYM: Newer Korb voll Venuskinder / Allen Jungen Gesellen vnd Jungfrawen / so wol auch andern Mann= vnd Weibspersonen (die dessen bedörfftig) zum besten für Augen gestellt, o. O., Mitte 17. Jh., Kupferstich / Typendruck, 316 x 250 mm, Stiftung Moritzburg Halle (Saale) – Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt: F 207 (8) PAULUS FÜRST: Spannener geflochtener Freyerkorb / Allen Jungen=Gesellen und Jungfern / sowol andern angehenden Heyrahts=Leuten zur wolmeinenden Nachricht vorgestellet, Nürnberg, Mitte 17. Jh., Kupferstich / Typendruck, 323 x 262 mm, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: IE 102 (9) PETER ISSELBURG (um 1580–1630/31)/CHERUSPATTE FARON (RUPERT VON CASTENHOF): Bericht: wie es gehe / Gar nach dem A, B, C, Welche sich zur Ehe / Vnbesonnen geben / Da ihr gantzes Leben / Hat zu widerstreben, o. O., o. J., Kupferstich / Typendruck, 375 x 277 mm, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: 38.25. Aug. 2°, fol. 387 (10) HANNS PAUR (1445–1472): Vom Haushalten, Nürnberg um 1480–1485, Holzschnitt, koloriert, 255 x 366 mm, Staatliche Graphische Sammlung München: 118321 D (11) MARTIN WÖRLE (1609–1621 nachweisbar): Für ein jeden Burger oder Haußwirt / hüpsche Sprüche / auch was ein Jar auff ein Mann / Weib /vnnd Magd auffs geringst auffgehet / alles kurtz hirinnen be=griffen / vnd in Truck verfertigt, Augsburg 1613, Holzschnitt / Typendruck, 351 x 291 mm, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: 38.25 Aug. 2°, fol. 464 (12) ERHARD SCHÖN (zugeschrieben, 1491–1542)/WOLFGANG STRAUCH/HANS SACHS (1494– 1576): Weibermarkt in Schlampampenland (Der alten Weiber Rossmarck), Nürnberg um 1570, Holzschnitt, koloriert / Typendruck, 360 x 273 mm, Staatsbibliothek Bamberg: VI G 157 (13) ANONYM: De Lifde eylaes heest nu den Jack gheereghen, o. O., o. J., Kupferstichkabinett – Staatliche Kunstsammlungen Dresden: Band B 1980a, 4 (14) ANONYM: Povr se marier on balance a qvi avra plvs dopvlance, o. O., um 1600, Stiftung Moritzburg Halle (Saale) – Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt: F 330 (15) HANS SEBALD BEHAM (1500–1550)/HANS ADAM (1535–1568 tätig): Ungleiches Paar (Alter Mann und junge Frau), o. O., 2. Viertel 16. Jh., Holzschnitt / Typendruck, 350 x 248 mm, Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg: AH 70
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(16) HANS SEBALD BEHAM/HANS ADAM: Ungleiches Paar (Alte Frau und junger Mann), o. O., 2. Viertel 16. Jh., Holzschnitt / Typendruck, 350 x 252 mm, Universitätsbibliothek ErlangenNürnberg: AH 71 (17) ERHARD SCHÖN/STEPHAN HAMER/HANS SACHS: Ein gesprech zwischen Siben mennern / darinn sie jre Weyber beklagen, Nürnberg 1531, Holzschnitt / Typendruck, 317 x 240 mm, Stiftung Schloss Friedenstein Gotha: 39, 24 (18) VIRGIL SOLIS (1514–1562)/HANS GULDENMUND (1520–1546 nachweisbar)/HANS SACHS: Ein nützlich Rat den jungen Gsellen So sich verheyraten wölln, Nürnberg 1549, Holzschnitt / Typendruck, 431 x 326 mm, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg (19) ERHARD SCHÖN/NICLAS MELDEMAN (1518–1552 nachweisbar)/HANS SACHS: Die zwelff Eygenschafft eines boßhafftigen verruchten weybs, Nürnberg 1530, Holzschnitt / Typendruck, 547 x 359 mm (20) ANONYM: Vater und Mutter (aus einer Ständeserie), o. O., Ende 16. Jh., Holzschnitt / Typendruck, 290 x 170 mm, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg: HB 2013, Kapsel 1056c (21) ANONYM (nach ERHARD SCHÖN): Ein kurtzweilig Gespräch vnd Abschied / zwischen Herrn Eyl hinweg / Curdten bleib nicht da / vnd Eyteln trewen Knecht / wie dann auch Frawen Seltenfried vnd ihrem Hund Häderlin, o. O., 1619, Radierung / Typendruck, 281 x 345 mm, Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin: O 1001, 4 (22) JACOB VAN DER HEYDEN (1573–1645): Kunckel Brieff oder Spinn Stuben. Proverb. Salomonis. Cap. 31.vers.10.11.12.13.14.vnd 19 etc., Straßburg, 1. Hälfte 17. Jh., Radierung / Typendruck, 238 x 33 mm, Kunstsammlungen der Veste Coburg: XIII, 441, 8 (23) TOBIAS STIMMER (1539–1584)/BERNHARD JOBIN (vor 1545–1593)/JOHANN FISCHART (1546/47–1590): Die zehn Lebensalter von Mann und Frau. (xxx Jar im Hauß die Frau / xl jar ein Matron genau), Straßburg, um 1575, Holzschnitt, koloriert / Typendruck, ca. 360 x ca. 270 mm, Stiftung Moritzburg Halle (Saale) – Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt: G 52 (24) ERHARD SCHÖN/ALBRECHT GLOCKENDON (1506?–1545): Kein edler schatz ist auff der ert / Dann ein frums weib die ehr begert, Nürnberg, um 1533, Holzschnitt / Typendruck, 269 x 337 mm, Stiftung Schloss Friedenstein Gotha (25) ANTON WOENSAM/WOLFGANG RESCH: Dise Figur sol man an schawen. Die bedewtet ein weyse Frawen, o. O., um 1525, Holzschnitt / Typendruck, 383 x 256 mm, Albertina Wien: DG 1966/218 (26) SARA MANG/FRIEDRICH SUSTRIS (Vorlage, um 1540–1599)/Nachdruck des Exemplars von DOMINIC CUSTOS (1605): Vnderredung zweyer liebhabenden Personen / welche vor Ehelicher Verlobung gehen / vorher geschehen soll, Augsburg 1618, Kupferstich / Typendruck, 311 x 262 mm, Herzog Anton Ulrich-Museum, Kunstmuseum des Landes Niedersachsen: FB 3 V (27) (Abb.) PAULUS FÜRST/PETER TROSCHEL (nach 1667 gestorben): Manus manum lavat, Nürnberg, Mitte 17. Jh., 173 x 238 mm, Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin: O 1001 a, 4 (28) GERHARD ALTZENBACH/ABRAHAM AUBRY (vor 1628–nach 1682)/JOHANN TOUSSYN (nach 1608 getauft–um 1660 nachweisbar): Ecce sic benedicetur, qui timet Dominum. Labores manuum suarum quia manducabit, beatus est, et bene illi erit. Vxor eius sicut Vitis abundans. in Lateribus domus suæ, Filii eius sicut nouellæ Oliuarum in circuitu mensæ suæ. Psal: 127, Köln, 3. Viertel 17. Jh., Kupferstich / graviert, 288 x 401 mm, Kölnisches Stadtmuseum: G 14743 (29) (Abb.) PAULUS FÜRST: Sihe! also wird gesegnet der Mann der den Herrn förchtet, Du wirst dich nehren deiner Hnd Arbeit, Wohl dir! du hast es gut. Dein Weib wird seÿn, wie ein fruchtbar Weinstock üm dein Hauß herüm, und deine Kinder wie die ÖhlZweige üm deinen Tisch her Psalm 128, Nürnberg, Mitte 17. Jh., Radierung, Kupferstich / graviert, 279 x 370 mm, Herzog Anton Ulrich-Museum, Kunstmuseum des Landes Niedersachsen: 5210 (30) JOHANNES MEYER: Tischzucht, Zürich 1645, Kupferstich, Typendruck (31) ABRAHAM BACH (1680 gestorben): Ein schöne Tischzucht, Augsburg, um 1660–1680, Holzschnitt, Typendruck, Staatsbibliothek Bamberg: VI G 155
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(32) (Abb.) ANONYM: Züchtiger Jungfrauen und Ehrlicher Jungen Gesellen täglichs Wochen=Gebet, o. O., Mitte 17. Jh., Kupferstich / Typendruck, 304 x 352 mm, Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin: O 1002, 5 (33) JACOB VAN DER HEYDEN: Die verkehrte Welt hie kann Wohl besehen Jederman, Straßburg um 1620, Kupferstich / graviert, 262 x 344 mm, Stiftung Moritzburg Halle (Saale) – Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt: F 67 (34) (Abb.) ANONYM: Alhier hütte sich ein Jdere Fraw / Dem langen Schwetzen nicht ver traw, o. O., o. J., Kupferstich, Radierung / graviert, 257 x 309 mm, Herzog Anton Ulrich-Museum Kunstmuseum des Landes Niedersachsen: FB 3 VI (35) CONRAD CORTHOYS (um 1564–1620): Schön / Köstliche / vnd bewehrte Recept / für die Regier vnd Mon süchtigenn bösen Faulen / vnartigen / Weiber / wie dieselben Monatlich zu Curiren sein / zu sonderbahren Ehren/ der nicht viel Taugenden / vnachtsamen Frawen / sampt ihren gespieln / zum Meßkram oder kirweiy verehrt, Frankfurt 1600–1620, Radierung / Typendruck, 380 x 285 mm, Stiftung Moritzburg Halle (Saale) – Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt: F 758 (36) (Abb.) PAULUS FÜRST: Neweröffneter Ernsthaffter / hochstraffwürdiger / vnd vnverbrüchlicher Weiberbefelich / Abgegangen An alle Nichtswichtige vnd nichtsdüchtige Siemänner, Nürnberg, Mitte 17. Jh., Kupferstich / Typendruck, 379 x 266 mm, Stiftung Moritzburg Halle (Saale) – Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt: F 204 (37) ANONYM/HANS SACHS: Von den neun Häuten der bösen Weiber / wie jede Haut mit Nahmen genennet wird / vnd was sie für Tugenden haben, o. O., 1. Hälfte 17. Jh., Kupferstich / Typendruck, 250 x 334 mm, Stiftung Moritzburg Halle (Saale) – Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt: F 142 (38) ERHARD SCHÖN/NICLAS MELDEMANN/HANS SACHS: Wie ein Gsell mit einr Haußmayd degt. Vnd sy jm seinen Harnisch fegt, Nürnberg 1532, Holzschnitt / Typendruck, 367 x 277 mm, Stiftung Schloss Friedenstein Gotha (39) DANIEL MANNASSER (1637 gestorben): Der groß Maulet Hund. Fürchst du sie / So friß ich dich, Augsburg 1621, Kupferstich / Typendruck, 372 x 287 mm, Herzog Anton UlrichMuseum Kunstmuseum des Landes Niedersachsen: FB 3 V
Moritz Isenmann (Hg.)
Merkantilismus Wiederaufnahme einer Debatte Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – Beiheft 228
Nachdem es seit den 1970er Jahren eher still um den „Merkantilismus“ geworden war, ist im Zuge der aktuellen Wirtschaftskrise auch die Debatte über frühneuzeitliche Wirtschaftspolitik und -theorie neu entbrannt. Welche Hauptmerkmale können ihnen zugeschrieben werden, welche Ziele verfolgten sie? Ist der Begriff „Merkantilismus“ sinnvoll oder irreführend? Die in diesem Band versammelten Beiträge beleuchten und diskutieren diese Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven – von der Ideen- über die Wirtschafts- bis hin zur Verfassungsgeschichte. .............................................................................
Aus dem Inhalt
Moritz Isenmann (Hg.) Merkantilismus 2014. 289 Seiten mit 4 Abbildungen. Kartoniert. & 978-3-515-10857-7 @ 978-3-515-10858-4
lars magnusson: Is Mercantilism a Useful Concept Still? | philipp robinson rössner: Mercantilism as an Effective Resource Management Strategy? Money in the German Empire, c. 1500–1800 | thomas simon: Zur Tragfähigkeit des Merkantilismusbegriffs und seiner Abgrenzung zum deutschen „Kameralismus“ | jean-yves grenier: Échange et marchés dans le mercantilisme anglais et français (XVIIe– XVIIIe siècle) | wolfgang reinhard: Zur anthropologischen Kritik der ökonomischen Vernunft | laurence fontaine: L’histoire économique et le marché comme enjeux sociaux. Dialogue avec Wolfgang Reinhard | moritz isenmann: War Colbert ein „Merkantilist“? | gijs rommelse / roger downing: Anglo-Dutch Mercantile Rivalry, 1585–1688. Interests, Ideologies, and Perceptions | burkhard nolte: Zölle und Akzise im friderizianischen Preußen. Intention und Durchsetzung staatlicher Merkantilpolitik | jochen hoock: Le monde marchand face au défi colbertien. Le cas des marchands de Rouen | junko thérèse takeda: Silk, Calico and Immigration in Marseille. French Mercantilism and the Early Modern Mediterranean | guillaume garner: Le mercantilisme: un faux ami? L’économie entre discours, politique et pratiques (Allemagne, 1750–1820)
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Gabriela Signori (Hg.)
Das Schuldbuch des Basler Kaufmanns Ludwig Kilchmann (gest. 1518) Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – Beiheft 231
Dank der Teiledition August Bernoullis (1839–1921) in der Reihe der Basler Chroniken ist das Schuldbuch des Basler Kaufmanns Ludwig Kilchmann (1450–1518) der Forschung seit längerem bekannt. Bernoullis Augenmerk galt jedoch ausschließlich Kilchmanns zeitgeschichtlichen Nachträgen, die er in veränderter Reihenfolge veröffentlichte. Das Kernstück des Schuldbuchs, Kilchmanns Geldgeschäfte, interessierte ihn nicht – eine folgenschwere Entscheidung. Sie führte dazu, dass der ungleich bedeutendere Geschäftsteil des Buches bald in Vergessenheit geriet.
Gabriela Signori (Hg.) Das Schuldbuch des Basler Kaufmanns Ludwig Kilchmann (gest. 1518) 2014. 126 Seiten mit 6 Abbildungen. Kartoniert. & 978-3-515-10691-7 @ 978-3-515-10932-1
Das Schuldbuch gewährt einen einzigartigen Einblick in die Geschäftspraktiken eines Kaufmanns, der ausschließlich von Geldgeschäften lebte: von dem Geld, das er in benachbarten Städten anlegte, und von den vielen Krediten, die er vorzugsweise Adligen aus der Region vorstreckte. Das Startkapital aber hatte zu einem gewichtigen Teil seine Frau, Elisabeth Zscheckabürlin (1449–1499), in die Ehe eingebracht. Das zeigt die Analyse der Hände, die mit dem Schuldbuch gearbeitet haben. ......................................................................
Aus dem Inhalt Einleitung | Bibliographie | Die Handschrift | Die Editionsrichtlinien | Maße und Währungseinheiten | Register | Das Schuldbuch | Sachindex | Orts- und Personenindex
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Lexikon zur Überseegeschichte Herausgegeben von Hermann Joseph Hiery für die Gesellschaft für Überseegeschichte unter Mitarbeit von Markus A. Denzel, Thomas Fischer, Gita Dharampal-Frick, Horst Gründer, Mark Häberlein, Achim von Oppen, Horst Pietschmann, Claudia Schnurmann, Bernhard Streck, Wilfried Wagner, Hermann Wellenreuther und Michael Zeuske Das Lexikon zur Überseegeschichte ist das Standardwerk zur außereuropäischen Geschichte in deutscher Sprache. Verfaßt von den maßgeblichen deutschen Experten – Historikern, Ethnologen, Linguisten, Religionswissenschaftler – zu außereuropäischen Kulturen und Völkern und ihrer Geschichte enthält es rund 2000 Stichwörter (Abidjan bis Zyklische Zeitvorstellung) zu allen Bereichen Afrikas, Amerikas, Asiens, Australiens und der Südsee. Auf dem neuesten Stand der Forschung werden auch komplexe historische und politische Zusammenhänge übersichtlich und verständlich dargestellt. Hermann Joseph Hiery (Hg.) Lexikon zur Überseegeschichte 2015. XIII, 922 Seiten. Gebunden. & 978-3-515-10000-7 @ 978-3-515-10875-1
Die ausführlichen Lebensbeschreibungen wichtiger Frauen und Männer enthalten zusätzliche Informationen, die in keinem anderen Lexikon zu finden sind. Dazu kommt ein Anhang über Geld und Geldwirtschaft sowie Maße und Gewichte weltweit. Auf 900 Druckseiten ist das Lexikon zur Überseegeschichte ein einzigartiges Werk, das im deutschen Sprachraum, ja darüber hinaus, nichts Vergleichbares kennt. Wer sich in Zukunft über die Geschichte außereuropäischer Kulturen informieren will, besitzt im Lexikon zur Überseegeschichte ein zuverlässiges Hilfsmittel.
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Drei zentrale Merkmale charakterisierten den Umgang frühneu zeitlicher Gesellschaften mit Ressourcen: Erstens hatten kollek tive Ressourcen bzw. Gemeinbesitz und dessen Bewirtschaftung zum ‚gemeinen Nutzen‘ große Bedeutung. Zweitens waren neben materiellen auch immaterielle Ressourcen Gegenstand sozialer Techniken des Transfers, der Bewertung und der Konvertierung. Drittens spielten Ressourcen in sozialen Beziehungen eine zent rale Rolle. Daraus ergeben sich eine Fülle von Fragen: Wie wurden verschie dene Arten von Gütern, materielle wie immaterielle, gegenei nander verrechnet? Welchen ökonomischen Regeln gehorchten soziale Beziehungen? Welche Rolle spielten Ressourcen in Bezie hungen? Inwiefern waren Ressourcen in ihrer Wahrnehmung und im Umgang an konkrete soziale Beziehungen gebunden, können also nicht als beziehungsfreie Größen konzipiert werden? Was bedeutet es für ein ökonomisches Modell, wenn auch immate rielle Ressourcen wie Loyalität oder Ehre ins Kalkül einbezogen werden? Die Beiträge dieses Bandes gehen diesen Fragen an konkreten Fallbeispielen nach, reflektieren theoretische und konzeptio nelle Aspekte und entfalten dabei eine ‚Ökonomie sozialer Beziehungen‘.
ISBN 978-3-515-11052-5
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