Die Zeit ins Gebet nehmen: Medien und Symbole im Gottesdienst als Ritual 9783666624087, 9783525624081


111 7 29MB

German Pages [304] Year 2009

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Die Zeit ins Gebet nehmen: Medien und Symbole im Gottesdienst als Ritual
 9783666624087, 9783525624081

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne Steinmeier in Zusammenarbeit mit den Zeitschriften PASTORALTHEOLOGIE und WEGE ZUM MENSCHEN und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie

Band 55

Vandenhoeck & Ruprecht

Hans Martin Dober

Die Zeit ins Gebet nehmen Medien und Symbole im Gottesdienst als Ritual Mit 14 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Uwe Bernhardt †, dem zu früh gestorbenen Gesprächspartner, und Django Hödl, dem Lehrer in den Harmonien des Jazz, gewidmet

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-62408-1

© 2009, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: b Hubert & Co, Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung: Liturgik als Schwellenkunde – vom Ernst des menschlichen Spiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Zum Begriff der Liturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Thematische Zuspitzung und methodische Entscheidungen . . . 1.3 Neuzeitliche Wandlungsprozesse der Gesellschaft und ihre Auswirkung auf die Christentumspraxis, oder: Die Krise des christlichen Gottesdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Haben die Liturgien ihre Zeit gehabt? . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Metaphysik im nachmetaphysischen Zeitalter? . . . . . . . . 1.3.3 Der ambivalente Eindruck der (alten) Liturgien: Ein Beispiel aus dem zeitgenössischen Roman . . . . . . . . 1.3.4 Der Strukturwandel und die Chance des kirchlichen Kasualhandelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Zeit der Liturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zeit ist Frist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Herrschaft der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Widerstand gegen die Herrschaft der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Qualifizierte und quantitativ erfahrene Zeit . . . . . . . . . . . 2.3.2 Carpe diem, oder: Die Möglichkeiten des Daseins ergreifen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 „Dem Glücklichen schlägt keine Stunde“, oder: Stillstellung der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Annäherungen an den Begriff der Ewigkeit . . . . . . . . . . . 2.4 Die Entfaltung einer Liturgik, die die Zeit ernst nimmt: Erster Anschluss an Rosenzweigs „Der Stern der Erlösung“ . . . 2.4.1 Der Antwortcharakter des Kirchenjahrs . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Die liturgischen Ordnungen als Repräsentanten einer anderen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Das Kirchenjahr im Verhältnis zum liturgischen Jahr der Synagoge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 11 13 15

18 21 22 27 28 32 32 37 45 47 48 51 54 59 66 69 70 5

3. Liturgie als Ritual: Schöpfung und Erhaltung von Sozialität . . . . . . 80 3.1 Die Theorie des Rituals als Teil der Theorie des Lebens: Humanwissenschaftliche Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.2 Die Vernunft des Rituals: Es schafft die Bedingungen spezifischer Erfahrung gemeinsamer Zeit (zweiter Anschluss an Rosenzweig) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4. Der Raum der Liturgie: Räume als Orte der Versammlung erfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 4.1 Die Gleichursprünglichkeit der Zeit mit dem Raum . . . . . . . . . . 4.2 Der Raum als Bedingung möglicher Gleichzeitigkeit oder von Sozialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Der kirchliche Raum (Kirchenbau) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Sakralbau oder Profanbau? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Wie kann der „Zweckbau“ als „anderer“ Raum erfahrbar sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Der „unsagbare Raum“ im Deutungsmuster einer „Poesie der offenen Welt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

5. Die Medien der Liturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Stimme – Wort – Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Der Ton: Die Musik als Klang-Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Das Bild: Über den rechten Gebrauch der anschaulichen Darstellung in der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

128 130 137

107 110 110 116 122

144

6. Die Symbole der Liturgie: Antworten auf das Bedürfnis nach Sinnvergewisserung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 6.1 Der Mensch als „animal symbolicum“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Der Begriff des Symbols zwischen Mythos, Wissenschaft und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Sinnvergewisserung als Bedürfnis „gelebter“ Religion . . . . . . . 6.3.1 Die drei Religionssucher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Der Sinn des Lebens in der Dimension des Unendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Die „gelebte“ Religion und das Bedürfnis nach Vergewisserung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6

154 158 165 165 168 175

6.4 Darstellung ausgewählter Symbole der Liturgie . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Die Paramente, oder: Die sinnliche Darstellung der Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Weihnachten, oder: das „Feuer eines allgemeinen Gefühls“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 Die Taufe, oder: Der Anfang eines individuellen Christenlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.4 Das Abendmahl, oder: Die Erhaltung einer Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins . . . . . . . . . . . . 6.4.5 Das Kreuz, oder: Leben mit den Widersprüchen der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Symbol und Allegorie: Zur Differenz von objektiver Geltung und subjektiver Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.1 Das Beispiel der Sixtinische Kapelle: Der Anspruch objektiver Geltung, in der Kunst dargestellt . . . . . . . . . . 6.5.2 Der Moses des Michelangelo in der Sicht Freuds . . . . . . 6.5.3 Caravaggios „Christus in Emmaus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.4 Die Messe als symbolische Form in Kompositionen der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

178 178 186 194 201 210 214 218 221 227 230

7. Das Wesen des evangelisch verstandenen christlichen Gottesdienstes und seine verantwortliche Gestaltung . . . . . . . . . . . . 233 7.1 Die Frage nach dem Wesen als Antwort auf die Erfahrung von Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 7.2 Von der Funktion zurück zum Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Die verantwortliche Gestaltung des Gottesdienstes . . . . . . . . . . 7.3.1 Die durch den Gottesdienst geschaffene Situation und ihr Verhältnis zur alltäglichen Lebenswelt . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Ernst Langes korrelatives Modell der „Kommunikation des Evangeliums“ . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3 Beugt Lange den Gottesdienst „unter die Tyrannei der Ethik“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.4 Der Begegnungscharakter des Gottesdienstes auf humanwissenschaftlicher Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.5 Handeln unter dem Kriterium der Angemessenheit . . . . 7.3.6 Die Feier des Gottesdienstes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

234 237 240 244 248 250 253 256

8. Das Gebet als Matrix und Apex des Gottesdienstes . . . . . . . . . . . . . 258 8.1 Der Gottesdienst als Fest, Feier und Gebet . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 8.2 Schwierigkeiten mit dem Beten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 7

8.3 Das Phänomen des Betens in Ulrich Seidls Film „Jesus, du weißt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Bitte und Dank als Grundformen des Gebets . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.1 Schleiermacher und Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.2 Die ritualisierte Geste des gemeinsamen Gebets: Ein Entzifferungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Eine semantische Analyse des Vaterunsers . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6 Das Gebet präzisiert und transzendiert das Ritual . . . . . . . . . . . 8.6.1 Zusammenfassende Aspekte der Analyse des Vaterunsers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6.2 Die Verwindung der Metaphysik im Gebet: Ein abschließender Blick auf Rosenzweigs Liturgik . . . . 8.6.3 Das Gebet als „Weltsprache der Menschheit“ . . . . . . . . .

264 267 268 270 275 281 281 284 287

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filmtitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibelstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8

299 302 303 303

Vorwort

Der reguläre Sonntagsgottesdienst scheint weitgehend ausgedient zu haben. Ist er ein Auslaufmodell „gelebter Religion“, das sich nur noch durch eine stets aktuelle Auffindung und Bestimmung seines „Kasus“ am Leben erhalten lässt? Oder ist er eine museale Veranstaltung, die sich in einer dem Alters-Starrsinn nachgesagten Beharrlichkeit der alten Medien bedient und eben das erfordert, was in der durch die elektronischen und digitalen Medien erzeugten Öffentlichkeit gerade unterbrochen wird: die leibliche Gegenwart in der Begegnung von Angesicht zu Angesicht? Die vorliegende Untersuchung zeigt, wie der Sonntagsgottesdienst auch heute in einem wesentlichen und ritualisiert regelmäßigen Sinne der Darstellung des Christentums dienen kann. Er bildet einen Erfahrungsraum, der sich in einer durch Beschleunigung gekennzeichneten gesellschaftlichen Situation nur einem entschleunigten Zugang erschließt. Dazu bedarf es der Kunst, der Musik und des Wortes, auf deren konkrete Erscheinung die hier entwickelte Theorie liturgischer Praxis stets bezogen ist. In diesem Sinne möchte dieses Buch nicht „Schwanengesang“ eines sterbenden Elements der Kultur in den westlichen Gesellschaften sein, jedenfalls mit Blick auf die Verhältnisse in den Stammlanden der Reformation, sondern Spurensuche nach den Antworten auf solche Fragen, die auch in der Mediengesellschaft nicht alt geworden sind. Die gewählte Deutungsperspektive auf die für die Sache relevanten Phänomene und Begriffe ist von einem systematischen Anspruch getragen. In einer methodischen Verknüpfung humanwissenschaftlicher Zugänge und religionsphilosophischer Interpretationen wird die These entfaltet, dass der Gottesdienst wesentlich aus der Praxis des gemeinsamen Gebets zu verstehen ist. In ihr können die sich aus der Zeitlichkeit des Menschen ergebenden Herausforderungen verwunden werden. Denn der Gottesdienst mit seiner Gebetspraxis antwortet immer schon auf die mit der Endlichkeit des Menschen gestellte Frage nach dem Bleibenden, Ewigen. Auch in einem – seinem Selbstverständnis entsprechend – nach-metaphysischen Zeitalter lässt sich diese praktische Gestalt einer Verwindung von Metaphysik im Vollzug gelebter Religion vertreten. Zu danken habe ich meinen ersten Lesern, dass sie mich zu einem erneuten Durchdenken des Stoffes, hier zu Kürzungen, dort zu Ergänzungen veranlasst haben. Dekan Eberhard Gröner (Waiblingen) hat beruflich aus9

reichend Gelegenheit, die Vielfalt des entsprechenden Geschehens – jedenfalls in seinem Dekanat – wahrzunehmen. Die Kollegen im Amt Dr. Thomas Reinhuber (Tuttlingen) und Dr. Christoph Weimer (Neckarsulm) stehen wie der Verfasser selbst als Gemeindepfarrer in der Pflicht, dieser Zentralveranstaltung der Kirche nach der Ordnung des Kirchenjahres unter den je örtlichen Bedingungen eine angemessene Gestalt zu geben. Vor allem hat mich die kritisch-konstruktive Rückmeldung des Organisten und Kantors Mathis Meinrenken (Tübingen-Bühl) angeregt, das Thema der Kirchenmusik so einzubringen, dass sie als ein notwendiges Integral des evangelisch verstandenen Gottesdienstes zur Darstellung kommen kann. Pfarrer z. A. Gerd Mohr hat den Text Korrektur gelesen; dafür sei auch ihm ein herzlicher Dank gesagt. Tuttlingen, im November 2008

10

Hans Martin Dober

1. Einleitung: Liturgik als Schwellenkunde – vom Ernst des menschlichen Spiels

„Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Wort ‚schwellen‘ und diese Bedeutung hat die Etymologie nicht zu übersehen. Andererseits ist notwendig, den unmittelbaren […] zeremonialen Zusammenhang festzustellen, der das Wort zu seiner Bedeutung gebracht“ hat. Walter Benjamin1

Was geschieht eigentlich im christlichen Gottesdienst nach evangelischem Verständnis? Und wozu brauchen wir ihn (noch)?2 Welche Fragen wirft er auf, und umgekehrt: auf welche Fragen menschlichen Lebens, Fragen der Existenz, vermag er Antworten zu geben? Diese Leitfragen werden Schritt für Schritt weiter zu differenzieren sein. Ich beginne mit einer Erörterung zum Begriff der Liturgie, deren Bestimmungen auf der Rückseite des Webmusters des Textes weiterlaufen, um hier und da – vor allem aber anlässlich der Frage nach dem Wesen des evangelisch verstandenen christlichen Gottesdienstes – an die Oberfläche zu treten. Im Gesamtzusammenhang der Untersuchung geht methodisch ein humanwissenschaftlicher Zugang zum Phänomen des Gottesdienstes und eine historische Reflexion über den Wandel seiner Funktionen der Frage nach seinem Wesen voraus, die deswegen an Relevanz keineswegs verliert. Vielmehr findet sie einen Reflex vor allem an den Stellen des Gedankengangs, die im Focus der Humanwissenschaft auf anthropologische Grundfragen verweisen. Der Gegenstand, in dessen Behandlung sich empirische Zugänge und die Frage nach dem Wesen sowohl des Gottesdienstes als auch des Menschen berühren, sind die sog. „Kasualien“, die Gottesdienste aus gegebenem An———— 1 W. Benjamin, Gesammelte Schriften (GS I–VII), hier: GS V/1, 617f. 2 Diese Frage ist von E. Lange aufgeworfen worden (vgl. Ders., Was nützt uns der Gottesdienst? [1973], 332–340). Ich werde auf diesen Aufsatz im 7. Kapitel näher eingehen. Schon Lange hat den Anschluss an die Humanwissenschaften gesucht. Ich bahne mir aber einen Weg durch Fragestellungen, die sich so in diesem früheren Text nicht entfaltet finden.

11

lass also, die heute längst nicht mehr nur anlässlich einer Geburt, der Adoleszenz, der Eheschließung oder der Bestattung stattfinden, sondern auch zur Einschulung, zur Kirchenwahl und zu anderen Gelegenheiten. Hier scheint das „Passungsverhältnis“ (Wilhelm Gräb) von Anliegen des wirklichen Lebens der Betroffenen und dem Antwortcharakter des kirchlichen Handelns im Gottesdienst leichter zusammenzustimmen als in den regulären sonntäglichen Gottesdiensten im Jahreskreis, deren Kasus im gegenwärtigen Leben man jeweils erst suchen muss, während er in Wochenspruch, Predigttext und dogmatischer Bedeutung der jeweiligen Stelle im Kirchenjahr schon gegeben ist. Eben weil es anlässlich der sog. „Kasualien“ um die Begehung von Lebensschwellen geht, und weil in Analogie zu diesen Gottesdiensten aus besonderem Anlass der jeweilige Kasus auch der anderen erst aufgefunden werden muss, wird man eine Schwellenkunde zu den Voraussetzungen einer Liturgik rechnen müssen, die ihrer Zeit angemessen sein will. Inzwischen scheint sich dieser Begriff einer weiteren Verbreitung zu erfreuen.3 M. W. findet er zuerst in Winfried Menninghaus’ Darstellung von Walter Benjamins Theorie des Mythos Verwendung.4 In dem von mir gebrauchten Sinn hat der Begriff der Schwellenkunde vor allem eine die Phänomene erschließende Funktion, zugleich stellt er aber auch ein Korrektiv der theologischen Begründungsfiguren dar, die kirchlicherseits für die Verwaltung und Gestaltung des Rituals herangezogen werden: ob man sich also zuerst an der Vorstellung von einer aufzubauenden Gemeinde orientiert, die durch die offene Pluralität kirchlicher Kasualpraxis in ihrer Identität auch gefährdet erscheinen kann, ob man vom Gedanken der Verkündigung ausgeht, der es erlaubt, die empirische Realität einzuklammern oder zu umgehen, oder ob man das Kasualhandeln als eine Praxis der Volkskirche begreift, die in einem – gewiss mehrdeutigen – Begriff von Religion das Gemeinsame derer sucht, die regelmäßig oder nur bei Gelegenheit am kirchlichen Leben teilnehmen.5 Im Zusammenhang dieser Untersuchung sind die Kasualien nicht im Zusammenhang dargestellt, werden aber als ein für die Theorie des Gottesdienstes überhaupt relevantes Integral vorausgesetzt.6 Bestattung und Trau———— 3 Vgl. U. Wagner-Rau, Praktische Theologie als „Schwellenkunde“. Fortschreibung einer Anregung von Henning Luther; Chr. Müller, Art. Taufe, in: B. Weyel/W. Gräb (Hg.), Handbuch Praktische Theologie, 2007 [folgend zitiert: HBPTh] 700, 704. 4 W. Menninghaus, Schwellenkunde. Vgl. Dober, Schwellenkunde. Ein Beitrag zur Theorie des kirchlichen Kasualhandelns. 5 Vgl. W. Gräb, Rechtfertigung von Lebensgeschichten, 1987. 6 Es liegen inzwischen zahlreiche Darstellungen und (Re-)konstruktionen der Kasualtheorie vor, die hier nicht noch einmal eigens zu referieren sind. Exemplarisch seien genannt: Chr. Albrecht, Kasualtheorie, 2006; Chr. Grethlein, Grundinformation Kasualien, 2007; Ders., Kasualien als lebensweltbezogenes Konzept, 2008.

12

ung kommen anlässlich der Bedeutung des (auf Symbole verwiesenen) Rituals zur Sprache, Taufe (und Abendmahl7) anlässlich der Frage nach den Symbolen. Die Konfirmation findet ihren Platz im Zusammenhang der Tauftheorie, welche eine Betrachtung des Generationenverhältnisses zu ihrem Verständnis voraussetzt, und im Rahmen des Generationenverhältnisses ist auch die für die gelebte Religion notwendige Bildung zu thematisieren. Die Kasualtheorie mit der Liturgik zu verweben, heißt einerseits, die Bedeutung der Schwellenkunde für ein Verständnis des Gottesdienstes überhaupt so ernst wie möglich zu nehmen, und andererseits, die Kasualien als wesentlich liturgische Anlässe zu begreifen.

1.1 Zum Begriff der Liturgie Die Menge der Artikel in der neuesten (vierten) Auflage des Lexikons „Religion in Geschichte und Gegenwart“ (RGG), die das Liturgische zu bestimmen suchen, deutet schon darauf hin: Dieser Ausdruck ist mehrdeutig, und d. h. immer auch: er ist umstritten. Historisch liegen die Dinge unkompliziert: Der Ausdruck „Liturgie“ wird seit dem Ende des 16. Jahrhunderts als Bezeichnung für den christlichen Gottesdienst verwendet. Dieser Sprachgebrauch setzt sich Ende des 18. Jahrhunderts allgemein durch. Im katholischen und evangelischen Gebrauch des Begriffs bestehen aber Unterschiede.8 Etymologisch sind wir auf den griechischen Terminus „leiturgia“ verwiesen. Er bedeutet „profane Arbeit in einem öffentlichen Amt“9 und ist zusammengesetzt aus den Ausdrücken „laos“ (für Volk) und „ergon“ (für Werk). Die von ihren sprachlichen Wurzeln her begriffene Liturgie hat es also mit Werken zu tun, die für das Volk getan werden. Diese weite Bedeutung schließt jeglichen Dienst für andere ein, der von eigens dafür berufenen Personen für andere in einem Gemeinwesen übernommen wird. Derartige „Dienste“ sind in den modernen Gemeinwesen in so hohem Maße ausdifferenziert, dass der gebräuchliche Sinn des Begriffs „Liturgie“ in ihnen nicht mehr wiedererkannt werden kann (man denke nur an den Dienst, den die Polizei für das Gemeinwesen tut, die geheim operie———— 7 Auch das Abendmahl hat, zumal in der Gemeindearbeit der Pfarrerinnen und Pfarrer vor Ort, eine kasualtheoretische Signatur (s. u. Kapitel 6). 8 Liturgie – nach dem Duden ist das „die amtliche oder gewohnheitsrechtliche Form des kirchlichen Gottesdienstes“ oder (evangelisch) der im Unterschied von der Predigt „am Altar mit der Gemeinde gehaltene Teil des Gottesdienstes“. Der Differenzpunkt liegt in der Stellung der Predigt im Zusammenhang der Liturgie als ganzer, auch wenn im evangelischen Gottesdienst die Predigt Teil der „konkreten Gottesdienstordnung“ ist und bleibt (W. Ratzmann, Art. Gottesdienst, in: HBPTh, 519–530, 519). 9 Art. Liturgie, in: RGG4, Bd. 5, Sp. 430.

13

renden Nachrichtendienste, sowie die anderen von unterschiedlichen Ministerien oder von einem Bürgermeisteramt verwalteten Dienste bis hin zum Heckenschneiden an öffentlichen Gehwegen im Sommer und zum Schneeräumen im Winter). In dieser Hinsicht macht es wenig Sinn, in einem etymologischen Tigersprung aus der Moderne zurück in die Antike bei der ursprünglichen Wortbedeutung sich Rat holen zu wollen. Wohl aber kann man am „ergon“ anknüpfen, das in der Wortverbindung „leiturgia“ steckt, und nach der spezifischen Bedeutung fragen, die das Werk hier annimmt. Diesem Bemühen kommt bei Emmanuel Lévinas die phänomenologische Methode entgegen. Er begreift das Werk der Liturgie in dem religiösen Sinn, in dem die Septuaginta den Ausdruck für den Tempelkult, und d. h. für den im Judentum üblichen Gottesdienst vor der allgemeinen Verbreitung der Synagogen verwendet. In diesem Sinn ist das liturgische Werk „absolute Orientierung auf das Andere hin.“ Möglich ist es nur „in der Geduld, die, bis zum Ende getrieben, für den Handelnden bedeutet: darauf zu verzichten, der Zeitgenosse des Ans-Ziel-Kommens zu sein, zu handeln, ohne in das Verheißene Land einzutreten […] Als Werk ohne Entschädigung […] stellt sich die Liturgie nicht dar als Kult neben den ‚Werken‘ und der Ethik. Sie ist die Ethik selbst.“10 So gesehen rückt die Liturgie ganz nahe an die Diakonie heran, an ein Handeln aus christlicher Motivation, das meist noch im Rahmen kirchlicher Organisation geplant und durchgeführt wird, um den Bedürftigen auch da noch zu helfen, wo der Staat an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit geraten ist. Das staatliche Handeln bemisst sich nach den spezifischen Interessen eines Gemeinwesens, die je der Selbsterhaltung eines Staates und einer Nation dienen (zwischen dem Wohl des Volkes und den Interessen eines Staates kann es aber sehr wohl zu Konflikten kommen). Demgegenüber bemisst sich das diakonische Handeln in kirchlichem Auftrag an der wahrgenommenen Not und Bedürftigkeit der Menschen. Je und je hat das zu leistende „Werk“ eine andere Bedeutung: Hier ist es als Antwort auf den Ruf zur Verantwortung zu verstehen, der im Angesicht des anderen ergeht, dort als Maßnahme zum Schutz und zur Sicherung des Selben (wie Lévinas sagt). Man kann an all die Wortbildungen denken, die das „Selbe“ integriert haben wie die Selbsterhaltung und -verwirklichung, das Selbstinteresse und -bewusstsein. Mit Lévinas lässt sich der Aspekt der Bedeutung des Terminus Liturgie spezifizieren, der ihn mit der Diakonie, mit dem diakonischen Handeln verknüpft: Beide Male geht es um ein Werk, das dem anderen dient, das sich gewissermaßen selbst verschenkt, das zwar ein Ziel hat, aber auf die Ankunft zu verzichten bereit ist. Eine derartige Überschneidung der Bedeutungen von Liturgie und Diakonie findet sich im Übrigen schon in den ———— 10 E. Lévinas, Die Bedeutung und der Sinn, in: Ders., Humanismus, 35f.

14

biblischen Quellen selbst, der Sache nach beginnend bei den Propheten. Sie hatten schon eine Diskrepanz zwischen liturgischem Handeln im Gottesdienst (im Sinn des Kultes) und einem ethisch verantwortlichen Handeln im Alltag kritisch in den Blick genommen: „Ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer“, heißt es als Gotteswort bei Hosea (6, 6). Doch auch der Sinn eines – nach Paulus vernünftigen – „Gottesdienstes im Alltag der Welt“, wie er sich im Römerbrief (12, 1b) angesprochen findet, deutet auf eine verantwortliche Lebensgestaltung im beruflichen und privaten Bereich hin. Im Protestantismus hat man gern auf diesen Sinn des „Gottesdienstes“ hingewiesen. Was unterscheidet nun aber die Liturgie in der Bedeutung, Gottesdienst zu sein, von der Diakonie, was den Gottesdienst von einem diakonischen Handeln, das auch im Alltag einem christlich-religiös motivierten Anspruch zu folgen bemüht ist? Wie auch immer dieser Unterschied zu bestimmen sein wird: er wird es erlauben, die Leitfragen zu spezifizieren. Was geschieht eigentlich im christlichen Gottesdienst nach evangelischem Verständnis? Und wozu brauchen wir ihn (noch)? Welche Fragen wirft er auf, und umgekehrt: auf welche Fragen menschlichen Lebens, Fragen seiner Existenz, vermag er Antworten zu geben?

1.2 Thematische Zuspitzung und methodische Entscheidungen Humanwissenschaftliche Zugänge sollen einem vertieften Verstehen des Gottesdienstes den Weg bereiten.11 So wird der Gottesdienst als ein Ritual zu begreifen sein, und zwar der Gottesdienst in einem erst einmal noch unspezifischen Sinn, wie er im Judentum und im Christentum, in der katholischen und in der evangelischen Kirche gefeiert wird.12 Das Ritual aber ist ein menschliches Spiel, das bestimmten Regeln folgt und bestimmte Funktionen erfüllt. Ernst ist es in einer pragmatischen Perspektive aufgrund der Erfüllung oder eben auch der Nicht-Erfüllung dieser Funktionen. Ernst wird dieses Spiel, das nach den Regeln des Rituals verläuft, aber grundsätzlich deswegen, weil es auf die Zeitlichkeit des Menschen bezogen ist, auf die Herrschaft der Zeit und die Möglichkeit des Widerstands dagegen, den die Liturgien eröffnen. Um das sehen zu können, wird die kulturwissenschaftliche Perspektive der Ritualtheorie mit Blick auf eine Philosophie der Zeitlichkeit erweitert werden müssen. Der Gottesdienst in dem eben schon ———— 11 Auf katholischer Seite hat A. Odenthal einen ähnlichen Weg beschritten (Ders., Liturgie als Ritual, 15ff). 12 Zu ergänzen wären, der Vollständigkeit halber, die orthodoxen Kirchen und auch der muslimische Gottesdienst. Ich werde mich aber aus methodischen Gründen auf die zuerst genannten beschränken.

15

angedeuteten weiten Sinn, wie Juden und Christen ihn feiern, antwortet auf Fragen der menschlichen Existenz, und die Grundfragen der menschlichen Existenz sind auf einer elementaren Ebene Fragen, die sich aus ihrer Zeitlichkeit ergeben. Darüber hinaus ist auch der Anschluss an eine Philosophie der symbolischen Formen erforderlich, wie sie von Ernst Cassirer als Kultur- und Zeichentheorie entfaltet worden ist. Denn das Ritual verweist aufs Symbol, und das Symbol aufs Ritual, beide aber bedürfen der Medien oder sie verweisen auf sie. Es besteht eine Wechselbeziehung zwischen den Begriffen Symbol und Ritual, die beide geklärt werden müssen, wenn der Gottesdienst denn erst einmal nicht aus seinem eigenen Verlauf heraus, seinen Agenden, oder aus seiner eigenen Geschichte, wenn er eben nicht in einer immanenten Interpretation zu verstehen ist, sondern auf dem Weg über die Humanwissenschaft. Inwiefern der Mensch der Symbole bedarf, und welche Bedeutung und Funktion die Symbole für seine Orientierung in der Welt, für sein Sich-Verstehen und Welt-Verstehen, für seine Suche nach Sinn haben, wird in einem weiteren Schritt darzulegen sein. Das Motiv für die methodische Entscheidung, bei den Humanwissenschaften, sowie bei einer Philosophie der Zeitlichkeit, der symbolischen Formen und der Medientheorie anzuschließen, ist die vielfach zu bestätigte Beobachtung, dass das gottesdienstliche Ritual beider großen Kirchen hierzulande jedenfalls für viele Zeitgenossen zu einer fremden Veranstaltung geworden ist. Sein Sinn ist vielen nicht mehr nachvollziehbar. „Oft setzen die liturgisch eingespielten Erinnerungs- und Vergewisserungszeichen“ die Anregung zu einer vertieften Selbstdeutung, „nicht mehr frei. Sie provozieren nicht die eigene Sinnarbeit. Es wird nicht verstanden, dass das tiefste Begehren, das Wissen um das Geheimnis des eigenen Lebens in ihnen ihre Sprache finden.“13 Angesichts einer derart zu beschreibenden Situation legt sich der gewählte humanwissenschaftliche Ansatz nahe. Auf diese Weise soll ein Weg geebnet werden, auch in einer Außenperspektive verstehen zu lernen, was im Gottesdienst geschieht. Im Gang dieser Untersuchung sollen also zuerst (2.) die Fragen entfaltet werden, die sich aus der Zeitlichkeit menschlicher Existenz ergeben: Welche Antworten bewahrt das Kirchenjahr als eine zwar immer noch präsente, aber doch fremde Ordnung, um der Suche des modernen Menschen nach sich entsprechen zu können? Im Zuge einer Liturgik, welche die Zeit ernst nimmt, soll (3.) die Sozialität menschlichen Lebens thematisch werden, die elementar durch Rituale begleitet und aufrechterhalten (bzw. gestaltet) wird, um (4.) nach dem Raum als Bedingung von Gleichzeitigkeit zu fragen, sowie die Gestaltung kirchlicher Räume zu bedenken. (5.) sind die ———— 13 W. Gräb, Lebensgeschichten – Lebensentwürfe – Sinndeutungen, 135.

16

Medien der Liturgie in den Blick zu nehmen, derer es bedarf, damit überhaupt eine „Kommunikation des Evangeliums“ stattfinden kann. (6.) ist dann das symbolische Vermögen und Bedürfnis des Menschen auf die Symbole der Liturgie zu beziehen. (7.) ist das Wesen des – evangelisch verstandenen – Gottesdienstes als Antwort auf die Frage der Kontingenz zu entfalten und nach seiner verantwortlichen Gestaltung zu fragen. Ein abschließender (8.) Abschnitt über das Gebet präzisiert und begrenzt die Funktion des Rituals für die (evangelisch verstandene christliche) Religion. Ein vertieftes Verständnis des christlichen Gottesdienstes in den evangelischen Kirchen ist der Zielpunkt, wenn das Problem vermieden werden soll, das Blumenberg mit Blick auf die „alten Kulte“ beschrieben hat: Nicht einmal die Priester hätten die religiösen Rituale mehr verstanden, die sie tradierten.14 Auf dem Weg zu diesem Ziel werde ich auch einen Methodenwechsel vornehmen müssen hin zu immanenten Interpretationen des hier liturgisch vorgesehenen Vollzugs wie etwa des Gebets des Vaterunsers. Insofern der Gottesdienst seine kirchlich vorgegebene Form hat, ist er als Liturgie zu begreifen (wobei der Begriff der Liturgie eben, wie gezeigt, mehr umfasst als die in den Kirchenbüchern festgelegten oder zur Wahl gestellten Formulare). Die Liturgien zu verstehen (und hier ist im Plural zu sprechen, weil es um allgemeine Merkmale geht, die sowohl den synagogalen Gottesdienst als auch die katholische Messe betreffen) erfordert aber eben die skizzierten ritual- und symboltheoretischen Zugänge. Der so begriffene Gottesdienst überhaupt ist ein Spiel nach bestimmten Regeln und auf verschiedenen Ebenen, die man lernen kann, aber auch praktisch einüben muss. Nicht nur ist es ein „Sprachspiel“, von dem Wittgenstein handelte, auch nicht nur ein heiliges Drama, als das man den katholischen Ritus begriffen hat, auch nicht ein locker eingeübtes szenisches Anspiel, wie es in vielen Familiengottesdiensten landauf landab gang und gäbe geworden ist. Sondern es ist ein „Spiel“ in der Bedeutung, in der jede Teilnahme an einem Ritual und jedes kreative Bemühen um Bedeutungen – jedenfalls auch – ein Spiel ist, sei es im Sinne einer kunstvollen Produktion (wie im Fall musikalischer Vor-, Nach- und Zwischenspiele oder einer Predigt), sei es im Sinne der Teilnahme an einem Gottesdienst mit unterschiedlichen Gelegenheiten zur Rezeption. Und dieses Spiel ist „ernst“, weil und insofern es hierbei um Fragen der menschlichen Existenz geht, um die Vergewisserung des Sinns je in meinem Leben, auch um die Erfahrung von Gemeinschaft und um die Gewinnung von Trost in schweren Lebenslagen.15 ———— 14 Vgl. H. Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, 96. 15 Mit der Rede „vom Ernst des menschlichen Spiels“ nehme ich den Untertitel eines Werkes von V. Turner auf (Ders., Vom Ritual zum Theater).

17

1.3 Neuzeitliche Wandlungsprozesse der Gesellschaft und ihre Auswirkung auf die Christentumspraxis, oder: Die Krise des christlichen Gottesdienstes Wer danach fragt, wozu wir den Gottesdienst noch brauchen, deutet – unbewusst oder bewusst – auf eine Krise hin. Und in der Tat ist es heute alles andere als selbstverständlich, diese regelmäßig stattfindende Zentralveranstaltung der Kirche zu besuchen.16 Das war nicht immer so. Es gab Zeiten, da gehörte der sonntägliche Gottesdienst zu dem für die meisten Menschen selbstverständlichen Feiertags-Programm. Heute aber geht, wer überhaupt noch in die Kirche geht, bei Gelegenheit, und das vielleicht an den großen Feiertagen der Christenheit, meist aber anlässlich der sog. „Kasualien“. Die verlorene Selbstverständlichkeit, mit der man einst sonntäglich den Gottesdienst besuchte, oder mit der das Kasualhandeln der Kirche einmal in Anspruch genommen worden ist, hängt jedenfalls auch damit zusammen, dass wir heute nicht mehr (wie in der Antike oder im Mittelalter) von der „Kohärenz der Lebenswelt“ ausgehen können.17 Eben so lässt sich aber mit Hans Blumenberg im Anschluss an Husserl der Terminus der „Lebenswelt“ bestimmen, sie sei das „Universum vorgegebener Selbstverständlichkeiten“. Lebenswelt sei „der zu jeder Zeit unerschöpfliche Vorrat des fraglos Vorhandenen, Vertrauten und gerade in diesem Vertrautsein Unbekannten. Alles, was in der Lebenswelt wirklich ist, spielt in das Leben hinein, wird genutzt und verbraucht, gesucht und geflohen, aber es bleibt in seiner Kontingenz verdeckt, d. h. nicht als auch-anders-sein-könnend empfunden.“18

Die Lebenswelt mit all ihren Selbstverständlichkeiten verdeckt und verbirgt die Kontingenz. Nur so, in den Vertrautheiten des Alltags, können wir solche Fragen auf sich beruhen lassen, die neben den alltäglichen Verrichtungen keinen rechten Platz finden können, weil sie zu stellen und zu bearbeiten zu viel Zeit in Anspruch nähme. Lebenswelt in diesem Sinne erst einmal unhinterfragter Selbstverständlichkeiten wird von Kindern noch erfahren, ja sie sind in ihrer Entwicklung sogar darauf angewiesen, eine derartige Erfahrung zu machen. Schon im Jugendalter wird dann aber deutlich, dass es längst nicht mehr die eine ———— 16 Wie fremd nicht wenigen Zeitgenossen schon in der Mitte des 19. Jh. die Kirchen mit ihrem Glockengeläut geworden waren, hat Benjamin in seiner zweiten Studie zu Baudelaire notiert, in einem Text, der im Bewusstsein der relevanten Funktionen der „Kulte mit ihren Kalendern“ geschrieben ist (s. u.). 17 Vgl. M. Makropoulos, Modernität als ontologischer Ausnahmezustand?, 24. 18 H. Blumenberg, Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie, in: Ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben, 7–54, 23.

18

Lebenswelt in der eben beschriebenen Kohärenz gibt, sondern derer viele, ja eine schier unüberschaubare Vielfalt und Pluralität zumal in der globalisierten Welt.19 Die Pluralisierung der Lebenswelten, die auch als Pluralisierung der „Wirklichkeiten, in denen wir leben“, verstanden werden kann, wirkt sich auf alle Bereiche des Lebens aus. Die Gründe für diesen Wandel der Plausibilitäten sind vielfältig. W. Gräb hat davon – mit Blick eben auf die bisher weithin unangefochtene Bedeutung des kirchlichen Kasualhandelns – eine Skizze gegeben. Das hier Gesagte wird, mutatis mutandis, auch für den Gottesdienst überhaupt gelten können. Während in früheren Zeiten die christliche Sitte dem Einzelnen eine normativ angemessene Weise der Lebensgestaltung weitgehend vorgab, und dazu gehörten eben der sonntägliche Kirchenbesuch, sowie die selbstverständliche Inanspruchnahme kirchlicher Begleitung anlässlich von Taufe und Konfirmation, Trauung und Bestattung, erfolgt heute die Entscheidung für ein Leben, das sich nach der Agende verhält (Josuttis), „weitgehend in dem Bewusstsein […], Alternativen zu haben. Und jeder weiß, dass er diese rituellen Begehungen auch unterlassen kann, ohne sozial nachteilige Folgen gewärtigen zu müssen. Mancherorts erscheinen die nicht-kirchlichen Alternativen auch attraktiver: das festliche Ambiente der standesamtlichen Hochzeit, die humanplausible Wertorientierung nach sozialistischen Jugendfeiern, die persönliche, das Leben des Verstorbenen würdigende Ansprache des freien Bestattungsredners, die Berücksichtigung der eigenen Musikwünsche, die ästhetische Inszenierung überhaupt bei der säkularen Bestattung.“20

Man kann auch, statt in die Kirche zu gehen, ein gutes Buch in die Hand nehmen, um sich zu erbauen. Denn auch die Lektüre eines Romans kann dem Bedürfnis entsprechen, sich über die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens zu verständigen. „Der ‚Sinn des Lebens‘“, schreibt Benjamin in seinem Aufsatz „Der Erzähler“, „ist in der Tat die Mitte, um welche sich der Roman bewegt.“21 Solche Bücher führen „mitten in die Fülle des Le———— 19 Man kann die so beschriebene Lage auf die „Entgrenzung“ des Menschen in der Neuzeit zurückführen. Dieser von Makropoulus (im Anschluss an R. Koselleck) gebrauchte Terminus sieht den Menschen dann als „entgrenzt“ an, „wenn er entdeckt, dass neben der Lebensform, die für ihn bisher selbstverständlich gewesen war, auch andere möglich sind; wenn er erkennt, dass er disponibel ist und wenn er folglich Erwartungen hegen kann, die nicht mehr direkt aus seinem bisherigen Leben und seiner Erfahrung abgeleitet sein müssen und dieser möglicherweise auch entgegenstehen können“ (Makropoulos, Modernität, 46). Dass es an Erfahrung gebundene Traditionen in einer Welt der „entgrenzten“ (oder mit A. Giddens zu sprechen: sozial „entbetteten“) Menschen schwer haben, liegt auf der Hand. 20 Gräb, Lebensgeschichtliche Sinnarbeit, 223. In manchen Milieus der Gegenwartsgesellschaft wird an Stelle der Konfirmation eine „10-Jahres-Feier“ für die Kinder kirchenferner Zeitgenossen begangen; zu einem Massenphänomen hat sich dieses Alternativ-Ritual allerdings bisher nicht entwickelt. 21 Benjamin, GS II, 455.

19

bens“, sie lassen sich tief auf das Erlebnis einer jeweiligen Gegenwart ein, ja der Romancier reflektiert „sein Leben gleichsam bis in seine kleinsten Verästelungen hinein“, um eben darin einen Sinn zu finden, den „kein Kollektiv“ und auch „keine kohärente Lebenswelt“ ihm mehr zu geben vermag.22 Doch – so hält Benjamin kritisch im Unterschied zum an die Erfahrung vergangener Generationen gebunden Erzähler fest – „mitten in der Fülle des Lebens und durch die Darstellung dieser Fülle bekundet der Roman die tiefe Ratlosigkeit des Lebenden.“23 Wie auch immer der Einzelne die Zeiten gestaltet, die aus den Arbeitsprozessen ausgespart sind: Er wird es als ein „Suchender“ tun, und er wird es auf eine freie und individuelle Weise tun. D. h. er bzw. sie selbst entscheidet darüber, ob die Angebote der Kirche zur Unterbrechung des Alltags oder zur Begleitung an den Lebensschwellen im Rahmen dafür bereitstehender Passageriten genutzt werden oder nicht. Wie diese Entscheidung jeweils ausfallen wird, hängt von mehreren Faktoren ab. Erstens wird man annehmen können, dass das Bewusstsein der Einzelnen über die Gestaltung des eigenen Lebensweges hier eine wichtige Rolle spielt. Die Frage wird dann sein, ob zur Selbstbildung des Individuums die Angebote der Kirche als sinnvoll, hilfreich und funktional erscheinen können – oder nicht. Ob also, konkret, der Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes eine Hilfe zur Gestaltung des je eigenen Lebens zu sein verspricht, ob ein vertieftes Verstehen seiner selbst in der Dimension der Religion durch den Kirchgang befördert werden kann, ob schließlich das Angebot kirchlicher Begleitung an Schnittstellen des je eigenen Lebens voraussichtlich eine unverzichtbare Bedeutung bereitstellen kann oder nicht. Der Gebrauch, der in freier Wahl vom kirchlichen Angebot gemacht wird, ist zweitens davon abhängig, ob das Bewusstsein des Einzelnen über die Gestaltung des eigenen Lebens im Umfeld des Betroffenen eine Förderung bzw. Bildung erfahren hat oder nicht. Das Milieu, aus dem jemand stammt, bildet einen wichtigen Faktor zur Beantwortung der Frage, ob der Gottesdienst als eine sinnvolle und nützliche Veranstaltung angesehen werden kann. Wer früh auf diesem Feld angenehme und als sinnvoll empfundene Erfahrungen gemacht hat, wird dazu tendieren, diese Frage mit Ja zu beantworten. Auch spielt die jeweilige Sozialisation eine beträchtliche Rolle, wenn etwa die Eltern oder der weitere Kreis der Familie den Weg in die Kirche hat ebnen können, oder wenn die peer-group der Jugendlichen hier einen Ort gefunden hat, an dem man sich gern aufhält. Einen dritten Faktor stellen schließlich die kirchlichen Angebote selbst dar. „Konstitutiv für die Kirchenmitgliedschaft und die vorwiegend kasuel———— 22 Makropoulos, Modernität, 107. 23 Benjamin, GS II, 443.

20

len Teilnahmemuster ist [… allerdings] die eigene Lebens- und Familiengeschichte, dieses Projekt des eigenen Lebens überhaupt“, schreibt Gräb. „Von ihm her entscheiden sich die Menschen für die kirchlichen Ritualangebote oder eben auch – wo diese fehlen bzw. Alternativen attraktiver sind – für andere Formen der Ritualisierung und Symbolisierung lebensgeschichtlicher Stationen und Übergänge. Die Kirche befindet sich mit ihren Ritualangeboten jedenfalls auf dem Markt. Und dort entscheidet nicht zuletzt die Attraktivität der Angebote über die Nachfrage.“24

1.3.1 Haben die Liturgien ihre Zeit gehabt? Angesichts einer gesellschaftlichen Situation, die in einer solchen Skizze einigermaßen treffend wird eingefangen sein, könnte man meinen, dass die Liturgien ihre Zeit gehabt haben.25 Insbesondere könnten solche Liturgien ihr Ende gefunden haben, die sich darin zu erschöpfen scheinen, das Christentum darzustellen, und hierbei den ausdrücklichen Bezug auf die Lebenssituation der im Gottesdienst versammelten Menschen höchstens implizit zur Sprache bringen. Liturgien dieser Art mögen zwar in der Aura eines Wesens gefeiert werden, dessen Darstellung in Symbolen den Menschen so fern bleibt wie die Skulpturen über den Portalen gotischer Dome. Geschaffen sind sie nicht in erster Linie zu dem Zweck, um gesehen zu werden und für die Betrachter eine bestimmte, lebensrelevante Bedeutung zu gewinnen, sondern geschaffen sind sie, wie es scheint, vor allem zum Zweck der Repräsentation eben der im Symbolischen zusammengefassten Wahrheit. Fern bleiben solche Skulpturen dem Betrachter, auch wenn er bemüht ist, sie sich nahe zu bringen. In einer entsprechenden Spannung zwischen Ferne und Nähe verbleibt eine sich in ihrer überlieferten Form genügende Liturgie, sei sie nun, dem alten katholischen Ritus folgend, in lateinischer Sprache, sei sie im Formular der „Deutschen Messe“ nach Martin Luther abgehalten. Sich diese Sprachformen nahe zu bringen, ja auch schon das in Aufstehen und Sitzen, Hören und Antworten unterschiedene ritualisierte Verhalten sich anzueignen, fällt den meisten Zeitgenossen schwer.26 Denn der „Kasus“ ihres Lebens scheint in diesen Formen, in diesen Symbolen und in dieser Sprache nicht vorzukommen. Nur wenn dieser Kasus vorkommt, scheint aber, wer überhaupt noch am kirchlichen Leben teilnimmt, in die Kirche zu gehen. Es nimmt also nicht wunder, dass heute mehr kasuell orientierte ———— 24 Gräb, Lebensgeschichtliche Sinnarbeit, 224. Vgl. R. Preul, Kirche als Unternehmen, in: HBPTh, 555–565. 25 Vgl. R. Guardini, zit. nach Odenthal, Liturgie, 14. 26 M. Josuttis hat eine Liturgik vorgelegt, die diese elementaren Verhaltensmuster und Gesten beschreibt (Ders., Der Weg in das Leben, 1991).

21

Gottesdienste abgehalten werden als solche, die den traditionellen Formularen folgen. 1.3.2 Metaphysik im nachmetaphysischen Zeitalter? Diese Einschätzung der Lage lässt sich ohne Schwierigkeit auf die Metaphysik beziehen, die in den alten Liturgien aufbewahrt ist, in der Architektur der kirchlichen Gebäude zur Darstellung kommt und in den um die Altäre sich rankenden Gemälden angeschaut werden kann. Auch die Musik der Moderne unterliegt einem metaphysikgeschichtlichen Wandel, wie exemplarisch an der 12-Ton-Musik oder daran beobachtet werden kann, dass die Jazz-Harmonik nicht mehr primär an der Substanz, sondern an der Funktion orientiert ist. Dies näher auszuführen würde eine eigene Untersuchung erfordern. Wie restaurierte Ruinen in einer Zeit, die ihrem Selbstverständnis nach durchaus „nach-metaphysisch“ ist, lassen sich demgegenüber die alten Kirchen mit ihrem Inventar bis heute als „sinnliches Scheinen“ (Hegel) metaphysischer Ideen wahrnehmen. Und dieses „sinnliche Scheinen“ ist in den alten Kirchen mit Blick auf die architektonischen Gegebenheiten noch auf „eine metaphysisch geschlossene, nichtkontingente Welt“ bezogen, in der „alle Phänomene“ miteinander kompatibel sind. Die hier repräsentierte Welt teilt diese Eigenschaften mit den Vorstellungen der griechischen Antike, auch wenn in der christlichen Theologie der Tradition griechisches und biblisches Denken zu einer eigenständigen Einheit verschmolzen sind. Offensichtlich sind auch die alten Kirchen in der noch selbstverständlichen Gewissheit gebaut worden, dass die Welt einen „universellen, unmittelbar evidenten ‚Sinn‘“ habe, der sich eben architektonisch, aber auch in Fresken und Gemälden, in Skulpturen und Glasfenstern darstellen lasse.27 Wie ist mit dieser Differenz umzugehen, die Heidegger im Rahmen einer Metaphysikgeschichte reflektierte, und die bei Lukács den Hintergrund für eine Deutung des modernen Romans als einer „Epopöe der gottverlassenen Welt“ abgibt? Auch die Kirche habe gegen „diese gottverlassene Welt [der Neuzeit …] nur vorübergehend einen geschlossenen Horizont, einen Kosmos […] durchsetzen können.“ So Lukács. Anders die Kunst der Moderne. Sie habe das „Auseinanderfallen und das Nichtausreichen der Welt zur Voraussetzung ihrer Existenz und ihres Bewusstwerdens“.28 So habe sie ———— 27 Vgl. Makropoulos’ Zusammenfassung der antiken griechischen Weltsicht im Unterschied zur modernen durch G. Lukács (mit Bezug auf Ders., Die Theorie des Romans, Darmstadt/ Neuwied 1971 [Berlin 1920], 25), in: Ders., Modernität, 108–112. 28 Lukács, Theorie des Romans, 29f.

22

zum „Rekonstruktionsversuch dieses geschlossenen Kosmos [werden können], indem sie ‚erschaffene Totalität‘ sei.“29 Auch wenn man die Kunst des 20. Jahrhunderts nicht nur nach dem vom Lukács hier in Anschlag gebrachten Deutungsmuster einer Rekonstruktion von Totalität wird fassen können,30 ist seiner Analyse immer noch in folgendem Sinne zuzustimmen: Die Kunst sucht mit der Kontingenz der Welt auf eine individuelle Weise umzugehen, und das, so wird man ergänzen dürfen, durchaus aus einem Bedürfnis nach Sinn, wie er sich auch schon in der Darstellung von Formen und Farben oder im Aufbau und der Durchführung eines Musikstücks andeuten kann. Walter Benjamin hat den Zerfall einer allgemeinverbindlichen Sinndimension schon dem barocken Trauerspiel abgelesen. In dieser dramatischen Kunst des 17. Jahrhunderts hat die Situation einer Welt ihren Spiegel gefunden, die als „von der Transzendenz getrennt“ erfahren wurde und somit „ihre stabilisierende Orientierung verloren“ hatte.31 Benjamin zufolge war sie ein „Trümmerfeld“ von Dingen und Begebenheiten, von halben Handlungen ohne Ziel geworden, eine „leere Welt“32. „Was die Welt leer erscheinen ließ, war die Abwesenheit einer Ordnung, die als lebensweltliche Kohärenz von ontologischer Qualität hätte erfahren werden können“ (Makropoulos, Modernität, 29). Eben eine solche „Kohärenz der Lebenswelt, in der das Veränderliche der Gegenstand ist, an dem sich Erfahrung im Handeln der Menschen erprobt“ (24), war in der Antike gegeben, nicht aber mehr in der Moderne. In der Antike war „Kontingenz … reine Handlungskontingenz in einer Welt, die selbst nicht kontingent war: Man konnte zwischen verschiedenen Möglichkeiten in der Welt entscheiden, aber die Welt, in der so gehandelt wurde, hätte nicht anders sein können.“ (25) In der Moderne aber ist Kontingenz zur umfassenden Bestimmung der Wirklichkeit geworden, beginnend mit der frühen Neuzeit, „als die Transzendenz ihre pragmatische Kraft als lebensweltliche Orientierung einbüßte“, und die Welt begann, „haltlos“ zu scheinen. Denn die Idee Gottes verlor ihre allgemein überzeugende und verbindliche Funktion als „Letztbegründungsinstanz“. Seit der Mensch mit seiner Erkenntnis und dann auch mit seinem die Welt neu entwerfenden Handeln diese Rolle zu übernehmen begann, hätte alles auch anders sein können. Man begann, die Welt in einem „gleichsam seinsmäßigen Schwebezustand“ und sich selbst als einen „Geworfenen“ zu erfahren (27). Das kohärente Weltbild zerfiel, und das Subjekt wurde sich „seiner selbst ungewiss“ (28). Wie auch immer man diese Entwicklung beurteilen will, und in den meisten Darstellungen schwingen die vorausgesetzten Beurteilungen schon mit: Die Welt als solche

———— 29 Makropoulos, Modernität, 109 zit. Lukács. 30 Die Ästhetisierung der Politik sowohl im Faschismus als auch im Stalinismus, auf die Benjamin sich am Ende des Kunstwerkaufsatzes bezieht, bestätigt die metaphysikgeschichtliche Analyse von Lukács allerdings auch noch insofern, als die derart beschriebene Kunst zum Medium der Politik wurde. 31 Makropoulos, Modernität, 28. 32 Benjamin GS I/1, 317f [Ursprung des deutschen Trauerspiels].

23

war kontingent geworden, und d. h. sie „konnte auch anders sein, war anders möglich als bisher.“ (30) Daran wird auch festzuhalten sein, wenn man mit Helmuth Plessner die „Schwächung […] des ontologischen Standortes“ des Menschen auf eine „Neuverwurzelung des einzelnen in sich selbst“ bezieht, welche wiederum die Voraussetzung der Freiheit gewesen sei, „anderes zu erproben als das, was bisher verwirklicht worden war.“ (29) Der Mensch habe in der Neuzeit seine Freiheit entdeckt, und das sei in der „Dimension des Bewusstseins“ geschehen, eben der „Instanz, von der aus eine nunmehr immanente Stabilisierung der Welt vollbracht werden musste.“ Dieser Vorgang ist, wie Makropoulos zu Recht bemerkt, „von einer enormen Tragweite“ gewesen. (29)

Doch auch wenn es im „Trümmerfeld“ der neuzeitlichen Welt „keine evidente metaphysische Orientierung mehr“ gab, existierte weiterhin eine „Gesinnung zur Totalität“. Diese führte zu einer für die Moderne so charakteristischen Suche nach Sinn, wie sie sich in den Bildern der Kunst, in der Musik und eben auch im „klassischen modernen Roman des 19. Jahrhunderts“ manifestiert, im Roman, der diesen Sinn neu zu schaffen unternimmt.33 Was exemplarisch an dieser literarischen Gattung gezeigt werden kann, lässt sich – mutatis mutandis – auch auf andere Kunstgattungen übertragen. Auch Musikstücke und Bilder sind in sich ein Ganzes, das im Zusammenspiel von Produktion des Künstlers und Rezeption des Publikums zu dem wird, was es ist – zu einer Ordnung, die sich jeweils der subjektiven Perspektive erschließt. Sind demgegenüber die Kirchen bis heute noch Repräsentanten einer alten Metaphysik? Und gilt das nur für die alten (zumeist katholischen) Kirchen, die romanischen, die gotischen, die der Renaissancezeit und des Klassizismus? Gilt das nicht auch für viele protestantische Kirchenbauten, die einen repräsentativen Status hatten (und bis heute haben) – die Stadtkirchen in Kreisstädten in Württemberg etwa, oder den Berliner Dom, das Berner Münster? Sind auch die neueren Kirchenbauten, die den Bedürfnissen der sich versammelnden Gemeinde in stärkerem Maße entsprechen wollen, kraft der in ihnen dargestellten Symbolik noch Repräsentanten einer – gewiss veränderten – Metaphysik in einem nach-metaphysischen Zeitalter? Ich werde auf diesen Problemkomplex anlässlich der Frage nach den Räu———— 33 Makropoulos nennt Flauberts „Madame Bovary“, Cervantes „Don Quixote“ und Stendhals „Le rouge et le noir“ – im Unterschied zu Goethes Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (Ders., Modernität, 115. 117). Benjamin ging es in seinen theoretischen Reflexionen zum modernen Roman nicht um eine „randscharfe gattungstheoretische Diskussion der Sache im literaturwissenschaftlichen Sinne“. Vielmehr wollte er „das metaphysische Problem kritisch bestimmen, dessen ästhetischer Lösungsversuch der Roman ist“. Anders als Lukács zweifelte er an der „tatsächlichen Leistung dieser Lösungskonzeption“, „Kontingenz dadurch zu bewältigen, dass eine neue Totalität, also neuer Sinn, gefunden würde […]. An der Vergeblichkeit der ästhetischen Suche nach Sinn ließ Benjamin keinen Zweifel“ (Makropoulos, Modernität, 118f).

24

men der Liturgie, nach dem Kirchenbau, zurückkommen. Hier soll es erst einmal um eine spielerisch einzuübende, perspektivische Optik gehen, in der die leitenden Fragen auszuarbeiten sind. Eine derart perspektivische Optik bedarf allerdings eines ebenso historisch wie philosophisch geschulten Blickes, und zu den Voraussetzungen eines derartigen Sehens wird man die hohe Beweglichkeit dessen rechnen müssen, der nicht auf einem Standpunkt verharrt, sondern die Stelle wechseln kann, von der aus er seinen Blick auf die Dinge einstellt. Zwei einander entgegengesetzte Standpunkte zur Frage nach Metaphysik im nach-metaphysischen Zeitalter seien kurz skizziert. In einer ersten Perspektive kann man meinen, die in längst vergangenen Zeiten gebauten Dome und Kathedralen repräsentierten bis heute eine Sicht der Welt, des Menschen und des ins Unendliche führenden Universums, die von nachmetaphysischen Zuständen nichts wissen will. Nota bene finden sich in der viel diskutierten Rede von Papst Benedikt XVI. in Regensburg aus dem Jahr 2006 Anklänge einer solchen Sicht der Dinge. Die Metaphysik der altkirchlichen, scholastischen und daran anschließenden Lehren weiß noch nichts von der „transzendentalen Heimatlosigkeit“, die Lukács dem modernen Roman abgelesen hat, und die von Theoretikern der Moderne dann als ein wesentliches Charakteristikum der geistigen Signatur der neueren Zeit verstanden worden ist.34 Diesem (perspektivisch derart in den Blick genommenen) „Fehler“ moderner Weltsicht, der ein „Fehler“ auch des zeitgenössischen Selbstverständnisses des Menschen sei, widerstehe die in Stein gebaute Metaphysik der katholischen Kirche, wie sie bis in das späte 19. Jahrhundert im „syllabus errorum“ den modernen Zeiten überhaupt widerstanden hatte. Und wenn nicht als offenen Widerstand, so kann man doch die alten Dome und Kathedralen als bleibende Fragezeichen verstehen, die in früherer Zeit aufgerichtet wurden, um auch noch die so selbstverständlich scheinende Plausibilität zu unterbrechen, dass das gegenwärtige Zeitalter durchaus „nach-metaphysisch“ sei. In einem Tagtraum könnte der Betrachter dann weiterhin meinen, in den Liturgien mit allen materiellen Bedingungen, die sie einmal trugen, bis hin eben zu den räumlichen Gegebenheiten, könnten bis heute Antworten auf die in den Bereich der Metaphysik reichenden Frage nach Sinn verborgen sein.35 In anderer Perspektive ließe sich nun aber auch feststellen (und mit Blick auf empirische Untersuchungen begründen), dass der metaphysischen „Heimatlosigkeit“ des modernen Menschen heute keineswegs mehr mit dem ———— 34 Vgl. Benjamin, GS II/2, 454. 35 Auch in der protestantischen Volksfrömmigkeit finden sich Tendenzen, die in diese Richtung gehen. Immerhin hat der Papst nicht nur die Katholiken fasziniert. Der gegenwärtig amtierende Pontifex Maximus hat allerdings die protestantischen Abirrungen ausdrücklich dem Modernismus zugeschlagen, mit dem kritisch sich auseinanderzusetzen er zu seiner Sache gemacht hat.

25

Verweis auf die Metaphysik vergangener Zeiten zu begegnen ist, wie sie einmal in Stein gehauen und auf Bildern festgehalten worden war. Durch die Rückkehr in die alten Gebäude mit all dem, was sie an Vergangenem bewahren, werde diese Fremdheit, in der sich der Zeitgenosse metaphysischen Fragen gegenüber befinde, eher noch verstärkt als vermindert. Um die Fragen, die ihn „unbedingt angehen“ und unbewusst, wenngleich vielfältig verdrängt, immer noch umtreiben, überhaupt erst einmal wieder freilegen zu können, bedürfe es anderer Medien und Formen der Kommunikation. Dazu müsse man – eben – Romane lesen, die Pinakotheken der Moderne besuchen, sich spät abends in Jazz-Kellern aufhalten und ins Kino gehen. Zwar komme es darauf an, dass die Kirchen den Menschen den Weg bereiteten, in den Fragen Gewissheit zu erlangen, die den Sinn ihres Lebens betreffen, doch die heute gangbaren Wege könnten die der Tradition nicht mehr sein. Denn wie die Romanhelden Lukács zufolge „Suchende“ seien,36 so sind es auch die meisten der heute den Gottesdienst besuchenden Menschen, sowie die Pfarrerinnen und Pfarrer selbst, die für deren Gestaltung verantwortlich sind.37 Dennoch kann man die Liturgien der Kirche (aber auch des Judentums) als Manifestationen eines Sinnsystems ansehen, das in einem metaphysischen Zeitalter überzeugen konnte. Dass das heute nicht mehr in gleicher Weise der Fall ist, liegt nur zu einem Teil an den Sinnsystemen selbst, deren Rahmen von einer alten, problematisch gewordenen Metaphysik gebildet wurde. Zu einem anderen Teil liegen die Schwierigkeiten auch darin, die Übersetzung der Fragen, zu denen die alten Liturgien eine Antwort darstellten, in das Bewusstsein der Gegenwart nicht bewerkstelligen zu können. Wenn es mir nun darum geht, die in den Liturgien verborgenen Antworten auf Fragen zu beziehen, die sich aus der menschlichen Existenz ergeben, so ist mit diesem Vorgehen keineswegs eine vergangene und in ihrer Plausibilität verlorene Metaphysik einfach zu restituieren. Im Bewusstsein dieser Unmöglichkeit ist deshalb zuerst nach der Funktion zu fragen, die der Gottesdienst bis heute (bzw. heute noch) auszuüben vermag. Hierzu ist der längere Weg über eine Beschreibung menschlicher Zeiterfahrung ebenso notwendig wie die Frage nach der Funktion des Rituals und dem Verhältnis der Rituale zum Symbol, das der Medien bedarf. Die Antworten der Liturgie auf die Fragen der menschlichen Existenz ernst zu nehmen, heißt aber auch, mit diesen Antworten die Frage nach der Metaphysik zu stellen. Eine einfache Rückkehr zur Metaphysik der Tradition ist (unter dem Anspruch intellektueller Redlichkeit) nicht möglich. Doch im ———— 36 Lukács, Theorie des Romans, 51. 37 Das gilt auch für die Arbeit an den „Predigtstudien“. Die Verfasser dieser meditativen und reflexiven Zugänge zum jeweiligen Predigttext sind dem Redakteur R. Roessler und den Herausgebern zufolge eben keine „Schatzhüter“ mehr, sondern sie sind zu „Spurensuchern“ geworden (vgl. Predigtstudien I/1 [2002/2003], Vorwort, Stuttgart 2002, 12).

26

Zuge dieser Darstellung kann das Tor oder die Schwelle zur metaphysischen Dimension in den Blick treten. Um diesen Weg zu eröffnen, werde ich mir eine Interpretation des Nachmetaphysischen durch Michael Theunissen zunutze machen, der es so verstanden hat, dass wir erst im Nachhinein, nach dem Durchgang durch die Erfahrung des Menschen (und deren humanwissenschaftliche Erforschung), von Metaphysik überhaupt handeln (und also die entdeckten und ausgearbeiteten Fragen und Antworten auf Metaphysik beziehen) können.38 Dieser Weg wird sich in der Annäherung an den Begriff der Ewigkeit als gangbar erweisen. Am Ende wird die Frage nach Metaphysik aber transformiert werden, weil und insofern sich das Gebet als eine Sprech- und Sprachgestalt wird darstellen lassen, in der Metaphysik in actu verwunden werden kann.39 1.3.3 Der ambivalente Eindruck der (alten) Liturgien: Ein Beispiel aus dem zeitgenössischen Roman Es besteht eine Ambivalenz zwischen dem Eindruck, dass die Liturgien ihre Zeit gehabt haben könnten, in ihnen aber doch „eine andere Welt“ und „eine andere Zeit“ repräsentiert ist, und man auf diese Repräsentanz nicht verzichten möchte.40 Diese Ambivalenz ist etwa von Pascal Mercier (d. i. ein Pseudonym für den Namen Peter Bieri) in seinem viel gelesenen „Nachtzug nach Lissabon“ dargestellt worden, und zwar in der Rede, die der geheimnisumwobene Amadeu de Prado bei der Abschlussfeier seines Jahrgangs in einem jesuitischen Gymnasium gehalten hat. Ich zitiere die Passagen, die hier besonders gut passen: „Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt. Ich will zu leuchtenden Kirchenfenstern hinaufsehen und mich blenden lassen von den unirdischen Farben. Ich brauche ihren Glanz. Ich brauche ihn gegen die schmutzige Einheitsfarbe der Uniformen. Ich will mich einhüllen lassen von der herben Kühle der Kirchen. Ich brauche ihr gebieterisches Schweigen. Ich brauche es gegen das geistlose Gebrüll des Kasernenhofs und das geistreiche Geschwätz der Mitläufer. Ich will den rauschenden Klang der Orgel hören, diese Überschwemmung von überirdischen Tönen. Ich brauche ihn gegen die schrille Lächerlichkeit der Marschmusik. Ich liebe betende Menschen. Ich brauche ihren Anblick. Ich brauche ihn gegen das tückische Gift des Oberflächlichen und Gedankenlosen. Ich will die mächtigen Worte der Bibel lesen. Ich brauche die unwirkliche Kraft ihrer Poesie. Ich brauche sie gegen die Ver-

———— 38 M. Theunissen, Negative Theologie der Zeit, 28. 39 S. u. Kapitel 8. 40 Vgl. Makropoulos, Modernität, 117f.

27

wahrlosung der Sprache und die Diktatur der Parolen. Eine Welt ohne diese Dinge wäre eine Welt, in der ich nicht leben möchte.“41

Doch auch für Amadeu de Prado ist dies eine verlorene Welt. Ihr Sinn wird von einer Theologie zusammengehalten, welche dem zukünftigen Studenten der Medizin und späteren Widerstandskämpfer gegen die Diktatur höchst problematisch geworden ist. „Doch es gibt auch eine andere Welt, in der ich nicht leben will: die Welt, in der man den Körper und das selbständige Denken verteufelt und Dinge als Sünde brandmarkt, die zum Besten gehören, was wir erleben können“, fährt er fort, es mit einer leib- und sexualitätsfeindlichen Lehre des Katholizismus aufnehmend. Ambivalent genug verdankt er der Begegnung mit dieser Gestalt des Christentums zugleich eine Ahnung vom Heiligen, von der Unantastbarkeit der menschlichen Würde und eine ethische Orientierung, die sich an der Achtung der Person des Menschen orientiert. Für ihn hat die Symbolik der Kathedralen immer noch eine Ausstrahlung, die in die totalitären Verirrungen des 20. Jahrhunderts hineinreicht. Doch er hadert mit dem Bild eines allmächtigen Gottes ebenso wie mit der Gestalt einer hierarchisch verfassten Kirche. Dieser historischen Erinnerung gegenüber ist das „gesellschaftliche Lebensgelände“42 der Gegenwart allerdings unübersichtlicher geworden. Die alten Gotteshäuser mögen sich zwar immer noch in einer Ambivalenz darstellen, wie Mercier sie beschrieben hat. Doch die kontinuierlich in ihnen repräsentierte Aura vergangener Zeiten mit ihrer „Schönheit und Erhabenheit“, ihrem „gebieterischen Schweigen“ und dem „rauschenden Klang der Orgel“ steht inzwischen durchaus anderen Verhältnissen – jedenfalls in der westlichen Welt – gegenüber. 1.3.4 Der Strukturwandel und die Chance des kirchlichen Kasualhandelns Ein relevanter Aspekt, der mit dem Verlust der Selbstverständlichkeit des sonntäglichen Gottesdienstbesuchs und der kirchlich ritualisierten Schwellenbegehungen zusammenhängt, ist die Verflüssigung der Grenze zwischen Alltag und Fest bis zur Unkenntlichkeit. Musik etwa ist in früheren Zeiten, bevor man sie aufnehmen und technisch reproduzieren konnte, meist nur an Festtagen zu hören gewesen.43 Auch war sie gebunden an Räume der Versammlung, an den Hof des Fürsten etwa (an dem die barocken Meister ———— 41 P. Mercier, Nachtzug nach Lissabon, 198–203, 198. 42 Gräb, Lebensgeschichtliche Sinnarbeit, 223. 43 Zur Zeit der Wiener Klassik begann man, Messen für verschiedene Gelegenheiten zu komponieren (s. u. Abschnitt 6.5.4: „Die Messe als symbolische Form in Kompositionen der Moderne“).

28

ihr Können darboten), oder an den Marktplatz, auf dem Gaukler auftraten (die tragbaren, portablen Instrumente des fahrenden Volkes klammere ich hier einmal aus). Demgegenüber kann man seit längerem schon von früh bis spät Musik hören, und das auch während der Arbeit in der Garage, auf dem Bau oder während einer Autofahrt. Entsprechendes ließe sich zu den Bildern sagen, zur Verfügbarkeit von Dargebotenem, von Shows und Filmen. So ist dem Alltag stets erreichbar, was früher dem Fest vorbehalten blieb. Diese Grenzverwischung konnte, wie gesagt, erst unter den Bedingungen neuzeitlichen Gesellschaftswandels statthaben. Nach Odo Marquardt sind mit ihr zwei Gefahren verbunden: „Die eine Gefahr für das Fest ist der totale Alltag, der das Fest nicht mehr gelten lässt. Aber es gibt auch die andere Gefahr für das Fest: dass das Fest zum Fest ohne Alltag wird; denn auch dann – wenn für das Fest der Alltag preisgegeben wird – wird das Fest zerstört und hört auf, Fest zu sein.“44

Wie kann das Angebot des christlichen Gottesdienstes auf die so beschriebene Lage antworten? Doch wohl nicht anders als so, dass die Rituale der Liturgie als Hilfen und Geländer erfahren werden können, um die Übergänge im Leben gemeinsam mit anderen begehen zu können. Doch wohl nicht anders als so, dass die Symbole der Liturgie als Kondensationsformen von Sinn verstanden werden können, die – den Werken der Kunst ähnlich – zu komplexen Prozessen der Deutung und der Selbstverständigung anregen können. Doch wohl nicht anders als so, dass die Teilnahme an der Liturgie als eine Praxis erfahren wird, die sich von der des sonstigen Lebens eben auch dadurch unterscheidet, dass die Werke, die wir tun, hier in eine wesentlich andere Perspektive gestellt werden: Das Werk, das die Liturgie im Namen trägt, dient keinen materialisierbaren Zwecken und nicht der „Entschädigung“; es geschieht gewissermaßen „umsonst“, doch eben so unterbricht die Liturgie antistrukturell die Strukturen, die den Alltag wesentlich bestimmen. Die Grenzziehung, welche sowohl dem Alltag als auch dem Fest einen Anfang und ein Ende setzte, ist einmal allgemein von Regel und Brauch der kirchlichen Rituale gewährt worden. Sie machten die Alltäglichkeit des Alltags und die Festlichkeit des Festes „kenntlich“ und „erlebbar“ (um mit einer Notiz aus W. Benjamins nicht vollendeten „Passagenwerk“, einer „Urgeschichte der Moderne“, zu sprechen). Dort heißt es: „Rites de passage – so heißen in der Folklore die Zeremonien, die sich an Tod, Geburt, an Hochzeit, Mannbarwerden etc. anschließen. In dem modernen Leben sind diese Übergänge immer unkenntlicher und unerlebter geworden. Wir sind sehr

———— 44 O. Marquardt, Moratorium des Alltags, 695f.

29

arm an Schwellenerfahrungen geworden. Das Einschlafen ist vielleicht die einzige, die uns geblieben ist. (Aber damit auch das Erwachen.)“45

Gewiss: die Art und Weise, wie Rituale wirkten, ist verwickelt. Die Wendepunkte des individuellen Lebens, an die sich das kirchliche Kasualhandeln ankristallisierte, waren einmal viel klarer definiert als das heute der Fall ist. Auch ist das Ritual selbst nicht ohne Zweideutigkeit, insofern es die Freiheit der Entfaltung begrenzen, Spielräume der Individualität beschränken kann, und als ein Mittel der Herrschaftssicherung und Kontrolle hat eingesetzt werden können46. Aber Rituale haben eine unverzichtbare Bedeutung für das „Bedürfnis nach Entlastung vom Alltag“,47 des Geleits über die – immer auch verunsichernde – Lebensschwelle und für eine Rückkehr in den Alltag nach dem sonntäglichen Ruhetag, nach dem Urlaub, nach dem Fest, denn ohne den Alltag wäre der Sonntag nicht Sonntag, der Urlaub nicht Urlaub und das Fest nicht Fest.48 Inwiefern kann der kirchliche Gottesdienst und das Kasualhandeln für solche Vergewisserung des je Einzelnen in seinem Leben einen wichtigen Beitrag leisten? Eine Antwort wird einerseits den Weg über die Wahrnehmung und Reflexion derer nehmen, die Lebensschwellen zu begehen oder die ihre Lebenszeit zu strukturieren haben. Auf der anderen Seite gehört eine Schwellenkunde aber auch zur Aufgabe derer, die für die kirchliche Inszenierung von Gottesdiensten verantwortlich sind. Und „Schwellenkunde“ wäre der Titel für den Teil einer Liturgik, die ein angemessenes „Passungsverhältnis“ zwischen kirchlichen Formen und dem wirklichen Leben der Menschen zu entwerfen sucht. Schwellenkunde in diesem Sinne müsste auf dem Unterschied zwischen Grenze und Schwelle aufbauen, wie Benjamin ihn in Fortführung des schon gegebenen Zitats geltend macht. „Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Wort ‚schwellen‘ und diese Bedeutung hat die Etymologie nicht zu übersehen. Andererseits ist notwendig, den unmittelbaren […]

———— 45 Benjamin, GS V/1, 617f. 46 Vgl. dazu: A. Assmann, Festen und Fasten, 241. 47 Marquardt, Moratorium, 687. 48 Im Übrigen kann man Benjamins Einschätzung in Frage stellen, dass die zeremoniell geregelten Übergänge an den Wendepunkten des Lebens „unerlebter“ geworden seien. Die Individualisierung der Schwellenerfahrung kann auch zu einer Steigerung ihrer Erlebbarkeit führen. In diesem Sinne wäre es zu deuten, dass etwa bei protestantischen Trauungen das „Ave Maria“ gewünscht wird, wie man es aus der eindrücklichen Inszenierung eines katholischen Gottesdienstes in dem Mafia-Film „Die Ehre der Prizzis“ mit Jack Nicholson in einer der Hauptrollen (USA 1985; Regie: J. Huston) kennt. Dieses Phänomen zeigt allerdings auch: An die Stelle einer durch die christliche Sitte, zumal in konfessioneller Differenz geprägte, normative Orientierung in Formfragen ist heute die in der Medienkultur wirksame Kunst getreten. Hier werden neue Symbole geprägt, die im Verhältnis zum Alten nicht zuletzt aufgrund ihres Synkretismus neu sind.

30

zeremonialen Zusammenhang festzustellen, der das Wort zu seiner Bedeutung gebracht [hat].“49

Ohne Schwierigkeit wird diese begriffliche Orientierung sich mit den ritualtheoretischen Ergebnissen aus der neueren Forschung vermitteln lassen. Und was es heißt, auf einer Schwelle zu verweilen, sei es eine solche des je eigenen Lebens anlässlich der Kasualien, sei es die täglich, wöchentlich oder jährlich wiederkehrende zwischen Arbeit und Muße (wie auch immer man sie dann individuell gestalten mag), wird sich als ein Erfordernis aus der im Folgenden zu gebenden Beschreibung von Zeiterfahrungen ergeben. So wird sich eine auf die Erfahrung bezogene Liturgik als „Schwellenkunde“ entwickeln lassen. Ob Schwellenerfahrungen „kenntlich“ und „erlebbar“ bleiben, ist jedenfalls eine Frage auch an das Handeln der Kirche und ihr Selbstverständnis.

———— 49 Benjamin, GS V/1, 617f.

31

2. Die Zeit der Liturgie

Meine Zeit steht in deinen Händen. Psalm 31, 16a Der Mensch ahnt nichts von seiner Frist. / Du aber bleibest, der du bist, / in Jahren ohne Ende. Jochen Klepper, 19381

Die Liturgien – nicht nur der christlichen, hier aber der christlichen Religion – antworten zuerst auf Fragen, die sich aus dem Problem der Zeitlichkeit menschlichen Lebens ergeben. Gerade so führen sie in eine Erfahrung der Zeit, die als Gewinn angesehen werden kann. Die Teilnahme an der Liturgie bedeutet einen Zeitgewinn, der der Einsicht aus der Johannesapokalypse widersteht, dass die „Enge der Zeit […] die Wurzel des Bösen“ sei.2 Wie dieser Zeitgewinn zu denken ist, soll Aufgabe der folgenden Überlegungen sein.

2.1 Zeit ist Frist „Zeit heißt Frist“ – mit diesem Satz hat der jüdische Religionsphilosoph Jacob Taubes den existentialen Sinn der abendländischen Eschatologie auf den Begriff gebracht.3 All die biblischen Texte und Bilder, die vom Ende der Zeiten, vom Jüngsten Tag, von der Kürze der Zeit, die auszukaufen sei, handeln, bringen auch für den neuzeitlichen Menschen noch eine Einsicht zum Ausdruck, die den ernsten Sinn seiner Existenz zu erhellen vermag. ———— 1 Evangelisches Gesangbuch [Ausgabe für die Evangelische Landskirche in Württemberg], Stuttgart 1996 [folgend zitiert: EG], 64, 4 a. 2 Blumenberg, Lebenszeit, 71 zitiert und interpretiert Apokalypse 12, 12. Der Begriff des Zeitgewinns wird in den Beiträgen eines Sammelbands differenziert entfaltet, denen ich für das Verständnis des Folgenden vieles verdanke (vgl. Fuchs, G./Henrix, H. H. [Hg.], Zeitgewinn. Messianisches Denken nach Franz Rosenzweig, Frankfurt a. M. 1987). 3 J. Taubes, Abendländische Eschatologie, Buchrücken. Vgl. E. Jüngel, Tod, 22. Die folgenden Überlegungen bauen auf früheren Arbeiten auf, führen diese Ansätze aber weiter aus: vgl. Dober, Erfahrbare Kirche: dimensionierte Zeit und symbolische Ordnung im Kirchenjahr, 222– 248; Ders., Franz Rosenzweigs „Der Stern der Erlösung“ als liturgietheoretische Konzeption (erscheint im Rahmen der Veröffentlichungen der Internationalen Franz-Rosenzweig-Gesellschaft).

32

Diese Texte und Bilder geben die in ihnen verborgene Einsicht auch dann noch zu erkennen, wenn sie auf den ersten Blick Bücher mit sieben Siegeln zu sein scheinen4, weil das zeitgenössische Bewusstsein mit apokalyptischen Reitern und der Hure Babylon, mit überirdischen Gerichtsszenen und dem himmlischen Jerusalem nur so wenig noch anzufangen weiß. „Zeit ist Frist“ – das ist eine Einsicht, die für sich selbst zu realisieren keinem Menschen erspart werden kann, und das auch in einem Zeitalter nicht, in dem viele der guten Ernährung und medizinischer Versorgung wegen älter werden als früher, und das auch dann, wenn die moderne Medizin Hoffnungen darauf geweckt hat, dass man in Bälde die individuelle Lebenszeit noch einmal werde verlängern können. Menschliches Leben ist und bleibt endlich. „Alle Menschen müssen sterben“, heißt es in einem GesangbuchLied5, das die alte Einsicht aus dem 90. Psalm aufgreift, das Leben des Menschen währe 70 Jahre, und wenn’s hoch kommt, so seien es 80 Jahre, weshalb denn auch die Bitte bis heute für die meisten Teilnehmer an Bestattungen Sinn macht: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Menschliche Lebenszeit ist begrenzt. Das ist uns nicht immer gleich bewusst, und doch bleibt es eine Wahrheit von allem Anfang individuellen Lebens an. Mit dieser Einsicht tritt dann auch das Bewusstsein vergehender Zeit auf. Augustin hat die Frage nach der Zeit in den „Confessiones“ folgendermaßen in Worte gefasst: „Was also ist die Zeit? Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht. Das jedoch kann ich zuversichtlich sagen: Ich weiß, dass es keine vergangene Zeit gäbe, wenn nichts vorüberginge, keine zukünftige, wenn nichts da wäre. Wie sind nun aber jene beiden Zeiten, Vergangenheit und Zukunft, da ja doch die Vergangenheit nicht mehr ist, und die Zukunft noch nicht ist?“6

Einerseits ist es eine unbewusste Selbstverständlichkeit, dass wir in der Zeit leben. Zeit in diesem Sinne ist (um mit Blumenberg zu sprechen) „das Unmerkliche, an den Realitäten der Welt Unbeteiligte: Tempus non est affectio rerum, hatte Spinoza festgesetzt.“ Andererseits ist es alles andere als selbstverständlich, einsehen zu müssen, dass die Zeit als Realität be———— 4 Vgl. den Film „Das Siebente Siegel“ (Schweden 1957; Regie: I. Bergmann) – auch hier wird der verborgene Sinn der Apokalyptik in einem Dialog mit dem Tod entschlüsselt. Unter den neueren Filmen, die das Auskaufen knapp werdender Zeit entfalten, ist „Das Beste kommt zum Schluss“ mit J. Nicholson und M. Freeman in den Hauptrollen zu nennen (USA 2008; Regie: Rob Reiner). 5 Dessen Text von J. Rosenmüller (1620–1684) ist allerdings nicht mehr ins neue Gesangbuch (Württemberger Fassung) aufgenommen worden. 6 Nachweis aus den Confessiones (A. Augustinus, Bekenntnisse, übertragen u. eingeleitet v. H. Hefele, Düsseldorf/Köln 1958, 287).

33

merkbar wird. Das geschieht, wenn sie knapp wird, das geschieht unter Bedingungen ihres Entzuges. Solche Einsicht unterbricht vielmehr alle Selbstverständlichkeiten, in denen wir uns eingerichtet haben: Tempus est affectio hominum. „Man darf im Ohr haben“, so Blumenberg weiter, „was Hofmannsthal die Feldmarschallin im ‚Rosenkavalier‘ sagen und Strauss sie singen lässt: Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie.“7 Dass menschliche Lebenszeit begrenzt ist, wird am Tod ersichtlich, denn in seinem Angesicht ist die Einsicht nicht mehr zu umgehen oder zu verdrängen, dass Zeit Frist ist. Prägnant hat Franz Rosenzweig zu Beginn seines Hauptwerkes „Der Stern der Erlösung“, begonnen auf Feldpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg und geschrieben von Herbst 1919 bis Frühjahr 1920, diese Einsicht in Worte gefasst: „Vom Tode, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an. Die Angst des Irdischen abzuwerfen, dem Tod seinen Giftstachel, dem Hades seinen Pesthauch zu nehmen, des vermisst sich die Philosophie. Alles Sterbliche lebt in dieser Angst des Todes, jede neue Geburt mehrt die Angst um einen neuen Grund, denn sie mehrt das Sterbliche. Ohne Aufhören gebiert Neues der Schoß der unermüdlichen Erde, und ein jedes ist dem Tode verfallen, jedes wartet mit Furcht und Zittern auf den Tag seiner Fahrt ins Dunkel. Aber die Philosophie leugnet diese Ängste der Erde. Sie reißt über das Grab, das sich dem Fuß vor jedem Schritt auftut. Sie lässt den Leib dem Abgrund verfallen sein, aber die freie Seele flattert darüber hinweg. Dass die Angst des Todes von solcher Scheidung in Leib und Seele nichts weiß, dass sie Ich Ich Ich brüllt und von Ableitung der Angst auf einen bloßen ‚Leib‘ nichts hören will – was schert das die Philosophie.“8

Die Kriegserfahrung an der Front des Ersten Weltkriegs hat die Einsicht hervorgerufen, dass der Mensch sterben muss, früher oder später, und dass ihn im Angesicht des Todes Angst erfüllt, denn es wird eng mit der Zeit.9 Diese Einsicht wird von Rosenzweig hier, zu Beginn des „Stern“, kritisch gegen eine Philosophie als „Kontingenzbewältigungspraxis“ gewendet (um einen gängigen Begriff von der Funktion der Religion in einen anderen Bereich zu übertragen).10 Seit Platon (auf dessen „Phaidon“ Rosenzweig ———— 7 Blumenberg, Lebenszeit, 240. 8 F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung Teil I–III [folgend zitiert: Stern I–III], zit. nach: Gesammelte Schriften (1979–1984) Bd. II [= GS II], 3 [Stern I]. 9 „Der Tod verknappt [auch] bedeutend die Zeit der Rede und die Zahl der Stimmen“ (A. Schnitzler, Die Toten schweigen, zit. nach J. Hörisch, Eine Geschichte der Medien, 43f). Mit Blick auf den kulturhistorischen Kontext der Dialektischen Theologie habe ich an einem anderen Ort den Geist der Zeit skizziert, in den sich auch der Existentialismus Rosenzweigs fügt: Dober, Evangelische Homiletik, 111ff. 10 Vgl. etwa N. Luhmann, Funktion der Religion; H. Lübbe, Religion nach der Aufklärung, 127–218. Eine der Pointen von Rosenzweigs Hauptwerk ist denn auch, dass nicht der Philosophie,

34

anspielt11) sucht die Philosophie das Problem der Veränderung durch Zufälle, die sich nicht vorhersehen lassen, in den Griff zu bekommen, indem sie nach dem unveränderlichen Wesen der Dinge fragt. Die Erfahrung der Veränderung ist aber ein Modus der Erfahrung von Zeit, wie sie sich schon in den Fragmenten der Vorsokratiker niedergeschlagen hat. So lautet etwa ein berühmtes Diktum des Heraklit „ʌȐȞIJĮ ȡ҆İҔȚ“ – „es ist alles im Fluss“, und ein anderes korrespondiert ihm, indem es die Erfahrung der Welt auf die des Menschen bezieht: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“ Der Fluss bleibt sich nicht gleich, weil das Wasser fließt und mit dem Fließen stets eine andere Gestalt annimmt, und der in den Fluss steigende Mensch nimmt an diesen Veränderungen des Elements Wasser teil, er muss sich darauf einstellen.12 Rosenzweig wendet die Einsicht in das endliche Wesen des Menschen gegen eine Philosophie, die „von Ionien bis Jena“, bis hin zum Deutschen Idealismus also, und unter den hier zu nennenden Namen vor allem bis hin zu Hegel, die Kontingenz der Welt und des (zufällig begrenzten) menschlichen Lebens in ihr dadurch zu bewältigen suchte, dass sie alles in Begriffe fasste, die mit dem Anspruch auftraten, die Erfahrung überhaupt vorzustrukturieren, ja „vorzusehen“. Denn ihre individuelle Kontingenz sei in der Allgemeinheit ihres Wesens immer schon gut aufgehoben. Das gegebene Rosenzweig-Zitat lässt sich mit Theunissen auch so verstehen, dass die „Metaphysik selber … seit je von der Herrschaft der Zeit ausgegangen“ ist13, wie sie im Angesicht des Todes jedermann erfahrbar werden kann. Metaphysik ist von der Herrschaft der Zeit ausgegangen, um ihr eine – eben metaphysische – Antwort entgegenzusetzen, die allerdings Rosenzweig schon (und viele Denker von Rang nach ihm) nicht mehr zu überzeugen vermochte. Unter der Voraussetzung einer fundamentalen Kritik der Philosophie des All (als einer bestimmten Gestalt neuzeitlicher Metaphysik) wird im „Stern der Erlösung“ eine durch die Grundbegriffe der Theologie zu strukturierende Erfahrung von Zeit dargestellt. Und die hier mit Hilfe theologischer Grundbegriffe rekonstruierte Erfahrung von Zeit wird auf die liturgischen Ordnungen in Juden- und Christentum so bezogen, dass man einerseits ———— sondern der Religionspraxis im Gebet zugetraut wird, ein Verhältnis der Anerkennung zu Erfahrungen von Kontingenz einzuüben. Ich komme darauf in Kapitel 8 zurück. 11 Platon, Phaidon 250 a. 12 Vgl. zum philosophischen Gebrauch der Metapher vom Fluss: R. Schindler, Zeit, Geschichte, Ewigkeit in Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung, 69. In dieser gründlichen Untersuchung zu Rosenzweigs Hauptwerk findet sich auch eine ausführliche Rekonstruktion der Kritik der Philosophie des All und eine systematische Darstellung des Todesproblems im Zusammenhang des „Stern“. 13 Theunissen, Negative Theologie, 42.

35

sagen kann: Rosenzweig hat in seinem Hauptwerk eine philosophische Grundlegung der Liturgik gegeben, auf die auch eine – evangelisch verstandene – Theorie des christlichen Gottesdienstes aufbauen kann. Andererseits lässt sich das Begründungsverhältnis aber auch umkehren. Nicht nur begründet ein Gedankengang, der sich über die Voraussetzungen und Bedingungen liturgischer Formen – wie vor allem der Rituale – bewusst werden will, eben die Theorie der Liturgik, sondern umgekehrt macht die primäre Erfahrung von Sozialität, d. h. von Gemeinschaft mit anderen in ritualisierten Formen des Umgangs, auch die spezifische Erfahrung von Zeit möglich, zu deren Rekonstruktion die Begriffe der Theologie herangezogen wurden. Doch das ist ein vorwegnehmender Ausblick auf Zusammenhänge, die erst noch im einzelnen dargestellt werden müssen. Die gemeißelten Sätze, mit denen Rosenzweigs „Stern“ beginnt, bringen zudem ein wesentliches Problem der Frage nach der Zeitlichkeit menschlicher Existenz prägnant auf den Punkt. Wie kommen wir eigentlich dazu, die Idee der Endlichkeit menschlichen Lebens zu ergreifen? „Das Bewusstsein, seiner Immanenz überlassen gedacht, besitzt [diese] Idee […] nicht“, schreibt Blumenberg mit Bezug auf Husserl. Das Bewusstsein „ist sich im Gegenteil als ein Und-so-weiter seiner Struktur evident bewusst […] Nimmt man gewesene Eindrücke, […] – etwa die vor einer Stunde, vor einem Tag, vor einer Woche, vor einem Jahr –, so hat man schon die Erinnerung zu Hilfe genommen“,14 die Erinnerung aber ist Sache des Bewusstseins (oder des ins Bewusstsein zu hebenden Vergessenen). Um also die Idee der Endlichkeit fassen zu können, bedarf es einer Erfahrung, die die Immanenz des Bewusstseins übersteigt. Es bedarf, so Blumenberg weiter, der „Fremderfahrung“. „Der Satz, alle Menschen seien geboren und müssten sterben, ist das Resultat intersubjektiver Erfahrung. Jedem Menschen wird erst ‚zugetragen‘, dass er geboren ist, denn er war erlebend nicht dabei, und es muss ihm schonend beigebracht werden, dass er sterben wird, denn er kann sich ein Aufhören seines Bewusstseins nicht denken.“ (ebd.)

Und so kann man sagen: „Es gibt einen zwingenden Zusammenhang zwischen Fremderfahrung und Lebenszeitbewusstsein.“ (91) Eben davon ist auch Rosenzweig ausgegangen: Der Tod, der mich zur Einsicht in die eigene Endlichkeit zwingt, ist der Tod des andern. Es ist das Sterben, an dem – beobachtend oder begleitend – teilzunehmen ich nicht vermeiden kann. Es ist die Wahrnehmung der begrenzten Lebenszeit der anderen, die mich dazu zwingt einzusehen: Auch meine je eigene Lebenszeit ist begrenzt. Was aber folgt aus dieser Einsicht für das Leben? Wenn menschliche Lebenszeit Fristcharakter hat, wird man sagen können: Die Zeit herrscht ———— 14 Blumenberg, Lebenszeit, 90.

36

über uns, denn sie vergeht. Die Lebenszeit wird verbraucht, so oder so, mehr oder weniger sinnvoll, sie wird gestaltet mit mehr oder weniger Erfolg (wenn denn Erfolg ein Maßstab sein kann, an dem der Ertrag einer individuellen Lebenszeit gemessen werden kann). Und manchmal, in Extremsituationen wie der von Unfällen oder Kriegen, findet das Leben auch ein abruptes Ende. Zeit ist Frist – aus dieser Einsicht in die Endlichkeit des menschlichen Lebens kann aber auch seine spezifische Spannkraft erwachsen. Erst dadurch, dass die Lebenszeit einen Anfang und ein Ende hat, kann sie ihre unverwechselbare Einzigkeit gewinnen. Im Bild der Spannung einer Saite gesprochen bestünde diese in ihrer spezifischen Gestimmtheit, welche einen besonderen Ton in die Welt zu setzen vermag. Anders gesagt: In der Begrenztheit des Lebens kommt es auf den Augenblick an, und in der qualifizierten Erfahrung der Zeit liegt es begründet, dass ein sich seiner Endlichkeit bewusstes Leben von Langeweile nichts wissen muss. P. Mercier hat diesen Gedanken seiner Figur Amadeu de Prado in den Mund gelegt. In seiner Abschlussrede vom Gymnasium hatte der gesagt: „Wer möchte im Ernst unsterblich sein? Wer möchte bis in alle Ewigkeit leben? Wie langweilig und schal müsste es sein zu wissen: Es spielt keine Rolle, was heute passiert, in diesem Monat, diesem Jahr: Es kommen noch unendlich viele Tage, Monate, Jahre. Unendlich viele, buchstäblich. Würde, wenn es so wäre, noch irgendetwas zählen? Wir bräuchten nicht mehr mit der Zeit zu rechnen, könnten nichts verpassen, müssten uns nicht beeilen. Es wäre gleichgültig, ob wir etwas heute tun oder morgen, vollkommen gleichgültig. Millionenfache Versäumnisse würden vor der Ewigkeit zu einem Nichts, und es hätte keinen Sinn, etwas zu bedauern, denn es bliebe immer Zeit, es nachzuholen. Nicht einmal in den Tag hinein leben könnten wir, denn dieses Glück zehrt vom Bewusstsein der verrinnenden Zeit, der Müßiggänger ist ein Abenteurer im Angesicht des Todes, ein Kreuzritter wider das Diktat der Eile. Wenn immer und überall Zeit für alles und jedes ist: Wo sollte da noch Raum sein für die Freude an der Zeitverschwendung?“15

2.2 Die Herrschaft der Zeit Von der Herrschaft der Zeit zu sprechen setzt ihre Objektivität voraus, und zwar eine Objektivität vergehender Zeit, die auch allem subjektiven Erleben und dem Bemühen je eigener Gestaltung der Lebenszeit vorhergeht. Diese Zeit ist das Medium aller Erfahrung, sowie die Voraussetzung aller Medien, in denen Erfahrungen gemacht und weitergegeben werden können (wie der ———— 15 Mercier, Nachtzug, 201f. Vgl. für den zeitphilosophischen Hintergrund der in diesen Roman eingegangenen Reflexionen: P. Bieri, Zeit und Zeiterfahrung, Frankfurt a. M. 1972.

37

Sprache und der Schrift, des Tons und der Musik, des Bildes und des Films, des Geldes und der technischen Medien der Kommunikation).16 Wie aber ist die Objektivität der Zeit darzustellen, die über den Menschen und die Dinge in der Welt gleichermaßen herrscht, ohne dass schon ein Unterschied zwischen Mensch, Tier und Ding in Anschlag zu bringen wäre? Es ist die Zeit, die durch kosmologische Zusammenhänge konstituiert ist, die Zeit, die in der Bewegung der Erde im Sonnensystem und in der Bewegung des Mondes um sie selbst begründet ist, die Zeit, die sich astronomischen Erkenntnissen erschließt, und die u. a. in physikalischen (bzw. mathematischen) Modellen ihre anschauliche Form findet, sei es in der Form des Kreises als Bild für die Wiederkehr des Gleichen, sei es in der Form der Linie oder des Pfeils, der in eine bestimmte, festgelegte Richtung verläuft. Von dieser physikalisch symbolisierten Zeit ist die existentielle zu unterscheiden, wie andererseits von der in astronomischen Modellen darstellbaren Weltzeit des Kosmos die individuelle Lebenszeit des Menschen. Beide sind nur in einem unauflöslichen Wechselverhältnis zueinander darstellbar, die Objektivität der über den Menschen und die Welt herrschenden Zeit aber macht hier den Anfang. Im Begriff der Herrschaft der Zeit liegt die „Annahme der Realität von Zeit“17, die allen Möglichkeiten zugrunde liegt, die der Mensch in seinem Dasein zu entwerfen und zu ergreifen vermag. Auch für Theunissen ist der „Zusammenhang von Zeit und Zeiterfahrung“ „unauflöslich“ (42). Wir werden uns unseres Daseins in der Zeit erst bewusst, wenn wir sie erfahren, doch auch schon bevor wir in diesen Stand des Bewusstseins eingetreten sind, vollzieht sich menschliches Leben in der Zeit. Es ist eben so, wie das oben gegebene Zitat Augustins es zum Ausdruck bringt: Die Zeit, in der ich lebe, ist das Selbstverständlichste, doch es ist alles andere als einfach, dieses Selbstverständlichste auch zu verstehen und mitteilbar zu machen. Was also ist die Zeit? Die Antwort ist nur zu geben aus der Erfahrung einer Zeit, die wir als erfüllt erleben können, und derart erfüllte Jetztzeit leistet schon einen Widerstand gegen die Herrschaft der Zeit. Es ist dies ein Widerstand, der so weit gehen kann, dass diese Herrschaft für einen Moment oder für längere Zeit gar vergessen werden kann – so selbstverständlich ist dann das Entwerfen und Realisieren von Verrichtungen, die entweder der Bewahrung der Vergangenheit in der Erinnerung, im Gedächtnis, oder der Gestaltung der Zukunft dienen. So erfüllt ———— 16 Mit Theunissen die Medialität der Zeit zu benennen hat eine Konsequenz für die Medientheorien, die in die praktische Theologie Eingang gefunden haben. Die These lautet hier, dass alle Medien, deren Gebrauch zu reflektieren ist, auf das erste und ursprüngliche Medium der Zeit bezogen werden müssen – und zwar auf das Medium der Zeit vor allem Bezug auf den Raum. Vgl. Kapitel 4 und 5. 17 Theunissen, Negative Theologie, 42.

38

von Vergangenheit und Zukunft kann die Gegenwart sein, dass das Vergehen des Augenblicks – jedenfalls in einem in die Länge gezogenen Moment, einem nunc stans – keine Rolle mehr zu spielen scheint. Wir erfahren die Zeit als das elementare Medium des Lebens nur in der Weise subjektiven Erlebens, und d. h. wir erfahren sie in der Begrenztheit je eigener Lebenszeit. Diese ist aber immer schon begründet in einer Weltzeit, die eine kosmologische und dann – abgeleitet mit Blick auf das irdische Leben – eine natürliche, schließlich aber auch eine geschichtliche, und d. h. auf die Handlung bzw. die Tat des Menschen selbst zurückführbare Dimension hat. Nach Blumenberg ist die Weltzeit immer durch ein mehr als im Verhältnis zur Lebenszeit bestimmt: Sie besteht in mehr als der natürlichen Umwelt, der Familie, der Zeit des Stamms und der Horde. Sie ist schon repräsentiert im Ritual, archaisch wie es zuerst gewesen ist, im Ritual, „das Fruchtbarkeiten und Jagderfolge antizipiert und schließlich fähig wird, eine größere Ereignisfolge als die des überschaubaren Lebens zu reproduzieren“, will sagen: „Genealogien und Chronologien darstellbar zu machen und dadurch die Weltzeit von der Lebenszeit abzuheben.“18 Von der Lebenszeit unterschiedene Weltzeit ist auch im Kirchenjahr repräsentiert. Weihnachten ist mit der Herrschaft des Kaisers Augustus konnotiert, Ostern mit der Macht des Pilatus und des Herodes, Pfingsten mit der Sprachenvielfalt im damaligen Kleinasien und dem Mittelmeerraum. Auch die kleineren Feiertage haben einen Weltzeit-Index: der Israel-Sonntag, die Kirchweih, das Reformationsfest und der Buß- und Bettag. Die Weltzeit umfasst immer schon die menschliche Lebenszeit, doch es gibt keinen anderen Zugang zu ihr als jenen aus den Quellen menschlicher Subjektivität und d. h. aus menschlicher Erfahrung der Zeit, will sagen: der je eigenen Lebenszeit, wie sie erfahren wird in bestimmten Lebenswelten, deren Horizonte sich von bestimmten Standpunkten aus auf eine unterschiedliche Weise erschließen. Man kann auch sagen: Die Wahrnehmung der Weltzeit ist perspektivisch auch noch in den philosophischen Konzeptionen, die die Perspektivität des eigenen Zugangs reflexiv eingeholt haben und darum bemüht sind zu zeigen, wie das eigene Erlebnis eingebettet ist in größere Kontexte. So beschreibt Theunissen die objektiv gegebene Zeit, die aller Erfahrung von ihr vorausgeht, auf eine andere Weise als Blumenberg, dem es vor allem darauf ankommt, die Weltzeit von der Lebenszeit zu unterscheiden. Während Blumenberg das „Lebensinteresse“ betont, an die „Beeinflussbarkeit“ der Welt hinter der Lebenswelt „heranzukommen“,19 betont Theunissen ein primäres und elementares Leiden, ein Seufzen des Menschen und der Kreatur, wie man mit Anklang an das bekannte Paulus———— 18 Blumenberg, Lebenszeit, 99. 19 Ebd.

39

wort sagen könnte (Römer 8, 22), das durch die Herrschaft der Zeit begründet ist. Für Theunissen folgt aus der Annahme einer objektiv gegebenen Herrschaft der Zeit notwendig, dass wir unter eben dieser Herrschaft leiden.20 Er hat dieses Leiden unter der Herrschaft der Zeit anhand von klinischen Phänomenen psychisch kranker Menschen auf eine sehr erhellende Weise beschrieben. Aus den Erlebnisberichten von Melancholikern und Depressiven, aber auch von Psychotikern, Schizophrenen und Neurotikern lässt sich das für jeden – auch den gesunden – Menschen wesentliche Leiden unter der Herrschaft der Zeit anschaulich wahrnehmen.21 Wie kann man sich aber der – entweder so oder anders gewerteten – Welt annähern, die „für sich, jenseits der menschlichen Größen, ihr eigenes Zeitmaß [gewinnt]“, wie kann man sich annähern an „ihre größere Periodizität über Tage, Mondphasenwechsel, Jahreszeiten, Jahre hinaus, also über die menschlich integrierte, in anschaulichen Einheiten verlaufende Zeit hinweg“?22 Zu solcher Orientierung geleitete früh schon der Blick in den Sternenhimmel.23 Hier waren „Bilder“ zu sehen, für die die menschliche Wahrnehmung das Muster schon mitbringen musste. Seien es der Wassermann oder die Fische, der Widder oder der Stier, die Zwillinge oder der Krebs, der Löwe oder die Jungfrau, die Waage oder der Skorpion, der Schütze oder der Steinbock: jeweils wurde ein aus der Welterfahrung bekanntes Bild zwischen den Punkten konstruiert, die die Sterne andeuteten (und dann auch rekonstruiert, wenn man dieses Bild wiedererkennen wollte). Die 12 Sternzeichen fügten sich zum Kreis eines Jahres, der Zeit, in der sie in bestimmten Abständen am unteren Rand des Sternhimmels auftauchten und wieder verschwanden, sichtbar je nachdem, von welchem Standort aus man den Blick in den Himmel richtete. Hinzu traten die immer sichtbaren Bilder des kleinen und großen Wagens bzw. Bären, der Kassiopeia (oder des sog. „Himmels – W“), des Orion u. s. w. Der frühe Blick in den Sternenhimmel vermittelte den Eindruck eines größeren harmonischen Zusammenhangs, in dem mehr und Größeres sollte erkannt werden können als in den Zyklen des individuellen menschlichen Lebens, wie es in Strukturen der Sozialität, der Familie, der Sippe, des Volkes und später auch der Nation eingebunden war und ist. Wer in den ———— 20 Theunissen, Negative Theologie, 44f. 21 In einer praktisch-theologischen Hinsicht gestattet es diese Darstellung Theunissens, solche Linien zwischen einer seelsorgerlichen und einer liturgischen Fragestellung zu ziehen, die die kirchlichen Angebote und Aufgaben auf die Vielfalt menschlicher Erfahrung zu beziehen erlauben. 22 Blumenberg, Lebenszeit, 99. 23 „Für die alten Völker begründete der gleichbleibende Sternenhimmel die göttlich garantierte stabile Ordnung der Welt […], wie oben, so unten, wie im Himmel, so auf Erden (Mt 6, 10).“ (F. A. Z. Nr. 30, 5. Februar 2008, Seite 37)

40

Sternenhimmel schaute, konnte einen Eindruck – und dann auch einen Begriff – davon gewinnen, „dass die Zeit nicht nur die Dimension ist, in der Wirklichkeit sich erstreckt – so wie Schicksale in der Zeit verlaufen –, sondern unter deren Bedingung sich Möglichkeiten bilden.“24 In mythologischer Form ist diese Einsicht bis heute verborgen in der Astrologie, die – problematisch und kritikwürdig genug – die Lebenschancen und -gefahren eines unter einem bestimmten Sternzeichen geborenen Menschen berechnen zu können vorgibt, als könne man das zu ergreifende oder abzuwehrende Schicksal in ein Horoskop fassen. Der biblische Glaube ist solchen Bemühungen von Anfang an mit größter Skepsis begegnet.25 So sind die Sterne der ersten Schöpfungsgeschichte zufolge bloße Lampen und keine göttlichen Wesen, eingesetzt einzig zu dem Zweck, die Nacht zu erleuchten. Zu welcher Erleuchtung (im Sinne einer Illumination im Geistigen) kann aber der Blick in den Sternenhimmel dennoch den Betrachter führen? Derart aufgeklärte Erleuchtung wird eben darin bestehen, dass hier der Eindruck und dann auch der Begriff einer Weltzeit zu gewinnen ist, die die menschliche Lebenszeit in ihrer Individualität und Sozialität noch übersteigt. Bei aller Skepsis der Astrologie gegenüber findet sich doch vereinzelt der Kreis der Sternzeichen in den liturgischen Kontext (hier vor allem: als Bild in den liturgischen Raum) der Synagoge und der Kirche integriert. Das ist im Bodenmosaik der Synagoge Beit Alpha aus dem 1. nachchristlichen Jahrhundert der Fall. Man entdeckte dieses Mosaik im Zuge der Bauarbeiten für einen Kibbuz an diesem Ort in der Nähe von Beit Shean. Und der Sternenhimmel war auf dem blauen Grund der Decke der Sixtinischen Kapelle dargestellt, ehe denn Michelangelo den Auftrag zur Neugestaltung bekam.26

———— 24 Blumenberg, Lebenszeit, 100. 25 Auch Luther hat die Versuche abgewehrt, ihn zu einem Planetenkinde zu machen: A. Warburg, Heidnisch-antike Weissagung, 23. Für die Menschen der Urzeit muss das „Herauslesen aus Sternen, Eingeweiden, Zufällen“ aber „das Lesen schlechthin“ gewesen sein. Verhält es sich so, dann „liegt die Annahme sehr nahe, jene mimetische Begabung, welche früher das Fundament der Hellsicht gewesen ist, sei in jahrtausendelangem Gange der Entwicklung ganz allmählich in Sprache und Schrift hineingewandert und habe sich in ihnen das vollkommenste Archiv unsinnlicher Ähnlichkeit geschaffen“ (Benjamin, GS II/1, 209 [Lehre vom Ähnlichen]). 26 D. Kupper, Michelangelo, 70. S. u. Kapitel 6.5.1 [Das Beispiel der Sixtinischen Kapelle: Der Anspruch objektiver Geltung, in der Kunst dargestellt].

41

Abb. 1: Teilansicht des Mosaiks der Synagoge Beit Alpha: Sternkreis

In beiden Fällen, so darf man vermuten, hat sich – bewusst oder nicht voll bewusst – die Einsicht niedergeschlagen, dass auch kosmische Bedingungen unsere Erfahrung von Zeit konstituieren. Mit Blumenberg sind sie eben als Bedingungen zu begreifen, unter denen „sich Möglichkeiten bilden“, und eben so wäre ein bloß anschaulicher Eindruck in eine begriffliche Einsicht überführt. Was im Fall von Synagoge und Kirche angenommen werden darf, dass diese kosmischen Bedingungen als geschaffene verstanden wurden, spielt allerdings in dieser philosophischen Rekonstruktion keine Rolle mehr, geht Blumenberg doch durchweg von einem zweidimensionalen Erfahrungsbegriff aus, für den es nur die beiden Pole des Menschen und der Welt, bzw. des Subjekts und des Objekts gibt. Zu welchen Ergebnissen man gelangen kann, wenn man stattdessen einen dreidimensionalen Erfahrungsbegriff voraussetzt, für den neben Mensch und Welt auch Gott als drittes Element der Erfahrung tritt, wird später anhand von Rosenzweigs „Der Stern der Erlösung“ auszuführen sein. Mit Blumenberg lässt sich aber festhalten: „Orientierung in einem größeren und vielleicht größten Ganzen erfordert das pure Verfließen von Zeit als Basis gesicherter und vergleichbarer Erfahrung.“27 In kosmisch gegebener Weltzeit liegen die Bedingungen der Möglichkeit, das Verfließen oder ———— 27 Blumenberg, Lebenszeit, 100.

42

Vergehen der Zeit als Herrschaft über unser menschliches Leben zu erfahren, und d. i. im übrigen eine Erfahrung, die sich nicht nur in den oben zitierten Worten des Heraklit, sondern auch schon in der mythologischen Vorstellung der Antike niedergeschlagen hat, dass Kronos seine Kinder (die vergehende Zeit also einen Augenblick nach dem andern) frisst. In zweiter Instanz liegen hier auch die Bedingungen, eben dieser Herrschaft vergehender Zeit zu widerstehen. Wie gesagt begründet die in kosmischen Zusammenhängen begründete Weltzeit nur das „pure Verfließen von Zeit als Basis gesicherter und vergleichbarer Erfahrung“. Von dieser astronomisch bestimmten Weltzeit28 ist aber sowohl die natürliche als auch die geschichtliche zu unterscheiden. Die natürliche gibt die Basis dafür ab, die Zeit unter dem Gesichtspunkt des Wachstums und des Reifens zu begreifen. Das ist der Fall in der Symbolik des Kirchenjahrs, die sich in den Farben der Paramente niedergeschlagen hat, hier in der Farbe Grün.29 Das ist der Fall aber auch in den geschichtsphilosophischen Metaphern, die sich in biblischen Texten und noch in Rosenzweigs „Stern“ finden. Hier wird das Verhältnis von Juden- und Christentum etwa im Bild des Baumes beschrieben, das Paulus in Römer 11, 17ff gebraucht, das sich auch bei Jehuda Halewi findet. Die geschichtliche Weltzeit geht aber auf das Handeln und die Tat des Menschen zurück, die durch den Begriff der Freiheit und der Verantwortung bestimmt sind, während naturgeschichtliche Zusammenhänge unter der Kategorie der Gesetzmäßigkeit oder der (nach allem bisher ersichtlichen Maß der Erfahrung) notwendigen Entwicklung zu beschreiben und auch zu antizipieren sind. Einerseits ist nun die Zeit als die Dimension zu begreifen, unter deren Bedingung sich überhaupt erst Möglichkeiten bilden. Andererseits setzt die Herrschaft der Zeit aber auch schon ihre Erfahrung voraus, und die erschließt sich dem Erlebnis „erfüllter Zeit“ – so Theunissen –, „die man von der leeren abzugrenzen pflegt“. Wir würden gar nicht von der Herrschaft der vergehenden Zeit sprechen, wenn wir nicht die Erfahrung ihrer Erfüllung schon gemacht hätten. Denn die Fülle der Zeit ist „vom Leben“ erborgt: „Ihre Erfülltheit ist in Wahrheit die Sinnerfülltheit des Lebens. Zu dieser gehört gerade, dass wir an Zeit nicht denken. Im selben Maße aber, wie der Sinn unseres Lebens sich entleert, wird Zeit auffällig. Man kann den Satz auch umkehren: Je auffälliger Zeit wird, desto sinnleerer wird unser Leben […] Das Leiden, das die gegenständlich werdende Zeit erzeugt, heißt Langeweile. Die Langeweile aber ist die Stimmung, die der unmittelbar erfahrenen, auf sich fixierten Zeit am angemessensten

———— 28 Ich verzichte hier auf die Darstellung von Erörterungen zur „Himmelsmechanik“, die sich leicht bei Blumenberg (Lebenszeit, 101ff) nachlesen lassen. 29 S. u. Abschnitt 6.4.1 [Die Paramente, oder: Die sinnliche Darstellung der Zeiten].

43

ist. Sie protokolliert haargenau den Ablauf, in dem Zeit sich selbst reproduziert: die ständige Wiederkehr des Gleichen. In der Langeweile tritt Zeit nackt vor uns hin. Demzufolge müssten wir uns immer langweilen, könnten wir die Zeit nicht vergessen. Hierin ist die Umkehrbarkeit jenes Satzes begründet. Die Sinnlosigkeit unseres Lebens, die den Gedanken an die Zeit wachruft, steigert sich durch den Gedanken an die Zeit, weil eine Zeit, die nur ist, was sie ist, selbst keinen Sinn hat und uns in ihrer Sinnlosigkeit begräbt.“30

Was hier für die Langeweile gezeigt wird, ließe sich auch für andere Phänomene subjektiver, psychischer Befindlichkeit zeigen wie etwa die Angst oder die Sorge: In diesen Befindlichkeiten herrscht die Zeit über den Menschen. Theunissen hat die Herrschaft der Zeit (wie gesagt) anhand von Krankheitsbildern aufgewiesen, die sich je auf bestimmte Strukturmerkmale der Zeiterfahrung zurückführen lassen.31 So zerfällt dem Depressiven Zeit in ihre messbaren Einheiten; er fällt aus der mit Zukunft und Vergangenheit gefüllten in die quantifizierbare Zeit zurück. Dem Schizophrenen gehen eben diese messbaren Einheiten verloren; er fällt aus der Wirklichkeit der gerichteten und begrenzten Zeit. Verloren geht die dimensionale Gestrecktheit eigener Zeit auch dem Zwangsneurotiker, der die ewige Wiederkehr des Gleichen an sich vollzieht und erfährt; er fällt nicht zurück in quantifizierbare Zeit, sondern er fällt in „gefrorene Ewigkeit“: klassische Metaphysik ist hier eine psychische Erfahrung.32 Schließlich ist die Verformung und Vermischung der Zeitdimensionen zu nennen, wie sie in der Schizophrenie vorkommen. Genauerhin geschieht das da, wo Gegenwart und Zukunft unter die Vergangenheit subsumiert werden. Indem die Vergangenheit auf die Zukunft übergreift, geht ihr offener Horizont verloren. Und indem die übergreifende Vergangenheit die Gegenwart überwältigt, schrumpft die Zukunft.33 Die Modi der Zeit sind nicht mehr, was sie in der Gestrecktheit ihrer Dimensionen im jeweiligen wirklichen Augenblick sind. Auf diese Deformationen menschlich gestalteter und potentiell als erfüllt erfahrbarer Zeit spielt nota bene ein Traumbild aus Bergmanns Film „Wilde Erdbeeren“ an: Hier ist eine Uhr ohne Zeiger zu sehen, und d. h. eine Uhr im Widerspruch zu ihrer Bestimmung, das Zeitmaß anzuzeigen.34 Diese Zeitlosigkeit, wie sie im übrigen für die von Freud erschlossene Erfahrung des Unbewussten charakteristisch ist, ist als Schrecken erregende Kehrseite des Stillstands der Zeit im Blick zu behalten, der im wohltuenden „Verweilen“ erfahren werden kann. ———— 30 31 32 33 34

44

Theunissen, Negative Theologie, 44f. Vgl. Theunissen, Negative Theologie, 49ff. Theunissen, Negative Theologie, 51. Theunissen, Negative Theologie, 52. Wilde Erdbeeren (Schweden 1957; Regie: I. Bergmann).

Die Herrschaft der Zeit über den Menschen bleibt allerdings auch dann bestehen, wenn es gelingt, eine Gegenherrschaft aufzurichten. Sich um ein solches Gelingen zu mühen, ist eine spezifisch menschliche Möglichkeit und gewissermaßen auch eine Notwendigkeit, kann der Mensch doch nur durch seinen Widerstand gegen die Herrschaft der Zeit seine geschichtliche Lebenszeit gewinnen. Solche Gegenherrschaft aber müsste eine permanente sein, wollte sie der Herrschaft der Zeit ständig widerstehen. Da es nun aber zur menschlichen Wirklichkeit gehört, hinter der Aufgabe eines permanenten Widerstandes zurückzubleiben, ist die Freiheit von der Herrschaft der Zeit begrenzt. „Da wir unsere Herrschaft der der Zeit über uns abringen müssen, ist sie immer labil und immer nur in gewissem Maße möglich.“35

2.3 Widerstand gegen die Herrschaft der Zeit Insgesamt ist der Widerstand gegen die Herrschaft der Zeit begründet im Erleben menschlicher Lebenszeit. Das Erleben der Zeit ist aber immer an ihre Gegenwart gebunden, sei sie nun erfüllt von äußeren oder inneren Eindrücken, vom ästhetischen Wohlgefallen an der Schönheit und Erhabenheit der Natur oder der Werke menschlicher Kultur. Erfüllt kann sie sein von Erinnerungen an Vergangenes oder von der Antizipation möglicher Zukunft. Unter den neueren Werken der Literatur bringt der schon zitierte Roman von Mercier diese Erfahrung zur Darstellung. Für die begrifflichen Klärungen am Leitfaden von Theunissen findet sich hier eine Fülle von dargebotener Anschauung. Der „Nachtzug nach Lissabon“ (2006) kann nicht nur, darf aber auch als ein Buch über das Erleben von Zeit in ihren unterschiedlichen Modi gelesen werden. Gerade in seinen Beschreibungen der Zeiterfahrung kommt Mercier auf die verwickelte und unerschöpfliche Komplexität des menschlichen Lebens zu sprechen, wie sie sich im inneren Erleben, im Selbstgefühl, ebenso zeigt wie in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Dass beides, Zeiterfahrung und je individuelles Erleben untrennbar zusammengehören, ist am Modus gegenwärtig gewordener Gegenwart ja schon deutlich geworden. Der Rahmen der von Mercier erzählten Geschichte ist leicht zusammengefasst: Ein Berner Gymnasiallehrer in seinen 50ern erfährt eine Unterbrechung dessen, was ihm in seiner bisherigen Lebensgeschichte selbstverständlich erschienen war. Unvermutet und plötzlich verlässt der Altphilologe den Unterricht und mit ihm den alltäglichen Trott der Jahrzehnte bisher in dieser Stellung gelebten Lebens, um eine Reise nach Portugal anzutreten. ———— 35 Theunissen, Negative Theologie, 57.

45

Angeregt wurde er dazu einzig durch die zufällige und flüchtige Begegnung mit einer portugiesisch sprechenden Frau auf der Kirchenfeldbrücke in Bern. Warum er sich in seinem bisherigen Leben derart hat unterbrechen lassen, teilt er dem Rektor seiner Schule brieflich mit einem Zitat aus den Selbstbetrachtungen des römischen Kaisers Marc Aurel mit: „Vergeh dich ruhig, vergeh dich an dir selbst und tu dir Gewalt an, meine Seele; doch später wirst du nicht mehr Zeit haben, dich zu achten und zu respektieren. Denn ein Leben nur, ein einziges, hat jeder. Es aber ist für dich fast abgelaufen, und du hast in ihm keine Rücksicht auf dich selbst genommen, sondern hast getan, als ginge es bei deinem Glück um die anderen Seelen […]. Diejenigen aber, die die Regungen der eigenen Seele nicht aufmerksam verfolgen, sind zwangsläufig unglücklich.“36

In diesem Zitat ist die Erfahrung der je eigenen Lebenszeit an ein inneres Erleben, das der Seele, gebunden. Mercier beschreibt eben auch dies, wie das Erleben qualifizierter Zeit durch das Selbstgefühl des Erlebenden bestimmt ist. Die Erfahrung qualifizierter, auch die Vergangenheit einbeziehender Zeit „kommt durch unsere Gefühle, namentlich die tiefen, als diejenigen, die darüber bestimmen, wer wir sind und wie es ist, wir zu sein. Denn diese Gefühle kennen keine Zeit, sie kennen sie nicht, und sie anerkennen sie nicht.“37 Das Selbstgefühl bestimmt die Erfahrung von Gegenwart, die von Vergangenheit und von Zukunft erfüllt sein kann. Auf andere Weise, ohne durch Gefühle und d. h. durch ein Erleben mitgetragen zu sein, kann auch die Historie nicht gegenwärtig werden, um für das Leben Bedeutung zu gewinnen (eben das ist auch das Anliegen Nietzsches gewesen). Merciers Roman handelt denn auch von einer Zeitreise in die Vergangenheit der Diktatur des portugiesischen Faschismus mit seiner Geheimpolizei und den politischen Gefängnissen.38 Für den entflohenen Lehrer wird diese Vergangenheit dadurch lebendig, dass er zu den früheren Mitgliedern des Widerstands Kontakt aufnimmt. Auch diese Erinnerungsarbeit ist ein Widerstand gegen die Herrschaft der Zeit, unter der Vergangenes vergehen kann, als wäre es nicht geschehen, Widerstand also gegen diese Komplizenschaft der Herrschaft der Zeit mit den früher einmal brutal Herrschenden. Auf dieser zu einer Zeitreise werdenden Fahrt nach Lissabon gewinnt der Altphilologe aus Bern aufs Neue die Lebendigkeit seines Lebens. So bestätigt sich die alte Einsicht über den Bildungsprozess zu unverwechselbarer Individualität, dass man zuweilen ein anderer werden muss, um wieder Ich sein zu können. „Ich möchte wissen, wie es war, er zu sein“, antwortet er auf die Frage eines früheren Widerstandskämpfers, war———— 36 Mercier, Nachtzug, 43. 37 Mercier, Nachtzug, 284. 38 Mercier, Nachtzug, 290.

46

um er denn, der Gymnasiallehrer aus Bern, sich für den Arzt Amadeu de Prado, dessen früheren Freund interessiere.39 Mit dieser Kurzbeschreibung eines heute viel gelesenen Romans ist ein Vorausblick auf Aspekte der Zeiterfahrung gegeben, die erst Schritt für Schritt näher auszuführen sind. Ich beginne damit, dass ich den Begriff qualifiziert erfahrener Zeit aus dem Gegenüber eines physikalischen Zeitbegriffs entwickle. Auf ihm beruht die Herrschaft der Zeit, in die wir fallen. Dieser Begriff ist stets vorausgesetzt, wenn die unterschiedlichen Modi nun beschrieben werden sollen, eben diese Herrschaft zu sistieren. 2.3.1 Qualifizierte und quantitativ erfahrene Zeit Jede menschliche Aktivität braucht Zeit. Die Zeit eines Jahres, eines Monats, eines Tages aber ist begrenzt. Deshalb ließe sich, so könnte man meinen, an der Zahl der Stunden, die für bestimmte Aktivitäten verwendet werden, deren Rangordnung ablesen. Die quantitative Disposition über Zeit gäbe somit einen Parameter für die qualitative Skala der Prioritäten. Die Zeiteinteilung könnte somit als Maßstab für die Berechnung der „Qualität des Lebens“40 genommen werden. Der Wahrheitsgehalt dieser Auffassung besteht in der unbestreitbaren Einsicht, dass wir alle in der „Zeit der Physik“ leben, jener Zeit also, „die wir an unseren Uhren ablesen“41, den Uhren als Abbildern der Bewegungen des Planetensystems. Das gilt auch in dem Sinn, dass wir der Herrschaft der Zeit unterliegen, und das gilt insofern, als wir (alle) in sozialen und ökonomischen Zusammenhängen leben, in denen Zeit Geld ist. Wie die Zeit, so wird auch das Geld „als ein abstraktes Quantum betrachtet, von dem sich jeder möglichst viel aneignen will.“42 Vice versa hat wie das Geld, so auch die am Maßstab der Quantität gemessene Zeit einen Tauschwert. Menschliche Zeit verfehlt sich aber selber, wenn sie sich nicht anders als nach dem quantitativen Zeitparameter bemisst. Jeder Mensch hat seine eigene Zeit, die sich zwischen seiner Geburt und seinem Tod erstreckt, und „innerhalb seiner Biographie ist jeder Tag und jede Stunde einmalig und unverwechselbar.“43 Lieferte er sich völlig an die physikalische Zeit aus, so beraubte er sich seiner eigenen Lebenszeit, oder er ließe sich ihrer berauben ———— 39 40 41 42 43

Mercier, Nachtzug, 253. G. Picht, Unter dem Diktat der physikalischen Zeit, 377. Picht, Diktat, 378. Ebd. Picht, Diktat, 379.

47

wie die von Benjamin geschilderten „armen Seelen, die sich viel umtun, aber keine Geschichte haben.“44 Lebensqualität bemisst sich also nicht nach einer Einteilung der Zeit in größere oder kleinere Quanten, sondern nach der Art und Weise, wie jeder einzelne Mensch seine begrenzte Lebenszeit gestaltet. Als seine Lebenszeit wird sie ihm aber erst erfahrbar dadurch, dass sie sich in einen bestimmten Zeitraum, eben den seines Lebens, hinein erstreckt. Zeit in ihrer Gestrecktheit ist in ihre Dimensionen oder Modi auseinander getreten. Was menschliche Lebenszeit im Unterschied zu dem Quantum ist, das Maß und Grenze eines Lebens ausmacht, erschließt sich erst der Erfahrung der Vergegenwärtigung von Vergangenheit und einem Sichausrichten auf (oder dem entschlossenen Entwerfen der) Zukunft: in einer spezifischen Gegenwart als einer Einheit von Zukunft und Gewesenheit, die mit Heidegger eine „Einheit des wiederholenden Vorlaufens“45 genannt werden kann. Erst die aus einer bestimmten Gegenwart in ihre Dimensionen erstreckte Zeit ist für Heidegger eigentlich menschliche Lebenszeit. In ihr macht der Mensch erst die Erfahrung seiner ursprünglichen Zeitlichkeit. Wenn aber menschliche Zeiterfahrung ihren Ursprung in dimensionaler Zeit hat, dann ist die These von der unbestreitbaren Priorität quantitativ bemessener Zeit, die sich als eine lineare darstellen lässt, eben unter dieser anderen Perspektive zu revidieren. Für die Erfahrung menschlicher Lebenszeit ist die dimensionale, und d. h. die vom Leben erfüllte Zeit das Primäre, auch wenn freilich menschliches Leben in quantitativer Zeit bleibt. Das Verhältnis beider Erfahrungen von Zeit oder beider Weisen, sie zu strukturieren, ist in einer gegenseitigen Bezogenheit und Bedingtheit zu denken. 2.3.2 Carpe diem, oder: Die Möglichkeiten des Daseins ergreifen Heideggers „Zeitigung“ setzt die dimensionale Erfahrung von Zeit voraus. Sie ist zu verstehen als „eine die Zeit erst konstituierende Entfaltung unseres Daseins von innen heraus.“ Doch auch hier bewährt sich der untrennbare Zusammenhang von Zeit und Zeiterfahrung. Auch Heideggers „Zeitigung“ ist „von dem uns entäußernden Bewusstsein begleitet, in die Zeit zu fallen.“46 D. h. unter der Herrschaft der Zeit stellt sie eine elementare und weit verbreitete Weise dar, in der je eigenen Lebenszeit eben dieser Herrschaft zu widerstehen. Man kann auch sagen: Sie stellt eine der „Formen gelingenden Lebens“ dar. Deren werden von Theunissen drei unterschie———— 44 Benjamin, GS I/2, 643 [Über einige Motive bei Baudelaire]. 45 Heidegger, Vorlesungen 1923–1944, 407. 46 Theunissen, Negative Theologie, 43.

48

den: „erstens eine Herrschaft über die Zeit, die wir der Herrschaft der Zeit über uns abringen; zweitens Freiheit von der Zeit; drittens Versöhnung mit ihr oder Mimesis an sie.“ (56) Die erste dieser drei Formen gelingenden Lebens ist alltäglich und in den durch die moderne Rationalisierung geprägten Kulturen normal. Wir werden mit unserem Leben fertig, indem wir es gestalten, und das Leben zu gestalten heißt zuerst einmal, die Zeit eines Tages, einer Woche, eines Monats, eines Jahres einteilen, um in den jeweils dafür vorgesehenen Abschnitten dieses oder jenes zu tun und zustande zu bringen. Im erwachsenen Leben ist die Zeit des Berufes und des Geldverdienstes mit den Erfordernissen der Arbeitsstelle einerseits, mit den individuellen Bedürfnissen des Arbeitnehmers andererseits zu koordinieren. Es kommt für Familienväter und -mütter darauf an, die Zeiten des Berufes mit denen der Familie in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen, in dem keine der beiden Seiten leiden muss. Es kommt für jeden und für jede darauf an, gemeinsame und einsame (für persönliche Belange zu reservierende) Zeiten zu unterscheiden. Und wer über Beruf und Familie hinaus auch am Leben der Vereine und Gesellschaften, an Wissenschaft, Kultur oder am Leben der Kirche gar teilnehmen möchte, wird schon im Zeitmanagement seines Alltags eine immer höhere Komplexität zu bewältigen haben. Um in den alltäglichen Anforderungen zu bestehen, Zeiten zu unterscheiden und die je eigene Lebenszeit zu gestalten, muss „die Herrschaft der Zeit über uns in unsere Herrschaft über sie“ umgekehrt werden. Das geschieht da, „wo uns unser Leben in einem ganz elementaren Sinne gelingt. Denn solches Gelingen beruht auf der Instrumentalisierung der Zeit; und die ist, wie viele alltägliche Redewendungen bezeugen, eine ständig von uns geforderte Leistung“ (ebd.). Die Zeit ist zu nutzen, zu gebrauchen oder – wie es im Epheserbrief des Neuen Testaments heißt – „auszukaufen“ (5, 16). Schul-, Ausbildungs- und Studienzeiten sind einzuhalten, wenn man den Anschluss nicht verlieren will oder Nachteile anderer Art in Kauf nehmen muss. „Wir beherrschen die Zeit oder verfügen über sie“, fährt Theunissen fort, „indem wir sie für dieses oder jenes ‚verwenden‘, für das eine ‚haben‘ und für das andere ‚nicht haben‘, sie uns ‚nehmen‘ oder ‚nicht nehmen‘. In alledem liegt Freiheit, […] etwas mit [… der Zeit] anzufangen. In alledem liegt Glück: das praktische Glück, […] welches darin besteht, dass wir in der Verwirklichung von etwas uns selbst verwirklichen und so, im Gegenzug gegen die Zerstückelung unseres Daseins in Jetztpunkte, Kontinuität gewinnen.“ (57)

Derart ergriffene und gestaltete Zeit kann allerdings unserer Herrschaft über sie auch wieder entgleiten. Es kann sein, dass wir sie bei allem Aufwand der Gestaltung als „unsere“ Zeit auch wieder verlieren. Und es kann scheinen, als ob eigentlich andere sie uns „stehlen“ würden, während unsere 49

„eigentlichen“ Interessen auf der Strecke blieben. So kann die Kontinuität unserer Lebenszeit in eine Ansammlung von Fragmenten zerfallen, die wir auch im Nachhinein vielleicht nicht mehr ohne weiteres wie ein Puzzle zu einem Ganzen zusammensetzen können. So kann der Lebenssinn verloren gehen, der je unsere Lebenszeit erst zu einer erfüllten werden lässt. Heidegger hat diese Erfahrung seiner fundamentalontologischen Besinnung auf die Möglichkeiten des menschlichen Daseins vorausgesetzt. Die Erfahrung, dass die je eigene Lebenszeit dem gestaltenden und Kontinuität verbürgenden Zugriff des Subjekts entgleiten kann, hat er unter dem Titel des „man“ zur Darstellung gebracht. Gestaltet wird die Zeit dann so, wie alle sonst auch ihre Zeit gestalten. Entworfen werden die Ziele eben so, wie die meisten in der Wahl ihrer Nah- und Fernziele optieren, die sie im Leben erreichen wollen. Wer sich verhält, wie alle sich verhalten, eben nach der Weise des „man“, der verhält sich „uneigentlich“.47 Um ein Beispiel zu geben, ließe sich an die hierzulande ganz normale Geschäftigkeit des alltäglichen Lebens denken, in dem Verrichtung auf Verrichtung folgt, bis vom Tage keine Zeit mehr übrig bleibt. In best gemeinter Absicht sorgen heute Eltern dafür, dass schon Kinder einen prall gefüllten Terminkalender haben, der sich in dieser formalen Hinsicht jedenfalls kaum von dem eines Angestellten im mittleren Management unterscheidet. Ähnlich geht es dann in der Schulzeit weiter, und das zumal nach der Reform der Bildungsgänge höherer Schulen, die nach dem Prinzip verfahren: je mehr Stoff in möglichst kurzer Zeit, desto besser. Wer von einer Beschäftigung zur nächsten eilt, und zwischen den Terminen nicht mehr zur Ruhe kommt, wird sich über die Herrschaft der Zeit keine Gedanken machen müssen – dazu bleibt einfach keine Zeit. Es fehlt an Unterbrechungen, die einzig zu einer Erfahrung führen könnten, als stehe die Zeit einen Moment lang still. Und in solcher Erfahrung kann dann auch eine Lebensgestalt als ganze problematisch werden, die der Erfahrung von Zeit keine Zeit mehr lässt. Einer Existenzweise in der Uneigentlichkeit des „man“ setzt Heidegger nun aber die Eigentlichkeit des je eigenen Lebensentwurfes entgegen. Das „Dasein“ des je einzelnen Menschen, wie es sich eingebettet erfährt in Weisen des „Mitseins“ mit anderen, also in der Familie, unter Kollegen, Kommilitonen und in andern Formen der Sozialität, steht unter der Anforderung, je seine Möglichkeiten zu entdecken. Diese sind zu Lebensentwürfen auszuarbeiten und an ihnen ist festzuhalten auch durch die Versuchungen hindurch, „man“ könne es doch machen wie die vielen anderen auch, die sich treiben lassen vom Wechsel der Moden als kurzfristigen Leitorientierungen der alltäglichen Lebensgestaltung (bis hin zu Phänomenen des mit ———— 47 Heidegger, Sein und Zeit, 126ff [§ 27].

50

Hegel so zu nennenden „Zeitgeistes“, wozu denn auch die Moden wissenschaftlicher Leitorientierungen einer Zeit gehören). Das zu seiner Eigentlichkeit gekommene Dasein hat die ihm eigenen Möglichkeiten erkannt und diese Erkenntnis in Lebenspraxis überführt dadurch, dass entsprechende Entwürfe in die Tat umgesetzt werden. Es ist nicht schwer zu sehen, inwiefern auch dieses Programm, die Möglichkeiten des je eigenen Daseins zu gestalten, eine ausgearbeitete Form des alten lebenspraktischen Anspruchs carpe diem von Horaz darstellt. 2.3.3 „Dem Glücklichen schlägt keine Stunde“, oder: Stillstellung der Zeit Die nach Theunissen zweite Form gelingenden Lebens ist die Freiheit von der Zeit, die wir im „Glück des Verweilens“ erfahren können. „Im Verweilen gehen wir mit der Zeit nicht mit. [… Anders als in den psychopathologischen Phänomenen der Depression] haben wir da nicht das Gefühl zurückzubleiben. Denn mit der Zeit gehen wir nicht mit, weil wir in etwas aufgehen. Das Aufgehen in etwas, [wie es] der theoretischen und der ästhetischen Anschauung gleich wesentlich [ist], setzt voraus, dass wir uns gewissermaßen von der Zeit losreißen. Sich-Losreißen bedeutet aber Freiheit schlechthin, die nur als Akt der Befreiung ist, was sie ist.“48 Das Glück des Verweilens ist an besondere Augenblicke gebunden, sei es der anlässlich eines Besuchs der Ende des 12. Jahrhunderts gegründeten Kapelle „Santa Caterina del Sasso“ am südlichen Lago Maggiore an einem wunderschönen Spätnachmittag mit Blick auf den See und die in der Ferne sich andeutenden Schneegipfel der Walliser Alpen, sei es anlässlich einer Vesperpause auf einem stillen Berggipfel mit Blick ins Tal, in Gesellschaft einzig der Mitwandernden und der kreisenden Vögel, die es auf zu erwartende Brotrinden abgesehen haben. Die Beispiele für das Glück solchen Verweilens lassen sich – über den Bereich des Naturschönen hinaus – vermehren, wenn man etwa an die Bilder einer Ausstellung denkt, von denen man – im Fall des Pariser Louvre – einzelne auswählen (oder sich umgekehrt von ihnen ansprechen lassen) muss, um sich nicht in der Fülle des ZuSehenden am Ende eingestehen zu müssen, gar nichts gesehen zu haben. Hier wird es so sein, dass man in einer der Abteilungen, ja vor einem der Bilder verweilt, um in der Betrachtung dieses einen Gemäldes (und ein paar weniger anderer) die Erfahrung einer Fülle der Gegenwart machen zu können, die das Glück des Verweilens verspricht. Die Zeit kann einen Moment lang stillstehen, wenn nach dem Geruch des bouquet eines guten Weines dessen Geschmack die gesamte Mundhöhle ———— 48 Theunissen, Negative Theologie, 57.

51

erfüllt, und das Genuss-Erlebnis von Schluck zu Schluck nicht etwa fad, sondern intensiver wird – so unerschöpflich scheint die Fülle der in diesem Tropfen versammelten Geschmackskomponenten. Erfüllte Augenblicke des Eingedenkens können sich einstellen in den Mußestunden am Abend des Alltags, wenn die Zeile oder Seite eines gewählten Buches zu nachdenklichen Assoziationen anregt, oder wenn in der Meditation von Erinnerungsbildern die in ihnen repräsentierte Vergangenheit noch einmal im Jetzt aufblitzt, als wäre sie gegenwärtig. Die Zeit kann still stehen schließlich, wenn sie von den Klängen einer Musik erfüllt wird, die ihre Hörerschaft in einen Bann schlägt, oder wenn ein Gemälde, eine Skulptur, ein Gedicht, ein Roman zu „sprechen“ beginnt: „Jedes Kunstwerk ist ein Augenblick.“49 Das Verweilen ist ein Phänomen alltäglicher Erfahrung, wenn wir es denn in der Geschäftigkeit des Alltags nicht verlernt haben, solche Erfahrungen überhaupt noch zu machen. Zu beschreiben ist es in der eben gebrauchten Metaphorik der Fülle, der Stille und der Ruhe, und man wird nicht fehlgehen, Ruhe und Stille (bzw. die Stillstellung des Unruhigen) als eine Bedingung für die Erfahrung von Fülle zu verstehen. Um mit Benjamin zu sprechen, kann sich unter diesen Bedingungen eine Erfahrung der Aura einstellen, und es sei hier dahingestellt, ob Benjamin Recht hat mit seiner Behauptung, diese Bedingungen überhaupt noch anzutreffen sei in der Moderne schwieriger geworden. Brecht etwa hat eben an dieser Behauptung Anstoß genommen. Was aber ist die Aura? „An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen“, schreibt Benjamin in seinem vielleicht bekanntesten Aufsatz über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“.50 Auch in der Annäherung solcher Beschreibungen bleibt das Glück des Verweilens ein „merkwürdiges Phänomen“. Denn „mit der Zeit nicht mitzugehen, ist ein ohnmächtiger Versuch, sich von ihr loszureißen […]. Das Sich-Losreißen von der Zeit fällt selbst in die Zeit. Und doch ist das Verweilen nicht nur ohnmächtig [der Macht der Zeit gegenüber]“, kann dieses Glück doch auch gelingen. Solches Gelingen ist aber nicht mehr aus der Instrumentalisierung der Zeit allein zu begreifen. Es bedarf zwar der Bereitschaft, sich auf eine Gelegenheit des Verweilens einzulassen und auf diese Weise die Geschäftigkeit des alltäglichen Betriebes zu unterbrechen. Man kann das als einen „mächtig-ohnmächtigen Versuch“ ansehen, „die Zeit gegen die Zeit auszuspielen.“ Entscheidend für ein Verständnis des Verwei———— 49 Adorno, Ästhetische Theorie, 17. 50 Benjamin, GS I/2, 440.

52

lens ist aber die neue Qualität, die die Gegenwart auf diese Weise gewinnt. Die hier erfahrbare „Gegenwärtigkeit [… ist] mehr als ein punktuelles Jetzt und sogar mehr als das, was wir gewöhnlich unter Gegenwart verstehen. In ihr wird Gegenwart weit. Dass Verweilen nicht nur ohnmächtig ist, bedeutet: Es gelingt dem Subjekt tatsächlich, im Sich-Losreißen von der Zeit etwas der Zeit zu entreißen. Mit diesem Etwas schließt es sich zusammen gegen den Strom der Zeit. Seine Gegenwart wird weit, weil sie sich über die Gegenwart des Anderen vermittelt.“51

Die Fülle gehört jedenfalls nicht der Zeit, in die wir fallen und die über uns herrscht, nicht der Zeit, „die nur Zeit ist; sie gehört dem Leben und Erleben“ (43). Die vom Leben „erborgte“ Fülle der Zeit ist aber „in Wahrheit die Sinnerfülltheit des Lebens“ (45). Zur Verständigung über den Sinn des Lebens bedarf es aber der Medien und Symbole (s. u.). Sinnerfüllt kann das Leben auf viele Weisen sein – auf so viele Weisen wie es Individualitäten gibt. Den Sinn des je eigenen Lebens wird jede und jeder aber immer wieder suchen müssen. Und nicht selten wird die Erfahrung einer Krise oder eines Bruchs bisheriger Selbstverständlichkeiten diesen Sinn zu bewähren haben. Im oben vorgestellten Roman „Nachtzug nach Lissabon“ wird eine solche Krise anhand einer ethischen Entscheidung dargestellt. Durch einen Zufall wird der Arzt Amadeu de Prado in eine Situation verwickelt, die die Sinnorientierung seines Lebens ins Wanken bringt. Schwer verletzt findet sich ein Mann des faschistischen Geheimdienstes in der Nähe der Arztpraxis. Als er zu Prado getragen wird, rettet der ihm, dem Ethos seines Berufes folgend, das Leben. Im Angesicht der Wut und des Hasses, den die aufgebrachte Menge vor seinem Haus ihm nun entgegenbringt, muss er sich allerdings fragen, ob nicht eine andere Handlungsweise die bessere gewesen wäre. Hätte er nicht um der vielen, denen dieser „Schlächter von Lissabon“ das Leben genommen hatte, und um der Widerstandskämpfer willen, die nun weiter um ihr Leben fürchten müssen, diese Hilfeleistung unterlassen sollen? Diese Frage gerät ihm zum Ausdruck einer Verzweiflung, die dadurch ausgelöst worden war, dass eine Frau, die unter dem Geretteten zu leiden hatte (und zudem seine Patientin gewesen war), ihm ins Gesicht gespuckt hatte. In Erinnerung an diesen Arzt und seinen Lebenskonflikt sucht auch der Berner Gymnasiallehrer den Sinn seines Lebens neu zu finden. Eine Unterbrechung seines bisherigen Alltags über mehrere Wochen und ein über diese Zeit sich erstreckendes Innehalten sind die Bedingungen dafür.

Dem Aspekt eines Innehaltens auf der Seite des Subjekts und der Unterbrechung des „übrigen Lebens“ auf der objektiven Seite kommt im GesamtZusammenhang dieser Untersuchung eine wichtige Bedeutung zu. Bekanntlich hatte Schleiermacher den Gottesdienst mit dieser Formulierung auf einen Begriff gebracht, der seine Funktion als Ritual zu fassen erlaubt.52 Im Gegen———— 51 Theunissen, Negative Theologie, 58. 52 Schleiermacher, Die praktische Theologie, 66.

53

über zum durch Anforderungen strukturierten Alltag stellt er eine antistrukturelle Gelegenheit dar, die als solche im Kalender ausgespart ist – als eine von Arbeit und Pflicht frei gehaltene Stelle. Der Gottesdienst ist somit als eine liturgisch vorgesehene Gelegenheit zum Verweilen zu begreifen. In einer am Leitfaden der Philosophie der Zeitlichkeit gewonnenen Perspektive gewinnt der christliche Gottesdienst so, auch und gerade in seinem evangelischen Verständnis, seine allgemeine Bedeutung für die menschliche Existenz. Er muss diese Bedeutung aber teilen mit anderen Weisen des Erlebens und der Erfahrung, die zur Beschreibung des Phänomens des Verweilens herangezogen wurden. Insbesondere sind Romane, Theater und Konzerte, Bildergalerien in Ausstellungen und Filme als Kunstformen zu nennen, die derartige Erfahrungen zu machen einladen. Dass in der Pluralität der Angebote das Problem der Konkurrenz verborgen liegt, ist auch in der Mitte des 19. Jahrhunderts schon wahrgenommen worden.53 Damals schon fanden sich viele Zeitgenossen den „Kulten mit ihren Kalendern“ entfremdet, und das zumal in den großen Städten. Hier, und zwar vor allem in London und Paris, beobachteten sensible Zeitgenossen früh schon das Phänomen der Menschen-Masse, die sich nicht mehr in den Kirchen, sondern auf den Straßen oder in den „Passagen“, diesen Urformen des Kaufhauses, bewegten. Einer der großen Interpreten dieser Beobachtungen ist Benjamin gewesen.54 2.3.4 Annäherungen an den Begriff der Ewigkeit Im Augenblick, der das Glück des Verweilens ermöglicht, deutet sich eine Erfahrung an, die mit dem alten, heute unmittelbar überhaupt nicht mehr verständlichen Wort „Ewigkeit“ benannt werden kann. Mit Bezug auf Lévinas und in der Nähe der Analysen von Rosenzweig nähert sich Theunissen einem neu zu gewinnenden Verständnis dieser alles andere als selbstverständlichen Erfahrung an. Sie rührt an die Grenze der Metaphysik. Ausgehend von der Beschreibung qualifizierter Zeit ist schon im Ansatz ausgeschlossen, dass der Gedanke der Ewigkeit entweder als eine endlos fortlaufende Zeit nach dem Modell einer Linie oder besser: eines Zeitpfeils zu denken wäre, oder als eine Zeit, die ewig wiederkehren würde, und nach dem Modell eines Kreises zu denken wäre. Auf beide Modelle der Linie bzw. des Pfeils einerseits und des Kreises andererseits ist zwar in der Darstellung unterschiedlicher Weisen der Zeiterfahrung nicht zu verzichten, ———— 53 Zur Vertiefung dieses Aspekts ist die Lektüre von kleineren Beiträgen Chr. v. Palmers empfehlenswert (Ders., Geistliches und Weltliches für gebildete christliche Leser, Tübingen 1873). 54 Vgl. Dober, Die Moderne wahrnehmen, 353ff, bes. 390–395.

54

muss man doch im Fall des Fortschritts auf die Linie und im Fall zyklischer Strukturen wie das Jahr, auch das Kirchenjahr, auf den Kreis zurückgehen. In beiden Fällen ist aber ein Umschlag der in qualifizierter Gegenwart sich andeutenden Freiheit von der Herrschaft der Zeit in Knechtschaft und Zwang möglich: Eine Zeit, die endlos in eine Richtung fortliefe, würde das Diktum Benjamins hinsichtlich der historischen Erfahrung des Totalitarismus und des Krieges bestätigen: „Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe“. Die Endlosigkeit der Erfahrung von Zeit wird auch von psychisch Kranken bezeugt. „Wie in der Schizophrenie, so wird auch in der Melancholie die Wiederkehr des Gleichen erst dadurch zum Verhängnis, dass sie dem Subjekt endlos ist. Das Vergehen der Zeit ist ein endloses Weitergehen, auch über das Ende des Individuums hinaus.“ Eine manisch-depressive Frau hat ihre Selbstbeobachtungen folgendermaßen beschrieben: „Jetzt rede ich, das dauert so und so lange, dann tue ich das, dann jenes, und das alles dauert 60 Jahre, dann sterbe ich, dann kommen andere, die leben auch ungefähr so lange – essen und schlafen wie ich, und dann kommen wieder andere, uns so geht es weiter, ohne Sinn, Tausende von Jahren.“55

In einer solchen Ewigkeit als Endlosigkeit der Wiederkehr in eine Zukunft hinein, in der sich nichts ändert, gefriert die Zeit. Ihre Gestrecktheit in die Dimensionen Zukunft und Vergangenheit aus der Erfahrung einer erfüllten Gegenwart erstarrt. Es bleibt alles beim Alten, nichts Neues gibt es unter der Sonne. Ja die Unterscheidung der Zeiten selbst ist verloren gegangen. Die Zeit steht still nicht im Sinne einer wohltuenden Unterbrechung eines allzu geschäftigen Lebens, sondern im Sinne einer Entleerung der Zeit von dem Leben, das sie füllen könnte. Nicht in der Weise der Endlosigkeit, sei es als Wiederkehr des Gleichen, sei es als steter Fortgang, ist Ewigkeit zu denken, sondern im Ausgang von der Erfahrung qualifizierter Gegenwart. Die Gegenwart „scheint in der Tiefe anderes als Zeit zu sein. Das Andere der Zeit nannte die Tradition ‚Ewigkeit‘.“56 Der Gedanke ist nicht neu. Er findet sich schon bei Boethius ausgesprochen, und dann bei Augustin, in dessen Confessiones es heißt: „Die Gegenwart hinwieder, wenn sie stets fort Gegenwart wäre und nicht in Vergangenheit überginge, wäre nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit.“57 Als ein solch alter Gedanke ist er den meisten Zeitgenossen allerdings nicht mehr vertraut. Er scheint eingebunden in Zusammenhänge einer Metaphysik, deren Voraussetzungen das zeitgenössische Bewusstsein kaum mehr zu überzeugen vermögen, und das umso weniger, als sich das gegenwärtige Zeitalter als ein nach-metaphysisches ———— 55 Zit. nach Theunissen, Negative Theologie, 54. 56 Theunissen, Negative Theologie, 60. 57 Augustin, Confessiones XIII, 14, und Boethius, De trinitate, 4, zit. nach Theunissen, 83.

55

versteht. Auch Theunissen geht von diesem Befund aus. „Heute dürfte kaum noch möglich sein, philosophierend mir nichts dir nichts von Ewigkeit zu sprechen, so als wäre uns die Bedeutung des Wortes auch nur im mindesten vertraut.“58 Die Verknüpfung des Ausdrucks „Ewigkeit“ mit der Erfahrung einer Gegenwart in Freiheit von der Herrschaft der Zeit findet sich allerdings auch in Goethes Diktum „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön!“ (Faust I) Das beruht auf einer diesseitigen Erfahrung, die sich ihrer metaphysischen Gründung in einem Jenseits entschlagen hat. Auch Nietzsche, der Kritiker des Christentums als „Platonismus fürs Volk“ und Verwinder der abendländischen Metaphysik, kennt noch die „tiefe, tiefe Ewigkeit“, die das Erlebnis der Lust im Zeitmodus der Gegenwart will. Schleiermacher schließlich, um einen dritten Zeugen hier aufzurufen, hat seinerseits die qualifizierte Erfahrung des Augenblicks auf dem Hintergrund seines Verständnisses von Religion mit der Ewigkeit in Verbindung gebracht: „Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion“, heißt es am Ende der zweiten Rede über die Religion. Jeweils müsste der gedankliche Zusammenhang rekonstruiert werden, in dem bei Goethe, Schleiermacher und Nietzsche von Ewigkeit die Rede ist. Nur so könnte zur Ansicht gebracht werden, wie der alte, in der Metaphysik der Tradition verwurzelte Gedanke jeweils für ein zeitgenössisches Denken zu einer aktuellen Plausibilität gelangen konnte. Das ist hier nicht zu leisten. Es reicht für eine Annäherung an den Begriff der Ewigkeit erst einmal aus, der Spur zu folgen, die Theunissen gelegt hat. Später ist dann zu zeigen, wie Rosenzweig den qualifizierten Augenblick so gefasst hat, dass die Zukunft in ihn vorfallen kann – die Zukunft, der auch Hermann Cohen eine Priorität im Begriff der Zeit eingeräumt hat.59 Theunissens Methode ist „negativistisch“ in dem Sinn, dass sie dem Negativen das Positive entnimmt. Im hier thematisierten Zusammenhang ist die Zeit das Negative aufgrund ihrer Herrschaft, die sie über den Menschen ausübt. So vorzugehen ist keine „subjektivistische Willkür“60, denn es gibt keine Alternative zur Erfahrung der Herrschaft der Zeit. Sie ist das Negative, weil sie durch ihr Vergehen auch dann dem Leben widersteht, wenn es gelingt. Bei allem Gelingen des Lebens in der Zeit ist sie doch der Grund für das Ende des Lebens, für seinen Tod. In der Erfahrung des Todes gründet also die – alternativlose – Voraussetzung von der Negativität der Zeit in der menschlichen Erfahrung. Diesem Negativen nun methodisch das Positi———— 58 Theunissen, Negative Theologie, 60. 59 Schindler, Zeit, 336; vgl. zu Rosenzweigs Begriff der „Vorwegnahme der zeitlichen Ewigkeit des Gottesreiches“ Schindler, Zeit, 332ff. 60 Theunissen, Negative Theologie, 55.

56

ve zu entnehmen, heißt zum einen – wie gezeigt –, die Möglichkeiten eines Widerstands gegen die Herrschaft der Zeit bzw. einer Erfahrung der Freiheit von ihr zu realisieren. Das kann durch Beschreibung eben dieser Erfahrungen geschehen. Der Negativität der Zeit das Positive zu entnehmen heißt für Theunissen nun aber zum anderen auch, in der qualifizierten Erfahrung von Gegenwart ein Anderes der Zeit anzunehmen. Gewiss ist dies eine problematische Annahme insofern, als sie auch im Sinne der Annahme einer anderen Welt verstanden werden könnte. Das aber würde in eine Metaphysik zweier Welten zurückführen, die in der Tradition des Platonismus ausgebildet worden ist, und seit längerem schon nicht mehr zu überzeugen vermag. Nietzsches Kritik des „Hinterweltlertums“ im „Zarathustra“ hat vollends mit der so interpretierten Annahme eines Anderen der Zeit aufgeräumt. Wie aber soll dann von diesem „Anderen der Zeit“ die Rede sein können, auf das die qualifizierte Erfahrung der Gegenwart – jedenfalls in der Weise einer möglichen Annahme – verweist? Theunissen hat den Weg der Beschreibung gewählt, und d. h. er bleibt auf einem Weg, der im Ausgang von der Erfahrung bis zu deren Grenze fortschreitet. Zu fragen ist, wie dies sich andeutende Andere „das Andere der Zeit ist, wenn es denn überhaupt ist.“61 Der Name dieses philosophischen Projekts, das sich nicht scheut, im Nachhinein metaphysisch zu werden (indem die Erfahrung der Ewigkeit für möglich gehalten wird), deutet es schon an: Das gesuchte Positive wird nur durch Zustimmung zu einer Setzung integriert werden können, die in der Tradition der Theologie repräsentiert ist. Die negative Philosophie der Beschreibung der Zeiterfahrung lässt Platz für ein Korrelat positiver Philosophie, das aus der negativen nicht abgeleitet werden kann (wie es die Bezeichnung eines „Korrelats“ ja schon andeutet). Aber es lassen sich gute Gründe und Motivationen dafür anführen, sich eben auf die Annahme dieses Korrelats einzulassen. Im Fall der „negativen Theologie der Zeit“ ist dies dann nicht mehr nur die Annahme eines Anderen der Zeit, sondern die einer anderen Zeit, für die die Tradition den Namen der Ewigkeit geprägt hatte. Diese von Ewigkeit handelnde positive Philosophie als Korrelat der negativen, die die Erfahrung von Zeit beschreibt, lässt sich aber als Philosophie der Offenbarung begreifen. Ihre Nähe zur Theologie ist offensichtlich. Es ist für die Frage, wie ein bei der Beschreibung von Erfahrung ansetzendes Denken im Nachhinein metaphysisch werden kann, von weittragender Bedeutung, wie dieses Andere der Zeit als Ewigkeit gedacht wird. Im Zusammenhang der Hegelschen Philosophie des Geistes wird die Ewigkeit nicht zeitlos gedacht, sondern als eine „mit der Ewigkeit der Zeit gleichgesetzte und daher allzeitliche Gegenwart“. In den Bahnen

———— 61 Theunissen, Negative Theologie, 60.

57

traditioneller Metaphysik wurden hier (diese gewissermaßen vollendend) Ewigkeit und Gegenwart so identifiziert, dass der Anspruch erhoben werden konnte, in einem „für alle Zeit gültigen System begrifflicher Bestimmungen die ganze Wirklichkeit und die subjektive Zeiterfahrung des Menschen“ zu umgreifen. So lieferte Hegel „das Denken in Form der begrifflichen Selbstexplikation des Absoluten der Macht einer Gegenwart aus, die Ewigkeit als das abstrakte Andere der Zeit zur Allzeitlichkeit erklärte … Im begrifflichen Denken lässt er die Zeit in der Allzeitlichkeit der Gegenwart zur Ewigkeit der Zeit gerinnen.“62 Diesem Verständnis hat Rosenzweig mit seiner Kritik der (in Hegels Geistphilosophie kulminierenden) „Philosophie des All“ und mit seiner Darstellung einer Ewigkeit widersprochen, die „zugleich ganz Ewigkeit und ganz Zeit wird.“ Hegels Begriff setzt er erst einmal „das Nichts der Zeit“ entgegen, wie es in der „Vorwelt“ eines „immerwährenden“ dunklen Grundes in der dreifachen Gestalt der Elemente der Erfahrung Gott, Welt und Mensch vorausgesetzt werden kann. Dieser dunkle Grund ist dem Mythos, den archaischen Träumen der Menschheit und also auch dem (zeitlos) Unbewussten Freuds verwandt. Für Rosenzweigs Begriff von Ewigkeit ist es wesentlich, dass „erst eine Zeitlosigkeit, die […] das Nichts der Zeit in der immerwährenden Vorwelt ist, […] die Voraussetzung dafür [schafft], dass Ewigkeit als Zeit, die das Andere ihrer selbst ist, in die Zeit so eingehen kann, dass diese zur Zeit der Ewigkeit in Form des ewigen Lebens wird.“63 Die komplexe Struktur des Gedankens ist im Rahmen eben eines dreidimensionalen Erfahrungsbegriffs zu rekonstruieren. So ist die Zeitigung der Zeit nicht nur im menschlichen Vorstellen, Entwerfen und Handeln zu verstehen, nicht nur in dialogischen Begegnungen zwischen den Menschen oder in anderen Verhältnissen der Kommunikation, wie sie durch Medien vermittelt sind, sondern auch im Gebet. Ja, „die Ewigkeit, die selbst Zeit ist und wird, bildet die Keimzelle des kultischen Gebets […] Die Kraft des Gebets erwächst nach Rosenzweig aus dem individuellen und kollektiven Bezug zur Ewigkeit Gottes.“ (349) Diese von R. Schindler aufgezeigte Differenz im Gedanken der Ewigkeit bei Hegel und Rosenzweig muss nun nicht mit der Differenz übereinkommen, wie Ewigkeit aus jüdischen und auch christlichen Quellen zu denken sei. Zwar konnte sich Hegel im Zuge der Ausarbeitung seiner Geistphilosophie auf die christliche Theologie berufen, wie Theunissen in seiner grundlegenden Untersuchung gezeigt hat.64 Rosenzweigs Gedanke, dass „die wahre zeitlose Ewigkeit […] nicht im abstrakten Anderen der Zeit“ besteht, sondern „als Anderes ihrer selbst zugleich ganz Zeit ist“, ist zwar auf das „Leben Gottes im Innersten des Davidsterns“ bezogen. „Die Wahrheit der Ewigkeit Gottes“ aber so zu denken, dass sie „keinen weltlichen Bedingungen unterworfen ist“65, ist ein Anspruch, dem sich auch christliche Theologie ohne weiteres unterwerfen kann, ja muss. Immerhin ist es ein zentraler Gehalt des von ihr zu verantwortenden Bekenntnisses, dass Gott Mensch (das Wort Fleisch), und nicht der Mensch vergöttlicht wurde. Dass das Ewige sich auf das Zeitliche eingelassen hat, mehr noch:

———— 62 63 64 65

58

Schindler, Zeit, 382. Schindler, Zeit, 54 vgl. 383. Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist. Schindler, Zeit, 386.

in die Zeit eingegangen ist, lässt sich eben nicht nur mit Hegel, sondern auch mit Rosenzweig denken.

2.4 Die Entfaltung einer Liturgik, die die Zeit ernst nimmt: Erster Anschluss an Rosenzweigs „Der Stern der Erlösung“ Der längere Anmarschweg war notwendig, um zeigen zu können: Die Liturgien mit all ihren Festen, Ritualen und Symbolen lassen sich in ihren überlieferten Gestalten als Antworten auf Fragen begreifen, die sich aus einer Analyse der menschlichen Existenz ergeben. Um sich nicht in der Fülle des humanwissenschaftlich deutbaren Materials zu verlieren, ist eine Grundlegung erforderlich. Sie arbeitet die Fragen aus, die immer vorausgesetzt werden müssen, um die in den genannten Gegenständen verborgenen Antworten zu verstehen. Wenn nun mit Rosenzweig die Grundlinien einer Liturgik zu entfalten sind, die die Zeit ernst nimmt, dann wird zu sehen sein: anders sind die hier zu findenden Antworten als die, die sich von einer Goetheschen Weltanschauung oder einer Philosophie des tragischen Humanismus aus geben lassen, als welche die Nietzsches verstanden werden kann. Die Antworten der Liturgie beziehen sich aber auf die Fragen, auf die auch Goethe und Nietzsche eine Antwort gesucht haben.66 Im Folgenden wird ein gedanklicher Rahmen auszumessen sein, in dem das diesem Kapitel als Motto vorangestellte Psalm-Zitat seinen Sinn gewinnen kann: „Meine Zeit steht in deinen Händen“. In diesem Wort ist das „Fließen“ der Zeit in ein „Stehen“ verwandelt. Für die Erfahrung von Zeit ist damit eine weit reichende Einsicht gewonnen. Denn das Vertrauen darauf, dass die je eigene Lebenszeit aufgehoben ist in der Zeit eines andern, in Gottes Zeit, ist hier in das Bild der Bewahrung, des Schutzes und des festen Standes gefasst, wie es die Vorstellung von den „Händen Gottes“ vermittelt. Und diesem Gottvertrauen entspricht ein eigener Zeitmodus, eben das „Stehen“ als eine Stillstellung des Fließens der Zeit.67 Die Einsicht, dass wir von Gott nur in Vergleichen ———— 66 Der Gedanke, dass im Werden und Vergehen die fundamentale Gesetzmäßigkeit des Lebens zu finden ist, hat auch Goethe zur Grundlage einer Lebensanschauung gemacht, die in einem berühmten Satz des West-Östlichen Divan zum Ausdruck kommt: „Und so lange du das nicht hast/dieses stirb und werde/bist du nur ein trüber Gast/auf der dunklen Erde.“ Nietzsche hat daran angeschlossen, indem er sein Ja zur Lebendigkeit des Lebens im amor fati ausgesprochen hat (vgl. Dober, Die Moderne wahrnehmen, 235–257). Rosenzweig ist um 1900 in einer geistigen Atmosphäre aufgewachsen, in der die Werke beider zum harten Kern des geltenden Bildungskanons gehörten. 67 Vgl. U. Roth, Die Beerdigungsansprache, 304. Hier findet sich ein Beispiel dafür, wie sich eine Interpretation dieses Psalmwortes im Kasus der kirchlichen Bestattung auswirken kann. Die Interpretation des Psalmzitats führt weiterhin auf die Unterscheidung zwischen einem Lebenslauf,

59

reden können, in Anthropomorphismen, in Metaphern, ist an diesem Psalmwort ebenso zu verifizieren wie an Rosenzweigs Philosophie, die von Gott als einem dritten Element der Erfahrung ausgeht, und das Handeln Gottes als Schöpfung, Offenbarung und Erlösung begreift. Man hat Rosenzweigs lange vergessenes Werk zuerst als einen Beitrag zur Existenzphilosophie interpretiert, stellt es doch eine komplex angelegte Antwort auf die Fragen menschlicher Existenz dar.68 Später hat man es dann als spekulative Dialogphilosophie verstanden, die das große Thema Martin Bubers u. a. in einem philosophischen Rahmen abhandelt, der nach Vorlagen der Werke Hegels und Schellings ausgearbeitet ist, die Struktur des Hegelschen Denkens aber einer immanenten Umkehrung unterwirft.69 Über welche leitende Frage auch immer man einen Zugang zu diesem Werk finden möchte: in jedem Fall ist es als ein „System der Philosophie“ zu interpretieren, als welches Rosenzweig sein Hauptwerk selbst verstanden haben wollte70. Und d. h. für die hier ausgearbeitete Fragestellung: Der von den symbolischen Ordnungen des Juden- und des Christentums handelnde dritte Teil wird nur aus der philosophischen Grundlegung angemessen zu verstehen sein, die die ersten beiden Teile bieten. Der Sinn des synagogalen und des Kirchenjahrs erschließt sich im Zusammenhang dieses Denkens nur, wenn man die wechselseitige Bezogenheit von „erfahrender“ und „erzählender“ Philosophie stets als Voraussetzung dieser Darstellung im Blick behält. Diese Termini hat Rosenzweig im Anschluss an die Zweiteilung der Philosophie bei Schelling entwickelt. Der hatte eine negative von einer positiven Philosophie unterschieden, wobei der erste (negative) die hypothetischen Voraussetzungen von Erfahrung klärt, die zweite (positive), die auch Philosophie der Mythologie und der Offenbarung heißt, dann aber die ———— der es „mit der Zeit, dem Ablauf und mit dem zu tun [hat], was den stetigen Fluss des Lebens ausmacht“, und dem Bild der Erinnerung oder dem Wort einer Ansprache. Wie in Benjamins Kindheitserinnerungen ist hier „von einem Raum, von Augenblicken und vom Unstetigen die Rede“ (Benjamin, GS VI, 488 [Berliner Chronik]): die Erinnerungsbilder blitzen auf und es will festgehalten werden, was sich in ihnen verdichtet. Entsprechend bedarf ein ansprechendes Wort des Nachdenkens über den in ihm mitgeteilten Gehalt. In den durch Wort und Bild hervorgerufenen erfüllten Augenblicken kann die Zeit zum Raum werden. 68 E. Freund, Die Existenzphilosophie Franz Rosenzweigs. J. Tewes, Zum Existenzbegriff Franz Rosenzweigs. W. Schmied-Kowarzik, Franz Rosenzweig. Existentielles Denken und gelebte Bewährung. 69 M. Theunissen, Der Andere. S. Mosès, System und Offenbarung. Meine eigene Interpretation der ersten beiden Teile des Stern schließt daran an: Dober, Die Zeit ernst nehmen. Andere Akzente hat C. Hufnagel gesetzt, die dieses Werk als Erlösungsphilosophie verstanden wissen will (Dies., Die kultische Gebärde). Vgl. neuerdings: R. Schindler, Zeit. 70 Rosenzweig, Das neue Denken, zit. nach Gesammelte Schriften Bd. III [= GS III], 140. Vgl. Schindler, Zeit, 56ff. Mein Zugang zum Phänomen und Begriff des Gottesdienstes auf dem Weg einer philosophischen Grundlegung unterscheidet sich also von dem bloß historischen, für den etwa die Darstellung W. Ratzmanns exemplarisch ist (vgl. Ders., Art. Gottesdienst, in: HBPTh, 522ff).

60

historischen Zeugnisse darauf befragt, wie den vorher erarbeiteten hypothetischen Bestimmungen hier Realitäten, „Tatsächlichkeiten“ entsprechen. Die negative Theologie der Zeit von Theunissen schließt an diese historischen Vorbilder an. Ausgehend von Rosenzweigs Darstellung des synagogalen und des kirchlichen Jahres, oder seiner „Soziologie“71 liturgischer Vollzüge ist nun danach zu fragen, wie die materiale Gestalt dieser Liturgik aus der menschlichen Zeiterfahrung heraus verständlich zu machen ist, und das in drei Hinsichten, die der Dreiteilung des Rosenzweigschen Werkes entsprechen: Erstens entdeckt sich der Mensch im Angesicht des Todes als unverwechselbares Selbst und Individuum. Diese Einsicht ist der (antiken) tragischen Darstellung des Lebens ebenso eingeschrieben wie der modernen Tragödie im Trauerspiel. Die Existenzphilosophien von Kierkegaard bis Heidegger haben an diesem Problem der conditio humana weitergearbeitet (und die von Kierkegaard setzt Rosenzweig voraus). In den Philosophien der Existenz ist jeweils die Reflexion des Selbst der Ausgangspunkt. Man kann mit Rosenzweig fragen, ob der Andere hierbei angemessen in den Blick kommt.72 Zweitens heißt die Zeit ernst zu nehmen für ihn, in einen Dialog mit dem anderen zu treten. Erst im wirklichen Sprechen und Hören kommen die Dinge zu Wort. Und erst dadurch, dass sie zu Wort kommen, finden sie ihren Anfang und ihr Ende.73 Seine These, vertreten in einem Brief an Eugen Rosenstock lautet: „Mein Ich entsteht im Du“74. Sie deutet auf eine Zeit hin, die durch den anderen Menschen eröffnet werden kann. Das „neue Denken“ Rosenzweigs ist zeitlich, die Entfaltung dieser Zeitlichkeit geschieht aber in kritischer Abkehr von der alten Metaphysik (oder, mit Rosenzweig zu sprechen, von der „Philosophie des All“). Nach der berühmten Passage in den „nachträglichen Bemerkungen“ zum Stern wird die Zeit erst in einer intersubjektiven Konstellation gezeitigt: ———— 71 Rosenzweig, GS II, 343, 349, 357, 393, 399, 412 [Stern III]; Ders., GS III, 139–162, 156 [Das neue Denken]. 72 Vgl. die ausführliche Diskussion um die angemessene systematische Stellung des Todesproblems im „Stern“ bei R. Schindler, Zeit, 99ff. 73 Diese Einsicht ist en passant in Grass’ Spätwerk eingegangen (Ders., Beim Häuten der Zwiebel, 271), ohne dass allerdings die Verwurzelung dieser Einsicht in der Philosophie der Existenz, der Sprache und des Dialogs gesehen worden wäre. Für die Sprache des Heidegger von „Sein und Zeit“ hat Grass nur Hohn und Spott übrig, obwohl sich weite Teile seines Lebensrückblicks als literarische Darstellungen der vom Philosophen beschriebenen Daseinsweise des „man“ lesen lassen: der in der Nazizeit mitlaufende Jugendliche wird in der Nachkriegszeit zu dem jungen Mann, der im Entwurf seines Daseins die eigene Zukunft selbst in die Hand nimmt, und das gegen die Widerstände der eben als Flüchtlinge wieder getroffenen Eltern. Auf dem Weg zum Künstler, Zeichner zuerst, Bildhauer sodann und schließlich Schriftsteller geht es ihm, wie von Heidegger beschrieben, vor allem um ein Entwerfen und Ergreifen seiner selbst. 74 Rosenzweig, GS I/1, 471 [an Rosenstock vom 19.10.17].

61

„Das neue Denken weiß genau wie das uralte des gesunden Menschenverstands, dass es nicht unabhängig von der Zeit erkennen kann, – was doch der höchste Ruhmestitel war, den sich die Philosophie bisher beilegte. So wenig wie man ein Gespräch auch von hinten beginnen könnte oder einen Krieg mit einem Friedensschluss […] oder das Leben mit dem Tode, sondern man muss wohl oder übel tätig und leidend abwarten lernen, bis es soweit ist, und darf keinen Augenblick überspringen, so ist auch das Erkennen in jedem Augenblick gebunden an eben diesen Augenblick und kann seine Vergangenheit nicht unvergangen, seine Zukunft nicht unzukünftig machen […] Zeit brauchen heißt: nichts vorwegnehmen können, alles abwarten müssen, mit dem Eigenen vom andern abhängig sein.“ (GS III, 151f [Das neue Denken])

Hier werden der Existenzphilosophie gegenüber eigene, dialogphilosophische Akzente gesetzt. Erst wer die Zeitigung der Zeit aus der Begrenztheit des eigenen Lebensentwurfes heraus öffnet in der Begegnung mit dem anderen, nimmt die Erfahrung eigener Lebenszeit in einer Welt ernst, in der es den andern gibt. Die mit Rosenzweig zu beschreibende dialogische Urszene, in der die Zeit auf eine andere Weise gezeitigt wird als im Entwerfen der Möglichkeiten des je eigenen Daseins, hat in ihrer konkreten Situation auch einen „weltzeitlichen“ Aspekt. Zwei Lebensgeschichten, hervorgegangen aus unterschiedlichen Kontexten, begegnen sich im Gespräch, und in solcher Begegnung werden unterschiedliche Horizonte eröffnet, weil die Standpunkte jeweils unterschiedlich sind. So unterscheiden sich nicht nur die Erfahrungen, die in einem bisherigen Leben gemacht worden sind, sondern auch die Perspektiven, in denen Fragen des Sinns, der Normen und des Glaubens in den Blick treten. Rosenzweigs Liturgik verknüpft die Perspektiven miteinander, die sich von einem jüdischen ebenso wie von einem christlichen Standpunkt aus ergeben. Über beide Standpunkte hatte er sich jahrelang im Diskurs mit seinen Freunden verständigt. Drittens stellen die Liturgien die zweidimensionale Beziehung von Lebens- und Weltzeit in den weiten Horizont, der von Rosenzweig „Gnadenzeit“, „rechte Zeit“, „angenehme Zeit“75 genannt wird, und den man in theologischer Terminologie „Heilszeit“ nennen könnte. Diese Heilszeit hat ———— 75 GS II, 303. 306f. [Stern III]. In seinem frühen Fragment „Trauerspiel und Tragödie“ hat W. Benjamin u. a. gezeigt, dass im Verhältnis von individueller Lebens- und allgemeiner Weltzeit der Stoff des Tragischen liegt. Der Unterschied zwischen einer „individuell“ und einer „göttlich erfüllten“ Zeit wird hier auf den von einer „tragischen“ zur „messianischen“ Zeit bezogen (GS II/1, 134). Der Stoff des Tragischen werde im modernen Trauerspiel allerdings so zur Darstellung gebracht, dass nicht mehr nur – wie in der „geschlossenen Form“ der Tragödie – die „eigene, rein individuell erfüllte Zeit des tragischen Helden“ (135) sich erfülle, sondern eine erfüllte Zeit aller denkbar werde, die mit der „messianischen“ oder der „göttlichen“ (134) ins Verhältnis gesetzt werden könne. Während Rosenzweig seine Liturgik in kritischer Distanz zur Sphäre des Politischen unter dem Motto „in tyrannos“ entwickelt, hat der spätere Benjamin die früh ausgesprochene Hoffnung auf eine „denkbare Straße der Befreiung“ (GS II/1, 174) nicht mehr ausdrücklich in der Sphäre der Religion, sondern in der der Politik zu verankern gesucht.

62

ihr Zentrum, ihr „ewiges Feuer“ im Davidsstern. Auch der „ewige Weg“ des Christentums, der vom „Mittelpunkt der Weltzeit“ aus die Zeit der Geschichte beherrscht (seit der Staat bei Konstantin christlich geworden ist), muss sich darauf beziehen, daran messen und auch korrigieren lassen. Grundlegend für Rosenzweigs Verhältnisbestimmung von jüdischer und christlicher Liturgie ist die Voraussetzung der Dreidimensionalität der Erfahrung.76 Außer dem Menschen und der Welt (mit den Mitmenschen in ihr) wird auch Gott als ein unverzichtbares Element angenommen. Ohne dieses dritte Element könnte die Erfahrung mit den theologischen Begriffen Schöpfung, Offenbarung und Erlösung nicht vollständig rekonstruiert werden. Diese mehrdimensionale Erfahrung kommt in den Sprachformen, Symbolen und Ritualen der Liturgien zum Ausdruck. Demgegenüber setzt Blumenbergs Unterscheidung von Lebens- und Weltzeit einen zweidimensionalen Erfahrungsbegriff voraus, der ein drittes Element „Gott“, das dann von einer „Heilszeit“ zu sprechen erlaubte, nicht mehr vorsieht. Er baut damit auf neuzeitlichen Selbstverständlichkeiten seit Descartes auf, die für die Rekonstruktion von Erfahrung eben Subjekt und Objekt oder – in anderer Terminologie – Mensch und Welt – als einen ausreichenden Rahmen ansehen. Eine „Heilszeit“ oder „Heilsgeschichte“ kann in diesem Rahmen nur als in den traditionellen Ritualen gespeicherte Erinnerung an „Genealogien und Chronologien“ angesehen werden. „Die Heilsgeschichte im Kirchenjahr“ ist in dieser Perspektive ein Teil der Weltzeit, deren Vergegenständlichung in Ritualen und Symbolen einmal die Menschen zu überzeugen vermochte, heute aber den meisten nur noch als eine historische Reminiszenz an eine vergangene Plausibilität erscheinen mag.

Dass Rosenzweig hier andere Wege geht, wird man zu den gewagten Voraussetzungen seines Denkens rechnen können. Begründet sind sie in einer Setzung, einer Position, und diese stellt sich außerhalb der Erfahrung, die von ihr aus rekonstruiert werden kann, als eine Hypothese dar – eben so, wie Stern I die drei Elemente der Erfahrung erst einmal als Hypothesen entwickelt, deren Berechtigung erst im Nachhinein, durch Erfahrung, bestätigt werden kann. In einer derart distanzierten theoretischen Betrachtung könnte man es auch mit der Zweidimensionalität der Erfahrung bewenden lassen. Ohne Gott bliebe einzig das Unverfügbare oder die Kontingenz als das Bewusstsein davon, dass alles auch anders hätte kommen können, wenn es nicht so gekommen wäre, wie es kam. Plausibilität kann Rosenzweigs Setzung eines dreidimensionalen Erfahrungsbegriffs nur dann gewinnen, wenn sie – durch Lektüre und Interpretation historischer Zeugnisse (vor allem der Bibel und der Tradition) zuerst, und dann auch durch je eigene Erfahrung – bestätigt werden kann. Und ———— 76 Treffend hat R. Wiehl den dreidimensionalen Erfahrungsbegriff Rosenzweigs beschrieben. Vgl. Ders., Die Erfahrung im neuen Denken von Franz Rosenzweig, in: PhJ 89 [1982], 269–290.

63

diese Bestätigung wird begünstigt werden durch die Einsicht in die kritische und regulative Funktion der hypothetischen Setzungen in der Praxis eines Lebens, das sich die liturgischen Ordnungen als Chance der Unterbrechung und der Orientierung voraussetzt. Denn während im Verhältnis von Lebensund Weltzeit die Möglichkeit besteht, das Gebet zum eigenen Schicksal zu verabsolutieren77, erscheinen die eigene Lebens- und die jeweilige Weltzeit im Horizont der Heilszeit eigentümlich relativiert und begrenzt. In den liturgischen Ordnungen, die mit „ewigen Ziffernblättern“78 verglichen werden, können sie in einen Gleichklang kommen. Im Horizont der in liturgischen Symbolen und Ritualen repräsentierten Heilszeit wird eine kulturell signifikante Vergangenheit vergegenwärtigt (die „Heilsgeschichte“, wenn man so will) und eine Zukunft antizipiert, die den Verheißungen entsprechen könnte. So halten die liturgischen Ordnungen des jüdischen und des Kirchenjahres offensichtlich das kollektive Gedächtnis lebendig. Besonders sprechend sind hier die Beispiele des Passafestes als ritualisierte Form der Erinnerung an den Exodus79, und des Abendmahls, das Jesu Wort entsprechend zum „Gedächtnis“ (Lukas 22, 19; 1. Korinther 11, 23–25) an sein erlösendes, stellvertretendes Selbstopfer gefeiert wird. Rosenzweig integriert diese in den letzten Jahren viel diskutierten Aspekte des kulturellen Gedächtnisses, legt den Akzent aber auf die Antizipation des Zukünftigen im jüdischen Jahr (Sabbat und Jom Kippur).80 Hierin manifestiert sich für ihn vor allem ein qualifizierter Begriff von ———— 77 Der in den Liturgien erleb- und erfahrbare Zeitgewinn ist von dem anderen zu unterscheiden, der dadurch intendiert wird, „die Weltzeit auf die Maße der Lebenszeit zu zwingen.“ (Blumenberg, Lebenszeit, 73) „Die Zeit der Welt zur eigenen zu machen“ (75) gehört zwar in den kleinen Maßen der aktiven Teilnahme an der Weltzeit zu den Bedingungen der menschlichen Existenz, die sich in ihre Zukunft hinein entwirft. Blumenberg hat auf glänzende Weise gezeigt, wie eben diese Möglichkeit im Mythos vom ursprünglichen Paradies mit seinen immanenten Grenzen aufgezeigt ist, die eben nur darauf warten, überschritten zu werden. Und er hat „das Diabolische“ als „ein Konzentrat der das Leben durchziehenden Techniken und Kunstgriffe“ begriffen, „Zeit zu gewinnen“ (73). Auf die Analysen Theunissens bezogen würde man es also immer dann mit dem Teufel zu tun bekommen, wenn die Zeit instrumentalisiert wird, um Zeit zu gewinnen. Denn der Teufel „weiß, dass er wenig Zeit hat“, und „die Essenz der mythischen Verführung zu einem Teufelspakt“ besteht darin, „mit Mitteln der Magie, der Gewalt oder der Illusion die Weltzeit auf die Maße der Lebenszeit zu zwingen“ bzw. „die Lebensgrenze auf den Augenblick eingestandener Weltsättigung zu fixieren“, wie Blumenberg mit Blick auf die am Beispiel Hitler aufgezeigte wahnhafte Kongruenz beider Zeiten sagt (ebd.). Der durch Instrumentalisierung der Zeit erzielte Gewinn ist aber von dem Zeitgewinn zu unterscheiden, den die Liturgien eröffnen. Denn in ihnen ist die Möglichkeit repräsentiert, den je eigenen „Lebenszeitaugenblick“ zu ergreifen in einem Horizont, der die eigene Lebenszeit ebenso übersteigt wie die jeweilige Weltzeit. Die Bedingungen dieser Möglichkeit liegen aber in der Gegenwärtigkeit der Gegenwart ebenso wie in dem durch einen dreidimensionalen Erfahrungsbegriff gesetzten Deutungsrahmen. 78 Rosenzweig, GS III, 155 [Das neue Denken]. 79 Rosenzweig, GS II, 442 [Stern III]. 80 „Die Gestalten der Liturgik […] nehmen ja vorweg“ (Rosenzweig, GS II, 327, vgl. 364 [Stern III]).

64

Ewigkeit, der zwar die Erfahrung des Augenblicks (und also die Gegenwärtigkeit der Gegenwart als privilegierten Zeitmodus dieser Erfahrung) voraussetzt, ihn aber nicht mit der „Allzeitlichkeit der mit der Ewigkeit gleichgesetzten Gegenwart“81 verwechselt. Vielmehr fällt die Zukunft in die von Rosenzweig qualifizierte Gegenwart vor (vgl. 335f). Durch die Antizipation der Zukunft wird der von Rosenzweig beschriebene Augenblick ewig.82 In derart qualifizierten Augenblicken, deren Erfahrung einem spezifisch zu fassenden Begriff von Ewigkeit entsprechen, behauptet sich die Eigenständigkeit des Judentums allen christlichen Missionsbestrebungen gegenüber. Ein prägnanter Beleg hierfür ist Rosenzweigs Neuinterpretation des johanneischen Satzes, niemand komme zum Vater denn durch Christus (14, 6) – außer denen, die schon immer beim Vater gewesen seien.83 Die Substanz des jüdischen Erwählungsglaubens liegt im Volksbegriff (das hat C. Hufnagel mit Blick auf Rosenzweig klar herausgearbeitet), die des christlichen im Kerygma des Evangeliums. In der doppelten Gestalt der Repräsentation des Ewigen als „ewiges Leben“ im Judentum und „ewigem Weg“ im Christentum vermeidet Rosenzweig schließlich das Problem einer sakralen „Versiegelung der Zeit“. Dan Diner folgend sind in der Diaspora-Existenz des Judentums die Bedingungen geschaffen worden, sich eben in dieser Hinsicht vom Islam als Gesetzesreligion zu unterscheiden.84 Rosenzweigs korrelatives Modell der Beziehung von Juden- und Christentum bringt auch die sakrale und die profane Zeit in Korrelation. Und hierfür übt das Christentum eine auch für das Judentum wichtige Funktion aus. Es hat sich in alle Welt ausgebreitet, und geht weiter seinen Weg durch die Zeit, durch die Welt, durch die Nationen und Kulturen. Stets ist es bemüht, sich zu „inkulturieren“, sich ins Verhältnis zu setzen zu den Sitten und Bräuchen anderer. So ist die Weltzeit immer schon mit der Zeit der Liturgie in eine Korrelation getreten. Nach der gegebenen Skizze sind drei Aspekte relevant, um Stern III als eine Liturgik verstehen zu können, die die Zeit ernst nimmt: eine heilsgeschichtliche Horizonterweiterung des Verhältnisses von Lebens- und Weltzeit, eine Dehnung der Zeit in der Vergegenwärtigung der Vergangenheit und in der Antizipation der Zukunft, und eine Verknüpfung sakraler und geschichtlicher Zeit durch eine geschichtsphilosophische Verhältnisbestimmung von Juden- und Christentum. Diese drei Aspekte werden in den liturgischen Formen des Lebens und Erlebens wirksam. Um einem solchen Wirksamwerden aber den Weg zu bereiten, bedarf es der Wiederholung. ———— 81 Schindler, Zeit, 46. 82 Damit schließt er an die Zeittheorie Cohens an (vgl. Schindler, Zeit, 336). 83 Rosenzweig, GS I, 134f [Brief vom 31.10.1913]. 84 Vgl. hierzu: D. Diner, „Geschichte und Gesetz. Über die Verwandlung sakraler in profane Zeit“, in: Ders. Versiegelte Zeit, 227–258, bes. 244.247.255.

65

Alle Jahre wieder wird die Ordnung der Feste im synagogalen und im Kirchenjahr aktualisiert. Die Kulte mit ihrem Ritual können als die traditionelle Art und Weise verstanden werden, die (nach Rosenzweig dreidimensionale) Erfahrung „krisensicher zu etablieren“.85 Die Form der Wiederholung aber ist das Ritual. Eine seiner grundlegenden Gestalten ist der Vollzug einer Ordnung im Jahreskreis. 2.4.1 Der Antwortcharakter des Kirchenjahrs Ausgehend von einer Phänomenologie der Zeiterfahrung hatte ich den spekulativen Gedanken der Ewigkeit eingeführt. Bekannt ist uns die Zeit aber nur in den beschriebenen Formen. Dass sie auch stillstehen und wir in ihr verweilen können, ist von der uns erfahrbaren Zeit aus gedacht. Und doch scheint es so, als sei es eine andere Zeit, die hier begegnet. Es bleibt aber eine hypothetische Vermutung, es sei die andere Zeit, die sich in der Weite und Tiefe der Gegenwart andeutet, in der Weite und Tiefe der Gegenwart, die sich dem Verweilen erschließt. Hypothetisch ist auch die Vermutung, diese andere Zeit würde das Verweilen erst ermöglichen, und schließlich auch der Gedanke, diese anders als unter ihrer Herrschaft erfahrene Zeit sei die Zeit eines Andern – Ewigkeit. Die symbolische Ordnung des Kirchenjahres (wie bei Rosenzweig auch des synagogalen Jahres) geht eben von diesen Voraussetzungen aus. Ja mehr noch: Das Kirchenjahr tritt mit dem Anspruch auf, Repräsentant einer anderen Zeit zu sein. Das geschieht auch schon auf der weniger voraussetzungsvollen Ebene, dass es die Gestrecktheit der Zeit gegen ihre Homogenität und Leere repräsentiert. Wie aber kann das Kirchenjahr ein solcher Repräsentant sein? Die Bedingungen dafür sind zum einen formaler, zum andern inhaltlicher Art. Ich beginne mit den formalen, ist doch in einer formalen Hinsicht das Kirchenjahr wie ein Festcode überhaupt zu betrachten. Schon indem es an den formalen und allgemeinen Merkmalen eines jeden Festcodes partizipiert, hält das Kirchenjahr Antworten bereit auf die Fragen, die das Individuum auf der Suche nach sich stellt. Folgende Gesichtspunkte sind geltend zu machen: 1. Ein Festcode, der die Zeit gliedert und nach jeweils bestimmten Gesichtspunkten strukturiert, kann die Erfahrung der in ihre Dimensionen gestreckten Zeit dadurch repräsentieren, dass er die Zeit verräumlicht. Ein Mittelpunkt wird zwischen einen Anfang und ein Ende gesetzt, ein Vorher und ein Nachher, die die Vergangenheit und Zukunft einer Gegenwart repräsentieren. Wie die derart repräsentierten Dimensionen erfahren werden, ———— 85 Benjamin, GS I/2, 683 [Über einige Motive bei Baudelaire].

66

ist unter diesem formalen Gesichtspunkt noch nicht anzugeben. Die Zeit muss aber schon deswegen verräumlicht werden, um quantifiziert werden zu können. Die abstrakten Symbole des Raumes sind aber Linie und Kreis. Zudem spart ein Festcode auch Stellen aus dem Arbeits- und Produktionsprozess aus. Das geschieht erst einmal nur durch die negative Bestimmung, dass diese ausgesparte Zeit nicht zu Geld zu machen ist, also keinen Tauschwert hat wie die Arbeits- und gewissermaßen auch die Freizeit, und also nach quantitativem Maß eigentlich nicht zu messen ist. Eben so kann die Zeit an den Feiertagen als eine andere erfahren werden. So gesehen sind die Feiertage als Zeiträume zu begreifen, in denen solche Erfahrungen möglich sind, die ohne ein Pausieren im Arbeits- und Produktionsprozess verstellt blieben: Pausieren, das Gelegenheit zum Verweilen in einer weit und tief werdenden Gegenwart bietet. Eine erste Antwort, die die Ordnung des Kirchenjahres qua Form eines Festcode überhaupt zu geben hätte, lautet also: durch den allgemeinen Kalender sind Zeiträume aus dem Produktionsprozess ausgespart. Die Festtage sind somit „Unterbrechungen unseres ‚bürgerlichen Lebens‘“.86 Sie unterbrechen die Herrschaft der quantifizierten Zeit, um die Erfahrung der Gestrecktheit eigener Lebenszeit machen zu können. Diese Erfahrung aber ist die Voraussetzung dafür, die aus dem Produktionsprozess ausgesparte Zeit als individuelle Lebenszeit zu gestalten. 2. Die Feiertage eines bestimmten Code sind aber nicht ausgespart, um nur zu unterbrechen. Diese negative Bestimmung bereitet vielmehr – um mit Benjamins zweiter Baudelaire-Studie zu sprechen – den Weg für die „Anerkennung einer Qualität“. Sie „mit der Messung einer Quantität vereint zu haben, war das Werk der Kalender.“ Sie sparten Stellen aus, um an diese Qualität zu erinnern: „Stellen des Eingedenkens“87. Erinnert wird aber ein Einmaliges und Besonderes. Ein Festcode mit seinem Bezug auf Singularitäten, auf bestimmte und besondere Situationen, auf Ursprungsgeschichten, widersteht somit aller gegenwärtigen Tendenz einer Nivellierung von individueller Zeiterfahrung in durch Technik ermöglichter universaler Gleichzeitigkeit und ständiger Verfügbarkeit von allem. Die zweite Antwort lautet: mit seinem ursprünglichen Bezug auf ein nicht reduzierbares Besonderes bildet der Festcode ein Gegengewicht zu aller Nivellierung des Besonderen. Seine antitotalitäre Tendenz entspricht dem Bedürfnis moderner Individualität, die – zu Recht – ihre Besonderheit und Einmaligkeit auf keinen Fall preisgeben möchte. Sie nicht preiszugeben ist aber eine der Bedingungen, die eigene Lebenszeit zu gestalten. ———— 86 Jüngel, Unterbrechungen, 9 mit Bezug auf Schleiermacher. 87 Benjamin, GS I/2, 643.

67

3. Ein allgemeiner Festcode zeichnet sich schließlich dadurch aus, dass er eine je bestimmte Lebensfülle repräsentiert, die über das individuelle Leben hinausgeht. Als ein solcher Repräsentant will er das individuelle Leben in ein vergangenes, gegenwärtiges und zukünftiges allgemeines Leben hineinnehmen. Das geschieht, wie gesagt, vor allem dadurch, dass ein Festcode an vergangenes Leben erinnert. Durch solche Erinnerung will er eine Erfahrung ermöglichen, die sich – mit Benjamin zu sprechen – vom Erlebnis unterscheidet, welches nur das punktuelle Jetzt und keine Kontinuität kennt. „Wo Erfahrung im strikten Sinn obwaltet, treten im Gedächtnis gewisse Inhalte der individuellen Vergangenheit mit solchen der kollektiven in Konjunktion. Die Kulte mit ihrem Zeremonial, ihren Festen, […] führten die Verschmelzung zwischen diesen beiden Materien des Gedächtnisses immer von neuem durch.“88 Drittens also bietet das Kirchenjahr die Ordnung eines gemeinsamen Festcodes an. Potentiell stellt das die Korrektur einer Abstraktion dar, die dem modernen Individualismus eigen ist. Sie besteht vor allem darin, dass die nur sich selbst verwirklichende Individualität in ihrer Selbstverwirklichung von den anderen absieht. Das impliziert: eine von den anderen abstrahierende Individualität sagt sich auch von ihrer eigenen Geschichte los, als ob ich je aus der Geschichte springen könnte, die je mich geprägt hat, als ob ich ohne die Kontingenz der Geschichte zu dem geworden wäre, der ich bin, als ob ich ohne die anderen, die in ihrer Relation zu mir und ich zu ihnen diese Geschichte ausmachen, ich geworden wäre.89 Solche Abstraktion leugnet oder reduziert die Bedeutung ihrer eigenen Herkunft und Vergangenheit. Dem zu widersprechen ist eine weitere Bedingung dafür, die eigene Lebenszeit zu gestalten. Dies mag in der genannten individualistischen Abstraktion möglich sein. Ein durch die gegebenen Merkmale ausgezeichneter Festcode repräsentiert aber darüber hinaus die Einsicht, dass wir als Menschen in unserem Leben Allgemeinheit zu realisieren haben, und damit ein Verständnis von Selbstverwirklichung, das – mit Theunissen zu sprechen – der „Idee eines […] kommunikativen Selbstseins“ entspricht.90 Besonders augenfällig scheint das bis heute am Weihnachtsfest zu sein, ———— 88 Benjamin, GS I/2, 611. Dass es hierbei um eine „Metaphysik“ geht, „die erfahren ist“, bringt der Beitrag zum 100. Todestag J. P. Hebels zur Sprache. Benjamin geht hier auf die Konjunktion zwischen individueller und kollektiver Vergangenheit ein, wie der „rheinische Hausfreund“ sie in der Erzählung „Unverhofftes Wiedersehen“ (in: Hebel, Werke, hg. von E. Meckel, Bd. 1, 1968, 271–273) zur Darstellung gebracht hat (GS II/1, 279). 89 Vgl. dazu Brumlik, M./Brunkhorst, H., Kontingente Identität und historische Haftung. Ein Gespräch mit K.-O. Apel (in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, Heft 7/1990, 26–40), 27f. 38. 40. 90 Theunissen, Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, 6.

68

leuchtet doch in dessen Symbolen – um mit Schleiermacher zu sprechen – das „Feuer eines allgemeinen Gefühls“.91 2.4.2 Die liturgischen Ordnungen als Repräsentanten einer anderen Zeit Das Kirchenjahr als Repräsentant einer anderen Zeit partizipiert an den allgemeinen und formalen Merkmalen eines Festcodes in einer spezifischen Weise. Doch wie ist die repräsentierte Zeit inhaltlich qualifiziert?92 Die zweite These, die im Folgenden zu entfalten ist, lautet: das Kirchenjahr repräsentiert eine andere Zeit, die durch die Begegnung mit dem Anderen in ihre Dimensionen gestreckt ist. Das heißt: es repräsentiert die Gestrecktheit der Zeiterfahrung nicht im Sinne der sich entwerfenden Existenz als eines Selben, sondern als Zeit des Anderen. Es repräsentiert die Zeit, die vom Anderen her eröffnet ist. Repräsentierbar ist diese Zeit aber nur als Zeit des Eingedenkens, als Gedächtnis an die Zeit des Anderen. Denn nur im Modus der Vergangenheit ist Gegenständlichkeit und Thematisierbarkeit dessen möglich, der als Begegnender weder thematisierbar noch repräsentierbar ist. Die vom Anderen eröffnete und in seiner Nähe gewährte Zeit hat Rosenzweig als eine Zeitigung beschrieben, die erst durch die theologischen Begriffe rekonstruierbar wird. Die Begegnung mit dem Andern war es, ist es und wird es sein, ohne die meine Erfahrung von Zeit nicht wäre. Im Ereignis der Begegnung mit einer Vergangenheit oder der Zukunft des Anderen werde ich wie neu geschaffen; in solcher Begegnung wird die Gegenwart weiter als ich mir Weite erschließen kann; in der Zu-kunft des Anderen fällt eine andere Zeit in meine Zeit ein: Möglichkeit einer Erlösung, in der Versöhnung mit der Zeit ist. In Schöpfung, Offenbarung und Erlösung wird Zeit als das andere ihrer selbst erfahrbar. Etwas (oder jemand) erinnert mich an sich selbst, so dass ich einer anderen Zeit begegne, oder eine Zukunft fällt in meine Gegenwart vor, die in ihrem Vorfall schon ganz gegenwärtig ist. Als ein beinahe zum Christentum konvertierter Jude, der dann zum Judentum zurückkehrte, geht Rosenzweig von einer Juden und Christen gemeinsamen Struktur von Zeiterfahrung aus, und setzt erst auf der Grundlage dieser mit den genannten theologischen Begriffen rekonstruierten Erfahrung das synagogale und das kirchliche Jahr zueinander in Beziehung. Auf diese ———— 91 F. Schleiermacher, Die Weihnachtsfeier, 72 [S. u. Abschnitt 6.4.2]. 92 Durch diese inhaltliche Qualifikation hat das Kirchenjahr eine kritische Funktion gegenüber anderen Festcodes. Auf sie zu verweisen erscheint notwendig aus geschichtlicher Erfahrung. Dass das Kirchenjahr trotz gewisser Schnittpunkte mit nationalen Codes zu diesen in einem spannungsvollen Verhältnis steht, hat seinen letzten Grund aber darin, dass die im Gebet um das Kommen des Reiches Gottes intendierte Allgemeinheit national nicht zu begrenzen ist (s. u. Kapitel 8).

69

Weise eröffnet er ein Verständnis des Kirchenjahres, das mancher immanent christlichen Perspektive verschlossen geblieben ist. Es soll nun zuerst nach dem Gemeinsamen gefragt werden, ehe dann die Differenz der symbolischen Ordnungen benannt werden soll. 2.4.3 Das Kirchenjahr im Verhältnis zum liturgischen Jahr der Synagoge a. Gemeinsamkeiten im Zusammenhang von Rosenzweigs Grundlegung der Liturgik: Die Stunde des Gebets um das Kommen des Gottesreiches Gemeinsam ist Juden und Christen eine als Schöpfung, Offenbarung, Erlösung rekonstruierbare Erfahrung einer Zeit, die in ihre Dimensionen sich erstreckt. Gemeinsam ist ihnen weiterhin das Gebet um das Kommen des Gottesreiches als ein Gebet um die Zeit aller am Ende der Zeiten.93 Gemeinsam ist beiden schließlich eine im Jahreszyklus gegliederte Zeit, in der dieses Gebet als ein gemeinsames wiederholt wird. Ohne das Gebet um das Kommen des Gottesreiches gäbe es keine Einkehr der Ewigkeit in die Zeit. „Die Ewigkeit muss […] beschleunigt werden, sie muss stets ‚heute‘ schon kommen können; nur dadurch ist sie Ewigkeit. Wenn es keine solche Kraft, kein solches Gebet gibt, welches das Kommen des Reichs beschleunigen kann, so kommt es nicht in Ewigkeit, sondern – in Ewigkeit nicht.“94

Rosenzweig denkt das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit genau in der Korrelation, in der Gott und Mensch nach der kabbalistischen Tradition stehen. Ihr zufolge spricht Gott selbst, die Differenz zum Menschen ernst nehmend: „Wenn ihr mich nicht bezeugt, so bin ich nicht.“95 Gott selbst will also im Bekenntnis des Menschen sein, von ihm hat er sich in seiner grenzenlosen Freiheit abhängig gemacht. In der Korrelation mit dem Menschen wird das Bekenntnis für die Existenz Gottes notwendig, so notwendig eben wie die Kraft des Gebetes für das Kommen des Gottesreiches. Es kann die Ewigkeit in die Zeit zwingen aber nur deswegen, weil es keine private Veranstaltung ist. Denn die Zeit, die der Kult „bereitet zum Besuch der Ewigkeit, ist nicht die Zeit des Einzelnen, nicht meine, deine, seine geheime Zeit; sie ist die Zeit Aller.“96 Was Benjamin als verloren erfuhr, ist bei Rosenzweig neu gewonnen: die Repräsentation des Ewigen im Jetzt. Repräsentiert ist das Ewige im Jetzt für Rosenzweig in dem Sinn, dass die vergangene Einkehr des Ewigen in der ———— 93 94 95 96

70

Rosenzweig, GS II, 325 [Stern III]. Rosenzweig, GS II, 321 [Stern III]. Vgl. Rosenzweig, GS III, 696 [Atheistische Theologie], mit Ders., GS II, 191 [Stern II]. Rosenzweig, GS II, 325 [Stern III].

symbolischen Ordnung des geistlichen Jahres repräsentiert ist, um den Weg für die gegenwärtige Wiederholung solcher Einkehr zu bereiten. Für Rosenzweig sind Judentum und Christentum die „beiden ewigen Zifferblätter unter dem Wochen- und Jahreszeiger der stets erneuerten Zeit“. „In ihnen, ihrem Jahr, [bildete sich] […] der unabbildbare, nur erleb- und erzählbare Ablauf der Weltzeit zum geformten Abbild.“97 So konnten Welt- und Lebenszeit in eine Entsprechung treten, die erzählt und erlebt werden kann. Demgegenüber bestimmt der Bruch solcher Entsprechung die Sicht des geistlichen Jahres bei Benjamin. „Die Glocken, die den Feiertagen einst zugehörten, sind wie die Menschen aus dem Kalender herausgesetzt. Sie gleichen den armen Seelen, die sich viel umtun, aber keine Geschichte haben.“98 Ganz anders erscheinen die Glocken bei Rosenzweig, der aus einem assimilierten Judentum zurückkehrt zu dessen Quellen, um aus ihnen zu leben. „Der Glockenschlag der Stunden kommt zu jedem Ohr. Die Zeiten, die der Kult bereitet, sind keinem eigen ohne alle andern. Das Gebet des Gläubigen geschieht inmitten der gläubigen Gemeinde. In Versammlungen lobt er den Herrn.“ Die Glocken repräsentieren eben die Allgemeinheit, die das Gebet um das Kommen des Gottesreiches vorwegnimmt. „Dies für alle Gemeinsame, über alle Standpunkte der Einzelnen und die durch die Verschiedenheit dieser Standpunkte bedingte Verschiedenheit der Perspektive hinaus, kann aber nur eines sein: das Ende aller Dinge, die letzten Dinge.“99 Die Allgemeinheit, die in diesem Gebet vorweggenommen wird, ist eine eschatologische. Sie ist es, die die Korrelation von Gott, Welt und Mensch, diesen drei Elementen aller Wirklichkeit, leitet. „Das kultische Gebet, das alles an die eine Bitte um das Kommen des Reichs setzt und zu dem alle andern sonst näheren Bitten nur um dieser einen willen beiläufig mitgebetet werden, erzwingt, indem es der Liebe das Ewige als das Nächste zeigt und so die unwiderstehliche Kraft der Liebe des Nächsten auf es loslässt, das erlösende Kommen des Ewigen in die Zeit. Gott kann nicht anders, er muss der Einladung folgen.“100 Dies ist freilich kein deterministisches Müssen, welches Rosenzweig in seiner theologischen Spekulation über den Schöpfungs- und Offenbarungsbegriff schon ausgeschlossen hatte.101 Die Notwendigkeit, von der hier die Rede ist, ist eine solche in zweiter Potenz: um seiner Wahrheit willen muss Gott der Einladung folgen. Das gemeinsame Gebet bedarf aber einer formalen Voraussetzung: eben der Stunde als des zeitlichen Raums gestreckter Erfahrung von Zeit. Der ———— 97 98 99 100 101

Rosenzweig, GS III, 155. Benjamin GS I/2, 643. Rosenzweig, GS II, 325 [Stern III]. Rosenzweig, GS II, 325f. (Hervorhebung v. Vf.). Vgl. dazu: Dober, Die Zeit ernst nehmen, 141ff.182ff.

71

Augenblick, für Rosenzweig ein Ereignis der Offenbarung im Angesprochenwerden, Augenblick des je gegenwärtigen Erlebnisses – der Augenblick verfliegt. Dass er selbst vergänglich ist, macht die Trauer aus, die er hinterlässt. Deshalb ist Leben im Augenblick Leben im Abschied. Diesem Abschied aber widerspricht das Gebet, das die Zukunft vorwegnimmt, das Fernste zum Nächsten und die Ewigkeit zum Heute macht. Bei Rosenzweig widerspricht das Gebet dem kontinuitätsverhindernden Erleben des Augenblicks, bei Benjamin ist es das Eingedenken, das die Erfahrung vor ihrem völligen Aufgehen im Erlebnis des Augenblicks rettet. Das Gebet, das sich mit dem Verfliegen des Augenblicks nicht zufrieden gibt, sucht ein Heute, in das die Ewigkeit umgeschaffen ist, ein nunc stans, einen stehenden Augenblick.102 Dieser Suche entspricht die Stunde, nicht als die quantifizierbare Zeiteinheit von sechzig Minuten, sondern als ein stehendes Jetzt. Der von Rosenzweig geltend gemachte Unterschied seines quasi poetischen Begriffs der Stunde besteht darin, dass ihr Ende in den Anfang münden kann. Während eine bloße Folge von Augenblicken nicht zu einem „in sich zurücklaufenden Kreis“ werden kann, ist dies in einer Stunde möglich. Die formale Qualität einer Stunde besteht darin, dass ihre Gliederung zwischen Anfang und Ende zu einem Bild gestreckter Zeiterfahrung werden kann. Die Stunde, eine „ganz menschliche Stiftung“, gliedert die Zeit in anderer Weise als sie durch Sonnen- und Mondzyklen immer schon gegliedert ist. In die natürlich vorgegebenen Zyklen, in dem Wechsel von Tag und Nacht, Sommer und Winter, von abnehmendem und zunehmendem Mond, sind im Kalender bestimmte Stunden als geschichtliche Stiftungen eingetragen. Bestimmte Stunden im Kalender wollen die geschichtliche Erinnerung an die Erfahrung des Ewigen im Jetzt ebenso wie die Wiederholung dieser Erfahrung offenhalten. So wird die Stunde bei Rosenzweig zum „Bürgen der Ewigkeit in der Zeit“.103 Bild der Ewigkeit ist sie aber nicht im Sinne der ewigen Wiederkehr des Gleichen, kein Bild für das bleibende Gesetz des Entstehens und Vergehens, das Metaphysik letztlich noch mythisch gründete.104 Vielmehr will die Stunde im Wiederholen die Bedingungen schaffen, um in gestreckter Erfahrung der Zeit die andere Zeit zu erfahren. Nicht dadurch, dass die unendliche Folge von Punkten einer Geraden in Kreisform gebracht würde, sondern durch „die Festlegung jenes Punktes, das Fest“105 kann die Stunde zum Bürgen der Ewigkeit in der Zeit werden. ———— 102 103 104 105

72

Rosenzweig, GS II, 322f. [Stern III] (wie die folgenden Zitate). Rosenzweig, GS II, 323. Vgl. Theunissen, Negative Theologie, 40f. Rosenzweig, GS II, 323 [Stern III].

Solche Festlegung von Stunden als geschichtlichen Stiftungen ist Juden und Christen gemeinsam wie das Gebet um das Kommen des Gottesreiches. Wo allerdings der Anfang, wo das Ende gesetzt, und wie beide gewichtet werden, das lässt die Differenz von beiden schon formal sichtbar werden: die Differenz in der symbolischen Festlegung von Bedeutungen in der Gestaltung des jeweiligen Kalenders.106 Sie spricht sich in der Bedeutung aus, die dem Anfang und Ende einer Geschichte gegeben werden, genauer: dem Zwischenreich der Geschichte zwischen Anfang und Ende. Zwar gilt für beide, wie Rosenzweig an Eugen Rosenstock schreibt, dass „Anfang und Ende […] bei Ihnen und bei uns“ die gleichen sind.107 Gemeint ist die Funktion des Offenbarungsbegriffs für die Perspektive, in der die Welt von ihm aus erscheint: „So ist der Ordnungsbegriff dieser Welt nicht das Allgemeine, […] sondern das Einzelne, das Ereignis, nicht Anfang und Ende, sondern Mitte der Welt […] Nur von der Mitte aus entsteht in der unbegrenzten Welt ein begrenztes Zuhause, ein Stück Boden zwischen vier Zeltpflöcken, die weiter und weiter hinaus gesteckt werden können. Erst von hier aus gesehen werden auch Anfang und Ende aus Grenzbegriffen der Unendlichkeit zu Eckpfeilern unseres Weltbesitzes, der ‚Anfang‘ zur Schöpfung, das ‚Ende‘ zur Erlösung“.108

Doch in diese Gemeinsamkeit, wie sie sich einer Philosophie der Offenbarung erschließt, trägt Rosenzweig nun eine charakteristische Differenz ein, die die jeweilige Haltung zur Geschichte betrifft. In einem Brief an Hans Ehrenberg hat Rosenzweig das Christentum als „die Religion des Zwischenreichs“ bezeichnet.109 Anhand ihres Verhältnisses zu diesem Zwischen, als dessen Anfang die Ankunft des Messias, als dessen Ende das Gottesreich gelten kann, sind das christliche und das jüdische Verhältnis zur Geschichte zu unterscheiden. Rosenzweig schreibt: „Das christliche Verhältnis zum Zwischenreich ist bejahend, das jüdische verneinend. Was wird bejaht, bzw. verneint? Das Zwischen. Wie bejaht man ein Zwischen? Indem man einen Anfang positiv, als gewesen, ein Ende negativ, als noch nicht gewesen setzt […] Das Positive ist aber immer das, wenigstens zunächst, Durchschlagende; so ist auch hier die Positivität des Anfangs das Begriffsbestimmende, das Setzende, Thetische; und erst die Dialektik der Entwicklung kann auch den negativen Anteil

———— 106 Vgl. Rosenzweig, GS II, 385. 107 Rosenzweig, GS I/1, 283 [Brief vom 7.11.1916 = Ders., Briefe, Berlin 1935, 688]. Im Ausgang von dem berühmten Briefwechsel zwischen Rosenzweig und E. Rosenstock-Huessy habe ich in einem früheren Beitrag die im „Stern“ durchgeführte Verhältnisbestimmung von Juden- und Christentum gründlich nachvollzogen. Dem differenzierten Verhältnis Rosenzweigs zu Hegels Geschichtsphilosophie galt hier besondere Aufmerksamkeit (vgl. Dober, Die Verhältnisbestimmung von Judentum und Christentum). 108 Rosenzweig, GS III, 133 [Urzelle]. 109 Rosenzweig, GS I/1, 560.

73

zu selbständiger Bedeutung bringen. Weiter gefragt: Wie verneint man ein Zwischen? Schärfer noch: wie drückt man in der Form des Zwischen aus, dass etwas nicht zwischen ist? […] Also wie verneint man in dieser Weise ein Zwischen? Indem man den Anfang negativ, als noch nicht gewesen, das Ende positiv, als schon gewesen, setzt, – also Anfang und Ende zwar nicht vertauscht, aber umwertet. Dies ist das Judentum.“110

Das Christentum als die Religion des Zwischenreiches bejaht den Anfang dieses Zwischen der Geschichte, weil es der absolute Punkt der Offenbarung ist, der sowohl den Anfang des Christentums als auch des Zwischenreiches der Geschichte ausmacht. Es ist der absolute Anfang der Offenbarung, der auch die Zeitrechnung der Geschichte der Völker begründet. Für Rosenzweig zeichnet sich das Christentum dadurch aus, dass es überhaupt wesentlich vom Anfang her verstanden werden muss. Es erhält und erneuert sich, indem es immer wieder neu anfängt, wie das anhand der Taufe und der Stellung des Sonntags am Anfang der Woche zu sehen ist. Das Wesen des Christentums ist der Anfang sowohl für den einzelnen als auch für die Welt, auf die sich das Christentum von Anfang an durch seine Mission bezogen hat.111 Demgegenüber verneint das Judentum das Zwischenreich, dessen Anfang mit der Heraufkunft des Christentums gesetzt worden ist. Denn es kann das Kommen Christi nicht als seinen eigenen Anfang gelten lassen, liegt doch der eigene Anfang – geschichtlich gesehen – noch weit vor dem Anfang des Christentums. Das Judentum verneint das durch das Christentum begründete Zwischen aber nicht absolut. Zwar verneint es diesen Anfang, aber indem es das Ende bejaht, „positiv setzt“, ist ihm das Zwischen keineswegs gleichgültig. Das Judentum steht Rosenzweig zufolge außerhalb des christlichen Zwischenreiches der Geschichte als einer historischen Größe, und ist somit die eigentlich metahistorische Gestalt. Aber indem es das Ende am Jom Kippur schon vorwegnimmt, welches im Christentum noch „negativ gesetzt“ ist (Christus ist noch nicht wieder zu den Seinen zurückgekommen), ist eine doppelte Beziehung zum Christentum ermöglicht. Einerseits hat das Judentum für das Christentum und das von ihm begründete Zwischenreich eine notwendige Funktion. Es verkörpert mit seiner Vorwegnahme der Erlösung am Jom Kippur das telos, nach dem die Völker „sich ohnmächtig strecken“.112 Rosenzweigs Kritik am im modernen Nationalismus säkularisierten Erwählungsgedankens klingt hier an, wie das Christentum ihn in alle Welt getragen hatte. Die jüdische Vorwegnahme der ———— 110 Rosenzweig, GS I/1, 561 [Brief an Hans Ehrenberg vom 11.5.1918 = Rosenzweig, Briefe, Berlin 1935, 316]. 111 Vgl. Rosenzweig, GS II, 398f. [Stern III]. 112 Rosenzweig, GS II, 421 [Stern III].

74

Zukunft stellt demgegenüber einen eschatologischen Vorbehalt dar.113 In jüdischer Perspektive kann man auch sagen: Das Christentum ist in seiner Geschichte keineswegs immer dem Bilderverbot treu geblieben, wenn es etwa Göttliches in der weltlichen Welt oder im menschlichen Menschen meinte finden und festhalten zu können. Eben das aber sind für Rosenzweig die spezifisch christlichen Gefahren einer „Spiritualisierung des Gottes-, Apotheisierung des Mensch-, Pantheisierung des Weltbegriffs.“ 114 Auch das Christentum, das ewig auf dem Weg ist, hat das telos der Geschichte noch nicht erreicht. Genau umgekehrt wie das Christentum erhält und erneuert sich das Judentum in der jährlichen Vorwegnahme der Erlösung. Der Sabbat steht am Ende der Woche und repräsentiert den Großen Versöhnungstag, an dem Israel stellvertretend für die Menschheit die Tage des Gerichts durchsteht und die Vollendung einen Augenblick lang vorwegnimmt.115 Andererseits ist aber der Weg des Christentums durch die Geschichte für das Judentum selbst von Bedeutung. Zwar braucht es für sich selbst den Gang durch die Geschichte nicht, um als Religion vollständig erfahrbar zu sein (während das Christentum auf diesen Gang durch die Geschichte nicht verzichten kann). Aber die Verheißungen der eigenen Tradition lassen den ewigen Weg des Christentums durchaus neben sich gelten. In Rosenzweigs Verhältnisbestimmung von Juden- und Christentum sind die Ähnlichkeiten in der Struktur liturgischer Erfahrung verschränkt mit dem jeweils unterschiedlichen Verhältnis zur Geschichte. So können sie beide „seiende Ewigkeiten“ sein, Gestalten also, die sich aus sich selbst heraus erneuern und erhalten im Zyklus der liturgischen Jahres. Während das Judentum nach dieser Systematik als ewiges Feuer oder ewiges Leben bei sich bleibt, ohne missionarische Tendenzen, ist das Christentum immer wieder aus sich herausversetzt – sein Missionsanspruch führt es in alle Welt hinaus. Und während der Christ nach Rosenzweig ein „ewiger Anfänger“ bleibt („das Vollenden ist nicht seine Sache, – Anfang gut, alles gut“), wird Rosenzweig zufolge das telos der Verheißungsgeschichte im liturgischen Jahr des Judentums vorweggenommen. Liturgisch spiegelt sich diese Asymmetrie durch die Stellung des Sabbats am Ende und die des Sonntags am Anfang der Woche. Nota bene wird man insgesamt (und d. h. auch mit Blick auf die geschichtsphilosophischen Voraussetzungen Rosenzweigs) sagen müssen, dass diese Sicht des Judentums nur vom Standpunkt der Diaspora so hat entwickelt werden können. Nach der Rückkehr des Juden———— 113 Auf dem Hintergrund der Hegelschen Geschichtsphilosophie hat S. Mosès Rosenzweigs Kritik am modernen Nationalismus aus der besonderen Stellung heraus rekonstruiert, die er – anders als Hegel – dem jüdischen Volk zuerkannt hat (Ders., Hegel beim Wort genommen). 114 Rosenzweig, GS II, 447 [Stern III]. 115 Rosenzweig, GS II, 363f. 361 [Stern III].

75

tums in die Geschichte ist diese Perspektive zunehmend kritisch gesehen worden.116 b. Das Eigene mit den Augen des anderen gesehen Im Folgenden soll, aus der Perspektive Rosenzweigs und also mit den Augen des anderen gesehen, eine nach den Vollzugsbegriffen der Zeiterfahrung des Glaubens gegliederte Sicht des Kirchenjahres zur Sprache kommen. Dem Sabbat als dem Fest der Schöpfung, der, gleichsam als cantus firmus, Woche für Woche die Schöpfung der Welt ins Jahr spiegelt, entspricht der Sonntag. Als Fest der (österlichen Neu-)Schöpfung ist er „ganz zum Fest des Anfangs geworden“. Es ist dies eine Perspektive auf das geistliche Jahr, die das Wesen des Christentums im Anfang erblickt. Dass der Christ „ewiger Anfänger“ ist, indem er aus der Mitte des Weges immer wieder zum Kreuz und zur Auferstehung zurückkehrt als dem (doppelten) Ausgangspunkt der Koordinaten der Welt, spiegelt sich für Rosenzweig nicht nur in der Stellung des Sonntags, sondern auch darin, an welcher Stelle der Anfang des Kirchenjahres gesetzt ist. Es beginnt „mit dem ersten Adventssonntag als dem Vorklang des Fests, mit dem die christliche Offenbarung anhebt“: Weihnachten als dem Fest der beginnenden Offenbarung, über dem ein „gesteigert sonntäglicher Glanz“ liegt.117 Entsprechend den jüdischen Wallfahrtsfesten Pesach, Schawuot und Sukkot, die „zusammen ein Bild vom Geschick des Volkes als des Trägers der Offenbarung“ bilden118, stellt Rosenzweig die drei großen christlichen Feste Weihnachten, Ostern und Pfingsten als „Feste der Offenbarung“ dar.119 Die drei Feste sind erstens zueinander in ein Verhältnis gesetzt, das dem Verhältnis der Modi der Zeit entspricht. So symbolisieren sie die Gestrecktheit der Offenbarung in der Zeit, ausgehend von Ostern, der „eigentlichen Festzeit der Offenbarung innerhalb der drei Feste der Offenbarung“120 als dem Fest der Vergegenwärtigung ihres historischen Ursprungs. Von hier aus kann auf Weihnachten als das Fest des Anfangs zurückgeblickt und auf Pfingsten als das Fest der beginnenden Erlösung vorausgeschaut werden. Zweitens sind die drei Feste je selbst eingebunden in Festkreise, in denen die Gestrecktheit der Zeit jeweils aus der Offenbarung heraus, also gegenwärtig, als ein Vollzugsganzes von Schöpfung – Offenbarung – Erlösung gleichsam in einen Zeitraum abgebildet ist. ———— 116 117 118 119 120

76

Vgl. E. L. Fackenheim, The Jewish Return into History. Ders., To Mend the World. Alle Zitate: Rosenzweig, GS II, 399 [Stern III]. Rosenzweig, GS II, 351. Rosenzweig, GS II, 404. Rosenzweig, GS II, 405.

Weihnachten als das Fest des Anfangs „des sichtbaren Ganges der Offenbarung über die Erde“, diese „Schöpfung der Offenbarung“121 ist zugleich Mitte einer vielwöchigen Festzeit zwischen dem ersten Advent und Epiphanias. Während „die Adventszeit vorher […] die Erinnerung an die Prophetie des ‚alten‘ Bundes […] und so dem Weihnachtswunder einen eigenen Schöpfungsgrund“ erneuert, klingen „im Neujahrsfest […] und im Fest der drei Könige […] innerhalb der Weihnachtsfestzeit die Erlösung [als] das Zueinanderkommen von Glauben und Leben vor“: das unter Konstantin eingetretene „Doppelereignis“, dass sich das Christentum in den Staat einordnete, und sich der Staat zum Christentum bekehrte.122 Doch nicht schon der Stall, sondern erst Golgatha gilt der Christenheit als Anfang ihres Weges, was der historischen Einsicht durchaus Rechnung trägt, dass Kreuz und Auferstehung das doppelte Gründungsereignis des christlichen Glaubens ist. „So wird die ganze Festzeit, von den Fasten über den Karfreitag hin zum Auferstehungstag, eine einzige Vergegenwärtigung des großen Zentralereignisses des christlichen Lebens: die Fasten lange Vorbereitung; der stille Freitag, den die römische Kirche zurücktreten lässt und die protestantische, der die Fasten fehlen, um so höher feiert, das Ereignis selbst; endlich Ostern der mächtige Ausklang, innerhalb dieses Festes der Offenbarung der Tag der Erlösung.“123

Auch Ostern ist eingestellt zwischen eigenem Schöpfungsgrund und eigener Erlösungsvorwegnahme. Das Pfingstfest schließlich nimmt die Erlösung innerhalb der Offenbarung vorweg, indem es an den „Anfang der Erlösung“124 erinnert. An Pfingsten wird „der schmale Pfad des Herrn und seiner Jünger zur breiten Heerstraße der Kirche“. Nicht stellt es, wie der Jom Kippur als das Fest der Erlösung im jüdischen Jahr „jene höchste Gemeinsamkeit der Menschheit im schweigenden Anbeten selber dar“, sondern es „muss sich begnügen, dazu aufzufordern, in freilich allgemeiner, der ganzen Menschheit verständlicher Aufforderung“. Die geforderte Allgemeinverständlichkeit „bedarf noch des Mittels der Rede“. So erinnert das Pfingstfest an den Anfang der Erlösung und wiederholt diesen Anfang dort, wo einer des andern Sprache versteht und wo die erlösende Aufgabe des Übersetzens gelingt.125 ———— 121 Rosenzweig, GS II, 404. 122 Rosenzweig, GS II, 405. 123 Rosenzweig, GS II, 406. 124 Rosenzweig, GS II, 406f. (wie die folgenden Zitate in diesem Absatz); Hervorhebung v. Vf. 125 Rosenzweig hat sich gemeinsam mit Buber dieser Aufgabe unterzogen, indem er die Schrift „verdeutschte“. Was Rosenzweig und Benjamin betrifft, so bilden beide je für sich und doch in starker Übereinstimmung eine Theorie des Übersetzens aus, die im Kontext der utopischen Di-

77

„Es ist die erste Wirkung des Geistes, dass er übersetzt, dass er die Brükke schlägt von Mensch zu Mensch, von Zunge zu Zunge“. Pfingsten zwischen Himmelfahrt und Trinitatis erinnert an den Anfang der Erlösung, der darin besteht, dass, indem der gen Himmel aufgefahrene Herr die Seinen zurücklässt, die Kirche ihren Weltgang im Symbol der Dreieinigkeit beginnt. Da sie diesen Weltgang bis heute nicht vollendet hat, ist der Weg für Rosenzweig das Symbol fürs Christentum, ein Weg, auf dem die Kirche immer wieder neu von der Mitte aus auf den Anfang zurückgeworfen ist. In all dem ist es das Gebet um das Kommen des Gottesreiches, das, hervorgerufen durch ein Aufblitzen der Vergangenheit in der Gegenwart oder durch das Ungenügen am verfliegenden Augenblick, die erbetene Zukunft herbeizwingt und somit das Seine dazu beiträgt, dass diese Zukunft in die Gegenwart vorfallen kann, um sie zur erfüllten zu machen. Rosenzweig erblickt im Judentum, vor allem an den hohen Feiertagen das Urbild dieser Prolepse. Während das Pfingstfest eben nur an den Anfang der Erlösung erinnert, wird die Erlösung am Jom Kippur einen Augenblick lang vorweggenommen.126 Die skizzierte proleptische Struktur ist allerdings dem Gebetsglauben überhaupt eigen, wie es Rosenzweig in seiner „erzählenden Philosophie“ für Juden und Christen zur Darstellung gebracht, und wie es Theunissen anhand des Gebetes Jesu herausgearbeitet hat.127 c. Die Ergänzung der Außenperspektive durch die Binnenperspektive christlicher Lehre In der Außenperspektive (zuerst einer Phänomenologie der Zeiterfahrung und dann des von Rosenzweig dargestellten christlichen Jahres) konnten Aspekte des Kirchenjahrs beleuchtet werden, die vielleicht eher an den Rändern der Binnenperspektive liegen. Diese Perspektive von außen ist nun allerdings durch die Binnenperspektive christlicher Lehre zu ergänzen. Denn in ihr kann erst die spezifische symbolische Festlegung von Bedeutungen der Festtage des Kirchenjahres rekonstruiert werden. Rosenzweigs Darstellung trug schon der Differenz von historischem Ursprung und festgelegtem Anfang des Kirchenjahres Rechnung. Während ersterer im Osterfest und dem Kreis liegt, der sich nach und nach darum gebildet hat128, setzt letzterer am ersten Advent, die symbolische Verknüpfung des Anfangs des ———— mensionen der Sprache der Aufgabe des Übersetzens eine erlösende Kraft zuschreibt (vgl. dazu S. Mosès, Walter Benjamin und Franz Rosenzweig, 635f). 126 Rosenzweig, GS II, 359ff [Stern III]. 127 Vgl. Theunissen, Negative Theologie, 321ff [ǵ ĮȓIJȫȞ ȜĮȝȕȐȞİȚ. Der Gebetsglaube Jesu und die Zeitlichkeit des Christseins]. 128 Vgl. K.-H. Bieritz, Das Kirchenjahr, 77ff.

78

Christentums mit der Geschichte vorbereitend, eine Reflexion auf den historischen Ursprung schon voraus. Der dogmatisch erreichbare Höhepunkt des Kirchenjahres ist mit Trinitatis gesetzt, von wo aus der Weg rückwärts zu seinem Anfang ebenso einsehbar ist wie zu seinem Ende hin absehbar. Wie Trinitatis der terminus ist, a quo bis zum Ewigkeitssonntag die Sonntage als solche „nach Trinitatis“ gezählt werden, so ist der Sonntag Trinitatis zugleich der terminus, ad quem sich die loci der Lehre gleichsam in einen Zeitraum hinein entfalten129, der Lehre, die das Nahekommen des fernen Gottes nachträglich zu begreifen sucht: Gott Vater schenkt uns seinen Sohn, Gott Sohn stirbt für uns am Kreuz, Gott Geist kommt so, dass die Geselligkeit Gottes gegenwärtig unter den Menschen (in der Gemeinde) erfahren werden kann.130 Aus der Binnenperspektive der Lehre betrachtet ist der Andere, der meine Zeit unterbricht und somit meine Erfahrung einer anderen Zeit eröffnet, ein theologisch reflektierter Anderer, der ganz Andere, der aus seiner Ferne nahe gekommen ist und nicht aufhört, nahe zu kommen. Indem der ewig reiche Gott, dessen Beziehungsreichtum in der Trinitätslehre symbolisiert ist, nahe kommt, erweist sich die andere Zeit, die das Kirchenjahr repräsentiert, als Ewigkeit. Die Bedingung dafür ist aber die Offenbarung in der inkarnatorischen Struktur, dass das Ewige sich dem Zeitlichen gleichgemacht hat, damit das Zeitliche ewig werden kann, oder um es weniger stark zu sagen: damit das Zeitliche frei werden kann von der Herrschaft der Zeit, was letztlich nur durch eine Versöhnung mit der Zeit möglich ist, die zeitimmanent nicht zu leisten ist. Wirklich kann dieser Gedanke aber nur in der Erfahrung werden, der eben diese andere Zeit in je meine Zeit vorfällt, wie diese Zeit jene in der Erinnerung unterbricht: Erfahrung des Glaubens, die eine Erfahrung des Andern ist. Gott wird somit erfahren als der, durch den wir auf unserem Weg letztlich gesagt bekommen, wer wir sind.131 In solcher Erfahrung kann sich das Wort aus Psalm 36, 10 bewähren, das nicht nur als Wochenspruch im Gottesdienst seinen Platz hat: „Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht.“

———— 129 L. Steiger hat eine solche Entfaltung für Epiphanias und Vorpassion durchgeführt (vgl. Ders., Erschienen in der Zeit). 130 K. Marti, Die gesellige Gottheit. Dass mit Trinitatis das Kirchenjahr seinen dogmatischen Höhepunkt erreicht, und die Trinitätslehre also dieser Form des Jahreskreises die Sinn-Struktur verleiht, hat eine Entsprechung in der historischen Urform des christlichen Gottesdienstes, in der Messe (s. u. Abschnitt 6.5.4 „Die Messe als symbolische Form in Kompositionen der Moderne“). 131 Vgl. Theunissen, Selbstverwirklichung, 10.

79

3. Liturgie als Ritual: Schöpfung und Erhaltung von Sozialität

Communitas ist „das Nicht-mehrnebeneinander, sondern Beieinander einer Vielzahl von Personen, die […] ein Fluten von Ich und Du erfährt.“ Martin Buber1

Die Themen der Liturgik „sind allgemein geworden“2, sie sind in andere als theologische Perspektiven aufgenommen und erfahren in anderen Zweigen der Wissenschaft eine ausführliche Behandlung, so etwa in der Soziologie, in der Kulturanthropologie und auch in der Philosophie der Erfahrung von Zeit. Wie die Erfahrung von Zeit mit der im Raum gleichursprünglich ist (was nicht aus-, sondern einschließt, dass mit der Zeit der Anfang zu machen ist), so ist sie es auch mit dem Ritual als einer Lebensform, die für die Rekonstruktion der menschlichen Erfahrung immer schon vorausgesetzt werden muss.3 Das wird um so mehr gelten können, als die Erfahrung von Zeit sich ursprünglich nicht dem einsamen Entwerfen und Ergreifen der je eigenen Möglichkeiten verdankt, sondern in der Begegnung mit den anderen „gezeitigt“ wird (s. o.). Die intersubjektive Konstellation oder das Differenzverhältnis, in dem solche Zeitigung geschieht, hat dem „neuen Denken“ Rosenzweigs zufolge zwar in einer dialogischen Erfahrung ihren primären Ort. Deren Beschreibung würde aber abstrakt, wenn man die Fundierung dieser Erfahrung im Schöpfungsgrund der Sprache einerseits, und ihre kulturelle Einbettung in der Pluralität einer Gemeinschaft bzw. der Gesellschaft andererseits ausblendete. Um mit Lévinas zu sprechen ist die Begegnung im Angesicht des anderen zwar die Urszene der Sozialität, diese aber setzt immer schon ein „plurales Existieren“ voraus, welches über „mich“ und „dich“ hinaus auch den „Dritten“ kennt.4 ———— 1 Zit. nach: Belliger/Krieger, Einführung, in: Dies., Ritualtheorien, 259. 2 D. Rössler, Grundriss der Praktischen Theologie, 409. 3 Vielleicht ist das Ritual „das konkreteste Beispiel für das, was Wittgenstein eine ‚Lebensform‘, d. h. eine letztgültige, pragmatische und kommunikative Basis der Erkenntnis nannte“ (Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 21). 4 Vgl. etwa: Lévinas, Jenseits des Seins 263f; Ders., Die Spur des Anderen, 328–330.

80

Weil die Themen der Liturgik „allgemein“ geworden sind, geht „der Gottesdienst [auch nicht] in seinen rein religiösen Interpretationen […] auf“5. Vielmehr hält er seiner Form als Ritual und Symbol nach schon eine Deutung des Lebens bereit. Diese dem christlichen Gottesdienst eigene Reflexivität möchte ich nun aus dem Blickwinkel der neueren Theorie des Rituals betrachten6, und dieses im Zuge einer humanwissenschaftlichen Verstehensbemühung auf die grundlegende Erfahrung von Zeit beziehen. Dazu ist es notwendig, diese Theorie erst einmal in der Differenziertheit ihrer Aspekte zu referieren. Dies soll zuerst so geschehen, dass ich die Theorie des Rituals als Teil der Theorie des Lebens zur Darstellung bringe.

3.1 Die Theorie des Rituals als Teil der Theorie des Lebens: Humanwissenschaftliche Zugänge In einer (dichten) Beschreibung lässt sich das Phänomen in alltäglichen Vollzügen aufzeigen. Ritualisierte Handlungen haben in beinahe jedem Bereich unseres Lebens ihre alltägliche Selbstverständlichkeit von den Tischsitten bei gemeinsamem Essen bis zu so privaten Gewohnheiten wie dem Zähneputzen, Waschen und Frühstücken am Morgen, dem Rauchen einer Pfeife am Schreibtisch oder dem Glas Wein am Abend vor dem Schlafengehen. Rituale entlasten uns von Entscheidungen, sorgen für möglichst glatte Abläufe und zeigen die uns wohlverdient erscheinenden Ruhepunkte an. Wie stark unser alltägliches Leben von Ritualen geprägt ist, kommt vielleicht deutlicher nicht zu Bewusstsein, als wenn wir mit einem Leben konfrontiert sind, in dem sich nichts, noch nichts von selbst versteht. Mir stehen hier besonders sprechend die ersten Wochen und Monate des gemeinsamen Lebens mit einem Säugling oder Kleinkind vor Augen – erst der Ritus des Stillens, die Gewöhnung an hell und dunkel, Tag und Nacht, Wachen und Schlafen schafft eine Ordnung; erst ritualisierte Handlungen wie das Vorlesen einer Gute-Nacht-Geschichte markieren die Schwelle zwischen den Zeiten. So werden Freiräume geschaffen, ohne die auch die wohlmeinendsten und ausdauerndsten Eltern irgendwann überfordert wären. Ritualisierte Handlungen können aber nicht nur entlasten, das alltägliche Leben wohltuend in seine Bereiche unterscheiden und somit einer unver———— 5 Rössler, Grundriss, 411. Vgl. hierzu auch: Chr. Grethlein, Grundfragen der Liturgik, 129. 6 Ihr wohnt mehr „heuristische Kraft“ (Chr. Dinkel, Was nützt der Gottesdienst? 95) inne, als das einige ihrer zeitgenössischen Kritiker in der Praktischen Theologie meinen. Insgesamt stellt das Folgende eine Gegenthese zur Auffassung Dinkels dar, „dass der Ritualbegriff zur Deutung des evangelischen Gottesdienstes als Ganzes untauglich“ sei (96 Anm.). Mit Blick auf den katholischen Gottesdienst hat A. Odenthal dieser These seinerseits widersprochen (Ders., Liturgie als Ritual).

81

zichtbaren Zeit- und Kräfteökonomie zu Hilfe kommen. Sie können auch erstarren in eine Gewohnheit, die durch nichts mehr zu erschüttern scheint. Meistens werden solche Gewohnheiten von außen als Erstarrung und Stillstand der Lebendigkeit des Lebens erfahren und gelten als Zwang zur Wiederholung, die sich der kritischen Frage, der Reflexion auf den Bezug zum tatsächlichen Leben nicht mehr stellt. Das Ritual ist tendenziell konservativ, repräsentiert das Alte und Bewährte und verhält sich spröde bis abweisend allem Neuanfang gegenüber. Es ist ambivalent, zweideutig in seiner Funktion für das Leben. Deshalb ist es nötig, sich der Rituale bewusst zu werden, und das nicht nur im privaten, sondern auch im öffentlichen, im politischen und im religiösen Leben, um sich in Freiheit so zu ihnen zu verhalten, dass sie unter Umständen auch korrigiert werden können. Was ist ein Ritual? Dieser Frage möchte ich mich im Folgenden annähern. Ursprünglich bedeutete dieses Wort „Gottesdienst“7 in dem weiten religionswissenschaftlichen Sinn, dass hier ein antwortendes Handeln auf eine „erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen“8 inszeniert wird, in Ordnungen festgelegt und auf Texte bzw. Formulare bezogen stets wiederholbar ist. Im weiten Deutungsrahmen der Religionswissenschaft äußert sich ein ursprünglich religiöser Impuls im Gottesdienst, insofern das Göttliche (oder „Numinose“) hier verehrt, angerufen und angebetet wird.9 Über diese ursprüngliche (im liturgischen Kontext beheimatete) Bedeutung hinaus lässt sich das Ritual aber auch in einer psychologischen oder soziologischen Hinsicht verstehen.10 Für den Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud kann das als „Religionsübung“ verstandene Ritual mit einer privaten, individuellen Ordnung eines Wiederholungszwangs verglichen werden, der etwa der Verdrängung traumatischer Ereignisse dient.11 Und für den Soziologen Emile Durkheim, für den sich Religion überhaupt durch „Verpflichtungen, Regeln und Normen“ auszeichnet, „die vom Kollektiv ausgehen und das Individuum an das Kollektiv binden“,12 ist das Ritual ein Mittel zur Stiftung von Gemeinschaft, insofern anlässlich ritualisierter Gruppeninszenierungen das Gefühl der Teilnahme an etwas Höherem, „Heiligen“ entsteht.13 Wie Freud ebenfalls angeregt durch Nietzsche, jedoch mit durchaus anderen Akzenten, hat Georg Simmel vom Individuum aus die gesellschaftli———— 7 Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 7. 8 G. Mensching, zit. in: Art. Ritus, Ritual, in: WBC, 1082. Vgl. W. Ratzmann, Art. Gottesdienst in: HBPTh, 519–530; E. Hauschild, Was ist ein Ritual? 9 Vgl. P. L. Berger, Auf den Spuren der Engel, 124f (die Spur, der Berger hier folgt, ist von R. Otto und M. Eliade gelegt worden). 10 Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 7. 11 Vgl. Dober, Seelsorge bei Luther, Schleiermacher und nach Freud, 163–166. 12 H. Knoblauch, Art. Durkheim, in: RGG [4. Aufl.] Bd. 2, Sp. 1033. 13 Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 7.

82

che Funktion der Religion zu bestimmen gesucht. Mit Blick auf das hier in Frage stehende Ritual kann man sagen: im Deutungsmuster der ritualisierten Handlung lässt sich eine Synthese von – aus einer „ungeordneten Masse von Bedürfnissen“ – bestehendem „Lebensstoff“ und gesellschaftlich geprägten Formen erblicken, hier nicht der Technik als „Form der Naturbeherrschung“ oder des Marktes als „Form der Güterbeschaffung und des Güteraustausches“, sondern eben der Religion als einer historisch gewachsenen und dem Individuum vorgegebenen, es mehr oder weniger prägenden Form des Umgangs mit der „antinomischen Struktur des Daseins“14 – antinomisch eben im Verhältnis von Lebensstoff und bestehenden Formen. Die Formen sind oft nicht mehr geeignet, das Leben zu fassen. Es sprengt die Formen. Andererseits bedarf es ihrer aber auch, um bewältigt werden zu können. Ihre spezifische Funktion übe die Religion unter diesen lebensphilosophisch erschlossenen Bedingungen dadurch aus, dass in ihr das „fragmentarische Dasein auf Einheit, Sinn und Vollkommenheit hin“ transzendiert werde.15 Das für die Religion charakteristische „Einheitsbewusstsein“ wurzele aber in einem Abhängigkeitsgefühl, das sich entsprechend auf die Gesellschaft oder auf Gott beziehen lasse. Damit wird „Gott“, so Volker Drehsen in seiner Darstellung Simmels (und Durkheims), zum Namen für den „sozial-integrativen Fixpunkt“.16 Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson hat die Ritualtheorie Freuds insofern erweitert, als er es nicht mehr nur als „Zeremoniell“ zwanghafter Wiederholung des einzelnen versteht, sondern als eine Form der Beziehung zwischen den Menschen. Wie Freud interessiert ihn aber die Herkunft und Genese der Ritualisierung, und zu ihrer Erklärung geht er aus von der Urszene der Interaktion zwischen Mutter und Kind „in der frühesten Säuglingszeit“.17 Das Ritual, das sich in dieser Beziehung ausbildet, hat „lebenswichtige Funktionen“ (44). Schon an den wiederkehrenden Formen, die sich in der Begegnung zwischen Mutter und Kind ausbilden (Winkel des Anlegens, Sitzen oder Liegen, Blickkontakt etc.) werden „komplexe Vorgänge in eine überzeugende Einfachheit [ge]kleidet“ (ebd. zit. Erikson): vier Punkte sind hier zu nennen. Erstens wird die Ambivalenz auf beiden Seiten aufgehoben in einer ritualisierten Form, also auf Seiten des Kindes das doppelte Erlebnis der Mutter als eines so fürsorglichen wie übermächtigen Wesens, und auf Seiten der Mutter das Erlebnis des Kindes als Bereicherung und Einschränkung der eigenen Lebensmöglichkeit. Dabei kommt der Mutter zu Hilfe, ———— 14 V. Drehsen, Religion – der verborgene Zusammenhalt der Gesellschaft, 70–84, bes. 74–76. 15 Drehsen, Religion – der verborgene Zusammenhalt der Gesellschaft, 78. 16 Drehsen, Religion – der verborgene Zusammenhalt der Gesellschaft, 79. 17 Josuttis, Der Gottesdienst als Ritual, 43 [nicht anders ausgewiesene Zitate im folgenden Text beziehen sich darauf].

83

dass sie zweitens in der Sorge für ihr Kind eine Rolle übernimmt, die die Außenwelt von ihr erwartet, und dass diese (mehr oder weniger festgelegte) Rolle sie „vom Zwang zur Originalität und zur permanenten Entscheidung“ (45) befreit. Damit hängt ein dritter Gesichtspunkt zusammen: dieses Rollenverständnis stützt die Identität von Mutter und Kind gegenseitig so, dass „das Rollensystem an die kommende Generation weitergegeben“ (ebd.) wird. Schließlich hat die Ritualisierung in diesem Generationenverhältnis viertens auch ein Grundmuster der „Entwicklung einer unabhängigen Identität“ (ebd.) vorgezeichnet. Es bildet sich in solcher Interaktion ein „Urvertrauen“ aus, das für den Aufbau zwischenmenschlicher Verhältnisse des Vertrauens im späteren Leben (also auch für das Vertrauen, das die spätere Mutter ihrem Kind entgegenbringt) vorausgesetzt werden muss. Die Theorie Eriksons hat eine Reichweite zur Erklärung solcher Formen im Gottesdienst wie den Aaronitischen Segen. Wenn es da heißt: Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir (Numeri 6, 25), dann ist das vom Säugling umrisshaft wahrgenommene Gesicht der Mutter die erste (und prägende) Erfahrung, auf die der Segen anspricht, um das menschliche Grundvertrauen in der religiösen Dimension zu erneuern. Auch die vertrauensvolle Anrede Vater unser kann man so verstehen, dass sie auf ein „Urvertrauen“ verweist und dieses erneuert, oder (wo es gestört ist) eine Sprachform darstellt, die in ein Verhältnis des Grundvertrauens hineinführen kann. Aber diese Theorie hat auch ihre Grenze; sie gibt keine Erklärung für das Scheitern von Ritualen an die Hand und führt deren gesellschaftliche Bedeutung noch nicht zufriedenstellend aus. Auch Donald W. Winnicott weitet die engen Grenzen von Freuds Ritualtheorie, indem er die frühkindliche Anpassung an die Realität vor der so genannten ödipalen Phase untersucht. Hierbei kann er an Freuds Forschungen anschließen, die den Regeln schon auf der Spur waren, nach denen Kinder lernen, mit der zeitweiligen Abwesenheit der Mutter ohne tiefere Verletzungen umzugehen.18 Wie können Kinder in der frühen Ambivalenzerfahrung psychisch bestehen, einerseits ganz abhängig von der Mutter zu sein, andererseits sich aber aus dem „Verschmolzensein“ mit ihr auch lösen zu müssen?19 Kinder stehen unter dem Anspruch, zwischen Ich und NichtIch zu unterscheiden, und als Nicht-Ich stellt sich ihnen sowohl die Mutter als auch die Welt der Objekte dar. Diese lernt das Kind im „versunkenen Spielen“ (158) zu gebrauchen und mit psychischer Energie aufzuladen. Das geschieht auf eine unbewusste Weise analog der spontanen Wahl von Bildern im Traum, dessen Logik sich erst nachträglicher Analyse erschließt. ———— 18 Vgl. Dober, Seelsorge, 157 Anm., 174f [zum „Fort – Da – Spiel“]. 19 Ich folge der zusammenfassenden Darstellung durch Odenthal, Liturgie als Ritual, 155–160. Nicht eigens ausgewiesene Zitate im Abschnitt über Winnicott sind diesem Text entnommen.

84

Im Zuge solchen Spielens bildet sich ein „intermediärer Raum“ (155) zwischen objektiver und psychischer Realität aus, der sich weder auf die subjektive noch auf die objektive Seite soll reduzieren lassen. „Sobald der Mensch die Phase erreicht hat, in der er sich als abgegrenzte Einheit, ein Innen und ein Außen erlebt, verfügt er damit auch über eine innere Realität, eine innere Welt, die reich oder arm, friedlich oder mit sich selbst zerfallen sein kann […]. Meines Erachtens ist noch ein dritter Aspekt notwendig, sobald man diese beiden Arten der Darstellung für erforderlich hält: Dieser dritte Bereich des menschlichen Lebens, den wir nicht außer acht lassen dürfen, ist ein intermediärer Bereich von Erfahrungen, in den in gleicher Weise innere Realität und äußeres Leben einfließen. Es ist ein Bereich, der kaum in Frage gestellt wird, weil wir uns zumeist damit begnügen, ihn als eine Sphäre zu betrachten, in der das Individuum ausruhen darf von der lebenslänglichen menschlichen Aufgabe, innere und äußere Realität von einander getrennt und doch in wechselseitiger Verbindung zu halten.“20

Winnicott beschreibt den Raum der „Übergangsobjekte“ auf dem steinigen Weg der Entwicklung von völliger Abhängigkeit (welche als Gegenmodell zeitweilig das „Omnipotenzgefühl“ [155] hervorrufen kann) zu relativer Selbständigkeit, wie sie das Kind im „Zipfel vom Leintuch, Sammeln von Fäden zum Streicheln, [… im] Daumenlutschen, [… in einer] Melodie, einer stereotypen Geste“ (157) oder auch in Teddybären finden kann. Vermöge solcher Übergangsobjekte, die das Kind auch auf Reisen mit sich führen muss, interagiert es mit der Mutter sogar dann, wenn sie abwesend ist. „Es sagt dem Kind: Die Mutter ist da, auch wenn sie nicht da ist“ (157). Und die Umwelt anerkennt dies stillschweigend an. Es herrscht „eine Art Übereinkunft zwischen uns und dem Kleinkind, dass wir nicht die Frage stellen werden: ‚Hast du dir das ausgedacht, oder ist es von außen an dich herangetragen worden?‘ Wichtig ist, dass eine Entscheidung in dieser Angelegenheit nicht erwartet wird. Die Frage taucht gar nicht erst auf.“21

Für ein Verständnis der untrennbar an Symbole gebundenen Rituale oder einer in ritualisierten Vollzügen statthabenden „symbolischen Erfahrung“ (189ff) ist es nun bedeutsam, dass dieser in frühkindlicher Entwicklung analysierte Reifungsprozess – „Reife bedeutet, Beziehung zur Nicht-IchWelt aufzunehmen“ (156) – als ein Urphänomen für die Funktion verstanden werden kann, die die in der Sphäre des Unbewussten wurzelnden Rituale auch für das erwachsene Leben haben können. Es wäre in aufklärerischem Übermut zu weit gegriffen, die Symbole der Religion überhaupt in Analogie zu frühkindlichen „Übergangsobjekten“ zu verstehen, derer der ———— 20 Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität, 11 (zit. nach Odenthal, Liturgie, 156f). 21 Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität, 23 (zit. nach Odenthal, Liturgie, 157).

85

Mensch so lange bedürfte, bis er denn erwachsen geworden sei.22 Denn auch die Welt der Erwachsenen kann der „intermediären Räume“ nicht entbehren, wenn man diese denn als Räume der Kreativität und des Spiels in der menschlichen Kultur wieder entdeckt (vgl. 158), wobei die frühkindlichen Übergangsobjekte hier in transformierten Gestalten auftreten, etwa in Werken der Kunst, die für einen Betrachter relevant werden können, so dass er zu ihnen immer wieder zurückkehren möchte. „Das Potential des von Winnicott eingeführten Illusionsbereichs liegt im gemeinsamen Schatz der Menschheit, der Kultur.“ (159) Und die Sozialform, in der dieses Potential erlebbar wird, ist das Ritual. „Die kulturelle Erfahrung beginnt als Spiel und führt schließlich in den gesamten Bereich der menschlichen Überlieferung hinein, welcher die Künste, die Geschichtsmythen, das langsame Fortschreiten der philosophischen Gedankengänge ebenso umfasst wie die Geheimnisse der Mathematik, der Gruppendynamik und Gruppenleitung und die Mysterien der Religion.“23

Wie die Symbole aus sich selbst heraus nicht die Fähigkeit besitzen, „menschliche Grundambivalenzen und -konflikte zu lösen“, wohl aber „sie darzustellen“, so sind diese auch in den Ritualen „unbewusst da“. Sie „werden nicht gelöst, nicht bearbeitet, sind aber präsent, und in diesem Sinne ist ein Ritual heilsam“, insofern es die Konflikte unbewusst im intermediären Raum aufhebt (190). Mit Winnicott sind einerseits unbewusste Vorgänge im Ritual und andererseits „die Bedeutung des Rituals in der Tiefenschicht der menschlichen Psyche“ (208) differenziert wahrzunehmen. Wenn man das Ritual als Symbolgeschehen im intermediären Raum versteht, kann man in ihm „geronnene Erfahrung“ erblicken, bei der Menschen „die Symbolik und Riten des Glaubens als ‚Selbstobjekt‘ […] nutzen“, um so zu einer Transformation subjektiver Erfahrung zu kommen (194).24 Die Erfahrungen, die Menschen in diesem Deutungsrahmen mit Ritualen und Symbolen ———— 22 Der Teddybär symbolisiert Schutz und Geborgenheit. In der Beschreibung dieses Phänomens treten Ritual und Symbol in eine alltagsrelevante Korrelation, die als Form auch schon von Durkheim beschrieben worden war. Über die Wahrheit oder Unwahrheit des Gottesgedankens ist im Deutungsrahmen der in ritualisierten Vollzügen gebrauchten Rituale der christlichen Religion allerdings nicht entschieden. 23 Winnicott, Der Anfang ist unsere Heimat. Essays zur gesellschaftlichen Entwicklung des Individuums, Stuttgart 1990 [Home is where we start from, 1986], 40 (zit. nach Odenthal, Liturgie, 159). Nota bene erhebt diese „neo-psychoanalytische“ Kulturtheorie einen ähnlich weiten Deutungsanspruch wie die Symboltheorie E. Cassirers, die unten thematisch werden wird. Vgl. auch Th. Klie, Zeichen und Spiel, 90, der allerdings nur marginal auf Winnicott eingeht. Vgl. weiter S. Bobert-Stützel, Frömmigkeit und Symbolspiel, 157ff. 24 Der Begriff des „Selbstobjekts“ ist der Narzissmustheorie H. Kohuts entlehnt, die ich hier nicht im Zusammenhang darstellen kann. Vgl. aber Odenthal, Liturgie als Ritual, 160–163, 189– 190. 194ff.

86

machen können, spielen zwischen den zwei Polen der „Erfahrung des Schutzes, der Geborgenheit, wie des Aufbruchs ins eigene Leben, der Selbstbehauptung (Kohut). Das Ritual dringt bis zu den Tiefenschichten der Seele, dem Unbewussten vor. Es lädt zur Regression ein und ruft so Beziehungserfahrungen frühester Kindheit wach“ (194). Winnicotts Forschungen vermögen für eine humanwissenschaftliche Rekonstruktion des Sinns des Gottesdienstes wenigstens drei Aspekte zu präzisieren: Zum einen machen sie deutlich, dass Rituale und Symbole immer in einem Erfahrungszusammenhang auftreten und nur zum Zweck der Darstellung unabhängig voneinander zu betrachten sind. Zum anderen lassen sie, ähnlich wie das bei Erikson zu sehen war, eine für die Psyche des Menschen relevante Funktion von Ritualen erkennen. Drittens bieten sie ein Erklärungsmodell dafür an, dass dem Raum der Liturgie als solchem eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommt (s. u.). Wie Erikson und Winnicott ist auch der Soziologe Erving Goffman an der Rolle interessiert, die Rituale für die zwischenmenschliche Interaktion spielen. Doch er hat nicht die frühkindliche, sondern die erwachsene Erfahrung von Sozialität untersucht. Ausgehend von „Höflichkeitszeremoniellen“25 wie denen der Begrüßung gewinnt Goffman folgende Definition: „Ein Ritual ist eine mechanische, konventionalisierte Handlung, durch die ein Individuum seinen Respekt und seine Ehrerbietung für ein Objekt von höchstem Wert […] bezeugt“ (47 zit. Goffman). Eben solche Handlungen tragen dazu bei, ein Selbstverhältnis aufrechtzuerhalten, das nie unabhängig ist vom Verhältnis zu den anderen. Es kann beschrieben werden als ein Gespräch, in dem „Ich“ und „Mich“ stets begriffen sind26, und dieses Gespräch hat wenigstens zwei Dimensionen. Die eine ist von H. Kohut in der Struktur des Narzissmus erforscht und beschrieben worden: Die frühkindlichen, dann die adoleszenten und schließlich die erwachsenen Bildungsprozesse funktionieren nicht ohne Idealisierungen. So muss man etwa eine Sportart libidinös besetzen, um sie auf Dauer und unter Mühen überhaupt betreiben zu können. Dazu ist die Projektion des Selbstbilds auf das Ideal eines Könnens in diesem speziellen Bereich erforderlich, sei es des Radfahrens, des Skilaufens, des Bergsteigens und dergleichen. Stärker noch als die Erwachsenen, die mit Hilfe des Sports der frühzeitigen Alterung vorbeugen, müssen junge Menschen ihre Orientierung anhand von Idealen gewinnen. Sonst „wüssten“ sie nicht, ob es sich überhaupt lohnt, ein Buch zu lesen, ein Referat auszuarbeiten, über———— 25 Josuttis, Der Gottesdienst als Ritual, 47. 26 So lautet eine Stelle bei Nietzsche (Ders., Also sprach Zarathustra, in: KGA VI/1, 67), die den Grundgedanken der Interaktionssoziologie von G. H. Mead antizipiert. Vgl. Dober, „Ich und mich sind immer zu eifrig im Gespräche“.

87

haupt ernsthaft zu studieren und eine Prüfung zu bestehen. Am schicksalhaftesten sind die Idealisierungen in früher Kindheit, bleibt dem kleinen Menschen doch am Anfang kaum etwas anderes übrig, als die erwachsenen Bezugspersonen in den Himmel der Vorbilder zu erheben. Jede Idealisierung führt aber in die Spannung von Ich-Ideal und Ideal-Ich, in die Nöte der Selbstprüfung, jedenfalls in die Abhängigkeit von einem Ideal, die im Fall des Erfolgs ins Glück der Übereinstimmung führen kann, im Fall des Misserfolgs in die Enttäuschung und Trauer der Nicht-Übereinstimmung. In der Struktur des Narzissmus ist der Zirkel der Selbstbezogenheit unentrinnbar, doch die reifere Persönlichkeit vermag der Verwechslung des notwendigen Ich-Ideals mit einem Ideal-Ich zu wehren und ein starkes Ich kann sich ein gutes Stück von derartigen Abhängigkeiten befreien.27 „Ohne die Fähigkeit des Menschen [aber], etwas oder jemand als [idealisiertes] Selbstobjekt zu gebrauchen, gäbe es […] keine Kultur, somit auch nicht das gottesdienstliche Ritual“ (163). Die andere Dimension des Gesprächs, in dem „Ich“ und „Mich“ stets begriffen sind, ist stärker von der Kommunikation mit den anderen abhängig als eine Sache des bewussten oder unbewussten inneren Selbstgesprächs: „Ich“ als ein bewusstes Subjekt reflektiert mit anderen Worten stets auf „Mich“ als die Weise, wie es von anderen als „Objekt“ wahrgenommen bzw. angesprochen wird. Es besteht also eine Differenz von Selbstbild (das schon durch die Außenwelt mitgeprägt ist) und Fremdentwurf (der mit dem Selbstbild in Konflikt geraten kann), und diese Differenz ist auszugleichen. Dazu ist die ritualisierte Form eine gesellschaftlich anerkannte Konstruktion (d. h. das Ritual kann diesen Ausgleich nur bewirken, wenn es gesellschaftlich anerkannt ist). Nur wenn „Ich“ und „Mich“ also in einem konstruktiven Gespräch sind, ist Identität zu gewinnen, und dafür, dass sie in einem konstruktiven Gespräch sein können, bereiten Rituale den Weg. Sie sind in diesem Zusammenhang als Regeln zu begreifen, „im Rahmen derer die Menschen auf der Suche nach Identität miteinander umgehen“.28 Offensichtlich ist das bei Begrüßung und Abschied, bei Zuvorkommenheit und bei Vermeidung, bei Formen also, die deutlich machen, dass ein Kontakt sehr erwünscht ist, oder dass ein Kontakt jetzt nicht aufgenommen oder ———— 27 Kohuts Forschungen zum Narzissmus sind einen Schritt über Freud hinaus gegangen, indem sie den Begriff neu zu bewerten erlauben (vgl. Odenthal, Liturgie als Ritual, 161). Kohut zufolge ist der Narzissmus unhintergehbar, eine schicksalhafte Verknüpfung zwischen der psychischen Realität des und den kommunikativen Anforderungen an den Menschen von allem ontogenetischen Anfang an, und also nicht nur eine Stufe der Entwicklung im Stadium der Unreife, die überwunden werden könnte. Wohl aber kann der primäre und sekundäre Narzissmus nach Freud (mit all seinen pathologischen Optionen [vgl. Dober, Seelsorge, 136ff]) in ein reifes Selbstverhältnis transformiert werden, in dem die „Selbst-Selbstobjekt-Beziehung“ integriert und aufrechterhalten wird (Odenthal, Liturgie als Ritual, 161). 28 Josuttis, Der Gottesdienst als Ritual, 48.

88

weitergeführt werden möchte. Man kann auch sagen: Rituale sind Formen, die ein Theaterspiel ermöglichen, in dem ein angefochtenes Selbstwertgefühl sich hinter einer Maske bergen kann. Die mit Goffman so begriffenen, „mechanisch“, „konventionalisiert“ und also zur puren Gewohnheit gewordenen Rituale haben aber ihre unverzichtbare Funktion: Gesellschaften müssen „ihre Mitglieder dazu bringen […], selbstregulierend an sozialen Begegnungen teilzunehmen. Ein Mittel dazu ist das Ritual.“ Um es mit Goffmans Worten zu sagen: „Dem Individuum wird beigebracht, wahrnehmungsfähig zu sein, auf das Selbst bezogene Gefühle zu besitzen und ein Selbst, das durch Image ausgedrückt wird, Stolz, Ehre, Würde, Besonnenheit, Takt und ein bestimmtes Maß an Gelassenheit zu besitzen.“ (48 zit. Goffman) Image ist zu verstehen als „ein in Termini sozial anerkannter Eigenschaften umschriebenes Selbstbild“. „Das Image eines Menschen ist etwas Heiliges und die zu seiner Erhaltung erforderliche expressive Ordnung deswegen etwas Rituelles“ (49 zit. Goffman). Auch diese Theorie hat Erklärungskraft für den Zweck, den sogar bloß äußerliche, mechanisch funktionierende Rituale haben können. Goffman vermag Licht zu bringen in die Tatsache, dass Rituale im alltäglichen Leben eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen. Wenn man den Gottesdienst von außen betrachtet und mit ähnlichen Veranstaltungen vergleicht, so ist auch er „ein System von interaktionalen Vollzügen, durch das eine Gruppe von Menschen für sich und ihre Mitglieder in einer bestimmten Situation ihre Identität sicherstellt.“29 Diese Definition von Josuttis trifft in der Tat den rituellen Charakter des Gottesdienstes. Doch auch die Grenze der Reichweite dieser Theorie lässt sich mit ihm bestimmen. Das mit Goffmann begriffene Ritual „ist in seiner Leistungskraft […] auf einen bestimmten Teilnehmerkreis beschränkt, auf die Insider-Group nämlich, die in den Verhaltensbedingungen der jeweiligen Situation eingeübt ist. Jeder andere, der eine solche Ritualsituation zum ersten Mal mitspielt, ist in der Rolle des Außenseiters, hat entsprechend mit starken Unsicherheitsgefühlen zu tun und muss das rituelle Verhalten erst mühsam erlernen. Rituelle Interaktion liefert Identität nur unter der Bedingung sozialer Zugehörigkeit und regelmäßiger [Teilnahme].“30

———— 29 Josuttis, Der Gottesdienst, 50 mit Bezug auf Josuttis, Praxis des Evangeliums, 189. 30 Josuttis, Der Gottesdienst, 49. Zusammenfassend lässt sich sagen: „Rituale spielen sich im Alltagsverhalten ab, im Zeremoniell des Zwangsneurotikers, in der frühen Beziehung zwischen Mutter und Kind, im Ablauf einer Begrüßung zwischen zwei Menschen auf der Straße oder auf einer Party. Jedem dieser Alltagsrituale eignet insofern ein religiöses Moment, als es der Herstellung einer Ordnung dient, die den Einbruch eines lebensbedrohenden Chaos abwehren soll […]. In allen Theorien hat das Ritual dergestalt eine religiöse Funktion, dass es mehr oder weniger […] real die Erfahrung von Heil vermitteln soll“ (Josuttis, Der Gottesdienst, 50, Hervorhebung v. Vf.).

89

Insgesamt haben Rituale mit Übergängen zu tun. Arnold van Gennep31 hat drei Phasen des Passageritus ausgemacht: Erstens findet eine Trennung von anderen Räumen und Zeiten statt: die Lebensschwelle wird in Abgrenzung vom Alltag begangen in einem Zeitraum, in dem die Arbeit ruht und an einem Ort, der von denen alltäglicher Verrichtung unterschieden ist. Zweitens wird die eigentliche Schwellenphase als ein eigener Erlebnis- und Erfahrungsraum gestaltet, in dem besondere Regeln gelten. Und drittens bedarf es der Rückkehr aus diesem Erlebnis- und Erfahrungsraum auf der Schwelle in das alltägliche Leben, damit dieses (gewissermaßen erneuert) seinen Fortgang nehmen kann. Ohne solche klare Strukturierung könnte das Fest nicht Fest und der Alltag nicht Alltag bleiben. Um diese Unterscheidung durchzuhalten, übt der Ritus seine Funktion aus. Ohne Schwierigkeit ist der Gottesdienst auch in dieser Hinsicht als ein Ritual anzusehen, stellt er doch – antistrukturell zum Alltag – eine „Unterbrechung des übrigen Lebens“32 dar; die Struktur dieser Unterbrechung ist aber durch die Liturgie gegeben. Doch der Gottesdienst ist längst schon nur noch ein Ritual unter anderen: Man kann das mit dem von van Gennep skizzierten Schema auf alle möglichen Situationen des privaten und des öffentlichen Lebens von der Geburtstagsfeier über den Urlaub bis zu einer Schwelle zeigen, die eine Gesellschaft als ganze zu nehmen hat. Die letzte Schwelle dieser Art ist in Deutschland wohl mit dem Umzug der Regierung von Bonn nach Berlin begangen worden – als ein symbolischer Vollzug der Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Durch die Verhüllung des Reichstags ist auch diese Schwelle in einem Ritus begangen worden, der allerdings auf private Initiative zurückging und keine institutionalisierte Legitimation kannte.33 In Weiterentwicklung des Drei-Phasen-Schemas van Genneps hat Victor Turner zwei Funktionen des Schwellenrituals unterschieden, die in den modernen Gesellschaften nicht mehr so stabil aufeinander bezogen sind wie in stärker an die Tradition gebundenen. Ihm zufolge „spielt“ das Ritual in einem ganz formalen Sinn zwischen Struktur und Anti-Struktur.34 Zum einen stellt das Ritual sicher, dass der Übergang selbst eine Struktur hat, sich in festen Formen vollzieht und also den Fortgang des gesellschaftlichen Lebens gewährleistet auch dann, wenn es unterbrochen wird. Zum anderen öffnet sich aber auf der Schwelle auch ein Freiraum, in dem das normale Leben suspendiert (eingeklammert, unter Vorbehalt gestellt) ist, ———— 31 Vgl. van Gennep, Rites de passage [1909]. 32 Schleiermacher, Praktische Theologie, 70. 33 Vgl. dazu V. Drehsen, Bürger-Eucharistie. „Wrapped Reichstag“ im Spiegel der Pressereaktionen: ein Lehrstück ästhetischer Kultreligion, in: K. Fechtner (Hg.), Religion wahrnehmen [Festschrift für F. Daiber], Marburg 1996, 185–200. 34 V. Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, 1989.

90

und Neues ausprobiert werden kann. Die Erhaltung des „übrigen Lebens“ also hier und seine Erneuerung dort sind von den traditionellen Ritualen so zusammengefasst worden, dass die Struktur nicht durch die Anti-Struktur gefährdet wurde. Auch wenn das Ritual konservativ ist, kennt es doch das unterbrechende Moment des Lebens und muss mit ihm umgehen. Das antistrukturelle Moment in der Schwellenphase des Rituals kann sehr unterschiedlich aussehen, je nachdem, ob man – wie Turner – hierbei traditionelle Stammesbräuche in Afrika (konkret: bei den Ndembu) vor Augen hat, das Noviziat in Klöstern der mittelalterlichen Kirche (er nennt als Beispiel die Ordensregel des heiligen Benedikt35) oder Darstellungen aus der Literatur und dem Film. Auch der Gottesdienst kennt eine eigentliche Schwellenphase, die man entweder in der individuellen Meditation erblikken kann oder im Hören auf die (ebenfalls individuelle) Rede des Predigers. Ob der Gottesdienst anlässlich einer Geburt, des Erwachsenwerdens, einer Hochzeit, eines Trauerfalls oder an einem gewöhnlichen Sonntag stattfindet – jeweils eröffnet er einen Freiraum, der es gestattet, Abstand zu gewinnen zum Alltag, zu den zu spielenden sozialen Rollen und den Unterschieden im gesellschaftlichen Leben. Für moderne Gesellschaften ist es nun kennzeichnend, dass sich dieses unterbrechende Moment (nach Turner das „liminoide“) vom erhaltenden, strukturierenden Moment (der „Liminalität“) abgelöst hat. Es ist durch eine allgemein nicht näher zu bestimmende „kulturelle Kreativität“ gekennzeichnet. Eine bunte Vielfalt von Freizeitritualen ist auf den Plan getreten, die in Freiräume über die Rollen und Routinen des Alltags hinaus führen, Freiräume, in denen die Dinge des Lebens in „Fluss“ geraten können: bis hin zum Extremsport.36 „Film und Literatur, Theater und Fußballstadien, Hobbys und die Inseln des Urlaubsglücks“37 lassen sich hier nennen. Die Grundstruktur des gesellschaftlichen Lebens trägt ritualisierten Charakter. In dieser Perspektive kann auch das Rituelle im Gottesdienst als solches hervortreten. Zugleich stellt sich aber die Frage, wodurch der Gottesdienst als Ritual sich von anderen Riten des Alltags unterscheidet. Nach Turner öffnet sich auf der Schwelle ein Freiraum, in dem mit dem normalen Leben auch alle Unterschiede von gesellschaftlichem Status, Verdienst, Reichtum und Besitz eingeklammert werden können, um die Erfahrung einer elementaren Mitmenschlichkeit zu ermöglichen. Er nennt das „communitas“ und beschreibt, was er meint, mit Bubers Verständnis der Gemeinschaft als „das Nichtmehr-nebeneinander, sondern Beieinander ———— 35 Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 254. 36 Vgl. zur „Fluss-Erfahrung“ als eines „Erlebens des Verschmelzens von Handeln und Bewusstsein“: Turner, Vom Ritual zum Theater, 88–92, 89. 37 Gräb, Lebensgeschichtliche Sinnarbeit, 225.

91

einer Vielzahl von Personen, die […] ein Fluten von Ich und Du erfährt“38: jeweils geht es um die „Anerkennung einer [wesentlichen] […] und [allgemeinen] menschlichen Beziehung, ohne die es keine Gemeinschaft gäbe“.39 Im christlichen Gottesdienst ist solche Erfahrung wohl vor allem im Abendmahl zu machen, das eine Gemeinschaft vorwegnimmt, die im sonstigen Leben nicht ist, und somit auf eine elementare menschliche Erfahrung verweist. Durch den Ritus ist die Struktur hier vorgegeben, er bereitet ein mögliches „communitas“-Erlebnis vor und regelt den Übergang zurück in das gewöhnliche, alltägliche Leben. In der Theorie des Rituals sind Spannungsverhältnisse zur Darstellung gebracht, aber auch aufgehoben. Sie kann als ein Teil der Theorie des Lebens verstanden werden, sofern in ihr Einsamkeit und Gemeinsamkeit, Alltag und Fest (Feier), Arbeit und Muße (Freizeit), Gegenwart und Geschichte (kondensiert in Mythos und Symbol) praktisch vermittelt werden.40 In ihrer Perspektive richtet sich der Blick auf die bestimmten Funktionen, die das Ritual erfüllt, um die Gegensätze des Lebens in einem spannungsvollen Gleichgewicht zu halten. Deren Sinn und Zweck ist es, den Gleichklang des Lebens aufrechtzuerhalten, und zwar sowohl des individuellen (wie die Psychoanalyse lehrt) als auch des sozialen, des geselligen, des Lebens in der Gesellschaft, in der Gemeinschaft (wie später V. Turner, E. Goffman, M. Douglas u. a. lehren). Der Gleichklang des Lebens ist aber wesentlich ein Leben „im Gleichklang mit der Zeit“,41 und d. h. eigener Zeit mit der Zeit des anderen im Horizont einer Weltzeit, von der sich – wie oben gezeigt – auch eine Heilszeit unterscheiden lässt. Das Ritual als Teil der Theorie des Lebens steht aber – wie das Leben auch – unter der Bedingung, dass es gelingen möchte. Unter welchen Bedingungen müssen Rituale scheitern, unter welchen können sie gelingen? Das Ritual ist ein „Weg in das Leben“ (Josuttis) nur, wenn es weder zur Form erstarrt noch in Beliebigkeit aufgelöst wird. Zudem besteht die Ambivalenz in einer psychoanalytischen Perspektive darin, dass es zur Regression einlädt. Ein Schritt auf dem Weg ins Erwachsenenalter, und dann auch zu erwachsener Religiosität, kann das Ritual nur sein, wenn sich die Teilnahme an ihm zwischen Unmittelbarkeit und Reflexion (im Sinne einer durch Gedanken vermittelten und also selbst gesteuerter Praxis) bewegt.42 ———— 38 Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 259. 39 Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 253. 40 Vgl. Rosenzweig, GS II, 323 [Stern III]. 41 Theunissen, Negative Theologie, 327. 42 Vgl. Odenthal, Liturgie als Ritual, 190. So gesehen besteht in der Tat eine Analogie zwischen Traum und Ritual: beide verschaffen Zugang zur Sphäre des Unbewussten, doch der Ausdruck und die Darstellung von Konflikten (auch in einer diese aufhebenden Form) bedarf erst noch der Deutung, um heilsam sein zu können. Der reflektierende Zugang zum Ritual folgt dem Modell,

92

Martin Luther, der einschlägige Erfahrungen mit dem Scheitern des Rituals gemacht hat, hat dennoch seine Wichtigkeit gesehen. Er fasst ein sinnvolles, angemessenes Verhältnis zum Ritual in folgenden Vergleich, der deutlich macht: der Umgang mit diesen Formen erfordert Maß und Beweglichkeit. Ich zitiere aus seiner Schrift „Von den Konzilis und Kirchen“ aus dem Jahr 1539: „Diese äußerlichen und freien Stücke wollen wir wie ein Taufhemd oder Windeln achten, in die man das Kindlein hüllet zur Taufe. Denn das Kindlein wird nicht getauft oder heilig durch das Taufhemd oder durch Windeln, sondern bloß allein durch die Taufe. Trotzdem gebietet es die Vernunft, dass man es so in ein Tüchlein hülle. Wenn es unrein oder zerrissen wird, nimmt man ein anderes. Und so wächst das Kindlein ohne alles Zutun der Windeln oder des Taufhemds. Doch dass man hier abermals Maß halte und nicht zu viele Taufhemden oder Windeln nehme, damit das Kind nicht erstickt werde. Ebenso sollen auch die Zeremonien ein Maß haben, damit sie nicht zuletzt eine Last und Mühe werden, sondern so leicht bleiben, dass man sie nicht fühlt, gleichwie bei einer Hochzeit niemand Last oder Mühe fühlt, wenn er sich wie die anderen verhält oder gebärdet.“43

Der Umgang mit Ritualen erfordert Maß und Beweglichkeit: zuviel ist ungesund, und nicht jeder Situation ist das gleiche Ritual angemessen. Am besten ist es, wenn es als Form, als Umgangsform so selbstverständlich geworden ist, dass es die Freiheit nicht behindert, zu wachsen, neue Wege zu gehen, und vor allem: sich zu freuen und zu danken.

3.2 Die Vernunft des Rituals: Es schafft die Bedingungen spezifischer Erfahrung gemeinsamer Zeit (zweiter Anschluss an Rosenzweig) In der Beschreibung der Funktionen des Rituals ist dessen Vernunft schon angeklungen. Überhaupt bietet das kirchliche Kasualhandeln sich an, um die praktisch-theologische Tragweite einer Besinnung auf die Rituale zu erkennen. Anlässlich des Umgangs mit Kontingenz, mit Außeralltäglichem wie etwa Geburt und Tod haben die Grundfunktionen des Rituals auch in den westlichen, ihrer positiv-religiösen Bindung entwachsenen Gesellschaften an Bedeutung kaum verloren.44 In welchen Spannungen und unter den ———— nach dem E. Cassirer zufolge auch die Symbole in der Differenz von Mythos und Religion zu gebrauchen sind (s. u. Kapitel 6). 43 Zit. nach Bahr, Ritual und Ritualisation, 158. 44 Besonders sprechend ist in diesem Zusammenhang die Beschreibung der Bestattung, die D. Rössler gegeben hat (vgl. Ders., Die Vernunft der Religion, 29ff; Ders., Grundriss, 228ff). S. u. Kapitel 6, erster Abschnitt.

93

Bedingungen welcher Entfremdung diese Funktionen heute greifen können, zeigen einige neuere Filme sehr treffend.45 Im Zusammenhang verstanden dienen die Rituale der Bildung des einzelnen, der sich seiner Einbettung in allgemeinen Zusammenhängen bewusst wird bzw. bewusst geworden ist. Zwar gehört es zu den geistigen Merkmalen der Situation der Gegenwart, dass einerseits das Bewusstsein um eine solche Einbettung des Individuellen in allgemeinen Zusammenhängen schwächer geworden ist, andererseits aber der einzelne nach dem Sinn und der Bestimmung je seines Lebens suchen muss (und d. h. er muss mit sich experimentieren).46 Das religiöse (und hier: das kirchliche) Ritual bietet aber eine Gelegenheit, in diesem Spannungsverhältnis einen festen Stand zu gewinnen und einen Zugang des Individuums zum problematisch gewordenen Allgemeinen zu ermöglichen. Wenn ich nun nach einem ersten – humanwissenschaftlichen – Zugang zum Begriff des Rituals noch einmal auf Rosenzweig zu sprechen komme, dann geschieht das in dem Interesse, die ritualtheoretischen Erwägungen mit denen über die Zeit-Erfahrung zu verknüpfen. Mit Blick auf sein Hauptwerk war schon zu zeigen, wie eine Liturgik entwickelt werden kann, die die Zeit ernst nimmt. Im Anschluss an Rosenzweig sind die Gesichtspunkte und Argumente zu gewinnen, die es rechtfertigen, der Erfahrung der Zeit einen methodischen Vorrang vor der Erfahrung des Raumes zuzusprechen.47 Denn im „Stern der Erlösung“ liegt eine systematische Rekonstruktion der Ordnungen von Ritual und Symbol in Juden- und Christentum vor, wie sie sich aus der philosophischen Voraussetzung eines dreidimensionalen Erfahrungsbegriffs erschließen. Dieser Faden ist nun wieder aufzunehmen, um zu zeigen, wie eine Liturgik entwickelt werden kann, die das Verhältnis ———— 45 Mit Blick auf die ambivalente Gefühlslage der Betroffenen anlässlich eines Todesfalls bringt etwa „Moonlight Mile“ (USA 2003, Regie: B. Silberling) die – immer noch unverzichtbare – Ambivalenz des Rituals anschaulich zur Darstellung. Einerseits ist das Ritual notwendig, andererseits kann es aber auch hilflos bis zur Lächerlichkeit sein. In witziger Verfremdung ist dies auch in „About Schmidt“ [USA 2002, Regie: A. Payne] zu sehen. 46 Vgl. Theunissen, Selbstverwirklichung und Allgemeinheit. Das gilt auch für die Kunst der Moderne als Medium des Ausdrucks und der Darstellung von Erfahrung, die „kaum mehr […] möglich“ ist, wenn sie „nicht auch experimentierte“ (Adorno, Ästhetische Theorie, 62). 47 Durch die folgende Darlegung ist somit eine Gegenthese zu der zu vertreten, die Wolf-Eckart Failing entfaltet hat. Ihm zufolge verweist die Erfahrung des Rituals zuerst auf den Raum, wie es durch die Metaphorik von „Grenze“ und „Schwelle“ bei V. Turner nahe gelegt scheint (Ders., Die eingeräumte Welt und die Transzendenz Gottes, in: Ders./Heimbrock H.-G., Gelebte Religion wahrnehmen, 91–122, 118f). Die Frage nach dem Verhältnis von Raum und Zeit in der Grundlegung der Liturgik ist verwickelt, weil ihre Beantwortung jedenfalls auch an den komplexen Rekonstruktionen des Verhältnisses von mythischem und religiösem Bewusstsein hängt, wie es am Leitfaden der „Philosophie der symbolischen Formen“ Cassirers nachvollzogen werden kann. S. u. zum Kapitel 6 [Die Symbole der Liturgie]. Die Diskussion um das Verhältnis von Raum und Zeit ist im Kapitel 4 [Der Raum der Liturgie] aufzunehmen.

94

hältnis von Sozialität, Identität und Erkenntnis auf den Weg und zur Darstellung zu bringen vermag, die auf den Ordnungen eben von Ritual und Symbol aufbaut. Ohne Medien, Symbole und Rituale gäbe es keine Orientierung in der Welt, keine Darstellung der eigenen Sicht der Dinge, keine Kommunikation über sie, und also auch keine Bildung und Pflege eines kulturellen Gedächtnisses. In einer historischen Sicht, die Rosenzweig selbstverständlich voraussetzt, kann man sagen: Der religiöse Kult überhaupt, gleich in welcher „positiven“ Religion, kann als „das ursprüngliche Zentrum der sich über Medien konstituierenden humanen Kultur“ gelten.48 Auch wenn die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der „Kulte mit ihrem Zeremonial, ihren Festen“49 in der Moderne geschwunden ist, und in den westlichen Gesellschaften – so wird man ergänzen können – vielfältig pluralisierten Privatkulten Platz gemacht hat, können doch die institutionalisierten Religionen auf sie nicht verzichten. Rosenzweig selbst hat einen ritualtheoretischen Zugang, wie ich ihn anhand einiger humanwissenschaftlicher Zeugen umrissen habe, selbst so nicht entfaltet. Doch in seiner Darstellung des synagogalen Jahres im Judentum und des Kirchenjahrs im Christentum baut er selbstverständlich auf das Ritual als Form der Liturgie auf. Seine Darstellung unter den empirischen und kulturtheoretischen Voraussetzung der Theorie des Rituals zu lesen, kommt dem Verständnis der hier dargestellten Zusammenhänge aber entgegen. Der Vorteil dieser Methode scheint mir zum einen darin zu bestehen, den Anspruch dieses Werkes einzulösen, die „religiöse Gemeinschaft durch ihre Liturgie“ auslegen zu können.50 Indem zum anderen Rosenzweigs Liturgik auf ihre Grundlegung im „Stern“ (und d. h. auf das hier entfaltete Wirklichkeits- und Wahrheitsverständnis) bezogen wird, wird aber auch die Reichweite ritualwissenschaftlicher Theorien relativier- und begrenzbar. Zudem wird sich die bunte Vielfalt ihrer pluralen Zugänge in ein Bild zusammenfassen lassen, das seine Einheit im Bezug auf die Frage nach der Wahrheit gewinnt. In folgenden Hinsichten kommt Rosenzweigs Beschreibung des liturgischen Jahres in Juden- und Christentum mit der funktionalen Theorie des Rituals überein: Die in Stern III dargestellten liturgischen Ordnungen stiften Gemeinschaft vermittels symbolischer Formen. Beide Aspekte der Ordnung im Sozialen und im Metaphysischen51 sind in der Schöpfungsgeschichte von Genesis 1 miteinander verknüpft. An die Stelle einer chaotischen Erfahrung ———— 48 49 50 51

Gräb, Sinn fürs Unendliche, 157. Benjamin, GS I/2, 611 [Über einige Motive bei Baudelaire]. Vgl. J. Taubes, Die politische Theologie des Paulus, 50 (s. u. Kapitel 6). W. Jetter, Symbol und Ritual. Anthropologische Elemente im Gottesdienst, 87–121, 93.97f.

95

tritt die geschaffene Ordnung, die hier primär durch den Wochenrhythmus gegeben ist. Damit ist eine Form gemeinsamer Zeit vorausgesetzt. In ihr kann die Integration des einzelnen in die Gruppe (Familien, Stämme, Völker) stattfinden. Das ist insbesondere am Sabbat deutlich zu machen. Der Sabbat ist die Basis des Rituals52: Anti- bzw. Metastruktur des Alltags, und Struktur im liturgischen Jahr, auf die die Metastruktur der anderen Feste mit dem Höhepunkt am Jom Kippur aufbauen kann. Als Mittel, durch das Menschen sich „des Unterschieds zwischen Chaos und Ordnung bewusst werden“,53 haben Rituale offensichtlich eine bildende, identitätsbildende Funktion, wie es der Umgang mit Kindern lehrt. Sie gewährleisten Sicherheit im Verhalten und tragen eben so zur Identitätsbildung des einzelnen bei. Die Bedingung hierfür ist: Man muss in eine bestimmte Praxis eingeweiht sein, die sich auf einen sozialen Bereich bezieht, in welchem die Geltung bestimmter Formen des Verhaltens außer Frage steht.54 Die durch das Ritual in die (soziale) Welt gebrachte Ordnung setzt aber auch Grenzen, d. h. sie grenzt auch ab. Nach Rosenzweig spricht sich das Wir-Gefühl der Gemeinschaft in der Sprache des „Wir“ aus, und setzt damit in der Ordnung der Grammatik den Unterschied zum „Ihr“ als den anderen.55 So entfalten Rituale eine eigene Macht, die nicht ohne Ambivalenzen ist.56 Welche eigenen, spezifischen Akzente setzt der Stern nun? Erstens bindet Rosenzweig die Funktionen des Rituals an die Erfahrung der Zeit, genauer: das Ritual schafft die Bedingungen der Möglichkeit spezifischer Zeiterfahrungen in der Gemeinschaft. Es bewahrt die Festlegung eines Punktes in der Zeit, eines Augenblicks als nunc stans zum Fest. Mit Blick auf das individuelle Leben bietet die Stunde, die schlägt, die Bedingung der Möglichkeit, dass Lebens- und Weltzeit einander entsprechen (und, wie Rosenzweig mit Blick auf Goethe sagt, dass das Gebet des Gläubigen das des Ungläubigen ergänzt, insofern von ihm zu fordern ist, „dass es weder zu früh noch zu spät komme“57). Mit Blick auf das Leben der Gemeinschaft sorgt der Kult dafür, dass die Ewigkeit in der Zeit erfahrbar werden kann. Er bereitet die Zeit „zum Besuch der Ewigkeit“, und zwar „die Zeit Aller“58 zur „Gnadenzeit“. So wird die Stunde zum „Bürgen der Ewigkeit in der ———— 52 Vgl. Rosenzweig, GS II, 347f [Stern III]. 53 Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 17. Rituale entlasten auch von Entscheidungen, insofern sie die bewahrenswerte Ordnung symbolisieren (vgl. Jetter, Symbol und Ritual, 94). 54 Vgl. Jetter, Symbol und Ritual, 95. 55 Rosenzweig, GS II, 263f [Stern II]. 56 Vgl. hierzu: P. Bahr, Ritual und Ritualisation, 158. 57 Rosenzweig, GS II, 321 [Stern III]. 58 Rosenzweig, GS II, 325 [Stern III].

96

Zeit“,59 und das Jahr als Ordnung der Stunden der Versammlung der Gemeinde „zum vollgültigen Stellvertreter der Ewigkeit“60. Das Ritual übt hier seine Funktionen im Rahmen einer Liturgie aus, die die Zeit ernst nimmt. Zweitens bindet Rosenzweig seine Auffassung vom Kult an die in Stern II entwickelte Sprachphilosophie. Für ihn ist das Ritual grammatologisch fundiert in der Ordnung der durch Sprache geschaffenen Welt. Und so lässt sich aus dem Zusammenhang seiner Gedankenentwicklung sagen: Rituale und Gesten sind Formen der Sprache (wenn Sprache denn Medium der Mitteilung überhaupt ist61). Sprachliche Vollzüge lassen sich aber weder auf ihre semantischen noch auf ihre kommmunikativen Aspekte reduzieren (wie sie etwa die Sprechakttheorie thematisiert). Beide sind zusammen zu sehen, wenn man den Vollzügen wirklicher Sprache in der nachdenkenden Theorie einigermaßen gerecht werden will. Drittens sind Rituale Kunstformen, vom Menschen gestiftet. Wenn man den Standpunkt eines Betrachters von außen einnimmt, kann man das liturgische Jahr als Darstellung eines einzelnen „Weltbilds“ betrachten, das einer Bemerkung aus der Einleitung zu Stern I zufolge auf einer leeren Wand hängt, und andere Bilder neben sich gestattet. In seiner Analogie zum „Weltbild“ hat das Ritual als Kunstgestalt (Kunst hier in der weiten Bedeutung genommen, die Gebärde, Geste, Ritual und Theater einschließt) den logischen Charakter eines „eingeschlossenen Eins“, das zugleich ein „ausschließendes All“ ist.62 Als „performances“ haben die Rituale eine darstellende Funktion mit Blick auf kulturelle Sinn- und Handlungsmuster, zu deren Reproduktion sie beitragen. Diese Funktion verweist das Ritual auf die Bühne der Kunst.63 Es verwundert also nicht, dass Theoretiker des Rituals wie R. Grimes, V. Turner und R. Schechner sich der Performance im Theater zugewandt haben, um Regeln zu erkennen, „die es erlauben, den Sinn von Handlungen zu dekonstruieren und zu re-konstruieren“.64 In Ritualen findet eine „performative Sinnkonstitution“ (Roy A. Rappaport) statt, die von der durch das Bewusstsein zu unterscheiden ist. So weist die integrative Funktion ritualisierter performances eine Nähe zu performativen Sprechakten insofern auf, als ———— 59 Rosenzweig, GS II, 323. 60 Rosenzweig, GS II, 360. Das lässt sich auch für den Sabbat zeigen: Er „verleiht dem Jahr Dasein“ (GS II, 344), und ist der „gewissermaßen naturhaft ewige Boden des Jahres“ (GS II, 351). 61 Vgl. Benjamin, GS II/1, 140–157 [Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen]. 62 Vgl. Rosenzweig, GS II, 14 [Stern I]. 63 Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 12. Wenn man für diese Aspekte einen Ort in Rosenzweigs Ästhetik sucht, wird man auf die unter der Kategorie der Erlösung dargestellte Rezeptionsästhetik verweisen können. Hier werden die Künste thematisch, insofern sie „mitten auf den Markt des Lebens hinaus“ treten (GS II, 276 [Stern II]), um vom Publikum rezipiert zu werden. 64 Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 13.

97

das Ritual vollbringt, was es verspricht: Es stellt nicht nur dar, sondern es integriert. Dieser Zweck ist sein Sinn. So ist Teilnahme möglich auch ohne den völligen Nachvollzug derart „performativer Sinnkonstitution“ im Bewusstsein und Selbstbewusstsein. Mit Theodore W. Jennings kann man das Ritual selbst als ordo cognoscendi begreifen. Er betrachtet das Ritual bewusst oder unbewusst immer schon vorauszusetzendes Muster des Verhaltens zur Umwelt, das durch Sozialisationsprozesse weitergegeben und erst einmal als selbstverständliche Gegebenheit angenommen wird, kurz: als ein Integral von Kommunikationsprozessen. In diesem Sinne ist das Ritual eine eigene Vollzugsform des Handelns, doch nicht als „eine sinnlose Wiederholung von Handlungsabfolgen“65 – das wäre der noch nicht ausreichend differenzierte konventionelle Begriff –, sondern als „Vollziehen kognitiver Funktionen“ eben in der Form des Rituals, durch die – neben anderen – „Menschen ihre Welt auslegen und konstruieren“.66 Dass „rituelles Wissen […] nicht durch losgelöste Betrachtung oder Kontemplation gewonnen [wird], sondern durch Handeln“,67 verdeutlicht Jennings am Abendmahl und am Vaterunser. Denn für beide Vollzüge wird gelten können: „Die Teilnahme am rituellen Handeln erzeugt Wissen über das rituelle Handeln selbst“.68 „Ich entdecke nicht, was mit dem Abendmahlskelch zu tun ist, wenn ich ihn nur ansehe, sondern nur, indem ich ihn ‚in die Hand nehme‘“. Wie der Fuß beim Tanz „den passenden Schritt“ entdeckt, „den ich dann ‚im Kopf‘ als geeignet oder als richtig erkennen kann“, so auch „meine Hand […] die passende Haltung [beim Abendmahl]“.69

Das im Ritual (vor-schriftlich) gespeicherte Wissen ist „eher körperlich als vernunftorientiert, eher aktiv als kontemplativ, eher transformativ als spekulativ“.70 Man muss am rituellen Vollzug teilnehmen, um ihn zu verstehen.71 Jennings nennt rituelles Wissen „praxologisch“,72 „Wissen in actu“, das selbstverständlich auf (von protestantischen Kritikern) sog. „mechanischen“ Handlungsvollzügen aufbaut. Paradigmatisch für dieses „Wissen, das im Handeln vom Handeln gewonnen wird“,73 ist eben auch das gemeinsame Gebet des Vaterunsers; hier zeige sich der reflexive Charakter des ———— 65 Belliger/Krieger, Ritualtheorien 168. 66 Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 157f. 67 Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 161. 68 Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 165. 69 Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 161. 70 Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 160. 71 „Wer nicht tanzt, wird nicht wissen, was geschieht“ (Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 166 zit. van der Leeuw). 72 Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 168. 161. 73 Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 165.

98

rituellen Handelns: es durchformt „alles Handeln, das durch das Ritual selbst ‚geleitet‘ oder ‚bedingt‘ ist.“74 Wenn man also auf dem Hintergrund der eben referierten ritualtheoretischen Ansätze von Rappaport und Jennings die in Stern III dargestellten Liturgien als Ritual begreift, wird man sagen können: Für die Teilnehmenden gehen sie der Darstellung mit den Mitteln des Bewusstseins voraus, die Stern I und II geleistet hatte. Derart rückwärts gelesen wird die Konstruktion der Elemente der Erfahrung (Stern I) und ihre Rekonstruktion (Stern II) in einer vorausgehenden „Erfahrung“ begründet sichtbar: Sinn kann nur intersubjektiv, kommunikativ konstituiert werden, und das Ritual ist – als Sprache – eine Form solcher Sinnkonstitution. So betrachtet ist auch im Zusammenhang des Rosenzweigschen Denkens das Ritual ein konkretes Beispiel für das, was Wittgenstein „Lebensform“ nannte: eine pragmatische und kommunikativ gegebene Basis der Erkenntnis.75 Auch mit Blick auf den Stern scheint es so zu sein, „als stehe das Ritual am Anfang des Wissens“.76 Die Liturgien in Juden- und Christentum transportieren deren Welt- und Sinnorientierung. So lässt das jüdische Jahr „das Wandelbild des ewigen Weltgangs des Volkes erschauen“.77 Indem es, als synagogales Jahr, die Widersprüche des jüdischen Lebens in der Spanne wirklich gelebter Zeit darstellt, ordnet es den der Wesensschau sich bietenden „Wirrwarr“ „zum durchsichtigen Reigen“.78 So macht der Kult als Kunstform das Wesen in der Wirklichkeit (der vergehenden Zeit) sichtbar, erlebbar und erfahrbar. Er bindet die Wirklichkeit an das Wesen und vice versa. So kann er in Anlehnung an ein Wort Hegels als „sinnliches Scheinen der Idee“ verstanden werden, erschöpft sich aber nicht in dieser Bestimmung. Der gemeinsame Vollzug des Rituals ist auch als eine Inszenierung zu begreifen, die eine bestimmte Erfahrung von Wirklichkeit dadurch konstituiert, dass die Teilnehmer am Ritual für wahr halten, was sie erleben. Zusammenfassend lässt sich sagen: Rituale sind Formen der Sprache und Kunstformen, die der Erfahrung wirklichen Lebens den Weg bereiten. Aus diesen beiden Bestimmungen (Formen der Sprache und der Kunst zu sein) lassen sich nun folgende Begrenzungen für die in Rosenzweigs System brauchbare Theorie des Rituals ableiten: Erstens nimmt Rosenzweig die performativen Aspekte des Rituals in Dienst. Rituale haben eine darstellende Funktion, doch diese ist kein Selbstläufer, als gehe es je und je um performances und nichts als performances ———— 74 75 76 77 78

Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 163. vgl. 166. Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 21. Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 28. Rosenzweig, GS II, 351 [Stern III]. Rosenzweig, GS II, 342.

99

(wie man in der gegenwärtigen Medienkultur meinen könnte). Es kommt auch auf den Sinn an, der den Teilnehmenden integriert, oder zu dem er sich in reflexiver Distanz zu halten vermag. Deshalb sind religiöse Rituale zweitens nie bloße Formen. Sie sind immer auch inhaltlich gefüllt. Auch in religiöser Hinsicht sind Rituale immer schon an Symbole gebunden, und vice versa. Wenn das Ritual „spricht“, dann gilt auch hier: „ich spreche mit dir über eine Sache“. GedächtnisInhalte kristallisieren sich an diese Formen an, weshalb man sagen kann: Durch ihre Rituale haftet die Religion am besten im Leben des einzelnen und der Gemeinschaft.79 Doch das geschieht nicht von selbst, quasi automatisch. Rituale stellen zwar eine Form des kulturellen Gedächtnisses dar, und ihr Vollzug ist als Mnemotechnik verstehbar, um bewahren zu können, was auf keinen Fall vergessen werden darf.80 Was aber im kulturellen Gedächtnis zusammengefasst wird, sind im weitesten Sinne symbolische Gehalte. Bezogen auf ritualisierte Vollzüge verstaubt deren Zusammenfassung aber nicht in Bibliotheken oder lagert auf Dateien, sondern bleibt lebendig auf dem Wege der Wiederholung. Insgesamt bürgen die Rituale für einen Sinn, der zwar individuell angeeignet werden muss, gerade so aber gemeinsamer Sinn bleibt.81 Rituale sind also mehr als bloße Informationsspeicher und Traditionsvermittler. Denn vermöge der an sie ankristallisierten Inhalte sind im religiösen Ritual nicht nur Sach-, sondern auch Wahrheitsgehalte präsent (und zwar sowohl des einzelnen Lebens wie des Lebens einer Gruppe, eines Volkes, einer Kirche): Gehalte einer Wahrheit als Übereinstimmung des Eigenen mit einer Gemeinschaft, einer Weltzeit, einem Glauben an die Heilszeit – und sei es in der Weise, dass die Erfüllung des Wahrheitsanspruches noch aussteht. Auf die Bewährung der Wahrheitsgehalte läuft die Bewahrung (Speicherung) der Sachgehalte hinaus.82 So ist die semantische Dimension ritualisierter (liturgischer) Handlungs- und Erfahrungszusam———— 79 Vgl. Jetter, Symbol und Ritual, 96. Diese Einsicht findet sich schon in Schleiermachers „Weihnachtsfeier“ (1806) entfaltet. S. u. Abschnitt 6.4.2. 80 Diese Funktion hat J. Assmann anhand von Moses Mendelsohns „Jerusalem“, einem auf Warburtons Schrifttheorie aufbauenden Büchlein, herausgearbeitet (Ders., Moses der Ägypter, 165f). 81 Vgl. Jetter, Symbol und Ritual, 97. Im Übrigen ist das Verhältnis von kulturellem Gedächtnis und individuellem Eingedenken, bezogen auf das verwandte Verhältnis von auswendig Gelerntem und inwendig Verstandenem, oder noch allgemeiner (und d. h. formaler) von äußerer Form und innerer Beteiligung ohne Schwierigkeit auf die für die protestantische Tradition so charakteristische Kritik ritualisierter Formen zu beziehen. „Die Verachtung und der völlige Ausfall auswendig gelernter Sprache“, schreibt allerdings G. Ebeling, „ist ein wesentlicher Faktor der heutigen Bildungskrise überhaupt und kommt keineswegs, wie man meinen könnte, der Entbindung eigener Sprachfreiheit zugute“ (Ders., Das Gebet, 223f). Ich komme darauf am Ende anlässlich der Frage zurück, inwiefern das Wesen des Gottesdienstes im Gebet kulminiert. 82 Die Unterscheidung von Sach- und Wahrheitsgehalten übernehme ich von Benjamin (vgl. Ders., GS I/1, 125ff [Goethes Wahlverwandtschaften]).

100

menhänge in einen messianischen Kontext gestellt. Konkret wird das vor allem am Jom Kippur. Hier entspricht die gestische Symbolik der Semantik der Gebete besonders prägnant. Ewigkeit hat der Augenblick des Niederkniens, weil der seine eigene Sünde als menschheitliche auf sich nehmende Beter „jenseits des Grabes“ „vor das Auge des Richters“83 tritt: die Versöhnung ist hier All-Versöhnung, Apokatastasis Panton, Tikkun Olam in der Weise der Antizipation. Drittens ist das Ritual notwendig, um mit der Erfahrung umzugehen, dass menschliche Lebenszeit Frist ist. Um diese Erfahrung nicht nur privat oder selbstreflexiv („im stillen Kämmerlein“) zu kommunizieren, sondern in einer Gemeinschaft, bleibt die Funktion des Rituals auch zurückgebunden an die „Substanz“ des Erwählungsglaubens in Juden- und Christentum. Während der in Stern II entfaltete Offenbarungsglaube seiner Struktur nach Juden und Christen gemeinsam ist (der persönliche Glaube entsteht in dialogischen Verhältnissen, für die die biblischen Texte das grammatische Modell abgeben), unterscheidet sich die Glaubensgestalt beider in Stern III. Hier wird der Christ so beschrieben, dass er immer wieder neu zum Glauben kommen muss, während der Jude qua Geburt immer schon Glaube ist, sich dessen aber erst mit zunehmendem Alter bewusst werden kann.84

———— 83 Vgl. Rosenzweig, GS II, 360ff [Stern III]. 84 Rosenzweig, GS II, 453f [Stern III].

101

4. Der Raum der Liturgie: Räume als Orte der Versammlung erfahren

Du stellst meine Füße auf weiten Raum. Psalm 31, 9b

Um von den Symbolen handeln zu können, muss zuerst die Bedingung thematisiert werden, unter der Symbole darstellbar sind – Symbole der Kunst in den Medien des Wortes, der Musik, der Plastik, der Gemälde, des Films etc. Jeweils ist die Versammlung von Menschen erforderlich, damit die derart kunstvoll dargestellten Symbole wahrgenommen werden können. Das Wort will gehört, die Musik vernommen, die Plastik, Gemälde und Filme wollen angeschaut werden können. Für alle diese Formen der Wahrnehmung ist Konzentration erforderlich, und diese zu ermöglichen, bedarf es des geeigneten (geschlossenen) Raumes als eine Voraussetzung (d. i. ein Gesichtspunkt, auf den hinzuweisen heute alles andere als banal ist, seit die Vielfalt medialer Bilder eher die Zerstreuung als die Konzentration begünstigen1). Während jedoch das Hören von Wort und Musik (jedenfalls vor der durch technische Reproduzierbarkeit ermöglichten Individualisierung und Privatisierung der Rezeption) auf die Gemeinsamkeit der Hörenden zu beziehen ist, können die Werke der bildenden Kunst einsam rezipiert werden. Auch dazu sind allerdings geeignete Räume erforderlich (und die Architektur neuerer Ausstellungsgebäude zeigt, dass sie selbst ein Teil der Ausstellung ist2). Der Film seinerseits setzt wieder in stärkerem Maße die Gemeinsamkeit voraus, wenn man von der Urform seiner Vorführung im Kino ausgeht.

———— 1 Die Dialektik zwischen diesen beiden Begriffen ist von Benjamin entwickelt und von W. v. Reijen (Ders., Die authentische Kritik der Moderne, 100–122) sowie von H. Weidmann (Ders., Flanerie, Sammlung, Spiel. Die Erinnerung des 19. Jahrhunderts bei Walter Benjamin, 119–127) rekonstruiert worden. 2 Das ist etwa in der Pinakothek der Moderne in München der Fall. Zu denken ist darüber hinaus an jedes derartige Gebäude von Rang, etwa auch an die Staatsgalerie in Stuttgart oder an einen Gebäudekomplex wie auf der Museumsinsel in Berlin. Am letztgenannten Beispiel ließe sich auch der historische Bedeutungswandel illustrieren.

102

4.1 Die Gleichursprünglichkeit der Zeit mit dem Raum Wie die Zeit, die vergeht, und wie das Ritual, das wir den sozialen Beziehungen von allem Anfang an voraussetzen müssen, so ist auch der Raum „bereits da, in irgendeinem Sinne begriffen, ausgelegt, ehe wir anfangen, nach ihm zu fragen.“3 Raum und Zeit gehören zu den Voraussetzungen, auf die wir immer schon aufbauen, sei es, dass wir mit Erkenntnisvorgängen beginnen (Kant begriff Raum und Zeit als transzendentale Formen der Anschauung), sei es, dass wir beginnen, möglichst vorurteilsfrei und voraussetzungslos wahrzunehmen und zu beschreiben, was sich zeigt (das ist der methodische Anfang, den die Phänomenologie macht). Wie auch immer näher zu begreifen, werden wir auf die Zeit und den Raum als diejenigen Formen und Dimensionen kommen, die implizit bei allem, was wir tun, schon „mitlaufen“. Beide, die Zeit und der Raum, sind auch vielfältig aufeinander bezogen, wenn wir denn anfangen, uns über die Möglichkeit von Erfahrung Rechenschaft zu geben. Die – an sich abstrakte – Zeit bedarf zur Darstellung ihres Fließens, ihres Vergehens der räumlichen Formen. Das ist so im Fall der Sonnenuhr, deren Schatten im Laufe des Tages „wandert“, das ist so im Fall des einen Kreis beschreibenden Uhrzeigers oder auch im Fall der Zahlensymbolik für die Reihe, die nach der Zahl 12 oder 24 wieder von vorn beginnt. In diesem Fall handelt es sich nicht um eine Reihe als Symbol für den Fortschritt, sondern für die Wiederkehr des Gleichen. Diese Angewiesenheit der Zeit auf den Raum hat schon Kant geltend gemacht, bedarf doch die Zeitbestimmung der „äußeren, […] räumlich-körperlichen Wahrnehmung“. Sie bedarf, m. a. W. „einer Welt außerhalb der Innerlichkeit unseres Bewusstseins.“4 So hat es auch E. Cassirer gesehen: „Die Genese zeitlicher Orientierung [setzt] die Orientierung im Raum voraus.“5 Wenn man nur auf die Metaphorik des Sprachgebrauchs achtet, so liegt etwa die Vergangenheit „hinten“ und die Zukunft „vorn“, so durchmisst das Jahr einen Kreis, und der Fortschritt bedient sich der Linie als Form zu seiner Darstellung. Auch kann man die Geschichte in „Zeiträume“ einteilen; die Reihe von Beispielen ließe sich fortsetzen. Andererseits bedarf es bestimmter Zeiten, um den Raum zu durchmessen. Stundenangaben weisen den normalen Weg zum Gipfel eines Berges ———— 3 E. Ströker, Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt a. M. 1965, 8 (zit. nach Failing/Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 98). 4 Blumenberg, Lebenszeit, 257. Kants Frage war, „ob die Wahrnehmung eines bewegten Körpers zur Herstellung von Bestimmtheit des Zeitbewusstseins genügt.“ Und die Antwort lautete: Ein Körper reicht nicht aus. Es bedarf der Bestimmbarkeit an noch einer anderen Bewegung (vgl. Blumenberg, Lebenszeit, 259). 5 E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen [= PhsF], Bd. II, 132.

103

oder sonst überhaupt auch den Weg zum Ziel. Später sind dann (in der Ebene jedenfalls) Angaben über die Anzahl der zurückzulegenden Kilometer an die Stelle der Wegstunden getreten. Für die Erfahrung des sog. „gesunden Menschenverstandes“ jedenfalls ist die Welt die längste Zeit über als eine raumzeitliche Einheit plausibel gewesen (und die eben gebrauchte Metapher der Länge der Zeit bestätigt noch einmal beide als Formen der Erkenntnis oder Voraussetzungen aller Erfahrung). Das Verhältnis von Raum und Zeit ist also durchaus verwickelt hinsichtlich der Frage nach Priorität oder Gleichursprünglichkeit, sowie hinsichtlich der Frage nach Methode und Darstellbarkeit. Wenigstens in diesen letztgenannten Hinsichten wird von einer Wechselseitigkeit auszugehen sein: Die Durchmessung des Raumes braucht Zeit, die Ausbildung zeitlicher Orientierungsbegriffe setzt aber die Orientierung im Raum voraus. In wie starker Weise Raum und Zeit aufeinander verweisen und wie ihre jeweilige Voraussetzung mit der anderen verwoben ist, lässt sich auch mit Blick auf die menschliche Stimmung zeigen, die sich ja bekanntlich nicht immer gleich bleibt. Was oben unter der Kategorie der Zeitlichkeit als Gestimmtheit eines Augenblicks im Gefühl seiner selbst (mit P. Mercier als Verstehenshelfer) beschrieben wurde,6 lässt sich auch unter der Kategorie des Raumes verifizieren: Mit Räumen ist eine bestimmte Atmosphäre gegeben, sie wahrzunehmen und zu erfahren setzt aber ein „gewisses Maß an Unvoreingenommenheit“ voraus.7 Sich in bestimmten Räumen aufzuhalten kann bestimmte Stimmungen begünstigen, weshalb die Phänomenologie auch von der „Gestimmtheit von Räumen“ gehandelt hat.8 Auch dieser Befund spricht also eher dafür, von einer Gleichursprünglichkeit von Raum und Zeit auszugehen, wenn man jedenfalls das Gefühl seiner selbst befragt. Bewusst werden wir uns solcher Gestimmtheiten ja meist erst dann, wenn die Zeit zum Raum geworden ist, sei es in dem „mythischen ZeitRaum“, den Wagners „Parsifal“ bemüht,9 sei es in der von Benjamin beschriebenen Stillstellung des „stetigen Flusses des Lebens“ in dialektischen Bildern der Erinnerung, die zwar im Zeitmodus des Augenblicks aufblitzen, zu ihrer inneren Wahrnehmung und dann auch zur Darstellung aber auf eine topographische Struktur verweisen. Der „Augenblick des Eingedenkens“ setzt das stetige Vergehen der Zeit, ihr „Fließen“ voraus, verweist aber in einem spannungsvollen Verhältnis auf Bild- und Denkräume der Ruhe.10 ———— 6 S. o. Kapitel 2. 7 Failing, Die eingeräumte Welt, in: Ders./Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen, 100f. 8 Failing mit Bezug auf O. F. Bollnow, Mensch und Raum, Tübingen 1963. 9 Vgl. v. Reijen, Die authentische Kritik der Moderne, 81ff. 10 Vgl. Benjamin, GS VI, 488 [Berliner Chronik]. S. o. Kapitel 2. Für Benjamin ist die Großstadt zum exemplarischen Bildraum seiner Erfahrung der Moderne geworden.

104

Doch womit ist anzufangen: bei der Zeit (so wie ich die Darstellung mit der Erfahrung von Zeit begonnen habe) oder mit dem Raum? Welche Gesichtspunkte sprechen dafür, der Zeit einen methodischen Vorrang einzuräumen? Die Frage ist durchaus umstritten. Wolf-Eckart Failing zufolge verweist die Erfahrung des Rituals zuerst auf den Raum, wie es durch die Metaphorik von „Grenze“ und „Schwelle“ bei V. Turner oder W. Benjamin nahe gelegt scheint.11 Ohne Zweifel ist die Kategorie des Raumes für die Grundlegung der Liturgik elementar. Denn ohne den Raum gäbe es keine Begegnung, ohne Begegnung keine Gleichzeitigkeit, und ohne Gleichzeitigkeit keine Erfahrung, die über die individuelle hinausginge, keine Zeiterfahrung also über die des inneren Zeitbewusstseins, und auch nicht über die je eigene Lebenszeit hinaus. Man muss also fragen, ob sich ein Vorrang der einen Kategorie vor der anderen begründen lässt. Dieser Aufgabe nähere ich mich so an, dass ich – im Sinne von Lévinas u. a. – die Bibel mit der Philosophie ins Gespräch bringen möchte. Um mit der Bibel zu beginnen, lässt sich sagen: Der hier gewählte Ausgangspunkt bei der Priorität der Zeit wird durch die Genesis bestätigt: „Im Anfang“ ist ein Begriff der Zeit, und die Ordnung der Schöpfung nach Genesis 1 ist durch die 7 Tage der Woche gegeben. Genesis 2 erzählt die Schöpfung dann noch einmal unter dem Gesichtspunkt, dass auch der Raum immer schon vorauszusetzen sei. Was nach der bibelkritischen Hypothese der Unterscheidung von Quellen erklärt wird: eben die Doppelung des Schöpfungsberichts, lässt sich auch unter dem SachGesichtspunkt erklären, dass unsere Erfahrung sowohl die Zeit, als auch den Raum voraussetzt (und beide Schöpfungsgeschichten gehen, wenngleich mit unterschiedlicher Akzentsetzung, jeweils von einer raum-zeitlichen Struktur unserer Erfahrung aus). Das Bewusstsein hiervon wäre dann der Redaktion des biblischen Textes zuzuschreiben. Die Redaktoren hätten dann beides gesehen: Einerseits ist die Schöpfung der Welt gleichursprüng———— 11 Failing, Die eingeräumte Welt, 118f. – Man möchte allerdings fragen, warum die zeitgenössische Praktische Theologie ein derartiges Interesse an der Frage des Raums gewonnen hat. Hierfür ist nicht nur dieser Text Failings exemplarisch, sondern auch populär-theologische Literatur wie etwa die von F. Steffensky (Ders., Der Seele Raum geben, 12–37). Mit Blick auf den kirchlichen Raum scheint die Antwort leicht gegeben – an vielen Orten werden Kirchen verkauft und die Gebäude zu anderen Zwecken genutzt. Das ruft nicht selten Trauer unter denen hervor, die in diesen Gebäuden Augenblicke einer Gestimmtheit erfahren haben, die sie nicht vergessen können und wollen (für diese Tendenz exemplarisch ist: K. Raschzok, Art. Kirchenbau, in: HBPTh, 566– 577). Doch auch über das spezielle Interesse von Kirche und Theologie an den Räumen im Augenblick ihres Verkaufs infolge wirtschaftlichen Zwangs hinaus hat das Thema Konjunktur. Liegt ein tieferer Grund auch darin, dass die „industrielle Revolution, Entwicklung der Technik und des Verkehrs […] zu einem förmlichen ‚Raumschwund‘“ geführt hatten (Makropoulos, Modernität, 56)? Der im Zuge allgemeiner Mobilität geschwundene Raum hätte dann ein neues Interesse gefunden vielleicht gerade wegen seines tendenziellen Verschwindens, und d. h. in einer eigentümlichen Dialektik.

105

lich unter der Voraussetzung der Zeit und des Raumes zu denken, andererseits ist aber mit der Voraussetzung der Zeit der Anfang zu machen, denn der Anfang ist ein Begriff der Zeit. Es kommt darauf an, diesen biblisch plausibel zu machenden Gesichtspunkt auch phänomenologisch zu bestätigen. Ich versuche, in dieser Frage voranzukommen, indem ich die Unterscheidung von Mythos und Religion voraussetze, die Cassirer u. a. entwikkelt haben (den Begriff des Mythos als einer symbolischen Form werde ich allerdings erst später entwickeln). In seiner Rezension des zweiten, dem Mythos gewidmeten Bandes der „Philosophie der symbolischen Formen“, ist Heidegger zufolge noch ursprünglicher als der Raum … die Zeit für das mythische Denken konstitutiv“.12 Der Zeitmodus, der hier vor allem im Blick ist, ist aber die Vergangenheit, bedürfen doch die in diese Dimension versetzten Aspekte keiner Rechtfertigung mehr. „Die Vergangenheit selbst hat kein ‚Warum‘ mehr: Sie ist das Warum der Dinge. Das eben unterscheidet die Zeitbetrachtung des Mythos von der Geschichte, dass für sie eine absolute Vergangenheit besteht, die als solche der weitergehenden Erklärung weder fähig noch bedürftig ist.“13

Demgegenüber hat Heidegger dann in seinem eigenen Denken den Vorrang der Zukunft behauptet. Begründet wird das aus der Existenz des Menschen, und d. h. mit Blick auf seine Fähigkeit zum Transzendieren, zum Über-sichhinaus-gehen. Bezogen auf die philosophische Anthropologie wäre also das, was den Menschen als Kulturwesen über die Natur hinaushebt (wobei er immer auch ein Naturwesen bleibt) – eben seine Fähigkeit zur Selbsttranszendenz, die ihrerseits eine Konsequenz seiner „Weltoffenheit“ ist –, ursächlich für die methodische Priorität der Zeit vor dem Raum. Und die Dimension der Zeit, die hier besonders einschlägig ist, wäre eben die Zukunft.14 Der Rekurs auf Heidegger kann plausibel machen, wie man einerseits vom Raum als einem Apriori ausgehen kann,15 muss doch der Raum für das Dasein des Menschen in der Welt vorausgesetzt werden. Doch andererseits ist das Dasein des Menschen existential durch seine Zeitlichkeit bestimmt, welche ihrerseits, wie angedeutet, der Zukunft einen fundamentalontologischen Vorrang einräumt. Anders als unter Voraussetzung des menschlichen Selbstverhältnisses, wie es sich als Gestrecktheit der Erfahrung seiner Lebenszeit entfaltet, kann auch sein Verhältnis zur Welt – und respektive dann ———— 12 13 14 15

106

Graeser, Ernst Cassirer, 71. Cassirer, PhsF II, 131–132. S. o. Kapitel 2. Heidegger, Sein und Zeit, 111 [§ 24].

auch zur Weltzeit – nicht angemessen beschrieben werden. Da nun das Dasein des Menschen der Ausgangspunkt von Heideggers Analysen ist, kommt in „Sein und Zeit“ eben auch der Zeitlichkeit vor der Räumlichkeit des Daseins ein Vorrang zu. Wenigstens der methodische Vorrang eines Ausgangspunktes bei der Zeitlichkeit menschlicher Erfahrung kann durch den Rekurs auf Heidegger gestützt werden. Wie sich nun aber Mythos und Religion auf die Frage nach dem Verhältnis von Raum und Zeit beziehen lassen, wäre eigens zu prüfen. Heidegger selbst hat den mythischen Bezug auf die Zeit gewissermaßen dadurch „aufgeklärt“, dass er nicht mehr – wie der Mythos (etwa mit seiner Konzeption unvordenklicher Vergangenheit) – der Vergangenheit die Priorität einräumte, sondern der Zukunft. Doch das ist erst nur eine – eben – existentialontologische Aufklärung des Mythos, nicht eine solche, die sich der biblischen Aufklärungspotentiale bedient hätte (wie sie am Beispiel der Genesis mit Händen zu greifen sind).16

4.2 Der Raum als Bedingung möglicher Gleichzeitigkeit oder von Sozialität Menschen sind nicht nur zeitliche Wesen, die ihre Beziehungen auf einer vorbewussten, elementaren Ebene nach ritualisierten Verhaltensweisen regeln. Menschen sind auch räumliche Wesen – sie brauchen Platz. Dem einen genügt schon ein Wohnraum mit Schlafplatz, Kochnische, Nasszelle und Arbeitsecke, der andere braucht darüber hinaus eine Bibliothek, einen Medienraum, einen Hobbykeller, einen Gymnastikraum und dergleichen. Der eine benötigt mehr Platz als der andere, jeder aber wird sich unter beengten Wohnverhältnissen eingesperrt vorkommen und in der Offenheit und Weite einer geräumigen Wohnung aufatmen. Wenn nun schon die Entfaltung des Einzelnen Raum in Anspruch nimmt, um wie viel mehr wird es dann der geeigneten Räume bedürfen, um sich zu begegnen. Sich über den Raum als Bedingung möglicher Gleichzeitigkeit Gedanken zu machen, heißt also auch, von anthropologisch gegebenen Bedürfnissen auszugehen. Der Platz, den Menschen beanspruchen, hat zu Kriegen geführt. Schon Jagdgründe, später Kornkammern, Küsten und neuerdings der Nordpol (der in einigen Jahrzehnten seine Eiskappe verloren haben könnte und somit den ———— 16 Mit den Mitteln der phänomenologischen Deskription hat Lévinas Heideggers Analysen des In-der-Welt-Seins bis in die Ambivalenzen des Daseins im Raum hinein weitergeführt. Im Ausgang der Phänomene des Wohnens und des Besitzens als Modi der Bleibe kommen hier Spannungsverhältnisse zur Darstellung, die sich auch mit dem Begriffspaar Mythos und Aufklärung in der weiten Bedeutung interpretieren lassen, die etwa Benjamin ihnen gegeben hat (vgl. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 217–253).

107

Weg zur Förderung von Erdöl und -gas freigäbe) konnten und können bis heute zum Gegenstand von Gebietsansprüchen werden. Menschen brauchen Platz – das gilt auch, wenn sie im Kollektiv auftreten.17 Diese basale Einsicht spielte immer auch schon in die Wahl kultischer Orte mit hinein. Wer sich anschickt, einen solchen zu erschaffen, wird erst einmal in der Natur nach den dafür günstigen Bedingungen suchen. In England baute man in prähistorischer Zeit schon stone-henges auf offenen Flächen, gern auch auf Hügeln. Die Germanen wählten nicht selten Waldlichtungen aus. König David eroberte eine Stadt, die er dann zur Hauptstadt Israels machte, um dort auch Platz für ein Heiligtum zu schaffen. Sagenumwoben ist der „Berg“, auf dem Salomo dann den Ersten Tempel errichtete. „Moriah“ sei hier gewesen, sagen die jüdischen Quellen, aber auch Mohammed sei hier mit dem Pferd in den Himmel aufgefahren, behaupten muslimische, steht doch der Felsendom (dieser islamische Sakralbau [qubba, „Kuppel“] als Wahrzeichen der Jerusalemer Altstadt) oberhalb der Klagemauer (dieser steinernen Reste des Zweiten Tempels) an der Stelle am Rand der Altstadt Jerusalems, an der die beiden jüdischen Tempel einmal ihren Ort hatten. Auch die christlichen Kirchen suchten Altäre so nahe am Grab Jesu wie möglich zu bauen – die Grabeskirche in Jerusalem ist bis heute ein Lehrbeispiel für das – durchaus zu mythischen Bindungen tendierende – Verhältnis des Christentums zum Raum, welches auch hier – im Fall des Verhältnisses von Juden und Muslimen – zu Konkurrenzen und Konflikten geführt hat. Die sich zur Bedeutung des Raumes spröder stellenden Protestanten kamen später, doch sie kamen auf der Höhe des europäisch geprägten Zeitalters des Imperialismus und Nationalismus, um die – sehr schöne – Erlöserkirche in der Altstadt zu bauen. Sie ist ganz in der Nähe der Grabeskirche gelegen, bot sich doch seit 1871 zunächst die sog. Kreuzfahrerkapelle – wahrscheinlich das Refektorium der dort früher ansässigen Benediktiner – zur Wiederherstellung und gottesdienstlichen Nutzung an. Die Einweihung am Reformationstag (31.10.1891) wurde vom deutschen Kaiser Wilhelm II. vollzogen, der sich gerade auf einer Palästinareise befand. Damit er hoch zu Ross in die Altstadt einreiten konnte, wurde die Mauer an einer Stelle neben dem Jaffator durchbrochen.

———— 17 Vgl. hierzu etwa das Konvolut E [Hausmannisierung, Barrikadenkämpfe] in: Benjamin GS V/1, 179–210.

108

Abb. 2: Jerusalem: Evang. Lutherische Erlöserkirche (Innenansicht)

Was am speziellen Beispiel Jerusalems besonders augenfällig ist, lässt sich verallgemeinern. Fast immer war die Wahl des Ortes für den Bau einer Kirche von ausschlaggebender Bedeutung. Besonders schön ist die Ende des 12. Jahrhunderts gegründete Kapelle „Santa Caterina del Sasso“ am Ostufer des südlichen Lago Maggiore oder auch das Eremitenkloster auf der Halbinsel von Portofino in Ligurien oder die Kapelle auf der Klippe von Portovenere etwas südlicher. Was später im 19. Jahrhundert Caspar David Friedrichs Motive der Andacht in der Natur ohne Kirchengebäude (oder vor der Kulisse von Ruinen), sind dem Katholizismus der früheren Jahrhunderte steinerne Bauten auf Felsen, Hügeln oder am Meer, an Orten jedenfalls, die je ihre „Aura“ hatten. Und wenn der Ort nicht auratisch war, wie in den großen Ebenen oder in den Wäldern des Nordens, des Ostens, dann verlieh die Kirche dem Dorf eine Aura mit ihrem Turm, der alles überragte. 109

Abb. 3: Lago Maggiore: Kloster Santa Caterina del Sasso

Man kann es mit Failing auch so sagen: „Wo immer Kirche baut, sei es auf einem alten germanischen Heiligtum oder im Flörsheimer Wald [… des Waldes, der für die Startbahn West des Frankfurter Flughafens vorgesehen war, ein Gelände, auf dem sich eine Siedlung von Widerständlern bildete – mit einer hölzernen Kirche in ihrer Mitte], stößt [sie …] mit der Raumfrage auf besetzten Raum: damit auch auf die Macht-, Besitz- und Besessenheitsfrage.“18

4.3 Der kirchliche Raum (Kirchenbau) 4.3.1 Sakralbau oder Profanbau? Ist die Kirche als Sakralbau zu verstehen oder als Profanbau? In dieser praktischen Frage spiegelt sich die zu Beginn anhand der Frage nach der Metaphysik entfaltete Problematik, ob die Liturgien, abgehalten in eigens dafür gebauten Räumen wie den alten Domen und Kathedralen, bis heute eine Antwort auf solche Fragen menschlicher Existenz bereithalten, die in die Dimension hineinreicht, die wir „religiös“ oder auch „metaphysisch“ ———— 18 Failing, Die eingeräumte Welt, 110.

110

nennen können.19 Ja man muss die Frage nach der Metaphysik in dem nun zu verhandelnden Zusammenhang von den alten Domen und Kathedralen lösen, um sie auch in dem vom Protestantismus vorangetriebenen Problemzusammenhang eines an profanen Zwecken orientierten Kirchenbaus erneut zu stellen. Der Begriff der Liturgie, wie er zu Beginn mit Lévinas entfaltet, und der Begriff des Rituals, wie er aus humanwissenschaftlicher Forschung erschlossen wurde, haben schon Spuren gelegt, wie das geschehen kann. Der Profanbau dient bestimmten Zwecken wie der Versammlung, dem konzentrierten Hören auf Wort und Musik. Sein Zweck ist funktional auch hinsichtlich der Kontinuität, für die der kirchliche Raum sorgt. Sie muss „nicht jeweils neu geschaffen werden […], sondern [ist] bereits vorhanden […] und [kann] in Gebrauch genommen werden.“20 Demgegenüber ist der Sakralbau „gebaute Liturgie“ und „umbautes Mysterium“.21 Die Bedeutung der architektonischen Gestaltung erschließt sich hier nicht funktionalen Gesichtspunkten allein, sondern erst den Wesensbestimmungen der vorausgesetzten Theologie. In beiden Fällen wird aber für den Bau eines Gebäudes gelten können, dass durch die Weise seiner Gestaltung implizit mehr oder weniger Macht ausgeübt wird, jedenfalls in symbolischer Form. Die Größe eines Gebäudes, einer Kuppel, die Höhe des Raumes und seine Ausdehnung können Ehrfurcht gebieten und die Gefühle des Erhabenen hervorrufen. Eine Strophe wie die folgende bringt eben diese Gefühle zum Ausdruck und antwortet gewissermaßen auf den Eindruck, den manche Sakralbauten hervorrufen: „Gott ist gegenwärtig. / Lasset uns anbeten / und in Ehrfurcht vor ihn treten. / Gott ist in der Mitte. / Alles in uns schweige / und sich innigst vor ihm beuge.“22 Wenn man die theologischen Voraussetzungen eines Sakralbaus nicht mehr nachvollziehen kann, so wird man in diesem Fall eine Erfahrung machen können, die Benjamin einmal folgendermaßen beschrieb: Tritt man nicht in manch eine Kirche so ein, wie man im antiken Griechenland Stellen kannte, wo „es in die Unterwelt hinabging“? Der Besuch einer offen ste———— 19 Gibt es eine Religion ohne Metaphysik? Wenn sie auf gegenständliche Vorstellungen und gedankliche Spezifikationen auf dem Boden sprachlicher Prädikationen nicht verzichten will (wie der Buddhismus), wohl nicht. Die an die abendländische Religionsgeschichte zu stellende Frage muss dann lauten, wie die Fragen der Religion in den unterschiedlichen Phasen der Geschichte der Metaphysik zur Darstellung und zu ihrer Bedeutung gebracht worden sind. 20 Raschzok, Art. Kirchenbau, 574. 21 P. Beier, Über die Schwierigkeit der Protestanten, mit Räumen umzugehen, zit. nach Failing, Die eingeräumte Welt, 93. 22 EG 165, 1. Die folgenden Strophen führen diese Linien weiter aus. „Gott ist gegenwärtig, / dem die Cherubinen / Tag und Nacht gebücket dienen“, oder: „Majestätisch Wesen, / möcht ich dich recht preisen / und im Geist dir Dienst erweisen“. Was auf der Bildhälfte der Darstellung politischer Macht zum Ausdruck kommt, wird auf der Sachhälfte einer durch Ehrfurcht und Anbetung charakterisierten Frömmigkeit zu einem „geistlichen Dienst“ veredelt.

111

henden Kirche älterer Bauart, und sei es, um sie in kunstgeschichtlichem Interesse zu besichtigen, aus Neugier oder einem unbestimmten Bedürfnis nach Ruhe, einer unbestimmten Erwartung nach anderem als dem Alltäglichen, wäre dann wie ein Weg unseres wachen Daseins in „unscheinbare Örter, wo die Träume münden“.23 Wer etwa, kommend aus dem Trubel von Kurfürstendamm und Tauentzienstraße, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin betritt, erfährt eine Unterbrechung dadurch, dass der Lärm der Stille weicht. Ohne dass hier ein spezifischer theologischer Anspruch leitend wäre, stellt auch diese Kirche eine „gebaute Liturgie“ dar, die sich für den ersten Eindruck am Verhältnis von Struktur und Anti-Struktur orientiert. Auch wenn Kirchen mitten im Leben einer Großstadt zur so überraschenden wie wohltuenden Erfahrung der Stille einladen, die einem Versinken in die Tiefendimension des Traums verwandt sein mag,24 wird der Möglichkeit des Erwachens im Licht der frohen Botschaft des Evangeliums aber eine mindestens ebenso wichtige Bedeutung zuzumessen sein. Jeder Sonntag ist ja als Wiederholung von Ostern als Sonntag der Sonntage zu begreifen, als Ursprung des neuen Anfangs, des Lichts, das über die Dunkelheit triumphiert, des Lebens, das den Sieg über den Tod davongetragen hat. Mehr als Ort eines mythischen Versinkens in den Traum ist die Kirche als geschichtlicher Ort des Erwachens zu begreifen, in dem die conditio humana, sowie das je eigene Selbst- und Weltverhältnis sich in einem neuen Licht zeigen. Das kann geschehen, wenn – um mit W. Gräb zu sprechen, der über das bloß unterbrechende Moment hinausgeht – „das gottesdienstliche Ritual […]den ästhetisch wirkungskräftigen Austausch solcher gestischen, sprachlichen und bildlich wahrnehmbaren Zeichen [vollzöge], die für die den Gottesdienst mitfeiernden einzelnen bzw. für die Gemeinde zu anregenden Sinnbildern, zu Symbolen ihrer auf den unbedingten Sinngrund hin vertieften Selbstdeutung werden können.“25

———— 23 Benjamin, GS V/1, 135. 24 Eben dieser Möglichkeit sucht etwa Josuttis den Weg zu bereiten (vgl. Ders., Der Weg in das Leben, 274.277f). Der Traum wäre die Fähigkeit zur Durchlässigkeit zwischen Bewusstsein und Unbewusstem. Ihrer als einem „träumenden Ahnungsvermögen“ bedarf W. R. Bion zufolge etwa die Mutter, um zu einem harmonischen Bezug zum Säugling zu finden (vgl. Odenthal, Liturgie als Ritual, 164). Diesen harmonischen Bezug zu gestalten braucht es aber über das träumende SichEinfühlen hinaus das Erwachen zu klarem Bewusstsein, was hier und jetzt zu tun sei. 25 Gräb, Lebensgeschichten, 134 mit Bezug auf P. Cornehls Anschluss an Schleiermacher: „Im Gottesdienst vollzieht sich das ‚darstellende‘ Handeln der Kirche als öffentliche symbolische Kommunikation der christlichen Erfahrung im Medium biblischer und kirchlicher Überlieferung zum Zwecke der Orientierung, Expression und Affirmation.“ Dass die biblische und kirchliche Überlieferung allerdings mit den Symbolwelten ins Gespräch gebracht werden muss, die außerhalb der Kirche um die Orientierungsfunktion in Sinnfragen konkurrieren, ist ein von Gräb weiter ausgeführter Gesichtspunkt: Es bedarf des Gesprächs, und d. h. der Anregung wie der Auseinandersetzung mit dem Film, der bildenden Kunst und der Musik der Gegenwart.

112

Hierzu bedarf es der angemessenen, geeigneten, zweckentsprechenden räumlichen Gegebenheiten ebenso wie der Zeichen und Symbole, an denen der zu suchende Sinn haften kann. Was hier als angemessen gilt und was nicht, was von den Zeitgenossen verstanden werden kann und was nicht, variiert. Im Übrigen gilt für jede Bemühung einer Vergewisserung im protestantischen Christentum, dass sie eine historische Reflexivität, und d. h. das katholische Verständnis auf der einen Seite und das jüdische auf der anderen, notwendig einbeziehen muss. Nur im Gegenüber zu beiden wird eine Selbstvergewisserung durch ein Verständnis der Schrift hindurch (sola scriptura) statthaben können, dem das Alte Testament als tragende Wurzel unverzichtbar ist.

Abb. 4: Trier: Konstantin-Basilika (Innenansicht)

113

Theologische Überzeugungen haben immer in die Gestaltungsfragen je einer Zeit hineingespielt. Offensichtlich war der Kirchenbau immer abhängig vom Geist der Zeit, ob er nun einen romanischen oder einen gotischen Stil hervorbrachte, ob er in früher Zeit die Macht des politischen Rom umdeutete im Sinne eines aut Caesar aut Christus (was an der Basilika in Trier besonders anschaulich ist),26 oder ob er im Zeitalter der Renaissance das gewachsene Selbstbewusstsein einer Stadt spiegelte (was am Beispiel der Dome in Florenz und Siena studiert werden kann). Zu Zeiten einer theologia gloriae hat der Kirchenbau zu anderen Ergebnissen geführt als der Umbau im Zuge der Reformation. Auf die bilderstürmerischen Tendenzen dieser Zeit antwortete die katholische Seite mit einem blühenden Barock. Und im Einzelfall war auch an den Baumaterialien ablesbar, ob man einer Kirche symbolischen Ewigkeitswert zugestehen wollte, oder ob man eben dies gerade zu vermeiden trachtete. So sollte die im konfessionellen Zeitalter im schlesischen Schweidnitz aus Holz gebaute Friedenskirche, ein Zugeständnis katholischer Macht an die Protestanten, vor allem ihre zeitliche Vergänglichkeit symbolisieren. In ironischer Verkehrung dieser religionspolitischen Intentionen hatte eben diese hölzerne Kirche dank sorgfältiger Pflege langen Bestand bis heute.27 Schließlich, um auch die jüngere Vergangenheit noch in den Blick zu nehmen, macht es einen Unterschied, ob die dialektische Theologie des Wortes Gottes mit ihrem Paradigma der Verkündigung für die Gestaltungsfragen kirchlicher Räume eine Leitfunktion hatte, oder das seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts weithin verbreitete Paradigma der Kommunikation. Eine Vorform dieser die Gegenwart noch bestimmenden Tendenzen wäre im Gemeindeverständnis der Herrnhuter Brüdergemeine zu erblicken, dem im Baulichen die Ersetzung einer Kirche im traditionellen Sinne durch Gemeinde- und Kirchensäle entsprach (Beispiele finden sich überall da, wo die Herrnhuter gebaut oder sich niedergelassen haben, sei es in Königsfeld oder im Kurhaus Bad Boll, in der Brüder-Sozietät Basel oder in Gnadau).

———— 26 Vgl. E. Bloch, Atheismus im Christentum, Frankfurt a. M. ²1977, Kapitel V, 135–203. 27 Die Friedenskirche zu Schweidnitz. Geschichte einer Friedenskirche von ihrem Entstehen bis zu ihrem Versinken ins Museumsdasein, ergänzt und neubearbeitet von H. Buntzel, Ulm-Donau 1958 (Verlag „Unser Weg“). Heute gehört dieser Bau zum Weltkulturerbe.

114

Abb. 5: Basel: Evangelische Brüder-Sozietät (Innenansicht)

Wer auf eine asymmetrische Verkündigung des dem Menschen immer fremden und ihn unterbrechenden Gotteswortes setzt, der wird die Kanzel so hoch wie möglich über den Köpfen der Gemeinde anbringen. Wer aber die Kommunikation des Pfarrers mit der Gemeinde betonen möchte, wird sich mit einem Stehpult auf Augenhöhe begnügen (oder mit einem Liturgus-Tisch bei den Herrnhutern), das nur dann eine etwas erhöhte Stellung erlaubt, wenn sie den akustischen Erfordernissen dient. „Die Kanzel darf nicht Symbol einer von oben herabtönenden, versteinerten Botschaft bleiben. Sie muss die Gelegenheit zum Gespräch symbolisieren. Statt starrer Bankreihen sind in Kreisform angeordnete Stühle vorzuziehen. Denn diese Möglichkeit muss der gottesdienstliche Raum vor allem eröffnen, dass an die Stelle der Kanzelrede das Rundgespräch tritt bzw. dass die Kanzelrede ein solches Gespräch implizit realisiert. Die Predigt muss jedenfalls zur religiösen Rede werden, die mit der Kunst der Sprache Szenen gelebten Lebens entwirft, in denen die Hörer sich wieder finden können und die sie zur religiösen Selbstdeutung anregen.“28

Was sich mit Blick auf die Kanzel besonders prägnant dartun lässt, wird sich für die baulichen Bedingungen der Versammlung der Gemeinde auch in anderen Hinsichten entfalten lassen. Für den Altar als Tisch für das Abendmahl sind die von Gräb genannten Gesichtspunkte der Kommunikation ebenso geltend zu machen: Im Kirchenraum sollte er möglichst nicht ———— 28 Gräb, Lebensgeschichten, 135.

115

„ins Gegenüber zur Gemeinde, sondern in deren kommunikative Mitte rücken“ (134). Hierfür gibt etwa die Kapelle im „Ökumenischen Zentrum“ (Sitz des Ökumenischen Rates der Kirchen) in Genf ein anschauliches Beispiel. Wie das Kreuz zu gestalten ist, das in keiner Kirche fehlen darf, wäre eigens zu diskutieren, und zwar unter Einbeziehung von Gesichtspunkten, die die Verortung im Raum noch überschreiten. Jedenfalls sollte das Kreuz als das zentrale Symbol auch an zentraler Stelle zu sehen sein (wenn nicht, wie in alten Kirchen, der Grundriss des Gebäudes selbst Kreuzesform hat). Wichtiger noch scheint aber die Frage zu sein, ob sich im Fall des Kreuzes eine möglichst konkrete Darstellung des Ursprungsgeschehens nahe legt (wie auf den Bildern des Isenheimer Altars und auf vielen KruzifixDarstellungen), oder eher eine abstrakte, die es mit dem elementaren Zeichencharakter des „Über-Kreuz-Liegens“ gut sein lässt.29 Ernst zu nehmen ist jedenfalls die an P. Bourdieu gebildete Einsicht Failings, dass jedes Raumensemble immer auch schon ein „soziales Rollenensemble“ impliziert. Und die durch die Gestaltung von Räumen vorgeprägten sozialen Rollen derer, die sich hier versammeln, deuten auf bestimmte Funktionen. Diese auszuüben ist aber meistens auch mit der Ausübung von Macht verbunden. „Der angeeignete Raum ist einer der Orte, an denen Macht sich bestätigt und vollzieht, und zwar in ihrer sicher sublimsten Form: der symbolischen Gewalt als nicht wahrgenommener Gewalt. Zu den wichtigsten Komponenten der Symbolik der Macht […] gehören zweifellos die architektonischen Räume, deren stumme Gebote sich unmittelbar an den Körper [wenden].“30

4.3.2 Wie kann der „Zweckbau“ als „anderer“ Raum erfahrbar sein? Auch wenn man den Kirchenbau von profanen Gesichtspunkten aus begreift, eben als „Zweckbau“ im Sinne von P. Beier, muss ein für den Sakralbau wesentlicher Gesichts- punkt integriert werden: Der kirchliche Raum muss sich vom „weltlichen“, die Gesamtanlage kirchlicher Gemeindezentren von Marktplätzen unterscheiden. Der kirchliche muss ein „anderer […] von gewohnten Räumen unterschiedener Raum“31 sein. Denn menschliche Begegnung hat unterschiedliche Ziele, Zwecke und Intentionen. Wie sehr ———— 29 D. i. unten anhand der Frage nach dem Kreuz als Symbol weiter auszuführen. 30 Failing, Die eingeräumte Welt, 103 zit. P. Bourdieu, Physikalischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: M. Wentz (Hg.), Stadt-Räume, Frankfurt a. M. 1991, 25–34. 31 So auch Beier in dem schon zitierten Beitrag (nach Failing, Die eingeräumte Welt, 98). In der antiken Welt ist der Unterschied eines sakralen Baus besonders eindrücklich am Pantheon in Rom zu sehen.

116

auch „Kommunikation“, Handel im Wechselspiel von Kaufen und Verkaufen, Austausch von Meinungen in einer talk-show vergleichbar sein mögen – die „religiöse Kommunikation“, um die es in kirchlichen Räumen, zumal im Gottesdienstraum, geht, wird davon klar und distinkt zu unterscheiden sein. Und nach dem Maß dieser Unterscheidung sind auch die Räume zu gestalten. Wie ist diese Unterscheidung aber zu entwickeln und durchzuführen? Anders als beim von Failing zitierten H. W. Turner scheint es mir nicht hilfreich, auf Schemata zurückzugreifen, die alte mythische Bewusstseinsweisen aufrufen – wie etwa das des „heiligen Raums als Zentrum der Welt“, oder als „Mikrokosmos des himmlischen Bereichs“ als Raum der „Gegenwart des Heiligen oder des Göttlichen“. Die im Symbolverstehen liegende Entmythologisierung, wie sie unten darzustellen ist, kann auch auf diese Modelle angewendet werden.32 Und dass der jüdische Tempel nach den Zeugnissen des Alten Testaments als „domus dei“ verstanden wurde, während später dann die Synagoge als Versammlungshaus an seine Stelle trat (als „domus ecclesiae“), bestätigt nur die im symbolischen Verstehen liegende, nach Cassirer notwendige (und auch nie ganz aufzuhebende) Beziehung der Religion auf den Mythos (s. u.). Den kirchlichen, und d. h. im Sinne dieser Unterscheidung immer auch in gewissem Sinne: den sakralen Raum primär unter dem Gesichtspunkt zu begreifen, dass er der Versammlung der Gemeinde und ihrer religiösen Kommunikation dienen soll, ist ein für das aufgeklärte Bewusstsein unhintergehbarer Gesichtspunkt. Dass dieses Bewusstsein nicht an das Zeitalter gebunden ist, das diesen Namen trägt, sondern älter ist als dieses, zeigt das Beispiel der Ablösung des Tempels durch die Synagoge ebenso wie schon die Entdeckung des Menschen als Individuum bei den Propheten.33 Unter dieser Voraussetzung ist die Frage nach dem angemessenen Raum des christlichen Gottesdienstes aber zu beziehen auf die grundlegenden Strukturen und Funktionen des Rituals. In dieser Systematik kann die notwendige Unterscheidung in der Frage der Nutzung von Räumen nämlich im Ritual selbst ein Modell finden, ist es doch seinerseits zu begreifen in der Differenz von Struktur und AntiStruktur. Ein kirchlicher Raum, der die Versammlung der Gemeinde zur religiösen Kommunikation ermöglichen soll – so lässt sich folgern – muss dem anti-strukturellen Moment Rechnung tragen, in dem sich das kirchliche ———— 32 Deren Konjunktur in der Praktischen Theologie der vergangenen Jahrzehnte ist nicht zuletzt durch die Rezeption der Religionsphänomenologie H. Schmitz’ begünstigt worden, der vor allem M. Josuttis den Weg bereitete (vgl. auch Raschzok, Art. Kirchenbau, 570f; vgl. etwa Josuttis, Der Weg in das Leben, 279 zit. Schmitz, Der Gefühlsraum), als ob dies vor allem der für diese theologische Disziplin relevante religionsphänomenologische Ansatz wäre. 33 Das kann anhand der Religionsphilosophie H. Cohens nachvollzogen werden (vgl. Dober, Seelsorge, 236–239).

117

Ritual auf die Strukturen des alltäglichen Lebens bezieht, oder – um mit Schleiermacher zu sprechen –: der kirchliche Raum muss aufgrund seiner baulichen Eigenart gewährleisten, dass die „Unterbrechung des übrigen Lebens“ auch als solche erfahrbar ist. D. h. Markt, Geschäfte und dergleichen (auch auf der Ebene der Kommunikation) haben in der Sphäre derartiger Unterbrechungen keinen Platz.34 Bei Failing findet sich allerdings auch ein Beispiel für die Negativprobe zu dem Versuch, die Kirche zum Gemeindezentrum zu machen und dabei die Differenz zum Marktplatz zu verwischen. Anlässlich des 2. Golfkrieges versammelten sich viele Menschen spontan, ohne dass vorher dazu eingeladen worden wäre, am Portal der Darmstädter Stadtkirche, um sich dort über eine gemeinsame Sorge angesichts des durch den Krieg entfesselten Schreckens und seiner unabsehbaren Folgen auszutauschen. Die Kirche wurde hier zu einem „Ort der Manifestation des Entsetzens, des Grauens, der Klage der Menschen.“ Denkbar wären andere Orte gewesen, wie etwa das Rathaus, das Schloss, der Eingangsbereich eines Kaufhauses oder das Gewerkschaftshaus. Faktisch versammelten sich die Menschen aber aus eigenem Instinkt (wenn man so will) vor der Kirche. Worin „diese Differenz der Raumqualitäten“ besteht, kann man mit Failing fragen.35 Die Antwort bleibt im Bereich der Vermutungen, deren schwächste darin besteht, hier habe ein „archaischer Respekt vor sakralen Räumen“ gegriffen (109). Weiter (weil weniger voraussetzungvoll) reicht m. E. der formale Gesichtspunkt, dass im kirchlichen Raum ein anti-struktureller Aspekt einer unter dem Paradigma der Ökonomie und des Kampfes um Machtverhältnisse gebildeten Strukturen dieser Welt, ihres „Schemas“ (1. Korinther 7, 31), wahrgenommen wurde. Eben diese Differenz wirkt sich bis in das Bedürfnis hinein aus, kirchliche Räume müssten hinsichtlich ihres „Symbolwertes“ auf das Moment eines „anderen“ hinweisen, sie müssten erkennbar „anders“ sein als bloße Profanräume. Einer Rückkehr zu offensichtlichen Sakralbauten ist damit keineswegs das Wort geredet. Nota bene ist der kirchliche Bau auf dem Gelände der Gegner der Frankfurter Startbahn West durchaus als ein „anderer“ Raum wahrgenommen und erfahren worden. Das erhellt zum einen aus der Tagebucheintragung des Frankfurter Schriftstellers H. Karasek, die Failing zitiert (110), zum anderen aus der Scheu der staatlichen Ordnungskräfte, die Kirche mitsamt der Siedlung einfach abzureißen. Die sog. „Hüttenkirche“ wurde „von der Flughafen AG sorgsam demontiert und nach einem 14-tägigen Asyl auf dem ———— 34 Nota bene muss man dem „Mehrzweck-Gedanken“ nicht notwendig ein Scheitern unterstellen, wie H. Schwebel das tut, wenn die eben skizzierten Bedingungen erfüllt sind, die ihrerseits die „anthropologischen Gegebenheiten“ einbeziehen (vgl. Failing, Die eingeräumte Welt, 96). 35 Failing, Die eingeräumte Welt, 107.

118

Flughafengelände zum Bauhof nach Groß Gerau in die Emigration gebracht.“ (109) Wie stark hier die Pietät im Verhältnis zu dem pragmatischen Gesichtspunkt der negativen Medienwirkung war – darüber kann man nur spekulieren.36 Es lässt sich aber vermuten, dass dieser kirchliche Bau durchaus als ein „intermediärer“ Raum wahrgenommen und erlebt worden ist, als ein Raum zwischen dem Innenraum der Seele mit allen Wünschen, Hoffnungen und Intentionen, die sie umtreiben, und der Außenwelt harter Realität, die sich ihren Bestrebungen sträubt. Wie schon in der Theorie Winnicotts hat dieser Zwischenraum eine rein symbolische Bedeutung, der „zum kulturellen Bereich transformiert“ wird. In ihm kann auf spielerische Weise eine „kreative Wahrnehmung“ ebenso stattfinden wie eine „Umformulierung von Wünschen“; „überschüssige Hoffnung“ und „Überschreitungsbedürfnisse“ können offen gehalten werden. In diesem Sinne eines symbolischen Spielraums für Kreativität kann der „intermediäre Raum“ auch für Erwachsene noch eine Bedeutung bewahren.37 So gesehen ist der Raum einerseits mehr als eine Form der Anschauung (als welche Kant ihn verstand), andererseits ist aber auch das von Kant betonte Moment, dass unsere Raumauffassung immer vom menschlichen Subjekt abhängig ist, zu bestätigen. Als „symbolischer Raum“ ist er immer schon mehr als ein „subjektunabhängiger Behälter“ (Failing, 105). Und so ist, „was wir ‚Raum‘ nennen, […] nicht eine apriorische Naturgegebenheit.“38 Ausdehnung und Räumlichkeit sind aber apriorische Bestimmungen „aller unserer sinnlichen Wahrnehmung“ (174), weshalb es auch „keine Leistung und Schöpfung des Geistes“ gibt, „die nicht irgendwie auf die Welt des Raumes Bezug nähme, und die sich nicht gewissermaßen in ihr heimisch zu machen suchte […] Der Raum bildet gleichsam das allgemeine Medium, in dem die geistige Produktivität sich erst ‚feststellen‘, in dem sie es zu ihren ersten Gebilden und Gestalten bringen kann.“ (ebd.)

Andererseits erhält der Raum „seinen bestimmten Gehalt und seine eigentümliche Fügung erst von der Sinnordnung […], innerhalb derer er sich jeweilig gestaltet. Je nachdem er als mythische, als ästhetische oder als theoretische Ordnung gedacht wird, wandelt sich auch die ‚Form‘ des Raumes – und diese Wandlung betrifft nicht nur einzelne und untergeordnete Züge, sondern sie bezieht sich auf ihn als Gesamtheit, auf seine prinzipielle Struktur. Der

———— 36 Problematisch bleibt allerdings die geplante und organisierte Nutzung kirchlicher Räume zu Zwecken, die dem geltenden Recht widersprechen. Das hat das Beispiel Kirchenasyl gezeigt. Hier gab nicht mehr der religiöse Zweck im engeren Sinne die Orientierung vor, sondern eine moralische Haltung, die in Widerspruch zu bürokratischen Praktiken unter dem Dach des geltenden Rechtssystems stand (vgl. Failing, Die eingeräumte Welt, 111ff). 37 Vgl. Odenthal, Liturgie als Ritual, 158. S. o. Abschnitt 3.1 [zu Winnicott]. 38 Cassirer, PhsF III, 36.

119

Raum besitzt nicht eine schlechthin gegebene, ein für allemal feststehende Struktur; sondern er gewinnt diese Struktur erst kraft des allgemeinen Sinnzusammenhangs, innerhalb dessen sein Aufbau sich vollzieht.“39

Eine geschärfte Wahrnehmungsperspektive, die den kirchlichen „Zweckbau“ als „anderen“ Raum in den Blick zu nehmen erlaubt, ist entweder immer schon auf bestimmte Deutungsmuster bezogen oder aber sie muss – bei möglichst vorurteilsfreiem Beginnen – nachträglich auf solche Deutungsmuster bezogen werden. In wie starkem Maße die Wahrnehmung und die Deutung auch bei Failing miteinander verknüpft sind, lässt sich seiner Interpretation der an den genannten Beispielen gezeigten „Revitalisierung religiöser Raumsymbolik“ entnehmen.40 Zuzustimmen ist seiner Deutung, dass die Kommunikation von Erlebnissen der Mitteilung bedarf, und diese – jedenfalls auch – als Ausdruck zu verstehen ist, bevor sie überhaupt zu einer überlegten Aussage werden kann. Während der Ausdruck die vielleicht noch ungeordnete, ganze Komplexität einer Gefühlslage einbegreift, hat sich in der Aussage schon ein ordnendes Interesse ausgewirkt: Die Aussage ist eine Form geordneter Darstellung. Die von ihm genannten Beispiele von der Kirche als Ort der Klage, des Widerstands, des Asyls und der Begleitung auf dem Weg zum Tod (im Fall des Hospizes) belegen: Jeweils bedurfte es des kirchlichen Raumes als eines Ortes der Expressivität, und die symbolische Bedeutung des Raumes war von diesem Bedürfnis bestimmt. Diese Deutung geht weiter als die funktionale, die das Gemeindezentrum als – unspezifischen – „Treffpunkt“ oder „Werkstatt“ begriff. Hintergrund dieser Deutung ist zudem ein Zeitgeist, der in den 80er Jahren (erst einmal jedenfalls) seinen Zenit überschritt; ihm zufolge leben wir im „Zeitalter der Lebensgefahr“ (Josuttis), und d. h. in einer apokalyptischen Dimension. Über diese Zuspitzung des Gesichtspunktes der Expressivität würde sich allerdings auch streiten lassen.41 Problematisch wird Failings Deutung aber da, wo er die vorher mit Kant, Cassirer und anderen erinnerte Einsicht in die Subjektgebundenheit menschlicher Raumerfahrung zu vergessen scheint, um – eben im Gefolge eines mit realen „Mächten und Gewalten“, auch mit „Energien“ rechnenden M. Josuttis – den „spezifischen Anforderungscharakter“ oder die „Atmosphäre“ oder „Gestimmtheit“, die Räumen eigen sein sollen, aus der Konstitution durch das wahrnehmende und deutende Subjekt herauszubrechen: „Räume, Ort und Stätten“ seien eben „nicht einfach Projektionsflächen ———— 39 Cassirer, PhsF III, 102. 40 Failing, Die eingeräumte Welt, 113ff. 41 Heute ruft der Klimawandel die alten apokalyptischen Ängste erneut auf den Plan: Vgl. A. Weisman, „Die Welt ohne uns“. Reise über eine unbevölkerte Erde, München 2007 (Rezension von A. Kilb in der F. A. Z. Nr. 204 [3. September 2007], Seite 37).

120

innerer Empfindungen und Kulisse religiöser Motive“, sondern in ihnen ereigne sich „Transzendenzerfahrung“, als ob es dazu vor allem der Räume bedürfte: der an anderer Stelle zitierte Lévinas hat seinen „Versuch über die Exteriorität“ in eben der zwischenmenschlichen Begegnung „verortet“ – auf räumliche Metaphern können wir in der Tat nicht verzichten –, die je mich mit einem „anderen“ meiner selbst konfrontiert. Folgerichtig gelangt Failing zu der Ansicht, dass sich in den von ihm perspektivierten und gedeuteten Phänomenen „Elemente eines mythischen Raumverständnisses revitalisieren“.42 Genau das ist der Fall.43 Doch während Failing hier zu einer affirmativen Haltung neigt, ist ein erster Aspekt der Entmythologisierung des mythischen Raums mit der methodischen Priorität der Zeit vor dem Raum gegeben. Ein zweiter wird in der Aufklärung des Mythos durch eine biblisch prägnant präzisierte Religion auf den Spuren von E. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen auszuführen sein. Auch andere Autoren ließen sich nennen (Cohen, Rosenzweig, Benjamin und eben Lévinas). Es ist vielleicht kein Zufall, dass sie allesamt auf die jüdische Interpretation der Bibel zurückgehen. Nota bene gewinnt auf dem jetzt erreichten Stand der Darstellung auch die zu Beginn mit Benjamin eingeführte Unterscheidung von Schwelle und Grenze eine schärfere Kontur. Wie Failing zutreffend beobachtet, lässt sich die Expressivität anhand der von ihm dargestellten Beispiele auf „Grenzverlust und Grenzbedrohung“ zurückführen. Das mythische Verständnis des ———— 42 Failing, Die eingeräumte Welt, 114. 43 Bestätigt wird das auch von M. Foucault, der die These vertreten hat, dass „die aktuelle Epoche […] die Epoche des Raumes“ sei, betreffe doch „die heutige Unruhe grundlegend den Raum […] – jedenfalls viel mehr als die Zeit“, die „wohl nur als eine der möglichen Verteilungen zwischen den Elementen im Raum“ erscheine (M. Foucault, Andere Räume, in: M. Wentz [Hg.], Stadt-Räume, Frankfurt a. M. 1991, 66). Begründet wird diese These durch eben die Einsicht, dass „trotz aller Techniken, die ihn besetzen, und dem ganzen Wissensnetz, das ihn bestimmen oder formalisieren lässt, der zeitgenössische Raum wohl noch nicht gänzlich entsakralisiert“ sei (67), während die Zeit im Zuge der wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte im 19. Jh. durchaus entmythologisiert worden sei. Via negativo hat Dan Diner dies am Beispiel der „Versiegelung der Zeit“ im Islam verifiziert (vgl. Ders., Versiegelte Zeit). Den Grund für ein immer noch mythisches oder „sakralisiertes“ Raumverständnis erblickt Foucault in „Entgegensetzungen […], an die man nicht rühren kann, an die sich die Institutionen und die Praktiken noch nicht herangewagt haben. Entgegensetzungen, die wir als Gegebenheiten akzeptieren: zum Beispiel zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum, zwischen dem Raum der Familie und dem gesellschaftlichen Raum, zwischen dem kulturellen Raum und dem nützlichen Raum, zwischen dem Raum der Freizeit und dem Raum der Arbeit. Alle diese Gegensätze leben noch von einer stummen Sakralisierung“ (Foucault, ebd.). Man kann es vielleicht auch so sagen: Sie sind durch ritualisierte Konventionen bestimmt, durch das Ritual als „grundlegende Form bewegter Darstellung [und bewegten Vollzuges, wie man ergänzen müsste] von Lebensbewegungen“ (Failing, Die eingeräumte Welt, 118 mit Bezug auf V. Turner). Dies zu sehen heißt aber, den mythischen Zwang menschlichen Sich-Verhaltens zum und im Raum so weit wie möglich aufzuklären. Die Grenze solcher Aufklärung wird in der Leiblichkeit des Menschen zu sehen sein: „Raum ist, sofern Leib ist“ (E. Ströker, Philosophische Untersuchungen zum Raum, 192).

121

Raumes baut auf der symbolischen Bedeutung der Grenze auf. Demgegenüber müsste die religiöse Aufklärung dieses mythischen Verständnisses die Schwelle als Ort ernst nehmen, an dem die Zeit still stehen, offen und weit werden kann für eine Deutung, die die mythische übersteigt. Ein in diesem Rahmen begriffenes kirchliches Kasualhandeln wäre ausdrücklich durch Aufklärung mythischer Vorverständnisse zu charakterisieren. Das gilt insbesondere mit Blick auf die „sozialen Dramen“, die sich hinter den vom Ritual eröffneten symbolischen „Räumen“ verbergen.44 Eindrücklich bringt der Film „Die weiße Massai“ (unter anderem) diesen Zusammenhang zur Darstellung.45 4.3.3 Der „unsagbare Raum“ im Deutungsmuster einer „Poesie der offenen Welt“ Mit der Frage, wie der kirchliche Raum zu gestalten sei, ob als zweckhafter Profan- oder als auratischer Sakralbau, ist das für die Geschichte der Architektur grundsätzliche Weltverhältnis des Menschen angesprochen. Dass dieses im Unterschied von der Antike und dem Mittelalter in der Neuzeit einer prinzipiellen Wandlung unterzogen worden ist, ist längst keine Neuigkeit mehr. In einem historischen Überblick, der nur allgemeinste Merkmale fokussiert, lässt sich sagen: Die antike Architektur wandte den „äußeren Volumina“ ihre Aufmerksamkeit zu, die folgende Periode achtete auf die Innenräume „vom römischen Pantheon bis hin zur Architektur des 18. Jahrhunderts“, bis dann die Moderne – angeregt und in Stand gesetzt durch die neue, konstruktivistische Bauweise mit Stahl, Beton und Glas – eine „bis dahin unbekannte Interpenetration von Innenraum und Außenraum“ ins Werk setzte.46 Im Architektonischen ist hierfür Le Corbusier exemplarisch, der auch Künstler und Dichter war (118). Mit seinen Schriften und Bauten suchte er eine Antwort auf die Fragen, die die Situation des neuzeitlichen Menschen aufgeworfen hatte. Diese ist wesentlich bestimmt durch ———— 44 Failing, Die eingeräumte Welt, 113 zit. Turner, Vom Ritual zum Theater, 12. 45 „Die weiße Massai“ (Deutschland 2005; Regie: H. Huntgeburth). Hier ist in eindrücklicher Weise zu sehen, dass die Sexualität eine mythische Macht ist. Der mit dem Sex verschwisterte Eros bedarf der Aufklärung durch die Verantwortung, die im Angesicht des andern entsteht. 46 S. Giedion, Space, Time and Architecture, zit. in: U. Bernhardt, Der Bruch mit der Innerlichkeit. Zum Projekt der Moderne bei Le Corbusier [dem Vf. vorliegendes Typoskript der deutschen Übersetzung des französischen Originals durch den Autor: Ders., Le Corbusier et le projet de la modernité. La rupture avec l’intériorité], 7f [Die in diesem Abschnitt nicht eigens ausgewiesenen Zitate beziehen sich auf dieses Werk].

122

eine „Unruhe mit sich selbst, die Unmöglichkeit, bei sich bleiben zu können, die Hast des Reisens. Die Moderne […] ist ständig unterwegs. Nicht, um etwas zu entdecken, nicht, um zu erobern, eine Herrschaft auszuüben, sondern weil die Erfahrung seiner selbst im Außen ein höchster Wert wird […] Der Mensch [… ist] unterwegs und nie am Ziel.“ (61)

Der mit dieser Bewegung verbundene Verlust des interieurs ist ambivalent, wie Uwe Bernhardt mit einem Bloch-Zitat sehr prägnant zeigt.47 Doch nicht nur die Mobilität und Flexibilität der Lebensverhältnisse ist es, auf die die Architektur eine Antwort sucht, sondern auch die – etwa von G. Simmel beschriebene – Reizüberflutung (und daraus folgende Gleichgültigkeit) des modernen Großstadtmenschen. Dem Phänomen, dass es Augen gibt, „die nicht sehen“ (33ff), setzt Le Corbusier die Forderung entgegen, auch durch die Bauweise von Häusern und Kirchen die Wahrnehmungsfähigkeit und Aufmerksamkeit des Menschen zu schärfen. Durch die Kargheit von Räumen wird die Sensation nur scheinbar ausgelöscht, erwächst doch unter dieser Bedingung die Möglichkeit neuer Aufmerksamkeit und von Sensationen anderer Art: „Die neue Einfachheit nötigt das Sehen zur Konzentration: nie zuvor war es möglich, das Weiße der Wand, das Holz des Bodens, die Körnigkeit des Eisens, den Einfall des Lichtes – die Materialität des Materials – zu sehen.“ (113)

Es ging Le Corbusier darum, mit architektonischen Mitteln Räume zu schaffen, die „etwas ausstrahlen, rein körperlich strahlen sie etwas aus […] Dies gehört zum Bereich des Unsagbaren.“ (112 zit. Le Corbusier). Vor der Verwendung einfacher und reiner Materialien kam es aber auf die Konzeption an, schließlich auf die Konstruktion von Gebäuden nach Maßgabe einer „Ästhetik der Spannungen und Verhältnisse im Raum“ (104). Das will sagen, in die Frage der Raumgestaltung ging eine „geistige Durchdringung des menschlichen Verhältnisses zur Welt“ ein (105). Die Suche nach einer „Harmonie des Raumes“, die „durch einen Atemhauch, durch eine besondere Seele belebt werden“ muss (106), bezieht bei Le Corbusier die Umwelt des zu erstellenden Gebäudes mit ein. In kritischer Opposition zu einer bloß funktionalen Bauweise in den modernen Großstädten, die more geometrico vollzogen wurde, ohne dass noch ein wesentlicher Unterschied zwischen ———— 47 Bernhardt, Bruch, 80 zit. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 859: „Der begonnene Grundzug der neuen Baukunst war Offenheit: sie brach die dunklen Steinhöhlen, sie öffnete Blickfelder durch leichte Glaswände, doch dieser Ausgleichswille mit der äußeren Welt war zweifelsohne verfrüht. Die Entinnerlichung wurde Hohlheit, die südliche Lust zur Außenwelt wurde, beim gegenwärtigen Anblick der kapitalistischen Außenwelt, kein Glück. Denn nichts Gutes geschieht hier auf der Straße, an der Sonne; die offene Tür, die riesig geöffneten Fenster sind im Zeitalter der Faschisierung bedrohlich, das Haus mag wieder zur Festung werden, wo nicht zur Katakombe.“

123

einem Ingenieur und einem Architekten feststellbar gewesen wäre (100ff) – d. i. nota bene ein Funktionalismus, dem Le Corbusier sich zeitweilig selbst verpflichtet hatte –, setzt die Aufgabe des Architekten eine „Erfindungsgabe“ voraus, die sich notwendig auf das vorhandene Material und den landschaftlichen Kontext beziehen muss. Das antike Vorbild hierfür ist der Parthenon in Athen (107).

Abb. 6: Athen: Parthenon

So projiziert „die menschliche Vernunft […] die architektonischen Formen nicht aus sich selbst heraus, […] sondern greift in einen bereits gegebenen Zusammenhang ein.“ (106) Das ist ein erster an der Chapelle Notre-Damedu-Haut, Ronchamp (1953) zu verifizierender Gesichtspunkt: „Der Aufschwung der tumben Massen von Ronchamp sind [neben anderen Phänomenen in der Architektur Le Corbusiers] keine ‚irrationalen‘ Abweichungen, in denen der Architekt seine rein funktionalistische Lehre ‚verraten‘ hätte.“ Dieses und andere „Beispiele zeigen […], dass es nicht darauf ankam, platonische Körper zu konstruieren, die geometrisch in sich abgeschlossen sind, sondern darauf, die Gebäude in das Verhältnis zur äußeren Umwelt zu setzen. Der Bezug zur natürlichen Umwelt, zum ‚Kontext‘, zur ‚Gegend‘, ist auch deswegen so wichtig, weil dadurch die Gebäude als offene in einem offenen Raum situiert werden: sie treten in Verbindung mit einem Außen; sie erwirken Bezüge im Raum. Sie sind keine geschlossenen Entitäten, wie dies für die klassische Architektur gültig ist, sondern befinden sich gleichsam in Resonanz mit der Umwelt. Raum, Zeit und Architektur durchspielen einander.“ (108)

124

Ein anderer Gesichtspunkt ist, dass die Kompositionen von Le Corbusier „von eigentümlichen Spannungen geprägt“ sind. Das ist eine Konsequenz aus seiner Definition der Architektur, seiner „berühmtesten“: „Die Architektur ist das durchdachte, exakte und großartige Spiel der unter dem Licht zusammengefügten Körper. Unsere Augen sind dazu geschaffen, Formen unter dem Licht zu sehen; Würfel, Kegel, Kugeln, Zylinder oder Pyramiden sind die großen primären Formen, die das Licht gut offen legt; ihr Bild in uns ist klar und greifbar, ohne Zweideutigkeit. Von daher sind es schöne Formen, die schönsten Formen.“ (110 zit. Le Corbusier)

Räumliche und optische Bezüge „spielen“ miteinander, und sie können dieses Spiel für den Betrachter beginnen, weil sie in Spannung zueinander stehen. Diese Spannungen manifestieren sich auch zwischen „der steil aufsteigenden Kurve des Daches von Ronchamp und der abrupt endenden Vertikale der Südwand. Aber abgesehen von diesen rein geometrischen Spannungen lassen sich auch Kontraste zwischen Leerem und Vollem, Licht und Schatten, glatten Oberflächen und granulöser Materie […] bis hin zur Tourette bemerken.“ (110f)

Im Kirchenschiff dieses von Le Corbusier 1959 gestalteten Dominikanerklosters Couvent Saint-Marie-de-La-Tourette „konstituiert die Spannung eines asymmetrischen Raumes ein ‚Zwischen‘, in das der Blickpunkt des Betrachters einbezogen ist. Insofern fesselt diese eigenartige Schönheit den Betrachter an einen Ort, gerade ohne diesen Ort als in sich geschlossene Einheit zu konstituieren. Die Schönheit als Inszenierung der Bezüge […] bildet einen Raum heraus, der sich einer geometrischen Beschreibung entzieht.“

In diesem Sinne wird der architektonisch konstruierte Raum, dessen Schaffung gerade mathematisches, geometrisches Wissen voraussetzt, das sich in einer darstellbaren formalen Sprache zum Ausdruck bringt, zu einem „unsagbaren Raum“. (111) Die Konzeption des Raumes bei Le Corbusier „sprengt“ die bisher vorgestellte und konstruierte Räumlichkeit mit den Ambivalenzen, die ihr nach dem oben Gesagten eigen sind. „Die Linien der Architektur zeigen nun Bewegungs- und Blickrichtungen an; die Textur des Materials eine gegenwärtig sensorielle Wahrnehmung. Von einer statischen Welt […] die in sich verharrte, weil sie die Vermittlung durch die Repräsentation des Wissens kannte, gelangt man zu einer dynamischen Konzeption des Raumes, der nun nichts Abgeschlossenes mehr darstellt.“

Gerade so vermag sich auch der Raum auf die Zeit hin zu öffnen, „auf den unbestimmten Horizont einer in Fluss befindlichen Gegenwart“. (115) Die das Verständnis von Le Corbusiers Bauten vorauszusetzende „Poesie einer offenen Welt“ (99) lässt erkennen, dass die moderne Architektur „keine bestimmte, feste Form“ sucht, und das auch dann nicht, wenn es um den 125

Bau von kirchlichen Gebäuden geht. „Es mag sein, dass die Kunst oder die Poesie deswegen zum grundlegenden Paradigma in der Moderne wird, weil allein sie das Offene verspricht, eine Unendlichkeit der Möglichkeiten von Erfahrung.“ (117) Insofern die Architektur diesem Versprechen eine räumliche Gestalt gibt, ermöglicht sie dem Menschen „eine ‚Meditation‘, eine Konzentration auf sich selbst.“ (124) Eine „radikal neue Welt“ (128) kann es allerdings auch für die Architektur nicht geben. In diesem Deutungsrahmen lässt sich die Transformation der RaumWahrnehmung und -Gestaltung, ja des Raum-Verständnisses in der Moderne auf die grundlegende Funktion des Raumes überhaupt beziehen, Bedingung der Gleichzeitigkeit zu sein (s. o.). Eine in der Moderne zu einer beinahe allgemeinen Verhaltensweise mutierte anthropologische Wahrheit ist die „Unmöglichkeit, bei sich zu bleiben“ (d. i. ein „an Pascal anspielender Ausdruck“ von Lévinas [124]). Schon im antiken Mythos von Odysseus ist sie repräsentiert, insofern dieser Held aus sich herausgehen musste, um zu sich zurückkehren und in dieser Rückkehr sich selbst finden zu können. Diese Struktur wird durch die biblischen Erzählungen von Abraham variiert, insofern hier ein Ruf, das Vernehmen einer Stimme einen Aufbruch ins Ungewisse nach sich zieht – jedoch ohne die Verheißung und die Sicherheit der Rückkehr. Beide Male ist die Offenheit des Raumes und der Zeit für die Entfaltung des Menschen als eines „weltoffenen“ Wesens vorausgesetzt (wenngleich auf unterschiedliche Weise verstanden), doch diese alte Voraussetzung muss in jeder Gegenwart wieder neu entdeckt werden. So ging Le Corbusier davon aus, dass „mit der Tradition, den Akademien, dem verschulten Wissen, aber auch mit der (traditionellen) Innerlichkeit des Denkens und der Kultur – und der Wohnungen – gebrochen werden [muss], damit der Mensch zu sich selbst befreit und ein neues Verhältnis zur Welt errungen werden kann.“ (123) Der Architektur sollte hierbei die Rolle zukommen, „Organon der Moderne“ zu sein. Doch die „Unmöglichkeit, bei sich zu bleiben“ verweist nicht nur auf den anthropologischen Sinn der Weltoffenheit, den die Moderne entdeckte wie keine Epoche vorher, sondern er hat auch eine ethische Bedeutung, die in die anthropologische eingezeichnet werden kann, dass der Mensch ein „geselliges Wesen“ ist, ein ȗȫȠȞ ʌȠȜȚIJȚțȩȞ, ein animal sociale. Der architektonisch geschaffene Raum versammelt – der Möglichkeit nach – Menschen, die „nicht bei sich bleiben können“, die im Angesicht anderer aus sich herausgerufen werden und doch auf eine „Bleibe“ nicht verzichten können, die ihre Freiheit suchen und doch füreinander verantwortlich sind. Denn die Freiheit ist – mit Lévinas prägnant präzisiert – das „Vermögen, sich in Frage zu stellen [… Sie] beruht auf der ethischen Infragestellung durch den anderen Menschen“ (125f), und insofern ist sie der Verantwortung verschwistert. 126

„Wo sich für Le Corbusier der Innenraum der Klarheit und Transparenz der Außenwelt zu fügen hatte, verbreitet sich für Lévinas im Innenraum eine ‚Zartheit über das Gesicht der Dinge‘, da sie einem Ich angeboten werden, das ‚geliebt‘ wird. Entscheidend ist nicht die räumliche Innerlichkeit, sondern vielmehr die soziale […], die auf dem diskreten und stillen ‚Empfang‘ des Ich durch den anderen fußt. Die ‚Innerlichkeit‘ der ‚Bleibe‘ bezeichnet [bei Lévinas] somit keinen Quietismus in einer räumlichen Abgeschiedenheit von der Welt, sondern soll gerade den Vorrang der sozialen Beziehung vor der Beziehung zur Welt bedeuten.“ (125)

So verteidigt Bernhardt am Ende die neu verstandene Innerlichkeit gegen einen auch bei Le Corbusier durchschlagenden „exzessiven Modernismus“ (127) im Horizont der Vision, dass der innere Mensch einmal in ungeteilter Gerechtigkeit mit der äußeren Welt leben könnte. Die Korrektur Bernhardts spricht aber nicht gegen das in der modernen Architektur gegenständlich gewordene dynamisierte Verständnis einer Räumlichkeit, die auch einen Horizont der Zeit eröffnet. Vielmehr kann das mit Le Corbusier gewonnene Verständnis eines offenen Raumes der Erfahrung einer Gemeinschaft den Weg bereiten, die sich nicht in homogener Einheit erfüllt, sondern Differenzen integriert, und die nicht als ein „herzustellendes Werk“48 zu begreifen wäre, sondern als Ereignis des „Brückenschlages“ zwischen Getrennten.49 Solche Gemeinschaft wäre wie die von Buber beschriebene communitas50 als „In-der-Schwebe-Sein“ singulärer Wesen zu fassen, die „außer sich“ geraten,51 in solch antizipierter raumzeitlicher Einheit aber die – paradoxe – Beschreibung M. Blanchots bestätigt finden, dass sie zwar „zusammen“ sind, aber „noch nicht“.52 Im Zuge dieser Neubestimmung der Innerlichkeit ist schließlich dem Ethischen der „erste Rang gegenüber dem auch künstlichen Weltbezug einzuräumen“ (129). In einer theologischen Perspektive wird man ergänzen müssen, dass auch noch das Ethische im Religiösen fundiert und durch es begrenzt zu denken ist.53 Dieser Gesichtspunkt findet seine prägnante Präzisierung im zentralen Symbol des kirchlichen Raumes, lässt sich doch das Kreuz mit E. Rosenstock-Huessy als ein „wirkender Prozess“ im praktischen Sinne, als eine „Denkweise des an der Gemeinschaft teilnehmenden Mitmenschen“ und als eine „Form des Sozialen“ verstehen.54 ———— 48 J.-L. Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft (1988), zit. nach: v. Reijen, Die authentische Kritik, 163f. 49 Rosenzweig, GS III, 150 [Das neue Denken]. 50 S. o. Kapitel 3, Motto. 51 V. Reijen, Die authentische Kritik, 164. 52 Zit. nach A. Finkielkraut, Die Weisheit der Liebe, 69. 53 Das wird unten zu zeigen sein: s. u. Kapitel 6 [Die Symbole der Liturgie]. 54 K. M. Stünkel, Stern und Kreuz. Zur Phänomenologie des metaphysischen Zeichens bei Franz Rosenzweig und Eugen Rosenstock-Huessy (noch nicht veröffentlichtes Manuskript eines auf der Tagung „‚Kreuz der Wirklichkeit‘ und ‚Stern der Erlösung‘. Die Glaubens-Metaphysik von Eugen Rosenstock-Huessy und Franz Rosenzweig“ in Frankfurt a. M. am 9.7.2008 gehaltenen Vortrags).

127

5. Die Medien der Liturgie

Der Herr sprach: Geh heraus und tritt hin auf den Berg vor den Herrn! Und siehe, der Herr wird vorübergehen. Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem Herrn her; der Herr war aber nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der Herr war nicht im Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein sanftes Sausen […] Und siehe, da kam eine Stimme zu ihm und sprach: Was hast du hier zu tun, Elia? 1Könige 19, 11–13

Mit der Heraufkunft der modernen Massenmedien nach dem Buch und der Zeitung sind der Kirche neue Herausforderungen entstanden. In einer gewissen Analogie zum Theater als einem „alten Massenmedium“ hat auch die Kirche unter den Bedingungen der zeitgenössischen Mediengesellschaft „enorm an Breitenwirkung und Resonanz eingebüßt“.1 Funktionen, die die Bühne zur Darstellung eines dramatischen Spiels, sei es mehr ernster, sei es mehr witzig-verfremdender Natur (als Tragödie oder als Komödie) erfüllte, das Stehpult zur Übermittlung von Nachrichten, oder die belehrende, motivierende, erfreuende Rede ausgeübt haben, sind allesamt von den zeitgenössischen Massenmedien Film, Fernsehen und Internet übernommen worden. Zwar stehen die Kirchen anders, und in der Konkurrenz zu den neuen Massenmedien besser da als das Theater, in der Gestaltung ihres liturgischen Lebens sehen sie sich aber vor große Herausforderungen gestellt. Denn seit neben den Gemälden die Photographien, neben das unbewegliche Bild mit dem Film die Bilder getreten sind, die laufen lernten, neben die Versammlung in leiblicher Gegenwart die einsame oder auch gemeinsame Runde vor dem Radio, dem Fernseher, seit das private Wohnzimmer jeden———— 1 W. Gräb, Sinn fürs Unendliche, 164.

128

falls der Möglichkeit nach zum Konzertsaal und Heim-Kino geworden ist, haben es die Versammlungen an Orten der Gemeinsamkeit schwerer, und das betrifft die Kirchen ebenso wie das Kino, das Theater oder den Konzertsaal. Die zeitgenössischen Massenmedien befördern die Individualisierung, deren Kehrseite die Pluralisierung ist. Während sie „Öffentlichkeit eben dadurch her[stellen], dass sie durch die Zwischenschaltung von Technik den Face-to-Face-Kontakt unterbrechen“,2 setzt der Gottesdienst die leibliche Anwesenheit der Teilnehmenden voraus, auch wenn man derartigen Veranstaltungen als Zuschauer im Fernsehen beiwohnen kann. Die Entwicklungen sind keineswegs eindimensional verlaufen. Überall kann man Gegenbewegungen zum mainstream erkennen und beide aufeinander beziehen. So macht es einen Unterschied, ob man im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit ein Gemälde auf einer Postkarte bzw. in einem schönen Bildband betrachtet (oder es sich neuerdings aus dem internet „herunterlädt“), oder ob man in die Kunsthalle, in die Kirche geht, um das Original zu betrachten. Es macht einen Unterschied, ob man ein Orgelwerk Max Regers in das CD-Gerät einlegt, um es im Sessel daheim zu hören, oder ob man in die Stadtkirche zum Konzert geht. Es macht einen Unterschied, ob man sich den neuen oder auch älteren Film im Kino anschaut, oder ob man auf das Erscheinen der DVD wartet, die eine Unabhängigkeit des Kunstgenusses von den öffentlichen Programmen ermöglicht. Wer als Freund des Films in der Provinz lebt, kann ein Lied davon singen, wie schwer es ist, den gewünschten Film zur rechten Zeit sehen zu können. DVDs oder Videos, CDs oder Schallplatten, Postkarten oder Bildbände zur Kunst haben die Ausstellung von Bildern, das Konzert, das Kino nicht überflüssig gemacht. Und doch sind den Veranstaltungen, die eine leibliche Präsenz erfordern, Konkurrenzen entstanden, die es ihnen manchmal schwer machen, sich auf dem Markt zu behaupten. „Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts [sind die Theater] weithin nur noch mit Subventionen aus Steuergeldern am Leben zu erhalten“ (164), Entsprechendes gilt für Konzert- und Opernhäuser. Dass diese hier knapp geschilderten Entwicklungen und Verhältnisse sich auch auf den christlichen Gottesdienst ausgewirkt haben, liegt auf der Hand und bedarf keiner weiteren Ausführung. Auf dem Hintergrund einer Medien-Wahrnehmung stellt sich der Liturgik aber die Aufgabe, über die elementare, basale Bedeutungen von Medien für die Konstitution von Wirklichkeit und für Kommunikation nachzudenken, die „die Strukturen unseres Selbst- und Weltumgangs“ formen (141).3 ———— 2 Gräb, Art. Medien, in: HBPTh, 154. 3 „Sie konstituieren Wirklichkeit und zugleich unser Wirklichkeitsverständnis. Damit sind sie selbst schon eine Form impliziter Religion“ (Gräb, Art. Medien, 159). – Im Zeitalter der MultiMedialität ist der Roman „Der Schatten des Windes“ von Carlos Ruis Zafón ein Plädoyer für die Rolle, die Bücher für die Selbstfindung und das Selbstverhältnis eines Menschen haben können.

129

Das soll nicht geschehen, um eine Video-Installation, das Filmbeispiel, das digitale Gesangbuch und dergleichen im Gottesdienst zur Regel zu machen. Der Zweck der folgenden Überlegungen ist vielmehr, die Funktion und Bedeutung der drei alten Medien klarer in den Blick zu bekommen, auf die der Gottesdienst noch nie verzichten konnte und wollte: die Stimme und das Wort, den Ton und die Musik, das Bild und das Symbol. Bilder sollen (Hans Belting folgend) hier zuerst als Medien betrachtet werden, ehe sie denn – neben Musikstücken und Texten – als Medien des Symbolischen zu betrachten sind. An Bild, Ton und Wort, später dann auch am Symbol ist die anthropologische Einsicht zu bewähren, dass Menschen sich medial erfahren und medial handeln.4

5.1 Stimme – Wort – Rede Zwar hat die Stimme ihr „fast absolutes Medienmonopol“5 längst verloren, doch auch das sie über vorher ungeahnte Distanzen verbreitende Radio bleibt auf sie angewiesen. Manche Sender benennen sich bis heute nach ihr (der israelische Sender „Kol Jisrael Miruschalaim“ [Die Stimme Israels aus Jerusalem] etwa), und manchen Dichtern, Rednern, Essayisten oder Sängern wird die Rolle zugesprochen, die Stimme eines Landes zu sein. Die Stimme hat längst nicht ausgedient,6 sie bleibt darstellendes Medium eines Sachgehaltes und der Individualität der Sprecherin oder des Sprechers, sie fungiert in Kommunikationszusammenhängen als „Fänger der Aufmerksamkeit“. Mit den Funktionen des Rituals ist ihr Gebrauch vielfältig verwoben, wenn man denn ihre „Verschränkung mit anderen Sinnesbereichen, wie Blick und Geste“ nicht ausblendet.7 Aber sie tritt heute meist in techni-

———— Im „Friedhof der vergessenen Bücher“ findet ein Jugendlicher ein Buch, das fortan sein Leben verändert; am Ende führt er seinen ungefähr gleichaltrigen Sohn auf eben diesen Friedhof, um ihm entsprechende Erfahrungen zu ermöglichen. – Als Negativbeispiel ließe sich die Wirkung von Gewalt-Videos nennen. 4 H. Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe, 14. 5 Hörisch, Geschichte der Medien, 39. 6 Im Zeitalter des um 1500 neuen Mediums Buch, neu jedenfalls mit Blick auf die massenweise Verbreitung durch den Druck, hat die Stimme „eine bemerkenswerte Stärkung erlebt“. „Nicht umsonst erlebte eine so zarte Einrichtung wie die Oper, die schöne Stimmen kultisch verehrt, ja fetischisiert, just in time mit der Durchsetzung des Buchdrucks ihre Gründung“ (46). 7 R. Meyer-Kalkus, Die Stimme – Fänger der Aufmerksamkeit, in: F. A. Z. Nr. 83 (9. April 2008), Seite N 3). „Wie immer auch das Durcheinander von sensorischen Eindrücken beschaffen sein mag, so können wir nicht anders, als unsere Aufmerksamkeit zunächst auf die Stimme zu richten. Wie am Gesicht erkennen wir an ihr nicht nur das Wer der Rede, sondern auch das Was und das Wie des Gemeinten.“ (ebd.)

130

scher Verstärkung und Vervielfältigung auf.8 Wie für jede öffentliche Rede bleibt sie auch für die Predigt das zentrale Medium, und im Gottesdienst übernimmt sie zudem an anderen Stellen von Anfang bis Ende eine unverzichtbare Funktion. Mit Blick auf die biblische Genesis ebenso wie auf Richard Wagners „Rheingold“ hat Jochen Hörisch den Ursprung medialer Kommunikation in der Reihe „Noise – Rauschen – sinnferne Laute – distinkte Stimme“ zur Darstellung gebracht9 und diese These plausibel auf die Ontogenese des Menschen bezogen (30). „Dass die Stimme erklingt, gilt seit dem ersten Schrei des Neugeborenen als unüberhörbares Indiz des Lebens. Ein ärmlicher oder im Hinblick auf die ihm möglicherweise geschenkte Lebenszeit reicher Erdensohn macht, frisch geboren, auf die Sensation seiner schieren Existenz stimmlich aufmerksam. Sound steht am Anfang auch seines Daseins.“ (43)

Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die medientheoretische Rolle der Stimme mit der des zu Beginn von Gott gesprochenen Wortes übereinkommt, wobei freilich das klare und distinkte Wort „gut“ durch höhere Prägnanz hervorsticht.10 Jedenfalls sind Menschen „primäre Stimmwesen“ bzw. „Sprachwesen“,11 was sich in für die Bibel so grundlegenden Anthropomorphismen denn auch in der Weise spiegelt, wie Gott sich „im Anfang“ zu erkennen gibt: er spricht. Und wenn Gott dem biblischen Zeugnis entsprechend seine Stimme erhebt, dann geschieht das nicht im Sturm, im Erdbeben oder im Feuer, die Noise, Rauschen und sinnferne Laute verbreiten, sondern im „stillen, sanften Sausen“ und durch artikulierte Laute, durch Worte, meistens durch eine Frage (1 Könige 19, 11–13). Nota bene bringt diese Geschichte des unter Depressionen leidenden Propheten Elia an dieser Stelle ein wesentliches Moment der „medialen Erfahrung schlechthin“ zur Dar———— 8 Ihre beeindruckende Wirkung ist vielfach zur Darstellung gebracht worden, sei es im Roman, sei es im Film. In „Merry Christmas“ (F/D/GB, 2005) ist es das Gesangsduo, das aus einem Schützengraben des 1. Weltkriegs zwischen Deutschen, Franzosen und Schotten einer „Verbrüderung“ den Weg bereitet, die zur Waffenruhe am 1. Weihnachtsfeiertag führt. Und in „Die Verurteilten“ (USA 1995; Regie: Frank Durabout) legt der zu Unrecht zweimal lebenslänglich einsitzende Andy Dufresne verbotenerweise eine Schallplatte mit der „Hochzeit des Figaro“ auf, um die Stimme der Sängerin mit dem Lautsprecher über das ganze Gefängnis zu verbreiten. So ertönt für einen Augenblick lang der Klang eines anderen, schönen Lebens in freier Menschlichkeit. Ähnlich verhält es sich in einer Szene in Ian McEvans „Saturday“, als der Verbrecher Baxter durch den von ihm erzwungenen Vortrag eines Gedichts aus dem Konzept gerät. Hier unterbricht allerdings nicht die Stimme als solche, sondern der menschliche Sprachgebrauch der Poesie. Im Wohlklang der Worte scheint unvermutet und plötzlich eine andere Wirklichkeit auf, deren Bann er sich nicht entziehen kann. 9 Hörisch, Geschichte, 28. 10 Genesis 1, 4. 10 u. ö. Vgl. Rosenzweig, GS II, 168 [Stern II]. 11 Hörisch, Geschichte, 28 mit Bezug auf Aristoteles, Politik 1.2, 1253a.

131

stellung, dass nämlich „etwas nicht stimmt, dass etwas und jemand nicht mit anderem etwas und einem anderen jemand übereinstimmt, dass Sein und Sinn, dass Gott und Welt, dass alter und ego nicht miteinander zurechtkommen, kurzum: dass im Ursprung ein Sprung, dass schon im Anfang ein Riss ist.“ (35) Wie genau sich beides zueinander verhält: die auf Aristoteles zurückzuverfolgende Einsicht, dass Menschen Stimmen haben, „die ihnen Stimmungen bescheren“, dass sie „über die Möglichkeit [verfügen], zu sprechen“, dass sie „die Sprache [haben] und / oder […] von ihr gehabt [werden], […] von ihr besessen“ sind (29), und dass die Welt und der Mensch in ihr nach Genesis 1 durch die Stimme Gottes im Medium der Sprache geschaffen ist, ist vielfach traktiert und diskutiert worden. Mit Albrecht Beutel kann man Luthers Theologie unter dem Gesichtspunkt rekonstruieren, der dem Johannes-Evangelium sein Thema vorgibt, dass „in dem Anfang […] das Wort“ war,12 „das stimmlich erklingt“,13 mit Hamann und Herder kann man über den Ursprung der menschlichen Sprache nachdenken,14 mit Benjamins früher Philosophie „über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“.15 Auch wird Rosenzweigs Liturgik ohne seine grammatologisch grundgelegte, dialogisch pointierte und poetologisch explizierte Sprachphilosophie nicht zureichend zu verstehen sein. (s. o.) Die feinen Verästelungen der Gedanken, die sich mit Blick auf die genannten Autoren zur Darstellung bringen ließen, sind vorauszusetzen. Im hier thematischen Zusammenhang geht es mir darum, das Medium der Stimme so in den Blick zu nehmen, dass seine Ursprünglichkeit für das Wort ebenso wie für die Musik deutlich genug vor Augen steht. Denn wie sehr Luther auch dem stimmlich (und dann auch schriftlich) vermittelten Wort in seiner Theologie die Priorität eingeräumt hat, so sehr konnte er auch sagen, „Gott habe das Evangelium auch durch Musik gepredigt“.16 Ihm zufolge kommt der Musik „der höchste Rang neben der Theologie zu“ (ebd.), und das aus Gründen, die nachher darzulegen sind. Es geht mir aber nicht darum, das Medium der Stimme, in welchem die Neugeborenen zu Kindern heranwachsen, mit Blick auf seinen immer differenzierteren Gebrauch zu betrachten, der dann – mit allen Problemen, die sich hier stellen – ———— 12 A. Beutel, In dem Anfang war das Wort. [Die in diesem Abschnitt nicht näher ausgewiesenen Seitenangaben beziehen sich auf dieses Werk.] 13 Hörisch, Geschichte, 42. 14 Vgl. O. Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch, 108–124, 179–192. 15 Benjamin, GS II/1, 140–157. Eine ausführliche Interpretation dieses Textes habe ich andernorts gegeben: Dober, Die Moderne wahrnehmen, 96–119; vgl. A. Grözinger, Die Sprache des Menschen; J. Scharfenberg (vgl. Dober, Seelsorge, 194–198). 16 Art. Musik/Musikinstrumente, c) Theologisch, in: RGG4, Bd. 5, 1620.

132

die Instrumentalisierung des Medialen einschließt,17 sondern das Medium der Stimme soll vor aller kommunikationsstrategischen Instrumentalisierung in seiner Bedeutung für das Gottesdienstgeschehen so klar wie möglich hervortreten. Der Weg dahin führt über die Theologie des Wortes, die Luther ausgearbeitet hat und die seither für das evangelische Verständnis des Gottesdienstes grundlegend geworden ist. 18 Luther steht auf der Schwelle eines historischen Weges, der sich medien-, kommunikations- und gesellschaftstheoretisch als Weg vom Kult zur Kommunikation beschreiben lässt.19 Sein Verständnis des Wortes Gottes als einem Heiligtum beruht noch auf einem kultischen Verständnis, überhöht das Wort aber nicht sakramental (Beutel, 446), sondern verweist es auf den lebendigen Prozess des Sprechens und Hörens (im Dialog, im Unterricht, in der Predigt). Die vom Wort Gottes angeregte menschliche Kommunikation wird je nach Kasus, nach Situation unterschiedlich zu akzentuieren sein, nie aber kommt es in ihr letztlich auf Wissens-Vermittlung an (die zumal im Unterricht eine wichtige Funktion hat), sondern auf Gewissens-Bildung (vgl. 443. 445). Damit ist eine Tendenz zur Individualisierung verbunden, deren Kehrseite die Pluralisierung ist. Denn in seinem Gewissen ist der einzelne unvertretbar individuell. Die Kehrseite der Einsicht, dass Luthers Verständnis des göttlichen Wortes als eines Heiligtums keine sakramentale Überhöhung darstellt, ist aber sein Verständnis der den Gottesdienst als Kult auszeichnenden Sakramente im Licht der elementaren Bedeutung des Wortes: Erst indem das Wort zum Element hinzutritt, entsteht das Sakrament (accedit verbum ad elementum et fit sacramentum). Diese von Luther gern zitierte Formel Augustins bedeutet in seinem Verständnis nun aber auch, dass „die sakramentalen Zeichen ohne das Wort nichts nütze“ sind (473). An der Wirkung des Wortes muss sich seither zeigen lassen, welche Wirkung das Brot und der Wein beim Abendmahl und das Wasser bei der Taufe haben (s. u.). In scharfer Kritik an Karlstadt heißt es bei Luther: „Das ist aber unsere Lehre: dass Brot und Wein nichts helfe, ja dass auch der Leib und Blut im Brot und Wein nichts helfe. Ich will noch weiter reden: Christus am Kreuze mit all seinem Leiden und Tod hilft nichts, wenn’s auch aufs ‚allerbrünstigste, hitzigste, herzlichste erkannt und bedacht‘ wird, wie Du lehrest, es muss über alles hinaus noch ein anderes da sein. Was denn? Das Wort, das Wort, das Wort (hörest Du Lügengeist auch?) das Wort tuts! Denn ob Christus tausendmal für uns gegeben und

———— 17 Vgl. J. Anderegg, Sprache und Verwandlung. 18 Den Kontext von Luthers Theologie habe ich mit Blick auf die Predigt an einem anderen Ort dargestellt: Vgl. Dober, Evangelische Homiletik, 24ff. Hier soll es nur darum gehen, die Konsequenzen seiner theologischen Grundlegung für das Verständnis des Gottesdienstes herauszuarbeiten. 19 N. Luhmann, Funktion der Religion, 111.

133

gekreuzigt würde, wäre es doch alles umsonst, wenn nicht das Wort Gottes käme und teilte es aus und schenkte mirs und spräche: das soll dein sein, nimm hin und habe es für dich.“20

Insgesamt genügt es der Confessio Augustana zufolge „zur wahren Einheit der christlichen Kirche, dass das Evangelium einmütig im rechten Verständnis verkündigt und die Sakramente dem Wort Gottes gemäß gereicht werden.“ (Art. VII) Mit dieser „Minimalbestimmung“ (Rössler) sind eben die genannten Akzente gesetzt: Das Kriterium für die Frage nach einem angemessenen, und d. h. biblisch begründeten Verständnis des Christentums ist das Evangelium, das den Glauben wirkt, der aus dem Hören kommt (Römer 10, 17). Dieses Hören betrifft die zur Predigt berufenen Personen zuerst, die dann beauftragt sind, den Glauben mitzuteilen, der in ihnen selbst geschaffen wurde durch den Heiligen Geist, „wo und wann er will“ (CA V). Es ist für das evangelische Verständnis des Gottesdienstes von grundlegender Bedeutung, dass der Artikel „vom Predigtamt“ dem „über die Kirche“ vorausgeht, beide bauen aber auf dem Art. IV „über die Rechtfertigung“ auf. Der Glaube, in dem der einzelne unvertretbar ist (vgl. Beutel, 445), betrifft zentral sein Selbstverhältnis coram Deo, und der Zweck der religiösen Institution ist in einem ganz elementaren Sinn, vermittels der Predigt als religiöser Rede (um einen Terminus Schleiermachers interpretierend hinzuzunehmen), dem Verhältnis zu sich selbst und zu den anderen im Licht des Evangeliums zur Gewissheit seiner selbst zu verhelfen. So gesehen ist die Kirche als eine creatura verbi21 zu verstehen, als ein sozialer Korpus, in dem vermittels dafür geeigneter Kommunikationsverhältnisse die „Teilgabe Gottes“ an seinem „ewigen Wort“ (451ff) die „Teilhabe des Menschen“ (456ff) ermöglicht. Das Wort, das im Anfang bei Gott war, ist „Fleisch“ geworden, damit der Mensch an der Ewigkeit teilhaben kann, die dem göttlichen Wort zukommt: „In der Selbigkeit Gottes […] findet der Glaube seinen archimedischen Punkt“ (455), auch wenn er dem ewigen Wort in zeitlichen Gestalten begegnet. Und zu diesen zeitlichen Gestalten gehören die Medien. In seelsorgerlicher Hinsicht ist es der Trost, den der Traurige im Hören des Wortes finden kann, sei es in der Gestalt der Schrift, die Luther ins Deutsche übersetzte, um der individuellen Lektüre eines jeden den Weg zu bereiten (auch der Lesende „hört“ in gewisser Weise), sei es in der Gestalt einer Predigt, die den Glauben als ein eigenes, freies und konkretes Wort des Predigers bzw. der Predigerin einer aktuell versammelten Gemeinde ———— 20 WA 18, 202f. zit. nach Müller, Homiletik, 50. 21 Die Stellen aus Luthers Werk, die dieser verdichteten Formal am nächsten kommen hat A. Beutel zusammengetragen: vgl. Ders., Anfang, 450.

134

mitteilt.22 Doch in welchen Gestalten immer „das ewige Wort auf Erden begegnet“ (Beutel, 455), sei es als geschriebenes oder als gepredigtes Wort: immer will es den „inneren Menschen“ ansprechen, sein Gewissen als ein Mitwissen mit sich selbst,23 das im Gottvertrauen gründet. „Der Glaube [… ist] die reale und aktuale Teilhabe an der dem Wort prädizierten Ewigkeit“, indem das Herz des Menschen dem ewigen Wort „konform“ wird (Beutel, 451). Auch wenn der Glaubende den Tod leiden muss wie alle Menschen, ist im subjektiven Gottvertrauen eine Hoffnung lebendig, die über alle Endlichkeit, über das Zeitliche hinausweist: „Wer glaubend dem Worte Gottes anhängt, der wird, wie dieses selbst, in Ewigkeit bleiben, wenn auch Himmel und Erde vergehen.“ (454)

Bei Luther ist die Relation von Wort und Glaube „schlechthin fundamental“ (440 mit Bezug auf G. Ebeling), und diese schlechthin fundamentale Beziehung begründet auch das evangelische Verständnis des Gottesdienstes. Bestimmt ist diese Relation primär durch eine Rezeptivität, in der der Glaube des Herzens durch die Stimme, durch das gesprochene Wort hervorgebracht wird. Zwar ist das Ohr, das hört, als Organ hierbei unverzichtbar. Aber „kein äußeres Organ des Menschen kann das Wort fassen, nur der Glaube des Herzens. Ist doch dem Wort gerade dies wesentlich, dass man die Sache, von der es spricht, nicht sehen, sondern allein hören und glauben kann.“ Doch in einer für medial vermittelte Rezeptionsprozesse unverzichtbaren Wechselseitigkeit kann der Glaube, „wie Luther in einer Osterpredigt des Jahres 1544 zuspitzt, […] was ihm zugesagt ist, ‚sehen mit dem Gehör‘“ (441). Die primäre Rezeptivität ist aber nicht nur bloße Aufnahme im Sinne einer Speicherung von Daten, kein bloß passives Geschehen, das dem Menschen einfach so geschähe, als ließe es sich von äußeren Reizen überfluten, bis die Kapazität denn völlig erschöpft wäre. Vielmehr ist die Aktivität des Individuums dem scheinbar so passiven Hören, aus dem der Glaube kommt, vom ersten Wort an verschwistert. Wie in zwischenmenschlichen Kommunikationsverhältnissen auch, verlangt das Wort nach Antwort, und das göttliche Wort „verlangt notwendig nach dem Glauben des Menschen“ (441). Der aber will sich seiner selbst vergewissern, und d. h. er muss sich auf einen Prozess des Selbstverstehens einlassen, in dem Bewusstsein und Gefühl miteinander ins Gespräch zu bringen sind, ein Prozess des Lernens, in dem das Erlebnis auf die Erfahrung bezogen wird, und der Reflexivität einschließt. So ist die primäre Rezeptivität auf menschliche Spontaneität bezogen, auch und gerade unter der theologischen Bedingung, „dass der ———— 22 Vgl. G. Ebeling, Fundamentaltheologische Erwägungen zur Predigt, 68–83. 23 Vgl. dazu Dober, Seelsorge, 57–60.

135

Glaube sich nicht der Kraft des Menschen, sondern allein der Gnade Gottes verdankt, die das Evangelium in ihm fruchtbar sein lässt.“ (443) Doch nicht nur geht es um ein vertieftes und erweitertes Verstehen seiner selbst, auf das Bildungsprozesse hinauslaufen (wenn sie denn nicht verdinglicht und instrumentalisiert werden), sondern auch um ein erneuertes Weltverhältnis. Zur „Wirksamkeit des Gotteswortes gehört für Luther freilich auch, dass der ganze Mensch erneuert wird und also das Sein coram Deo in dem Sein coram mundo seine Entsprechung findet, indem der Glaube in der Liebe Gestalt annimmt. Denn die Liebe ist der Leib des Glaubens.“ (441f) Vor Gott wird die Seele zu einer Lebendigkeit gerufen, die sich dann in der Welt durch ein entsprechendes Handeln auswirkt – in den elementaren Verhältnissen finden sich diese Relationen von Rosenzweig unter den Titeln der Offenbarung und der Erlösung ausgearbeitet. Wenn man nun dem Gottesdienst eine durch Rituale geschaffene soziale Bedeutung zuerkennt, die zu ihrer Realisierung auch der dazu geeigneten Räume bedarf, wird man im Licht von Luthers Theologie des Wortes Gottes sogleich hinzufügen müssen: geheiligt wird der Feiertag (Exodus 20, 8– 11) erst „per verbum“, und d. h. so, „dass man an ihm das heilige Wort Christi predigt und hört.“ (447) Die Schöpfung und Erhaltung der christlichen Gemeinde als solcher geschieht in der Versammlung durch die Gemeinsamkeit des Hörens: zuerst auf die Musik des Vorspiels, dann auf das Schriftwort24, dann auf die Predigt, und das Sprechen: zuerst im gemeinsamen Gesang, dann im gemeinsamen Gebet. Nur anlässlich bestimmter Kasualien, bei der Taufe, der Konfirmation und der kirchlichen Trauung wird der Einzelne direkt gefragt und kommt mit seinem „Ja, und Gott helfe mir“ selbst zu Wort. Im Gebet schließlich äußert sich nach Luther die lebendige Teilhabe am göttlichen Wort und seiner Ewigkeit, in ihm als einem gemeinsamen entspricht die menschliche Teilhabe der göttlichen Teilgabe. „Indem wir betend in unserem Geist zu Gott emporsteigen, treten wir, unserer Bestimmung gemäß, in ein ‚ewig gespräch zwischen Gott und dem menschen‘“ (466 zit. Luther). Dieses „Gespräch“ besteht in der menschlichen Antwort auf das Wort Gottes, seine Quelle hat es in dem durch das primäre Hören hervorgerufenen Glauben, und solcher Glaube gewährt denn auch die Gewissheit der Erhörung des Gebets; denn an ihn ist die göttliche Zusage geknüpft.

———— 24 Vgl. Rosenzweig, GS II, 343f. [Stern III]; vgl. Hörisch, Geschichte, 45: „verba volant, scripta manent“.

136

5.2 Der Ton: Die Musik als Klang-Rede Hörisch, der in seiner Geschichte der Medien mit dem Geräusch, den Lauten und schließlich der artikulierten Stimme den Anfang macht, hat sich zur Musik nicht eigens geäußert. Das aber wäre konsequent gewesen, entsteht die Musik doch aus dem Rauschen, das man als ein „noise“ wahrnehmen kann (wenn die Instrumente eines Symphonieorchesters ungeordnet je für sich eingespielt und gestimmt werden), und besteht sie doch in einem Zusammenhang von Lauten, die je nach Instrument und Musiker eine ganz individuelle Intonation haben. Wie es (jedenfalls vor dem digitalen Zeitalter) kein Bild ohne Felswand, Papyrus oder Leinwand, ohne nassen Putz für das Fresko und ohne geeignetes Holz bzw. Gestein für die Skulptur geben konnte, so keine Musik ohne die Instrumente, auf denen sie gespielt wird. Und wie man hat darüber diskutieren können, welche Medien des Bildes für den gottesdienstlichen Raum geeignet erscheinen, so wurde auch erwogen, welche Instrumente für die Darbietung geistlicher Musik zu bevorzugen sind.25 Da die Tonkunst nicht „aus der dienenden Stellung“ verrückt werden dürfe, so E. Chr. Achelis in seiner „Praktischen Theologie“ von 1898, wenn anders man den Gottesdienst nicht zerstören wolle, müsse der „Vokalmusik“ ein Vorrang vor der Instrumentalmusik eingeräumt werden.26 An dieser Gewichtung hat die theoretische Reflexion der Kirchenmusik bis heute festgehalten: „Singen ist ein sehr persönliches, weil den ganzen Leib und die eigene Stimme als sensibles Kommunikationsmedium nutzendes Geschehen. Es dient zur Spannungsabfuhr (Energieintegration) und zur Energiegewinnung gleichermaßen […] Singen tut gut […] Wer singt, gibt Persönliches preis, öffnet sich und hofft auf das Hören anderer. Wer mit anderen gemeinsam singt, sucht die Einstimmung mit anderen und trägt zum Gesamtklang aktiv bei […] ‚Die Basis der Kirchenmusik ist das Singen der Gemeinde‘.“27

Insbesondere der Kirchenchor habe – so Achelis weiter – „die Andacht zu wecken“ und „die im Gemeindegesang sich Ausdruck gebende Andacht im Kunstgesang weiter klingen zu lassen und dadurch zu erhöhen“ (Achelis, 340). Demgegenüber sei „der Gesang des Liturgen … ein traditionelles Überbleibsel aus der römischen Kirche, ohne liturgischen Sinn“ (335). Achelis zufolge habe die Instrumentalmusik „in den Dienst des Gemeinde———— 25 Im digitalen Zeitalter ist allerdings sowohl die Medialität des Bildes als auch die der Musik revolutioniert worden: Wie man das digitale Bild auf eine noch umfassendere Weise (und in immer größerer Geschwindigkeit) verbreiten kann als das Flugblatt, die Photographie und den Film, so lässt sich der Klang des einzelnen Instruments inzwischen synthetisieren (und entsprechend verbreiten wie das Bild). 26 Achelis, Praktische Theologie I, 334. 27 P. Bubmann, Art. Kirchenmusik, in: HBPTh, 582 zit. Chr. Krummacher.

137

gesangs“ zu treten, um „ihn zu fördern und dem Inhalte entsprechend zum Ausdruck zu bringen.“ (342) Zu diesem Zweck sei die Orgel besonders geeignet. Ginge es nach Achelis, so hätten weder Instrumentalkonzerte im kirchlichen Raum ihren Platz, noch wäre eine Integration des Jazz oder des Pop in den Gottesdienst zu vertreten. Musik überhaupt aber, und zwar Musik in der Vielfalt ihrer Stile, ist die Kunst, die unmittelbar das Gefühl anspricht und in Stimmungen zu bringen vermag. Die Gestimmtheit, in die ein Gottesdienst setzen kann, ist abhängig von der hier gespielten Musik. So vermag sie mehr als die anderen Künste, der Vergewisserung des Selbstgefühls im Erleben der Zeit den Weg zu bereiten, ohne das es keine qualifizierte Vergewisserung seiner selbst auch im religiösen Horizont wird geben können.28 „Nicht alle Musik [aber] hilft zum gelingenden Leben.“29 Die Kirchenmusik steht heute „vor großen Herausforderungen. Jeder kirchenmusikalische Stil löst sofort milieubedingte Abwehrreflexe oder Zustimmung aus. Insgesamt erscheint die alltägliche Kirchenmusik gegenüber den Angeboten der Unterhaltungsindustrie häufig provinziell oder auf die Bedürfnisse weniger Milieus enggeführt. Die Frage, für welche Milieus musiziert werden soll, wird zur kirchenmusikalischen Grund- und Machtfrage.“30

Luther hat der Musik einen höheren Rang als den Bildern eingeräumt, ja ihr kommt „der höchste Rang neben der Theologie zu“.31 Wie die Sprachbilder, von denen Luther handelte (Beutel, 443), innere Bilder erzeugen können, so auch die Klangbilder, die durch das Hören von Musik im Rezipienten erzeugt werden können. Antiker Auffassung folgend spiegelt die Musik für ihn die „Ordnung des geschaffenen Kosmos“. Dieses Verständnis von Musik als Spiegel und Gleichnis wird noch durch Adorno bestätigt, sei Beethoven doch „die volle Erfahrung des äußeren Lebens, inwendig wiederkeh———— 28 S. o. Abschnitt 2.3. Die Musik vermöge „die verschiedenen religiösen Stimmungen zum feinst nüancierten Ausdruck zu bringen und eben dadurch reflexiverweise die religiöse Stimmung in empfänglichen Gemütern zu beleben“ (Achelis, Praktische Theologie I, 333f). Diese Einsicht ist durch neuere Untersuchungen psychologischer, kulturanthropologischer und philosophischer Provenienz bestätigt worden (vgl. Bubmann, Art. Kirchenmusik, 583f). Was oben ritualtheoretisch gezeigt wurde, kann in der aktiv gestaltenden oder eher rezeptiven Erfahrung von Musik Bestätigung finden. 29 Bubmann, Art. Kirchenmusik, 582. 30 Bubmann, Art. Kirchenmusik, 584. Wie die oben im Zitat angesprochenen Funktionen des Singens überhaupt, so ist auch die Frage nach der Milieubindung kirchenmusikalischer Stile in dem Film „Wie im Himmel“ (Schweden 2004; Regie: Kai Pollack) sehr anschaulich zur Darstellung gebracht. Die Herausforderung einer dem gegenwärtigen Pluralismus von Stilen und Milieus angemessenen Verhältnisbestimmung von „Kirche und Musik“ haben kürzlich auch neben P. Bubmann G. Kennel, K. Eulenberger u. a. in einem Themenheft aufgenommen (in: PrTh 2/2008, 85–104). 31 Art. Musik/Musikinstrumente, Theologisch, in: RGG4, Bd. 5, 1620. Vgl. Josuttis, Der Weg in das Leben, 193f.

138

rend, so wie Zeit, das Medium von Musik, der innere Sinn ist.“32 Luther zufolge leistet die Musik auch einen Beitrag zum „geistlichen Wachstum“ des Menschen, „indem sie Menschen in eine effektive Beziehung mit der größeren Ordnung der Schöpfung setzt“, sowie zur psychischen Hygiene (wenn man so will), könne die Musik doch der Melancholie, Schwermut und Depression wehren. So kommt der Musik „eine der Predigt beinahe gleichwertige Rolle zu“.33 In Schleiermachers „Weihnachtsfeier“ wird die Musik als Gleichnis für Individualität und Gemeinschaft bzw. Geselligkeit herangezogen. Es sei „jedem Tone sein Recht antun“ und zugleich eine „Achtung für die andern Stimmen“ zu wahren.34 Die Harmonie als „Wohllaut des Ganzen“ fungiert – wie später bei Chr. v. Palmer – als ein Gleichnis für geordnete intersubjektive und gesellschaftliche Verhältnisse in der bürgerlichen Denk- und Lebensform.35 Auch für den Schleiermacherschen Religionsbegriff ist die Rolle der Musik wesentlich. „Jedes schöne Gefühl“, so Eduard, einer der Protagonisten in diesem „Gespräch“, „tritt nur dann recht vollständig hervor, wenn wir den Ton dafür gefunden haben, nicht das Wort […] gerade dem religiösen Gefühl ist die Musik am nächsten verwandt“ (32). Es komme darauf an, „den Gesang wieder in ein richtigeres Verhältnis […] [zu setzen] gegen das Wort.“ Im Zusammenhang der Frage nach dem angemessenen Verhältnis von Wort und Ton bzw. Musik vergleicht Ernst, ein weiterer Protagonist, die unterschiedlichen Musiktypen. Seine These lautet, dass erst auf religiösem Gebiet die Musik ihre Vollendung erlange (33). Auf der Linie einer im religiösen Gefühl erlebbaren Einheit des Widersprechenden werde diese These durch die komische Gattung eher bestätigt als widerlegt, da sie „allein als reiner Gegensatz existiert“. Die verfremdende Komik, so könnte man sagen, bringt die für den Begriff vom formalen Wesen der Religion charakteristischen Gegensätze zur anschaulichen Darstellung. Was in der Komik aufleuchtet, wird – so verfremdet – in seinem Ernst aufnehmbar und erträglich. Die Verfremdung verweist aber auf einen Trost, den sie selbst nicht geben kann. Was sie schafft, ist Selbstdistanz, und das ist schon viel. So hält auch der Humor stets die Möglichkeit eines Anderen als des Vorfindlichen offen. Auch im Zuge der von Schleiermacher in Gesprächsform komponierten Interpretation findet das Problem mit dem Zitat aus Jean Paul eine Auflösung: „Nie über einzelne Begebenheiten […] weint oder lacht die Musik, sondern immer nur über das Leben selbst“ (34). Eduard setzt noch eins drauf: „die einzelnen Ereignisse wären für sie nur durchgehende Noten, ihr wahrer Inhalt aber die großen Akkorde des Gemüts, die wunderbar und in den verschiedensten Melodien wechselnd, sich immer doch in dieselbe Harmonie auflösen, in der nur Dur und Moll zu unterscheiden ist, Männli-

———— 32 Adorno, Ästhetische Theorie, 177. Anders als Adorno meinte, wird in dieser Hinsicht allerdings kein Gegensatz zum Jazz bestehen müssen. 33 Art. Musik/Musikinstrumente, 1620. 34 Schleiermacher, Weihnachtsfeier, 11. Alle nicht eigens ausgewiesenen Zitate in diesem Abschnitt sind diesem Werk entnommen. 35 Vgl. Dober, Christian Palmer, 197–213.

139

ches und Weibliches“ (34). In der bürgerlichen Denk- und Lebensform wird hier allerdings die Vielfalt der musikalischen Ausdrucks- und Darstellungsmöglichkeiten reduziert. Wenn es denn stimmt, so Friederike, dass „der frömmste Ton […] es [ist], der am sichersten ins Herz dringt“ (34), stellt sich allerdings die Frage, ob der individuellen Wahrnehmung des „frömmsten Tons“ eine objektive Struktur in der Theorie der Musik entsprechen muss. Schleiermacher hat sich nicht vorstellen können, dass es heute Zeitgenossen gibt, denen die Blue-Note zum frömmsten Ton geworden ist, anderen der verminderte Akkord (so auch schon in einigen Präludien von Bach). Früher schloss man bestimmte Kirchentonarten für die fromme Erbauung aus. Der Jazz aber hat alles wieder integriert unter dem Leitstern der Freiheit des Ausdrucks auf den 7 Stufen eines Klangbildes, das sich ergibt, wenn man eine Tonleiter nicht mit dem ersten, sondern mit jedem weiteren Ton beginnt. Die Halbtonschritte verschieben sich dann derart, dass sich das Klangbild in charakteristisch unterschiedlicher Weise verändert (ionisch, dorisch, phrygisch, lydisch, mixolydisch, äolisch). Die Frage ist, wieviel Disharmonien – und vor allem: wann und wie aufgelöst – die Gewohnheit des Ohrs verträgt.

Was aber zeichnet die Ton-Kunst vor der Bild-Kunst aus? Bei Luther ist es ohne Zweifel ihre Nähe zum gesprochenen, zum gepredigten Wort, und das nicht zuletzt deswegen, weil sie Worte übermitteln kann. „Luthers Liturgien, die lateinische ‚Formula missae‘ von 1523 und die ‚Deutsche Messe‘ von 1526, waren auf Kantilation und Gesang ausgelegt, ebenso das Stundengebet.“36 Der Musik in dieser Form kam also eine Funktion hinsichtlich des Ausdrucks und der Darstellung der gesungenen Worte zu. Darüber hinaus wird man die pädagogische, auch die mnemotechnische Funktion nicht zu gering veranschlagen dürfen, „sofern man sich im Singen Glaubensinhalte leichter einprägt, wie z. B. auch die Katechismuslieder zeigen.“37 Über die von Luther geprägten Auffassungen, die in der evangelischen Kirche Geschichte gemacht haben und die entsprechenden praktischtheologischen Erwägungen etwa noch von Achelis prägen (s. o.), wird es aber einer sachlichen Rekonstruktion der Bedeutung der Ton-Kunst bedürfen. Man wird nicht fehl gehen, zu diesem Zweck auf die Differenz von Raum und Zeit zurückzukommen. Wie das gemeinsame Hören und Sprechen des Wortes, so bedarf auch das gemeinsame Hören von Musik und der Gesang der dafür geeigneten Räume. Doch grundlegender noch ist „das Hören […] an die zeitliche Struktur der eintreffenden Schallereignisse gebunden und somit der eigentliche Zeit – und Vergänglichkeitssinn.“38 Die ———— 36 Art. Kirchenmusik, in: RGG4, Bd. 4, 1239. 37 Art. Musik/Musikinstrumente, Theologisch, 1620. 38 Bubmann, Art. Kirchenmusik, 581. Psychologisch wird man das Hören von Musik als Phänomen psychischer Regression betrachten können, das zwei Seiten hat. Einerseits kann das intensive Hören „dem eigenen Unbewussten gegenüber offener“ machen „und mit Tiefenschichten der

140

Musik ist die Kunst, die zu produzieren und zu rezipieren man auf die Ordnung der Zeit zurückgehen muss. Denn G. Picht zufolge sind „im Klang räumliche Grenzen erfahrbar aufgehoben.“ In der Musik symbolisiert sich somit, dass „der Raum offener Möglichkeiten die Zeit ist“. Das Tonsystem und die Rhythmik der Musik geben dieser Offenheit in der machtvoll auf uns zukommenden Zeit Form und Struktur. „Musik entsteht so aus der Antinomie zwischen unbestimmter Mächtigkeit, die alles durchdringt, und Ordnung, die diese Mächtigkeiten bannt, indem sie zur Darstellung gebracht werden.“ (Art. Musik, 1622) Diese Gesichtspunkte finden sich schon in den ästhetischen Teilen von Rosenzweigs „Stern der Erlösung“ ausgesprochen und in der ihm eigenen Systematik zur Darstellung gebracht. Die Ästhetik des Idealismus wird hier vorausgesetzt, doch diese Voraussetzung des Materials führt bei Rosenzweig zu einer Umformung nach Maßgabe seiner „positiven“ oder „erzählenden“ Philosophie. In deren Rahmen ist es kein Zufall, dass die ästhetische Betrachtung der Musik im Offenbarungskapitel lokalisiert ist, in dem der Augenblick thematisiert wird. Während die bildenden Künste im Raum ihren „Ort“ haben, dieser „Form des Nebeneinander […], in der die Fülle der Einzelheiten unmittelbar mit einem Schlage ästhetisch überblickbar ist, […] stellt [die Musik] ihre Werke in den Fluss der Zeit, und die Zeit ist die Form, die jeweils immer nur einen einzelnen Augenblick ins Bewusstsein treten lässt.“39 Zwar kennt die Rezeption auch der Werke der bildenden Kunst den Augenblick der Wahrnehmung und der Erkenntnis eines Zusammenhangs, einer Aussage, einer Botschaft, doch diese Erfahrung ist hier eingebunden in die „epische“ Eigenschaft des Kunstwerks. Demgegenüber ist die „lyrische“ Kunst der Musik primär im hervorgehobenen Augenblick zu Hause, dessen Rezeption in der Form eines Nacheinander geschieht. In der Musik „herrscht“ die Zeit, und so gilt für sie, einem Wort H. v. Bülows folgend: „Im Anfang war der Rhythmus.“ Denn „in der rhythmischen Phrasierung ist das ganze Musikstück in allen seinen Teilen da, aber noch als eine stumme Musik.“ (220) Der Rhythmus ist die Grundlage auch eines Sprechens in Tönen, sie ist die Voraussetzung und die Weissagung der Klang-Rede (wobei es, was noch nicht in Rosenzweigs Blickfeld sein konnte, im Jazz auch Schlagzeug-Soli gibt, die ihrerseits eine eigene Sprache gefunden haben und durchaus „sprechen“ können). Insgesamt aber ———— eigenen Persönlichkeit in Berührung“ bringen. Andererseits „werden aber [auch] die musikalischen Außeneindrücke ins Innere aufgenommen und mit früheren Erfahrungen verbunden, wodurch neue Erfahrungen entstehen“ (583). Es „bleibt immer neu zu prüfen, ob die musikalisch ausgelösten Regressionsprozesse für das Leben stärken oder nur in illusionäre Weltflucht führen“ (587). 39 Rosenzweig, GS II, 217 [Stern II]. Die in diesem Abschnitt nicht eigens ausgewiesenen Zitate beziehen sich auf dieses Werk.

141

nimmt der Rhythmus „das Kunstwerk […] in stumm-dynamischer“ Gestalt vorweg, doch eben diese Vorwegnahme der im Rhythmus noch unausgesprochenen Intensität des einzelnen Tons, der melodischen Tonfolge oder des harmonischen Zusammenklangs, ja der Fülle in harmonisch geordneter Form kann auch schon zu eigener Sprache finden. „Es geschieht im Rhythmus wirklich die Schöpfung des Musikwerks in seiner ganzen Breite.“ (220) Unter dem Gesichtspunkt der Harmonie ist die Bedeutung des Augenblicks in der Musik genauer zu zeigen. Zwar ist die durch einen Ton oder durch einen Akkord erfüllte Gegenwart eingebunden in ein nicht nur rhythmisches, sondern auch harmonisches Vor- und Nachher. In einer „Periodik von Spannung und Entspannung“ ist „jede Note […] durch die Vorangehende bestimmt und zielt auf die Folgenden. Analog zur Rhythmik hat auch die Melodik eine vertikale Dimension: die vergangenen Noten sind im gegenwärtigen Klang ‚eingefaltet‘, und der gegenwärtige Klang ist, was in Zukunft ‚entfaltet‘ wird.“40 Doch diese zeitliche Gestrecktheit entwertet den einzelnen Ton nicht, bleibt er in seiner Eigenart doch „ohne Rücksicht und Vorsicht auf seine Nachbarn“, wenn er den Augenblick „beseelt“ und ihm „tönendes Leben“ einhaucht. Um es mit Rosenzweig zu sagen: Die „Offenbarung muss auch hier […] mit blind vergessener Ausschließlichkeit auf den einzelnen Augenblick des Werks niedergehen.“ Die „Beseelung der Einzelheit ist das Werk der Harmonie […] recht so, wie die Offenbarung dem stummen Selbst Sprache und Seele in einem verleiht.“ (Rosenzweig, 220f) Rosenzweigs unter der Kategorie der Offenbarung begonnene Musiktheorie wird unter der der Erlösung fortgeführt und vollendet, jedenfalls als eine allgemeine, ehe sie denn als besondere der liturgischen oder der Kirchenmusik eine weitere, letzte Fortführung findet. Die Kategorie der Schöpfung wirkt sich implizit in der Beschreibung der Rhythmik aus, insofern hier die Voraussetzungen dafür liegen, dass die Kunst als Sprache verstanden werden kann (164), und somit ein Verständnis auch von Musik als Sprache, als Sprechen, als Klang-Rede vorbereitet worden ist. Ausdrücklich ist aber von der Musik im Schöpfungskapitel nicht die Rede. Wie bei Luther auch kommt bei Rosenzweig dem Aspekt der Rezeption eine entscheidende Bedeutung zu – nun unter der Kategorie der Erlösung. Der „Ort, wo die Werke ein breites, lebendiges, dauerndes Dasein im Schönen gründen und wo die Beseeltheit der einzelnen Werke selber nach und nach ein reiches Ganzes von menschlichem Leben ästhetisch beseelt, ist der Betrachter“ (271), oder eben auch: der Hörer. ————

40 Art. Musik, in: RGG4, Bd. 5, 1622f.

142

Ohne ihn „wäre das Werk, da es ja zum Urheber nicht ‚spricht‘ […] stumm, nur Gesprochenes, nicht Sprache; erst zum Betrachter ‚spricht‘ es. Und ohne den Betrachter wäre es ohne alle dauernde Auswirkung in die Wirklichkeit […] Erst einmal Publikum geworden, ist die Kunst nicht mehr aus der Wirklichkeit auszuschalten; solange sie bloß Werk und bloß Künstler ist, lebt sie nur ein höchst prekäres Leben von einem Tag zum andern.“ (271)

Was Rosenzweig allerdings noch nicht im Blick haben konnte, ist die enorme Beschleunigung des Wechsels von Publikums-Gemeinden und FanClubs, den rasanten Wandel der ästhetischen Moden überhaupt und der musikalischen insbesondere, der für den zum Sammler gewordenen Konsumenten auch eine plurale Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ermöglicht. Unter der Kategorie der Erlösung fügt er dem Epischen als räumlicher Form des Nebeneinanders mit seinem primären Ort in der Bildkunst und dem Lyrischen als zeitliche Form des Nacheinanders mit seinem primären Ort in der Musik nun das Dramatische als ein Drittes hinzu: in ihm verbinden sich das Nebeneinander im Raum und das Nacheinander in der Zeit zu einem Ganzen, „indem alle Punkte der epischen Breite“ zur „unmittelbar zündend überspringenden Gegenwärtigkeit“ belebt werden. (272f) Dramatisch in diesem Sinne kann eine Symphonie, ein Gemälde, eine Tragödie und ein Lied sein, die Poesie ist für Rosenzweig aber (hierin folgt er Luther und dem Idealismus) die höchste Kunst als „Lehrerin der Menschheit“, wie es im „ältesten Systemprogramm“ heißt.41 Denn in ihr ist die „Gestalt“, wie sie in der bildenden Kunst gegenständlich angeschaut (vgl. GS II, 274), und das „Melos“, wie es in der Musik gehört werden kann,42 zum „Klang des Gedichts“ zusammengewachsen. Zu Hause ist die Poesie „unmittelbar weder im Raum noch in der Zeit […], sondern dort, wo Raum wie Zeit beide ihren inneren Ursprung nehmen, im vorstellenden Denken. Die Poesie ist nicht etwa Gedankenkunst, aber das Denken ist ihr Element, so wie der Raum das der bildenden Kunst, die Zeit das der Musik; und vom Denken her macht sie sich durch die Vorstellung dann auch die Welt der äußeren und inneren Anschauung, Raum und Zeit, ‚episch‘ extensive Breite wie ‚lyrisch‘ intensive Tiefe, dienstbar. So kommt es, dass sie die eigentlich lebendige Kunst ist.“ (273)

Die Poesie erscheint so als ästhetische Gestalt der Vermittlung und Aufhebung der in den Kunstformen erscheinenden Extreme: „Bildende Kunst und Musik haben immer noch etwas Abstraktes; jene scheint gewissermaßen stumm, diese blind zu sein, dass jener die sprachliche Offenbarung von

———— 41 Rosenzweig, GS III, 6. 19f. 42 „Die Melodie ist das Lebendige an der Musik. Von einem Musikstück mehr als den ‚Charakter‘ […] behalten, heißt den Gang seines Melos behalten.“ (GS II, 274)

143

Moses ab, dieser das gestaltbefriedigte Heidentum von Platon ab nie ganz ohne Misstrauen gegenübersteht. Der Dichtung gilt solches Misstrauen nicht.“ (273)

Luthers Weichenstellungen lassen sich von Rosenzweig aus mit den Mitteln der philosophischen Ästhetik rekonstruieren, und das bis hin zur Hochschätzung des Psalmgebets im Gottesdienst, sind doch Psalmen in ästhetischer Hinsicht Gestalten der Poesie. So kann eine – heute allerdings problematisch erscheinende – liturgische Normativität, wie sie etwa bei Achelis ausgesprochen ist, immerhin sachlich plausibel erscheinen. Die Rezeptionsgewohnheiten der Gegenwart sind aber derart plural und dieser Ordnung gegenüber „wild“ geworden, dass die Musik (und das Bild) der geordneten Rede vorgezogen wird. Die Kirche ist heute nicht selten besser besucht, wenn es Musik, als wenn es eine Predigt zu hören gibt. Auch reicht es nicht wenigen Zeitgenossen völlig hin, im Urlaub die Bilder in den alten Kirchen zu betrachten – der Gottesdienst in der Gemeinde daheim scheint demgegenüber ungleich weniger interessant zu sein. Das mag verschiedene Gründe haben. In der pluralistischen Medienkultur scheint es jedenfalls auch damit zusammenzuhängen, dass das Wort unterscheidet und trennen kann, um den Hörer zu einer Entscheidung zu rufen. Demgegenüber lässt die Musik den Hörer als „Genießer“ (Rosenzweig) für sich sein, und den Betrachter des Bildes individuell seinen Gedanken nachhängen. Auch vermögen sowohl die Klänge der Musik als auch die Bilder der Kunst auf Unsagbares, ja auf Unaussprechliches hinzuweisen, das auch am Rand des Ausgesprochenen und des Gesagten noch wahrzunehmen ist.43 Zudem kann man fragen, ob Musik und Bild mehr als die Rede einzulösen gestatten, man vollende und schaffe für sich neu, was man gehört und gesehen hat. Jedenfalls scheint die Freiheit des Rezipienten die Gewichte heute anders zu verteilen, als die Tradition und die Reihenfolge umzukehren – vom Bild, das allgegenwärtig, zur Musik und schließlich zum Wort.

5.3 Das Bild: Über den rechten Gebrauch der anschaulichen Darstellung in der Kunst Angesichts der reformatorisch gesetzten Schwerpunkte verwundert es nicht, dass der liturgische Gebrauch von Bildern, ja der von Bildern in der Kirche überhaupt einer eigenen, einlässlichen Diskussion bedurfte. Zu deren Dringlichkeit trug auch der Bildersturm bei, der nicht nur in den reformierten Gebieten seinen Lauf nahm, sondern auch innerhalb der sich an Luther orientierenden Kreise. Als Andreas von Karlstadt in seinen Wittenberger ———— 43 Dieser von Heimbrock geltend gemachte Gesichtspunkt (vgl. Bubmann, Art. Kirchenmusik, 585f) lässt sich in der Sprachphilosophie Benjamins fundieren (s. u.).

144

Predigten die Entfernung der sakralen Bilder in geordneter Weise gefordert hatte, kam es zu einem anarchischen Bildersturm, der das Einschreiten des Kurfürsten nach sich zog. Luther suchte mit seinen berühmten InvokavitPredigten von 1522 die Wogen zu glätten, der theologische Dissens mit dem früheren Mitstreiter konnte allerdings nicht ausgeräumt werden.44 Welche Bedeutung kann das Bilderverbot des Alten Testaments in einer Medienkultur haben, der ihrerseits eine „Polemik gegen die Bilder“45 nicht fremd ist? Das Bilderverbot ist mit einem Kunstverbot nicht zu verwechseln, wie das historisch immer wieder geschehen ist, wenn – meist im Zusammenhang mit der Heraufkunft neuer Medien – „eine Krise im Umgang mit den Bildern eingetreten war“ (33). Adorno hat die Differenz auf den Begriff gebracht: „Damit scheiden sich die ästhetischen Bilder von den kultischen. Kunstwerke verbieten sich durch Autonomie ihrer Gestalt, das Absolute in sich einzulassen, als wären sie Symbole. Die ästhetischen Bilder stehen unterm Bilderverbot. Insofern ist der ästhetische Schein […] gerade die Wahrheit.“46

Der bleibende Sinn des Bilderverbots ist zu rekonstruieren im Verhältnis von Medium und Bild, von dem Beltings Bild-Anthropologie ausgeht. Während in biblischer Zeit die „Verführung der Sinne“ durch Götzenbilder und Standbilder anderer Art als eine Gefahr für die kulturelle und religiöse Identität angesehen wurde, wird sie heute durch die technologische „Faszination des Mediums“ (Belting, 22) hervorgerufen. Doch schon damals scheint das Medium, das „zwischen uns und den Bildern [steht], die wir von der Wirklichkeit haben“,47 der Stein des Anstoßes gewesen zu sein. Die Kritik richtete sich weder gegen die inneren Bilder, in denen wir eine Erinnerung an die Realität mit uns tragen und die an der Konstitution unserer Wahrnehmungen teilhaben, noch gegen die Sprachbilder, die „den medialen Bedingungen der Sprache“ unterliegen und sich doch „auf Vorstellungsbilder [beziehen], die jeder hat, der sie in der Sprache ausdrückt“ oder im sprachlichen Medium rezipiert.48 Denn in diesem Sinne ist die Sprache der Bibel voller Bilder. Die Kritik richtet sich vielmehr gegen eine Vergegenständlichung etwa des Stiers als idealisiertes Fruchtbarkeitssymbol, oder des muskulösen Kriegers als Ideal unbesiegbarer Kraft oder des weiblichen Körpers als Stimulans männlicher Sexualität (um mit der Aschera, dem ————

44 Art. Karlstadt, in: RGG4, Bd. 4, 820f. Forschungsliteratur findet sich bei Weimer zusammengestellt (Ders., Luther, Cranach und die Bilder, 30 Anm.). Vgl. auch Gräb, Sinn fürs Unendliche, 120–131 [Wort und Bild]. 45 Belting, Bild-Anthropologie, 18f. 46 Adorno, Ästhetische Theorie, 159. 47 Gräb, Sinn fürs Unendliche, 140. 48 Belting, Bild-Anthropologie, 31.

145

Baal und dem „goldenen Kalb“ nur drei biblische Beispiele zu geben), und darüber hinaus gegen die sich an derartige Vergegenständlichungen anschließenden Projektions- und Identifikationsmechanismen (man muss den Sinn des Bilderverbotes auch psychoanalytisch rekonstruieren) und deren Beeinflussung durch die Medien der Bilder. Ursprünglich waren die Kultbilder gemeint, die derartige Projektionen auf sich zogen und in ritualisiertem Rahmen verehrt wurden.49 Nach Belting kann gelten: „Je mehr wir bei einem Bild auf das Medium achten, desto mehr ‚durchschauen‘ wir seine Steuerfunktion, und distanzieren uns davon. Umgekehrt verstärkt sich seine Wirkung auf uns, je weniger wir uns seinen Anteil am Bild bewusst machen, als existiere das Bild aus eigener Macht […] Die Bildmacht wird von den Institutionen, die über die Bilder verfügen, durch das aktuelle Medium und seine Attraktivität ausgeübt: mit dem Medium wirbt man für das Bild, das man den Empfängern einprägen will.“ (Belting, 22) Die Kehrseite einer Kritik an der Macht, die mit Bildern ausgeübt werden kann, ist aber das Ernstnehmen einer so freien wie verantwortlichen Individualität des Menschen seit den Propheten (Ezechiel 18), welche dieser Macht der äußeren Einflüsse auch widerstehen kann. Dieser medientheoretische Ansatz einer Rekonstruktion des Bilderverbots (über den beschränkten Sinn hinaus, der ihm ursprünglich zukam) geht über die Bilderkritik von J. Baudrillard noch hinaus (18) und schließt an die Derridas an. Diese setzt bei der Heraufkunft einer Technik und einer Kunst an, die, „als sich die Bilder in Film und Video mit Ton und Bewegung aufluden, […] mit den alten Vorrechten des Lebens auftraten“ und als „lebende Bilder des Lebens“ (image vivante du vivant [Derrida]) dem Leben „in wörtlichem Sinne ‚die Schau [stahlen]‘“ (19). In diesem Zusammenhang mag man fragen, ob nicht das Wagnersche Gesamtkunstwerk mit dem – von Nietzsche so formulierten – Anspruch, das Leben ästhetisch zu rechfertigen, in die Stufenfolge dieser Entwicklungen eingeordnet werden muss.50 Denn der Anspruch der Kunst, auf das Leben gestaltend Einfluss zu nehmen, ist älteren Datums als die Erfindungen technischer Reproduzierbarkeit, die vollends den Unterschied zwischen Kunst und Leben aufzuheben schienen. Man kann ihn in der idealistischen Ästhetik finden, mit der Rosenzweig es kritisch aufgenommen hat. In der Reformationszeit ist es zu einer gründlichen Auseinandersetzung um die Rolle der Bilder für die Frömmigkeit, und d. h. im Prozess der Bil———— 49 Vgl. zum kulturellen Kontext und zur Differenzierung der biblischen Stellen: Art. Bilderverbot, in: RGG4, Bd. 1, 1574ff. 50 Einer der tiefsinnigen Kritiker eines überhöhten ästhetischen Anspruchs, der sich auf die „Rechtfertigung des Lebens“ erstreckt, ist Benjamin gewesen (s. u. Abschnitt 6.3).

146

dung des Menschen zu einem seiner selbst, seiner Stellung in der Welt und seiner Stellung vor Gott gewissen Individuums in der Auseinandersetzung Luthers mit Karlstadt und mit den Schwärmern gekommen. Herausgefordert zu einer Stellungnahme hat sich Luther einerseits gegen den Bildersturm als ein allzu werkgerechtes Ernstnehmen des Bilderverbotes gewandt: Der Missbrauch, der mit den Bildern getrieben wurde (und von ihm als einer „Variante der Werkgerechtigkeit“ „ist die Welt voll“), wird „nicht dadurch aufgehoben, dass der Gegenstand, auf den er sich richtet, einfach beseitigt wird.“51 Andererseits hat er die aktuelle Situation, die er sich nicht ausgesucht hatte, auf die er aber reagieren musste, zum Anlass genommen, die Frage nach der Existenz, der Produktion und der Stiftung von Bildern auf die nach der Rezeption zu wenden: Wenn der weit verbreitete Missbrauch als ein Problem erkannt ist, dann muss der rechte Gebrauch in den Mittelpunkt des Interesses rücken. In diesem Focus sind die Bilder als ein Teil der Wirklichkeit anerkannt, in der der Mensch lebt, doch auch die Funktion, die Bilder für die Konstitution des Verhältnisses zu Gott, zur Welt und zu sich selbst haben, ist im Blick. Kurz und prägnant heißt es an einer Stelle, dass die Bilder „zum ansehen, zum zeugnis, zum gedechtnis, zum zeychen“ dienen, will sagen: sie sind Gegenstände der Betrachtung und nicht der Anbetung, die zumal im Raum der Kirche dazu beitragen, „dass das Evangelium verbreitet wird“, weiterhin „eine Gedächtnisstütze“ und „Erinnerungszeichen an die Taten Gottes“.52 Das Luther zufolge richtige Verhältnis zum Bild wird aber durch das Wort, genauer durch die Predigt eröffnet. „Ihre Aufgabe ist, den Hörer zum rechten Bildseher zu machen und ihn in das rechte Bildverhältnis und zum selbstverantworteten Bildgebrauch zu entlassen“ (33). Das Wort der Sprache ruft somit ein freies, eigenes, bewusstes und reflexives Rezeptionsverhalten hervor. Um solchem Gebrauch dienlich zu sein, muss das Bild die Kommunikation offen befähigen, „d. h. der Mensch darf es nicht gebrauchen (abreißen / stiften) zum Zwecke einer wie auch immer gearteten Konstitution der GottMensch-Beziehung, noch darf dem Bild eine Überhöhung zueignen, so dass es schließlich die Rolle eines Gottersatzes in dieser Beziehung erringt.“ (41) Luther wusste um die Bedeutung der Bilder, weil er um die Bedeutung der Worte wusste, die sich der Sprachbilder bedienen und innere Bilder erzeugen (s. o.). Das innere Bild aber hat eine relevante Funktion für die Erinnerung, wie die antike Rhetorik erkannt hatte, empfahl sie doch der memoria als Arbeitsschritt in der Vorbereitung einer Rede, sich ein Haus ———— 51 Weimer, Luther, 31. Für das Folgende orientiere ich mich an dieser Darstellung, in der sich die Grundzüge von Luthers Äußerungen zu den Bildern und zu ihrem Gebrauch akribisch aus den Quellen belegt finden. 52 Weimer, Luther, 32.

147

mit verschiedenen Zimmern vorzustellen, in denen sich die Gegenstände befänden, die der Redner zu behandeln hätte. Um den Faden während der actio nicht zu verlieren, müsse er nur im Geiste von Zimmer zu Zimmer schreiten.53 Weil sie eine Funktion für die Erinnerung und das Gedächtnis haben, kommt den Bildern auch zweifellos eine pädagogische Funktion zu,54 die allerdings auch zu einem emblematischen Gebrauch weiterentwikkelt werden konnte. Im Zeitalter der Reformation, das mit der Breitenwirkung der Kunst, Bücher zu drucken, gleichzeitig war, kam das Flugblatt auf. Es bot die mediale Voraussetzung dafür, gesellschaftliche und politische, meist ideologische Interessen durch karikaturistische, mit wenigen Strichen prägnant präzisierende und pointierende Bilder massenhaft zu verbreiten.55 Die äußeren Bilder begannen die inneren zu beeinflussen und zuweilen auch zu überfluten. So wachte ein altes Bedürfnis erneut auf, „die inneren Bilder der Betrachter vor falschen Bildern zu schützen.“56 Denn die von einem Menschen im Verlauf seines Lebens gewonnenen inneren Bilder der Erinnerung und des Gedächtnisses haben eine Funktion auch für die Vorgänge der Selbstvergewisserung als einer individuellen, unverwechselbaren Person mit kulturellen und lebensgeschichtlichen Prägungen. Während in biblischer Zeit das Bilderverbot diese Prägungen als Voraussetzung der Gottesbeziehung und einer bestimmten (in den 10 Geboten zusammengefassten) intersubjektiven Ethik zu bewahren suchte,57 hat in der Moderne die nicht zuletzt über Bilder vermittelte Fülle der möglichen Erlebnisse zu einer Reizüberlastung insbesondere der Großstädter geführt und eine Chock-Abwehr in der Rezeption erforderlich gemacht.58 Es ist unter mo———— 53 Vgl. Ciceros Lob des Gedächtnisses des Simonides, der aufgrund seiner Erinnerungsleistung ein hervorragender „Vortragskünstler“ war. Als Überlebender unter den Trümmern einer eingestürzten Festhalle hatte er sich die Sitzordnung der Anwesenden merken können. „Wer diese Seite seines Geistes zu trainieren suche, müsse deshalb bestimmte Plätze wählen, sich die Dinge, die er im Gedächtnis zu behalten wünsche, in seiner Phantasie vorstellen und sie auf die bewussten Plätze setzen. So werde die Reihenfolge dieser Plätze die Anordnung des Stoffes bewahren, das Bild der Dinge aber die Dinge selbst bezeichnen, und wir können die Plätze anstelle der Wachstafel, die Bilder statt der Buchstaben benützen“ (zit. nach Hörisch, Geschichte, 45). Ø. Andersen, Im Garten der Rhetorik, 114 f. 54 Davon hat früh schon etwa J. A. Comenius Gebrauch gemacht (vgl. dessen Buch „Orbis pictus“ aus dem Jahr 1658). 55 Eine frühe Stufe der Erforschung dieser Zusammenhänge ist mit A. Warburgs Schrift (Ders., Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten) erreicht. 56 Belting, Bild-Anthropologie, 13. Auch „die gesehenen Bilder unterliegen unvermeidlich unserer persönlichen Zensur. Sie werden bereits von den Torwächtern erwartet, die unser Bildgedächtnis bewachen“ (21). 57 Nicht zufällig stehen die Gebote, den Feiertag zu heiligen und die Eltern zu ehren zwischen den ersten dreien, die die Gottesbeziehung in die menschliche Verantwortung stellen, und den Geboten der zweiten Tafel, die die zwischenmenschlichen Verhältnisse betreffen. s. u. Abschnitt 6.5.2. 58 Vgl. Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, 116–131; Benjamin, GS I/2, 605–653 [Über einige Motive bei Baudelaire]. Insgesamt wird gelten können: „Unsere Wahrnehmung

148

derngesellschaftlichen Verhältnissen nicht leichter geworden, sich selbst als Person zu gewinnen und zu erhalten, die in einem steten Gespräch mit sich selbst, und d. h. auch mit inneren Bildern und Idealen begriffen ist, die sich gegen die äußeren behaupten müssen. Und doch haben eben zu diesem Zweck die Bilder eine alt-neue Funktion gewonnen. Schon in früherer Zeit hatte man sie als ein Medium ansehen können, in dem man durch das sichtbar Gewordene, sichtbar Gemachte hindurch „sprechen“ könne (visibile parlare). Wie Kunstwerke überhaupt sind die Bilder „lebendig […] als sprechende […] Sie sprechen vermöge der Kommunikation alles Einzelnen in ihnen. Dadurch treten sie in Kontrast zur Zerstreutheit des bloß Seienden.“59 Indem das geschah und bis heute geschehen kann, sind Bilder nicht als etwas Virtuelles dem Realen gegenüberzustellen, sondern sie haben am „Aktuellen im Namen eines Realen“ teil.60 So hat denn auch in den alten Kirchen das Bild zu einem unverzichtbaren Medium der Verkündigung und auch der Bildung des der Schrift nicht mächtigen Volkes werden können, so haben die Bilder in der Moderne jedenfalls auch die Funktion gewonnen, einen „Denkraum der Besonnenheit“ zu eröffnen;61 zudem bewahren sie ein Gedächtnis, das sich dem erschließt, der sich in diese Bilder hineindenkt, gewissermaßen in sie „einfühlt“. Bilder vermögen die Wirklichkeit in unterschiedlichen Dimensionen zu repräsentieren. Nicht nur bilden sie die Wirklichkeit ab, wie das in der Statue oder im Portrait versucht worden war, um später in der Photographie und im Film vollendet zu werden (die Video-Aufnahme gilt als Beweis im strafrechtlichen Verfahren). An beiden Beispielen ist ja zu zeigen, dass Bilder immer schon mehr und anderes waren als Abbilder, nämlich Darstellung und Interpretation. An der Statue etwa lässt sich die Idee einer Bewegung im Stand sinnlich anschauen, und an einem Portrait von Rembrandt ist das Prinzip der inneren Reflexivität und Gelassenheit zu erkennen, wie Simmel hat darlegen können.62 Bilder bringen auch „überzeitliche Themen wie Tod, Körper und Zeit“ zum Ausdruck und zur Darstellung. „Sie sind dazu bestimmt, Welterfahrung zu symbolisieren“ (Belting, 23) und im Raum der Kirche durch diese Symbolisierungen bestimmte religiöse Perspektiven und Differenzverhältnisse zu eröffnen.63 Im allgemeinen kulturel———— unterliegt einem kulturellen Wandel, obwohl unsere Sinnesorgane sich seit urdenklichen Zeiten nicht geändert haben“ (Belting, Bild-Anthropologie, 21). 59 Adorno, Ästhetische Theorie, 15. 60 Belting, Bild-Anthropologie, 31 mit Bezug auf Deleuze. 61 Vgl. Drehsen, Aby M. Warburg: Kunst und Religion im Aufklärungsspiel der Bilder, 93. 62 Vgl. D. Rahn, Die Bewegung im Stand. Zur Zeitdimension altgriechischer Plastik [Vorträge im Evang. Studienwerk Villigst], Schwerte 1987; G. Simmel, Rembrandt. 63 Vgl. die in Kapitel 6 gegebenen Beispiele. – Im Zusammenhang meines Plädoyers für eine – im Gespräch mit den Humanwissenschaften, mit der Ästhetik und der Medientheorie zu entwikkelnde – Liturgik, die die Zeit ernst nimmt, bietet sich ein Hinweis auf den Film „Last Radio

149

len und im besonderen religiösen Kontext kann die Rezeption der Bilder Prozesse des Lernens und der Vergewisserung anregen, der das Verhältnis von Ausdruck und Darstellung, Kontext und Interpretation einschließt, das gerade in Differenz zu den Wahrnehmungsgewohnheiten und Plausibilitäten der Gegenwart ein Anlass zu vertiefter und erweiterter Erkenntnis sein kann. Bilder sind neben den Texten jedenfalls auch relevante Quellen, die zur Schärfung des historischen Bewusstseins herangezogen werden können. Insbesondere für die Darstellung von für die Frömmigkeit relevanten Gegenständen und Zusammenhängen, von antiken Mythen und biblischen Geschichten, von theologischen Gehalten und dogmatischen Wahrheiten sind die Bilder immer schon ein wichtiges Medium gewesen, auch wenn ihr Gebrauch sowohl mit Blick auf die Produktion als auch mit Blick auf die Rezeption selbst einem historischen Wandel unterlag. In derart komplexen Verhältnissen betrachtet muss die heutige Dominanz des Bildes in der öffentlichen Vermittlung von Wirklichkeit kein „Rückfall in eine überwundene Bildgläubigkeit“ sein (Belting, 23), wenn ihr Gebrauch denn bewusst, kritisch und reflexiv ist. Auch für Luther schon kam es wesentlich auf den Gebrauch an, den man von den Bildern macht, nicht aber ging es um die Frage, ob man überhaupt Bilder haben soll oder nicht. Die Existenz von Bildern ist ihm unbedenklich, im Gebrauch kommt es aber auf den Betrachter und die Art seiner Betrachtung an.64 Die Erforschung der sozialen, kommunikativen, psychischen und medialen Funktionen der Kunstrezeption65 ist ebenso wie die Bild-Anthropologie ein jüngeres bzw. jüngstes Anliegen. Doch finden sich bei Luther schon durchaus einige der grundlegenden Einsichten ausgesprochen, von denen etwa dieses jüngere Unternehmen Beltings ausgeht: „Wir leben mit Bildern und verstehen die Welt in Bildern.“66 Diese Einsicht betrifft mentale Vorgänge wie die Erinnerung und das Gedächtnis, psychologische Phänomene wie den Traum, der zwar auch Stimmen, Buchstaben, Worte und Szenen, vor allem aber Bilder zum Inhalt haben kann,67 wie von allem Anfang ———— Show“ (USA 2006; Regie: R. Altmann) an. Denn hier findet sich auf einer für das Radio genutzten Bühne eine weltliche Liturgie zum Thema Zeitlichkeit und Endlichkeit dargestellt, die die Themen der Religion von den Ritualen bis zu den Engeln als symbolischen Gestalten der Transzendenz in einem institutionell nicht festgelegten Sinn aufgreift. 64 Darauf hat auch schon W. Hofmann (Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion) aufmerksam gemacht. Vgl. Weimer, Luther, 31. 65 Vgl. die seelenhygienische Bedeutung der Bildrezeption im „Denkraum der Besonnenheit“ nach Drehsen, Warburg, 87, 95. 66 Belting, Bild-Anthropologie, 12. „Dass der Mensch nichts ohne Bild denken und verstehen kann, ist für Luther ebenso selbstverständlich, wie es für ihn unbedenklich ist, ein öffentlich zugängliches Bild anzuschauen, weil man sich ohnehin im Herzen ein Bild macht.“ (Weimer, Luther, 39) 67 Vgl. Dober, Seelsorge, 128–135.

150

menschlicher Kulturentwicklung an auch soziale Vollzüge: die Wahrnehmung und Repräsentation von Bildern, die auf die Wirklichkeit verweisen, diese abbildend, darstellend, interpretierend, verfremdend, vollzieht sich in sozialen Akten, und so lässt sich die Thematik des Bildes mit der des Rituals verknüpfen. Auch die Verkörperung von Bildern in öffentlichen Räumen ist eine Frage des Gebrauchs gewesen, in denen ihre Rezeption sich in Ritualen vollzog (Belting, 25), und das sowohl in der Kirche, wenn etwa Altarbilder nur zu bestimmten Zeiten zu sehen waren, sonst aber verborgen blieben, als auch in Kunstausstellungen mit den sie begleitenden ritualisierten Formen sozialer Begehung. Ein Bild, so der Volksmund, sage mehr als tausend Worte. Ist das Bild also dem Wort überlegen? Die Frage ist, so wird man gleich erwidern müssen, falsch gestellt, sind doch Wort und Bild in anthropologischer Hinsicht stets aufeinander bezogen und in einem unauflöslichen Wechselverhältnis aufeinander angewiesen. Dieses vorausgesetzt, vermag im Bild ein Zusammenhang anschaulich und mit einem Blick überschaubar zu werden, den zu entfalten es vielleicht tausend Worte bedürfte. Bilder sind geronnene Diskurse, die stets neue Diskurse hervorzurufen vermögen. Um sich über ein Bild, ein Kunstwerk zumal, zu verständigen, das sich einem einzelnen Betrachter auf einen Blick kaum erschließt, wird es zuweilen mehr Worte brauchen, als dass sich dafür ein quantifizierbares Maß fände. Denn es gibt Kunstwerke, die in dem, was sie wahrzunehmen und dann auch zu deuten geben, unerschöpflich sind. Im Rezeptionsprozess von Bildern ist der Austausch von Worten unverzichtbar. Dennoch wird gelten können, dass „kein Kunstwerk […] in Kategorien der Kommunikation“ je ganz „zu beschreiben und zu erklären“ sein wird, sperrt sich die Kunst doch „durch den Ausdruck […] dem Füranderessein, das ihn so gierig verschlingt“.68

———— 68 Adorno, Ästhetische Theorie, 167. 171.

151

6. Die Symbole der Liturgie: Antworten auf das Bedürfnis nach Sinnvergewisserung

Weise mir Herr, deinen Weg, / dass ich wandle in deiner Wahrheit. Psalm 86, 11a

Wer vom Ritual handelt, darf vom Symbol nicht schweigen. Darin besteht unter den Theoretikern weitgehende Übereinstimmung.1 Denn jeder rituelle Vollzug hat auch eine Darstellungsfunktion. Und was zur Darstellung kommt, dient dem Bedürfnis nach Sinn. Mit den Disputanten in Schleiermachers „Weihnachtsfeier“ wird man sogar darüber streiten können, ob der Ritus nicht gar die Bedeutung erst hervorgebracht hat.2 Dass jedenfalls das Ritual eine Darstellungsfunktion hat, und diese dem Bedürfnis nach Sinn entspricht, wird offensichtlich auf den Lebensschwellen, an die die kirchlichen Rituale sich ankristallisiert haben. So „umfängt und trägt“ das von den verfassten Religionen für den Fall des Todes bereitgestellte Ritual „den Trauernden mit feststehenden und bekannten Formen“.3 Es vermag einer Sicherheit im Verhalten der Betroffenen den Weg zu bereiten, auch wenn in deren Selbst- und Weltverhältnis angesichts des erlittenen Verlusts nichts mehr sicher zu sein scheint. Insgesamt ist das Ritual als eine symbolische Form zu begreifen, die den Ausdruck von für die menschliche Situation typischen Erlebnissen ermöglicht, als eine Sprache, „in der die extreme individuelle Erfahrung sich zu äußern vermag“.4 Dieser in eine sprachliche Form gebrachte individuelle Ausdruck transzendiert schließlich das Individuelle. Denn „der Ritus stellt das individuelle Schicksal als das allgemeine und gemeinsame dar“.5 In dieser „Kommunikationsform der Ausnahmesituation“6 liegen immer wieder neu auszuschöpfende Potentiale der Deutung. ———— 1 In der Tat ist die Theorie des Rituals, wie sie aus der psychoanalytischen Forschung entwickelt worden ist, von Anfang an mit der des Symbols verknüpft. Das ist schon bei Freud der Fall, gilt aber noch mehr für Lorenzer, Winnicott, Kohut und Bion (vgl. Odenthal, Liturgie als Ritual, 127–167). 2 S. u. Abschnitt 6.4.2. 3 Rössler, Die Vernunft der Religion, 31. 4 Rössler, Die Vernunft, 34. 5 Rössler, Die Vernunft, 37. 6 Rössler, Die Vernunft, 36.

152

Ähnlich verhält es sich im Fall der kirchlichen Trauung, deren Sinn sich nicht von selbst versteht.7 Die Darstellung des religiösen Sinns der Ehe geschieht erst einmal durch die hier einschlägigen Texte der Bibel, die im Zusammenhang der Liturgie zitiert werden. Sie sind kanonisch ja gerade insofern, als sie auf Interpretation angewiesen sind. Es wird als spezifische Aufgabe und Chance anzusehen sein, diese Interpretation an den Erfordernissen der Segenshandlung auszurichten, und d. h. sie zu beziehen auf die Suche nach Sinn, wie sie sich angesichts einer auf unabsehbare Zukunft ausgerichteten Entscheidung, angesichts eines sozialen Statuswechsels, angesichts einer zu übernehmenden Verantwortung stellt, und das um so mehr, als Ängste, Unsicherheiten oder das Bewusstsein von der eigenen Fehlbarkeit derartige Entscheidungen begleiten. Wenn die kirchliche Trauung als eine Lebensschwelle betrachtet wird, so wird man sagen können: das vorbereitende Traugespräch, die vom Pfarrer zu verantwortende Ansprache und das in der Dimension des Unendlichen bzw. „vor Gott“ bestätigte Ja-Wort der Betroffenen sind auf die Lebensgeschichte des einzelnen bezogen. Das Zusammenspiel von Integration, Darstellung und Deutung bereitet einem Innewerden des eigenen Lebens und je eigener Vergewisserung den Weg. In der neueren Ritualtheorie gibt es allerdings Tendenzen, die enge Verknüpfung mit dem Symbol kleinzuschreiben. Man möchte von den semantischen Festlegungen absehen und nur die Form betrachten.8 Ritualisierte Formen (Handlungsverläufe, Gewohnheiten) bringen aber konsequent bestimmte Zusammenhänge (Sym-bola) zum Ausdruck, d. h. sie sind ableitbar aus den wiederkehrenden Situationen, in denen Rituale bestimmte Funktionen erfüllen. Und wenn die bloße Form als hohl und leer empfunden wird, kann immer noch auf deren Rückseite ein verborgener Sinn aufgespürt bzw. unterlegt werden. Wer vom Ritual handelt, darf vom Symbol nicht schweigen. Dieser Satz ist auch durch empirische Forschung zu bestätigen, und d. h. er ist an den Phänomenen zu verifizieren. Stimmt die Umkehrung aber auch: Wer vom Symbol handelt, darf vom Ritual nicht schweigen? Man kann auch davon ausgehen, dass die Symbolisierung das erste, und die Ritualisierung das zweite ist. So ist für das Verständnis einer „positiven“ Religion vom Symbol (und den in ihm festgeschriebenen Bedeutungen) auszugehen, schreibt ———— 7 Mit Adorno mag man fragen, welche Bedeutung die Ehe „nach der Auflösung der hochbürgerlichen Kleinfamilie und der Lockerung der Monogamie“ noch haben kann (Ders., Ästhetische Theorie, 13). Vgl. zur Theorie der Trauung auch: J. Hermelink, Art. Trauung, in: HBPTh, 711– 723. 8 Die Einführung in den von Krieger/Belliger hg. Sammelband ist für diese Tendenz einschlägig.

153

dieses doch die Bedeutung fest, an der eben diese Religion ihre Identität gewonnen hat und zu bewahren sucht.9 Doch ob man nun vom Ritual aus die Symbole in den Blick nimmt, oder umgekehrt: in jedem Fall wird gelten, dass es auf ein „Wechselspiel von gegenständlichen Symbolen und sinnlich-symbolischen Interaktionsformen“ ankommt, um mit Alfred Lorenzer zu reden.10 Erst in einem solchen Wechselspiel wird Phantasie entstehen und aufrechterhalten werden können, die der „Zerstörung der Sinnlichkeit“ widersteht, welche Lorenzer einer „pädagogisch-steuernden Liturgiereform“ vorgeworfen hatte, die das „liturgische Ritual“ auf eine rationalisierende Weise zerstört habe. Das Ritual hat eine räumliche Dimension, und diese mache seine „sozialisatorische Bedeutung“ aus, schreibt Failing.11 Die Frage nach dem Verhältnis von Symbol und Ritual weist also auf die nach dem Raum zurück, insofern er subjektiv als ein intermediärer Zwischenraum des Symbolischen erfahren werden kann, auch wenn er objektiv bloß ein architektonisches Werk ist. Das Wechselspiel von Symbol und Interaktion ist so elementar für die Schöpfung und Erhaltung von Sozialität, dass es die Formen der erwachsenen Kommunikation ebenso einbegreift wie auch die frühkindlichen.12

6.1 Der Mensch als „animal symbolicum“ Um sich dem Symbolischen anzunähern, wie es in den Gottesdiensten eine zentrale Rolle spielt, ist ein weiterer von einem engeren Begriff zu unterscheiden. Mit Ernst Cassirer ist auf den weitest möglichen Symbolbegriff zurückzugehen, weil erst von ihm aus die anthropologische Bedeutung von Symbolen überhaupt für den Menschen erschlossen werden kann. Der Mensch ist Cassirer zufolge ein „animal symbolicum“, wie er in seinem späten „Essay on Man“ im amerikanischen Exil schreibt.13 Und man kann ———— 9 Wenn G. Thomas in seiner Darstellung des Religionsverständnisses Webers von der „Entwicklung der religiösen Deutung im Medium von Symbolisierungen und deren Stabilisierung in Ritualen“ spricht, dann leiht er dieser zweiten Option das Wort (vgl. Ders., Implizite Religion, 84). 10 A. Lorenzer, Konzil der Buchhalter, 137ff. Vgl. Odenthal, Liturgie, 150ff. 11 Failing, Die eingeräumte Welt, 104. 12 S. o. Abschnitt 3.1. 13 Cassirer, An Essay on Man: An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New Haven 1944, 26. Ein anderes Symbolverständnis findet sich etwa bei Odenthal und bei Josuttis (zit. bei Odenthal, Liturgie, 39). Symbole stünden, so heißt es hier, für ein anderes Wirklichkeitsverständnis (25). Dass Symbole die Wirklichkeit auf andere Weise erschließen als die bloßen Zeichen, sei durchaus zugestanden. Ich komme auf diese Frage zurück, wenn ich Benjamins Begriff des „echten Symbols“ behandle. Aber dieses erweiterte Wirklichkeitsverständnis erschließt sich doch ebenfalls dem Gebrauch von Zeichen, die je Unterschiedliches zum Ausdruck bringen, darstellen, in ein Verweissystem einbringen und sich selbst mit ihrer Bedeutung in ihrem Kontext der deuten-

154

präzisierend hinzufügen: Genauer noch ist der Mensch als „animal symbola formans“ zu begreifen: als ein Wesen also, das Symbole bildet, und zugleich der Symbole bedarf: Ohne sie könnte er weder in seinen Erkenntnisakten vorankommen noch sich mit anderen über erkannte Sinngehalte verständigen.14 Der als ein derartiges Wesen begriffene Mensch ist aber m. a. W. ein Wesen, das Kultur schafft und sich in ihr zurechtfinden will und muss. Denn Kultur kann begriffen werden als „das durch menschlichen Zeichengebrauch in langen Überlieferungen gewachsene, sich durch das leibliche Ausdrucksverhalten, dann vor allem durch die Sprache erhaltende und fortspinnende ‚Bedeutungsgewebe‘.“15

Cassirers anthropologisch fundierte Kulturphilosophie bestätigt somit die grundlegenden Einsichten der philosophischen Anthropologie, der zufolge der Mensch „von Natur ein Kulturwesen“ sei, und führt sie weiter aus.16 Cassirer steht mit seinen Grundannahmen also nicht allein. Als einer der großen Schüler des Neukantianers Hermann Cohen (neben Rosenzweig als dem anderen) entwickelt er die leitenden Fragestellungen seiner „Philosophie der symbolischen Formen“ (3 Bände) transzendental. D. h. er fragt nach der Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung. Doch während die Frage sich bei Kant auf die Objektivität der Dinge richtete, geht sie nun auf die „Objektivität der ‚Bedeutung‘“.17 Im Sinne Cohens fängt Cassirer „mit einem Faktum“ an: Es gibt Symbole, die Bedeutungen haben, über die wir uns verständigen müssen. Dann erst ist „nach der Möglichkeit dieses Faktums zu fragen.“18 Das Faktum, von dem Cassirer ausgeht, ist aber – ähnlich wie bei Rosenzweig – die Sprache selbst, und beide können an eine sprachphilosophische Tradition anschließen, die auf Herder, Hamann und Wilhelm von Humboldt zurückgeht.19 Im Zuge der bisherigen Darstellung hatte ich im Anschluss an Rosenzweig auch das Ritual als eine Form der Sprache verstanden. Von Menschen gebildet kann es zudem als eine Form der Kunst im weitesten Sinne angesehen werden. Mit dem weiten Symbolbegriff Cassirers ist das Ritual nun schließlich als eine symbolische Form zu be———— den Rezeption überlassen müssen. Diese Ebene der Reflexion wird von Odenthal nicht erreicht, der sich seinerseits an keiner Stelle auf Cassirer bezieht. 14 Zit. nach E. Graeser, Ernst Cassirer, München 1994, 38f. 15 Gräb, Sinn fürs Unendliche, 54 (kursiv bei Gräb). Den Begriff des „Bedeutungsgewebes“ hat C. Geertz geprägt (53. 66) 16 Eine Skizze von Grundlinien philosophischer Anthropologie habe ich an einem anderen Ort gegeben (vgl. Dober, Seelsorge, 207ff). 17 Graeser, Cassirer, 29. 18 Graeser, Cassirer, 29 zit. die Disputation mit Heidegger. 19 Welcher dieser Autoren eine größere oder weniger große Wichtigkeit gewinnt, hängt auch an der Individualität des jeweiligen Denkers; für Cassirer ist Humboldt von besonderer Relevanz (vgl. Graeser, Cassirer, 39 [die folgenden Zitate beziehen sich auf dieses Werk]).

155

greifen. Es ist allerdings noch nicht auf den höheren Stufen angesiedelt, sondern auf der niederen, und d. h. auf den basalen, grundlegenden des Mythos. (s. u.) In der Tradition der klassischen Erkenntnistheorie geht Cassirer davon aus, „dass alles Sinnliche bereits sinnhaft sei“ (30). Er versteht dies in einer doppelten Hinsicht: Das Sinnliche, wie es dem wahrnehmenden Bewusstsein begegnet, ist nicht nur als Eindruck aufzufassen, sondern auch als Ausdruck. Ein bloßer Eindruck für das Bewusstsein wäre die Fülle des begegnenden „Stoffes“, wenn dieser als völlig ungeordnet und „roh“ angesehen würde, all das, was dem Bewusstsein an sinnlichem Stoff begegnet: Töne und Gerüche, Farben und Formen. Das Bewusstsein mit seinen Formen der Wahrnehmung würde dann erst diese Ordnung des Chaotischen vornehmen und das vermeintlich Rohe mit Sinn begaben. Das Runde als rund, das Rote als rot, den Weihrauch als Weihrauch identifizieren zu können heißt, ein Vorverständnis des Weihrauchs, des Roten und des Runden schon mitzubringen. Demgegenüber das Sinnliche zugleich immer schon als Ausdruck zu begreifen, heißt einzusehen, dass das Wahrgenommene immer schon in bestimmten, kulturell vermittelten – eben „symbolischen“ – Formen für das Bewusstsein erscheint, und diese symbolischen Formen setzen schon mehr voraus als ein Vorverständnis des Runden, Roten oder des Weihrauchs. Cassirers Beispiel ist „ein optisches Gebilde von der Art eines einfachen Linienzuges“. Je nach Perspektive kann die einfache Linie verschieden aufgefasst werden, „als mythisches Zeichen etwa, oder als ästhetisches Ornament oder auch als geometrische Figur“ (31). In der Art der Wahrnehmung wird immer schon eine bestimmte „Sinn-Form“ wirksam. So kann an der Linie „ihr stetes und ruhiges Dahingleiten oder ihr unvermitteltes Abbrechen, ihre Rundung und Geschlossenheit oder ihre Sprunghaftigkeit, ihre Härte oder Weichheit […] an ihr selbst, als Bestimmung ihres eigenen Seins, ihrer objektiven ‚Natur‘ heraus[treten].“20 Entsprechend wird „dem mathematischen Geist […] der Linienzug zu nichts anderem als zum anschaulichen Repräsentanten eines bestimmten Funktionsverlaufes […] wo die ästhetische Richtung der Betrachtung vielleicht eine Hogarthsche Schönheitslinie vor sich sah – da sieht der Blick des Mathematikers das Bild einer bestimmten trigonometrischen Figur, etwa das Bild einer Sinuskurve vor sich, während der mathematische Physiker in eben dieser Kurve vielleicht das Gesetz für einen periodische Schwingung erkennt.“21 ———— 20 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. I–III, Darmstadt 10., unveränderte Auflage 1994 [folgend zitiert: PhsF I–III], hier: PhsF III, 233. 21 Graeser, 31 zit. Cassirer.

156

Die anzustrebende Art und Weise, in der das derart immer schon kulturell vermittelte und perspektivisch begegnende Sinnliche wahrzunehmen und zu erkennen ist (wenn es denn nicht nur um ein Spiel von Bedeutungen, sondern um den Ernst der Erkenntnis gehen soll), nennt Cassirer „symbolische Prägnanz“.22 Es kommt darauf an, die eine Bedeutung von der anderen zu unterscheiden, den unscharfen Rand scharf einzustellen (um im Bild der Fokussierung eines Gegenstands durch die Blende und Linse eines Photoapparates oder einer Kamera zu sprechen) und das Symbolische in der Differenz unterschiedlicher symbolischer Formen in den Blick zu bekommen. Wie man leicht sehen kann, geht es bei Cassirer elementar auch um das Verhältnis von sinnlichem Eindruck (der, wie gesagt, zugleich als Ausdruck zu verstehen ist) und dem Zeichen, in dem Eindruck wie Ausdruck begegnen. Die Philosophie der symbolischen Formen kann als ein semiotischer Entwurf gelesen werden, der geeignet ist, mit der Mehrdeutigkeit der kulturell aufgeladenen und in der Kommunikation verwendeten Zeichen einen reflektierten Umgang zu pflegen. Es verwundert also nicht, dass die Vorliebe der zeitgenössischen Praktischen Theologie für die Semiotik auch in Cassirer (neben Umberto Eco u. a.) eine wichtige Referenz entdeckt hat. Wie versteht Cassirer nun näherhin das Symbolische, und wie verhält sich sein Symbolbegriff zu dem des Zeichens? Symbol ist in seinem weiten Begriff nicht durch den Gegensatz zum „bloß Buchstäblichen“ bestimmt, so dass das Symbolische erst mit der über den Buchstaben hinausgehenden Sphäre des Geistigen aufträte – als Sphäre, die sich etwa einer auf bestimmte Weise konnotierten Bibelexegese öffnete.23 Entsprechend ist symbolisch auch nicht nur eine durch die Perspektive der Interpretation abgegrenzte Sicht auf ein Kunstwerk, auf ein Werk der Literatur oder auf einen Film, in dem es „nicht-symbolische“ und eben „symbolische“ Aspekte gäbe (38). Sondern symbolisch ist Cassirer zufolge „alles Sinnliche, das als Zeichen für etwas fungiert“ (33). Geleitet durch diese Definition geht es denn in der Philosophie der symbolischen Formen auch darum, je und je die Funktion der Zeichen zu bestimmen, gegeneinander abzugrenzen und miteinander ins Verhältnis zu setzen. Zeichen haben bestimmte Funktionen für die Bedeutung des Sinnlichen, und darüber muss sich sowohl das einzelne Bewusst———— 22 Cassirer zufolge gewinnt „die Wahrnehmung selbst […] kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art geistiger ‚Artikulation‘ […] die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung zugehört […] Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinn-Ganzes, soll der Ausdruck ‚Prägnanz‘ bezeichnen“ (PhsF III, 235). Das philosophische Problem, dass sich in Cassirers Rede von der „Wahrnehmung selbst“ noch eine geistidealistische Vorstellung verrät, die noch nicht zu einer Gründung der symbolischen Formgebung in der Lebenswelt vorgedrungen ist, hat Heidegger in der Davoser Disputation geltend gemacht. Es kann hier auf sich beruhen. 23 Graeser,Cassirer, 33.

157

sein klar werden, als es auch darum geht, sich über die Differenz dieser Funktionen für bestimmte Bedeutungen zu verständigen. Die Philosophie der symbolischen Formen lässt sich dann auch auf die Zeichen der Sprache, des Mythos, der Erkenntnis (in der Wissenschaft) und der Kunst ein. Die Religion tritt nicht als eigenständige Form auf, sondern als eine Funktion der Kritik, der Aufklärung und der Übersetzung dessen, was in der symbolischen Form des Mythos erst nur angelegt ist. Es ist wichtig zu sehen, dass wir vom Symbol in diesem weit gefassten Sinn, und d. h. von den symbolischen Formen überhaupt, in keinem Fall unabhängig vom Bewusstsein handeln können. Für Cassirer hat das Bewusstsein selbst aber „eine rein funktionale Bedeutung“ (41), und d. h. wir sind uns unseres Bewusstseins bewusst nur in bestimmten geistigen Funktionen, von denen drei unterschieden werden: „Die Ausdrucksfunktion, die Darstellungsfunktion und die Bedeutungsfunktion“. Damit sind drei Weisen unterschieden, „in denen ein Symbol Symbol sein kann. Manche Symbole drücken nur etwas aus und weisen also nicht oder kaum über sich selbst hinaus, andere stellen etwas anschaulich dar und wieder andere stehen für rein abstrakte Dinge oder Beziehungen.“ Offensichtlich ist die Art und Weise, wie Symbole als Symbole wahrgenommen und gedeutet werden, aber „mit bestimmten Leistungen auf der Seite dessen verwoben, der sich der Wirklichkeit zuwendet.“ (41) Von Symbolen zu handeln heißt jedenfalls auch, von dem Bewusstsein zu handeln, das mit Symbolen umgeht. Hier liegt ein Differenzpunkt zu dem Wissen, das auch schon im Ritual angelegt ist. Es ist zwar auch schon in den sog. primitiven Gesellschaften – Bronislaw Malinowski zufolge – „regelgeleitet“, weist „eine vernünftige Struktur auf“ und beruht „auf Erfahrung“ (43). Die Teilnahme am Ritual ist aber noch nicht abhängig von der Beteiligung des Bewusstseins. Das ist der Fall erst im wahrnehmenden und deutenden Bezug auf die Symbole. Dass ein ritualisiertes Handeln seinerseits auch die Bewusstseinsfunktionen gründen und tragen kann, und je in der seelischen und geistigen Entwicklung eines jeden Menschen vom Kind zum Erwachsenen eben diese Rolle spielt, ist oben schon gesagt worden und bleibt von der eben angesprochenen Begrenzung des Rituals im Vergleich mit dem Symbol unberührt.

6.2 Der Begriff des Symbols zwischen Mythos, Wissenschaft und Religion Die von Cassirer unterschiedenen symbolischen Formen gehören unterschiedlichen Sphären der Weltanschauung und -deutung an. Und diese Sphären sind einerseits historisch als entweder frühere oder spätere zu unterscheiden (wie etwa die mythische von der wissenschaftlichen Weltsicht), 158

andererseits bleiben sie auch miteinander verbunden. Cassirer ist zwar durchaus der Meinung, „dass sich der Mensch neue Gesichtskreise eröffnet und Beschränkungen früherer Bewusstseinsstrukturen hinter sich lässt“ (46). So ist die Wissenschaft mit dem Anspruch aufgetreten, den Mythos aufzuklären, und dieser Prozess der „Entmythologisierung“ von Bewusstseinsformen wird als solcher den neuzeitlichen Prozessen der Rationalisierung mit ihrer Kehrseite der Entzauberung zugehörig bleiben, auch wenn man ihn so dialektisch wie möglich fassen möchte. In wie starkem Maße die Aufklärung dialektisch zu fassen ist in dem Sinne, dass auch die wissenschaftliche Weltsicht neue Mythen hervorgebracht hat (und weiter hervorbringt), und in wie starkem Maße der Prozess der Entzauberung früherer Weltbilder und Weltverhältnisse (in der Magie etwa) dialektisch auf die Kehrseite einer neuen Wiederverzauberung zu beziehen ist, wäre im einzelnen zu diskutieren.24 So hat Gräb etwa im Zuge seiner Forderung nach einer „Neuinszenierung kirchlicher Räume“25 eine „Wiederverzauberung durch Ästhetisierung“ (131) gefordert, um in der Gegenwart das Potential „der christlichen Religionskultur […] für die Welt- und Selbstinterpretation [der Zeitgenossen] aufs neue freizusetzen“ (129). Das könne durch den Einlass der „Gegenwartskunst“ in den Raum der Kirche geschehen, „die ihren Sinn nicht schon mitliefert und ihre Motive auch nicht immer […] aus der tradierten christlichen Ikonographie entlehnt.“ Denn eine Kunst, die „aus einem Spiel der Freiheit“ entsteht, und beim Betrachter „das ungebundene Zusammenspiel von Verstand und Einbildungskraft, von Idee und Anschauung“ freisetzt (130), könne „heute die Funktion der Religion in einem tieferen, abgründigeren Sinn erfüllen“ (131) als die traditionelle kirchliche Kunst. Hier soll es nur darum gehen, die Plausibilität von Cassirers Position zu stützen: Einerseits ist von einem Fortschritt im menschlichen Bewusstsein auszugehen, der für einen aufgeklärten Geist nicht einfach rückgängig zu machen ist, als könnte der Glaube etwa ohne weiteres in eine Zeit zurückspringen, in der man unter anderen Voraussetzungen des Bewusstseins glaubte. Andererseits bleiben „frühere Formen bzw. Schematisierungen“ des Bewusstseins in späteren aber auch aufgehoben und bewahrt. So be———— 24 Kein geringerer als der Aufklärer Freud hat den neuen Mythos vom Ursprung des Ödipuskomplexes in „Totem und Tabu“ hervorgebracht (vgl. Dober, Seelsorge, 166–171). Und Benjamin hat seine geistige Kraft der Entschlüsselung neuer Mythen gewidmet, wie sie sich in den Emblemen der kapitalistischen Wirtschaft und der totalitären Ideologien zum Ausdruck gebracht haben (um nur zwei Beispiele für eine „Dialektik der Aufklärung“ zu nennen, die in der Gestalt, die Horkheimer und Adorno ihr gegeben haben, vor allem vom Standpunkt eines Wissens aus, das Macht ist, aufzuschlüsseln wäre). Inwiefern auch die Kunst über die neuen Mythen aufklären kann, die auf dem Boden der Hirnforschung wachsen, ist an Ian McEwans Roman „Saturday“ zu sehen. 25 Gräb, Lebensgeschichten, 128ff [die folgenden Zitate beziehen sich auf dieses Werk].

159

wahrt sich die Kunst der Moderne etwa eine Nähe zur Ausdrucks- und Darstellungsfunktion des Bewusstseins zu Zeiten des Mythos. Diese Nähe ist aber nicht im Sinne einer Rückkehr zu einem „primären Wirklichkeitsbewusstsein“ zu verstehen, sondern als Fähigkeit zu „schöpferischem Ausdruck“, der sich für eine frühere Form des Bewusstseins offen zu halten bemüht. Das aber kann nur in dem Bewusstsein geschehen, dass dies eben eine frühere Form des Bewusstseins ist. Zu bestätigen wäre dieses Verhältnis anhand der Bilder, die Gauguin auf den Philippinen gemalt hat,26 oder auch anhand der Phase im Schaffen von Picasso, in denen er sich für magische Motive früherer Kulturen interessierte.27 Es würde in diesem Rahmen zu weit führen, darzulegen, wie die Sprache, der Mythos, die Wissenschaft und die Kunst von Cassirer als Bereiche beschrieben und analysiert werden, in denen die Ausdrucks-, Darstellungsund Bedeutungsfunktionen des Bewusstseins wirksam geworden sind. Einzig auf die Sprache als Medium, in dem alle anderen symbolischen Formen ihren Ausdruck, ihre Darstellung und ihre Bedeutung gewinnen, ist kurz einzugehen, weil auch das Verständnis des Mythos darauf aufbaut. Cassirer folgt der Sprachentwicklung, und unterscheidet mit Blick auf deren „Phasen“ eine „dreifache Stufenfolge“, die Stufen nämlich des „mimetischen, des analogischen und des eigentlich symbolischen Ausdrucks“.28 Der Mythos baut auf die erste, mimetische Stufe auf. Ohne nun näher auf die Cassirersche Philosophie der Sprache, der Kunst und der Wissenschaft eingehen zu können, komme ich gleich zu der für unseren Zusammenhang besonders relevanten Frage, wie die Religion unter diesen Voraussetzungen thematisch wird. Sie kann als eine Sphäre gelten, in der die anderen symbolischen Formen vorkommen, zueinander ins Verhältnis gesetzt, und schließlich prägnant präzisiert werden können.29 Gräb vergleicht Schleiermacher und Cassirer miteinander (hierbei auf Martin Laube aufbauend), um mit Cassirer die Funktion der Religion zu präzisieren. Schon Schleiermacher zufolge besteht sie darin, dass sie im Ausgang von und unter Bedingungen der Endlichkeit einen „Sinn fürs Unendliche“ erweckt und dann auch kultiviert. Dieser ist über Anschauungen und Gefühle vermittelt, die beide in Tätigkeiten der Seele wurzeln, wie sie sich in bewussten, vorbewussten und unbewussten Schichten vollzieht. ———— 26 Vgl. etwa dessen „Polynesische Weihnacht“ (1896). 27 Entsprechende Exponate finden sich im Picasso-Museum zu Paris, aber auch im Guggenheim-Museum in Venedig gesammelt. 28 Graeser zit. Cassirer, PhsF I, 139. 29 Als weiterführende Literatur sei genannt: D. Korsch/E. Rudolph (Hg.), Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Für das Folgende orientiere ich mich an W. Gräbs Grundlegung einer Religionshermeneutik, die sich eine allgemeine Kulturhermeneutik voraussetzt, in: Ders., Sinn fürs Unendliche, 53ff.

160

Prägnanter noch, als das auf den Spuren Schleiermachers möglich ist, lässt sich nun mit Cassirer dartun, inwiefern „das religiöse Bewusstsein […] die realistischen Bildwelten des Mythos in ideelle Sinnbilder“ überführt, „in Symbole“.30 Cassirer nimmt die mythische Welt in Analogie zu der ersten Sprachform, des mimetischen (im Unterschied zum darauf folgenden analogischen und schließlich symbolischen) Ausdruck wahr. Und das entspricht wiederum der Ausdrucksfunktion des Bewusstseins, der ersten der drei unterschiedenen Funktionen neben der Darstellungs- und Bedeutungsfunktion. Während nämlich die mythische Denkweise Bild und Sache identifiziert,31 vollzieht das religiöse Bewusstsein eben die Trennung von Bild und Sache. Die Leistung der Religion im Verhältnis zum Mythos ist in der Systematik Cassirers, dass sie sich dessen „sinnlicher Bilder und Zeichen“ bedient, sie aber nicht mehr nur als bloße „Ausdrucksmittel“ versteht, sondern als (noch unzureichende) Mittel der Darstellung eines dem Mythos selbst noch unbewussten Bedeutungs-Zusammenhangs.32 Auf den Spuren Cassirers wird die Funktion der Religion erkennbar im Unterschied zu den symbolischen Formen des Mythos. Dieses Verhältnis wird nun beschrieben als eine eigenständige Form der Aufklärung neben der Aufklärung des Mythos durch die Wissenschaft.33 „Auch die Religion macht von den Bildwelten des Mythos noch Gebrauch. Aber sie gibt ihnen einen ‚neuen Sinn‘ [wie Gräb mit Bezug auf eine Stelle in der „Philosophie der symbolischen Formen“ sagt]. Sie erfasst sie überhaupt daraufhin, dass sie nicht Realität gegenständlich abbilden, sondern den Sinn ansagen, den das Dasein für uns Menschen hat.“34

———— 30 Gräb, Sinn fürs Unendliche, 63. 31 Cassirer, PhsF II, 42f. 32 Graeser, Cassirer, 65. Diese Einordnung des Mythos sei, so Graeser, „vielleicht nicht zwingend“. Zwei Gesichtspunkte aber vermöchten sie zu stützen (und beide finden sich bei Benjamin wieder): Sowohl im Verhältnis vom „Bild und Sache“, als auch in dem von „Name und Sache“ vollziehe der Mythos eine „Identifikation“. Das sei im Rahmen der bloßen Ausdrucksfunktion des Bewusstseins möglich, nicht aber mehr in dem der Darstellungsfunktion, die ohne Unterscheidungen nicht auskommt. Die durch die Probleme der Darstellung und der Bedeutung hindurchgegangenen Funktionen des Bewusstseins haben Differenz geschaffen und sie ausgehalten; diese Differenz vermag aber der „homogenen Form der Wirklichkeit“ im Mythos nicht mehr zu entsprechen (Graeser, Cassirer, 66). Die von Cassirer getroffenen Unterscheidungen bewähren sich aber gewissermaßen im Nachhinein, wenn man sie in die Perspektive seines nachgelassenen Spätwerkes „Der Mythos des Staates“ stellt. Wie bei Benjamin auch ist die Aufmerksamkeit auf das Mythische durch ein drängendes Gegenwartsinteresse geleitet, das sich aus der Einsicht eben in die Aktualität der mythischen Weltsicht auch innerhalb der durch Wissenschaft und Technik, durch Rationalisierungsprozesse und Entzauberungen bestimmten modernen Gesellschaft nährt. In „Der Mythos des Staates“ „geht es um den Befund, dass mythisches Denken sozusagen Hand in Hand mit Wissenschaft und Technik sowie ausgeklügelter Systeme wirkungsvoller Public Relations die Lebenswelt Nazi-Deutschlands durchdringt“ (Graeser, Cassirer, 68). 33 Auch hierin stimmt Benjamin mit Cassirer überein: Vgl. die von ihm unterschiedenen drei Aufklärungsformen des Mythos (Dober, Die Moderne wahrnehmen, 216–223). 34 Gräb, Sinn fürs Unendliche, 63f.

161

Um es mit Cassirer zu sagen: „Die neue Idealität, die neue geistige ‚Dimension‘, die durch die Religion erschlossen wird, verleiht nicht nur dem Mythischen eine veränderte ‚Bedeutung‘, sondern sie führt geradezu den Gegensatz zwischen ‚Bedeutung‘ und ‚Dasein‘ erst in das Gebiet des Mythos ein. Die Religion vollzieht den Schnitt, der dem Mythos als solchem fremd ist: in dem sie sich der sinnlichen Bilder und Zeichen bedient, weiß sie sie zugleich als solche, – als Ausdrucksmittel, die, wenn sie einen bestimmten Sinn offenbaren, notwendig zugleich hinter ihm zurückbleiben, die auf diesen Sinn ‚hinweisen‘, ohne ihn jemals vollständig zu erfassen und auszuschöpfen.“35

So eröffnet die Religion einen differenzierteren, reflektierten Umgang mit den symbolischen Formen des Mythos. Und das geschieht eben dadurch, dass das magische Verhältnis zu diesen Formen überwunden wird. Möglich ist diese Aufklärung aber auf dem Weg bestimmter Funktionen des Bewusstseins. Um mit Cassirer zu sprechen, nimmt erst die Religion die „Bedeutungsfunktion“ ganz wahr, während die Ausdrucks- und Darstellungsfunktion auch vorher schon – eben in den symbolischen Formen des Mythos – gegriffen hatten. „Das religiöse Bewusstsein weiß, dass die Bilder symbolisch zu verstehen sind, dass sie unendlich mehr und anderes besagen können, als sich in den realistischen Vorstellungen, die sie abbilden, ausdrückt.“ (ebd.) Auch Sprache, Kunst und Wissenschaft klären den Mythos auf, indem sie sich „von der substanzhaften Realistik des Mythos“ trennen. Doch wie genau geschieht das? Gräb führt das an Ort und Stelle nicht näher aus. Man könnte ergänzen, dass die Sprache Unterschiede setzt, die der Mythos übergehen kann, eben die Unterschiede, die über den mimetischen Ausdruck hinaus im analogischen und im „eigentlich symbolischen“ Ausdruck gesetzt sind, dass auch die Kunst Distanz zur Wirklichkeit zu halten vermag, mit der der Mythos identifiziert – durch Verfremdungen etwa, und dass die Wissenschaft durch Analyse die ungebrochene Einheit des Mythischen zerlegt. Indem Sprache, Kunst und Wissenschaft jedenfalls „ihrer sinnbildenden, symbolisierenden Zeichenfunktion …ansichtig werden“, erkennen sie die „Freiheit des Geistes zur Weltgestaltung und Welterkenntnis.“36 Das gilt auch für den „Weg vom Mythos zur Religion“. Gräb verifiziert die Freiheit des Geistes – hier zur Interpretation – anhand der Übersetzung mythischer „Bildzeichen“, die die Realität unmittelbar abzubilden scheinen, in „reine Sinnzeichen“, die im engeren Sinne als Symbole verstanden werden können. (64.66) Die „mythischen Bildwelten“ bleiben aber an die „religiösen Sinnwelten“ auf eine dialektische Weise gebunden. (65) „Es ist ———— 35 Gräb, Sinn fürs Unendliche, 64 zit. PhsF II, 286 [die folgenden, nicht näher ausgewiesenen Zitate beziehen sich auf dieses Werk von Gräb]. 36 Graeser zit. PhsF I, 139.

162

dieselbe Wechselbestimmung des Sinnlichen durch das Geistige, des Geistigen durch das Sinnliche“, das Cassirer in seiner Erörterung der Sprache als symbolischer Form wiederfand,37 die nun auch im Verhältnis von Mythos und Religion anhand der Differenz von Bild- und Sinnzeichen auftritt. Für die Praxis der Religion ist dieses Wechselverhältnis unauflöslich. Mit Blick auf die anderen symbolischen Formen lässt sich sagen: Während die symbolischen Formen der Mathematik oder die Zeichen der Physik von konkreten Bildern weithin abstrahieren können (wie die abstrakte Kunst ihrerseits auch), bleibt der religiöse Sinn weitgehend an die Bilder gebunden, die die Tradition dem Interpreten vorgibt, auch wenn die Interpretation eben gerade in einer Lösung des Sinns- vom Bildzeichen besteht. Reiches Anschauungsmaterial für diesen immer komplexen Vorgang bieten die biblischen Texte, die im Rahmen des Gottesdienstes entweder zur Predigt vorgesehen sind, oder die eine feste Stelle im liturgischen Ablauf haben. Zu denken ist an die Fülle der Metaphern in den Psalmen und an die den Text der Psalmen fortsetzenden Gesangbuchstrophen, wie auch an die semantischen Gehalte etwa des Vaterunsers. Die praktische Leistung der Religion besteht, um mit Michael Moxter zu sprechen, „im Gebrauch der Bilder und Zeichen“ als eines ursprünglich „mythischen Materials“.38 Dass das Wechselverhältnis zwischen Bild- und Sinnzeichen unauflöslich ist, wird auch mit Blick auf die Prozesse der Entwicklung des Individuums zu einem immer differenzierteren Bewusstsein gelten können. In dieser Hinsicht wird Cassirer Recht behalten, dass der Mensch „das Universum seines Inneren nur dadurch zu entdecken und für sein eigenes Bewusstsein zu bestimmen vermag, dass er es in mythischen Begriffen denkt und in mythischen Bildern anschaut.“39 Der kirchliche Religionsunterricht wird diese Einsicht Tag für Tag bestätigen können, wenngleich es eben auch hier auf die von Gräb geforderte Übersetzung mythischer Bilder in religiösen Sinn ankommt. Insgesamt kommt die Religion zu sich selbst, indem sie die mythischen Formen als Darstellung begreift und ihnen zur Bedeutung verhilft. Sie klärt den Mythos auf, indem sie die Darstellungs- und Bedeutungsfunktion des Bewusstseins auf den Mythos anwendet. Wenn sich die Dinge so verhalten, dann muss im Licht dieser Aufklärung des Mythos auch das Verhältnis von Religion und Ritual näher bestimmt werden können. Denn das Ritual lässt sich nach Cassirer in Analogie zum mythischen Zeitverhältnis beschreiben. „Für den Mythos gibt es keine Zeit, […] sondern es gibt nur bestimmte inhaltreiche Gestaltungen, die ihrerseits bestimmte ‚Zeitgestalten‘, ein ———— 37 Graeser zit. PhsF I, 299. 38 Moxter, Cassirer, 113. 39 Cassirer, PhsF II, 238.

163

Kommen und Gehen, ein rhythmisches Dasein und Werden offenbaren“ (PhsF II, 133). Im Ritual ist das spezifisch mythische Zeitgefühl erlebbar, „das zwischen der subjektiven Lebensform und der objektiven Anschauung der Natur die Brücke schlägt“ (PhsF II, 135). Das religiöse Ritual ist aber niemals bloße Form, sondern immer auch inhaltlich gefüllt. Und seinen Inhalt gewinnt das Ritual durch seine Bindung ans Symbolische, oder – im Fall der Liturgien – an die spezifischen religiösen Symbole. Dieses Verhältnis ist nun in einer mit Cassirer erschlossenen Perspektive noch einmal genauer zu fassen. Die Religion ist nun als die Dimension zu begreifen, in der die Darstellungsfunktion des Rituals überhaupt erst in vollem Sinn greifen kann. Denn erst in dieser Dimension eröffnet sich auch der in den Ausdrucksformen dargestellte Sinn oder die Bedeutung des Rituals über die ihm eigene Ambivalenz hinaus. Auf diese Zusammenhänge ist anlässlich der Frage nach dem Gebet noch einmal zurückzukommen. Doch das ist ein Vorausblick. Für eine Klärung des mit Cassirer weit gefassten Symbolbegriffs reicht es aus, auf die prägnante Präzisierung hinzuweisen, die die religiöse Interpretation der mythischen Bilderwelten zu leisten im Stande ist. Hierfür bietet schon die Bibel die besten Beispiele – man denke nur an die biblische Urgeschichte Genesis 1–11, oder an die kritische Aufklärung eines mythischen Schicksalszusammenhangs bei den Propheten (Hesekiel 18). Sowohl die Auslegung der im Gottesdienst sich findenden Symbole, als auch die je aktuelle Schaffung neuer Darstellungen durch den künstlerischen Ausdruck in der kirchlichen Kunst sind auf dieses elementare Wechselverhältnis von „mythischen Bild“ und „religiösem Sinn“ zu beziehen, wie es an den Funktionen der Zeichen abzulesen und jeweils zu verifizieren ist.40 Als Fazit der bisherigen Überlegungen zum Symbol wird aber festzuhalten sein: Die im Unterschied zum Mythos (und auch in gewisser Weise zu Kunst und Wissenschaft) religiös verstandenen ———— 40 Was die Religion über Wissenschaft und Kunst hinaus beizutragen hat zur Kultur als einem „Bedeutungsgewebe“ (C. Geertz), ist mit Gräb unter dem Terminus des „Sinns fürs Unendliche“ (Schleiermacher) zu zeigen. Doch auch das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft zum Mythos bleibt relevant, insofern die Religion den Mythos eben auf andere Weise aufklärt als die Wissenschaft (s. u.), und insofern die Kunst die Ausdrucks- und Darstellungsfunktionen des Mythos in sich aufgenommen hat, wenngleich in dem Bewusstsein, zum Mythos nicht einfach zurückkehren zu können (s. u.). Es sei hier nur angemerkt, dass das Spannungsverhältnis zu den andern Aufklärungen des Mythos in der Perspektive Gräbs unterbelichtet bleibt (woran ich hier an Ort und Stelle auch nichts werde ändern können – das würde die leitenden Fragestellungen überschreiten). Immerhin hat aber die Wissenschaft den Anspruch erhoben, auch die Religion aufzuklären, und zwar als Religion und nicht nur als Mythos. Das kann am Beispiel der Religionskritik Freuds gezeigt werden (vgl. Dober, Seelsorge, 161–178). Und sofern die Darstellung des Christentums als einer eminent ästhetischen Religion der Kunst bedarf, kehrt auch hier Ebene das Problem des Mythos wieder.

164

Symbole dienen dem Bedürfnis des Menschen, sich des Sinns seines Lebens in der Dimension des Unendlichen zu vergewissern. Was das genauerhin heißt, ist nun auszuführen.

6.3 Sinnvergewisserung als Bedürfnis „gelebter“ Religion 6.3.1 Die drei Religionssucher Unter den frühen Fragmenten Walter Benjamins findet sich ein kurzer Text mit dem Titel „Die drei Religionssucher“.41 1910 in „Der Anfang. Zeitschrift für kommende Kunst und Literatur“ erschienen handelt dieser Text von drei jungen Menschen, die ihr Leben noch vor sich haben. In der Weite des Horizontes der Zukunft sind sie auf der Suche. Auch die älter gewordenen Jugendfreunde, die von ihrem Leben berichten, sind dennoch mit ihren Bemühungen nicht zu einem Ende gekommen. Benjamins Text ist bis heute von einer nicht zu unterschätzenden Aktualität. Denn in den schwer überschaubaren Verhältnissen der Gegenwart wird es einen Zugang zur Religion nur auf dem Weg einer intensiven Suche nach ihr geben können. Auch wer regelmäßig in der Bibel liest, das Glaubensbekenntnis auswendig aufsagen kann und sich ein wenig in der kirchlichen Tradition auskennt, hat die Religion nicht. Suchen, nicht schon gefunden haben, und wenn man gefunden hat, immer wieder neu suchen zu müssen: das ist das Kennzeichen eines der Deutung vorgelegten Lebens in der Dimension der Religion. Der erste Religionssucher in Benjamins Erzählung wanderte in eine Stadt, in der „alle Schätze der Kunst […] aufgespeichert sein [sollten], mächtige Bücher voll tausendjähriger Weisheit und endlich doch auch viele Kirchen, in denen allen die Menschen zu Gott beteten. Da musste doch wohl auch Religion sein […] Dreißig Jahre blieb er in der Stadt und forschte und suchte nach der wahren und einzigen Religion.“ Der zweite Religionssucher ist weniger ein geistiger Arbeiter als vielmehr ein Müßiggänger und Freund alles Naturschönen. „Heiter singend und sorglos wanderte er, und wo er einen schönen Ort sah, da legte er sich nieder, ruhte aus und träumte. Und wenn er so in die Schönheit der untergehenden Sonne versunken war, wenn er im Gras lag und die weißen Wolken am Himmel dahinziehn, wenn er im Walde plötzlich einen versteckten See dunkel hinter den Bäumen aufblitzen sah, so war er glücklich und meinte, er habe die Religion gefunden […] Dreißig Jahre zog er so umher, wandernd und ruhend, träumend und schauend.“ ———— 41 Benjamin, GS II/3, 892–894. Vgl. dazu: Dober, Die Moderne wahrnehmen, 301f.

165

Dem dritten der Jugendfreunde, die ausgezogen waren, die Religion zu suchen, fehlte die Zeit. Der Kampf ums Dasein, die Ausbildung und das Geldverdienen nahmen ihn so in Beschlag, dass er die Gelegenheit zu intensiver Suche gar nicht finden konnte. Er „arbeitete angestrengt eine lange Reihe von Jahren, und als das dreißigste Jahr zu Ende ging, da war er wohl ein selbständiger Handwerker geworden, aber nach der Religion hatte er nicht forschen können.“ Schließlich trafen sich die drei Jugendfreunde nach eben dreißig Jahren wieder, um einander ihre Schicksale zu erzählen. „Der Erste erzählte sein Leben in der großen Stadt, wie er geforscht und studiert habe, in den Bibliotheken und Hörsälen, wie er die bedeutendsten Professoren gehört habe. Und er selbst hatte wohl keine Religion gefunden, aber doch meinte er am meisten geleistet zu haben. ‚Denn‘, sprach er, ‚in der ganzen großen Stadt ist nicht eine Kirche, deren Dogmen und Grundsätze ich nicht widerlegen könnte.‘ Dann erzählte der Zweite die Schicksale seines Wanderlebens, und manches war darunter, das die beiden Zuhörer hell auflachen oder gespannt lauschen ließ. Aber trotz aller Bemühungen gelang es ihm nicht, den andern seine Religion begreiflich zu machen, und er kam nie recht über die Worte hinaus: ‚Ja, seht Ihr, das muss man fühlen!‘ Und wieder: ‚So etwas muss man fühlen!‘ Und die anderen verstanden ihn nicht, und am Ende lächelten sie fast.“ Ganz langsam begann der Dritte seine Schicksale zu erzählen. Auf dem Weg zum Treffpunkt hatte er nämlich ein Erlebnis der besonderen Art gehabt. Beim Rasten hatte er plötzlich all die Wege deutlich vor sich gesehen, die er in seinem Leben gegangen war, und die Stätten seiner Arbeit. Und es war ihm gewesen, als hätte das Licht der Sonne, wie es sich durch die Wolken hindurch zwischen den Spitzen der hohen Berge brach, seinen gesamten Lebensweg im Nachhinein beleuchtet. All das Bruchstückhafte war nun zu einem Ganzen geworden, auch das Dunkle war nun zu einem Schatten geworden, dem das Lichte gegenüberstand. Nicht konnte er dem Licht selbst standhalten, aber das von ihm Beleuchtete konnte er klar und deutlich sehen – als den Weg seines Lebens. In Dankbarkeit vermochte er auf ihn zurückzublicken. „Ich glaube“, sagte er, „wenn man den ganzen Weg seines Lebens so überschaut, dann sieht man wohl auch den Weg zu jenen Bergen und den blendend weißen Gipfeln. Was aber in jenem Feuer gebannt ist, das können wir wohl nur ahnen, und müssen es jeder zu formen suchen nach unseren Schicksalen.“ Benjamin sucht die Religion weder in dogmatischen Lehrbüchern noch in einem inneren Erleben auf, das schwer nur zu kommunizieren ist. Finden lässt sie sich dort, wo es darum geht, sich zu seinem eigenen Leben zu verhalten, es zu überblicken, zu überschauen wie von einer Anhöhe aus. All die Stationen und Wege, auch die Umwege, die Durststrecken und die Pas166

sagen großer Leichtigkeit zu überblicken und sich ihnen zu stellen, um mit diesem Überblick und mit der eigenen Erinnerung Umgang zu pflegen – dazu braucht es Religion. In Benjamins Geschichte scheint ein Licht wie von fernen, schneebedeckten Gipfeln aus auf den Lebensweg, auf den der Wanderer zurückblickt. Es ist ein „überirdisch hohes Licht“, mit dem Gottes Wirken früh schon verglichen worden ist, heißt es doch im Psalm „Bei dir Gott ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht“ (Psalm 36, 10). In ihm ist es möglich, das eigene Leben nicht nur als Ausdruck eines Gestaltungswillens zu sehen, es nicht nur darzustellen in einer Biographie der Daten, Phasen und Ereignisse, der „Sachgehalte“ also oder des individuellen „Schicksals“, sondern es auch zu deuten mit Blick auf seine „Wahrheitsgehalte“.42 Seinen Wahrheitsgehalt aber gibt ein menschliches Leben nicht schon dadurch zu erkennen, dass es als eine harmonische Erscheinung konstruiert wird, in der die „Sachgehalte“ kontinuierlich auf den „Wahrheitsgehalt“ ausgerichtet sind. Den gewinnt ein Leben im Rückblick erst, wenn auch das Diskontinuierliche und das Fragmentarische in dem entworfenen Bild seinen Platz gefunden haben, und meist wird man sagen müssen: die derart aufrichtig mitgeteilten Sachgehalte werden den Wahrheitsgehalt eines Lebens meist nur auf eine verborgene, inverse Weise, auf der Rückseite des Offensichtlichen andeuten können. Der spätere Benjamin hat seine Konzeption „echter Biographik“43 in kritischer Absicht gegenüber der für den Georgekreis maßgeblichen Goethedeutung entwickelt. Hinsichtlich der Aspekte einer Rechtfertigung und Heiligung von Lebensgeschichten44 wird man auch mit Benjamins GoetheEssay sagen können: Die ästhetischen Kategorien der Schönheit und der Erhabenheit reichen für diese Aufgabe nicht hin, wenn man nicht auf eine mythische Stufe des Bewusstseins zurückfallen will. Mythisch nämlich ist ihm die Schönheit, die „Versöhnung […] in Leben und Sterben verheißt [… Demgegenüber gibt es] wahre Versöhnung […] in der Tat nur mit Gott.“45 Benjamins Unterscheidung eines ästhetischen Begriffs der Rechtfertigung, wie er von Nietzsche prominent vertreten worden ist – ihm zufolge ist „nur als ästhetisches Phänomen […] das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“46 –, von einem theologischen ist auf dem Hintergrund der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen als Aufklärung des Mythi———— 42 Vgl. Benjamin, GS I/1, 125f [Goethes Wahlverwandtschaften]. 43 Benjamin, GS I/1, 161. 44 Die Frage ist in der Praktischen Theologie von W. Gräb und V. Drehsen (vgl. Ders., Wie religionsfähig ist die Volkskirche? 174–198) ausgearbeitet worden. 45 Benjamin, GS I/1, 184. 46 Benjamin, GS I/1, 281 [Ursprung des deutschen Trauerspiels] zit. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie.

167

schen auch in den modernen Deutungsmustern des menschlichen Lebens zu begreifen. Kraft eines theologischen Begriffs von Versöhnung kann überhaupt erst von der Wahrheit eines Menschenlebens so gehandelt werden, dass ihre biographischen Darstellungen vor einem Sturz in den „Abgrund des Ästhetizismus“47 bewahrt bleiben. Positiv gesprochen ist die Wahrheit eines Lebens nie nur von der Art, dass sie sich den entworfenen und ergriffenen Möglichkeiten eines Daseins erschließt, sondern zugleich (und in einem wohl noch stärkeren Maße) von der anderen Art, dass sie sich dem Bewusstsein verdankt, gegründet zu sein auf einem Grund, den kein menschliches Dasein sich selbst hat schaffen können. Diese Wahrheit wird man mit Benjamin aber weniger in der Weise verstehen können, dass sie durch ein aktives Leben zu bewähren sei, als vielmehr in der anderen Weise, dass diese Wahrheit sich gibt.48 6.3.2 Der Sinn des Lebens in der Dimension des Unendlichen Schleiermacher hat der Religion in der Kultur eine neben der Wissenschaft und der Kunst, neben der Moral bzw. der Sitte und dem Recht, so grundlegende wie eigenständige Bedeutung zugesprochen und gewahrt. Ich verzichte hier auf eine einlässliche Darstellung seines Verständnisses von Religion49, um gleich auf den entscheidenden Punkt zuzugehen: Was die Religion von den anderen Sphären der Kultur unterscheidet, ist eben der in ihren Formen, Ritualen, Texten und Symbolen – kurz: in ihren Medien – zum Ausdruck und zur Darstellung gebrachte „Sinn fürs Unendliche“. In der von diesem Sinn – die „Reden“ sprechen von „Sinn und Geschmack“, von „Anschauung und Gefühl“ – erschlossenen Dimension des Unendlichen ist eine Erfahrung zu machen, die den endlichen Verhältnissen versagt bleibt, in denen der Mensch sich befindet. Die Sphäre des Rechts regelt zwar die Verhältnisse auch der Institutionen, die diesen Sinn fürs Unendliche kultivieren und auf diese Weise eine Praxis anbieten, in der die Menschen nach der Bedeutung ihres individuel———— 47 Ebd. 48 In diesem Sinne wird der Satz zu verstehen sein, die Wahrheit sei „ein aus Ideen gebildetes intentionsloses Sein“ (Benjamin, GS I/1, 216). Wenn die Wahrheit, wie Benjamin sie gedacht hat, die Idee der Erlösung einbezieht, und wenn diese – mit ihm – messianisch zu denken ist, dann lässt sich dieser Satz aus der erkenntniskritischen Vorrede zum Trauerspielbuch ohne weiteres mit dem aus dem (älteren) „Theologisch-politischen Fragment“ zusammensehen, dass „nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen“ könne – denn „erst der Messias selbst vollendet alles historisches Geschehen, und zwar in dem Sinne, dass er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft“ (GS II/1, 203). Die Wahrheit, die – neben anderen – aus der Idee des (so verstandenen) Messianischen „gebildet“ ist, gibt sich. 49 Vgl. Dober, Seelsorge, 86–95.

168

len Lebens fragen können, um sich ihres endlichen Daseins – eben in der Dimension der Religion – zu vergewissern. Als Institution ist die Kirche frei, den in einer bestimmten historischen Situation sich stellenden Anforderungen entsprechend zu handeln, und zugleich begrenzt in ihrer Freiheit eben durch die rechtlichen Bestimmungen, die ihr Verhältnis zum Staat regeln. Wie die Kirche ihre Aufgabe, den Sinn fürs Unendliche zu kultivieren, erfüllt, ist allerdings ihre eigene Sache. Der Staat hat kein Recht, sich in die inneren Belange der Kirche einzumischen. In „organisierendem Handeln“ gestaltet die Kirche die Verhältnisse in ihrem Binnenraum eigenständig und selbstverantwortlich. Ähnlich verhält sich die Religion zur Wissenschaft. Diese forscht in der Neuzeit weithin nach dem Prinzip „etsi Deus non daretur“ (Hugo Grotius), ja an der Freiheit der Wissenschaft festzuhalten heißt auch, ihr die Bildung von Theorien zuzugestehen, die mit den Lehren der Kirche nicht übereinstimmen oder die auf eine fundamentale Kritik der Religion hinauslaufen. Frei ist die Wissenschaft auch im Haus der Theologie, die ihrerseits auf stete Zusammenarbeit mit den kirchenleitenden Organen angewiesen bleibt, wobei „Kirchenleitung“ mit Schleiermacher ein so weit zu fassender Begriff ist, dass er die theologische Bildung zum Kirchendienst oder zu den im Pfarramt zu leistenden Aufgaben einschließt. Die Kirche bedarf der Theologie, und die Theologie wird nach wie vor als Wissenschaft auszuarbeiten sein. Denn es gehört zum Wesen der Religion, dass sie sich auf die anderen symbolischen Formen (zu denen nach Cassirer die Wissenschaft gehört) so bezieht, dass der „Sinn fürs Unendliche“ von allen endlichen Verhältnissen unterschieden und prägnant präzisiert wird. Der kritischen Arbeit des Unterscheidens entspricht so die konstruktive der Hermeneutik und Gestaltung. Das „symbolisierende Handeln“ der Kirche erfordert, wie auf dem Hintergrund der Theorie Cassirers leicht zu sehen ist, diese beiden Aspekte. Während nun eine Verwandtschaft der Kirche mit der Sphäre des Rechts hinsichtlich ihres organisierenden Handelns besteht (das Kirchenrecht regelt die Belange der innerkirchlichen Organisation), begibt sich ihr symbolisierendes Handeln in der Dimension der Religion in die Nähe der Kunst. Wie beide Handlungsanforderungen sich zueinander verhalten, und wie diese handlungsethische Differenz zur güterethischen Charakteristik der praktischen Philosophie Schleiermachers in ein angemessenes Verhältnis zu setzen ist, ist eine von der theologischen Wissenschaft zu klärende Frage. Jedenfalls deutet diese Frage schon auf die unaufhebbare Vernetzung der Theologie mit der Wissenschaft in ihren unterschiedlichen Bereichen hin. Wie aber verhält sich die Religion zur Kunst? Religiöse Erfahrungen bedürfen der Medien, um überhaupt stattfinden zu können. Zu diesen Medien sind das Wort und die Schrift, der Ton und die Musik, das Buch und das Bild, das Theater und der Film zu rechnen. Es sind Medien, die nicht eo 169

ipso schon religiös sind. Ihrer bediente sich schon der Mythos der Antike (die technischen Formen der Moderne wie den Film ausgenommen), ihrer bediente sich schon immer die Kunst, die Cassirer zufolge hinsichtlich ihrer Ausdrucks- und Darstellungsintention im Mythischen wurzelt, wenngleich das Bewusstsein der Kunst das mythische überwunden hat. So wenig „die Ausdrucksfunktion auf der Ebene der Religion […] einen Schritt zurück in die ursprüngliche Welt des Mythos geht, so wenig erweist sich die Steigerung der Ausdrucksfunk- tion auf der Ebene der Kunstentwicklung als Wiederholung des ursprünglich Mimischen.“50 Die Ausdrucksfunktion der Kunst steigert sich aber von einer ursprünglichen Mimesis, die sich an der Natur der Dinge orientiert51, zu einem Ausdruck des wahrnehmenden und erlebenden Subjekts, das auf eine individuelle, nach Goethe „charakteristische“ Weise52 die Wirklichkeit entdeckt. Kunst kann aber nicht expressiv sein, „ohne gleichzeitig formend und bildend zu sein.“53 Insofern finden sich die von Cassirer unterschiedenen Ausdrucksfunktionen des Bewusstseins in der Kunst wieder, wobei die dritte, die Bedeutungsfunktion, in dieser Sphäre vielleicht am schwächsten ausgebildet ist – nicht wenige Künstler haben sich dieses Schrittes enthalten, ihren Werken selbst die Bedeutung zu geben, die in ihnen aufzufinden Sache der Rezipienten sei. Mit ihrer Ausdrucksfunktion wurzelt auch die Kunst allerdings in der Sprache als einer symbolischen Form, als deren erste Stufe eben die mimetische gilt.54 Jedenfalls sind „Nachahmung der Natur und Ausdruck von Gefühlen“ Cassirer zufolge „die beiden grundlegenden Elemente der Kunst […], sozusagen der Stoff, aus dem das Gewand der Kunst gewoben sei; und doch sei damit weder der eigentliche Charakter der Kunst benannt noch ihre Bedeutung oder ihr Wert erschöpft.“55 „It is a world not of concepts, but of intuition, not of sense-experience but of contemplation.“56 Wie nun die Religion sich auf den Mythos bezieht, um ihn hinsichtlich des Bewusstseins um die Probleme der Darstellung der Bedeutung aufzuklären (und diese Aufklärung betrifft ein Differenzbewusstsein ebenso wie ein Bewusstsein um die Subjektivität, die zur Darstellung und zur Deutung vorausgesetzt werden muss), so wird die Religion sich auch der Kunst bedienen, um den „Sinn fürs Unendliche“ zu kultivieren. Ihr Verhältnis zur Kunst ist aber ungleich komplizierter als das zum Mythos, und das hängt auch an der ———— 50 51 52 53 54 55 56

170

Graeser, Cassirer, 96. Der Begriff der Nachahmung der Natur geht auf Aristoteles zurück (vgl. Graeser, Cassirer, 90). Graeser, Cassirer, 90. Vgl. 96f. Graeser, 91 zit. Cassirer. Graeser, Cassirer, 92f. zit. PhsF I, 134. Graeser, Cassirer, 88 mit Bezug auf Cassirer, Symbol, Myth and Culture, 211. Cassirer, Symbol, Myth and Culture, 186.

Schwierigkeit, Cassirers Theorie der Kunst als „ein unabhängiges DiskursUniversum“ zu rekonstruieren.57 Denkbar ist auch, dass die Kunst in der Bezogenheit von Künstler, Werk und Publikum ihrerseits vollbringt, was die Religion in Bezug auf den Mythos vollbrachte: innere Differenzierung, Darstellung nicht nur einer Bedeutung, sondern auch deren Verfremdung, Offenheit in semantischem und rezeptionsästhetischem Sinn.58 Im Zusammenhang der Frage nach der Funktion und Bedeutung der im Gottesdienst verwendeten Symbole, und d. h. eben auch: nach der religiös deutbaren Kunst, kann diese Möglichkeit aber auf sich beruhen. Wichtig ist allerdings die Frage, welche Begegnungsmöglichkeiten von Kunst und Kirche denkbar sind. Der Interpret von Schleiermachers Kunsttheorie und Künstler Thomas Lehnerer hat die Überzeugung vertreten, „dass es eben die Religion auch als Kunst gibt, [ja] Kunst Religion ist, in dem Sinne einer umfassenden Selbst- und Weltinterpretation, der wir uns existentiell verbunden fühlen.“59 Auch im Ästhetischen sei eine „Glückserfahrung“ in dem Sinn zu machen, „dass zur Gestalt findet, in ein Bild gebannt ist, was sonst schon in den eigenen Gefühlen nicht zusammenzubringen ist: die Abbrüche, die Disharmonien und das Wunder der Gelöstheit.“ So gesehen wäre „ästhetische Erfahrung als solche auch religiöse Erfahrung“, bedürfen doch beide der Zeichen, in dem etwa das Glück, das Begehren, aber auch der Schrecken und das Unbegreifliche „bestimmbar“ werden. (132) Was Gräb mit Blick auf die bildende Kunst für möglich hält, ließe sich auch für die Musik als eine Form des Gebets vor seinen sprachlichen Artikulationen zeigen.60 Nicht nur hat also die Kunst in der Moderne Funktionen übernommen, die vorher der (institutionalisierten) Religion vorbehalten waren. Sondern die – auf die soziologischen Forschungen Max Webers zurückgehende – These von der „funktionalen Äquivalenz“ muss durch die von einer Verwandtschaft ergänzt werden, welche durchaus eine Wahl-Verwandtschaft sein kann, aber nicht muss. Dazu bedarf es einer Offenheit und Bereitschaft von beiden Seiten aus, von der Kunst der Gegenwart und von der institutionell gebundenen Kirche.61 ———— 57 Das versucht Graeser auf knappem Raum (86–99, 87). 58 Diese Funktionen der Kunst werden unten anhand von Segantinis „Werden“, Chagalls „Grüner Christus“ und anderer Werke zu verifizieren sein (s. u. Abschnitt 6.4.1, 6.4.4). 59 Gräb, Lebensgeschichten, 132 mit Bezug auf Lehnerer, Denken in der Kunst, in: Kunst und Kirche 4, 1988, 220f. 60 S. u. Abschnitt 6.5.4 und Kapitel 8. 61 Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Rezeptionstheorie von A. Warburg, der zufolge die Kunst „Denkräume der Besonnenheit“ schaffe, einen Aufschub gewähre „zwischen Reflexionsbewegung und reflexivem Verhalten“, Pausen konstituiere „zwischen Antrieb und Handlung“ (Drehsen, Warburg, 93 zit. Warburg), und damit die Chance schaffe „zu reflexiver Lebensdeutung, Selbstaufklärung und ‚Selbsterziehung des europäischen Menschengeschlechts‘“. Das von Warburg im Angesicht der Kunst (vor allem der florentinischen Frührenaissance) entwickelte „Struk-

171

Insgesamt muss heute mit Gräb die Frage gestellt werden, wie das gottesdienstliche Ritual seine Funktion für die Zeitgenossen ausüben kann, „den ästhetisch wirkungskräftigen Austausch solcher gestischen, sprachlichen und bildlich wahrnehmbaren Zeichen [zu vollziehen], die für die den Gottesdienst mitfeiernden einzelnen bzw. für die Gemeinde zu anregenden Sinnbildern, zu Symbolen ihrer auf den unbedingten Sinngrund hin vertieften Selbstdeutung werden können.“62

Ein gangbarer und empfehlenswerter Weg zu diesem Ziel ist eben das Wagnis, der Kunst der Gegenwart in die Kirche Einlass zu gewähren, seien dies nun Bilder und Gemälde oder Filme, seien dies Stücke zeitgenössischer Musik, hinsichtlich derer man keineswegs zuerst (oder exemplarisch) an „Techno“ denken muss wie Gräb. So lassen sich etwa Blues, Jazz und auch Funk mit den Harmonien der klassischen Kirchenmusik verknüpfen und integrieren. Die jeweiligen Rhythmen lassen sich nacheinander zu Gehör bringen und dann zu einem Gesamt-Kunstwerk verbinden.63 Es wäre zu kurz gegriffen, hierbei nur ein neues Mittel zu erblicken, auf die Gestimmtheit der versammelten Gemeinde Einfluss zu nehmen. Nicht wenige JazzStücke ermöglichen einen Ausdruck und eine Darstellung, die der klassischen Kirchenmusik in nichts nachstehen.64 In jedem Fall wird gelten können: Der Sinn, sei es des Endlichen als Endlichen, sei es des an den Rand des Unendlichen sich erstreckenden Endlichen, sei es eben der mit Schleiermacher so zu nennende „Sinn fürs Unendliche“ muss sich zum Ausdruck bringen und darstellen können. Hierbei ist die Orientierung „an den traditionellen Symbolgehalten des Christentums“ beizubehalten, doch diese sind durch Kontrastierung oder Erläute———— turmodell moderner Sinnvergewisserungsprozesse überhaupt“ (ebd.) lässt sich mit Vorteil und Gewinn zur Beantwortung der Frage voraussetzen, wozu wir den Gottesdienst (noch) brauchen. Ob sich in aller Wahlverwandtschaft noch ein „Mehrwert“ des kunstvoll gestalteten Gottesdienstes über die autonome Kunst der Gegenwart feststellen lässt, hängt an der inneren Reflexivität der Kunst. Sie hätte ihre Grenze überschritten und würde die Kritik der Theologie herausfordern, wenn sie sich denn im Rückbezug auf Nietzsche und andere zu einer ästhetischen Rechtfertigung des Daseins aufschwänge. 62 Gräb, Lebensgeschichten, 134. 63 Möglich ist das etwa an einem Adventssonntag, an dem „Es kommt ein Schiff geladen“ (EG 8) mit „Little Boat“ (A. C. Jobim) in ein „Gespräch“ gebracht wird, oder „’Round Midnight“ (Th. Monk) mit „Die Nacht ist vorgedrungen“ (EG 16), oder „Wave“ (A. C. Jobim) mit „Wie soll ich dich empfangen“ (EG 11). Die harmonische Kontinuität bildet jeweils die Basis, auf der dann die rhythmische Diskontinuität spielen kann. 64 Das gilt etwa für „God bless the child“, gespielt an Weihnachten, aber auch für nicht wenige Jazz-Balladen. Der harmonische Ermöglichungsgrund für eine derartige Integration ist eine Offenheit in der Interpretation der „chords“, die als ein hervorragendes Beispiel für den von Cassirer beschriebenen Weg „von der Substanz zur Funktion“ gelten kann. Die Akkordfolge eines Jazz-Stückes lässt sich auf recht unterschiedliche Weise interpretieren, je nachdem, ob man vom bisherigen Zusammenhang ausgeht, oder ob man den kommenden schon vorwegnimmt. Festgelegt ist der Akkord (und nicht selten auch die Verbindung), variabel ist seine Zuordnung an Schnittstellen des Stückes.

172

rung zu einem aktuellen Neuverstehen zu führen, das Umwege und Wagnisse nicht scheuen darf. Möglich ist die Provokation zur „Sinnreflexion“ anhand von Texten der Tradition ebenso wie anhand von Bildern der Kunst,65 die lange Zeit hinsichtlich der Wahl ihrer Motive unter kirchlicher Kontrolle stand. Erst in der Neuzeit ist dieses Band kirchlicher Kontrolle gelockert worden, und die Kunst hat sich emanzipiert zu einem freien, ungehinderten, und unter kein allgemeines Sinn-System mehr zu bringenden Ausdruck. Ohne „ihre unvermeidliche Lossage von der Theologie [… hätte] Kunst nie sich entfaltet.“66 In der Moderne hat sie sich pluralisiert in Stilrichtungen, die oft in schneller Folge wechselten, immer aber abhängig blieben von den Individuen, die sich eben dieser einen Aufgabe widmeten, sich selbst, ihr Eigenes zum Ausdruck zu bringen und in bestimmten Formen darzustellen. Expressionismus, Impressionismus, Pointilismus, Fauvismus, Kubismus, Neue Sachlichkeit sind einige der Namen, die sich hier nennen ließen. Die Reihe ließe sich fortsetzen. Weder ist die von kirchlicher Kontrolle emanzipierte Kunst eo ipso irreligiös, noch ist sie in einer bestimmten Weise religiös – wie sie zur Religion steht, muss sich in der Arbeit der Interpretation entscheiden, in einer Hermeneutik, die die einzelnen Kunstwerke eben darauf befragt, ob der „Sinn fürs Unendliche“ in ihnen geweckt wird oder nicht. Es gibt Kunstwerke, an denen das ohne Schwierigkeit gezeigt werden kann – Gräb etwa hat eine religiöse Interpretation einiger Werke von Caspar David Friedrich, oder auch der Nazarener, durchgeführt.67 Andere Werke bieten zwar Motive, die denen der christlichen Tradition entsprechen, wie etwa Gauguins „Polynesische Weihnacht“, A. Hölzels „Anbetung“, oder Picassos „Akrobatenfamilie“, Segantinis „Werden“ – ein ausdrücklicher Bezug zur biblischen Szene, wie sie für die Frömmigkeit Bedeutung gewonnen hat, ist aber jeweils erst auf dem Weg komplexerer Deutungsanstrengungen zu gewinnen.68 Ob diese Bilder der Kunst, und wenn ja: wie sie dem Bedürfnis entgegenkommen können, des Sinns des je eigenen Daseins ansichtig und dann auch gewiss zu werden, ist eben eine Frage an die religiöse und theologische Deutungskompetenz. In den Kunstwerken findet aber ein Differenzverhältnis seinen Spiegel, das die Theologie mit Blick auf die Wirklichkeit begründet, insofern „im Stand der Erlösung alles sei, wie es ist und gleichwohl alles ganz anders“.69 ———— 65 Vgl. Gräb, Lebensgeschichten, 135. 66 Adorno, Ästhetische Theorie, 10. 67 Gräb, Sinn fürs Unendliche, 108ff. In Friedrichs „Mönch am See“ „[left] the mysteries of religion […] the rituals of church and synagoge and had been relocated in the natural world“ (R. Rosenblum, Modern Painting and Northern Romantic Tradition: From Friedrich to Rothko, New York 1975, 14). 68 Vgl. J. Zink, Dia Bücherei der christlichen Kunst Bd. 9. 69 Adorno, Ästhetische Theorie, 16.

173

Abb. 7: Paul Gauguin, Die Geburt Christi, 1896

Entsprechendes ließe sich für die Wahl von Filmen und Romanen sagen, die als Predigtbeispiel fungieren können in dem Sinn, dass sie zur prägnanten Präzisierung dessen beitragen, was uns als Menschen „unbedingt angeht“ (um mit der bekannten Formel Tillichs zu sprechen). Das kann der „Sinn fürs Unendliche“ sein, wie Schleiermacher ihn verstand. Das können aber auch Fragen der menschlichen Existenz sein, die sich aus einem Leiden unter der Herrschaft der Zeit ergeben.70 Und das können Fragen sein, die durch kontingente Ereignisse hervorgerufen worden werden,71 Fragen, die überhaupt die Freiheit des Menschen in den Bindungen des Sozialen betreffen, aus denen jeder und jede hervorgegangen ist, um sich seither in der Spannung von Nähe und Distanz bewegen zu müssen.72 ———— 70 Außer dem schon genannten Roman von P. Mercier, Nachtzug nach Lissabon, wäre hier auch an Ph. Roth, Jedermann, München/Wien 2006, zu denken. 71 Der Beispiele wären Legion. Zu denken ist etwa an einen Film über den Umgang mit Blindheit (wie „Erbsen auf Halbsechs“ [2003]; Regie: Lars Büchel), an „Cast Away“ (2000; Regie: Robert Zemeckis) oder an „Forest Gump“ (1994; Regie: R. Zemeckis) mit Tom Hanks in der Hauptrolle. 72 Um aus der Fülle dessen, was sich hier nennen ließe, ein paar Hinweise zu geben, wäre auf das Werk von I. Bergmann oder W. Allen zu verweisen. Vgl. auch den Film „Der Flug des Phoenix“ [1965, Remake: USA 2004, Regie: John Moore], der als eine Studie über Gruppendynamik gesehen werden kann: ohne das Zusammenspiel unterschiedlicher Kräfte lässt sich keine große Leistung vollbringen, doch es stellt sich in schwierigen Entscheidungs-Situationen immer die

174

6.3.3 Die „gelebte“ Religion und das Bedürfnis nach Vergewisserung Im Begriff der „gelebten Religion“ ist das spezifische Interesse der praktischen Theologie als einer theologischen Disziplin unter anderen zusammengefasst.73 Denn dieser Begriff macht den einen Pol eines Spannungsverhältnisses aus, dessen anderen die theologische Wissenschaft darstellt, eines „Spannungsfeldes“, in dem sich die Reflexion zwischen Theorie und Praxis eben dieser Disziplin vollzieht.74 Impliziert ist in diesem grundlegenden Verständnis praktischer Theologie erstens, dass sie eine Theorie der Praxis ist, und d. h. sie ist immer mehr als eine bloße Anwendungswissenschaft, die es vor allem mit technischem know-how zu tun hätte, während die Prinzipien schon von den anderen theologischen Disziplinen festgelegt worden seien.75 Zweitens baut sie elementar auf die in der Zeit der Aufklärung entwickelte Unterscheidung von Theologie und Religion auf 76, was ———— Frage nach der Autorität, hier: ob der Kapitän des aus Not gelandeten Flugzeugs das Sagen haben soll oder der Konstrukteur des aus den Schrottteilen neu zusammengesetzten Fliegers. Ein weiteres Thema, das hier durchgeführt ist, ließe sich so beschreiben: der Mensch kann nicht einfach darauf warten, dass er gerettet wird oder dass er stirbt. Er muss etwas tun, doch dazu bedarf er eines offenen Sinnhorizontes. Ohne zu hoffen kann er nicht leben. 73 Aus der einschlägigen Literatur zum Begriff sei genannt: Rössler, Grundriss; V. Drehsen, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie; W. Gräb, Lebensgeschichten; Ders., Religion als Deutung des Lebens. Perspektiven einer Praktischen Theologie gelebter Religion, Gütersloh 2006; D. Korsch, Art. Theologie, in: HBPTh, 833–842. Ohne den Terminus der „gelebten Religion“ näher zu bestimmen oder in seiner spezifischen Bedeutung herzuleiten haben Failing und Heimbrock ihn in den Titel ihrer Aufsatzsammlung aufgenommen: Dies., Gelebte Religion wahrnehmen. Sie fragen nach den „Rahmen- und Konstitutionsbedingungen für die religiöse Lebenswirklichkeit des Menschen“, etwa auch im Kirchenraum (92). „Gelebte Religion“ soll hier anhand des „gelebten Raumes“ fassbar und konkret werden. – Im „vorurteilsfreien phänomenologischen Zugriff“ werde es schwierig, schreibt N. Slenczka, „zu bestimmen, was eigentlich ‚die gelebte Religion, wie sie sich als subjektive christliche Religion manifestiert‘, ist und wie sie als solche erkennbar ist“ (Slenczka, Art. Phänomenologie, in: HBPTh, 780 mit Bezug auf Failing/ Heimbrock, 293). Man mag fragen, ob diese Schwierigkeit darin begründet liegt, wie Slenczka meint, dass im phänomenologischen Zugriff „keine apriorische Reduktion des phänomenalen Feldes durch die die Legitimität begrenzenden Pflöcke von Lehrüberzeugungen“ liege (Slenczka, ebd.), oder ob man nicht auch auf methodische Begrenzungen eben der von Failing und Heimbrock versammelten Studien rekurrieren muss. Die Offenheit eines phänomenologischen Zugriffs ist jedenfalls in der praktisch-theologischen Grundlegung des Terminus der „gelebten Religion“ gegeben, wie sie anhand von D. Rössler, V. Drehsen und W. Gräb nachvollzogen werden kann. Insofern ist sie auch durch engmaschigere Lehrüberzeugungen als die weit gefassten der Augsburgischen Konfession aus prinzipiellen Gründen nicht zu begrenzen (vgl. Drehsen, Art. Praktische Theologie, in: HBPTh, 175 mit Bezug auf D. Rösslers Interpretation von CA VII). 74 V. Drehsen, Art. Praktische Theologie, 174. 75 In einem „systematisch-exemplarischen Durchgang durch die Geschichte der Praktischen Theologie“ zeigt Drehsen, „dass sie keineswegs der anwendungsorientierte Teil der Theologie ist, sondern mit ihr die theoretisch fundierte praxisbezogene Aufgabe teilt, eine ‚professionsspezifische Ausgestaltung der Reflexionskultur des christlichen Gesamtlebens‘ zu sein“ (Drehsen, Art. Praktische Theologie, 183 zit. E. Herms). 76 Eine kurze Zusammenfassung hat Drehsen gegeben (Ders., Art. Praktische Theologie, 174ff).

175

unter anderem die sachliche und methodische Konsequenz nach sich zieht, sich nicht in einer „Kirchentheorie“ erschöpfen zu können, sondern sich in ihrer eigenen Prinzipienlehre auch als Religionstheorie entfalten zu müssen.77 Aufbauend auf eine theoretische Bemühung, die die „gelebte Religion“ innerhalb und außerhalb der Kirche ernst nimmt, muss es die Praktische Theologie drittens zu ihrer Sache machen, „Grundsätze der christlichen Überlieferung mit Einsichten der gegenwärtigen Erfahrung“ auf eine wissenschaftlich nachvollziehbare Weise (und d. h. vor allem methodisch kontrolliert) zu verknüpfen.78 Die gegenwärtige Erfahrung will aber in ihrer ganzen Vielfalt wahrgenommen und gedeutet werden. Das wird viertens nur auf eine methodisch plurale Weise geschehen können. Zu den relevanten und grundlegenden Zugängen werden (a.) der soziologische zu rechnen sein: den Wandel „sozio-kultureller Lebenswelten“79 einzubeziehen wird als fundamentaler Faktor der „neuzeitlichen Konstitutionsbedingungen“ praktischer Theologie gelten können. (b.) Es werden aber auch die – ihrerseits auf moderngesellschaftliche Wandlungsprozesse zurückführbaren – Äußerungen der Kunst in Literatur und in der Malerei, in der Architektur und im Film – als Zeugnisse eben einer je gegenwärtigen Erfahrung wahrzunehmen und zu deuten sein. (c.) In einem derart breit angelegten Verständnis praktischer Theologie wird sie sich nicht nur mit den Religionstheorien unterschiedlicher Zugänge ins Benehmen setzen müssen,80 sondern auch mit den Theorien der Kultur, von denen eine – die Cassirers – hier ausführlicher referiert worden ist. Der Begriff der „gelebten Religion“ hat also eine kritische Spitze gegen Tendenzen einer Theologie, „die sich nicht entschlossen auf die veränderte Religionspraxis der Neuzeit einstellt“; ihr droht die Gefahr, „zum blinden Glasperlenspiel im brennenden Haus zu werden“. Indem von „gelebter Religion“ aber im Haus der Theologie die Rede ist, wird mit diesem Terminus auch einer kirchlichen Religionspraxis widersprochen, die „ohne theoretisch-reflektierendes Korrektiv […] stets in der Gefahr [steht], ‚einseitig, kulturlos, exaltiert oder geisteseng, unharmonisch und verworren‘“ zu werden, um mit Ernst Troeltsch zu sprechen.81 Zugleich erfordert eine Arbeit unter dem Leitbegriff der „gelebten Religion“ aber auch eine möglichst umfassende Recherche auf den Feldern der Empirie und der Theorie, sowie eine konstruktive Deutung und Integration des wahrgenommenen Materials in das methodische Instrumentarium der eigenen Disziplin. Und nach aller ———— 77 Gräb fasst diesen Punkt prägnant zusammen, der von Rössler, Drehsen u. a. auf breiter Grundlage entwickelt und ausgeführt worden ist (Gräb, Lebensgeschichten, 25). 78 Rössler, Grundriss, 3. 79 Gräb, Lebensgeschichten, 24 mit Bezug auf Drehsen. 80 Drehsen/Gräb/Weyel (Hg.), Kompendium Religionstheorie. 81 Zit. nach Drehsen, Art. Praktische Theologie, 183.

176

theoretischen Arbeit wird „Religion“ vielen Menschen immer noch „mehr“ bedeuten, „als Theorie zu sagen vermag“, wie Niklas Luhmann in der Widmung seines Werkes „Funktion der Religion“ in Erinnerung an seine Frau schrieb.82 Nun ist die „gelebte Religion“ ein äußerst vielfältiges, vielschichtiges, schillerndes Phänomen: alle möglichen Weisen des Erlebens und Erfahrens gehören in diesen Phänomenbereich. Der „Ideenreichtum, der mit der Wiederbelebung von Astrologie und Yogaweisheit, Christian Science und Chiromantie, Vegetarianismus und Gnosis, Scholastik und Spiritismus unter […] die Leute kam“, kann beklemmend wirken. Denn – so Benjamin mit Blick auf dieses bunte Phänomenknäuel – „nicht echte Wiederbelebung findet hier statt, sondern eine Galvanisierung.“83 Die Kritik der Religiosität als einer chaotischen und auch problematischen Erscheinung ist bei Benjamin aber nur die rationale Kehrseite der Wertschätzung einer weit gefassten Dimension der Erfahrung,84 die solche Phänomene wie die Aura ebenso einbezieht wie „graphologische Intuition“85 und eine „Lehre vom Ähnlichen“, die sich auf das mimetische Vermögen und den medialen Sprachgebrauch in seiner ganzen Offenheit und Weite erstreckt. All das mag hier auf sich beruhen, geht es mir doch um eine Zuspitzung der Fragestellung. Zu fokussieren ist der für kirchliches Handeln so relevante wie zentrale Aspekt, der Vergewisserung des einzelnen hinsichtlich des Sinns des je eigenen Lebens Hilfestellungen zu geben. So wird zur „gelebten Religion“ eben auch der ganze Komplex der existentiellen Fragen zu rechnen sein, auf die Menschen eine Antwort suchen – Fragen eben, wie gezeigt, die das Verhältnis zur je eigenen Lebenszeit ebenso betreffen wie die Bestimmung des Menschen, die längst nicht mehr in einem allgemeinen Sinnhorizont beantwortet werden kann.86 Anzunehmen ist, dass das Bedürfnis einer solchen Vergewisserung über den Sinn des je eigenen Lebens zur Motivation der meisten Besucher eines christlichen Gottesdienstes gehört,87 und infolgedessen wird sich auch das verantwortliche Handeln derer, die Religion zu ihrem Beruf gemacht haben, der Pfarrerinnen und Pfarrer, auf diese Fragestellung ausrichten. Die Symbole der Liturgie werden hier je———— 82 N. Luhmann, Funktion der Religion. 83 Benjamin, GS II/1, 214f [Erfahrung und Armut]. 84 Vgl. Dober, Die Moderne wahrnehmen, 76–95, 366–371. 85 I. Harms, Die Rückkehr der Religion und ihre Folgen: Debatten über Sündenböcke und Säulenheilige wie Walter Benjamin, in: F. A. Z. vom 18.8.07. 86 Vgl. Theunissen, Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, 6–10. 87 Das ist durch die von der EKD in Auftrag gegebenen empirischen Mitgliedschafts-Studien zu belegen. Vgl. Engelhardt, K./Loewenich, H. v./Steinacker, P. (Hg.), Fremde Heimat Kirche. Die dritte EKD – Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 1997. J. Matthes (Hg.), Fremde Heimat Kirche. Erkundungsgänge. Beiträge und Kommentare zur dritten EKD – Untersuchung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2000.

177

denfalls in die Deutungsperspektive einer Vergewisserung des Lebenssinns gestellt; auch die Funktion der Predigt kann unter diesem Gesichtspunkt beschrieben werden.88

6.4 Darstellung ausgewählter Symbole der Liturgie Wie aber vermögen die Symbole der Liturgie im einzelnen auf dieses Bedürfnis nach Vergewisserung des je eigenen Lebenssinns zu antworten? Inwiefern sind in ihnen die (mythischen) Bildzeichen als religiöse Sinnzeichen erkennbar? Und auf welche Weise stellen die religiös verstandenen Sinnzeichen (gegenständlich gebunden oder in die Sphäre des Ungegenständlichen gehoben) in die Dimension des Unendlichen? Fünf ausgewählte Symbole bzw. symbolische Formen sollen im Folgenden in die Perspektive dieser Fragen gestellt werden. 6.4.1 Die Paramente, oder: Die sinnliche Darstellung der Zeiten Wie der Kreis als symbolische Form des Kirchenjahrs, so ist auch die Vollständigkeit der Farben und ihrer Töne im prismatisch gebrochenen Licht, wie es als Naturphänomen im Regenbogen angeschaut werden kann, ein Symbol für Vollständigkeit und Ganzheit. Seit mindestens einem Jahrtausend werden in der Kirche Farben benutzt, sei es an den Gewändern der Priester, sei es an den Paramenten (deren Gebrauch die protestantischen Kirchen übernommen haben), um die Feiertage und Abschnitte im Kirchenjahr zu symbolisieren.89 Der Bedeutung dieser Farben ist auch in einer Liturgik Aufmerksamkeit zu schenken, die die Zeit ernst nimmt. a. Die Eröffnung pluraler Deutungsspielräume für das Farberleben Seit Goethes Farbenlehre wird man den subjektiven Zugang zum Farbensehen und – erleben nicht unterschätzen dürfen. Bei aller Objektivität in der Analyse von Farben und ihrer Zusammenstellung ist das Phänomen der subjektiven Farben nicht von der Hand zu weisen. Farben beeinflussen Stimmungen,90 wirken auf den Gefühlszustand eines Menschen ein (wie sie diesen auch zum Ausdruck bringen können, wenn jemand selbst zu malen beginnt) und betreffen also seine Seele als Einheit von Körper und Geist. ———— 88 Vgl. D. Rössler, Vergewisserung. 89 Vgl. Art. Farben II, in: RGG4, Bd. 3, Sp. 34. 90 Vgl. Art. Farben/Farbensymbolik, in: TRE 11, 30.

178

Doch wie subjektiv auch immer der Zugang des einzelnen zu einer bestimmten Farbe, ihrer Tönung und dem Mischungsverhältnis mit anderen Farben in einem Naturphänomen oder auf einem Bild sein mag: Der einzelnen Farbe wird auch symbolische Bedeutung zugeschrieben. Das ist der Fall bei den liturgischen Farben in der Geschichte der Kirche, deren Bedeutung einem Prozess der Festlegung unterlag. Während sich die Situation in der Alten Kirche noch durchaus offen und unspezifisch darstellte,91 kam es erst im Frühmittelalter zu erkennbaren Festschreibungen der Bedeutung: Unterschieden wurde zuerst zwischen den „festlichen Farben“ Weiß, Purpur, Rot, und den „Farben der Trauer und der Buße“ Violett, Gelb, Schwarz (27). Seit Innozenz III. findet zwar eine Aufteilung der „Grundfarben“ Weiß, Rot und Schwarz, sowie der „Mittelfarbe“ Grün auf die verschiedenen Feste und Funktionen statt, doch deren Begründung „in analogischer und typologischer, auch tropologischer, kaum aber memorativer Allegorie … wirkt oft genug gekünstelt.“ (28) Während die reformierten Kirchen die Paramente unverzüglich abschafften, behielten die lutherischen Gemeinden sie zunächst bei, um sich erst unter dem Einfluss des Rationalismus von ihnen zu trennen. Erst das 19. Jahrhundert brachte dem Protestantismus in Mitteleuropa (die anglikanische Kirche hatte diese Tradition beibehalten) eine neue Aufmerksamkeit auf die symbolische Bedeutung der liturgischen Farben: auf W. Löhe geht ein Programm zur Erneuerung der Paramentik zurück. Unterstützt wurden diese Tendenzen auch durch Erfahrungen des Farberlebens, wie sie durch die Malerei der Moderne, die ethnologischen Forschungen der Kulturanthropologie und die (Tiefen-)Psychologie zum Ausdruck gebracht, dargestellt und in theoretischen Modellen gedeutet worden sind.92 Am Gebrauch der Paramente wird sich auch heute zu bewähren haben, was W. Gräb schreibt: „Mit Worten, Formen und Farben sind Bilder zu malen, die zum Verweilen einladen, die Hohes zu denken und Tiefes zu fühlen geben.“93 So sehr man seither auch über die Bedeutung der Farbe streiten mag, wird man sich allerdings auch auf Grundbedeutungen einigen können. Und die werden zum einen aus den Mischungsverhältnissen von Grund- und zusammengesetzten Farben zu erschließen sein, zum anderen aus der Analogie der jeweils benutzten Farbe mit ihrem Vorkommen in der Natur. ———— 91 Art. Farben/Farbensymbolik, in: TRE 11, 27. 92 C. G. Jung zufolge sind Farben „Ausdrücke des Unbewussten: Blau als Farbe des Himmels, des Geistes, entspricht der Farbe des Denkens; Rot als Farbe des Blutes entspricht jener der Leidenschaft, des Gefühls; Gelb als Farbe des Lichtes, des Goldes, entspricht der Intuition; Grün als Farbe der Natur, des Wachstums, entspricht der Empfindung und bedeutet die Verbindung von Traum und Wirklichkeit.“ (25) 93 Gräb, Sinn fürs Unendliche, 172.

179

Übereinstimmung wird auch leicht darin erzielt werden können, dass die „traditionelle Symbolik“, die dem liturgischen Farbkanon in den christlichen Kirchen, auch in der evangelischen zugrunde liegt, heute nur in der Offenheit eines Deutungsspielraums wahrgenommen wird und interpretiert werden kann, wie er für die Situation der Modernität charakteristisch ist.94 Vorauszusetzen ist eine Pluralität in den Zugangsweisen, die auch kulturell unterschiedliche Prägungen einbeziehen. b. Die liturgischen Farben im Kontext bisheriger Darstellung Es fällt auf, dass im Jahreskreis des liturgischen Kalenders die Farben Violett (Advents- und Passionszeit) und Grün (Epiphanias- und Trinitatiszeit) dominieren. Weiße Paramente werden von Heiligabend bis Epiphanias (6.1.), am letzten Sonntag nach Epiphanias, sowie zwischen Ostern und Exaudi und an Trinitatis aufgelegt. Schwarz ist die Farbe von Karfreitag und -samstag, rot die von Pfingsten. Wenn man (wie beim Aquarellieren) davon ausgeht, dass Violett aus Blau und Rot, Grün aber aus Blau und Gelb zusammengesetzt ist, kommt es die meiste Zeit des Jahres über auf die Mischungsverhältnisse an – entweder des Blauen als einer Grundfarbe (bzw. einer „reinen Farbe“ nach Goethe) vor allem mit dem Gelben als einer zweiten Grund – bzw. „reinen Farbe“, oder durch Zugabe von Rot als einer weiteren Farbeigenschaft. Schwarz und Weiß stellen die Extreme in diesem Spektrum dar; sie entziehen sich den Mischungsverhältnissen. Wie soll man diese Farbauswahl deuten und verstehen? Deutlich genug sind Karfreitag und Ostern bzw. Weihnachten farblich von den Mischungsverhältnissen abgehoben, die den Jahreslauf dominieren. Die liturgischen Farben bestätigen somit den symbolischen Anfang des Kirchenjahres mit dem Weihnachtsfestkreis auf der einen, und den historischen Anfang des Christentums mit dem Osterfest auf der anderen Seite (s. o. 2.4.3). Das Schwarz des Karfreitags bildet den mit farblichen Mitteln nicht extremer darstellbaren Gegenpol des Kreuzes zur österlichen Überwindung des Todes. In der Deutung beliebiger scheint die Beimischung von Rot ins Blaue zum Violetten zu sein, doch deutlich genug spielt in diese Zeiten der Vorbereitung (und früher stärker noch auch der Buße) die Farbe von Pfingsten hinein. Den biblischen Quellen folgend begründet Gottes Geist die Gemeinschaft der Christen, und die kirchliche Lehre hat darüber hinaus die Bedeutung der kirchlichen Institution betont. Wenn man so weit wie möglich im Allgemeinen verbleiben möchte, ohne sich weder nach der einen noch nach ———— 94 Vgl. Dober, Die Moderne wahrnehmen, 40ff.

180

der anderen Seite zu sehr festzulegen (und die Gewährung offener Deutungsspielräume wird unter dem Gesichtspunkt möglichst allgemeiner Kommunizierbarkeit von Grundbedeutungen nicht nur als ein Nachteil zu werten sein), so wird man sagen können: Um sich auf die hohen Zeiten der Christenheit (Weihnachten und Ostern) angemessen vorbereiten zu können, bedarf es einer Anleitung durch Traditionen, Sitte und Brauch. Diese im Wandel der geschichtlichen Zeiten neu anzubieten, zu deuten und verstehbar zu machen, gehört aber zur Aufgabe der kirchlichen Institutionen. Was wäre die Adventszeit ohne die Pflege des kirchlichen Liedgutes? Was die Passionszeit ohne die Praxis des Fastens, jedenfalls der Möglichkeit nach?95 Um wie viel mehr noch bedarf es über die ritualisierten Formen hinaus, ohne die auch die protestantische Frömmigkeit nicht bestehen kann, aber der Leitung des Heiligen Geistes im Zuge der Selbstfindungs- und Selbstverständigungsprozesse des einzelnen, an dessen ursprüngliche Ausgießung das Pfingstfest erinnert. Diese Bedeutungsanteile wird man jedenfalls ohne Schwierigkeit der Farbe Violett als einem spezifischen Mischungsverhältnis entnehmen können, die in der Advents- und Passionszeit dominiert. Einfacher scheint sich die gemischte Farbe Grün dem symbolischen Deutungsimpuls zu fügen. Offensichtlich dominiert sie in Zeiten, die das Wachstum der Gewissheit im Glauben und Leben im Sinne des Satzes aus dem Hebräerbriefes betonen, es sei „ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschehe durch Gnade“ (Hebräer 13,9b). Und offensichtlich gewinnt die Bedeutung der Farbe Grün an Plausibilität durch die Analogie mit Vorgängen in der Natur, wenn das Grün aus den Zweigen bricht, um die Bedingungen für das Wachstum eines Baumes zu schaffen, der fest wird und dann auch gute Früchte bringen kann. Diese Farbe, die (relativ unbestritten) Zeiten des Wachstums und des Reifens symbolisiert, ist aber aus dem Blauen zusammengesetzt, das im Violetten stärker noch präsent ist; erst durch die Beimischung des Gelben gewinnt das Grün seinen Charakter. Diese zwei „reinen Farben“ nach Goethe vereinen das Blau des Himmels oder des Wassers, das tief gründet, mit dem Gelb des Lichtes, des Goldes, der Flammen des Feuers. Je mehr man sich über die Analogie mit Naturphänomenen hinaus in Bedeutungen der Farben versteigt, desto problematischer (weil subjektiver und weniger leicht kommunizierbar) wird die Deutung. Es ist dann wie in Benjamins Kurzgeschichte von den drei Religionssuchern, deren einer immer wieder darauf beharrte, dass man „fühlen“ müsse, was er erlebt habe; doch die anderen beiden sehen sich eben dazu nicht in der Lage, weil sie anders ———— 95 Vgl. Nottmeier, Chr./Dober, H. M., Unterwegs zu den Quellen des Selbst.

181

fühlen als der Erzähler. Doch im Zusammenhang der bisherigen Darstellung des Kirchenjahrs auf den Spuren von Rosenzweig wird man sagen können, ohne den Deutungsspielraum zu sehr zu strapazieren: Die Farbe Grün dominiert im christlichen Jahreskreis nicht zufällig. Vielmehr steht sie für einen Prozess des Wachsens und Reifens, den das Christentum als die Religion des Anfangs immer wieder neu begründet. Alle Jahre wieder schließt er sich als Zeitabschnitt an Weihnachten und Neujahr an, alle Jahre wieder macht er die längste liturgische Zeit zwischen Trinitatis und dem Ende des Kirchenjahres aus, unterbrochen nur durch den (inzwischen staatlicherseits weitgehend abgeschafften) Buß- und Bettag und den die Erlösung für den einzelnen symbolisierenden Ewigkeitssonntag. So steht die Farbe Grün für den Gang des Christentums durch die Zeit dieser Welt, um den Weg für die Erfahrung des Ewigen im Jetzt zu bereiten. Es handelt sich um eine Wegbereitung durch ein Wachstum und Reifen, das in der Natur dreier Grundbedingungen bedarf: des Wassers, der Luft und der Sonne. Man kann die Farbe Grün vermöge des darin enthaltenen Blaus allegorisch deuten als Zeichen des Geistigen oder der Tiefe, derer die Entwicklung eines persönlichen Selbstverhältnisses bedarf, das sich durch die Farbe Gelb illuminieren lässt. Sie erst ergibt im Zusammenspiel mit dem Blauen das Grün. c. Chagalls „Grüner Christus“ Dieser farbsymbolische Zusammenhang ist in Marc Chagalls „Grünem Christus“, einem Teil der Glasfenster im Fraumünster von Zürich zur Darstellung gebracht worden. Wie Rosenzweig, so hat sich auch Chagall für das Christentum als einen Zweig interessiert, der dem jüdischen Stamm aufgepfropft worden ist. Es verwundert nicht, dass Jesu Kreuzigung seine Aufmerksamkeit fand. Die Weise, wie Chagall dieses Motiv in den weiten biblischen Kontext einbettet, lässt denn auch sein Verständnis dieser Ursprungserfahrung des Christentums erkennen.

182

Abb. 8: Fraumünster Zürich: Marc Chagalls Chorfenster (Ausschnitt) © VG Bildkunst, Bonn 2009

Eingebettet ist das Christusfenster in der Mitte zwischen dem Jakobs- und dem Zionsfenster. So kommt Christus zwischen der Verheißung an Israel und der Verheißung an alle Welt zu stehen. Verknüpft ist der Gekreuzigte mit diesen Traditionssträngen durch ein dichtes Geflecht von Verweisen und spannungsvollen Bezügen. Vom Zionsfenster her lässt sich eine Verbindungslinie über die Szene des Einzugs nach Jerusalem ziehen. Der auf einem Esel einreitende Jesus beruft sich auf die Verheißung des Propheten Sacharja: „Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf dem Füllen einer Eselin“ (Sacharja 9,9). Und vom Jakobsfenster her ist die Passion Jesu mit dem Traum Jakobs vergleichbar: dem Traum von der Himmelsleiter, auf der die Engel auf und 183

nieder steigen (Genesis 28,12). Von der Höhe des Himmels steigen sie herab, sich erniedrigend bis auf die Erde. So hat auch Gott Christus, den Gottessohn, auf die Erde gesandt. Und dann steigen die Engel in Jakobs Traum wieder hinauf wie Christus, der von Gott erhöht werden wird, wenn er denn all die Gewalt, die Grausamkeit und das Leiden auf sich genommen haben wird (vgl. Philipper 2,5–11). „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel dich“, hat Paulus geschrieben (Römer 11,18b). Die vielfältige Verknüpfung der Traditionslinien findet ihre Zuspitzung im Motiv des Baums im unteren Teil des mittleren Christusfensters. Das natürliche Wachstum von Bäumen kann sich über Jahrhunderte erstrecken. So hat das natürliche Wachstum zum Symbol für Entwicklungen in der Geschichte der Religion werden können. Wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen (Psalm 1), ist das messianische Geschehen am Kreuz für den Maler Chagall. Als Jude im 20. Jahrhundert hatte er Anteil an dem furchtbaren Kreuzesweg, den sein Volk zu gehen hatte. Und aus der Erfahrung des Leidens eröffnet sich ihm eine neue Sicht auf die Ursprungserfahrung des Christentums. Was nun am Christusfenster besonders auffällt, ist die Kraft der Farbe. Nur angedeutet sind die Figuren, nur angedeutet ist das Geschehen. Zu sehen ist Jesu Einzug in Jerusalem, die ihm zujubelnde Menge, Christus am Kreuz. Bei der Menge kann es sich auch um die Jünger und die Frauen unter dem Kreuz handeln. Die Motive sind nur angedeutet, vor allem die Farbe als Ausdrucksmittel erläutert die Geschichte. Sie erschließt das Bild. Denn Farben sehen heißt: mit dem Herzen sehen, mit der Seele. Die Farben sind ein Schatten vom Herzen des Malers.96 Im Christusfenster herrscht die Farbe Grün vor. Einerseits steht sie im Zeichen der Hoffnung wie der Frühling, in dem sie je und je Neues andeutet. Jedes Jahr neu wird es ersehnt und so erfrischend erlebt wie beim ersten Mal: das Erwachen der Natur nach langen Monaten der Kälte und des Schnees, das Wachstum der Vegetation, die junge Frische. Doch die Farbe Grün steht auch für das Zur-Ruhe-Kommen, für das Ausruhen des Auges. Grün hat eine sanfte, versöhnliche Kraft. Das in die Mitte gerückte Grün auf diesem Bild ist wie ein ruhender Pol, wie ein stilles Zentrum im Zusammenhang der anderen Glasfenster. Das grüne Fenster in der Mitte hält die andern beiden im Gleichgewicht: „das verschieden gewichtige Blau und Gelb zu seinen Seiten […] also die Farben, aus denen es selbst gemischt ist.“ Neben dem Gelb und dem Blau erscheint es als die sanfteste Farbe. „Das Sanfteste ist [hier] das Stärkste.“97 ———— 96 Mit Blick auf das Bild „Der Jude in Grün“ (1914) hat Chagall gesagt: „Ich hatte den Eindruck […] der Alte wäre grün, vielleicht fiel ein Schatten von meinem Herzen auf ihn“ (zit. nach I. Riedel, Marc Chagalls Grüner Christus, 103). 97 I. Vogelsanger de Roche, Die Chagall-Fenster in Zürich, 32.

184

Doch was soll die Farbe Grün am Karfreitag? Ist nicht Schwarz die liturgische Farbe dieses Tages, die Farbe der Farblosigkeit? Ja, haben Wachstum und Hoffnung einen Platz in dieser Geschichte des Leidens? Bei den Verhören in der Nacht? Während der Folterungen durch die Soldaten? Bei der Verurteilung durch Pilatus vor der laut schreienden Volksmenge? Auf dem Weg zur Schädelstätte, als die letzte Kraft den Geschundenen zu verlassen drohte? Ein wenig paradox ist es schon, dass Chagall für die Darstellung des Kreuzes eben die Hoffnung weckende Farbe Grün gewählt hat. Gewiss: er hat auch ein starkes Rot verwendet. Und darin ist all das angedeutet, was auf Schmerz und Leid deutet. Hinter den Hüften und dem Arm der Gestalt bilden Blutrot und Violett die Kontrapunkte zum sonst dominierenden Grün. Die Rottöne unterstreichen den Leidenscharakter der Kreuzigung. Sie nehmen all das Leiden in sich auf, das in der Welt herrscht. Das fremde Leiden, von dem wir hören, und das eigene Leiden, das bedrückt. Mit dem Rot als Komplementärfarbe und Kontrast zum Grün ist all das in das Bild mit aufgenommen. Rot lässt sich nicht zu Grün mischen wie Blau und Gelb. Es ist die Farbe des Feuers und des Schreis, der Bewegung und der Unruhe. Eingetragen ist dies Rot ins Grün der Ruhe, der Stille, der Sanftheit. Die Gegensätze des Rot und des Grün sind im Bild vereint. Rot steht im Zeichen des Grün: so steht auch Jesu Kreuz schon im Zeichen der Hoffnung. In diesem Glasfenster hat Chagall den Karfreitag schon von Ostern her gesehen.98 Zwischen dem gelben Zions- und dem blauen Jakobsfenster leuchtet das grüne Christusfenster. Beide Farben sind in es eingegangen. Das Grün ist durch das Blau des Jakobsfensters hindurchgegangen und hat dabei etwas von der Klarheit des Blau angenommen. Doch das durchs Blau hindurchgegangene Grün ist dennoch Grün geblieben. Die Farbe des wiederkehrenden Neuanfangs nach dem Wintertod der Vegetation ist auch die Farbe der Wiedergeburt und der Auferstehung. Auch das Gelb des Zionsfensters ist erhalten geblieben. Fast zu Gold ist es geläutert. Leuchtendes Gelb wie das der Sonne. Lichtspendendes Gelb wie das des Lichtes der Welt, das in der Christusfigur wiederkehrt. Gelb sind vor allem die Füße des Gekreuzigten, die auf der Erde wanderten. Gelb strahlt es von seinem Haupt. Doch das Gelb dominiert nicht. Es ist eingetaucht ins Grün. Das helle Licht, das in den Augen schmerzen würde, wenn man direkt hineinschaute: es ist eingegangen in das Grün der Erde. So kann es leuchten, ohne dass es blendete. So kann es angeschaut werden, ohne dass es schmerzen müsste. So hat ein jüdischer Maler die Passion schauen ———— 98 Vgl. das Lied „Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt“ (EG 98). Die Gegensätze werden hier im Bild es Korns anschaulich. Es versinkt in die Erde, in den Tod. Doch bald treibt ein Keim aus dem Acker. Die Farbe des Halms ist grün.

185

lassen. Durch die Sprache der Farbe will er dem Betrachter den Gekreuzigten nahe bringen. Und indem er sich darauf einlässt, kommt er selbst im Bild vor: als jemand, der unter dem Kreuz steht. Der Betrachter dieses Bildes wird hineingenommen in das, was Christus getan hat. 6.4.2 Weihnachten, oder: Das „Feuer eines allgemeinen Gefühls“ Weihnachten ist das Fest im christlichen Jahreskreis, das bis heute wohl am stärksten mit religiösen Gefühlen besetzt ist. Auch wer sich sonst im Gottesdienst kaum blicken lässt: In diesen Tagen wird er kommen und eine Fülle von Erwartungen mitbringen, die sich im Vorfeld kaum ganz werden abschätzen lassen. So sind es nicht selten die je eigenen Kindheitserlebnisse, die hier frisch in der Erinnerung hervortreten, auch wenn sich das kirchliche Leben, manche Form und Konvention inzwischen verändert haben. Wenn die Pfarrerin und der Pfarrer darauf nicht ausreichend Rücksicht nehmen, müssen sie damit rechnen, dass ihnen nachträglich eine Welle der Enttäuschung entgegenschlägt. Worin besteht aber der Kern der Gefühle, die sich anlässlich dieses Festes bei vielen zusammenballen? Wir werden nicht fehl gehen, zur Beantwortung auf eine alte Einsicht Platons zurückzukommen, die später Schleiermacher und Freud auf je ihre Weise reformuliert haben, dass es nämlich „in jedem von uns ein zu tröstendes Kind gebe“.99 a. Die Gabe der Lebensfreude in der Struktur der Differenz von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit Auch in Schleiermachers „Weihnachtsfeier“ (1806) heißt es, dass dies „recht eigentlich“ ein „Kinderfest“ sei,100 das auch den Erwachsenen einen Anlass biete, „in das Gefühl der Kindheit“ zurückzugehen (31), ein Fest, an dem der „Kindersinn“ erinnert und eingeübt wird, der aus der Unmittelbarkeit lebt, und „ohne den man nicht ins Reich Gottes kommen kann; eben dies, jede Stimmung und jedes Gefühl für sich hinnehmen und nur rein und ganz haben wollen“ (39).101 An diesem Fest könne wie „aus dem Nichts wieder eine zweite Kindheit“ entstehen (40). Und insgesamt sei „die Feier der Kindheit Jesu [nichts] anders als die deutliche Anerkennung der unmittelbaren Vereinigung des Göttlichen mit dem Kindlichen“ (43). ———— 99 P. Ricoeur, Die Interpretation, 262. Vgl. Dober, Seelsorge, 233–235. 100 F. Schleiermacher, Weihnachtsfeier, 12. [Die nicht anders ausgewiesenen Seitenzahlen in diesem Abschnitt beziehen sich alle auf dieses Buch.] 101 Dies war zu Beginn an Sophie, dem spielenden Kind, erkennbar. Sie vermochte nicht zu sagen, ob sie eher lustig oder traurig sei – das unmittelbare Gefühl, das dem Kindersinn eignen soll, geht den Gefühlen der Lust und der Unlust noch voraus.

186

In der Form eines Gespräches bringt Schleiermacher den Sinn und die Bedeutung des Weihnachtsfestes zur Darstellung. Man kann es nicht anders als gesellig feiern, weil die zentrale Botschaft, dass Gott Mensch geworden ist, von Anfang an Gemeinschaft stiftet.102 So ist die dialogische Form der Darstellung für den dargestellten Inhalt mitbestimmend: Eine gesellige Begebenheit, eine zwanglose, private Zusammenkunft von Frauen und Männern, „Jünglingen und Mädchen“, bildet den Rahmen. Kinder geben musikalische Darbietungen, man beschenkt sich gegenseitig. In Handlungen und Gesprächen fügen sich nicht nur dogmatische und exegetische, sondern auch aus der Volkfrömmigkeit, aus Sitte und Brauch bekannte Momente dieses Festes Schritt für Schritt zu einem differenzierten Bild. In das gesellige Gespräch als Form der Darstellung sind Weihnachtserzählungen der Frauen und theologisch-philosophische Reden der Männer eingearbeitet. Entscheidend für Schleiermachers Deutung des Weihnachtsfestes aus den Quellen der Volksfrömmigkeit, aus Sitte und Brauch, aus den tradierten Ritualen ist das Motiv der Gabe ganz zu Beginn. Ihm korrespondiert die Festlichkeit des Anlasses: der Schmuck als Ausdruck der Freude und der Freundlichkeit. Hinzu tritt das Motiv der Erwartung des Kommenden, der Spannung zwischen Verborgenheit der Geschenke im andern Zimmer und ihrem baldigen Auspacken. Die eschatologische Naherwartung ist hier in eine kindliche Erfahrung im Familienkreis transformiert. Die kleine Sophie möchte gern „durch die verschlossenen Türen […] schauen“ (7). Im Nahbereich wird hier die Zeitstruktur des Advent zur Darstellung gebracht. Sitte und Brauch erläuternd sagt Eduard, einer der Protagonisten, in seiner Rede (27ff), „die schöne Sitte der Wechselgeschenke“ sei die „reine Darstellung der religiösen Freude“; in „kleinen Gaben“ bilde sich „das große Geschenk ab (30), dass Gottes Sohn Mensch geboren sei. Bevor es überhaupt an der Zirkulation des frommen Selbstbewusstseins teilnehmen könne, wie sie für die fortlaufende Bildung erwachsener Religiosität so grundlegend sei, habe in der Geste des Schenkens und Beschenktwerdens auch schon das Kind teil an dieser Kommunikation: es bringt selbst seine Gabe dar, Figuren und Gestalten „aus der äußeren Geschichte des Christentums“ (12f). Oder Ernestine berichtet von einer Kindheitserinnerung. Sie begegnete in einer Christmette einer Frau, die ihr eine „goldene Nadel mit einem grünen Stein“ schenkte, die sie aus ihrem Haar zog und am Mantel des Kindes befestigte. Das Motiv der Gabe wird hier in weitere Kreise als den engeren der Familie übertragen: nicht nur um geplante, lange vorbereitete Geschenke geht es, sondern auch um zufällig sich im Augenblick Ergebendes, so dass, um mit der oben schon zitierten Stelle aus den „Reden“ zu ———— 102 Eduard bringt „die geistige und höhere Ansicht unseres Festes“ am Ende auf den Begriff, indem er den Prolog des Johannesevangeliums zitiert und auslegt (77f).

187

sprechen, „die Unsterblichkeit der Religion“ darin bestehe, „mitten in der Endlichkeit Eins [zu] werden mit dem Unendlichen und ewig [zu] sein in einem Augenblick“. Gemäß dem Spruch des Engels aus dem Lukasevangelium will Weihnachten das Fest der Freude sein, wie denn „jede heitere Freude Religion“ sei (54).103 Konträr zu dem berühmten Diktum Nietzsches, fröhlicher sollten ihm die Christenmenschen sein, traut Schleiermacher dem Christen zu, „der rechte Bürge“ dafür zu sein, „dass Leben und Lust nie mehr untergehen werden in der Welt“ (14). Wenn Freude allerdings, für einen geselligen Anlass vorbereitet und inszeniert, in der Sphäre des Zwischenmenschlichen erfahren wird, dann geschieht das in der Struktur des schönen Scheins. „Als wäre sie Geberin von allem, so sammelte man sich um sie her“ (7), heißt es von Ernestine zu Beginn. Sie hatte das Bühnenbild gestaltet und führt die Regie. Insbesondere für Kinder sind die Erwachsenen die Repräsentanten des religiös „anderen“ („das Kind umfasste ihre Knie und schaute sie mit den großen Augen an, […] unendlich lieblich.“), ja sie können – recht verstanden – zu „Stellvertretern Gottes“ werden, so lange sie sich in ihrer Rolle als Mutter oder Vater nicht mit Gott verwechseln.104 Mit Blick auf Weihnachten als das Fest der Freude ist wenigstens zweierlei bemerkenswert: Zum einen tut sich eine Spannung auf zwischen der Inszenierung bzw. all den vorzubereitenden Bedingungen, unter denen die Beteiligten sich freuen können, und dem Wesen der Freude selbst. Sie nämlich stellt sich ein, ohne dass die Vorbereitungen es erzwingen könnten. Sie bleibt abhängig von kontingenten Faktoren. Diese Spannung wird nicht aufgelöst, aber zum anderen (gleich im ersten Abschnitt) in das ästhetische Bewusstsein kunstvoll eingearbeitet, dass Fest und Feier immer auch einen schönen Schein darstellen. Die von Schleiermacher dargestellte Weihnachtsfeier ist ein Gesamtkunstwerk, „die schöne Sitte der Wechselgeschenke […] reine Darstellung der religiösen Freude.“ Weihnachten steht für „ein frohes Übermaß von reiner Heiterkeit […], das sich gewiss auf alles übertragen würde“ (32).105 In der Tat handelt es sich um eine Inszenierung von Wärme und Geborgenheit in der garstigen Jahreszeit, die dazu verhilft, mit der Kälte und dem Schnee besser zu leben. Die Funktion des schönen Scheins erhellt auch aus der auratischen Erscheinung der „bunten kleinen Gaben“, die „noch ein Weilchen von einem vergrößernden Schimmer umgeben“ blieben (5). ———— 103 Schleiermacher liegt hier konträr zu Adorno, dem zufolge „Freude […] gegen allen Ausdruck spröde sich gezeigt“ habe, „vielleicht weil noch gar keine ist, und Seligkeit wäre ausdruckslos“ (Ders., Ästhetische Theorie, 169). 104 Vgl. Rosenzweig, Briefe und Tagebücher Bd. 2, 770. 105 Der von Ricoeur ausgeführte Gedanke einer Logik der Überfülle deutet sich hier an (Ders., Liebe und Gerechtigkeit, bes. 55ff).

188

Schleiermacher komponiert das Thema der Freude in das der Schönheit: Auch die Erfahrung von Schönheit bleibt (in gewisser Weise jedenfalls) der Kontingenz eines Augenblicks überlassen, so sehr man ihm auch den Weg bereiten kann, und im Fall einer – regelmäßig alle Jahre wieder – gemeinsam zu erlebenden Freude auch den Weg bereiten muss. Von Schleiermacher kunstvoll und trefflich dargestellt ist es die Sprache, welche die Ambivalenz und Zweideutigkeit im Ineinander von Freude, Religion und Kunst prägnant präzisiert. Indem Ernestine das Wort ergreift (8), unterscheidet sie die Eindrücke in der Sphäre des schönen Scheins. In der Nähe schafft sie Distanz, und über die Distanz schafft sie Nähe. Die Projektionen unterbricht sie ordnend. Inwiefern dem Kunstwerk der Charakter des Scheins notwendig zukomme, hat Adorno, einen von Benjamin im Goethe-Essay geführten Diskurs aufnehmend,106 in den komplexen Überlegungen seiner „Ästhetischen Theorie“ untersucht.107 „Kunst berichtigt die begriffliche Erkenntnis, weil sie […] vollbringt […] dass durch subjektive Leistung ein Objektives sich enthüllt. Jene Leistung […] verlangt sie ihrer eigenen Endlichkeit ab, um den Preis ihrer Scheinhaftigkeit.“ (173)

Eben so kommt im Symbol und Ritual von Weihnachten, und also auf dem Wege einer (mehr oder weniger) kunstvollen Inszenierung, der objektive Gehalt des Glaubens, dass Gott Mensch wurde, zur Darstellung, und zwar bildlich, szenisch, musikalisch und poetisch in Gestalt der entsprechenden symbolischen Geschichten. Hierbei bleibt Platz für den subjektiven Ausdruck, in dem die Kunst das für sie so wesentliche Differenzmoment bewahrt. Im Ausdruck findet der Schein seine „Demarkationslinie“ (169). b. Das Motiv der Heiligen Familie in der Bewegung „vom Kult zur Kultur“ Indem die kleine Sophie das Mutter-Kind-Verhältnis einbringt, wird ein weiteres Thema des Weihnachtsfestes vorbereitet: Die heilige Familie zwischen Esel und Rind symbolisiert die Erlösung, welcher jede real existierende Familie immer wieder bedarf. Schleiermacher präsentiert eine philosophische Deutung der Marien-Frömmigkeit: Die Mutterliebe gehe „auf das Schöne und Göttliche, was wir in ihnen (den Kindern) schon glauben, was jede Mutter aufsucht in jeder Bewegung, sobald sich nur die Seele des Kindes äußert“, so Agnes im Unterschied zu Leonhardt, der die Bildung der Kinder „zu dem, was dir vorschwebt“ angesprochen hatte. Eine platonische ———— 106 Vgl. Dober, Die Moderne wahrnehmen, 148–150. 107 Adorno, Ästhetische Theorie, 154ff [die folgenden zwei Zitate beziehen sich auf dieses Werk].

189

Vorstellung der Liebe ist es, die die Frauen hier verteidigen, soll doch das Schöne und Gute um seiner selbst willen, nicht um irgendwelcher äußerer Zwecke willen geliebt werden. „Mit diesem Sinn“, so Ernestine, sei „wieder jede Mutter eine Maria. Jede hat ein ewiges göttliches Kind und sucht andächtig darin die Bewegungen des höheren Geistes“ (35). Wie in der Gestalt Mariens das „himmlische Feuer“ mit dem irdischen (14) überblendet wird, so auch die Gottesmutter Maria mit der irdischen Mutter Sophiens (15). „Jeder von uns schaut in der Geburt Christi seine eigene höhere Geburt an“ (81), lässt sich später verallgemeinernd Eduard vernehmen. Indem die Erfahrung Ernestines, „in der Tochter, wie Maria in dem Sohne, die reine Offenbarung des Göttlichen recht demütig verehren [… zu können], ohne dass das rechte Verhältnis des Kindes zur Mutter dadurch gestört würde“ (18), auf den praktischen Aspekt der Kindererziehung bezogen wird, kommt deutlich ein Moment der bürgerlichen Denk- und Lebensform zur Geltung. Insgesamt wird das Heilige der alten Religion – genannt werden die „Vestalinnen, die des heiligen Feuers wachen“ (19) – in eine kommunikative Gegenseitigkeit zwischenmenschlicher Verhältnisse transformiert, seien dies die Relationen zwischen den Geschlechtern oder zwischen den Generationen. Schleiermacher hat hier ein frühes Beispiel für die später auf den Begriff gebrachte Bewegung „vom Kult zur Kultur“ gegeben.108

———— 108 Einen anderen Akzent im nachvollziehenden Verstehen des Weihnachtssymbols hat Segantini mit der Darstellung des Motivs von Mutter und Kind auf seinem Bild „Werden“ (1896–99) gesetzt. Hier ist die zwischenmenschliche Kommunikation in einen natürlichen, einen kosmischen Zusammenhang eingebettet. Die inneren Spannungen des Universums finden hier im Bild der Natur eine harmonische Auflösung.

190

Abb. 9: Rembrandt: Die Heilige Familie, um 1633

c. Ritual, historische Wahrheit und der Sinn des Weihnachtsfestes Leonhardt vertritt eine ästhetisch aufgeklärte Position, die sich am Verhältnis von Religion und Kunst abarbeitet. Er plädiert für eine freie, von der Kirche unabhängige Kunst, sei er doch „als Christ sehr unkünstlerisch und als Künstler sehr unchristlich“ (29). Die Künste müssten „ewig jung, reich und unabhängig für sich leben, sich ihre eigene Welt bildend“, nur so könnten sie den Gefahren widerstehen, die aus allem „Äußerlichen“, aus „kaltem Formelwesen“ und „eingedorrten Gebräuchen“, aus „leeren Worten“ entstehen (25). Mit Blick auf das Weihnachtsfest legt er eine gewissermaßen ritualtheoretische Deutung vor. Unsicher und zweifelhaft sei der historische Grund, umstritten die christologische Bedeutung (66f). Entscheidend sei, wie das Christentum in der Feier dieses Festes wirklich und erkennbar geworden sei. Davon sei die Gegenwart des Christentums abhängig (65). 191

Insgesamt müsse man von Fest und Feier ausgehen, nicht von der Schrift. Durch Gebräuche sei „bisweilen die Geschichte selbst erst gemacht worden“ (67f). In der Tat bedingt die soziale Wirklichkeit die Art von Geschichten, die dann an Brennpunkten des gemeinsamen Lebens tradiert werden.109 Diese einseitige These bleibt allerdings nicht einfach so stehen. Denn Schrift und Tradition geben dem Fest doch seine festgelegte symbolische Bedeutung, an der alles, was sich als Allegorie ankristallisiert hat, messen lassen muss. Das Fest hat einen Gehalt, der nicht beliebig verfremdet werden kann. Diesen Aspekt betont Ernst in seiner weiterführenden Rede. Zwar „rühmt“ auch er das Fest, geht aber über Leonhardts These hinaus, jedes Fest sei „ein Gedächtnis […] von irgend etwas“ (71). Es komme doch auf die Gegenständlichkeit der „Vorstellung“ an, die die „Gemütsstimmung und Gesinnung“ der Freude in den Menschen aufregen könne. Und das, worauf die Vorstellungen zurückgehen, müsse etwas dem Fest Wesentliches, nicht bloß Zufälliges sein. Der wesentliche Gedanke sei in Vorstellungen präsent, welche sprachlich mitteilbar sind, um so „circulieren“ zu können. Doch diese Zirkulation von christlichen Vorstellungen bedarf auch immer wieder der Rückübersetzung in den Gedanken. Ernst, ein weiterer Protagonist, vergleicht die Weihnachts- mit der individuellen Geburtstagsfeier. Der Geburtstag sei der Ort des innigen Gefühls, in einem bestimmten Verhältnis „beschlossen“ zu sein. Weihnachten sei „Feuer […] eines […] allgemeinen Gefühls“ (72). Das Eigentümliche dieses Festes bestehe „in dieser gänzlichen Allgemeinheit“. Und so lautet die Gegenthese zu Leonhardts Ästhetizismus: „Was so allgemein ist, kann niemals willkürlich ersonnen werden. Etwas Innerliches muss dabei zum Grunde liegen“ – „der Grund aller Freude, die sich unter diesen Menschen hin und herbewegt“ (73). Die Wesensbestimmung des Weihnachtsfestes, dass das göttliche Kind als Erlöser geboren wurde, wird von Schleiermacher dialektisch auf das gemeinsame Erleben und die Erfahrung bezogen. Wenn es stimmt, dass wir „im Zwiespalt anfangen“, dann ist die Erlösung für die Erfahrung „die Aufhebung jener Gegensätze“ (74). In den Weihnachtsbildern findet sich eben die „zusammengedrängte Anschauung einer neuen Welt“, und deren Spiegel lasse sich zuweilen in einer fröhlichen Geselligkeit finden, welche Rituale, Fest und Feier voraussetzt, und das ———— 109 In einem neueren Jugend-Roman (L. Lowry, Hüter der Erinnerung, München 1998) findet die These Leonhardts Bestätigung, zweifelhaft sei der geschichtliche Grund des Festes, für die Erfahrung nachvollziehbar sei aber das gelebte Brauchtum, durch das „bisweilen die Geschichte selbst erst gemacht worden“. In diesem Fiction – Jugendbuch findet sich ein Bezug auf Weihnachten der Sache nach, ohne Nennung des Namens; angedeutet ist das Fest nur durch das Symbol des Baums, die Feier im Kreis der Familie, durch das Erlebnis menschlicher Wärme und die Erfahrung des Glücks.

192

sowohl im kirchlichen als auch im privaten Raum der Geselligkeit. „Die ernsthaften Falten sind einmal ausgeglättet, die Zahlen und die Sorgen stehen ihnen einmal nicht an der Stirn geschrieben, das Auge glänzt und lebt einmal, und es ist eine Ahnung eines schönen und anmutigen Daseins in ihnen“, schwärmt Josef in seiner Schlussrede, und er fährt fort: „Ich fühle mich einheimisch und wie neugeboren in der besseren Welt, in der Schmerz und Klage keinen Sinn hat und keinen Raum.“ (83) In der Gemeinschaft kann sich das individuelle Gefühl am „Feuer eines allgemeinen Gefühls“ entzünden. Zugleich bedarf es aber eines Nachdenkens über die Gründe dieser Allgemeinheit, und dieses Nachdenken muss die Tradition einbeziehen. Zu den Weihnachtstraditionen gehört schließlich ein Bestand an biblischen Texten, die sich an Fest und Feier ankristallisiert haben. Ob es die prophetischen Verheißungen aus Jesaja 9 oder die Weihnachtsgeschichte aus Lukas 2 oder ein anderer Text ist – jeweils kommt es darauf an, Tradition und Erfahrung, Text und Situation miteinander ins Gespräch zu bringen. Vor dieser Herausforderung steht vor allem die Predigt. Das Weihnachtssymbol besaß einmal eine allgemeine Strahlkraft in die westlichen, vom Christentum geprägten Gesellschaften hinein, und zum Teil besitzt es diese noch.110 Wie stark es auf einen an die deutsche Kultur assimilierten Juden wie Benjamin wirken konnte, bringt seine kleine Erzählung unter dem Titel „Ein Weihnachtsengel“ prägnant zum Ausdruck. Auch hier ist (wie bei Schleiermacher) Weihnachten das Fest, das zuerst mit Kinderaugen angesehen werden will. Die Weihnachtsbotschaft gewinnt in dieser Perspektive ihr Auratisches: Aus der Ferne kommen im Augenblick, wie durch einen Windstoß, der Falten in „ein träges Segel“ wirft, die Worte nahe: „Alle Jahre wieder / kommt das Christuskind / auf die Erde nieder, / wo wir Menschen sind“. Das Gefühl, das sich einstellt, ist kurz erfüllt von der „Nähe eines sicheren Glücks“. Sich in kindliche Phantasie zurückversetzend ist es für Benjamin, als würde mit diesen Worten, die er auf dem Weihnachtsmarkt aus einem Leierkasten hörte, ein Engel sich bilden, ein Bote, der das Nicht-Sinnliche in die Welt der Sinnlichkeit, das Geistige in ———— 110 Dass das längst nicht mehr allgemein der Fall ist, zeigen einige neuere Filme. In „Mein Vater der Held“ mit Gerard Depardieu in einer Hauptrolle (Frankreich 1991; Regie: Gerard Lausier) ist von der „heiligen Familie“ nur noch der geschiedene Vater mit seiner pubertierenden Tochter übrig geblieben, der fern ab europäisch guter Stuben als deren alternder Liebhaber missverstanden wird. Demgegenüber sucht der Film „Merry Christmas“ die Wirkung des für das Weihnachtsfest wesentlichen Gehalts in einer ihm völlig widersprechenden Situation zu beschreiben, ohne sich hierbei der Illusion hinzugeben, Fest und Feier könnten als solche schon eine schlechte Realität verbessern. Die Verbrüderung der verfeindeten Soldaten im Schützengraben des 1. Weltkriegs stellt zwar für einen Augenblick lang eine Gegen-Wirklichkeit dar, im Nachhinein liegt allerdings die Frage nahe, ob dies nicht nur schöner Schein gewesen sei (vgl. dazu: Dober, Seelsorge, 252f). Vgl. auch die erfundene Weihnachtsgeschichte in „Smoke“ (USA 1995; Regie: Wayne Wang).

193

die Materie, und die erwartete bessere Zukunft in die dürftige Gegenwart bringt. Doch wie er plötzlich gekommen war, so „verflüchtigte“ sich dieser Weihnachtsengel auch bald wieder. Seine Spur aber ist in dieser kleinen Erzählung ebenso bewahrt wie in dem etwa 100 Jahre älteren Text Schleiermachers.111 6.4.3 Die Taufe, oder: Der Anfang eines individuellen Christenlebens Die Taufe ist Symbol und Ritual zugleich. Man kann darüber streiten, ob unter den Plausibilitätsverhältnissen einer volkskirchlichen Wirklichkeit in einer religiös unübersichtlichen gesellschaftlichen Situation das ritualisierte oder das symbolische Moment stärker zu betonen sei. Wer die dogmatischen Festschreibungen (und mit ihnen so manchen Theologenstreit der Vergangenheit112) für die gegenwärtige Handlungsorientierung als eher problematisch ansieht, wird (etwa mit W. Gräb) das Moment des Rituals im Taufgeschehen betonen, wer aber die Taufe als Sakrament und Identitätszeichen einer christlichen Existenz betont, wird auf das Moment des Symbolischen den Akzent setzen. Doch in welcher Perspektive man die Taufe auch betrachten möchte: jeweils wird ihr das „Doppelelement … als Sakrament und Kasualhandlung“113 erhalten bleiben. Auch wenn man mit D. Rössler und E. Lange die Tauffeier in den Mittelpunkt der praktischtheologischen Aufmerksamkeit rückt, steht eben diese Feier doch unter dem sie bestimmenden „Thema“, dass das Leben dem Menschen gegeben ist. Erst die „symbolische Darstellung der allem Leben und aller Leistung zuvorkommenden Zuwendung Gottes zu dem in das Leben getretenen Menschen“114 macht diese Feier zu der, die sie ist (bzw. sein kann). a. Die Taufe als Anfang Im Fluchtpunkt einer Liturgik, die die Zeit ernst nimmt, ist die Taufe zuerst einmal als ein symbolisches Geschehen des Anfangs zu begreifen. In der Tat scheint die Differenz zwischen Kinder- und Erwachsenentaufe die ———— 111 Benjamin, GS IV/1, 283 [Berliner Kindheit um Neunzehnhundert]. 112 Vgl. F. Wintzer, Die Taufe als Lebensdeutung und ihr Bezug zum Abendmahl, 241–247; W. Gräb, Die Taufe und ihr lebensgeschichtlicher Sinn, in: Ders., Lebensgeschichten, 203ff, bes. 203–207. 113 Wintzer, Taufe, 243. 114 Rössler, Grundriss, 217. 219. Für die Taufe als Feier gilt, was für alles Feiern im Familienkreis gilt: Der Vorgang der Geburt „wird nur durch die Feier eindeutig, als bloße Tatsache ist er in seiner Bedeutung völlig unklar und wird noch unklarer durch die alltägliche Erfahrung.“ (Lange, Gottesdienst, 335)

194

Relevanz verloren zu haben, die sie früheren Diskursen zufolge beanspruchen konnte. Entscheidend ist vielmehr die symbolische Setzung eines Fixpunktes im Fluss der Zeit, auf den alle spätere Lebensdeutung sich beziehen kann.115 Mit der Taufe jedenfalls beginnt ein individuelles Christenleben aber in einer doppelten Charakteristik. Zum einen eignet diesem in ritualisierten Formen vollzogenen Symbol die sakramentale Bestimmung, dass das Leben des Getauften eine geschenkte, eine verliehene Gabe ist: Gott hat sich selbst dieses Menschen angenommen.116 Auf den Namen des dreieinigen Gottes getauft zu sein heißt, eine Identität verliehen bekommen zu haben, die die natürliche Individualität keineswegs aufhebt. Vielmehr stellt die „von Gott geschenkte Identität“117 den geglaubten und symbolisch dargestellten Ermöglichungsgrund dar, in einem komplexen und im Kindesalter noch unüberschaubaren zukünftigen Leben den je eigenen Weg suchen und dann auch finden zu können. Welche Fähigkeiten des Getauften auch immer zur Entwicklung gebracht, welche Entscheidungen von ihm selbst später getroffen werden: unverlierbar bleibt der symbolisch gesetzte Anfang, an den jeder und jede stets zurückkehren kann, um sein bzw. ihr je eigenes Leben als eine Gabe, ein Geschenk ansehen zu können. Mit dieser sakramentalen Bestimmung der Taufe ist aber zum anderen auch eine gewisse Unabhängigkeit und Freiheit von den natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen gegeben, unter denen eine Individualität sich besser oder schlechter entwickeln kann. So gesehen verhilft die Taufe zum Wagnis eines in Freiheit ergriffenen individuellen Lebens, auch wenn die familiären Strukturen, der Geist einer Zeit oder eine andere Bedingung der Herkunft, die sich nicht ohne weiteres ändern lässt, dies eher verhindern als fördern. In dieser Perspektive ist die Bedeutung der Taufe im Zusammenhang des Generationenverhältnisses darzulegen. Während dieses zu den Bedingungen gehört, unter denen der „Prozess“ eines Lebens seinen Lauf nehmen kann (und zwar durchaus in der doppelten Bedeutung, dass jedes Leben seine Entwicklungschancen kennt, die ergriffen oder verspielt werden können, was dann im Rückblick zuweilen zu der bohrenden Frage ———— 115 Darauf läuft Gräbs Argumentation hinaus, die dann auch mit der handlungsethischen Orientierung verknüpft wird, ästhetisch und ritualpraktisch stimmige Gottesdienste zu inszenieren. 116 Die sakramentale Bestimmung in diesem Sinne verstanden hat nichts von der „magischen“ Tönung, die etwa E. Bloch für die Taufe festgestellt hat. In seiner Beschreibung unter dem Aspekt eines „religiösen Kontrapunkts aus Tod und Sieg“ findet sie sich zwar historisch eingebunden in alle möglichen gnostischen und mythischen Vorbilder. „Die Taufe war damals insgesamt ein magisches Sakrament, ihr Wasser galt als Lebenswasser, Christus hat vom Tod losgekauft.“ (Ders., Das Prinzip Hoffnung, 1313f) Im Zuge eines zumal in der Geschichte des Protestantismus fortschreitenden Prozesses der Interpretation der Taufe als Sakrament und Kasualhandlung ist ihre Bedeutung aber von der Magie emanzipiert worden. Vgl. E. Jüngel, Das Sakrament – was ist das? 117 Wintzer, Taufe, 244.

195

führt, ob ein kontingentes Leben nicht auch anders hätte gestaltet werden können), begründet die vertrauensvolle Rückkehr zum symbolischen Anfang eines individuellen Christenlebens die Möglichkeit eines Neuanfang nach verpassten Chancen, fehlerhaften Entwicklungen und kontingenten Erfahrungen (bzw. Unterbrechungen).118 Das „Prozessgeschehen“ der Taufe bleibt so auf ihren Charakter als einen Anfang stets zurückbezogen.119 b. Der Kontext des Generationenverhältnisses Mit Schleiermacher lässt sich das in der Familie verkörperte Generationenverhältnis als „das gebildetste Element und treueste Bild des Universums“ verstehen.120 Nachzeichnen lässt es sich in wenigstens drei Spannungsverhältnissen, die sich 1. durch eine diskontinuierliche Kontinuität, 2. durch eine asymmetrische Symmetrie im Verhältnis der Lebensalter, 3. durch eine Verschärfung des unter moderngesellschaftlichen Bedingungen sowieso offenen Problems beschreiben lassen, wie sich die Verhältnisse des Einzelnen zur Gruppe, zur Gemeinschaft, oder neutraler noch: zu „den anderen“ gestalten lassen. Weil erstens die je eigene Lebenszeit sich nicht in ganzer Länge überschneiden kann, ist das Verhältnis der Eltern zu den Kindern (und respektive der Eltern zu den eigenen Eltern) von diskontinuierlicher Kontinuität. Diskontinuierlich ist es auch, weil es sich sowohl beim Enkel als auch beim Ahn um Individuen handelt. Kontinuierlich ist es, weil etwas von den Eltern in den Kindern weiterlebt. Eltern hinterlassen Spuren in ihren Kindern.121 Man kann diese Dimension als eine weitgehend unbewusst geschaffene und bestehende dem „Schicksal“ zuschlagen, das einen „Charakter“ bestimmt (im Unterschied von der Freiheit, an der zur Bildung des Charakters festgehalten werden muss). Man kann aber auch das Diskontinuierliche in der Kontinuität der Geschlechter als ein im Verhältnis vom Vater zum Sohn mögliches Überschreiten der Grenze der je eigenen Subjektivität betrachten. Entsprechendes müsste auch für das Verhältnis von Mutter und Tochter gelten.122 ———— 118 „Von der Geburt her zu denken, bedeutet mit dem Wunder, dem Zauber, der Überraschung des Lebens zu beginnen, das sich allem Berechenbaren und Vorhersehbaren entzieht und das jeden Eintritt ins Leben begleitet. Mit jedem Menschen kommt ein Neuanfang in die Welt“ (H. Arendt, zit. nach Chr. Müller, Art. Taufe, in: HBPTh, 705). 119 Vgl. Gräb, Taufe als Prozessgeschehen, 23–26. 120 Schleiermacher, Reden, 153 [Erstausgabe 1799: 229f]. 121 Vgl. Mercier, Nachtzug nach Lissabon, 318; verifiziert wird das sowohl am Vater als auch an der Mutter von Amadeu de Prado (358ff). 122 Lévinas hat das im Anschluss an und in Transformation von Freuds Analyse des ödipalen Konflikts unternommen. „In der Vaterschaft“, so schreibt er, „befreit sich das Ich von sich selbst, ohne darum aufzuhören, ein Ich zu sein; denn das Ich ist sein Sohn. Die Entsprechung zur Vater-

196

In diese Perspektive gestellt eignet der Kindertaufe jedenfalls auch die Bedeutung, dass die Eltern mit der Entscheidung, die sie für ihr Kind treffen (bevor es sich denn im Konfirmandenalter selbst zu dieser Entscheidung bestätigend oder verneinend verhalten kann), die relative und endliche Beziehung zu ihm in den Horizont des Unendlichen stellen. Die Kindertaufe wäre falsch verstanden, wenn man sie im Sinne einer Vereinnahmung der Kinder durch ihre Eltern begriffe. Im Gegenteil werden mit diesem Symbol die Verhältnisse relativer Abhängigkeit (und Freiheit) in die Dimension „schlechthinniger Abhängigkeit“ von Gott, dem Schöpfer und Erhalter des Lebens, gestellt. Wenn Eltern werden heißt, die Rolle von Welterbauern und Weltschützern für ihre Kinder zu übernehmen, stellt die Taufe eine deutliche Entlastung von dem hohen Anspruch dar, der auch als eine Überforderung erfahren werden kann.123 Zugleich werden die Eltern im Licht dieses Symbols aber auch als Repräsentanten innerhalb eines religiösen Bezugsrahmens erkennbar.124 Die Taufe symbolisiert somit auch die – in der Leistungsgesellschaft gar nicht so selbstverständliche – Selbstverständlichkeit, dass Kinder nicht das sind, was Eltern aus ihnen machen. Für sie Verantwortung zu übernehmen ist etwas anderes als „poiesis“.125 Vielleicht ist die Säuglingstaufe heute vor allem als Gegenbild gegen die Macht der Wünsche in der Leistungsgesellschaft attraktiv. Denn eben diese Wünsche prägen das Leben von Kindern ebenso wie die meisten menschlichen Beziehungen. Zweitens entzieht sich das Generationenverhältnis der symmetrischen Gestaltung. Immer bleibt eine Asymmetrie zwischen Eltern und Kindern, und das sowohl zu Beginn, wenn die Kinder ganz auf die Eltern angewiesen sind, als auch am Ende, wenn umgekehrt die Eltern auf die Hilfe der Kinder ———— schaft – die Kindschaft, die Beziehung Vater-Sohn – bedeutet zugleich eine Beziehung des Bruchs und einen Rückhalt. Als Bruch, als Verleugnung des Vaters, als Anfang, vollzieht und wiederholt die Kindschaft in jedem Augenblick das Paradox der geschaffenen Freiheit.“ Zugleich ist der Sohn aber, „ohne ‚auf eigene Rechnung‘ zu sein [… Seine] Daseinsweise ereignet sich als Kindheit mit ihrem wesentlichen Bezug zu der behütenden Existenz der Eltern. Um diesem Rückhalt gerecht zu werden, muss hier der Begriff der Mutterschaft eingeführt werden. Aber dieser Rückhalt bei der Vergangenheit, mit der der Sohn gleichwohl dank seiner Selbstheit gebrochen hat, definiert einen verschiedenen Begriff der Kontinuität, eine Weise, den Faden der Geschichte wiederanzuknüpfen; dieser Rückhalt hat seine konkrete Form in einer Familie oder in einer Nation.“ (Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 406f) 123 Vgl. P. L. Berger, Auf den Spuren der Engel, 86. Im Deutungsmuster der Psychoanalyse hatte schon Scharfenberg die Eignung des Taufsymbols hervorgehoben, einen Ambivalenzkonflikt der Eltern darzustellen und zu bearbeiten (Rössler, Grundriss, 115f). 124 Berger, Engel, 89. Als ein Beispiel hierfür sei genannt: J. Irving, Gottes Werk und Teufels Beitrag (als Film: USA 1999; Regie: L Hallström) – hier ist der leitende Arzt eines Waisenhauses die Vatergestalt, die Welt erbaut und schützt; die religiöse Rolle wird von einer Schwester übernommen, die das Abendgebet spricht. 125 D. Thomä, Eltern. Kleine Philosophie einer riskanten Lebensform, 89f.

197

angewiesen sind. Kinder in die Welt zu setzen liegt auf einer anderen Ebene als der Handel. Auch wenn man metaphorisch von „Investitionen“ in die Zukunft spricht, hinkt der Vergleich. Denn dies ist kein Spiel, bei dem es um eine Vermehrung des Einsatzes geht. Auch gibt es keine Sicherheiten, den Einsatz zurückzubekommen. Kinder in die Welt zu setzen heißt: eine Verantwortung zu übernehmen, die den Horizont dessen übersteigt, den ich zu Beginn schon überblicken könnte.126 Im Licht der symbolischen Bedeutung der Taufe kann die Last dieser Verantwortung für die Eltern leichter werden, die ihr Kind taufen lassen. Sie vertrauen es im Vollzug dieses Rituals der Gnade und Barmherzigkeit des Gottes an, dem sie dieses neue Leben verdanken. Auch sich um die alternden Eltern zu kümmern heißt, eine Verantwortung wahrzunehmen, die nie ganz abzutragen ist. Aus einem Geschäft kann ich aussteigen, aus dem Generationenverhältnis nicht – es sei denn, man entscheidet sich bewusst dagegen, Kinder in die Welt zu setzen. Und wenn man in früheren Kulturen die zeitlich versetzte Gegenseitigkeit der jeweils asymmetrischen Verantwortung als einen Ausgleich (im Sinne formaler Verteilungsgerechtigkeit) meinte betrachten zu können, so war auch dies immer schon eine begrenzte Sicht der Dinge. Vollends unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen die Verantwortung auch an Institutionen delegiert werden kann – und z. T. auch delegiert werden muss – wird man dem Phänomen der Asymmetrie nicht gerecht, auch wenn die Pflege im Alter durch Versicherungen abgedeckt wird, und findige Köpfe rechtzeitig auf diesem Feld einen lukrativen Markt entdeckt haben. Das Generationenverhältnis erschließt sich in seinen wesentlichen Bestimmungen erst, wenn je mein Verhältnis zu meiner Lebenszeit ins Verhältnis gesetzt wird zu der Zeit, die durch den anderen eröffnet wird. Und eröffnet wird sie für die Älteren durch die Jüngeren. Auch dieser phänomenologisch erschlossene Aspekt lässt sich ohne Schwierigkeit mit der Taufe in Verbindung bringen. Die getauften Kinder stehen für die Offenheit einer Zukunft, in die hinein die Eltern und Paten sie geleiten.127 Diese noch unüberschaubare Offenheit und Weite muss aber ———— 126 Dieser Gedanke lässt sich nicht nur mit Lévinas, sondern auch mit G. Picht weiter ausführen. In seinem immer noch sehr lesenswerten Aufsatz „Über das Böse“ (1981) hat er ausgeführt, dass eine Biographie erst dann Gestalt gewinnen kann, wenn sie im Licht einer Aufgabe zu konstruieren (und schließlich im Rückblick zu rekonstruieren) ist, die über das „ich“ hinausweist, auf das diese individuelle Lebensgeschichte als „Integrationszentrum“ zu beziehen ist. Als Beispiel für Menschen, „die sich eine große Aufgabe stellen“, deren „Zukunft jenseits des eigenen Todes“ liegt, führt er die Mutterschaft an; man möchte ihr die Vaterschaft an die Seite stellen (Ders., Hier und Jetzt. Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima, Bd. 2, 484–500, 497). 127 Schon D. Bonhoeffer hatte die Kindertaufe im Sinne einer Zusage interpretiert, dass dieses junge Leben durch eine Zukunft bestimmt ist, die das „Sein in Christus“ eröffnet (Ders., Akt und Sein, 136ff).

198

dann kein Anlass zur Sorge und Angst werden, wenn das Kind in der Taufe der Güte Gottes anvertraut wird, auf die auch dann noch Verlass ist, wenn die Dinge nicht so laufen wie gewünscht oder geplant. Auf dem Hintergrund dieser Aspekte des Generationenverhältnisses vermag die Taufe auch eine Gelassenheit zu begünstigen, die eine Frucht des Glaubens ist. Wie sich drittens die Verhältnisse des Einzelnen zur Gruppe, zur Gemeinschaft, oder zu „den anderen“ gestalten lassen, ist unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen mehr denn je eine offene Frage. Man kann sagen, dass sie zu den ungelösten Problemen menschlichen Lebens gehört, wenn denn auf der einen Seite Freiheit und Individualität zu stehen kommen, auf der anderen aber das Ritual, die Konvention, die Regel, das Gesetz, der Anspruch und die Verantwortlichkeiten.128 Was von allen Teilnehmern einer offenen und freien Gesellschaft zu fordern ist, dass sie je für sich eine Antwort auf diese Frage suchen und finden, um dann mit ihren Konsequenzen zu leben, stellt auch schon eine Anforderung an die jüngere Generation dar. c. Die Rechtfertigung von Individualität Ein drittes begriffliches Spannungsverhältnis ist für ein Verständnis der Taufe unverzichtbar: Die Taufe ist zwar das die Individualität des Menschen begründende und rechtfertigende Symbol im Vollzug eines die Gemeinschaft stiftenden und erhaltenden Rituals. Ihrer in christlicher Tradition festgelegten Bedeutung nach ist ihr aber auch eine Tendenz zu allgemeiner Achtung und Anerkennung menschlicher Individualität eigen: diese univer———— 128 Die Philosophie des Sozialen eröffnet mehrere Wege, dieses Problem anzugehen. Die eine Möglichkeit ist, dass sie in der Gestalt einer Philosophie des Geistes vom Allgemeinen ausgeht (etwa Sitte, Familie, gesellschaftliche Struktur, Staat), um von ihm aus das Einzelne in den Blick zu nehmen. Die andere Möglichkeit ist, vom Einzelnen, von der Individualität, vom Selbst des Menschen auszugehen, um dann die Beziehungen zu den anderen zu beschreiben. Lévinas hat zuerst das Verhältnis des einzelnen zu sich selbst beschrieben. Diese Analysen der „Innerlichkeit“ oder der „Ökonomie“, will sagen des Selbstverhältnisses des Einzelnen zu sich selbst, auch auf dem Umweg über die Dinge (im Genuss, in der Frage des Wohnens und der Arbeit), führen nun aber zu einer Beschreibung der Begegnung mit dem Angesicht des anderen, mit seinem Antlitz: die Sprache, die Rede und die erotische Liebe sind die hier einschlägigen Phänomene. Die Verantwortung entsteht im Angesicht des anderen wie der Eros auch. Dieses unlösbare Wechselspiel zwischen beiden führt nun aber zu der Frage nach der Gesellschaft, deren kleinste Form eben die Familie ist. Die Verantwortung entsteht mit der Heraufkunft des „Dritten“, und der oder die Dritte in der erotischen Beziehung ist urphänomenal (nicht durchgängig empirisch zu bestätigen) das Kind, Sohn oder Tochter, sowie – über die Dauer der Zeit – auch die Brüder- bzw. Geschwisterlichkeit. Lévinas zufolge bringt die „Fruchtbarkeit des Ich“ (Totalität und Unendlichkeit, 406) die Kindschaft und die Brüderlichkeit hervor (406–409). Beide aber begründen das soziale Leben (409), das die erotische Beziehung möglich macht, wie sie sich andererseits auch aus dem allgemeinen Sozialen als spezifische Beziehung abhebt durch ihren Anspruch der Ausschließlichkeit, die allerdings auf die Inklusivität im Sozialen bezogen bleibt.

199

salistische Tendenz ist durch die agendarisch festgelegten Bibeltexte („machet zu Jüngern alle Völker“) ebenso begründet wie eine das Generationenverhältnis im Inneren zusammenhaltende Beziehung der Verantwortung („lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe“ [Matthäus 28,18–20]).

Abb. 10: Ravenna: Taufkapelle der Arianer (6. Jh.)

Die Taufe ist als Erwählung des einzelnen zu begreifen. Ihm wird zugesprochen, „Kind Gottes“ zu sein. So wird der Täufling in die Dimension einer „Passivität nach Art der Kindschaft“129 gestellt. Als Ausdruck solcher Erwählung wird man das Namengeben verstehen können. Denn durch den Namen als principium individuationis wird das Kind als „NichtAustauschbares“ (Lévinas) eingesetzt. Es wird anerkannt dadurch, dass es ———— 129 Lévinas, Humanismus, 76. Vgl. Dober, Schleiermacher und Lévinas, 330–352.

200

bei seinem Namen genannt wird.130 Auf diesem Hintergrund bedeutet die Taufe des namentlich angesprochenen Täuflings auf den Namen des dreieinigen Gottes die Anerkennung seiner Individualität in der Dimension des Unendlichen. Nichts soll ihn in Zukunft scheiden können von der Liebe Gottes, weder die Ideale, mit denen er konfrontiert wird und sich auseinanderzusetzen hat, noch diejenigen, die er in sein Selbstbild übernimmt, weder die Ansprüche, die an ihn gestellt werden, noch die, unter die er selbst sich stellt, weder die Erfolge, die die schlechthinnige Abhängigkeit von Gott vergessen machen, noch die Misserfolge, die zum Selbsthass führen können. All dies der Möglichkeit nach Trennende begründet die mit M. Luther (1526) so zu nennende Versuchung, „wider die Gnaden zu sündigen“.131 Ihr gilt es, im Rückbezug auf die Taufe zu widerstehen. 6.4.4 Das Abendmahl, oder: Die Erhaltung einer Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins Es spricht vieles dafür, das Abendmahl in einem konstitutiven Bezug zur Taufe zu sehen. Der historische Gesichtspunkt, dass Luther „das Abendmahl immer auch als Tauferinnerung verstanden und gefeiert hat“,132 kommt hier mit dem systematischen überein, dass die Taufe als „Prozessgeschehen“ (Gräb) des immer wieder erneuten Rückbezuges auf den Anfang bedarf, der mit ihr gesetzt worden ist. Und da die Taufe ein „einmaliges, unwiederholbares Geschehen“ ist, in dem der einzelne „Mensch in seinem Sosein und seiner Individualität unter Gottes Verheißung gestellt und in seiner Unverwechselbarkeit angenommen“ wird,133 bedarf es zur wiederhol———— 130 Schon Herder zufolge ist es konsequent, „das Anerkennen einer Sache [respektive einer Person als Person] Namengebung zu nennen“, „denn im Grunde der Seele sind beide Handlungen eins“ (zit. nach J. Anderegg, Sprache und Verwandlung, 44). Auch Benjamins Theorie des Namens kann im Kern als eine Verteidigung der Individualität gelesen werden (vgl. Dober, Die Moderne wahrnehmen, 106–111). Entsprechendes gilt für Rosenzweig. 131 „Wider die Gnaden sündigen geschieht auf zwo Weisen. Die erste, wenn ich gesündigt habe wider Gotts Gebot und ich zu derselbigen Sünde den teuflischen Zusatz tu und verzweifel oder verzage, dass ich glaube und ein Gewissen mir mache, als wollt mir Gott die Sünden nicht vergeben und sei keine Gnade mehr da. Denn da ist denn auch keine Gnade mehr da, sondern Gott mit aller Gnade ist verleugnet und zunichte geworden. – Die andere Weise, wenn ich gute Werke tu und ich zu denselbigen den teuflischen Zusatz tu und verlasse oder tröste mich darauf und mache mir ein Gewissen darnach, dass ich dadurch möge vor Gott bestehen, als sei nicht Sünde da. Denn damit mache ich mir die Gnade zunichte, als sei sie nicht not noch nütze, weil solches die Werke vermögen auszurichten“ (Luther, WA 19, 199f. [Der Prophet Jona ausgelegt]; der Text ist von mir leicht modernisiert worden). 132 Wintzer, Taufe, 245. Belegt wird das mit einem Zitat aus der Schrift „De captivitate ecclesiae praeludium“. 133 Wintzer, Taufe, 245.

201

ten Erinnerung eines anderen Symbols, das den für die Taufe konstitutiven personalen Aspekt im Erleben der Gemeinschaft gewissermaßen aufhebt. In ökumenischer Perspektive, und d. h. in stetem Gegenüber einer lutherischen Position zum römisch-katholischen, aber auch zum reformierten (zwinglianischen und calvinistischen) Verständnis wird auch gelten müssen: „Die Sakramente Taufe und Abendmahl bringen als Spezifikum des Bezuges zu Christus […] die korporative Dimension, den Bezug auf die Kirche mit ins Spiel: Mit der Taufe beginnt die Gliedschaft in der Kirche, im Abendmahl wird sie bestätigt und vertieft. Sie stellen deshalb auch in besonderer Weise Brennpunkte des kirchlichen institutionellen Lebens dar.“134

Auch das Abendmahl ist Symbol und Ritual zugleich. Das Ritual gemeinsamen Essens und Trinkens, wie es der bloßen Form nach auch das alltägliche Leben strukturiert (sei es bei den gemeinsamen Mahlzeiten in einer Familie, in einem Wohnheim oder Internat, sei es bei den ad hoc abgesprochenen Geschäftsessen oder einer privaten Einladung am Abend135), wird aber im Fall des Abendmahls prägnant präzisiert: Die bloße Form des Rituals wird inhaltlich spezifiziert, wodurch die Ambivalenz des Rituals bzw. sein „Oszillieren“ eine Stillstellung erfährt. Durch die Einsetzungsworte wird die Bedeutung des gemeinsamen Essens und Trinkens festgelegt, ja mehr noch: Diese „Anrede an die Gemeinde“ als „Einheit von Konsekration und Distribution“ begründet überhaupt erst den Charakter des Abendmahls als eines Sakraments, und d. h. als einer „Gabe“ Gottes an den Menschen.136 a. Materie und Geist, Leib und Seele Wie auch immer man das Abendmahlsgeschehen in der konfessionellen Differenz prägnant präzisieren will, ob man es primär (katabatisch) „als Handeln Gottes an der Gemeinde“ oder (anabatisch) „als Hinwendung der Gemeinde zu ihm“ versteht137, ob man es also vor allem sakramental als ———— 134 D. Wendebourg, Art. Abendmahl, in: HBPTh, 433. Vgl. G. Ebeling, Dogmatik III, 325–330. 135 Vgl. Benjamin, GS IV/1, 125 [Einbahnstraße]: „Wie ein gastlicher Abend verlaufen ist, das sieht an der Stellung der Teller und Tassen, der Becher und Speisen, wer zurückblieb, auf einen Blick.“ Für den kultivierten Menschen ist das Essen keineswegs „nur ein biologischer, sondern immer auch ein sozialer und symbolischer Akt“ (Josuttis, Der Weg in das Leben, 258). Über das Essen als mehr oder weniger aggressive „Aneignung der Natur“ informiert Ders., Der Weg, 247ff (253 mit Bezug auf N. Elias). 136 Wendebourg, Abendmahl, 434f. Dass und inwiefern alles Handeln Gottes für Luther als eine Gabe zu verstehen ist, die dem Menschen wohlwollend gilt, sei es der symbolisch vermittelte Genuss von Brot und Wein im Abendmahl, sei es die Segenshandlung der Taufe, sei es das im Hören empfangene Wort, habe ich mit an anderer Stelle näher ausgeführt (vgl. Dober, Evangelische Homiletik, 25ff). 137 Wendebourg, Abendmahl, 433 [die folgenden Zitate beziehen sich auf diesen Artikel].

202

Gabe des Leibes Christi je für mich begreift wie in der lutherischen Tradition oder vor allem eucharistisch als einen „Darbringungsakt der Kirche“ (436) in dankbarem Gedenken an das „Kreuzesgeschehen“ und Hinwendung zu Gott wie in der römisch-katholischen Tradition, ob man den primären Aspekt in einer „Dankhandlung der Gemeinde“ erblickt wie in der Tradition Zwinglis (435) oder ob man bei allem Empfang der Gnadengabe Gottes die „ethische Dimension“ besonders betont wie in der Tradition Calvins (436) – es geschieht im Abendmahl etwas Ähnliches wie das, was G. Segantini auf seinen Gemälden zeigen wollte: Ohne die Dimension des Geistigen bleiben die Elemente der Welt bloße, dumpfe, unmittelbar präsente Materie. „Außerhalb des Natürlichen kann ein Ideal keine Lebenskraft von Dauer haben, aber eine Wirklichkeit ohne Ideal ist eine Wirklichkeit ohne Leben.“138 „Nur wo unser geistiges Wesen sich mit der Sinnenfreude kreuzt, kann das Leben einen Wert haben.“139

———— 138 Zit. nach: J. Zink, Dia Bücherei Christliche Kunst Bd. 9, 65. Die symbolische Deutung der Natur ist anhand des für die Pariser Weltausstellung in Auftrag gegebene Alpen-Tryptichon mit dem Bild „Werden“ (1896–99) nachzuvollziehen. Wie in dem ihm korrespondierenden Gemälde „Das Vergehen“ (1896–1899) hat der italienisch-schweizerische Maler hier eine Landschaft so gestaltet, dass sie „zum Inbild religiöser Betroffenheit“ geworden ist (G. Segantini, La morte, in: J. Ringleben, Dornenkrone und Purpurmantel, 45–47, 45). Während das Bild „Werden“ zu Weihnachten passt, bringt „Das Vergehen“ die zentrale Frage des Karfreitags zur Darstellung. Man kann sie bei Nietzsche gestellt finden: „Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer – aber wie ruhig alle Dinge im Lichte liegen! – […] Philosophie […] ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein“ (Ringleben, Dornenkrone, 46 zit. Nietzsche, Ecce homo, Vorwort). Ringleben macht mit seiner Interpretation plausibel, dass Segantini „die existentielle Frage nach der letzten Wahrheit des Lebens und Sterbens: eisiges Nichts oder unfassbare Transzendenz“ „eindeutig im letzten Sinne entschieden“ hat. Das macht sein Gemälde zu einem religiösen. 139 Segantini, zit. b. Zink, Kunst, 69.

203

Abb. 11: Lucca, S. Martino: Tintoretto, Ultima cena, 1592

Das Medium des Geistigen kann freilich auch ein Gemälde oder ein Musikstück sein, in der christlichen Tradition protestantischer Prägung (die sich immer auch auf frühere kirchliche Autoren bezogen hat) wird aber dem Wort hier eine entscheidende Bedeutung zuerkannt.140 Und daher wird mit Augustin gelten können: accedit verbum ad elementum et fit sacramentum, will sagen: zu einem Sakrament als Gabe Gottes an den Menschen werden die Elemente Brot und Wein erst durch die gesprochenen Worte, die dem gemeinsamen Genuss vorhergehen, insbesondere durch die Einsetzungsworte. In der Sphäre der Bedeutung, die Brot und Wein durch eine Sprechhandlung verliehen werden, der Bedeutung in dem doppelten Sinn der Semantik („dies ist mein Leib“, „dies ist mein Blut“) und des Bedeutens als de te fabula narratur („der / das für euch und für viele gegeben / vergossen ———— 140 Vgl. zur Medialität der Sprache überhaupt: Dober, Seelsorge, 247–251.

204

wird“, „Christi Leib, für dich gegeben“) entsteht erst das Symbol in actu. „Es ist sakramental nur da als Gabe, mit der Distribution endet diese seine Gegenwart.“141 Und erst in seiner symbolischen Bedeutung vermag das Ritual des gemeinsamen Essens und Trinkens die Gemeinschaft neu zu schaffen (eben diese versammelte Gemeinschaft von Getauften) und zu erhalten. Dieses komplexe Geflecht von Beziehungen geistiger und sprachlicher Art, das den Einzelnen als einen ganzen Menschen betreffen will, der nicht nur hört, sondern auch schmeck und sieht, der nicht nur für sich selbst nach Gewissheit in seinem Leben sucht, sondern auch gemeinsam mit anderen lebt, wird in einem naturalistischen Missverständnis des Abendmahls verfehlt. Ohne die Schaffung des Sakraments durch das Wort, das dem Elementaren und Materiellen eine geistige Dimension verleiht (eine „Aura“, wenn man so will), bliebe nur der Genuss des Brotes als Brotes und des Weines als Weines. Zwar können diese Elemente durchaus etwas Auratisches haben, wenn das Brot herrlich frisch duftet und wenn der Wein ein charaktervolles Bouquet hat. Denn als Elemente sind sie geschaffen und durch menschliche Arbeit kultiviert. Aber als niedrigste Stufe unter dem kultivierten Genuss bleibt auf dieser naturalistischen Ebene nur noch das differenzlose Verschlingen des Gegenstandes. Das Abendmahl ist dem kultivierten Genuss verschwistert, seine symbolische Bedeutung geht aber noch weit darüber hinaus. Ohne die Schaffung des Sakraments durch das Wort, das dem Elementaren und Materiellen eine geistige Dimension verleiht, bleiben die Einsetzungsworte aber auch der anderen naturalistischen Gefahr ausgesetzt, den Leib Christi und sein Blut unmittelbar und differenzlos auffassen zu können. Exemplarisch hierfür sei ein Satz K. Messelkens zitiert: „Die Christen erleben ihre Brüderlichkeit im Genuss von Fleisch und Blut desjenigen, der ihren Bund stiftete.“142 Als würde es diesen Satz anschaulich darstellen, zeigt das Wandgemälde im Foyer der Evang. Akademie Tutzing eine Totemmahlzeit als Schnittstelle zwischen Kannibalismus und symbolischem Vollzug. Auch die Totemmahlzeit ist schon mehr als der Kannibalismus, das Abendmahl aber ist auch mehr als eine Totemmahlzeit (als welche etwa Freud es verstand). ———— 141 Wendebourg, Abendmahl, 435. 142 Zit. nach Josuttis, Der Weg in das Leben, 255. Diese Sicht der Dinge ließe sich leicht durch W. Heitmüller, einen Vertreter der religionsgeschichtlichen Schule Göttingens, bestätigen. Ihm zufolge wirke sich etwa in den „orgiastischen Feiern des thrakischen Dionysos-Kultes“ derselbe religiöse Trieb aus wie im christlichen Abendmahl. „In rohen und blutigen Ceremonien“ suchten die Teilnehmer in „die denkbar engste Verbindung“ mit der betreffenden Gottheit zu treten, um mit ihr eins zu werden und ihr Leben in sich aufzunehmen. „Das gleiche aber erstreben und erlangen ja auch die Gläubigen, die nach paulinischer Weise des Herrenmahl feiern: sie nehmen – in supranaturalistischer Weise freilich – den Christus in sich auf.“ (W. Heitmüller, Taufe und Abendmahl bei Paulus, 40ff)

205

„In seiner religionswissenschaftlichen Urfassung meint der Begriff [des Totemismus] ein System von Vorstellungs- und Verhaltensmustern, in dessen Zentrum ein heiliges Tier, eine heilige Pflanze steht, mit der sich der Clan oder der Einzelne identifiziert. Die Heiligkeit des Totems wird fassbar in Tötungs-, Berührungs- und Essverboten, die nur zu den großen Festen aufgehoben werden. Dann freilich kommt es zu einer intensiven Vereinigung mit dem Totem, dessen Namen man trägt. Man bestreicht sich mit dem Blut des Tieres, man reibt sich mit der heilenden Pflanze ein, man verspeist den tierischen oder pflanzlichen Stoff. Der Zweck besteht in der Restitution von Lebenskraft.“143

Freud interpretierte dann „die Grundstruktur des totemistischen Systems im Rahmen des Ödipus-Konflikts“ (ebd.). Wenn „in jeder Opferhandlung die Wiederholung des Vatermordes in der Urhorde“ gesehen werden kann, lässt sich auch im „Menschen- und Sohnesopfer“, wie es symbolisch in der Feier des Abendmahls dargestellt ist, eine Neuauflage des ursprünglichen Vaterkonflikts erblicken (268). Erst durch die „Konsekration“ geht das Abendmahl deutlich genug über die Totemmahlzeit hinaus, durch eine im Medium der Sprache vollzogene „Transformation aus der Profanität in die Sakralität“ (271). b. Inkorporation als psychologische und soziale Kategorie Mit dem psychologischen Aspekt ist die Individualität dessen betont und gewahrt, der am Abendmahl teilnimmt, mit dem sozialen das auf den anderen hin angelegte Bedürfnis des individuellen Menschen („es ist nicht gut dem Menschen, dass er allein sei“ als biblische Variante der griechischen Rede vom Menschen als „zoon politikon“). Was bedeutet es, sich den Leib Christi in Gestalt einer Hostie „einzuverleiben“? Eine Antwort auf der Linie des reformatorischen Abendmahlsverständnisses ist sinnvollerweise nur im Kontrast zur psychologischen Bedeutung der Inkorporation zu geben. K. Abraham hat den Freudschen Ansatz weiter entwickelt, indem er das Zusammenwirken von „Nahrungstrieb und Libido“ beim Säugling und Kleinkind untersuchte. Das Essen als ein Akt der Einverleibung von dafür mehr oder weniger geeigneten Objekten (auch diese Unterscheidung muss vom Kleinkind erst erlernt werden) stellt sich in diesen Untersuchungen als ein höchst ambivalentes Geschehen dar. Zwar dient es der Lebenserhaltung – ohne Nahrung in sich aufzunehmen würde das Kind verhungern. Während aber auf der primären Stufe des Saugens (noch ohne Ambivalenzen in quasi paradiesischer Seligkeit) eine „Einverleibung im Sinne von Einung“ vollzogen wird, mischen sich auf der sekun———— 143 Josuttis, Der Weg in das Leben, 267f. mit Bezug auf E. Durkheim, Die elementaren Formen, 456 [die folgenden Zitate beziehen sich auf dieses Werk von Josuttis].

206

dären Stufe durch das Beißen sadistische Impulse in die Mundtätigkeit. Was für die Ontogenese des Kindes zu einem selbständigen Menschen notwendig ist, erscheint phylogenetisch als ein Relikt „kannibalistischer Antriebe“. Das Kind gerät in die Gefahr, „das Objekt zu vernichten […] Die sekundäre, oral-sadistische Stufe bedeutet also in der Libidoentwicklung des Kindes den Anfang des Ambivalenzkonfliktes.“144 Noch in den spärlichen Spuren der Einsetzungsworte deutet sich die Möglichkeit einer „Wiederholung“ im Sinne Freuds an. Wie Josuttis gezeigt hat, sind „die aggressiven Implikationen der Eucharistie […] nirgends deutlicher dargestellt als in der […] orthodoxen Liturgie“.145 Doch wenn schon in dieser „Ritualisierung von Aggressivität Schuldgefühle integriert und Einigungserfahrungen […] vermittelt werden können“ (ebd.), lässt sich um so mehr in den reformatorischen Diskursen um das Abendmahlsverständnis die Tendenz nachweisen, der Gefahr der Wiederholung sadistischer Impulse (etwa im Vorgang des Zubeißens) zu widerstehen.146 So findet zwar die Einsicht Nietzsches Bestätigung, dass „ohne Grausamkeit kein Fest“ sei,147 die symbolische Bedeutung des Abendmahls aber nimmt „Das Ende der Gewalt“ vorweg, welche R. Girard zufolge im die Menschheitsgeschichte begleitenden Opfer stets präsent war und bis heute ist. Theologisch lässt sich die Reformation von dieser Intention vor allem dadurch leiten, dass das im Abendmahl repräsentierte Opfer Christi als ein solches verstanden wird, das die menschliche Praxis des Opfern ein für alle Mal unterbrochen hat. Indem diese Urszene christlicher Frömmigkeit im Abendmahl wiederholt wird, erschließt sich für die Teilnehmenden auch ein Horizont, in dem ein weiteres Opfer des anderen Menschen überflüssig geworden ist. Nur durch die Arbeit der Interpretation aber lässt sich das Symbol des Abendmahls vor Missverständnissen bewahren, die in seinem ritualisierten Vollzug eine zwanghafte Wiederholung der menschlichen Aggressivität meinen erblicken zu können, durch welche die Gewalt in der Welt tatsächlich noch nicht zu einem Ende gekommen ist. Spuren dieser der menschli———— 144 Josuttis, Der Weg, 252 zit. K. Abraham, Gesammelte Schriften II, Frankfurt a. M. 1982, 59. 145 Josuttis, Der Weg, 281. Triebhaftigkeit muss im kultischen Ritual „nicht unterdrückt und verdrängt“, sie kann auch „sozial gestaltet und in kreative Bahnen gelenkt werden“ (280 mit Bezug auf E. Drewermann). 146 „Wer dis brod angreiffet / der greiffet Christus leib an / Und wer dis brod isset / der isset Christus leib / wer dis brot mit zenen odder zungen zu dru(e)ckt / der dru(e)ckt mit zenen oder zungen den leib Christi / Und bleibt doch allwege war / das niemand Christus leib sihet / greifft / isset / odder zubeisset / wie man sichtbarlich ander fleisch sihet und zubeisset“ (Luther, WA 26, 442, zit. nach Josuttis, Der Weg, 282). Deutlich genug ist die von K. Abraham ans Licht gehobene Ambivalenz hier schon angedeutet als eine Ambivalenz menschlicher Subjektivität, die sich den Objekten gegenüber einverleibend, herrschend, zuweilen auch sie vernichtend verhält. Von diesem Weltverhältnis wird aber der Genuss des Abendmahls deutlich genug unterschieden. 147 Nietzsche, KGA VI/2, 321 [Genealogie der Moral].

207

chen Seele eigenen Ambivalenzen finden sich für klar blickende Augen in der Geschichte der Deutung und Praxis des Abendmahls bis in die Gegenwart. Um der Aufmerksamkeit hierfür nicht verlustig zu gehen, bleibt ein begleitendes Studium der Freudschen Psychoanalyse für den praktischen Theologen auch weiterhin unverzichtbar.148 Wenn aber im Abendmahl ein „Ende der Gewalt“ vorweggenommen wird, weil und insofern auf dem Wege der Inkorporation das „Gedächtnis“ an das Opfer Christi bewahrt wird, das seither alle menschlichen Opfer des störenden Anderen überflüssig gemacht hat, dann gewinnt es noch einen weiteren Sinn, sich mit der Hostie den Leib Christi einzuverleiben. Es handelt sich hierbei nämlich um die Inkorporation eines Verstorbenen, welche als notwendige Phase im Prozess des Trauerns verstanden werden kann. Die Inkorporation dient dann „überwiegend der Tendenz, die Beziehung zu dem Verstorbenen zu konservieren oder – was dasselbe ist – den erlittenen Verlust zu kompensieren“.149 In dieser Perspektive heißt, sich die Hostie einzuverleiben, dann auch, dem symbolischen Leib Christi inkorporiert zu werden. Das will sagen: Wer am Abendmahl teilnimmt, erfährt sich erneut als Teil dieses symbolischen Leibes, dessen Präsenz allerdings sinnlich-leiblich erlebbar ist: „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist; wohl dem, der auf ihn traut. Gehet hin im Frieden des Herrn.“ c. Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins Die Ausdifferenzierung der beiden Aspekte der Inkorporation führt auf den paradoxen, jedenfalls spannungsvollen Gedanken einer Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins. Doch das Abendmahl ist mehr als ein Gedanke – es ist ein Medium.150 Im Medium des Abendmahls wird eine Gemeinschaft erhalten und erneuert, die aus Individuen besteht, die sich gegenseitig Andere sind und anders bleiben. Auch dieser Gesichtspunkt verweist auf den personalen Sinn der Taufe zurück. Während im Taufgeschehen jeder einzelne Mensch als Individuum angenommen und dem „Leib Christi“ integriert wird, will das Abendmahl die Gemeinschaft der Getauften erlebbar und erfahrbar machen. Die Voraussetzung dafür ist aber die Erfahrung einer Versöhnung. Auch außerhalb des liturgischen Rahmens gelingt ein gemeinsames Mahl nur, wenn vorher bestehende zwischenmenschliche Spannungen abgebaut sind. ———— 148 Vgl. Josuttis, Der Weg in das Leben, 279–284. Vgl. Dober, Seelsorge, 113–178. 149 K. Abraham, zit. nach Y. Spiegel, Der Prozess des Trauerns, 38. 150 An anderer Stelle habe ich mich mit der entsprechenden These von J. Hörisch auseinandergesetzt: Dober, Seelsorge, 45–47.

208

Dass die Andersheit in dieser Gemeinschaft respektiert und anerkannt, ja „freudig bejaht“ wird, ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Die natürliche Tendenz, eine Gemeinschaft zu erhalten, ist vielmehr, die Gleichheit der Teilnehmer zu betonen und das Ungleiche auszuschließen. Sprachlich äußert sich diese Tendenz durch die integrierende Funktion des „Wir“ nach innen, die zugleich nach außen hin, zum „Ihr“ als den anderen exklusiv ist.151 Sehr schön hat Kurt Marti die theologische Begründung der im Abendmahl erfahrbaren Gemeinschaft unter den Menschen im trinitarischen Gottesverständnis aufgezeigt. Im Abendmahl wird die Brücke zum anderen Menschen durch den symbolischen Genuss der Elemente Brot und Wein geschlagen, der zugleich ein wirklicher Genuss ist. Auf diese Weise wird das göttliche Wort Fleisch, denn „gesellig heißt die Gottheit, / weil in ihr selber Andersheit ist, / freudig bejaht.“ Wie die Menschen, die am Abendmahl teilnehmen, unterschiedlich, wie sie sind, im Augenblick dieses Genusses übereinstimmen, so stimmt auch Gott, „beziehungsreich, / in pluralem Austausch“, „mit sich überein“, ist „Gott, die Göttin, / […] was Sie ist: / Schalom seit urher, / Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins, / frei von Berührungsängsten.“152 In dieser theologischen Interpretation wird im Abendmahl erleb- und erfahrbar, dass der Gott, der Mensch geworden ist, die Liebe ist. „Gottes Sein blüht gesellig, / ‚Seine Liebe wandelt / in immer frischem Trieb / durch die Welt.‘ (Franz Rosenzweig)“153

———— 151 Vgl. Rosenzweig, GS II, 347f [Stern II]. 152 K. Marti, Die gesellige Gottheit, 87. Im Unterschied zu den Analysen von Lévinas, denen zufolge die Verantwortung für den anderen, die bis zur Stellvertretung gehen kann, die Brücke zum anderen schlägt, ist in diesem Verständnis des Abendmahls ein eigener Akzent gesetzt. Dass der gemeinsame Genuss der Gabe Gottes dann auch ein entsprechendes Verhalten in Verantwortung nach sich zieht, wird in einer durch die lutherische Reformation eröffneten Perspektive vorausgesetzt. Dass die Realität sich dem in dieser Perspektive entworfenem Bild allerdings nicht immer gefügt hat, ist immer wieder gesehen worden (vgl. W. Benjamin, GS I/1, 317ff [Ursprung des deutschen Trauerspiels]). 153 Marti, Die gesellige Gottheit, 97. In der Tat dient die Liturgie des Abendmahls der Vorbereitung dieses einen speziellen Augenblicks des Genusses von Brot und Wein. Durch Hören und Singen soll die Seele „in den grenzenlosen Zustand des ewigen Augenblicks“ versetzt werden (Josuttis, Der Weg in das Leben, 274). Man muss nicht so weit gehen wie Josuttis, und diesen Augenblick als „Traumzeit-Erfahrung“ (274. 277) oder „therapeutische Trance“ (278) interpretieren. Im Horizont einer Liturgik, die die Zeit ernst nimmt, reicht es hin, im Genuss des Abendmahls einen besonders qualifizierten Augenblick des Verweilens aufzuspüren, in dem die Herrschaft der Zeit nicht nur unterbrochen wird, sondern auch eine Erlösung von ihr antizipiert werden kann.

209

6.4.5 Das Kreuz, oder: Leben mit den Widersprüchen der Wirklichkeit Das Kreuz ist das bis heute das zentrale Symbol154 und Erkennungszeichen des Christentums in all seinen öffentlichen Erscheinungsformen, seit Kaiser Konstantin es zum „Siegeszeichen der triumphierenden Kirche“ eingesetzt hatte.155 Vorher wurde vor allem das Fischzeichen „zur Selbstbezeichnung verwendet“ (ebd.). Als Zeichen des Sieges fand man das Kreuz seit dem 4. Jahrhundert auf den Fahnen der Fürstentümer und Reiche, und die Kriege dieser Zeit tragenden Orden. Als zentrales Symbol wurde es verwendet, um dem architektonischen Grundriss kirchlicher Gebäude ihre Form zu geben. In keiner Kirche fehlt das Zeichen des Kreuzes als Symbol, das dem Altar erst seine christliche Bedeutung gibt. Denn in der theologischen Deutung dieser „brutalen Todesstrafe“ trat seit Paulus der Gedanke hervor, dass diese „äußerste Schande“, in der Jesus starb, als Zeichen seines Scheiterns längst nicht zureichend verstanden war.156 Nicht etwa sei „verflucht, wer am Holze hängt“ (Galater 3,13), sondern mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben habe Jesus das Leiden der seufzenden Kreatur, sterben zu müssen, ein für alle Mal auf sich genommen. Im Nachhinein habe er sich durch das, was er auf sich nahm, als Sohn Gottes erwiesen, der die messianische Verheißung aus Jesaja 53 erfüllte, wie ein Lämmlein (das in der jüdischen Ordnung des Passah seinen festen Platz hat) in sein Opfer gegangen zu sein und die Schuld anderer getragen zu haben,157 ja all derer, die der von Paulus derart erkannten frohen Botschaft Glauben schenken. Je nachdem, wie man diese Botschaft im einzelnen deuten will (oder meint, aus guten Gründen deuten zu müssen), wird man dann auch im stellvertretenden Opfer Christi nicht etwa die Legitimation zu weiteren Opfern in der Geschichte des Menschen erblicken, die sich aus immer neuen schicksalhaften Verstrickungen in Schuld ergeben, sondern im Gegenteil die symbolische Begründung dafür, dass sich für den christlichen Glauben die Notwendigkeit weiterer Opfer seither erübrigt habe. ———— 154 Als ein Zentralsymbol ist das Kreuz von P. Tillich bezeichnet worden. Er sieht hier „die Grundfunktion des Symbols [realisiert], sich selbst zugunsten der sich manifestierenden Transzendenz zu negieren“ (N. Slenczka, Art. Kreuz/Kreuz Christi V. Dogmatisch, in: RGG 4. Aufl. Bd. 4, Sp. 1753). 155 Chr. Auffarth, Art. Kreuz/Kreuzigung, in: Metzler Lexikon Religion, Bd. 2, 254. Das Logo der von Henri Dunant 1863 gegründeten Hilfsorganisation für Verletzte und Tote im Krieg zeigt zwar auch ein „Rotes Kreuz“. Dieses ist aber nicht unmittelbar aus christlichen Wurzeln entstanden, sondern aus einer pragmatisch motivierten Umkehrung der Farben der Schweizer Fahne, die sich lange Zeit schon als Zeichen der Neutralität bewährt hatte (ebd.). 156 Vgl. Auffahrt, Art. Kreuz. Das Kreuz ist die Antwort der Welt auf die christliche Liebe (vgl. Bloch, Prinzip Hoffnung, 1489). 157 „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ (EG 83).

210

Abb. 12: Wien, Albertina: Albrecht Dürer, Christus am Kreuz, farbig aquarellierte Federzeichnung 1505

Für die christliche Frömmigkeit ist das Kreuz zu einem Symbol geworden, in dem die Widersprüche der Wirklichkeit und des Lebens formal dargestellt sind, doch auf eine derart offene Weise für die Rezeption, dass alle möglichen konkreten Erfahrungen in diesem Deutungsmuster mit diesem Symbol in Verbindung gebracht werden können.158 Diese Darstellung erschöpft sich aber nicht in sich selbst, sondern sie weist über sich hinaus dadurch, dass sie immer auf die ursprüngliche Situation bezogen bleibt, die ———— 158 Als Symbol stellt es das „Kreuz der Wirklichkeit“ dar und repräsentiert ein ursprüngliches Geschehen. Zugleich macht es aber eben dieses Geschehen auch präsent, indem Menschen in der Nachfolge Christi ihr Kreuz auf sich nehmen. So wird das Kreuz in einem praktischen Sinne auch zu einem wirkenden Prozess, zu einer „Denkweise des an der Gemeinschaft teilnehmenden Mitmenschen“ (Rosenstock-Huessy) und zu einer „Form des Sozialen“ (zit nach einem bisher unveröffentlichten Manuskript von K. M. Stünkel [s. o. Kap. 4, Anm. 54]; vgl. Chr. Richter, Im Kreuz der Wirklichkeit).

211

in der nachträglichen theologischen Deutung überwunden wurde. Und so vermag die Rezeption des Glaubenden im Symbol des Kreuzes die Aufnahme bzw. Mitnahme der eigenen Erfahrung von Widersprüchen und Leiden, ja der Erfahrung des Sterbens in einen Prozess zu erkennen, der auch ihn zu einem „Überwinder“ macht.159 Es spricht vieles dafür, dass diese Eigenschaft dem Kreuzessymbol auch zu einer Präsenz in der autonomen, von kirchlichen Vorgaben durchaus emanzipierten Kunst des 20. Jahrhunderts verholfen hat.160 Als ein Beispiel aus vielen ist oben Chagalls „Grüner Christus“ interpretiert worden. Das Kreuz als eine theologisch reflexive Größe und als Symbol eines die abendländische Geschichte mitprägenden Kulturfaktors161 ist begründet in historischen Sachverhalten, die mit Bedeutungen begabt worden sind, welchen ihrerseits ausdrückliche Wahrheitsgehalte zugesprochen worden sind. Schon im ursprünglichen historischen Sachverhalt der Kreuzigung Jesu ist für die theologische Reflexion eine „Wahrheit als Koinzidenz von Widersprüchen“ erkennbar geworden.162 Und die Verwendung dieses Zeichens in unterschiedlichen historischen Konstellationen lässt diese Wahrheit als „mit Zeit bis zum Zerspringen geladen“ erscheinen.163 Immer wieder kam es darauf an, durch die bisherigen Deutungen hindurch und zuweilen auch gegen den herrschenden Deutungsanspruch, jedenfalls aber im Rückgang auf den historischen Ursprung des Symbols, ein für die Gegenwart aktuelles, die in ihr wirksamen Widersprüche und Spannungen integrierendes Verständnis zu gewinnen. So hatte „Kaiser Konstantin seinen Rivalen 312 unter dem (Feld-) Zeichen des Kreuzes besiegt“, so hatten die Kreuzfahrer dieses Zeichen als Emblem auf ihren Fahnen benutzt, die sie bis nach Jerusalem trugen. Angesichts der kriegerischen Handlungen auf diesem Weg und dann im Konflikt mit den Muslimen paradox genug hatte Bernhard von Clairvaux, einer der theologischen Motivatoren der Kreuzzüge, allerdings schon einem Verständnis des Kreuzes „als Ausdruck von Leiden und Schwäche Jesu“ den Weg bereitet. 164 So ———— 159 So heißt es in der 4. Strophe des 1531 von M. Weiße gedichteten Liedes „O gläubig Herz, gebenedei“: „Wie sich ein treuer Vater neigt / und Guts tut seinen Kindern, / also hat sich auch Gott erzeigt / allzeit uns armen Sündern; / er hat uns liebe und ist uns hold, / vergibt uns gnädig alle Schuld, / macht uns zu Überwindern.“ (EG 318, 4) 160 Vgl. A. Stock, Art. Kreuz/Kreuz Christi VI. Darstellungen in der modernen Kunst, in: RGG4 Bd. 4, Sp. 1753f. mit Bezug auf W. Schmied (Hg.), Zeichen des Glaubens. Geist der Avantgarde. Religiöse Tendenzen in der Kunst des 20. Jh., 1980; Mennekes/Röhrig, Crucifixus. 161 Im Übrigen ist das Zeichen des Kreuzes älter als sein christlich-symbolischer Gebrauch: vgl. Gutmann, Art. Kreuz, in: HBPTh, 326f. 162 S. Quinzio, Die jüdischen Wurzeln der Moderne, 161. 163 Benjamin, GS V/1, 578 [Das Passagen-Werk]. 164 U. Köpf, Art. Kreuz/Kreuz Christi IV: Das Kreuz in der Kirchengeschichte, in: RGG 4. Aufl. Bd. 4, Sp. 1750. Einem Diktum Luthers zufolge sei das Kreuz seine einzige Theologie gewesen.

212

hatte später Martin Luther seit der Heidelberger Disputation 1518 „die theologia crucis als wahre Erkenntnis des Gekreuzigten gegen die theologia gloriae der Scholastik aus[gespielt]“.165 So hat aber auch George Grosz 1928 einen „Christus mit einer Gasmaske und Soldatenstiefeln“ gezeichnet, „um gegen die christliche Kriegstheologie (der Zeit) zu protestieren“, und von Elie Wiesel ist überliefert, dass er in einem jüdischen Kind am Galgen in Auschwitz das Leiden Christi wiedererkannt habe. Für viele ist seither klar, dass das Kreuz nicht mehr als Sieges- und Triumphzeichen gedeutet werden kann, sondern nur noch als „Zeichen der mitleidenden Solidarität“.166 „In ‚Ernstsituationen‘ der politischen Kultur spätmoderner Gesellschaften behält das Kreuz als Symbol […] eine Plausibilität, wie es diese in den lebensgeschichtlichen ‚Passagen‘ und ihrer rituellen Begehung vor allem im Bestattungsgottesdienst weiterhin – trotz sinkender Beteiligung – behalten hat.“167

Was aber lässt dieses Zeichen zum Symbol werden? Wenn man das Kreuz als ein Zeichen betrachtet, kann man es mit Belting als eine immer wieder reproduzierte, mal konkrete mal eher abstrakte Form des Totenbildes verstehen. So gesehen fungierte das Bild des Kreuzes als „Medium des abwesenden Körpers“168, und das Medium wäre als ein „Träger-Medium“ (12) gefasst. Als ein Zeichen ist das Kreuz vielfältig verwendbar, und die Geschichte des Christentums kennt – wie die eben gegebenen Beispiele gezeigt haben – eben nicht nur einen qualifiziert symbolischen Gebrauch, in dem der Wahrheitsgehalt dieses Zeichens auf den – historischen und gegenwärtigen – Sachgehalt der jeweiligen historischen Situation per analogiam bezogen wäre. Auch ein durchaus ideologischer Gebrauch mit deutlichen Interessen ist vielfach dokumentiert. Die Frage nach der Verwendung dieses Zeichens als Symbol verweist auf die Differenz von objektiver Geltung und subjektiver Deutung. Eine theologisch verantwortliche Bestimmung der Geltung des Kreuzeszeichens als Symbol wird man mit Hans-Martin Gutmann aus der Differenz von der Gewalt zur Gabe entwickeln können. Im Anschluss an R. Girard und das Zeugnis des sich hier auf das Alte berufenden Neuen Testaments ist festzuhalten, dass „die versöhnende Kraft dieses Opfers […] nicht in der ———— 165 Köpf, Art. Kreuz, Sp. 1751. 166 Chr. Auffahrt, Art. Kreuz, 254f. Wiesel berichtet, dass er anlässlich dieser Hinrichtung jemanden fragen hörte, wo Gott nun sei. Und eine Stimme in ihm antwortete: „Hier, da ist er, da hängt er an diesem Galgen“ (Ders., Night, New York [Bantam Books] 1982, 62). Dass und inwiefern jüdisches Selbstverständnis diese Interpretation nicht ohne weiteres im christlichen Sinne übernehmen kann, hat Fackenheim hervorgehoben (vgl. Ders., God’s Presence in History, 77ff). 167 Gutmann, Art. Kreuz, 323. 168 Belting, Bild-Anthropologie, 8.

213

Tötung [liegt], sondern in der Gabe“.169 Über Girards Interpretation der biblischen Opfererzählungen hinaus, „in der Schuldlosigkeit und freiwilligen Lebenshingabe [… deren] Zentrum [… zu] sehen“, betonen die Passionserzählungen aber die „Aufhebung der Reziprozitätslogik überhaupt, nicht nur der Gewalt-, sondern auch der Gabenreziprozität.“ So werden „Lebensgefühle und Haltungen“ wie „schlechthinnige Abhängigkeit, Dankbarkeit und Vertrauen gegenüber Gott“ eröffnet, „die Individualitäts- und Sozialitätsentwürfe provozieren, die nicht ‚in sich selbst verkrümmt‘ und nicht rigide (‚gesetzlich‘) sind und doch gerade auf die Lebensinteressen derer acht haben, die in der von der Konkurrenz individueller Wirtschaftssubjekte beherrschten Gesellschaft verloren zu gehen drohen.“ (330f)

6.5 Symbol und Allegorie: Zur Differenz von objektiver Geltung und subjektiver Deutung Benjamin ist am barocken Trauerspiel die Allegorie als Form auffällig geworden. Seiner Deutung zufolge bringt sich in ihr das seiner sozialen und metaphysischen Bindungen entbettete neuzeitliche Subjekt in seiner ihm eigenen Ambivalenz zum Ausdruck.170 Doch auch dem Symbolbegriff hat Benjamin differenzierte Betrachtungen gewidmet. Was ist mit seiner Unterscheidung von Symbol und Allegorie anzufangen? Und was bringt der Rückgang auf einen engeren Symbolbegriff, nachdem mit Cassirer ein weiterer erschlossen wurde? Die Antwort kann nur lauten: Ähnlich wie die zur Religionshermeneutik ausgeweitete Kulturhermeneutik Gräbs der Prägnanz der Religion in der Kultur auf der Spur ist, lässt sich der Symbolgebrauch in der Literatur, im Drama, in der bildenden Kunst und auch im Gottesdienst mit Benjamins Unterscheidung prägnant präzisieren.171 Cassirers weiter Begriff des Symbols umfasst „alles Sinnliche, das als Zeichen für etwas fungiert“,172 alles Sinnliche im Sinne des „Inhalts bzw. Gehalts der äußeren Wahrnehmung“. Unter „symbolischer Form“ versteht er „jene Energie des Geistes, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird“.173 Symbolisch ist hier nicht dasjenige, was über das Buchstäbliche hinausgeht, denn auch das Buchstäbliche ist „Produkt einer symbolischen Formung“ (34). Positiv formuliert: Symbolisch ist eine all———— 169 Gutmann, Art. Kreuz, 328. 170 Vgl. Dober, Die Moderne wahrnehmen, 337–352. 171 Die folgenden Überlegungen nehmen den Faden auf, den ich in meiner Untersuchung zum Werk Benjamins nicht mehr weiter habe verweben können (Dober, Die Moderne wahrnehmen, 425–428). 172 Graeser, Cassirer, 33. 173 Graeser, ebd., zit. Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs [1956], 175.

214

gemeine, erkenntnistheoretisch funktionale „Vorbedingung für alles Erfassen von ‚Gegenständen‘ oder ‚Sachverhalten‘“ (ebd. zit. Cassirer). Auch das Allegorische als eine Form der Kunst wäre somit eine bestimmte Erscheinungsweise symbolischer Formen. Demgegenüber gebraucht Benjamin in seinen ästhetischen Analysen einen engeren, wohl aber ausdifferenzierten Symbolbegriff, den er dem Begriff der Allegorie gegenüberstellt. Hierbei schließt er wie Cassirer an Platons Ideenlehre an und setzt sich mit Goethes Symbolbegriff auseinander.174 Doch während Cassirer mit Vischer das Allegorische als eine mittlere Stufe zwischen dem Mythischen und dem Symbolischen begreift (36), ist es Benjamin zufolge eine moderne Form, die eine eigene Dialektik entfaltet und in deren Spannung dem Symbolischen standzuhalten vermag. Das Allegorische ist ihm zufolge eine Form „profaner Erleuchtung“, und das nicht zuletzt in seinen emblematischen Weiterentwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert Prägnant präzisierend werden Benjamins Distinktionen aber dadurch, dass er einen „echten“ von einen unechten, abgeleiteten und defizienten Symbolbegriff unterscheidet, wie er etwa im modernästhetischen Symbolismus vorkommt. Der echte Begriff ist durch „Einheit von sinnlichem und unsinnlichem Gegenstand“175 bestimmt, und d. h. in semiotischer Terminologie: Die Zeichen verweisen in einem funktionalen, immanenten System von Verweisen nicht nur aufeinander, sondern über sich und diesen immanenten Zusammenhang hinaus. In Benjamins echten Symbolbegriff ist somit die Einsicht aus dem frühen Sprachaufsatz eingegangen, dass die Sprache niemals bloße Zeichen gibt, die dann auf ihre semantischen und pragmatischen (kommunikations- theoretischen) Korrelate verweisen (wodurch die Sprache technisch beherrschbar würde), sondern an den Rändern von Sprechakt und Sinn ist ein Verweis auf Unausgesprochenes bzw. Unaussprechliches zu erkennen.176 Diese Wahrnehmung einer auratischen sprachlichen Wirklichkeit, in der die Ferne des Unausgesprochenen bzw. ———— 174 Während Benjamin an Creuzer anschließt, ist Schelling der Bezugspunkt Cassirers (vgl. Graeser, 35). 175 Benjamin, GS I/1, 336 [Ursprung des deutschen Trauerspiels]. Nota bene kongruiert Benjamins echter Symbolbegriff mit dem, den Hegel seinem Begriff echter Religion vorausgesetzt hat (vgl. Fackenheim, The Religious Dimension in Hegels Thought, 119–124, 124). 176 Benjamins frühen Aufsatz „Über Sprache überhaupt“ habe ich an anderer Stelle interpretiert (Dober, Die Moderne wahrnehmen, 96–119), seine Theorie medialer Sprache habe ich mit Blick auf die Praxis der Seelsorge fruchtbar zu machen versucht (Dober, Seelsorge, 247–251). Im Übrigen besteht eine Ähnlichkeit zwischen Benjamins Kritik einer Lehre vom „bloßen“ Zeichen im Sprachaufsatz und Cassirers Verständnis des Zeichens „in einem engeren Sinn“. Wie Husserl unterscheidet er von dem zum Symbol werdenden Zeichen vermittels seiner Funktion, „Träger einer Bedeutung“ zu sein, solche Zeichen, die nichts zum Ausdruck bringen, außer dass sie eine „Funktion des Anzeigens“ erfüllen. „In dieser Weise kann etwa der Rauch das Feuer, der Donner den Blitz bezeichnen.“ Anders das symbolische Zeichen (Graeser, Cassirer, 37).

215

Unaussprechlichen auf die Nähe des Ausgesprochenen bzw. Aussprechlichen verweist und vice versa, kann sich Benjamin zufolge in allen Äußerungen der Sprache verifizieren lassen. Derartige Komplexität im medialen Sprachgebrauch vermag zwar die alltäglichen Anforderungen im instrumentellen auch zu behindern, wenn man im Gebrauch nicht angemessen zu unterscheiden vermag. Zu bewähren ist Benjamins Theorie der Sprach-Aura aber vor allem im Bereich des Ästhetischen, und das um so mehr, als das Ästhetische in die Dimension der Religion gestellt wird. Weiterhin gilt für das „echte“ Symbol, dass in ihm die „Bindung eines Wahrheitsgehaltes an einen Sachgehalt“ „unauflöslich und notwendig“ erscheint.177 Das Symbol ist gebunden an die Phänomene und ihre Darstellung in der bildenden Kunst, in der Musik, der Dichtung, oder – im Fall von Taufe und Abendmahl – auch an die Elemente Wasser bzw. an die Realien Brot und Wein. Am Beispiel der Einsetzungsworte des Abendmahls lässt sich diese Bindung des Wahrheits- an einen Sachgehalt besonders klar und deutlich aufzeigen. Das Brot und der Wein werden „für euch“ gegeben „zur Vergebung der Sünden“, und solches geschieht zu seinem, Christi „Gedächtnis“. Auch in diesem Zusammenhang ist ein allegorisches Spiel mit den Bedeutungen möglich, wie oben gezeigt, doch dieses ist korrigierbar durch die feststehenden Bedeutungen eben der gesprochenen Worte. Jedenfalls lässt sich Benjamins Begriff des echten Symbols ohne Schwierigkeit auf die christliche Symbolik beziehen, wie sie anhand der Sakramente und der Darstellungen der Kunst der Tradition angeschaut und gedeutet werden kann. D. i. auch anhand der Gemälde in der Sixtinischen Kapelle zu verifizieren (s. u.). Demgegenüber hat Benjamin einen „unechten“ Symbolbegriff am modernästhetischen Symbolismus aufgezeigt178 und ihm (Goethes Abwertung zum Trotz) die Allegorie als fragmentarische Form gegenübergestellt. Während dem kritisierten Symbolbegriff romantischer Ästhetik zufolge „das Schöne bruchlos ins Göttliche übergehen“179 sollte, steht die Allegorie als Form für den Verlust eines kohärenten Zusammenhangs von Wahrem, Schönem und Guten ein. Mit ihrem Auftreten im Barock ist sie „auf eine kontingente Realität“ bezogen, und diese wird nun „neu auf eine verborgene, angeblich in ihr enthaltene Seinsordnung hin“ interpretiert, „nachdem die alte zerbrochen ist“.180 In einer Dialektik der ästhetischen Formen in den historischen Kontexten ihres Auftretens führt nun offensichtlich eine Entwicklungslinie von der barocken Allegorie zum – romantisch geprägten – ———— 177 178 179 180

216

Benjamin, GS I/1, 153 [Goethes Wahlverwandtschaften]. Vgl. Dober, Die Moderne wahrnehmen, 343ff. Benjamin, GS I/1, 337 [Ursprung des deutschen Trauerspiels]. H. Steinhagen, Zu Walter Benjamins Begriff der Allegorie, 669.

modernästhetischen Symbolismus, verbirgt sich doch auf dessen Rückseite eben die Allegorie und nicht etwa das (echte) Symbol. Doch Benjamins Interesse gilt im Trauerspielbuch nicht nur der Kritik dieser – mit Nietzsches Versuch einer ästhetischen Rechtfertigung des Daseins wahlverwandten – Tendenzen, sondern auch dem Aufweis eines verborgenen Verweises der Allegorie auf den Zusammenhang eines Ganzen, der allerdings in ihr nicht repräsentiert ist und der von ihr aus auch nicht – in der Weise der Antizipation – überblickt werden kann. Das Verständnis der Allegorie als einer Kunstform, die den offenen Verweis auf Erlösung in sich trägt, setzt aber voraus, dass die ästhetische Reflexion in einen theologischen Deutungsrahmen gestellt wird, den Benjamin denn auch ausdrücklich gemacht hat.181 Benjamin vollzieht die an Goethe ablesbare „Verlagerung der transzendenten Form aus dem überhimmlischen Ort in die Wirklichkeit“ nicht mit, „wo die Form nunmehr zu einen Allgemeinen wird, das ‚nur in seinen Besonderungen ist und lebt‘.“182 Im Kontext einer umfassenden Interpretation des Denkens von Benjamin vermag dessen Reflexion über das Verhältnis von Symbol und Allegorie also durchaus den liturgischen Gebrauch des Symbolbegriffs prägnant zu präzisieren. Im Folgenden ist zu fragen, was den Symbolen in ihrer dialektischen Bezogenheit auf allegorische Intention Geltung verschafft: Die Institution mit der ihr eigenen Macht, oder die Überzeugung des Rezipienten? Und wenn es – wie im protestantischen Selbstverständnis – keine objektive Geltung ohne subjektive Zustimmung geben kann, wäre auch am Beispiel neuer Lieder und Darstellungen christlicher Symbole nach Kriterien zu fragen, die unter der Voraussetzung der notwendigen rezeptionsästhetischen Gesichtspunkte ein Abgleiten in die Beliebigkeit der Vorstellungen verhindern. Im – mit Benjamin zu sprechen – „echten“ Symbol wären solche Kriterien zu suchen. Sein Begriff wäre so zu fassen, dass dem „leihenden Akt“ der Menschenseele, der zur Beseelung des Unbeseelten führt,183 die von Benjamin beschriebene auratische Erfahrung als anderer Pol eines Spannungsverhältnisses der Rezeption gegenübergestellt wird. Denn so wird auch eine Anschauung des Anschauenden durch das Angeschaute denkbar. Die Frage ist m. a. W., ob das Symbolische „als seelische Projektion und Beseelung des Unbeseelten“184 erschöpfend zu fassen ist, oder ob mit dieser vorausgesetzten Bestimmung nicht die gegenläufige Annahme von vornherein ausgeschlossen ist, von der Benjamin ausging: dass die Wahrheit im Symboli———— 181 Vgl. Dober, Die Moderne wahrnehmen, 195–267 [Benjamins Messianismus als eine inverse Gestalt der Theologie in der Moderne]. 182 Graeser, Cassirer, 35 mit Bezug auf Cassirer. 183 Das sind Formulierungen Vischers, die Cassirer seiner Fassung eines weiten Symbolbegriffs vorausgesetzt hat (Graeser, Cassirer, 36f). 184 Graeser, Cassirer, 37.

217

schen sich geben kann, dass das Symbolische auch umgekehrt die Seele des Menschen beseelen kann, wenn er sich denn auf die hier zusammengefassten Sinngehalte einstellt. 6.5.1 Das Beispiel der Sixtinische Kapelle: Der Anspruch objektiver Geltung, in der Kunst dargestellt Die religiösen Symbole der Tradition treten auf in der Weise der Autorität. Das ist so wegen des Wahrheitsanspruchs, der sie trägt, und das war jedenfalls einmal so wegen der traditionalen Gebundenheit elterlicher Autorität an die religiösen Symbole. Das war so auch in den Zeiten, als die Kirche mit Macht ihren Einfluss auf die Seelen der Menschen geltend zu machen begann.185 Die Autorität mochte und mag theologisch mehr oder weniger gut begründet sein, ohne theologische Begründung aber würde das Symbol seine Kraft verlieren. Es gibt wenige Orte auf der Welt, an denen das so deutlich zu sehen ist wie in der Sixtinischen Kapelle des Vatikans, dieses „liturgischen Zentrums des Papstpalastes“.186 Wer sich den Zusammenhang der Bilder in dieser von Papst Sixtus IV. zwischen 1473 und 1481 gebauten Kapelle vor Augen führt, sieht: Die christliche Symbolik tritt im Kontext einer Heilsgeschichte auf, in der jedem einzelnen Moment seine semantische Stelle zugewiesen wird; es besteht ein Herrschafts- und Geltungsanspruch der Begriffe, die diesen Zusammenhang ordnen. Der im Kontext meiner Fragestellung entscheidende ikonographische Gesichtspunkt ist, dass der Zusammenhang der von unterschiedlichen Künstlern zu unterschiedlichen Zeiten geschaffenen Bilder heilsgeschichtlicher Art ist.187 Zwischen 1480 und 1483 waren die Seitenwände dieser langen, riesig hohen Versammlungshalle von den bedeutendsten Malern der Zeit ausgestaltet worden, zu denen S. Botticelli, D. Ghirlandaio, C. Rosselli und L. Signorelli gehörten. Erst zwischen 1508 und 1512 hatte Michelangelo Buonarotti im Auftrag von Papst Julius II. die Decke al fresco ausgemalt, indem er den Eindruck der Größe durch ein „nach oben illusionistisch geöffnetes Architektursystem“ noch verstärkte.188 Und zwischen 1536 und ———— 185 Diesen Zusammenhang habe ich am Beispiel der abendländischen Entwicklung von Buße und Beichte an anderer Stelle dargestellt: Dober, Seelsorge, 36–43. 186 RGG4, Bd. 7, Sp. 1363. 187 Die einzelnen Bilder erforderten jeweils eine gesonderte Betrachtung, die hier nicht zu leisten ist. Das gilt um so mehr für die von Michelangelo geschaffenen Werke. Vgl. aber R. Hohl, Die Sixtina. De Vecchi/Colalucci, Die Sixtinische Kapelle. H. Pfeiffer S. J., Die Sixtinische Kapelle neu entdeckt. 188 Vgl. H. W. Hubert, Art. Sixtinische Kapelle, in: RGG4, Bd. 7, Sp. 1363; E. H. Gombrich, Die Geschichte der Kunst, 242ff; A. Tartuferi, Michelangelo.

218

1541 kam noch das gewaltige Fresco mit dem „Jüngsten Gericht“ an der Stirnseite des Saales hinzu. Es ist in der Tat, als blickte man „in eine andere Welt: eine Welt von übermenschlichen Ausmaßen.“189 Wer diesen Saal, in dem früher die Päpste gewählt wurden, als Tourist betritt, fühlt sich beinahe erschlagen von der Fülle der unterschiedlichen Bilder. Wenn es denn die hier zufällig versammelten Menschenmassen gestatten, sich in Ruhe umzuschauen, lässt sich durchaus ein Geflecht von Bedeutungen erkennen, das die einzelnen Bilder miteinander verbindet. Der heilsgeschichtliche Bogen ist von der biblischen Urgeschichte, wie sie sich auf der Decke dargestellt findet,190 bis zum Jüngsten Gericht gespannt, auf das man wie in die Zukunft blickt, wenn man sich nach einem ersten Gang den Gemälden an den Seitenwänden entlang umdreht. Der gespannte Bogen der Heilsgeschichte umfasst den Anfang und das Ende, Alpha und Omega, wie es auch im evangelischen Lied mit Christus in Verbindung gebracht wird: „Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude; / A und O, Anfang und Ende steht da. / Gottheit und Menschheit vereinen sich beide; / Schöpfer, wie kommst du uns Menschen so nah!“191. In typologischer Gegenüberstellung finden sich an den Seitenwänden einerseits Szenen aus der Mosegeschichte dargestellt, die mit dem Aufschub endet, den Mose am Ende anerkennen muss: Er selbst hat das gelobte Land, in dem Milch und Honig fließen, nicht mehr betreten dürfen. Sein Werk war die Wegbereitung der Landnahme gewesen, ein entbehrungsreiches Durchqueren der Wüste, in der der schwierige Bildungsprozess zu bewältigen war, ein Leben nach Gottes Gebot und Geheiß zu führen. Ans Ziel zu kommen musste er anderen überlassen – nach den alttestamentlichen Berichten seinem Nachfolger Josua, und nach der typologischen Auslegung der Kirche, die sich auf Paulus berufen konnte, dem neuen christlichen Gottesvolk, das sich zum Glauben an Jesus als den Christus bekannte (und bis heute bekennt).192 Konsequent sind andererseits Szenen aus dem Leben Jesu dargestellt – bis hin zum Abendmahl, und nicht etwa zu Kreuz und Auferstehung (die ———— 189 Gombrich, Die Geschichte der Kunst, 242. 190 Besonders eindrücklich sind die Schöpfung (Gott scheidet das Licht von der Dunkelheit, Himmel und Erde werden geschaffen, Gott trennt das Wasser von der Erde, Adam wird erschaffen, dann Eva), der sog. Sündenfall, die Vertreibung aus dem Paradies und die Sintflut (die Arche erhebt sich wie ein Bauwerk aus den Fluten und symbolisiert „die Kirche, die allein die Menschheit vor der Todsünde retten kann“ [Tartuferi, Michelangelo, 55]), aber auch die Trunkenheit Noahs dargestellt. 191 EG Nr. 66, 1. 192 Zwischen der Geschichte Jesu und der des Mose spielen einige Korrespondenzen. So hat man etwa in der Darstellung der Bestrafung der Rotte Korah eine Allegorie auf die „reformlüsternen Zweifler an der Autorität des Papstes“ gesehen, wie sie durch die Schlüsselübergabe begründet ist (Hohl, Die Sixtina, 7).

219

allerdings im „Jüngsten Gericht“ vorausgesetzt ist). Der Darstellung des Abendmahls ist die der Übergabe der Schlüssel an Petrus vorgeschaltet, eines goldenen für die geistliche, eines silbernen für die weltliche Macht. Die katholische Kirche des ausgehenden 15. und dann des 16. Jahrhunderts konnte in diesem Saal von gewaltigen Ausmaßen, die dem damals ebenso gewaltigen Einfluss der Kirche entsprachen, ihrer geistigen Legitimation im sinnlichen Scheinen heilsgeschichtlicher Überzeugungen ansichtig werden. Dass Michelangelo darüber hinaus den Genesiszyklus auf der Decke gestaltet hatte, flankiert „von kolossalen Propheten- und Sibyllenfiguren“,193 hatte den symbolischen Begründungszusammenhang des eben nicht nur geistigen, sondern auch geistlichen Machtanspruchs der katholischen Kirche bis zu den Anfängen, bis zum Ursprung der Welt und des Menschen ausgeweitet; angedeutet, erwartet, ja vorgesehen war dieser Zusammenhang der Darstellung zufolge sowohl in der Prophetie des Alten Testaments als auch in den Hoffnungen, ja in der Weisheit der heidnischen Antike. Michelangelo „ließ […] gewaltige Bilder alttestamentarischer Propheten, die den Juden das Kommen des Messias verkündet hatten, mit Bildern der Sibyllen abwechseln, die nach einer alten Überlieferung den Heiden die Erlösung prophezeiten. Er malte sie als machtvolle Männer und Frauen, die tief in Gedanken versunken dasitzen, lesen, schreiben und diskutieren oder einer inneren Stimme zu lauschen scheinen.“194

Beiden Endpunkten der Bilder-Reihen an den Seiten, dem Aufschub geschichtlicher Verheißung nach den Heiligen Schriften des Judentums, die für die Kirche zum Alten Testament geworden waren, auf der einen Seite, und der Legitimation kirchlicher Macht auf Erden kraft ewigkeitsbedeutsamer Symbolik auf der anderen, steht, wenn man sich zum Anfang der Geschichte zurückwendet, das Jüngste Gericht gegenüber, in dessen Darstellung durch Michelangelo nota bene manch historischer Stoff eingegangen ist.195 Deutlich genug wird die Heilsgeschichte hier in Bildern erzählt, und diese Bilder verknüpfen die Heils- mit der Weltgeschichte. Das Ende steht für die beiden Stränge auf der linken und auf der rechten Seite zwar noch aus. Doch deutlich genug ist auch der Anspruch der Kirche auf Erden, die Bedeutung des Ewigen im Symbol zu verwalten. Auch in diesem Sinne hatte Papst Pius XI. anlässlich der Unterzeichnung der Lateranverträge zur Gründung des Vatikan-Staats 1929 verlauten lassen: „Es ist wirklich wenig, sehr wenig, das wenigst Mögliche von Gebiet, das wir verlangt haben, und zwar mit voller Absicht; jenes wenige an Gebiet, ohne das die Souveränität nicht bestehen könnte, weil sie nichts hätte, wo sie sich niederlassen dürfte.

————

193 RGG4, Bd. 7, ebd. 194 Gombrich, Die Geschichte der Kunst, 244. 195 Vgl. D. Kupper, Michelangelo, 106ff.

220

Es scheint uns, als seien die Dinge an dem Punkt, an dem sie beim heiligen Franziskus waren: das bisschen Körper, das genügt, die Seele zusammenzuhalten.“196

Das Bedürfnis nach einem kleinen Stück Land, das wie ein „bisschen Körper“ genügte, „die Seele [hier: der katholischen Kirche] zusammenzuhalten“ – das könnte, wenn man das in der Sixtina dargestellte Verhältnis von der Geschichte Jesu, die zur Kirche, und der Geschichte des Mose, die zur Landnahme führt, auf die Gegenwart bezieht, mutatis mutandis auch für die Bedürfnisse eines in die Geschichte zurückgekehrten Judentums, will sagen: für die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 gelten. 6.5.2 Der Moses des Michelangelo in der Sicht Freuds Ohne Zweifel handelt es sich im Fall der Bildergalerien der Sixtinischen Kapelle um Darstellungen christlicher Symbolik. Doch die einzelnen symbolischen Geschichten, Szenen und Motive sind durchaus auch nach Maßgabe der gestalterischen Freiheit des Künstlers ausgearbeitet. Das ist an den historischen Anspielungen in Michelangelos „Jüngstem Gericht“ ebenso zu sehen wie in der Ausgestaltung der Schöpfung Adams und Evas, der Versuchung im Paradies und der Vertreibung aus ihm. Jeweils ist subjektive Deutung in die symbolische Darstellung schon mit eingegangen. Und so ist auch hier der Anspruch objektiver Geltung, von bestimmten Menschen, Päpsten, Theologen und Künstlern erhoben und dargestellt, in einer bestimmten historischen Situation durch die Subjektivität des Denkens, Verstehens und Assoziierens hindurchgegangen. M. a. W. findet sich allegorische Intention auch schon in diesen Bildern. a. Der Moses des Michelangelo Deutlich ist das auch anhand von Michelangelos „Mose“ zu sehen, der in der Basilika S. Pietro in Vincoli in Rom besichtigt werden kann. Diese Skulptur veranschaulicht erst einmal auf eine von vielen Weisen, wie sich in dieser Stadt die Antike und die Moderne gegenseitig durchdringen. Die Moderne zitiert das Altertum, und verwandelt sich die Impulse aus der Vergangenheit an. Der „Moses“ – Rest eines größeren Projekts, das nicht durchgeführt wurde – ziert das Grabmal von Papst Julius II. Vollendet wurde es im Jahr 1547. Beeindruckend ist erst einmal diese hohe Kunst, aus Marmorblöcken mit Hammer und Meißel Gestalten zu schaffen, die den lebenden zum Verwechseln ähnlich sind. Auch die Renaissance, der Michelangelo zugehörte, zitierte ja die Antike. Und eine der damals gängigen ———— 196 Hülsen/Rast, Rom, 156.

221

Zitierweisen im Bereich der Kunstformen war die antike Bildhauerei. Ohne Zweifel gehört Michelangelo zu den ganz großen Meistern dieser Kunst. Der Bildhauer muss die Gestalt bis in die kleinsten Details vor dem inneren Auge haben, um dann mit allergrößter Vorsicht und Behutsamkeit Schlag für Schlag die Einzelheiten, und schließlich das Ganze freizulegen. Welche geistige Konzentration erforderte nicht diese körperlich anstrengende Arbeit. Ganz originalgetreu wie eine Photographie oder wie der Film ist die Bildhauerei nie gewesen. Aber die Annäherung an die wahrgenommene Realität, zu der Michelangelo fähig war, erstaunt bis heute.197

Abb. 13: Rom, Basilica di San Pietro in Vincoli: Der Mose des Michealangelo

———— 197 Mit Blick auf die Darstellung des weiblichen Körpers scheinen allerdings die Anschauung und vielleicht auch das Interesse gefehlt zu haben. Dafür sprechende Beispiele sind die Darstellungen der Abenddämmerung und Morgenröte bzw. von Nacht und Tag auf den Sarkophagdeckeln des Lorenzo de Medici und des Giulino de Medici in Florenz.

222

Die Kunstfertigkeit des Künstlers ist das eine. Ein anderes ist aber die persönliche Note, die der Künstler seiner Darstellung gegeben hat. Michelangelos symbolische Skulpturen (und ohne Zweifel ist Mose eine symbolische Gestalt) sind auch Interpretationen durch den Ausdruck, den er ihnen gegeben hat. Der Begriff ist mit Adorno so zu fassen, dass Kunst insofern „ausdrucksvoll“ ist, als „aus ihr, subjektiv vermittelt, ein Objektives spricht: Trauer, Energie, Sehnsucht. Ausdruck ist das klagende Gesicht der Werke.“198 Dargestellt ist in dieser Skulptur durchaus eine „antiharmonische Geste“ Michelangelos (168). Mit seiner Darstellung des Moses hat er aber wohl etwas über die menschliche Situation überhaupt sagen wollen. Wenn man danach fragt, was die subjektive Deutungsintention des Künstlers hier gewesen sein könnte, wird man sich bei einem kleinen Aufsatz Rat holen können, den Sigmund Freud über diese Statue geschrieben hat (1914).199 Freud ist häufig in Rom gewesen, und vor dieser Skulptur hat er viele Stunden in stiller Meditation verbracht. Die Deutungen, auf die er aufbaut, stimmen darin überein: Mose hält die Gesetzestafeln im rechten Arm. Sein Gesichtsausdruck, die Stellung der Beine (und vor allem des linken Fußes), und die merkwürdige Stellung der Tafeln müssen wohl so verstanden werden: Er ist dargestellt im Augenblick eines ihn seelisch tief berührenden Erschreckens. Nach der Bibel muss das die Missachtung der Gebote gewesen sein, die er gerade – auf Steintafeln geschrieben – vom Berg heruntergebracht hatte. Man tanzte um das goldene Kalb, und verstieß damit gegen die ersten drei Gebote, die das Gottesverhältnis in die menschliche Verantwortung stellen (nach Exodus 20,2–7): erstens wurde mit dem goldenen Kalb ein anderer Gott verehrt als der, der Israel aus der Sklaverei in Ägypten geführt hatte, zweitens hatte man sich mit dieser aus geschmolzenen Schmuckstücken notdürftig hergestellten Gestalt ein Bild gemacht, ein Ideal der Stärke und der Fruchtbarkeit, auf das sich alle möglichen unerfüllten Wünsche richten konnten, die sich während der entbehrungsreichen Wüstenwanderung aufgestaut hatten, und drittens hatte man mit dieser Darstellung dessen, was man für höchst wünschenswert und verehrungswürdig hielt, den Namen des unsichtbaren Gottes missbraucht, der selbst unaussprechlich ist, obwohl er mit „Herr“ (Adonai) angesprochen sein will und kann. Mose war er bekannt als der Gott eines Versprechens („ich werde [da]sein, [als] der ich [da]sein werde“ [Exodus 3,14]). Was interessierte einen Künstler im Auftrag der katholischen Kirche an dieser Gestalt aus dem Alten Testament? Hat er sich selbst als Interpret des Schriftwortes in bildlicher Gestalt verewigt, der den Sinn des Bilderverbots ———— 198 Adorno, Ästhetische Theorie, 170. 199 Freud, StA X, 195–222.

223

nicht in einem Kunstverbot hat erblicken können, wohl aber darin, dass nur Differenzmomente in der Darstellung selbst eine in Stein gehauene Skulptur als Interpretation des Dekalogs legitimieren können? Welche Differenzmomente das genauerhin sind, kann mit Freud herausgearbeitet werden. Man wird aber annehmen dürfen, dass auch das keineswegs spannungsfreie Verhältnis zwischen Papst und Künstler in dieser Darstellung eine Repräsentation gefunden hat. Immerhin war Michelangelo 1506 vor Julius II. auf florentinisches Territorium geflohen, wo er sich unter dem Schutz seiner Heimatstadt dem Zugriff von dessen Kurieren entziehen konnte.200 Die Gestalt des Mose wachte dann auch über einem Papst, dessen Handeln als ein menschliches nicht frei von Ambivalenzen gewesen ist. Oder der Papst, der dem Künstler den Auftrag zur Ausgestaltung der Sixtinischen Kapelle gegeben hatte, findet in dieser Gestalt einen Spiegel, hat er sich doch selbst als Gesetzgeber am Modell des Mose orientieren müssen. Seine Gesetze hat er nicht gegen, sondern nur in Übereinstimmung mit dem Sinn des Dekalogs erlassen dürfen, auch wenn er sich in einer Mose ähnlichen Position befunden hat – und wer hat sich von Paulus bis Freud nicht als einen mose redivivus verstanden? b. Freuds Interesse und seine Deutung Mehr noch aber scheint mir die Deutung Freuds als ein Beispiel für die allegorische Intention dienen zu können, die in die jeweilige Auseinandersetzung mit einem symbolischen Kunstwerk eingeht (und in gewisser Weise auch eingehen muss). Mose steht erst einmal für die politische (und vielleicht auch charismatische) Autorität, unter der ein unterdrücktes Volk in die Freiheit geführt wurde. Der Weg ging bekanntlich durch die Wüste. Das ist symbolisch, denn die Freiheit wird niemandem gegeben, ohne dass er dafür nicht auch kämpfen müsste. Der Weg dorthin ist hart. Und die Versuchung auf diesem Weg besteht u. a. darin, zu den „Fleischtöpfen“ Ägyptens (oder in die Geborgenheit kindlicher Existenz) zurückkehren zu wollen (zu „regredieren“, würde Freud sagen), was allerdings die Preisgabe der gewonnenen Freiheit bedeuten würde. Mose steht außerdem für eine religiöse, eine kulturelle und eine moralische Autorität. Diese drei Aspekte lassen sich am inneren Zusammenhang des Dekalogs deutlich machen. Die ersten drei Gebote handeln, wie gesagt, vom menschlichen Verhältnis zu Gott. Man kann auch sagen: Sie handeln von der menschlichen Verantwortung, die Idee Gottes rein zu erhalten, sich an sein Handeln zu erinnern, und auch im Tun, im praktischen Leben Gott zu dienen. Die folgenden zwei Gebote, den Feiertag zu heiligen und die ———— 200 Kupper, Michelangelo, 69ff.

224

Eltern zu ehren, verknüpfen diesen ersten Teil mit den Anforderungen, die sich aus dem Vergehen der Zeit ergeben. Sich fortzupflanzen, und das an die junge Generation weiterzugeben, was wichtig und elementar geworden ist, gehört zur Menschlichkeit wesentlich hinzu. Die menschliche Gesellschaft und die Religion in ihr ist auf Überlieferungen angewiesen. Dazu bedarf es zweierlei: Zum einen muss es Stellen im Kalender geben, die aus dem geschäftigen Leben ausgespart sind. Feiertage, Ruhepunkte mit der Gelegenheit, sich zu versammeln. Es geht um die Möglichkeit, Feiertage gemeinsam zu begehen, aus der Tradition vorgelesen zu bekommen, in der Familie zu diskutieren, und von der älteren an die jüngere Generation weiterzugeben, was wichtig ist. Hier ist die Verantwortung der Älteren gefragt. Zum anderen wird aber auch die Verantwortung der Jüngeren ausdrücklich hervorgehoben. Jedes der beiden Verantwortungs-Verhältnisse ist asymmetrisch.201 Die alttestamentlichen Geschichten beschreiben diese Verhältnisse in vielen Facetten. Auf der zweiten Tafel schließlich finden sich die Gebote, die das zwischenmenschliche Verhältnis regeln. Die Grenze meiner Freiheit ist die Freiheit des anderen. Das „Gesetz“, das Mose bringt, sucht die Freiheit des einen auf den Freiheitsanspruch des anderen zu beziehen. Es geht um die Würde des andern, die in seiner Gottebenbildlichkeit besteht. Es geht um seine Unversehrtheit (nicht töten im Sinne von nicht morden), um das Geschlechterverhältnis, um eine Verantwortung für den anderen über das erotische Begehren hinaus, das ja erst einmal verantwortungslos ist – Begehren aus den Quellen der einzelnen Seele heraus (nicht ehebrechen). Es geht um den Schutz des Eigentums, man könnte auch sagen: der Individualität des anderen, die sich auch in den Dingen zum Ausdruck bringt (nicht stehlen), und es geht um die Integrität des anderen als einer öffentlichen Person, deren Ansehen durch „falsches Zeugnis“ geschädigt werden kann. Insgesamt geht es um eine Kontrolle, eine Regulation der Wünsche oder des Begehrens, wie es die letzten beiden Gebote nicht zu begehren zum Ausdruck bringen (Exodus 20,13–17). Diese Gebote in der Form von Verneinungen gründen die eigene Freiheit auf eine Verantwortung dem andern gegenüber, die elementar ist. Schließlich steht Moses auch für die Spannungen im menschlichen Dasein, für das Scheitern an moralischen Ansprüchen, für den inneren Kampf zwischen dem willigen Geist und der Schwäche des Fleisches, für den Aufschub der Verheißung: Er selbst darf das gelobte Land nur von Ferne sehen, betreten darf er diesen Boden nicht mehr. Damit sind einige der Motive berührt, die den Begründer der Psychoanalyse, den Arzt und Therapeuten, den Juden Freud an der Gestalt des Moses ———— 201 S. o. zum Generationenverhältnis: Abschnitt 6.4.3.

225

wohl angesprochen haben mögen. Freud hat die Skulptur folgendermaßen gedeutet: Michelangelo habe den Mose in einem ganz bestimmten Augenblick dargestellt. Eben noch müsse die rechte Hand mit festem Griff den gewaltigen Bart umfasst haben, als ob eine innere Regung, eine Aggression sich auf diese Weise Abfuhr verschafft habe. Aber Mose habe seine Emotionen zu beherrschen vermocht. Die so auffällig in den Bart gelegte Hand sei in dem Moment dargestellt, als sie den festen Griff gelöst habe. Und das auch, um zu verhindern, dass die Gesetzestafeln zu Bruch gehen. Durch die Lösung der im Affekt in den eigenen Bart verkrallten Hand, seien die Tafeln mit der Spitze auf den Sitz geglitten, ohne Schaden zu nehmen. Mose steht somit für die Ethik der Psychoanalyse. Sie gründet auf dem „armen, schwachen Ich“, von dem Freud einmal schrieb, es solle „Herr in seinem eigenen Hause“, in der eigenen Seele, sein. Es soll die Selbständigkeit des Menschen behaupten sowohl gegen die Kräfte des Wunsches und des Triebes, als auch gegen die manchmal übermächtig sich gebärdenden, verinnerlichten Normen. Das Ich zwischen „Es“ und „Über-Ich“ soll das Zentrum der Persönlichkeit ausmachen. Michelangelos „Moses“ stellt somit die Menschlichkeit des Menschen in einem Augenblick der Gefährdung dar. Ob das die tatsächliche Intention des Künstlers gewesen ist, sei dahingestellt. Freud aber hat in diesem Kunstwerk eine Bestätigung seines Denkens gefunden. c. Der Dekalog und Freud Wenn man danach fragt, auf welches Problem die Gebote eine Antwort gegeben haben, wird Freuds Deutung eine weitere Stütze finden können. Der Dekalog antwortet auf eine Grundfrage menschlicher Existenz, die auch in der griechischen Philosophie schon gestellt worden ist. Platon zufolge ist davon auszugehen, dass für den Menschen das Streben seiner Seele den Anfang macht. Die Seele ist zuerst ein Streben, ein Wünschen, ein Begehren, eine Intention. Dieses Streben richtet sich aber auf das Gute, genauer: auf die Idee des Guten.202 Hier öffnet sich ein weites Feld: es gibt ein Streben, das gut ist in bestimmten Hinsichten, in anderen aber nicht, gut für mich, aber nicht für die anderen, gut für die anderen, aber nicht für mich, gut für die Gesellschaft, oder nicht. Jedenfalls besteht aber die Weisheit, zu der ein nachdenklicher Mensch nach Platon gelangen kann, in der Einsicht, dass sich das menschliche Leben – als individuelles in Wechselbeziehung zu den Formen des Allgemeinen – zwischen diesem Streben und der Idee des Guten vollzieht. ———— 202 Vgl. Dober, Seelsorge, 73.

226

Erstaunlicherweise können nun auch die 10 Gebote in diesem Rahmen verstanden werden. Eine Spannung zwischen dem Streben der Seele, ihrem Begehren und Wünschen auf der einen Seite, und eine Auffassung vom guten Leben auf der anderen ist für diese Zusammenfassung eines elementaren Regelkanons vorauszusetzen, den der Mose des Michelangelo im rechten Arm hält. Auch den 10 Geboten zufolge ist das Wünschen immer an den Wirklichkeiten des Lebens zu korrigieren. Und das Begehren, all die dem Leben Dynamik verleihenden Kräfte des Strebens unserer Seele, findet seine Grenze eben am anderen Menschen, der uns begegnet. In der Begegnung mit ihm wird das Begehren in Verantwortung umgekehrt. Wenn man aber den Dekalog von seinem Anfang aus betrachtet, vermag eben dieser Text auch die Grenzen der psychoanalytischen Theorie zu überschreiten. Es ist von weitreichender Bedeutung, dass die 10 Gebote nicht mit den Worten „du sollst“, oder „du sollst nicht“ beginnen, sondern mit den Worten „ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus dem Lande Ägypten, aus dem Sklavenhaus, herausgeführt habe“ (Exodus 20,2). Eine Erinnerung geht den Aufforderungen voraus. Die Gebote gehen auf die Erfahrung zurück, befreit worden zu sein. Sie gelten Menschen, die zugleich verantwortlich sind, die verliehene, die geschenkte Freiheit nicht zu verspielen: die Freiheit in einem Gemeinwesen, in dem die anderen geachtet werden. Möglich ist das den zwei Gebotstafeln zufolge nur durch die Bindung der Freiheit an Verantwortung. Und diese Verantwortung gründet in einem sprachlichen Ereignis als einem Ursprung, von einem anderen „Ich“ zur Verantwortung, ja überhaupt erst einmal zum Hören gerufen zu sein. Wenn also gilt, dass Mose nicht nur eine kulturelle, sondern auch eine religiöse Autorität ist, dann geht es nicht nur darum, dass sich die Wünsche, Intentionen und das menschliche Begehren an den wirklichen Autoritäten dieser Welt brechen, sondern dass dieser gewissermaßen spontanen Bewegung der menschlichen Seele, diesem Sich-Übersteigen und Transzendieren-Wollen im Ursprung religiöser Erfahrung eine Gegenbewegung entspricht, durch ein Wort „von außen“ unterbrochen und zur Verantwortung gerufen worden zu sein.203 6.5.3 Caravaggios „Christus in Emmaus“ Als ein weiteres Beispiel, wie ein symbolischer Gegenstand – hier eben die Geschichte von der Begegnung des Auferstandenen mit den Jüngern in Emmaus – seine Aktualität, ja seine Kraft des Ausdrucks bis heute durch allegorische Intention – genährt durch die Lebenserfahrung des Künstlers – ———— 203 Dober, Seelsorge, 254.

227

gewinnt, sei Caravaggios von 1596 bis 1598 gemaltes Bild genannt. Der nach der norditalienischen Stadt, in der er geboren wurde, genannte Künstler Michelangelo Merisi hat intensiv und extrem gelebt. „Sein ganzes [und kurzes] Leben lang war er in die verschiedensten Schwierigkeiten verwikkelt gewesen, in Prozesse, die ihn ins Gefängnis brachten. Wieder in Freiheit, lebte er in ständigem Kampf und Streit.“204 Die „Heftigkeit“ seiner persönlichen Erfahrung ist auch in die Darstellung der Emmaus-Szene eingegangen. Sie „könnte leicht in einer jener Schänken spielen, in die Caravaggio so gern ging. Der Kneipenwirt steckt kampflustig die Daumen in seinen Gürtel, als wollte er sich mit einem seiner Gäste anlegen, der sich gerade in ein Thema zu verbeißen scheint. Ein anderer Mann wirft voll Erstaunen die Arme hoch, und der dritte will gerade aufspringen. Der Tisch wankt. Ein Korb mit Früchten wippt auf der Kante und wird wohl gleich auf die Erde fallen. Es könnte fast der Anfang einer Schlägerei in einer Schänke sein.“ (ebd.)

Doch die scheinbar so banale Szene nimmt zwar in der dem Künstler bekannten Alltagswelt ihren Ausgang, stellt sie aber in einem Licht, ja in einer Aura dar, die das Alltägliche übersteigt. In diesem Bild „verschmilzt das Natürliche mit dem Übernatürlichen in einer Weise, dass es schwer zu entscheiden ist, ob dies eine überreizte Kneipenszene oder ein religiöses Ereignis im Alltagsgewand ist.“ (ebd.) Wie in der biblischen Szene (Lukas 24,13–35) wird Christus durch zwei Jünger flankiert, ein nicht gerade gut betuchter Mann mit einem Loch im Ärmel zu seiner Rechten, und ein mit seinen schwieligen Händen arbeitender Mann, vielleicht ein Fischer, zu seiner Linken. Der vierte Mann, der Schankwirt, ist hinzu erfunden. Christus segnet das Brot, doch wie der dargestellte Jünger zur Rechten eine Gestalt in Lumpen, so ist auch Christus auf eine für viele damalige Betrachter schockierende Weise dargestellt. „Er ist ein dicklicher Jüngling, der offensichtlich gern Süßigkeiten isst. Er hat wulstige Lippen, und seine geschwungenen Augenbrauen sind um einiges zu feminin für einen Gott.“ (15) „Vielleicht war es die Absicht Caravaggios, den Betrachter einen Augenblick lang glauben zu lassen, es sei eine dieser Frauen, die man in Schänken trifft.“ (14) Wenn der Sohn Gottes nicht nur „wahrer Gott“, sondern auch „wahrer Mensch“ gewesen ist, so ist es auf den ersten Blick nicht zu entscheiden, wie er sich von den anderen unterscheidet. Der Künstler interpretiert somit zum einen die biblische Geschichte, der zufolge die Jünger ihren Herrn nicht gleich erkannt haben. Erst als er das Brot brach, gingen ihnen die Augen auf. Zum anderen stellt Caravaggio aber die Schwierigkeit dar, mit den Augen des Glaubens zu einer angemessenen ———— 204 A. Smith, Caravaggio (1573–1610), 13. Es handelt sich um das in der National Galery, London, zu sehende Bild im Unterschied zu dem Exponat in der Pinacoteca di Brera, Mailand.

228

Erkenntnis zu kommen. Doch er geht auch darüber hinaus, indem er in allem Realismus der ihm bekannten und dem Betrachter bis heute anschaulichen Welt – man betrachte nur die auf dem Tisch dargestellten Gegenstände so genau wie möglich – den Augenblick der Erkenntnis ins Bild setzt. Eben darauf scheint es ihm angekommen zu sein, dass im Nu, in einem nicht vorhersehbaren Moment die Dinge anders sich zeigen als gewohnt, und wie in einem Blitz die Bedeutung einer alltäglichen Geste erkennbar wird – ganz so, wie es auch im menschlichen Leben auf qualifizierte Augenblicke wahrer Erkenntnis ankommt, die eher unwillkürlich sich einstellen als dass sie willkürlich hervorgebracht werden könnten.

Abb. 14: London, National Galery: Caravaggio, Christus in Emmaus

Und diese vom Künstler gemalte Erkenntnis hat sowohl mit seinem Leben als auch mit dem zu tun, was er aus der Bibel wissen konnte. „Um Christus sind Menschen versammelt, die jene Haltung verkörpern, die Caravaggios Publikum ausdrückte: Misstrauen, Herausforderung, Schockiertsein [… Dieses Bild] ist mit Gefühl aufgeladen, mit [dem] Ausdruck heftigster Aktion, und zugleich ruht in ihm ein Kern von Geistigkeit, ja sogar von nüchterner Strenge. Es ist die Schöpfung eines Menschen, der zwischen zwei extremen Lebensweisen hin und her pendelte, bei dem Schlägereinen auf der Straße mit konzentrierter Arbeit in Zurückgezogenheit abwechselten. Caravaggios weitgespanntes Leben, seine Vertrautheit mit dem Landstreicher wie mit dem Kardinal machte es ihm möglich, dieses […] Bild zu malen, diese Mischung aus niedrigem Leben und hoher Kunst.“ (17)

229

6.5.4 Die Messe als symbolische Form in Kompositionen der Moderne Das von Benjamin geschilderte Spannungsverhältnis zwischen objektiver Geltung im Symbol und subjektiver Deutung in der Allegorie ließe sich an vielen weiteren Werken der bildenden Kunst verifizieren. Doch nicht nur in diesem Bereich ist es als ein strukturelles Moment in jeder Produktion und Rezeption von Kunst zu verstehen. Abschließend sei auch ein Beispiel aus der Kirchenmusik gegeben, die sich stets auf die objektive Geltung der Messe als symbolischer Form bezogen hat: Die musikalischen Formen unterlagen einem Wandel vom Gregorianischen Gesang im Mittelalter zu polyphonen Versionen im 14. Jahrhundert, Renaissance-Kompositionen im 15. bis hin zu Luthers Reformation auch der bestehenden Gottesdienstformulare und -konventionen. In der Geschichte der Musik vom Barock über die Klassik bis hin zur Romantik behauptete die Messe sich als ein formaler Orientierungspunkt, im 19. und 20. Jahrhundert erfuhr diese Form aber immer wieder neue allegorische Verfremdungen.205 Im Zuge der Reformation mussten die Abendmahlsfeiern der evangelischen Kirchen zur Römischen Messe als einer vorhergehenden Form ins Verhältnis gesetzt werden. Während die Reformierten diese Form ablehnten, war im Luthertum ein Reformbemühen leitend. So heißt es in der von Philipp Melanchthon verfassten Apologie der Confessio Augustana, „dass wir die Messe nicht abschaffen, sondern gewissenhaft beibehalten und geltend machen“ (ApolCA 24,1). Luther selbst hat den Ausdruck in der „Formula missae“ (1523) und in der „Deutschen Messe“ (1526) beibehalten, obwohl er freilich den Gottesdienst nicht mehr als ein vom Priester dargebrachtes Opfer begriff, der Predigt eine wesentliche, mittlere Stellung zuerkannte, die Einsetzungsworte ins Zentrum des Abendmahls rückte, es in beiderlei Gestalt reichte und die Landessprache bevorzugte.206 Auch gewann das Kirchenlied durch ihn eine im Ablauf des Gottesdienstes unverzichtbare Bedeutung, hatte er selbst doch die wesentlichen Teile des ihm vorliegenden Messformulars (Ordinarium Missae) in Liedform gebracht und vertont (bzw. bestehende Lieder und Vertonungen aufgenommen): Kyrie (EG 178.3,192), Gloria (Allein Gott in der Höh sei Ehr [EG 179]), Credo („Wir glauben all an einen Gott“ [EG 183]), Sanctus (EG 185.1207), Agnus Dei (EG 190.2), Requiem („Es ist gewisslich an der Zeit“ [EG 149 ———— 205 Ein Überblick über die entsprechenden Werke findet sich in: Art. Mass (music) – Wikipedia, the free encyclopedia. 206 Vgl. Art. Messe und evangelischer Gottesdienst, in: RGG4, Bd. 5, 1137. Vgl. R. A. Leaver, Art. Gottesdienst 6.b) Reformation, in: RGG4, Bd. 3, 1187ff. 207 Luthers Lied „Jesaja, dem Propheten das geschah“ (zu Jes 6, 1–4) ist nicht mehr in das neue Gesangbuch aufgenommen worden (vgl. aber Evangelisches Kirchengesangbuch. Ausgabe für die Evang. Landeskirche in Württemberg, Stuttgart 1953, Nr. 135).

230

nach der Sequenz „Dies irae, dies illa“]), „Vater unser im Himmelreich“ (EG 344). In der lutherischen Reformation, so wird man sagen können, bewährte sich durch alle Transformationsbemühungen hindurch die Messe als eine symbolische Form, auf deren Teile man zurückkam, um die Identität des christlichen Gottesdienstes durch die Veränderung hindurch zu bewahren.208 Diese Funktion ist der überlieferten Messe auch in den späteren Entwicklungen der Kirchenmusik bewahrt worden. Als „erste musikalische Großform der Musikgeschichte“ wirkte sie auf die Wiener Klassik am Ende des 18. Jahrhunderts, als man „Festränge […] durch Instrumentation“ zum Ausdruck brachte: „Missa solemnis (volles Orchester mit Pauken und Trompeten) für hohe Feste, Missa mediocris (Holzbläser) für kleinere Feste, Missa nur mit Streichern (Kirchentrio) für gewöhnliche Sonn- und Werktage, Missa mit Orgelcontinuo für Fastenzeiten. In der Missa brevis werden Gloria und Credo knapp, meist auf alle vier Singstimmen gleichzeitig verteilt, vertont. [Die] Pastoralmesse ist […] Weihnachten [vorbehalten].“209 Mit Blick auf ihre religiöse Ausdrucksfunktion sind in der Messe alle Formen des Gebets versammelt, die Bitte und der Dank, das Lob und die Anbetung. Die Kompositionen der Moderne wandern zwar in der Konstellation der bürgerlichen Denk- und Lebensform des 19. Jahrhunderts aus der Kirche in den Konzertsaal210 und später in den soundtrack des Films aus: Kubricks „Odyssee im Weltraum“ zitiert das Requiem G. Ligetis.211 Auch hier bleiben sie aber als Formen des Gebets in der fragmentarischen Form der Messe erkennbar, wenngleich nur noch als Andeutung, die man auch für eine historische Reminiszenz nehmen könnte. Dem Requiem ist unter den musikalischen Gestaltungen der Moderne eine besondere Bedeutung bewahrt worden: Mozart komponierte es noch in der Nähe seines Todes; 212 es gibt kaum einen Komponisten der Moderne von Rang, von dem es kein Requiem gäbe, sei es Berlioz oder Verdi, Schumann oder Brahms, Reger oder Fauré.213 Das Requiem blieb ein „Me———— 208 Ob Bach mit seinem „Dritten Theil der Clavier-Übung“ eine Orgelmesse hat schaffen wollen, sei dahingestellt. Jedenfalls finden sich in diesem Werk die meisten der von Luther in Liedform gebrachten Teile des Messformulars, und das Präludium zu Beginn sowie die gewaltige Fuge am Ende könnten die Rahmung eines Gottesdienstes darstellen (vgl. C. Posslac im Klappentext der Aufnahme mit W. Rübsam an der Silbermann-Orgel in Freiberg, 1994; A. Jacob, Der III. Teil der Klavierübung von Johann Sebastian Bach: Genese, Kontext und kompositorische Struktur, in: M. Danckwardt [Hg.], Augsburger Bach-Vorträge). 209 RGG4, Bd. 5, 1140. 210 Diese Verhältnisse sind in dem von C. Dahlhaus u. H. Danuser hg. Band „Die Musik des 19. Jahrhunderts“, 147–158, gründlich aufgearbeitet worden. 211 2001: Odyssee im Weltraum (USA 1968; Regie: S. Kubrick). 212 Die Situation ist figuriert in einer Szene des Films „Amadeus“ (D 1984; Regie: M. Forman). 213 Vgl. Dahlhaus/Danuser (Hg.), Kirchenmusik und bürgerlicher Geist.

231

dium“ oder eine symbolische Form, in der – allegorisch im Sinne Benjamins – „die Vielfalt individueller Auseinandersetzung mit der Erfahrung von Tod, Katastrophen und Massenvernichtung“ auch im 20. Jahrhundert noch sich zum Ausdruck und zur Darstellung bringen konnte.214 Wie die Phänomene von Jazz- oder Gospel-Messen zeigen, beziehen sich auch die neuesten Entwicklungen noch auf diese symbolische Form, wenngleich harmonisch und rhythmisch ein Paradigmenwechsel vollzogen worden ist.

————

214 RGG4, Bd. 7, 454.

232

7. Das Wesen des evangelisch verstandenen christlichen Gottesdienstes und seine verantwortliche Gestaltung

Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt. Hiob 1,21b Der Herr, unser Gott, sei uns freundlich und fördere das Werk unserer Hände bei uns. Ja, das Werk unserer Hände wollest du fördern. Psalm 90,17

7.1 Die Frage nach dem Wesen als Antwort auf die Erfahrung von Kontingenz Einem Wort des Angelus Silesius zufolge lässt sich ein auf das Wesen der Dinge, des Menschen und Gottes sich besinnendes Denken als Bewältigung der Kontingenz auffassen: „Mensch, werde wesentlich: denn wenn die Welt vergeht, so fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht.“1 In diesem Sinne und auf dieser Linie wird das Wesen des Gottesdienstes darin bestehen, sich der Gabe des eigenen Lebens und des Lebens als einer Gabe zu vergewissern. Seine Praxis dient eben der Einübung in eine Haltung des Dankens und des Lobens, die auch die kontingenten Widerfahrnisse aus Gottes Hand zu nehmen lernt. Und da über die Gewissheit des einzelnen in seinem Christentum hinaus auch die Gemeinschaft derer, die Gottesdienst feiern, im Zeichen der Hoffnung steht, immer wieder erneuert zu werden, wird auch die Kontingenz, die andere betroffen hat, in die Bitte und Fürbitte aufgenommen. Die Frage nach dem Wesen zielt aber auch auf eine Unterscheidung von solchen Merkmalen des evangelisch verstandenen Gottesdienstes, die es erlauben, sie unter Bedingungen steten (und in der Moderne beschleunig———— 1 Zit. nach G. Grass, Beim Häuten der Zwiebel, 288. Der Begriff der Kontingenz wird von Makropoulos trefflich entfaltet (vgl. Ders., Modernität, 23–28).

233

ten) Wandels als solche wieder zu erkennen. In diesem Sinne ist das „Bleibende“ eines Gottesdienstes in den Blick zu nehmen, der zweifellos den Bedürfnissen einer Zeit immer wieder angepasst werden muss. Und dieses Bleibende hat dann unter Voraussetzung des bisher Gezeigten auch eine Funktion für den nach dem Sinn seines Lebens fragenden, Gewissheit seiner selbst in der Gemeinschaft mit anderen suchenden Menschen. Weil es bleibt, will das „Wesen […] nichts von Zeit wissen.“2 Doch die für den evangelisch verstandenen christlichen Glauben wesentliche Wahrheit, dass das Wort Gottes in Ewigkeit bleibt3, ist zugleich „mit Zeit zum Zerspringen geladen“.4 Wie sich dieses Verhältnis für das Verständnis des Evangelischen überhaupt auswirkt, habe ich an einem anderen Ort gezeigt.5 Offensichtlich ist es aber auch eine Grundfrage der Homiletik, wie der bleibenden Ewigkeit des Gotteswortes im kreativen Prozess der Meditation zwischen Schriftwort und Predigt aktuell Ausdruck und Gestalt verliehen werden kann.6 Das Ewige will in der Zeit sichtbar, hörbar und erfahrbar werden, sei es in einem Wort, das zu Herzen geht und den ganzen inneren Menschen betrifft, sei es in einem Gedanken, wie er in einer Zeile verdichtet sein kann oder in einem Zusammenhang von (auf Gedanken zu beziehenden) Vorstellungen, wie sie auf einem Bild überblickt werden können, sei es in einem gedehnten Augenblick musikalischer Darbietung, in dem die Zeit still zu stehen scheint. Wo das im Gottesdienst geschieht, wird ebenso von seiner aktuellen Gestalt wie von der Befindlichkeit der Teilnehmer abhängen. Das Grundverhältnis einer spezifischen Erfahrung von Zeit, die in erfüllter Gegenwart der Ewigkeit Einlass gewährt, ist aber für alle Teile das gleiche.

7.2 Von der Funktion zurück zum Wesen Nach dem Wesen des christlichen Gottesdienstes zu fragen, ist auch für eine Liturgik unverzichtbar, die einen humanwissenschaftlichen Zugang gewählt und mit der Frage nach der Funktion begonnen hat.7 Denn nur so wird der Gottesdienst in der Vielfalt seiner Erscheinung wieder erkennbar sein. Das wird erstens mit Blick auf den Gottesdienst anderer Religionen gelten ———— 2 Schindler, Zeit, 40 zit. Rosenzweig. 3 S. o. Kapitel 5.1. 4 Benjamin, GS V, 578 [Das Passagen-Werk]. 5 Dober, Seelsorge, 21–25. 6 Vgl. Dober, Evangelische Homiletik, 139–176. 7 Wie es der methodisch gewählte Anfang bei den die nachmetaphysische Situation kennzeichnenden Humanwissenschaften erlaubt, im Nachhinein metaphysisch zu werden, so der Beginn mit der Funktion des Gottesdienstes, im Nachhinein die Wesensfrage zu stellen.

234

können,8 zweitens aber auch auf die hierzulande zu beobachtende Kreativität der Gestaltungen, die sich in einer ganzen Reihe neuerer Gottesdienstformen niedergeschlagen hat. Zu nennen sind etwa all die nach den Bedürfnissen unterschiedlicher Zielgruppen ausgerichteten Krabbel-, Kinder-, Jugend-, Familiengottesdienste und dergleichen. Die heute (und seit längerem schon) anzutreffende Vielfalt ist auf den ersten Blick konfessionell nicht mehr ausdifferenziert. Eine entsprechende Vielfalt gibt es sowohl in den evangelischen als auch in den katholischen Kirchengemeinden hierzulande. Man wird das – jedenfalls auch – als Antwort auf das Erfordernis verstehen dürfen, dass jeder Gottesdienst seinen Kasus hat und dass den meisten Zeitgenossen der Nutzen dieser christlichen Zentralveranstaltung nur noch wird einleuchten können, wenn der Kasus je ihres Lebens darin vorkommt. Zu nennen sind aber auch die unterschiedlichen in der EKD gebräuchlichen Agenden, die aus ungleichzeitig verlaufenden historischen Transformationsprozessen hervorgegangen sind. Das ist etwa schon an den Agenden Württembergs und Badens zu sehen. Auch die hier bestehenden Unterschiede verblassen allerdings, wenn man bemüht ist, den Gottesdienst als Kasus zu begreifen, in welchem Antworten auf relevante Fragen der Zeitgenossen zu finden sind. Wie aber wird nun das Wesen des Gottesdienstes bestimmt und dann auch geltend gemacht? Besteht sein Begriff in einem kleinsten gemeinsamen Nenner, der sich auch in der Vielfalt der tatsächlich stattfindenden Gottesdienste jeweils soll auffinden lassen? Dieser kleinste gemeinsame Nenner wäre gegeben, wenn eine Übereinstimmung mit den zentralen theologischen Symbola gegeben wäre (und d. h. mit den Bekenntnisschriften und Bekenntnissen, die als solche gelten). Sich mit einer „Minimalbestimmung“ zufrieden zu geben, würde dem Kirchenbegriff der Confessio Augustana entsprechen.9 Doch das ist nur eine Möglichkeit unter anderen. Man kann auch eine bestimmte Form des Gottesdienstes für die seinem Wesen am besten angemessene betrachten, etwa die auf Luther zurückgehende „Deutsche Messe“, und andere Formen demgegenüber abwerten. Hinzu kommt ein weiterer Gesichtspunkt. Nicht nur wird in der Vielfalt der Erscheinungen nach dem Gleichbleibenden gefragt, so wie man in einer Vielfalt von Stühlen oder Bäumen alle zufälligen Eigenschaften reduziert, um auf diesem Wege zum Wesentlichen zu gelangen. Das Wesen des christlichen Gottesdienstes erschließt sich der Frage nach seinem Ursprung. Was sind die historischen Merkmale, die in jedem christlichen Gottesdienst wiedererkannt werden müssen? Soll sein Name nicht zu Schall und Rauch werden, so wird jeder christliche Gottesdienst sich erkennbar zu seinem ———— 8 Vgl. Rosenzweigs Beschreibung des synagogalen Jahres (s. o. Abschnitt 2.4). 9 Vgl. dazu D. Rössler, Der Kirchenbegriff der Praktischen Theologie.

235

Ursprung verhalten, sei er nun katholisch oder evangelisch verstanden. Eilert Herms hat „das ursprüngliche Wesen des christlichen Gottesdienstes als die durch die Ursprungssituation des Glaubens selbst ermöglichte und verlangte regelmäßige Einkehr der Glaubenden in die Ursprungssituation des Glaubens“ bezeichnet.10 Diese ist aber das „leibhafte Eintreten in die Mahlgemeinschaft mit dem Gekreuzigten als dem Erhöhten“ (327). Die leibliche Teilnahme ist dem christlichen Gottesdienst also wesentlich (und nicht durch neue Medien substituierbar), weil der Gottesdienst mit Taufe und Abendmahl einen sakramentalen Charakter trägt, an dem auch das – die Sakramente erst zureichend bestimmende – Wort als signum efficax gratiae teilhat.11 Zudem bestätigt die Mahlgemeinschaft als Ursprungssituation des Glaubens die Gleichursprünglichkeit des Rituals mit dem Symbol; eben dieser Zusammenhang, der auf humanwissenschaftlichem Wege hat aufgezeigt werden können, findet in der Wesensbestimmung des christlichen Gottesdienstes eine Verifikation. Mit dem Ursprung ist nicht nur eine dem Wesen entsprechende Form, sondern auch der Inhalt vorgeprägt. Nur wenn beide, Form und Inhalt, mit Blick auf ursprüngliche Bestimmungen erkennbar bleiben, wird man auch einen jüdischen oder muslimischen von einem christlichen, oder einen katholischen von einem protestantischen bzw. evangelischen Gottesdienst unterscheiden können. In diesem Sinne hat Jacob Taubes in seinen späten Vorlesungen von der Erforschung der Liturgie als dem Königsweg der Erkenntnis einer Religion, einer Konfession gesprochen.12 Seine These lautet: wer es mit dem Studium der Dogmatik oder Ethik einer Religion, mit der Hermeneutik heiliger Texte, gut sein lässt, der hat sich noch nicht auf den Bereich eingelassen, in dem die Lebensmacht der Frömmigkeit, gewiss geprägt von einer bestimmten Religion, praktisch geworden ist und jeweils neu wieder werden kann, oder: in dem die Relevanz der Religion für den Alltag, für das Selbstverständnis, für die Existenz des einzelnen und der Gemeinschaft wirksam wird. In den liturgischen Formen und den in ihnen symbolisch dargestellten Inhalten ist jedenfalls auch Geschichte geronnen, wie andererseits eine geschichtsprägende Kraft von diesen Formen ausgegangen ist und ausgehen kann. Es sind Erfahrungsräume der Deutung und des Selbstverstehens eröffnet worden, und diese Öffnung hat immer wieder auch neue Erwartungshorizonte erschlossen. Die Liturgie weist Wege zur ———— 10 E. Herms, Überlegungen zum Wesen des Gottesdienstes [1992], 320. 11 Sowohl Herms als auch Jüngel (s. u.) kommt es darauf an, Wort und Sakrament nicht in das Verhältnis eines konkurrierenden Gegensatzes zu bringen. Vielmehr sind beide untrennbar aufeinander bezogen: „Die Predigt ist als Christuspredigt wesentlich Auslegung des durch das Eintreten in die Mahlgemeinschaft vollzogenen Christusbekenntnisses, eben seine Verkündigung“ (Herms, Gottesdienst, 328). 12 Taubes, Die politische Theologie des Paulus, 50–55.

236

Erkenntnis dessen, worauf es in der Frömmigkeit zutiefst ankommt. Man müsse nur aus dem „Latenten“ herausholen, was manifest werden kann. Für Taubes heißt das: Man versteht das Judentum nicht, wenn man sich nicht auf das liturgische Jahr der Synagoge einlässt. Diese Einsicht wird von ihm in die methodische Voraussetzung gefasst, es sei „Theologie aus Liturgik zu entwickeln“ (55). Ohne Schwierigkeit und mit (zu erhoffendem) Erkenntnisgewinn lässt sich das auch auf das Christentum anwenden, und zwar nicht nur – wie Taubes meint – auf das katholische. Die – leibliche Gegenwart voraussetzende – Mahlgemeinschaft ist ein ursprüngliches liturgisches Element im Christentum, das auch dem Protestantismus wesentlich bleibt. Nach dem Wesen des christlichen Gottesdienstes haben in der letzten Zeit zwei Tübinger Systematiker gefragt: der schon zitierte E. Herms und Eberhard Jüngel.13 Dass Vertreter dieser Disziplin sich zu dieser Frage geäußert haben, ist sicher nicht zufällig, sondern eine Konsequenz aus der überhaupt auf Wesensbestimmungen zielenden Arbeit der Dogmatiker (und nach Grundsätzen fragenden Ethiker). Sie suchen auf diese Weise der Einsicht Rechnung zu tragen, dass in der Liturgie zur öffentlichen Darstellung kommt, was die Kirche zur Kirche macht. Zumal in der methodischen Verknüpfung, in der Exegese und Dogmatik im Konzept einer „biblischen Theologie“ (im weitesten Sinne) gehalten werden, ist dieser Zugang zum vielfältigen, auch schillernden, oszillierenden Phänomen gottesdienstlicher Formen heute nachvollziehbar und plausibel. Auch die Praktische Theologie muss die Frage nach dem Wesen gestellt haben. Aufbauend auf die Arbeit der anderen kann sie die Antworten allerdings voraussetzen. Zu den von ihr zu behandelnden Fragen gehört aber das Handlungserfordernis, dem zu entsprechen eine ausreichend klare Wahrnehmung vorausgesetzt werden muss. Ihr diente der Rekurs auf humanwissenschaftliche Forschungen.

7.3 Die verantwortliche Gestaltung des Gottesdienstes14 Joachim Scharfenberg hat von der Erfahrung einer symbolischen Kommunikation berichtet, die auf „symbolische Erfahrung“15 verweist: ———— 13 E. Jüngel, Der evangelisch verstandene Gottesdienst, 296–305. 14 Der folgende Abschnitt baut auf einem früheren Beitrag auf (vgl. Dober, „Kommunikation des Evangeliums“, 252–272). 15 Vgl. zum Begriff: Odenthal, Liturgie als Ritual, 190. Während der Begriff „symbolischer Erfahrung“ hier in kritischer Abgrenzung von Scharfenberg zur Grundlage der Liturgik gemacht wird, kommt es mir darauf an, beide Akzentsetzungen miteinander ins Gespräch zu bringen. In der spezifischen Fassung des Symbolbegriffs können hierbei allerdings Differenzen bestehen bleiben, die implizit auf bleibende Unterschiede in der konfessionellen Perspektivierung verweisen.

237

„Frau B. erscheint nach einem Gottesdienst in der Sakristei, um mir in bewegten Worten für diesen Gottesdienst zu danken. Sie habe seit vielen Jahren keine Kirche mehr von innen gesehen, aber heute habe ihr die Verzweiflung bis zum Hals gestanden […] und da sei sie einfach den Glocken gefolgt und habe die Kirche aufgesucht. Sie müsse ehrlich gestehen, dass sie sich zunächst gar nicht wohl gefühlt habe, alles sei ihr so fremd und ungewohnt gewesen. Auch von der Predigt habe sie leider wenig verstanden, sie sei wohl zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen. Schon habe sich ihrer ein tiefes Enttäuschungsgefühl bemächtigt, aber da ganz am Schluss, da habe sie mich mit erhobenen Händen am Altar stehen sehen, und da habe ich etwas gesagt, was sie wie ein Lichtblitz plötzlich getroffen habe, und auf einmal sei ein ganz tiefer Friede in ihr eingekehrt, das Gefühl, dass ihr ja eigentlich doch nichts passieren könne. Es sei ein Gefühl gewesen, wie sie es seit ihrer Kindheit nicht mehr erlebt habe, und sie möchte doch gern, dass ich ihr das aufschreibe, was ich da gesagt habe, es sei etwas mit einem leuchtenden Angesicht gewesen und vom Frieden, und sie habe an den Erzengel Michael denken müssen, als sie mich da so habe stehen sehen. Wenn ich ihr jetzt die wenigen Worte, die sie so tief getroffen haben, aufschreiben würde, dann könnte sie das sicher auswendig lernen, und sie sei sicher, dass sie besser mit ihren Schwierigkeiten würde umgehen können, wenn sie sich diese Worte ins Gedächtnis riefe.“16

Mehrere Aspekte des gottesdienstlichen Geschehens ließen sich im Ausgang von diesem Beispiel hervorheben: der Gottesdienst ist eine Institution des kulturellen Gedächtnisses, die Bedeutung des Segens an seinem Ende hat eine größere Tragweite, als der Liturg es vielleicht vermutet, und unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen ist es für manche Zeitgenossen schwierig, Zugang zum ritualisierten Vollzug des liturgischen Geschehens zu finden. Das Beispiel lässt auch anschaulich werden, dass das „Passungsverhältnis“ von spezieller kirchlicher Gottesdienstkultur und allgemein-kulturellen Befindlichkeiten nicht mehr sicher gegeben ist. Die symbolische Kommunikation, unverfügbar, wie sie wegen der Freiheit des Rezipienten immer gewesen ist, findet keineswegs selbstverständlich statt. Und doch verweist sie hier auf eine symbolische Erfahrung, die einerseits in den ritualisierten Vollzügen der Liturgie geronnen (und d. h. auch: aufbewahrt) ist, andererseits in der Rezeption bis in die Tiefen des seelischen Unbewussten reichen kann. Die Erfahrung der Frau in diesem Beispiel entspricht der Regression, zu der die Rituale und Symbole Gelegenheit geben. So können Beziehungserfahrungen aus frühester Kindheit wachgerufen werden. Derart vorbereitet kann die Frau die Symbole und Riten des Glaubens als „Selbstobjekt“ (Kohut) nutzen, was zur Transformation ihrer subjektiven Erfahrung beitragen kann. Wenn ich recht sehe, sind zwei extreme Optionen denkbar, sich zum Problem des offenen und mit Risiken behafteten Passungsverhältnisses zu ———— 16 J. Scharfenberg, Einführung in die Pastoralpsychologie, 61.

238

stellen. Zum einen kann man die Gestaltungsfragen in der Perspektive des Wissens um das Wesen des christlichen Gottesdienstes abschatten. Die Liturgie gilt dann in ihrer historisch geprägten Gestalt als Ausdruck des Wesentlichen und in der Gegenwart nicht zu verändernde Form, die in sich selbst ruht wie die auratischen Skulpturen hoch über den Portalen der alten Kirchengebäude. Man kann in dieser Perspektive meinen, es sei für die Gestaltung ausreichend, den Besucher auf die Gefühle des Erhabenen (oder des Schönen) zu stimmen, die etwa beim Besuch einer gotischen Kathedrale von ihm Besitz ergreifen können. Die Atmosphäre einer katholischen Messe kann eine solche Stimmung vermitteln;17 man wird auch an protestantische Tendenzen liturgischer Erneuerung denken können, die von Friedrich Niebergall so beschrieben und kritisiert worden sind, dass man sich „für Chorgebete, mehrere Liturgien am Altar, möglichst seltsame Veranstaltungen der feiernden Gemeinde“ begeistert und nicht danach fragt, „ob eine Gemeinde da ist, die sie versteht“.18

Tendenziell wird auf diesem Wege eine gegenweltliche Situation geschaffen, die mit dem alltäglichen Leben nichts mehr zu tun hat. Zum anderen kann man aber auch die Frage nach dem Wesen des christlichen Gottesdienstes abschatten, um sich einer freien Kreativität ohne ausreichende theologische Kontrolle hinzugeben. Man meint dann, die tradierte Form überhaupt sei nicht mehr zeitgemäß, und um der Kinder und Familien, um der Jugendlichen, Werktätigen und Motorradfahrer willen sei das Alte aufzulösen, damit Neues werde. Die Motoren werden gezündet zum Lobe Gottes,19 der sound von Techno füllt die heiligen Hallen,20 der Säugling brüllt in die Stille des Gebets, und die Unmündigen krabbeln mit ihren Spielzeug-Feuerwehren durch den Altarraum. Das Moment des Gegenweltlichen schrumpft auf ein Minimum zusammen. Am 14. Oktober 1995 war in der „Frankfurter Rundschau“ zu lesen: „In vielen evangelischen Kirchen nehmen sich die Gottesdienste inzwischen manchmal schon aus wie Veranstaltungen des Club Mediterranée. Aufgeweckt-muntere Pastoren haben die Rolle von Animateuren übernommen. Aus lauter Furcht, die

———— 17 Eine eindrückliche Beschreibung solcher Stimmung hat beispielsweise Wackenroder über einen Besuch in Rom gegeben, in: Wackenroder/Tieck, Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, 84–86 [Brief eines jungen deutschen Malers in Rom an seinen Freund in Nürnberg]. 18 W. Steck, Das homiletische Verfahren, 203f zit. Niebergall, Die moderne Predigt: Kulturgeschichtliche und theologische Grundlage, Geschichte und Ertrag, Tübingen 1929, 1. Niebergall hat derartige Tendenzen als Pathologie beschrieben und von einer „Liturgitis“ gesprochen (zit. Steck, 201). Auch Lange bemerkt: „Der ‚liturgische‘ Gottesdienst wird Mode“ (Ders., Chancen des Alltags, 169). 19 Das Kirchentags-Taschenbuch: Nürnberg '79, Stuttgart 1979, 225. 20 Vgl. Gräb, Lebensgeschichten, 137–146.

239

Kirchen könnten verkrusteter Formen verdächtigt werden und leer bleiben, verlegen sie sich auf Entertainment. Am Altar lehnt die Guitarre. Was sich im Theater nicht durchsetzen konnte, das improvisierte Mitspiel des Publikums, ist in den Kirchen weit gediehen. Jedes Gemeindemitglied darf sich einbringen in den Gottesdienst, nicht meditativ, sondern durch lautes und oft geschwätziges Mittun, gefragt ist weniger das Zuhören, als der eigene Beitrag. Für gelungene Nummern gibt es den dankbaren Beifall der frommen Versammlung. Die Kirche als Schauplatz egozentrischer Selbstdarstellung: Konsequenz einer Anbiederung an den Zeitgeist, die das Besondere von Ort und Anlass leugnet und vergessen lässt.“21

Während auf der einen Seite die im Alltag wirkliche Lebenssituation der Menschen, wenn nicht vergessen, so doch vom Glanz der inszenierten Wesensbestimmungen überblendet wird, ist auf der anderen die vom Gottesdienst geschaffene Situation von denen der Alltagswelt ununterscheidbar geworden, und die Treue zum Wesen des Gottesdienstes scheint verletzt in einem entertainment, einer Unterhaltung, der der doppelte Sinn des geistlichen Unterhalts abhanden gekommen ist. Wie kann die praktische Theorie des Gottesdienstes auf diese Lage antworten? Jedenfalls scheinen einfache methodische Zugänge nicht mehr möglich zu sein. Über die soziologischen Analysen (wie sie etwa im Zuge der Mitgliedschaftsstudien der EKD vorgelegt worden sind), auch über den ritualtheoretischen Zugang hinaus, ist die phänomenologisch geschulte Wahrnehmung ein aussichtsreicher Weg. Dieser Weg ist zu Beginn kurz zu skizzieren und mit der im historischen Rückblick ausgearbeiteten Frage nach dem – evangelisch verstandenen – Wesen des christlichen Gottesdienstes ins Gespräch zu bringen. Der geschärften Wahrnehmung hat dann aber auch die verantwortliche (Neu-)gestaltung des Gottesdienstes zu entsprechen. In der klassischen Theorie Schleiermachers ist dies der Hauptakzent gewesen. Doch auch schon seine Handlungstheorie war in eine umfassende Wahrnehmung des Vorfindlichen eingebettet. 7.3.1 Die durch den Gottesdienst geschaffene Situation und ihr Verhältnis zur alltäglichen Lebenswelt Nach der schon zitierten, berühmten Formulierung Schleiermachers unterbricht der Gottesdienst das „übrige Leben“22. In seiner antistrukturellen Spannung zum Alltag hat er aber eine durchaus eigene Struktur. Die agendarische Ordnung hat jedem Sonntag des Kirchenjahres nicht nur ein bibli———— 21 P. Iden, Der Pastor als Entertainer. Wenn Gottesdienste zur Mitspiel-Show werden, in: Frankfurter Rundschau vom 14. Oktober 1995, 9. 22 Schleiermacher, Praktische Theologie, 70.

240

sches Motto, ein Thema und ein Wochenlied zugeteilt, sondern auch einen Perikopentext für die Predigt. Die „permanente Variation“ seines „identischen Wesens“23 ist hier durch den geordneten Wandel kirchenbehördlicher Vorgaben gewährleistet. Sie stellen die institutionelle Ausdifferenzierung des Kriteriums der Regelmäßigkeit dar, das die Treue zum Wesen des christlichen Gottesdienstes verbürgen soll.24 Denn um den Gottesdienst als Ritual von anderen ritualisierten Handlungen zu unterscheiden, muss man auf seine Wesensbestimmung zurückgehen. Sie zu reformulieren heißt aber noch nicht, das Problem des nicht mehr selbstverständlichen „Passungsverhältnisses“ gelöst zu haben. Dieses Problem besteht auch darin, dass die Teilnahme am sonntäglichen Gottesdienst die „Ambivalenz der Lebenswelt“ überhaupt teilt: sie ist nicht fraglos und „stillschweigend“ vorauszusetzen, so dass man nicht über sie reden müsste.25 Eine der – auch für eine zeitgenössische Liturgik – relevanten Einsichten der phänomenologischen Lebensweltanalyse besteht darin, dass alles Wahrnehmen, Erkennen und Handeln von „Vorvertrautheiten“26 ausgeht, deren Gegebensein zu einer Veränderung des Horizontes dieser Tätigkeiten keinen – jedenfalls momentan keinen – Anlass gibt. Zu einer Überschreitung des jeweiligen Horizontes kommt es erst durch „Standortwechsel“.27 Sie können eine In-Frage-Stellung des dem bisherigen Ausgangspunkt selbstverständlich „Mitgegebenen“28 nach sich ziehen. Für die lebensweltlichen Vorvertrautheiten kann dies eine Verunsicherung darstellen, die allerdings dadurch zur erneuten Stabilisierung tendiert, dass man sich wiederum stillschweigend damit begnügt, „jetzt nicht weiter zu fragen“.29 In einer soziologischen Perspektive sind diese Vorvertrautheiten und Geltungshorizonte jeweils danach unterschieden, aus welchem lebensweltlichen Bereich (Milieu) man kommt. Für Mitglieder der sog. „Kerngemeinde“ ist der reguläre Ablauf des Sonntagsgottesdienstes aufgrund ihrer religiösen Sozialisation so lange selbstverständlich, wie diese Ordnung in still———— 23 Herms, Gottesdienst, 334. 24 Der Vorteil des Begriffes der Regel gegenüber dem der Struktur besteht Herms zufolge darin, dass er „das Wesen des Gottesdienstes aus den zu seiner Ordnung führenden Vollzügen“ fasst (Herms, Gottesdienst, 321 Anm.) und konstitutiv auf den Handlungsbegriff zu beziehen ist. Die „Regelmäßigkeit der bekennenden Einkehr des Glaubens in seine Ursprungssituation“ (326) werde aber durch den Kanon bezeugt. 25 Der Begriff des „Stillschweigenden“ ist von P. Tillich eingeführt und von M. Moxter aufgegriffen worden (Ders., Kultur als Lebenswelt, 297). Das Selbstverständliche ist alles andere als selbstverständlich geworden (s. o. Kapitel 1). 26 Moxter, Kultur als Lebenswelt, 275ff. 27 Moxter, Kultur als Lebenswelt, 301. 28 Moxter, Kultur als Lebenswelt, 282. 29 Moxter, Kultur als Lebenswelt, 306f.

241

schweigender Geltung steht. Anders stellt sich die Situation für diejenigen dar, die nur bei Gelegenheit den kirchlichen Raum betreten und das gottesdienstliche Geschehen als Verfremdung des ihnen Gewohnten erfahren (wie die Frau, die Scharfenberg in der Sakristei aufsuchte mit der Bitte, ihr doch den Wortlaut des aaronitischen Segens aufzuschreiben). Die durch die Individualisierung und Pluralisierung der Lebenswelten hervorgerufenen Horizontverschiebungen bedeuten aber tendenziell auch eine Verflüssigung der Selbstverständlichkeiten sowohl in der sog. „Kerngemeinde“, als auch in den Individuen, Gruppen und Kreisen.30 Die Frage nach der situationsgemäßen Gottesdienstgestaltung kann sinnvoll nicht gestellt werden, ohne diese Spiegelungen des gesellschaftlichen Wandels im kirchlichen Leben in den Blick genommen zu haben. Wie aber ist der Terminus der „Situation“ zu verstehen? Bei genauerem Hinsehen ist er ja keineswegs eindeutig. Erst einmal kann er für die allgemeine Lage stehen, wie sie sich hinsichtlich ihrer historischen Bedingungen im Rückblick und hinsichtlich ihrer gegenwärtigen Charakteristik (panoramatisch) mit den Mitteln der Gesellschaftstheorie beschreiben lässt. Wenn diese allgemeine Lage nun aber – um soziologische Begriffe zu verwenden – durch den fortgeschrittenen Prozess der Privatisierung gekennzeichnet ist und das Doppelgesicht der Individualisierung und der Pluralisierung trägt, dann wird darauf auch nur mit einer differenzierten Gottesdienstpraxis zu antworten sein. Sodann liegt im Begriff der Situation, dass sie – mit ihrem allgemeinen Hintergrund – auf das Leben des je einzelnen bezogen ist. Ausgearbeitet von der Existenzphilosophie31, findet sich die Einsicht in die Lebensbedeutsamkeit der „Situation“ aber auch als Implikation der phänomenologischen Lebensweltanalysen. Für den einzelnen stellt sich die Aufgabe, die aus dem Standortwechsel folgende Unbestimmtheit des bisher Stillschweigenden und die Erweiterung des Horizontes zu verarbeiten, um so neue Bestimmtheit (und mit ihr Stabilität) zu gewinnen. Die verunsichernde und zugleich neue Möglichkeiten eröffnende Unbestimmtheit kann entstehen zwischen ———— 30 Mit den zwei „Grundtypen des protestantischen Gottesdienstes“ werden von W. Steck zwei Hauptfunktionen unterschieden: „die Kultivierung der individuellen Frömmigkeit im agendarischen Hauptgottesdienst“ und „die Verwebung von liturgisch-expressiven und alltags-pragmatischen Lebensformen in der gruppengemeinschaftlichen Gottesdienstkultur“ (Ders., Praktische Theologie, Bd. 1, 313–382, bes. 313–321). 31 M. Heidegger hat ausdrücklich die „allgemeine Lage“ vom Sich-Erschlossensein des menschlichen Daseins unterschieden und diese Unterscheidung auf den Begriff des Gewissens bezogen, das erst „in die Situation vorruft“ (Ders., Sein und Zeit, 300 [im Text kursiv]). K. Jaspers hat von der „konkreten Situation“ gesprochen, „in die sich der einzelne hier und jetzt gestellt sieht“ (W. Schweidler, Art. Situation, in: V. Drehsen u. a. [Hg.], Wörterbuch des Christentums, Gütersloh 1988, 1154).

242

nicht-kirchlichem und kirchlichem Raum, Alltag und Sonntag, oder in den alltäglichen Transzendenzen.32 Vor dem Hintergrund eines differenzierten Situationsbegriffs kann man sagen: der Gottesdienst schafft eine bestimmte Situation, wenn er denn – in der Vielfalt seiner Erscheinung – seinem Wesen entspricht. Die „Selbstverständlichkeit des Glaubens“33 (von der nur aus seiner Erfahrung sinnvoll gesprochen werden kann) verdankt sich nämlich nicht letztlich den lebensweltlichen Vertrautheiten (und seien es die mit dem regelmäßigen Vollzug des kirchlichen Rituals gegebenen), sondern dem Evangelium. Nach Martin Luther dient der Mensch Gott dadurch, daß er „yhn lessit sein Gott sein und seine werck in yhm wircken“.34 In diesem Sinn kann man mit Ernst Lange sagen: „Glauben heißt, sich selbst nicht nehmen wollen, was nur Gott geben kann“.35 Auch dieser Gesichtspunkt hat durch das Beispiel zu Beginn verdeutlicht werden können: die Geste des Segens korrespondiert mit der Erfahrung der Frau. Seine Wirkung auf das „übrige Leben“ wird der Gottesdienst nur dann ausüben können, wenn dieses in ihm zur Sprache kommt. „Die ganze Existenz des Christen, also nicht nur den Kultus im engeren Sinn des Wortes“,36 vermag er nur dann zu umfassen, wenn seine Gestaltung bestimmte Übersetzungsleistungen erbringt (und die sind im Rekurs auf die Wesensbestimmung allein noch nicht impliziert). Diese Aufgabe entsteht infolge der Horizontverschiebung von unterschiedlichen Standpunkten: die je unterschiedlichen lebensweltlichen Vorvertrautheiten müssen miteinander ins Gespräch gebracht werden. Besagte Übersetzung ließe sich semiotisch rekonstruieren, worauf ich hier verzichten muss.37 So viel lässt sich aber im Anschluss an die Semiotik sagen: Die Gottesdienstgestaltung hat es mit der „Bedingung kreativer Variantenbildung [von Zeichen zu tun], durch die sich Kulturen entwickeln“; sie hat es zu tun mit der „kontinuierlichen Verschiebung zwischen Zeichen“.38 Im Folgenden ist die Verantwortung des Liturgen und Predigers als das Maß solcher Variantenbildung in den Blick zu nehmen. ———— 32 H. Luther, Schwellen und Passage. Alltägliche Transzendenzen, in: Ders., Religion und Alltag, 212–223. 33 E. Jüngel, Gottesdienst, 305. 34 D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). Unveränderter Abdruck der bei Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar, erschienenen Ausgabe, Graz 1966, Bd. 7, 595, 35 [Das Magnificat verdeutscht und ausgelegt (1521)]. 35 Lange, Chancen des Alltags, 160. 36 Jüngel, Gottesdienst, 288 zit. A. Niebergall. 37 Vgl. Moxter, Kultur als Lebenswelt, 274–409, bes. 317–364. K.-H. Bieritz, Zeichen setzen. R. Volp, Liturgik. Die Kunst, Gott zu feiern. 2 Bde. 38 Moxter, Kultur als Lebenswelt, 404.

243

7.3.2 Ernst Langes korrelatives Modell der „Kommunikation des Evangeliums“ Ernst Langes kurzes und intensives Leben (1927–1974) ist geprägt von einem tiefen kirchlichen Reformwillen. Ohne auf seine Biographie, sein ökumenisches Engagement, seine Aufgeschlossenheit für die soziale Frage näher eingehen zu können, sind hier seine Bemühungen in den Blick zu nehmen, der „Kommunikation des Evangeliums“39 über die sonntägliche Predigt hinaus im Alltag eine Chance zu geben. Nicht nur ist das von ihm mit initiierte Experiment einer „Ladenkirche“ zu Beginn der 60er Jahre in Berlin berühmt geworden: um der Gemeinde einen Raum der Begegnung ohne kultische Form zu eröffnen, in dem Seminare, Kreise und Gemeindeabende stattfinden konnten, wurde ein ehemaliger Bäckerladen angemietet.40 Auch gehören Langes Aufsätze zur Homiletik heute zum eisernen Bestand praktisch-theologischer Reflexion.41 In der Liturgik hat er an einer Theorie des situationsgemäßen Gottesdienstes gearbeitet, ohne seine Regelmäßigkeit als Treue zu seinem Wesen aus dem Blick zu verlieren. Er fragt nach dem Nutzen des Gottesdienstes für das „übrige Leben“, weil ihm die Tendenzen der Verflüssigung traditionell überkommener „Passungsverhältnisse“ allzu deutlich vor Augen stehen. Der Gottesdienst soll auf die „Chancen des Alltags“ bezogen sein, um die Funktion ausüben zu können, die seinem Wesen entspricht. Diese Funktion wird von Lange aber als „Kommunikation des Evangeliums“ beschrieben. „Ist es nicht hohe Zeit, dass wir endgültig jede Hoffnung begraben, wir könnten den neuen Gottesdienst, den wir suchen, finden auf den Wegen des liturgischen Traditionalismus, das heißt der Wiederherstellung der klassischen Formen und Bedeutungen des Gottesdienstes? […] Aber können wir Heutigen im Wandel unserer Welt mit diesem Erbe anders umgehen als mit Tradition überhaupt, das heißt (a) als mit einem Anschauungs- und Schulungsmaterial, an dem wir lernen können, worauf es ankommt und wie es früher gelang; und (b) als mit einem Steinbruch für zukünftige Gestaltung? Mehr leistet das Erbe nicht für unsere Aufgabe, es sei denn für einen Geheimzirkel liturgischer Sachverständiger und geschulter Kerngemeindeglieder.“42

———— 39 Vgl. J. Hermelink, Die homiletische Situation, 179–184. H.-G. Heimbrock hat die von Lange gegebenen Impulse in einer phänomenologischen Perspektive rezipiert (Ders., Feier des Unscheinbaren, 179–182). Dort findet sich auch weitere Literatur zu Lange und eine kritische Auseinandersetzung mit ihr. 40 W. Simpfendörfer, Ernst Lange, 77–80. 88ff. 41 E. Lange, Predigen als Beruf. Aufsätze zu Homiletik, Liturgie und Pfarramt, hg. und mit einem Nachwort v. R. Schloz, München ²1987. Die Rede „Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit“, gehalten am 22.9.1967 in Esslingen, entfaltet das Programm, an dem sich die „Predigtstudien“ bis heute orientieren. 42 Lange, Gottesdienst, 83–95.

244

Der Schwerpunkt der Fragestellung ist hier fast ganz „unter das Kriterium des Wirklichkeitsbezuges“43 (im Sinne einer Reflexion auf die alltäglichen Lebenswelten) gerückt. Aufmerksam auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen hat Lange „die Masse der Distanzierten“ beschrieben44 und notiert, dass die Bedeutung des sonntäglichen Gottesdienstes zugunsten anderer Begegnungsformen im Abnehmen begriffen sei.45 Um diesem Wandel zu entsprechen, hatte er einen „liturgischen Pluralismus“ gefordert, zugleich aber vor der Verführung gewarnt, „die liturgische Normalität, den Gemeindegottesdienst und seine Teilnahme im Stich zu lassen“.46 Diese für „das christliche Gesamtleben“ zentrale Zusammenkunft schien ihm nach wie vor unentbehrlich,47 und das nicht nur aus funktionalen Gründen (etwa für den Gemeindeaufbau48), sondern auch, weil die Aufgabe der „Kommunikation des Evangeliums“ im inkarnatorischen Wesen des Gottesdienstes begründet ist. Diese Aufgabe ist in die Verantwortung derer gestellt, die den Gottesdienst gestalten. Unter dem Kriterium der Situationsgemäßheit ist die aktuell begegnende Wirklichkeit wahrzunehmen. Eben so ist der Weg zu bereiten, dass der seinem Wesen entsprechende Gottesdienst eine neue Situation schaffen kann. Die Wahrnehmung der begegnenden Wirklichkeit kann den Bruch von selbstverständlichen Vertrautheiten und Gewissheiten, die In-FrageStellung des bisher fraglos Geltenden, oder die ausdrückliche Thematisierung des bisher „Stillschweigenden“ betreffen. Das gottesdienstliche Handeln ist nicht nur – in einem theologischen Sinn – die menschliche Antwort auf Gottes Frage und Ruf in Lobpreis, Dank und Anbetung. Es ist auch als Antwort auf die Fragen, Bedürfnisse und Anliegen zu interpretieren, die die Teilnehmer aus ihren Lebenswelten mitbringen. Es liegt in der Natur der Sache, dass für den kommunikativen Charakter des gottesdienstlichen Handelns die Predigt exemplarisch ist. Gewiss: auch die Sakramente sind auf einen Kommunikationsvollzug angewiesen. Die im Bekenntnis bezeugte communicatio von Gottheit und Menschheit, in Taufe und Abendmahl symbolisiert, wird erst gegenwärtig, wenn die Darbietung „durch Wort und Zeichen“49 auch angenommen wird. Diese wirklichkeitskonstitutive Funktion der Rezeption ist aber auf eine angemessene Darstellung des Gotteshandelns im Gottesdienst verwiesen. ———— 43 Lange, Chancen des Alltags, 319. Vgl. auch Hermelink: „Alle liturgischen Vollzüge werden […] auf die Wirklichkeitserfahrung der Beteiligten bezogen“ (Ders., Die homiletische Situation, 177). 44 Lange, Chancen des Alltags, 303–307. 45 Lange, Predigen als Beruf, 10. 46 Lange, Gottesdienst,339. 47 Lange, Predigen als Beruf, 9.14. 48 Vgl. Steck, Praktische Theologie Bd 1, 378–382. 49 Jüngel, Gottesdienst, 304.

245

Lange versteht den Gottesdienst als einen Kommunikationsvorgang, der „in die Verantwortung der Kommunizierenden gegeben“ ist.50 Er sieht die Kirche durch die „spezifische Situation des Hörers, bzw. der Hörergruppe“ nicht nur „zur Predigt, das heißt zu einem konkreten, dieser Situation entsprechenden Predigtakt herausgefordert“,51 sondern auch zur Gestaltung eines situationsgemäßen Gottesdienstes. Impliziert ist hierbei stets der Bezug auf die elementare Ebene der Kommunikation, die vor aller Technik und strategischer Überlegung liegt. „Offenbar geht aller methodischen Erschließung etwas Existentielles voraus, eine Haltung vorbehaltloser Partizipation, vorbehaltloser Teilhabe am Geschick des Hörers, die durch homiletische Technik auf keine Weise zu ersetzen ist.“52

Auf einer zweiten Ebene ist die Übernahme der Aufforderung, die im Angesicht der begegnenden Menschen entsteht, dann auch verantwortungsethisch im üblichen Wortsinn motiviert: der Handelnde muss die Folgen seines Handelns auf sich nehmen. Das lässt sich am Vorwort zu Langes Predigtband „Die verbesserliche Welt“ zeigen. Er zitiert hier die von Helmut Schelsky notierte „Predigtkritik eines Oberschülers aus der 11. Klasse“, um sie in Entsprechung zu bringen zu der Begegnung mit einem Industriearbeiter, der ihm gestanden hatte, von seinen Predigten nichts verstanden zu haben. Er nimmt beides zum Anlass, die Verantwortung in der Predigtarbeit zu überdenken: „Genau das wäre doch die Aufgabe deiner Predigt, so vom Glauben zu reden, dass seine Relevanz für das Leben dieses Mannes unbestreitbar wird. Ob er dann glaubt oder nicht glaubt, […] ist eine andere Frage, die du nicht zu beantworten vermagst. Aber dass er versteht, wie die Verheißung mit seinem Leben zusammengehört, wie sie die Wirklichkeit seines alltäglichen Lebens verändert, wenn er ihr traut, dafür bist du als Prediger haftbar. Genau das ist deine Verantwortung als Prediger.“53

Eben diese „Verantwortung, die durch den Predigtauftrag der Kirche konstituiert wird, die menschliche Verantwortung und ihre Wahrnehmung“, ist Gegenstand von Langes „praktisch-theologischer Erwägung“.54 Sie widersteht den Gefahren, die aus dem Verweis auf die Selbstzwecklichkeit des Gottesdienstes oder auf die – den Handelnden entlastende – Autopoiesis (bzw. die „Autobasileia“55) des Gotteswortes entstehen können, der Gefahr nämlich, zu meinen, dass es hierbei auf menschliches Handeln nicht ankomme. ———— 50 Lange, Chancen des Alltags, 317. Vgl. A. Grözinger, Einübung in Weltlichkeit, 19–21. 51 Lange, Predigen als Beruf, 22 (Hervorhebung v. Vf.). 52 Lange, Predigen als Beruf, 30. Am deutlichsten rührt er an diese Grenze in der Passage, die vom Predigteinfall handelt (33–35). Vgl. dazu Dober, Evangelische Homiletik, 153f. 53 Lange, Predigen als Beruf, 52–67, 55. vgl. 28. 54 Lange, Predigen als Beruf, 19. 55 Lange, Predigen als Beruf, 55.

246

Insgesamt ist ein Gestus der Bezeugung für das Verständnis von Langes praktischen Theorien des Gottesdienstes (und der Predigt56) konstitutiv, weil er nicht nur die in den Texten der Bibel zum Ausdruck gebrachte Verheißung betrifft, sondern auch „jenes zwischenmenschliche Geschehen, das Verheißung hat und dem […] [der Glaube] sich verdankt“.57 An anderer Stelle liest man: „Bei der Verheißung bleiben, muss […] heißen […] bei den Menschen bleiben, die sich da sammeln. Sie wahrnehmen in der Wirklichkeit ihres Leidens, ihrer beunruhigenden Fragen und ihrer unbestimmten Erwartungen. Nicht davonlaufen in die ungute Utopie einer ‚gänzlich neuen‘, von der Last ihrer Vergangenheit völlig freien Kirche […] sondern einzuwandern […] in die Wirklichkeit, der die Verheißung gilt.“58

Der biblische Terminus, den Lange zur Erhellung des wechselseitigen Kommunikationsverhältnisses aufgreift, ist der des Bundes. Entsprechend wird das Wesen der gottesdienstlichen Versammlung von ihm als „Bundeserneuerung“ beschrieben.59 Mit diesem Terminus versucht er den „besonderen Vorgang“ zu fassen, „in dem Menschen, die in die Sackgasse des Glaubens geraten sind, der ungekündigten Treue Gottes gewiss werden, in dem die Christusverheißung sich gegen den an sich selbst irre gewordenen Glauben, gegen den Unglauben und seine Sünde durchsetzt.“60 Auch dieser „besondere Vorgang“ ist auf den „umfassenden Gottesdienst [zu beziehen], in dem Gott beim Menschen ist“, endet doch „der Dienst Gottes am Menschen nicht, wenn die Versammlungen enden“.61 Möglich ist er aber nur als ein zwischenmenschlicher Kommunikationsvorgang: „Der Bund Gottes mit den Menschen erneuert sich in der Verbindung der Menschen untereinander.“62 Das diese Erneuerung begünstigende Handeln erschöpft sich weder in sachgemäßer Exegese der im Gottesdienst verlesenen Texte, noch in der dramatischen Inszenierung ihrer Heiligkeit, sondern schließt eine Antwort auf die Frage und den Ruf immer mit ein, der im Angesicht des begegnenden anderen Menschen ergeht. Es geht nicht um eine Inszenierung des göttlich-menschlichen Dramas oder des Heiligen, sondern um Zuspruch, um Anrede, um die Aufgabe der Kommunikation. Ohne sie könnte auch der sakramentale Aspekt des Gottesdienstes und der Predigt in seiner Mitte ———— 56 Einschlägig ist hier die an Kornelis H. Miskotte anschließende Formel von der „bezeugende[n] Interpretation der biblischen Überlieferung“ (Lange, Predigen als Beruf, 27–30, 28). 57 Lange, Chancen des Alltags, 315. 58 Lange, Chancen des Alltags, 307. 59 Lange, Chancen des Alltags, 159ff. 60 Lange, Chancen des Alltags, 162. 61 Ebd. 62 Lange, Chancen des Alltags, 151. Insofern kann man mit Hermelink sagen: „Der Wirklichkeitsbezug des Glaubens wird […] erkennbar als ein Geschehen zwischen Personen“ (Ders., Die homiletische Situation, 167).

247

überhaupt nicht verstanden werden. Die Gestaltungsaufgabe des Gottesdienstes stellt sich somit dar als Wegbereitung für eine Rezeption, die dem einzelnen Teilnehmer überlassen bleiben muss. 7.3.3 Beugt Lange den Gottesdienst „unter die Tyrannei der Ethik“? Nach Lange ist die Liturgie des Gottesdienstes nicht zweckfrei in sich selbst ruhend vorzustellen. In der Perspektive ihrer Gestaltung lebt sie aus der produktiven Unruhe, die aus dem Ruf zur Verantwortung folgt. Beugt er so nicht den „Gottesdienst unter die Tyrannei der Ethik“?63 Lange fragt nach dem Nutzen des Gottesdienstes für das Leben. Ist an dieser Konzeption nicht eine idealtypisch „protestantische Verfehlung des christlichen Gottesdienstes“64 zu studieren: die Auffassung nämlich, „dass der Christ in der Weise des vernünftigen Gottesdienstes in den unterbrochenen Lebenszusammenhang zurückkehrt, indem er diesen durch sein eigenes Leben und Tun verantwortet, gestaltet, verändert“?65 In der Tat, so scheint es. Die in der Perspektive seines Wesensbegriffs erkennbare Ambivalenz der Rede vom gottesdienstlichen Handeln66 tritt bei Lange deutlich hervor. Vieles, allzu vieles scheint hier den Schultern derer aufgebürdet, die mit der verantwortlichen Gestaltung des Gottesdienstes betraut sind. Und weniges, allzu weniges scheint hierbei vom „vernünftigen Gottesdienst“ (Römer 12,1) im Alltag der Welt, von der christlichen Bewährung der Gottes- und Nächstenliebe unterschieden zu sein. Das Moment gegenweltlicher Unterbrechung, das der Gottesdienst – ritualtheoretisch verifizierbar – trägt, wird unterbelichtet, wenn Lange den Gedanken abwehrt, die Kirche sei „eine Zuflucht aus den alltäglichen Bedrängnissen“ und solle darum „dem Alltäglichen weit entrückt sein“.67 Es ist aber wichtig, Langes theologische Begründung nicht aus dem Blick zu verlieren. Dass die Situationsgemäßheit des Gottesdienstes für ihn an der zwischenmenschlichen Begegnung hängt, ist eine Konsequenz aus seiner inkarnatorischen68 Wesensbestimmung. Weil der Gottesdienst unter „Berufung auf den Namen Jesu Christi“69 im Zeichen der Verheißung der „Fleischwerdung des Wortes“70 stehe, ———— 63 64 65 66 67 68 69 70

248

Jüngel, Gottesdienst, 290 zit. J. Smend. Jüngel, Gottesdienst, 297. Jüngel, Gottesdienst, 296. Vgl. Jüngel, Gottesdienst, 303. Lange, Chancen des Alltags, 13. Vgl. Grözinger, Einübung in Weltlichkeit. Lange, Chancen des Alltags, 24. Lange, Chancen des Alltags, 23.

könne „der Sinn des Gottesdienstes unmöglich darin liegen, dass er den Menschen von den Belastungen des Alltags, wenigstens vorübergehend, befreit, indem er sie teilhaben lässt an einer Art ‚Überwirklichkeit‘ […] Grund, Inhalt und Verheißung des Gottesdienstes ist vielmehr, dass uns die Profanität um Jesu willen als voller Verheißung, voll der Gegenwart Gottes immer aufs neue eröffnet, offengehalten und aufgetragen wird.“71

Das für den Gottesdienst wesentliche Angesprochen-Werden im Namen Gottes bleibt auf einen Kommunikations-Zusammenhang verwiesen, in dem die Fragen, Nöte und Probleme derer, die sich ansprechen zu lassen bereit sind, wahrgenommen werden müssen. Hierbei wird „die selbständige Bedeutung des öffentlichen Gottesdienstes“72 von Lange nicht vernachlässigt. Dass der wesentlich verstandene Gottesdienst die Inkarnation des göttlichen Wortes erfahrbar machen will, ist für ihn anhand der drei wechselseitig aufeinander verweisenden Aspekte nachzuvollziehen, die das bekennende Amen der Gemeinde im Gottesdienst zusammenfasst. Erstens ist es „ein Ja zur Bürgschaft Jesu […] für den Anbruch der Gottesherrschaft in der Wirklichkeit“. Zweitens ist es „ein Ja zu dem Kommunikationsgeschehen, das von Gott her wiederum als voller Verheißung erwiesen ist“. Und drittens ist es ein Ja zum Auftrag der Gemeinde, „zu der Zerstreuung, die ihr bevorsteht und zu der alltäglichen Realität, in die sie ausgestreut werden wird“.73 Schließlich wird man auch die Forderung, dass „alles, was in der Versammlung geschieht“, sich „als verantwortliche Interpretation der biblischen Überlieferung ausweisen lassen“74 müsse, als einen Hinweis auf das Kriterium der Regelmäßigkeit verstehen dürfen, an dem die situationsgemäße Gestaltung zu orientieren ist. Dennoch ist die verantwortlichen Gestaltung des Gottesdienstes immer auch ein menschliches „Werk“. Ein Werk, das allerdings nur „in der Geduld“ möglich ist, und also in der Differenz besteht, das Gelingen nicht allein in der Hand zu haben (Geduld, in der das Amen der Gemeinde lebt). Ein „Werk ohne Entschädigung“, das aus der Ökonomie der Tauschverhältnisse herausgehoben ist. Kein Werk unter der Tyrannei der Ethik, so dass der Handelnde seine Wertschätzung aus dem Erfolg bezöge, sondern – will man Lévinas folgen – ein Werk ursprünglicher Verantwortung in der Dimension des Unendlichen, Absoluten, aus der – ihm zufolge – die Ethik überhaupt erst hervorgeht.75 ———— 71 Lange, Chancen des Alltags, 24f. 72 Jüngel, Gottesdienst, 290 zit. J. Smend. 73 Jüngel, Gottesdienst, 171f. 74 Jüngel, Gottesdienst, 316. 75 Wie Lévinas die Ethik aus ursprünglicher Verantwortung entwickelt, habe ich an anderer Stelle rekonstruiert: Vgl. Dober, Die Begegnung im Angesicht des anderen, 182–200.199f. Sowie: Dober, „Ich und mich sind immer zu eifrig im Gespräche“, 521f.

249

Daraus lässt sich ein qualifizierter Begriff der Liturgie ableiten, der auch als Leitbegriff kirchlicher Praxis taugt, wenn sie denn sich selbst als gegründet in einem Ereignis versteht, das sie allen guten Werken voraussetzen muss. Ein gutes Werk wäre aber ein solches, „das nicht dem Erwerb von Verdiensten, sondern einzig dem Andern dient“.76 Im speziellen Sinne der Erfahrung und Gestaltung von Gottesdiensten wäre Liturgie – gut protestantisch – als Wortgeschehen zu begreifen, in dem ein Sich-anrühren-lassen durch Worte, Zeichen und Symbole vorausgesetzt werden muss, um zu einem liturgischen Handeln im hier thematischen Sinne überhaupt offen, bereit und fähig zu werden. So verstanden wäre die Liturgie also nicht ein zweckfreies Geschehen, das dem Treiben der Welt enthoben wäre, ein Hort oder gar eine feste Burg des Handelns der Liturgen und des Empfangens der Gemeinde, das sich von all dem zweckgerichteten Tun des Alltags wesentlich unterschiede, doch auch nicht als ein zweckhaftes Geschehen im Interesse von Subjekten, denen es zuerst und zumeist um sich selbst geht (denn so müsste ein kommunikationstheoretisches Verständnis von Liturgie argumentieren) – das neuzeitliche Konzept von Subjektivität wäre zu trennen von den Zwecken, die Subjekte um ihrer selbst willen verfolgen –, sondern als ein Geschehen (und dann auch ein Handeln), das seinen Zweck im Andern hat. 7.3.4 Der Begegnungscharakter des Gottesdienstes auf humanwissenschaftlicher Grundlage Auch für Lange „steht und fällt“ die Kirche mit dem Gottesdienst.77 Die „Zentralveranstaltung der Kirche“ hängt aber für ihn an „ihrem Begegnungscharakter“. Und der steht auf dem Spiel sowohl bei allzu striktem Festhalten an traditionellen Formen als auch bei allzu viel Lob der ständig wechselnden neuen Formen. Seine Bewährung erfährt er aber anlässlich der „Amtshandlungen“. Sie stellen den exemplarischen Fall dafür dar, dass jeder Gottesdienst, der im beschriebenen Sinn verantwortlich gestaltet wird, seinen nicht nur liturgischen (auf die Stelle im Kirchenjahr bezogenen), sondern auch auf das gegenwärtige Leben bezogenen Kasus hat. Will die Kirche „ihrer Liturgie den Begegnungscharakter wiedergewinnen“, so wird sie sich an den Kasus der Taufe, der Konfirmation, der Hochzeit, der Bestattung und evtl. auch weiterer für den Einzelnen bedeutsamen Lebensschwellen zu orientieren haben.78 Was das bedeutet und was daraus ———— 76 Lévinas, zit. nach H. Luther, Religion und Alltag, 83. 77 Lange, Gottesdienst, 333. 78 Alle Zitate: Lange, Gottesdienst, 337. Gewiss wird man mit Herms festhalten müssen: „Gottesdienste für besondere Anlässe“ sind allesamt „etwas generisch anderes als die Institution des

250

für die Gestaltung des Gottesdienstes folgt, zeigt Lange im Rückgriff auf Erträge vor allem der Kirchen-, und Religionssoziologie.79 Die verantwortliche Gestaltung des Gottesdienstes muss sich insgesamt an der Religiosität der Menschen orientieren, die sich als deren Suche nach Identität verstehen lasse. Ihr vermöge die kirchliche Religion dadurch zu entsprechen, dass sie „den Anspruch [erhebt] und […] den Versuch [macht], den Menschen von außerhalb seiner selbst zu identifizieren, als den Geschaffenen, als den von Gott Gerufenen und Bestallten“80. Die verantwortliche Gestaltung des Gottesdienstes ist vor diesem Hintergrund als Sorge um das Zu-sich-selbstKommen des anderen zu begreifen. Weiterhin deutet er die Suche nach Religion als Suche nach Distanz. Das verbindet die religiöse mit der ästhetischen Erfahrung81, und zwar implizit auf der Grundlage eines differenzierten Verständnisses des Bilderverbotes. Drittens stellt der als Vermittlung des Deutungspotentials der historischen Religion mit der Vielfalt der zeitgenössischen Religiosität verstandene Gottesdienst eine Möglichkeit dar, „das Dasein zu feiern“.82 Der auf das wirkliche Leben der Teilnehmer bezogene Gottesdienst vermag der vielleicht diffusen Religiosität des einzelnen Menschen Prägnanz zu verleihen. Lange arbeitet diesen Gesichtspunkt im Vergleich mit einer Geburtstagsfeier heraus. Wie diese „in einer dramatischen Weise“ das alltägliche Essen, Trinken und Spielen inszeniert, um eben so die tatsächlich erfahrene Zweideutigkeit im alltäglichen Umgang miteinander auf Eindeutigkeit zurückzuführen, so auch der auf humanwis———— Gottesdienstes, die der Kanon explizit und implizit als Identitätszentrum des christlichen Gesamtlebens bezeugt. Sie alle setzen dieses Identitätszentrum schon voraus und leben von seiner Funktionstüchtigkeit […] Das christliche Leben kann seine Identität nicht aus Kasualien gewinnen (was nicht heißt, dass sie ohne Kasualien bestehen kann)“ (Herms, Gottesdienst, 344.). Diese Argumentation (die Lange unterschrieben hätte [Ders., Chancen des Alltags, 161f]) geht aber ihrerseits davon aus, dass der als wesentlich begriffene Gottesdienst tatsächlich auch besucht wird, dass er – aufgrund seines Antwort-Charakters auf die wirklichen Fragen der Menschen – attraktiv und interessant genug ist, um die Mühe des Weges und die Länge der Zeit auf sich zu nehmen bei der Konkurrenz anderer Angebote der Unterbrechung des Alltäglichen und der Gestaltung der Freizeit (vgl. Gräb, Lebensgeschichtliche Sinnarbeit, 219–240). Dass „das christliche Gesamtleben mit dem Gottesdienst im ursprünglichen und strikten Sinn sein Identitätszentrum zu verlieren beginnt“ (Herms, Gottesdienst, 344), ist ja nicht nur auf eine wachsende Vorliebe von Kirchengemeinden und Pastoren für Gottesdienste aus gegebenem Anlass zurückzuführen, sondern auch als Versuch einer Antwort darauf zu interpretieren, dass nicht wenigen Zeitgenossen die agendarisch festgelegten Formen fremd, fern und apart von ihrem wirklichen Leben erscheinen. 79 Lange, Gottesdienst, 333–336.339f. Neuere Untersuchungen schließen hier an und arbeiten mit anderen theoretischen Mitteln weiter. So ist Josuttis aufmerksam auf „nichtverbale kultische Elemente“ im Gottesdienst, so hat H. Luther die sprechakttheoretische Fragestellung aufgenommen (nach Heimbrock, Feier des Unscheinbaren, 186), so integriert H. van der Geest emotionale Aspekte wie Vermittlung von Urvertrauen oder das „ganzheitliche Erleben“ des Überzeugtwerdens (188). 80 Lange, Gottesdienst, 333. 81 Vgl. Gräb, Lebensgeschichten, 100–118. 82 Lange, Gottesdienst, 335.

251

senschaftlicher Grundlage gedeutete Gottesdienst. Die Vollzüge, auf denen die Beziehung beruht, werden auf diese Weise symbolisch aufgeladen und zur Botschaft gemacht. „Zwischen Vorgang und Feier besteht dieselbe Beziehung wie zwischen Ereignis und Interpretation, Ereignis und Verkündigung, Ereignis und Bekenntnis. Nur dass die Beziehung zwischen Vorgang und Feier sinnlicher ist, lebenspraktischer.“83 Schließlich wird die gelebte Religion als Suche „nach Möglichkeiten des Spiels“84 und das Spiel als ein eigener Modus des Ernstes der Verantwortung begriffen. Gemeint ist nicht die dramatische Inszenierung der Liturgie als ein Spiel, an dem man als Zuschauer teilnimmt. Vielmehr geht Lange von einem aktiven Mitvollzug der Rezipienten des Gottesdienstes zum Zweck der Vergewisserung im eigenen Leben aus.85 Im Gottesdienst wird eine Freiheit erprobt, die die Menschen „nicht in sich selbst finden, sondern die ihnen nur durch die Gegenwart eines andern gewährt ist“.86 Es ist der Weg zu bereiten, dass „unsere Gottesdienste […] zuwege bringen, was das Kind zuwege bringt im Märchen von ‚Des Kaisers neuen Kleidern‘: Ein Bann wird gebrochen, Klarheit entsteht, ein Gelächter kommt auf, Freiheit wird erfahren“87.

Lange traut dem Märchen zu, was Benjamin im Lesskow-Essay „Der Erzähler“ (1936) beschrieben hat: „Der befreiende Zauber, über den das Märchen verfügt, bringt nicht auf mythische Art die Natur ins Spiel, sondern ist die Hindeutung auf ihre Komplizität mit dem befreiten Menschen. Diese Komplizität empfindet der reife Mensch nur bisweilen, nämlich im Glück; dem Kind aber tritt sie zuerst im Märchen entgegen und stimmt es glücklich.“88

Insgesamt soll die gottesdienstliche Versammlung von den bedrückenden Wirklichkeiten des Lebens entlasten (absolutio), Zukunft eröffnen, den Menschen so wieder in seine von der Verheißung getragene Wirklichkeit einsetzen (promissio) und den Auftrag zur Weltverantwortung erneuern (missio).89 Nur wenn der Gottesdienst als ganzer aber zur Darstellung bringt, was die Aufgabe der Predigt im besonderen ist: die wahrgenommene Wirklichkeit der Lebenswelten mit den hermeneutisch erschlossenen Gehalten der Tradition (des Textes, der Gebete, der Lieder) verheißungsvoll zu ———— 83 Lange, Gottesdienst, 335. 84 Lange, Gottesdienst, 336 (Hervorhebung v. Vf.). 85 Die Differenz zu dem oben mit Peter Iden geschilderten Problem, dass Gottesdienste zur „Mitspiel-show“ degenerieren, ist allerdings von Langes Bestimmungen aus noch nicht deutlich genug zu sehen. Es bedarf darüber hinaus der Reflexion auf den angemessenen Stil (s. u.). 86 Lange, Gottesdienst, 336. 87 Lange, Gottesdienst, 340. 88 Benjamin, GS II/2, 485. 89 Vgl. Lange, Chancen des Alltags, 210f. Vgl. 141f.

252

„ver-sprechen“, wird er in dem doppelten Sinn situationsgemäß sein können, dass er eine gegenweltliche Situation schafft, die zugleich dem Alltag zugute kommt. Dazu bedarf es einer gemeinsamen Sprache, der Symbole, auf die man sich – interpretierend – berufen kann. Schon einzelne Worte, Texte, Bilder können einen symbolischen Charakter haben.90 7.3.5 Handeln unter dem Kriterium der Angemessenheit Die für die Gottesdienstgestaltung Verantwortlichen befinden sich in einem erheblichen Ermessensspielraum, in dem ihr Handeln je zwischen einem Minimum und einem Maximum auszumitteln ist.91 In der Perspektive der phänomenologischen Analyse der Lebenswelt ist die Situation jeweils als ein Differenzverhältnis von Horizonten und selbstverständlichen Vertrautheiten bestimmt worden. Indem Horizontübergriffe stattfinden oder Abgeschattetes beleuchtet und Stillschweigendes thematisiert wird, findet eine Verflüssigung des bisher fest Gefügten statt. Im Situationsbegriff liegt auch diese Bewegtheit durch Kommunikation. Für diejenigen, die für die Gestaltung des Gottesdienstes verantwortlich sind, ist das Differenzverhältnis von Horizonten und selbstverständlichen Vertrautheiten zugleich wahrzunehmen und zu gestalten. Die Komplexität der Aufgabe stellt sich in wenigstens drei Hinsichten dar: der Aufmerksamkeit auf die durch kirchliche Ordnung festgelegten und auf die zu erwartenden kontingenten Bedingungen tritt das Bewusstsein und die Entschlossenheit an die Seite, dass hier und jetzt gehandelt werden muss und dieses Handeln die Situation ergreifen oder verspielen kann. Über die aufmerksame Prüfung der „Großwetterlage“92 einer Gegenwart in Gesellschaft, Gemeinde und Zeitgeist auf der einen, und der in Schrift, Ritus und Konvention verfestigten Tradition auf der anderen Seite hinaus bedarf es – bei der Wahl der Musikstücke, der Lieder, der Formulierung der Gebete, der Durchgestaltung des Gottesdienstes im einzelnen – des individuellen Handelns (und nicht nur eines bestimmten Verhaltens). Dieses wird dann als kompetent gelten können, wenn es einen angemessenen Weg zwischen den Extremen eines jeweiligen Minimums oder Maximums gewählt hat. Das heißt aber, dass das Handeln nicht einfach Resultat eines in Zeichen zu übersetzenden Wissens ist. Vielmehr gehört der Vermittlungsaspekt dem Handeln selbst an93: von Lange ———— 90 91 cher 214. 92 93

Vgl. dazu: Scharfenberg, Pastoralpsychologie, 61. Maßgeblich ist eine praktisch-theologische Handlungstheorie solchen Typs von Schleiermaausgearbeitet worden. Vgl. M. Moxter, Güterbegriff und Handlungstheorie, 198ff bes. 210– Lange, Predigen als Beruf, 38. Vgl. Moxter, Kultur als Lebenswelt, 320.

253

wird die Aufgabe des Handelns nicht außerhalb der Kommunikation und der Begegnung gedacht; es ist selbst Übersetzung.94 Im Vergleich mit den von der Rhetorik seit ihren antiken Anfängen korrelativ aufeinander bezogenen Aspekten der Rezeption und der Produktion einer Rede lässt sich die Gestaltungsaufgabe eines ihrer Situation angemessenen Gottesdienstes auch unter dem Kriterium des aptum näher bestimmen. Als angemessen wird diese erstens hinsichtlich der handlungsethisch orientierten Wahl des Weges zwischen den Extremen gelten können. Die Frage ist dann, ob im Gottesdienst das wirkliche Leben derer, die an ihm teilgenommen haben, so zur Sprache kam, dass es sich im Licht eines klärenden, und so befreienden Wortes neu hat verstehen können. Das ansprechende Sagen des Liturgen und Predigers muss der formalen Möglichkeit nach verstehbar geworden sein im Sinne des de te fabula narratur. Wie am oben zitierten Beispiel von Scharfenberg zu sehen war, können hiervon auch symbolische Gesten betroffen sein, über deren kommunikative Tragweite der Liturg sich vielleicht nicht völlig im Klaren ist. Die Freiheit der Rezeption wird aber immer über die Absicht der Gestaltung hinausgehen. Zweitens wird die sprachliche Gestaltung am Kriterium der Stilgerechtigkeit zu messen sein. Nicht jedes Sprachspiel aus dem Alltag der Welt ist in das Sprachspiel Gottesdienst einzubeziehen. Darauf hatte ich oben mit Peter Iden aufmerksam gemacht.95 Und nicht jedes gerade gängige Musikstück, nicht jedes Bild, nicht jeder Film ist geeignet, in den Gottesdienst integriert zu werden. Mit Blick auf die religiöse Rede wird nach Lange der dem liturgischen Gottesdienst eigene erhabene Stil (genus grande) problematischer erscheinen als der schlichte (genus subtile).96 Doch auch in dieser Frage ———— 94 Insgesamt wird sich die Kompetenz zum liturgischen Handeln weder in einer bloßen Technik im Sinne geübter Konventionalität oder methodisch kontrollierter Anwendung neuer Konzepte erschöpfen können (so unverzichtbar die Arbeit an diesen „äußerlichen“ Aspekten auch ist), sondern konstitutiv zu beziehen sein auf die „Lebenssituation“ des verantwortlich Handelnden, sein „theoriebildendes Reflektieren“ und die Gründung dieser Reflexivität im „erlebnis- und gefühlsmäßig gegenwärtigen religiösen Leben selber“ (Herms, Was heißt „theologische Kompetenz“, 200). 95 Das oben gegebene Zitat hat folgenden Fortgang: „Die Deformation des Gottesdienstes zur freizügigen, durch Beliebigkeit gekennzeichneten Mitspiel-Show nach von den Medien vorgegebenen Mustern begründet sich aus dem Bemühen, die Kirche als sonntägliche Heimstatt (wenn nicht als Heimat) anzubieten. Der Irrtum dabei steckt in der Annahme, dass nur, wer auf zeitgenössisch entspannte Art mitreden und mittun könne, sich auch zugehörig und zuhause fühlen werde. Daraus resultiert ein Verfall formaler Strukturen des liturgischen Rituals, dessen historisch vermittelte Komplexität eingeschliffen und (bestenfalls) auf Rudi-Carell-Niveau heruntergebracht wird. Das bleibt aber nicht ohne Folgen für das Besondere der christlichen Botschaft: Die Anpassung an das Geläufige neutralisiert den Gegenton zum Geräusch der Welt, das Moment des Spirituellen, das Geheimnis, welches der Glaube ist, der sich in der Teilnahme an einem Gottesdienst zugleich festigen und zum Ausdruck bringen will“ (P. Iden, Der Pastor als Entertainer, S. 9). 96 Den „Rap“ als rhythmisierte Form des Sprechens etwa in den Konfirmationsgottesdienst zu integrieren, um das Glaubensbekenntnis vorzutragen, wird von Teilen der Gemeinde als ein in diesem Rahmen zu vulgäres Stilmittel empfunden.

254

wird mit dem mittleren Stil (genus medium seu mixtum) ein Weg zwischen den Extremen zu suchen sein. Manche Enttäuschung zeitgenössischer Gottesdienstbesucher rührt eben auch daher, dass nicht die – mit Recht zu erwartende – gehobene Alltagssprache zu hören war, sondern allzu schlichte oder allzu erhabene Rede. Drittens wird man in ästhetischer Hinsicht fragen müssen, ob die Sprache eines Gottesdienstes von Votum und Gruß bis zu Segen und Amen so durchgestaltet war, dass sie wie ein Kunstwerk die Vielheit des Einzelnen zu einer Einheit zusammenzufügen vermochte. Dieser Anspruch widerspricht dem ethischen Korrektiv nicht, das mit Lange einem ästhetisch-selbstgenügsamen Verständnis des Gottesdienstes gegenüber behauptet wurde. Denn die Wahrnehmung der Verantwortung den wirklichen Teilnehmern gegenüber fordert um der Verständlichkeit der Mitteilung willen ihre Durchgestaltung nach den Regeln der Kunst. Wie schon angeklungen, leitet das Kriterium der Angemessenheit auch den Gebrauch der Medien Ton und Bild. Grundsätzlich wird gelten können, dass nicht die Kunst schon eine Rechtfertigung des Daseins darstellt, sondern einzig das göttliche Wort, in dessen Dienst sich denn auch die Künste stellen. Dass es unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen hier zu Spannungen kommen kann und immer wieder tatsächlich kommt, liegt auf der Hand. Der Gottesdienst ist aber ein Ort, wenn nicht der Ort, an dem einer Überhöhung der Kunst als Kunst in der Massendemokratie widersprochen werden kann. Doch die Geltung dieses normativen Gesichtspunktes wird heute keine Rückkehr zu der praktisch-theologischen Bewertung kirchlich angemessener Musik der Vergangenheit rechtfertigen können.97 Jazz und Pop können durchaus ihren Platz in der Kirche finden, eine Combo mit entsprechender Besetzung der Instrumente (Piano, Drums, Bass, Saxophon oder Trompete bzw. Posaune) wird das Gefühl nicht nur der ganz jungen Menschen ansprechen, und Bilder bzw. Werke zeitgenössischer Künstler wie etwa G. Baselitz werden die innergemeindliche Kommunikation anregen können. Auch dem Film wird als Predigtbeispiel, das die mit dem Text zu verknüpfenden Erfahrungen der Gegenwart prägnant zur Anschauung zu bringen vermag, eine relevante Rolle im Kontext des Gottesdienstes zuzuerkennen sein.98 Wie eine solche Integration zeitgenössischer Kunst in der Vielfalt ———— 97 S. o. Kapitel 5 zu E. Chr. Achelis. 98 Für die Gestaltungsverantwortung stellt sich allerdings erstens die Frage, welcher Film geeignet erscheint, zweitens, ob er als Zitat im Gottesdienst selbst eingespielt werden soll oder ob es nicht ausreicht, ihn etwa am Samstagabend allen Interessierten zugänglich zu machen. In der ersten Frage kommt es auf eine gute Kenntnis der für den Gebrauch im Gottesdienst möglichen Filme an, sowie auf die Fähigkeit, den Gehalt des Films mit dem Predigttext zu „ver-sprechen“, hinsichtlich der zweiten spricht vieles für die Filmvorführung am Vorabend, wenn es mit dem örtlichen Kino nicht zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit kommt..

255

ihrer Medien vonstatten gehen kann, ist weitgehend dem Talent und dem Geschmack der für den Gottesdienst Verantwortlichen überlassen, d. h. den Pfarrern und Kirchenmusikern. In allen Gestaltungsfragen waltet aber das über Riten, Medien und Symbole aufgeklärte Bewusstsein unter dem Kriterium der Angemessenheit. 7.3.6 Die Feier des Gottesdienstes Ob ein Gottesdienst insgesamt seiner Situation angemessen gewesen ist, lässt sich weder aus Wesensbegriffen noch aus regulativen Kriterien seiner Gestaltung ableiten, sondern nur im Prozess der Teilnahme als Idee wiedererkennen. Die Idee des christlichen Gottesdienstes in evangelischem Verständnis ist aber als aufscheinende Konstellation derjenigen Begriffe (respektive der ihnen entsprechenden Bilder und Vorstellungen) zu verstehen, mit denen sein Wesen bestimmt worden ist. Zu diesen Begriffen wird man das „Gesetz“, das „Evangelium“, die „Rechtfertigung“, den „Glauben“ und dergleichen zu rechnen haben (wie auch die tradierten oder kreativ gebildeten Metaphern und Vorstellungen, in denen der begriffliche Gehalt zur Darstellung kommt). Man wird dieser Idee nicht gewahr, wenn man sich bloß auf Einzelnes konzentriert. Vielmehr erscheint die Einheit des Ganzen als Konstellation, die im wesentlichen Zusammenhang von Gebeten, Liedern, Schriftlesung und Predigt wiederzuerkennen ist. Um das evangelisch bestimmte Wesen des Gottesdienstes in jeder Situation seiner Feier wie ein Sternbild am Himmel wieder erkennen zu können, muss der Zusammenhang der einzelnen Punkte aber gleichsam urbildlich „gewusst“ sein.99 Für die Gestaltungsfragen ist festzuhalten: Es liegt auch in der Metaphorik der Orientierung an einem Sternbild, dass die für seine Gestaltung Verantwortlichen zu einem situationsgemäßen Gottesdienst immer nur unterwegs sein können. Die Gestaltung des situationsgemäßen Gottesdienstes und die Teilnahme an ihm ist als ein offener Prozess produzierender Rezeption und rezipierender Produktion zu denken. Zu erfahren ist dieses Wechselverhältnis exemplarisch an Fest und Feier. Am Gottesdienst teilzunehmen heißt am Ende auch für die für seine Gestaltung Verantwortlichen, die Sphäre des Handelns zu überschreiten und sich als ein Handelnder in einer ———— 99 Die nähere Ausführung der Konzeption der Idee als Konstellation findet sich in der Vorrede zu Walter Benjamins „Ursprung des deutschen Trauerspiels“. Sie ist im Kontext von dessen Werk dargestellt worden von G. Figal (Ders., Die Konstellation der Modernität. Walter Benjamins Hermeneutik der Geschichte, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, 1993/1, 130–142). Vgl. Dober, Die Moderne wahrnehmen, 153–174 . Vgl. weiter: Dober, Die Idee als Konstellation der Gestalt, 14–33.

256

angemessenen Weise zur Feier eines solchen Festes zu verhalten.100 Schon die neutestamentlichen Gleichnisse vom Gastmahl weisen deutlich darauf hin, dass das Verhalten auf einem Fest auch unangemessen sein kann.101 In der Feier wird erfahrbar, dass eben der gestaltete Gottesdienst den Dienst vergegenwärtigt, den Gott uns Menschen getan hat. In die Einladung zur Teilnahme wird sich also auch der verantwortlich Handelnde einbeziehen dürfen, und nur, wenn er sich selbst darin einzubeziehen vermag, wird sein Verhalten als Mitfeiernder angemessen sein können. Der Sinn der Langeschen Frage nach dem Nutzen des Gottesdienstes wird paradoxerweise darin bestehen, dass Spuren zu einer Oase der Zweckfreiheit gelegt werden, denen dann folgt, wer kann und mag.

———— 100 Das korrelative Verhältnis von Fest und Feier ist von Chr. Albrecht dargestellt worden (Ders., Sinnvergewisserung im Distanzgewinn, 362–384). 101 Vgl. E. Jüngel, Schmecken und Sehen, 67–74.

257

8. Das Gebet als Matrix und Apex des Gottesdienstes

Wir liegen vor dir mit unserem Gebet / und ver-trauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, / sondern auf deine große Barmherzigkeit. Daniel 9,18 Der du allein der Ewge heißt / und Anfang, Ziel und Mitte weißt / im Fluge unsrer Zeiten: / bleib du uns gnädig zugewandt / und führe und an deiner Hand, / damit wir sicher schreiten. Jochen Klepper (1938), EG 64,6

8.1 Der Gottesdienst als Fest, Feier und Gebet Inwiefern lässt sich das Gebet als Matrix und Apex des Gottesdienstes ansehen, als seinen Mutterboden und Ziel- bzw. Kulminationspunkt? Eine Antwort ist aus der Kritik der Reichweite einer anderen, heute vielfach vertretenen These zu entwickeln, der nämlich, dass Fest und Feier das Wesen des Gottesdienstes ausmachen. Denn Fest und Feier sind die allgemeinen Gegenstände, im Vergleich mit denen auf einem heute allgemein verständlichen Wege überhaupt erst dargetan werden kann, welchen Sinn und Zweck der Gottesdienst habe, wozu er gut sei und was er nütze. Er führe nämlich, wenn seine verantwortliche Gestaltung (d. i. ein produktionsästhetischer Gesichtspunkt) und eine angemessene Teilnahme (d. i. ein rezeptionsästhetischer Gesichtspunkt) zusammenträfen, in eine Haltung der Gelassenheit, die der glaubenden Existenz am besten entspräche. So sei in Analogie zur Teilnahme an einem Fest, in das ich mich hineinnehmen lasse, die Erfahrung zu machen, dass der Gottesdienst sich nicht unserer eigenen Aktivität allein erschließt (und also primär ein Dienst des Menschen an Gott sei), sondern als Gabe und als Dienst, den Gott an uns Menschen getan hat und tut. Die menschliche Empfänglichkeit ist hierbei vorausgesetzt. Diese These, der ich im vorhergehenden Abschnitt ein gutes Stück gefolgt bin, macht nicht wenige Anleihen bei der Theorie des Rituals. Sie setzt die humanwissenschaftlichen Zugänge voraus, die oben referiert wor258

den sind. Und sie nimmt die Ambivalenzen des Rituals nicht so ernst wie die Funktionen, die es erfüllt.1 Eine weiter führende These zu der eben referierten, der Gottesdienst habe sein Wesen in Fest und Feier, lautet: Im Gebet findet er seine Matrix und seinen Apex, als Dank für die von Gott empfangenen Gaben, ja dafür, dass Gott sich selbst gegeben hat und gibt,2 Dank für das neu gewonnene Vertrauen in der mit Risiken behafteten Offenheit des Lebens. Und als Bitte, nicht aus des rechten Glaubens Trost zu fallen, Bitte für das eigene, als Frist erfahrene Leben und das der anderen in den konkreten Belangen ihrer gegenwärtigen Not. Mit dem als Bitte begriffenen Gebet wird ein Spannungsverhältnis glaubender Existenz erinnert, dessen anderer (und eben nicht dessen einziger) Pol der in Fest und Feier sich manifestierende Dank ist. Zudem vermag es das Gebet in beiden (Grund-)Gestalten, auch noch mit den Ambivalenzen des Rituals aufzunehmen, welches zum Verständnis des Gottesdienstes vorausgesetzt werden muss. Ohne Ritual gibt es keine Liturgie, doch die Liturgie ist erst ganz bei sich im Gebet. Denn diese Sprachform im Vollzug ist der exemplarische Fall eines Werkes „ohne Entschädigung“, das nur „in der Geduld“ möglich ist.3 Schließlich ist am Ende auch die zu Beginn gestellte Frage aufzunehmen, ob in den Liturgien, die im Gottesdienst gefeiert werden, eine – unzeitgemäße – Gestalt von Metaphysik im nachmetaphysischen Zeitalter zu erblikken ist, oder ob in der Sprech- und Sprachgestalt des Gebets die Metaphysik nicht auf eine eigentümliche Weise verwunden werden kann. Eben diese Möglichkeit ist hier als These zu vertreten. Heidegger folgend ist „eine solche Verwindung […] anderes als eine Überwindung, die das Überwundene ein für allemal hinter sich ließe.“ Die abendländische Metaphysik, die „wegen der faktisch […] eingegangenen Verknüpfung der Ontologie mit der (platonischen) Theologie eine Funktion des ‚Willens zur Macht‘ darstellt“, muss „wie ein Schmerz oder eine Krankheit ‚verwunden‘ werden, von der man genest, wenn man sich ihrer erinnert, sie annimmt und zugleich verabschiedet; Metaphysik müsste also ein sich in sich selbst ‚verwundenes‘, erinnernd-annehmendes, zugleich gegen sich selbst gedrehtes und so genesendes Denken einüben.“4

In solcher Verwindung soll das Denken (auch nach der Umdrehung des Platonismus durch Nietzsche) den metaphysischen Ansatz überhaupt von sich abtun, in dem entweder die Welt oder Gott oder der Mensch als Letzt———— 1 S. o. Kapitel 3. 2 In diesem Gesichtspunkt kulminiert Luthers Frömmigkeit, die zur Ausbildung seiner reformatorischen Theologie führte (vgl. D. Korsch, Theologische Prinzipienfragen, 352–362, 358). 3 S. o. Einleitung (Bezug auf Lévinas). 4 W. Sparn, Ontologische Metaphysik versus metaphysische Religion, 57.

259

begründungsinstanz eingesetzt worden ist.5 Die Geschichte der Metaphysik soll als solche erinnert werden, in der das Sein vergessen worden ist. Anders als durch Erinnerung und Kritik der „Seinsvergessenheit“ tut das Gebet den metaphysischen Ansatz in einer je aktuellen Gestalt des Sprechens von sich ab6, um dem „Gedichteten“ des vor-metaphysischen Denkens in poetischen Formen der tradierten Sprache Platz zu schaffen.7 Um eine „Verwindung“ der Metaphysik (jedenfalls in ihrer von Heidegger analysierten neuzeitlichen Gestalt) handelt es sich insofern in einem präzisen Sinne, als die menschliche Subjektivität ihren eigenen Gründungs- und Machtanspruch vor Gott zurücknimmt, indem sie die kunstvoll geformten Gebete der Tradition mit innerer Beteiligung und Bewusstsein (mit „Andacht“) spricht, und das gemeinsam mit anderen. Eine so verstandene Verwindung der Metaphysik antwortet auf die Fraglichkeit des nach Metaphysik fragenden Menschen.8 Diese Gestalt der Verwindung geht aber – wie gesagt – auf poetische Formen des vor-metaphysischen Denkens zurück. Theunissen zufolge ist es durch zwei Weisen bestimmt, das Endliche zum Unendlichen oder den Menschen zum Göttlichen in Beziehung zu setzen.9 Einerseits kann er sich als Endlicher nach dem Unendlichen ausstrecken. Das geschieht in einer Bewegung des „Überstiegs“, in einer Bewegung des Transzendierens, die in ———— 5 Heidegger zufolge vollzieht sich „in der Metaphysik […] die Besinnung auf das Wesen des Seienden und eine Entscheidung über das Wesen der Wahrheit.“ So begründet „die Metaphysik […] ein Zeitalter, indem sie ihm durch eine bestimmte Auslegung des Seienden und durch eine bestimmte Auffassung der Wahrheit den Grund seiner Wesensgestalt gibt“ (Ders., Die Zeit des Weltbildes, 73). Schon Rosenzweigs „nachträglichen Bemerkungen“ zufolge ist diese Grundbestimmung des Seienden in der Antike der Kosmos, im Mittelalter Gott und in der Neuzeit die menschliche Subjektivität, das „Ich“ gewesen (Rosenzweig, GS III, 143 [Das neue Denken]). 6 Auch in dieser Hinsicht wird gelten können, was Lévinas in einem Interview als eine Einsicht Heideggers benannt hat, die er in sein eigenes Denken – die für ihn charakteristischen Transformationen vorausgesetzt – integriert hat: „Man spricht üblicherweise vom Wort Sein […], als wäre es ein Substantiv, obwohl es das Verb schlechthin ist“ (Lévinas, Ethik und Unendliches, 27). 7 Diesen Begriff hatte Benjamin in seiner Interpretation zweier Gedichte von Friedrich Hölderlins („Dichtermut“ und „Blödigkeit“) ausgearbeitet (GS II/1, 107ff). In diesem frühen Text interessiert ihn vor allem, wie der Dichter die Lebenserfahrung seiner Zeit in die Form eines „Gedichteten“ bringt. Hölderlin zitiert die Antike, und zwar auch und gerade ihre Mythologie, aber er kehrt nicht zu ihr zurück. Vielmehr ist in seiner Dichtung die antike Mythologie „aufgehoben“ im „Gesang“, der die Mythologie „‚der Einkehr zu‘ führt“, und zwar Menschen ebenso wie die Himmlischen (GS II/1, 112). So ist auch im Gedicht die Metaphysik aufgehoben (d. h. auch: bewahrt) und verwunden (d. h. auch: für ein modernes Bewusstsein gegenwärtig). 8 Vgl. K. M. Stünkel, Stern und Kreuz, s. o. Kapitel 4.3.3 Anm. 54. In meinem bisher nicht veröffentlichten Vortrag „Die Verwindung der Metaphysik im Gebet“ auf der Tagung „‚Kreuz der Wirklichkeit‘ und ‚Stern der Erlösung‘. Die Glaubens-Metaphysik von Eugen Rosenstock-Huessy und Franz Rosenzweig“ in Frankfurt a. M. am 7.7.2008 habe ich den Terminus auf dem Hintergrund von Heideggers Nietzsche-Studien näher bestimmt. Dieser Beitrag erscheint 2009 in einem von H. Wiedebach hg. Band. 9 Theunissen, Vormetaphysisches Denken, 34. Vgl. Dober, Seelsorge, 254.

260

der Neuzeit die Gestalt der Selbsttranszendenz angenommen hat. Andererseits kennt der Mensch aber auch die Erfahrung des „Einbruchs“ von Unendlichem ins Endliche, die Unterbrechung seines „Dichtens und Trachtens“ (Genesis 8,21b), die Grenzsetzung, das Trauma. Die Kontingenz bricht ins Leben ein, und damit muss der Mensch umzugehen lernen. Als eine spezifische Gestalt sprachlicher Reflexivität in Korrelation zu Gott kann das Gebet zur Praxis einer Bewältigung von Kontingenz werden. Der Zeitmodus des Betens ist die Gegenwart, in die die Zukunft des Erbetenen für einen Augenblick lang vor-fällt und die vom Dank für das Gewesene erfüllt sein kann wie von einer Bitte, die bei Trost ist. Die Zeitigung geschieht im Gebet dadurch, dass die Zeit ins Gebet genommen wird, doch nicht nur je meine Zeit, sondern auch die der andern, ja letztlich die Zeit aller. So kann auch die Herrschaft der Zeit verwunden werden, ohne die problematisch gewordenen Wege der Metaphysik der Tradition wiederholen zu müssen.10 Abschließend komme ich ein drittes Mal auf Rosenzweig zurück, nachdem ich erstens an seinen „Stern der Erlösung“ als Grundlegung einer Liturgik, die die Zeit ernst nimmt, und zweitens an seine Darstellung der liturgischen Ordnungen angeschlossen hatte, um die Funktionen des Rituals als notwendig für die Schöpfung und Erhaltung von Sozialität, von Gemeinschaft, zu erweisen. Das Ritual ist als Lebensform, Form der Wahrnehmung und der Erkenntnis vorauszusetzen, obwohl es seine Ambivalenzen nicht los wird. Diese werden aber im Gebet verwunden bzw. aufgehoben.

8.2 Schwierigkeiten mit dem Beten Dem Gebet eine derart wichtige Bedeutung im Verständnis des gottesdienstlichen Geschehens zuzusprechen heißt, sich über die vielfältige Kritik des Betens als einer dem neuzeitlichen Bewusstsein problematisch gewordenen Form hinwegzusetzen. Das kann aber redlicherweise nur so geschehen, dass diese Kritik erinnert wird, um durch sie hindurch – mit guten Gründen – an dieser Sprachform und den vorsprachlichen Formen des Gebets, etwa in der Musik, festzuhalten. Im musikalischen Bereich wird man die geistliche, die Kirchenmusik überhaupt, als eine Form des Gebets in der Sprache der Töne, ihrer Folge und ihres Zusammenklangs sehen können. In diesem Sinne trägt ein Jazz-Stück von John Coltrane den sprechenden Titel ———— 10 S. o. Abschnitt 2.3.4. Theunissen hatte die Erfahrung „gefrorener Ewigkeit“, wie sie der Zwangsneurotiker machen kann, auf das Theorem der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ bezogen. Zu denken ist auch an die Hegelsche Interpretation der Ewigkeit als „Allzeitlichkeit“, der Rosenzweig widersprochen hatte (vgl. Schindler, 382f).

261

„Dear Lord“ oder eines von Michel Petrucciani heißt „The Prayer“. Ähnlich wie ein Musiker von sich wird sagen können, dass er „bete“, wenn er musiziere,11 wird möglicherweise auch ein Maler oder ein Bildhauer bei der Arbeit sein. Entsprechendes wird für die Rezeption sowohl der Musik als auch eines Bildes gelten können. Wer etwa die Chagall-Fenster im Zürcher Fraumünster (oder andere kirchliche Glasfenster) betrachtet, wird sich in einer dem Gebet ähnlichen Haltung der Meditation finden können. In einem weiten Sinn verstanden, der die menschliche Äußerung in den ihm zur Verfügung stehenden Medien begreift, kommt das Gebet überall vor. Für ein aufgeklärtes, am kritischen Denken der Neuzeit geschultes Bewusstsein ist es allerdings ein schillerndes, wenn nicht gar ein höchst problematisches Phänomen. Wenn man es nicht als „abergläubischen Wahn“12 deutete, so hat man in ihm doch weitgehend und vor allem die Äußerung eines bloßen Wunsches (und sei’s den „Wunsch aller Wohlgesinnten“13) gesehen. Nietzsche ist noch einen Schritt weiter gegangen: Nicht die subjektive Intentionalität des Wünschens allein mache das Gebet problematisch, sondern die in dieser Sprachform zum Ausdruck gebrachte Ehrfurcht des „endlosen Vertrauens“ in eine „letzte Weisheit, letzte Güte, letzte Macht“.14 Nicht nur eine Metaphysik der Letztbegründung ist hier angesprochen, von der Rosenzweig sich schon verabschiedet hatte. Nietzsche erblickt in solchem Vertrauen auch einen Widerstand gegen die „gesteigerten Menschhaftigkeit“, auf die seine Lehre vom Willen zur Macht – jedenfalls auch – hinausläuft, der aber theologisch widersprochen werden muss.15 Einen anderen Akzent hat Blumenbergs rhetorische Interpretation gesetzt, das Gebet der Tradition habe sich „entgegen den theologischen Positionen des rationalistischen oder voluntaristischen Gottesbegriffs an einen Gott gehalten, der sich überreden ließ“.16 Immerhin scheint die Gebetsform der Kollekte, in der „sich der Beter zunächst der in einer Prädikation angesagten Heilstat Gottes erinnert, um daraufhin vertrauensvoll zu bitten und dann in der Konklusion mit dem Ausblick die verheißene Erfüllung zu schließen“17, dieser Interpretation Recht zu geben. Gott würde dann aufgrund ———— 11 Augustins Diktum, „Wer singt, betet doppelt“ (zit. nach: P. Bubmann, Art. Kirchenmusik, in: HBPTh 582) ließe sich auf das Musizieren überhaupt übertragen, wenn hierbei die Seele sich zum Ausdruck und zur Darstellung bringt. 12 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 220 [302]. 13 Kant, Die Religion, 108 [141]. 14 Nietzsche, KGA V, 2, 207 [Die Fröhliche Wissenschaft, Aph. 285]. 15 Vgl. dazu: Dober, Die Moderne wahrnehmen, 254. Benjamin, GS VI, 101 [Kapitalismus als Religion]. 16 H. Blumenberg, Anthropologische Annäherungen an die Aktualität der Rhetorik, in: Ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben, 104–136, 125. 17 F. Schulz, Art. Gebet VII. Das Gebet im deutschsprachigen evangelischen Gottesdienst, in: TRE 12, 71–84, 75f.

262

einer menschlichen Gedächtnisstruktur an ein Handeln erinnert, das seiner Geschichte mit den Menschen eigentlich entsprechen müsste. Verhielte es sich so, wäre allerdings präziser von einem „Überzeugen“ (eben in Gestalt einer Erinnerung) als von einem „Überreden“ zu sprechen. Insgesamt wird sich die Bindung des Gebets an die Intentionalität menschlicher Subjektivität nicht bestreiten lassen. So ist das Beten auch mit dem Wünschen verschwistert. Und eine Kritik des Wünschens wird die anthropologische Einsicht ernst nehmen müssen, dass Menschen weltoffene Wesen sind, die nicht nur die Vielfalt der äußeren Reize zu verarbeiten haben, sondern auch an die intentionale Struktur ihres Bewusstseins, sowie die Macht der unbewussten Wünsche gebunden sind. Nach biblischem Zeugnis umfasst die Verantwortung des Menschen auch die Gestaltung der Verhältnisse in der natürlichen, sozialen und kulturellen Welt. Die Zukunft zu antizipieren und Pläne zu entwerfen, um sie dann – nach reiflicher Prüfung – auch zu realisieren, gehört in eine Beschreibung des menschlichen Weltverhältnisses. Ja, man wird die Fülle der einzelnen Entwürfe und Pläne im Verlauf eines Lebens auch auf den Gesamtzusammenhang des Lebenslaufes zu beziehen haben, wie es etwa Goethe mit seinem berühmten Diktum zum Ausdruck brachte: „Schaff, das Tagwerk meiner Hände, / hohes Glück, dass ich’s vollende.“18 Rosenzweig hat es als das einsame Gebet zum eigenen Schicksal verstanden. Es lässt sich auch im Sinne des Zitats aus Psalm 90 interpretieren, das dem vorhergehenden Abschnitt als Motto vorgegeben war.19 Deutlich genug ist es aber von dem gemeinsamen Gebet um das Kommen des Gottesreiches zu unterscheiden. An der Tragweite dieser Unterscheidung hängt dann auch die Tragfähigkeit der These, im Gebet finde die Frage nach dem Wesen des Gottesdienstes seine Matrix und seinen Apex. Prägnant hat Kurt Marti die oszillierende Ambivalenz des Betens in einem Gedicht dargestellt: „haargebete hautgebete / gebete mit haut und haar / und ungewaschenen fingern / unverblümte gebete / voll gier voll geld voll dummheit […] gebete wie fische im sprung wie eier im nest / gebete die niemals flügge geworden / neben schamos direk-

———— 18 Vgl. dazu: Schindler, Zeit, 355. 19 Rosenzweig hat das Gebet zum eigenen Schicksal nicht verworfen, sondern als Ausdruck der Hoffnung verstanden, das „den Zusammenhang zwischen Zeit und Ewigkeit durch die Selbstbejahung in der Zuversicht des Glaubens und die Weltbejahung in der Liebe zur Welt“ stiftet (Schindler, Zeit, 298 mit Bezug auf R. Wiehl). Das Gebet zum eigenen Schicksal findet sich in der Einleitung zu Stern III eingespannt zwischen zwei typische Verfehlungen des Gebets, die entweder „zu weit greifen oder zu kurz. Die Tyrannen des Himmelreiches greifen zu weit. Sie meinen, das Letzte zum Nächsten machen zu können, indem sie alles gewaltsam und von sich aus unter die Herrschaft des Letzten bringen.“ Zu kurz greift das Gebet, wenn der Beter „in der Kleinlichkeit des Kleinglaubens bei sich bleibt und so das Kommen des Reiches verhindert“ (B. Casper, „Das Gebet stiftet die Weltordnung“, 144).

263

ten / und solchen gebeten die keine gebete / und keinen gebeten die dennoch gebete sind / in kinotempeln bei kammermusik / auf stahlrohrgerüsten in telefonzellen […] gebete für gebete gegen / gebete die sich ohne amen verlieren / im frühling gepfiffen im herbst / durch eine betonmaschine gedreht / gebete vor welchen weisse kirchen erröten / gebete derer die zeugen empfangen gebären und sterben […] gebete bruzelnd im fett des eigenen namens / gebete um diesen namen vergessen zu können / gebete um fasten zu können / fasten um beten zu können im namen der anderen […] beten um beten zu können im namen von allen / um beten zu können im namen des herrn / der betet für die die nicht beten können.“20

8.3 Das Phänomen des Betens in Ulrich Seidls Film „Jesus, du weißt“21 Einem breiten Konsens zufolge soll die Funktion und Nützlichkeit der Religion überhaupt darin bestehen, als eine „Kontingenzbewältigungspraxis“ (Luhmann, Lübbe) dazu beizutragen, Unabänderliches anzuerkennen.22 Dieser stroherne Terminus wird von Seidl zu vielfältigem Leben erweckt. Nicht nur Krankheit und Tod brechen in den Alltag ein wie Diebe in der Nacht. Auch die Schwierigkeiten mit dem Partner und mit den Trieben der eigenen Seele, mit Angst und Aggression, mit dem Zwiespalt zwischen Begehren und Ideal bzw. kirchlich vorgegebenen Idealisierungen suchen nach Entlastung, Bearbeitung und Bewältigung. All das äußert sich im Gebet. Auch dieser Film reflektiert sich selbst als ein Medium, in dem die Bilder laufen lernten.23 Einerseits ruft er das Fernsehen als Gestalter von Alltagsritualen, den Computer als Fluchtweg aus der Beziehungsrealität, und das Gemälde als Kontrast der bewegten Bilder auf. Andererseits fokussiert er das primäre humane Übertragungsmedium Stimme. In sechs Episoden treten einzelne Kirchgänger in einen sakralen Raum und schütten ihr Herz vor Gott aus. Jeweils wird die menschliche Stimme in konfessorischen Selbstgesprächen vor den barocken Bildern des Erlösers laut. Zuerst die einer Mesnerin, deren pakistanischer Mann, angeregt durch seine muslimische Familie, seine Krankheit als Strafe für die Ehe mit einer Christin interpretiert. Er bleibt im Halbdunkel ohne Konturen. In seinen Brillengläsern spiegelt sich das Fernsehbild der zu transformierten Beichtinstituten gerate———— 20 K. Marti, geduld und revolte. die gedichte am rand, 18f. 21 Jesus, du weißt (Österreich 2003, Regie: U. Seidl). Dieser Abschnitt baut auf meiner Besprechung (in: Ästhetik & Kommunikation 131 [36. Jahrgang], 2005, 119–122) auf. 22 Der Religion käme somit eine Funktion zu, die Rosenzweigs Kritik zufolge die „Philosophie des All“ immer schon ausgeübt hat (s. o. Kapitel 2). 23 Vgl. etwa auch „Broken Flowers“ (USA 2005, Regie: Jim Jarmusch).

264

nen talkshows. Sodann ertönt die Stimme eines Mannes, dem – selbst Opfer von Gewalt in seiner Kindheit – weder eine dauerhafte Beziehung zu seiner Frau noch die Kontaktpflege zu seiner Tochter gelungen war. Weiter berichtet ein seinen Eltern zum Trotz kirchlich sozialisierter junger Mann von nicht untypischen Adoleszenzphantasien. Man traut ihm zu, einmal das Priesterseminar zu besuchen. Jetzt noch figuriert sich sein erträumtes Größen-Ich allerdings als Old Shatterhand und erfolgreicher Fußballspieler, oder es stört sich an (vom Fernsehen genährten) erotischen Phantasien, die weder Läuterung noch Erfüllung im Angesicht einer Partnerin gefunden haben. In der vierten Episode kommt eine ältere Frau zu Wort, die des Verdachts auf Untreue wegen einen Detektiv auf ihren Mann angesetzt hatte. Die Erforschung des Seitensprungs geht nun auf der Kirchenbank in die Erforschung des eigenen Gewissens über: Ihr Rachebedürfnis hatte die Betrogene dazu verleitet, den Mann der Geliebten ihres Gatten telefonisch über den Stand der Dinge in Kenntnis zu setzen, und der Geliebten selbst den Detektivsbericht zukommen zu lassen. Doch nicht Genugtuung und Erleichterung sind die Folge. Vielmehr macht es die genommene Rache nun unmöglich, dass der Riss der Beziehung wieder heilt. Der „Schuldzusammenhangs des Lebendigen“ (W. Benjamin) scheint unentrinnbar. Die beiden letzten Episoden schließlich sind eng miteinander vernetzt. Eine junge Frau, deren Freund „Thomas“ sich des intendierten Zölibats wegen von ihr abwendet, nimmt die katholische Sexualmoral ins Gebet. Der ganze seit Origenes und Augustin in die zwischenmenschliche Liebe hineingetragene Verdacht, Liebe könne Sünde sein, ruft bei ihr und bei ihrem Freund Ambivalenzen hervor, aus denen sie nicht herausfinden. In den Monologen seiner Darsteller macht Seidl deren Selbstgespräch für den Zuschauer hörbar. Der muss hierbei seine Bedürfnisse als Augenwesen zurückstellen: Zu sehen bekommt er lediglich die Gesichter der Bekenner auf dem Hintergrund großer, leerer Kirchen und die Jesusdarstellungen auf den Altären, vor denen die Betenden sich niedergelassen haben. Nur in dieser Epoché der visuellen Erwartungen, die den Zuschauer ins Kino treiben, kann er ganz Ohr sein. Und ohne den Herzensergießungen dieser Mühlseligen und Beladenen zu folgen, verstünde er den Film nicht. So wird der Sinn wichtiger als die Sinne. Im Medium der durch short cuts in ihrer Chockwirkung immer schneller bewegten Bilder wird der Betrachter angesichts langer Einstellungen zu einer Entschleunigung seiner Rezeptionsgewohnheiten geradezu gezwungen. Er wird in eine Haltung hineinversetzt, die von Pfarrern, Ärzten und Therapeuten professionell eingeübt werden muss: in die Bereitschaft, zuzuhören und sich auf die Lebensgeschichten anderer einzulassen. Jeweils treten die einzelnen Personen vor die Bilder des Erlösers. Zu sehen ist der entblößte Oberkörper des Gekreuzigten, dessen in Holz ge265

schnitzte Formen die Mesnerin zärtlich vom Staub befreit, als böte sich hier nun ein Ersatzobjekt des Begehrens für den nach einem Schlaganfall gelähmten und ihr längst entfremdeten Ehemann an. Zu sehen sind die, je nach Bekennertyp passend ausgewählten Gestalten des Schmerzensmanns auf den Altarbildern. Das Herz blutet ihnen. Es ist, als habe Jesus die ganze Not und Pein derer, die sich an ihn wenden, schon selbst durchgemacht und überwunden, um die Betenden nun ihrerseits zu Überwindern zu machen. Derartige Korrespondenzen werden auch durch Bildschnitte hervorgerufen und noch verstärkt. Man sieht im Wechsel den nackten Körper des Mannes am Kreuz und den an familiären Beziehungsproblemen gescheiterten Mann im profanen Schwimm- (als Reinigungs-?)bad, das im übrigen genauso leer ist wie die Kirche, in der dieser Mann betet. So ist auch die Geborgenheit des göttlichen Kindes in der Nähe Mariens ein Gegenbild zum Bericht einer schweren, von Schlägen und Gewalt gezeichneten Kindheit. Die Kamera ruht auf den Gesichtern der Bekenner und auf diesen Bildern, als wären es Dias. Doch zuweilen ist es dem Zuschauer, der ganz Ohr ist, als sähe er einen Moment lang mit den Augen Gottes. Das jedenfalls scheint die Perspektive der Kamera zu suggerieren. In ihr wird man der Gesichter gewahr, deren innere Bewegtheit die Lage der Stimme kaum verbergen kann. Intimstes wird hier offenbar, Individuelles, das Achtung gebietet und sich gegen die Intention der Analyse ebenso wehrt wie gegen eine Einordnung in schon mitgebrachte Muster der Diskurse. Diesseits dieser Intentionen hat Seidl den Versuch unternommen, des Innersten von außen ansichtig zu werden. Diese Menschen fassen in Worte, was ihnen auf der Seele liegt. Und sie werden ihre Lasten los im Medium einer Sprache, die einen imaginierten Adressaten hat. Hierbei bleibt auch Gott unsichtbar, wiewohl die Altarbilder Vorstellungen hervorrufen, in denen sich traditioneller Gehalt und künstlerische Phantasie verschmolzen haben. Der Film bewegt sich in dem Differenzverhältnis zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zwischen dem Sagbaren und dem Unaussprechlichen, das die Religion seit je von Mythos und Magie unterscheidet. Ist die Subjektivität die Wahrheit der Religion und des Gebets als ihr wichtigstes Medium? Man wird diese Frage mit Ja und Nein beantworten müssen. Ja, bis in die naiven Äußerungen hinein, denen man einen Gang durch die Philosophien der Aufklärung empfehlen möchte. Bis zur „Religion für Erwachsene“ (Lévinas) ist es ein weiter Weg. Und nein, weil die symbolischen Formen auch des individuellen Gebets die Subjektivität in einen größeren Zusammenhang betten, der durch Tradition, Ordnung des Symbols und das Ritual einer Gruppe gebildet wird. Für diese Einbettung der Subjektivität stehen die kurzen Szenen zwischen den Bekenntnissen mit den zeitlosen (und in ihrer Zeitlosigkeit geradezu parodistischen) Chören der Männer und der Frauen (so sang man schon im 19. Jahrhundert, so singt 266

man bis heute auf dem Dorf), mit dem gemeinsamen Gebet des Vaterunsers und des Rosenkranzes. Für diese Einbettung stehen die Orte und die Räume. Der Film wahrt eine gewisse Achtung vor diesen Dimensionen, doch die Leere dieser Räume und die Verschrobenheit dieser Gruppen erhalten die Spannung zu einer ihrer Formen entbetteten Religiosität aufrecht. Auch wenn der Film mit Gebeten um eine rechte Rezeption beginnt, obliegt es dem Zuschauer zu entscheiden, ob Gottfried Benn mit seiner Gedichtzeile Recht behält, es gebe „nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich“, oder ob das Gebet das Medium ist, in dem man über dieses Diktum auch hinausgehen kann. Die Bekenntnisse der älteren Frau, die sich der Endlichkeit und Einsamkeit ihres Daseins bewusst wird („jetzt weiß ich, dass es knapp wird“), deutet jedenfalls auf die zweite Möglichkeit hin. Seidl zeigt das Gebet in seiner integrativen Fähigkeit, die „Totalität der Erfahrung“ (Benjamin) in sich aufzunehmen. Im „antimetaphysischen“ Medium Film (J. Hörisch) wird hier die Vielschichtigkeit und Differenziertheit dieses Phänomens zur Darstellung gebracht bis hinein in die Dimension, die die Tradition Metaphysik nannte.

8.4 Bitte und Dank als Grundformen des Gebets In einem bemerkenswerten Text hat Ernst Tugendhat ein Dilemma formuliert. Der Gottesglaube der Tradition, wie er etwa in den Texten der Bibel bezeugt sei, könne das allgemeine Bewusstsein schon längst nicht mehr überzeugen, wenn es sich denn in intellektueller Redlichkeit über seine Gründe und Gegenstände Rechenschaft geben wolle. Jedenfalls sei ein unmittelbarer Nachvollzug nicht mehr möglich. Und doch müsse sich auch ein mit allen Wassern der Aufklärung gewaschenes Bewusstsein fragen, welche Gründe es am Ende gebe, um Dank zu sagen für ein sich vollendendes Leben in der Fülle der Jahre. An welche Adresse soll sich der Ausdruck eines solchen Dankes richten? 24 Entsprechend könne, ja müsse man auch – auf den Spuren Aljoschas in Dostojewskijs Roman „Die Brüder Karamasow“ („Wenn es keinen Gott gäbe, dann wäre alles erlaubt“) – fragen, woher denn je meine Verpflichtung ihren Anspruch empfange, für sich selbst zu sorgen und das Wohl der anderen zu bedenken. Selbstverständlich ist es nicht, eine solche Pflicht zu empfinden, und ohne dass es eine ausreichende Zahl von Menschen gäbe, die diesem Anspruch folgten, könne man sich – nach aller geschichtlichen Erfahrung – ein menschenwürdiges Leben auf ———— 24 E. Tugendhat, Wem kann ich danken? Vgl. dazu auch: D. Henrich, Gedanken zur Dankbarkeit, in: Ders., Bewusstes Leben, 152–193.

267

Erden kaum vorstellen.25 Der offene Horizont, in dem Tugendhat diese skeptischen Fragen gestellt hat, ist vom Standpunkt des Neutestamentlers Herbert Braun nur leicht fixiert worden, als er zur Gottesfrage einmal bemerkte, Gott sei „das Woher meines Geborgen- und meines Verpflichtetseins vom Mitmenschen her“.26 8.4.1 Schleiermacher und Barth Schleiermacher schon hat auf die oben skizzierte Schwierigkeit mit dem Beten geantwortet, indem er das Bittgebet als Ausdruck des Wünschens begriff und dieser Grundform gegenüber die des Dankgebets bevorzugte.27 Das gründet in einem Gefühl, das per se individuell ist, im Gebet aber zu einem allgemeinen werden kann. Genauerhin hat er in den §§ 146 und 147 seiner Glaubenslehre (im Kontext seiner Erörterung des „Bestehens der Kirche in ihrem Zusammensein mit der Welt“) bei dieser neuzeitlichen Bestimmung des Gebets als Ausdruck des Wünschens angesetzt, das Gebet aber als „innige Verbindung des auf das beste Gelingen gerichteten Wunsches mit dem Gottesbewusstsein“ dargestellt.28 Das Gebet richtet sich auf „dasjenige […], was noch unentschieden schwebt“, gründet das Bitten aber reflexiv auf die Dankbarkeit für das in Christo schon geschehene Handeln Gottes. Das christologisch bestimmte Gottesbewusstsein richtet sich am Gedanken der „göttlichen Weltregierung“ auf (§ 146.1f), der eine regulative Funktion auf das strikt abgelehnte magische Missverständnis des Betens hat (§ 147.2). Die metaphysische Struktur des Gedankens („[…] weil das richtige Gebet keinen andern Gegenstand haben kann, als was in der Ordnung des göttlichen Wohlgefallens liegt“ [§ 147.2]) wird aber verflüssigt durch eine Formulierung, die im Rahmen eines spinozistisch transformierten Platonismus gedeutet werden kann: die Erfüllung des Gebets könne nicht im göttlichen Ratschluss allein ohne das Gebet selbst kommen, „als ob es ———— 25 Noch Kants Rede vom unmittelbaren Gebieten des Sittengesetzes baut auf Traditionen der Bibel in Juden- und Christentum auf, wenngleich das Konzept der Autonomie dessen Gehalt freilich transformiert hat. Lévinas hat auf methodisch anderen Wegen zu zeigen versucht, dass und wie ein elementarer Ruf im Angesicht des anderen ergehen kann. 26 H. Braun, Die Problematik einer Theologie des Neuen Testaments, in: Ders., Gesammelte Studien, 325–341, 341. Weiter heißt es an Ort und Stelle: „Ich kann von Gott nur reden, wo mein ‚Ich soll‘ kontrapunktiert wird vom ‚Ich darf‘. Denn auch im Neuen Testament ist letztlich […] Gott dort, wo ich in Pflicht genommen, wo ich engagiert bin […] Das hieße dann aber: der Mensch als Mensch, der Mensch in seiner Mitmenschlichkeit, impliziert Gott […] Gott wäre dann eine bestimmte Art der Mitmenschlichkeit.“ 27 Vgl. dazu: G. Sauter, Reden von Gott im Gebet, in: B. Casper (Hg.), Gott nennen, 219–242, 220f; Rössler, Grundriss, 432. 28 Schleiermacher, Der christliche Glaube, § 146.1.

268

einen göttlichen Beschluss über einzelnes gäbe, abgesondert von seinem natürlichen Zusammenhang“ (ebd.; vgl. § 147.3, S. 384). Der Nachsatz „weil der Zustand, aus welchem das Gebet entsteht, mit zu den Bedingungen gehört, unter welchen der Erfolg auf eine wirksame Art eintreten konnte“ (§ 147.2), lässt sich phänomenologisch reformulieren: der Vollzug des Gebets selbst trägt die Bedingungen seiner Erfüllung, insofern der Beter betend den Namen heiligt, das Kommen des Reiches antizipiert und in den Gotteswillen einwilligt. So lässt sich „der Glaube, verstanden als der spezifische Gebetsglaube Jesu, […] vom Bitten nicht loslösen.“29 Dem hat Barth Rechnung getragen und das Bittgebet in den Vordergrund gestellt: „Beten heißt bitten“ (KD III, 4,99), wie ja auch das „Unservater“ aus lauter Bitten bestehe (KD III, 4, 106). Begründet sei diese Auffassung einerseits in theologischer Anthropologie, der zufolge man den Menschen als „ein an Gott gerichtetes Gesuch“ (KD III, 4, 95) verstehen müsse, andererseits aus einer biblisch begründeten Bundestheologie (KD III, 4, 102), der zufolge man (auch mit Blick auf das 3. Gebot mit M. Luther) das Gebet als ein „Werk des Gehorsams“ zu begreifen habe (KD III, 4, 103), das allerdings durch den Heiligen Geist ermöglicht sei (Römer 8,26f; 8,15). In dieser Begründungsstruktur könne dann auch gelten, dass nicht die Not, sondern das Gebot beten lehre (KD III, 4, 104). Barth bewegt sich hier ganz in der Nähe des Denkens von Rosenzweig, der die Bitte um das Kommen des Gottesreiches aus dem Offenbarungsereignis zwischen der Menschenseele und Gott hervorgehen lässt, in welchem das göttliche Gebot zu lieben Sinn macht nur unter der Voraussetzung, dass Gott selbst zuerst geliebt hat. Auch kommt das Barth’sche Verständnis des Gebets ohne weiteres mit dem der Taufe als einem Anfang überein, wolle doch, wer Gott gehorsam sei, „wenn er betet, jedesmal mit dem Anfang anfangen“ (KD III, 4, 107). So sei das Dankgebet als Antwort auf Gottes Gebot zu begreifen, die Bitte aber wachse aus dem Dank hervor (KD III, 4, 108). Das theologische Reden von Gott gründet in einem Reden zu Gott, im Gebet. Und dieses Begründungsverhältnis ist nach der Übereinkunft großer Zeugen der Theologiegeschichte (von Anselm30 über Luther bis zu Barth31) sinnvoll möglich nur in der Anrufung Gottes und in der Nennung seines Namens „Vater unser“. Um sich selbst zu begreifen und nicht zu einem bloßen Habitualismus zu degenerieren, erfordert diese Haltung aber auch die Selbstreflexion. Gott zu denken (um dann von ihm zu reden) und zu ihm zu beten: das eine schließt das andere nicht aus, sondern fordert es. Das ———— 29 Theunissen, ǵ ĮȓIJȫȞ ȜĮȝȕȐȞİȚ. Der Gebetsglaube Jesu und die Zeitlichkeit des Christseins, in: Ders., Negative Theologie, 334. 30 Anselm von Canterbury, Proslogion (vgl. Sauter, Reden von Gott im Gebet, 225f). 31 Die Lehre vom Gebet kann als das „Herzstück“ der Dogmatik Barths gelten (Sauter, Reden von Gott im Gebet, 222–225).

269

Gebet ist „als Ereignis […], was Theologie als Diskurs ist: Erkenntnis Gottes und unserer selbst“.32 Indem aber nicht das „Ich“, sondern das „Wir“ den Anfang macht, ist das gemeinsame Gebet im Gottesdienst unverzichtbar sowohl für das Erlernen der Haltung des Gebets als auch für ein aus solcher Praxis hervorgehendes Denken. Barth schreibt: „Dass das gemeinsame Gebet ein ebenso wesentliches Element des Gottesdienstes bildet wie die Verkündigung und das Anhören des Wortes Gottes, müsste uns wieder deutlicher ins Bewusstsein rücken.“33 Damit hat er, ohne das weiter ausdrücklich zu machen, die anthropologische Bedeutung auch des Rituals zugestanden; auch Barth zufolge sind ritualisierte Handlungen „als Abhilfe menschlicher Schwachheit“ zu verstehen (KD III, 4, 124). 8.4.2 Die ritualisierte Geste des gemeinsamen Gebets: Ein Entzifferungsversuch Wie auch immer man das Wesen des Gebets bestimmen möchte, ob primär als Bitt- oder als Dankgebet, oder gar im Verzicht auf eine solche Prioritätssetzung: Mit Blick auf seinen tatsächlichen Vollzug im Gottesdienst kann man es als Ritual begreifen.34 Die Gebetshaltung lässt aber nicht erkennen, was der Betende in seinem Herzen bewegt: sie ist nur ein äußeres Zeichen, das auf ein Nicht-Darstellbares, ein Innerliches verweist. Darin ist sich eine Wolke von Zeugen einig: es kommt beim Gebet auf die innere Beteiligung an, und die geschieht der Bergpredigt zufolge im „Verborgenen“.35 Luther etwa bedient sich der ganzen Breite der ihm zu Gebote stehenden sprachlichen Ausdrucksvariation, um deutlich genug zu machen, mit welcher falschen Praxis er das Gebet nicht verwechselt sehen möchte. Für den Reformator ist das Vaterunser keineswegs angemessen praktiziert, wenn es bloß hergeleiert36 wird; es ist dann „nutzlos Geheule und Gemurre“.37 Um diese Gefahr zu vermeiden, lautet die Bitte in der 1. Strophe seines 1539 veröffentlichten Vaterunserliedes auch: „Gib, das nicht bett allein der mund; ———— 32 W. Sparn, Art. Gebet, in: HBPTh, 292 mit Bezug auf B. Casper. 298f. findet sich auch weitere Literatur. 33 K. Barth, KD III, 4, 124. 34 Das im Folgenden Gesagte baut auf einem früheren Text auf: Dober, Das Vaterunser als Ritual, 225–230. 35 Mt 6,6; vgl. E. Lohmeyer, Das Vaterunser, Göttingen 1946, 11. 36 M. Luther, Der große Katechismus deutsch, in: BSLK Bd. 2, hg. v. Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß im Gedenken der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1930, 663. 37 BSLK Bd. 2, 670. Vgl. M. Luther, Ausgewählte Schriften, hg. v. K. Bornkamm und G. Ebeling, Bd. 2, 275.

270

Hilff, das es geh von hertzen grund.“38 Der Graf Zinzendorf dann hat zeitweilig davon Abstand genommen, das Vaterunser im Gottesdienst beten zu lassen, weil eine bloße Formel die „innere Konnexion mit dem Heiland“ nicht mehr deutlich, eindeutig genug zum Ausdruck zu bringen schien – ähnlich wie er eine Zeit lang auf das Tischgebet verzichtete, „um nicht den geringsten Schein von Heuchelei zu geben“.39 Für ein protestantisches Verständnis des Problems haben Schleiermachers Bemerkungen zur Sache schließlich zusammenfassenden Charakter. „Das Vaterunser“, so liest man zum Abschluss seiner Theorie des Cultus, „ist eine Formel die besteht, bestanden hat und immer wiederkehrt. Wird nun keine Andacht dabei sein können? Es wird freilich oft ohne Andacht gebetet, aber die Schuld liegt nicht am Gebet […] Es ist aber ein solcher Gehalt in den Formeln dieses Gebets, dass der Christ immer kann mit ganzer Seele dabei sein und der Gehalt nie als erschöpft erscheinen kann.“40

In diesen knappen Sätzen findet sich das Vaterunser als Ritual beschrieben und die Gefahren ritualisierter Vollzüge benannt, und das lange vor allen theoretischen Bemühungen um das Ritual und die Ritualisierung von Handlungen. Es liegen Probleme im rituellen Vollzug des Vaterunsers, wenn nicht einlässlicher Meditation, wenn nicht dem Nachsinnen einzelner Sätze, wenn nicht versunkener Kontemplation Raum gegeben wird. Denn nur auf diesem Wege ist die große Eindringlichkeit, die unerschöpfliche Tiefe und unüberschaubare Weite des in den Worten dieses Gebets zusammengefassten Sinngehalts zu ermessen. Im Ausgang von diesem alten Problem, wie sich äußere Form und innere Beteiligung zueinander verhalten, frage ich nun nicht nach den Chancen eines sich von aller Äußerlichkeit emanzipierenden Selbstbewusstseins, sondern nach den Formen, nach den Strukturen, an die es – in Freiheit – gebunden bleibt.41 Auch für den Vollzug des Vaterunsers als Ritual wird gelten können: „Ein Brauch will nicht bewiesen, er will verstanden werden.“42 ———— 38 Zit. nach Wichmann von Meding, Luthers Lied vom Vaterunser. Waffe aus Weise und Wort, in: ZThK 93 [1996], 500–537, 511. 39 O. Uttendörfer, Gottesdienst, 60. 40 Schleiermacher, Die praktische Theologie, 200. Vgl. auch K. Barth, Das christliche Leben, 253. Deftig bildlich hat es Luther gesagt: er „sauge […] am Vaterunser wie ein Kind, trinke und esse von ihm wie ein alter Mensch, […] [und könne] seiner nicht satt werden“ (Luther, Ausgewählte Schriften Bd. 2, 277). 41 „Wer versucht, die westeuropäische Gebetskultur zusammenzufassen, wird sich hüten, entweder institutionelle oder aber subjektive Tendenzen zu allgemeinen Charakteristika zu erheben“, heißt es bei R. Volp, Liturgik I, 579. Im zweiten Band seiner Liturgik wird die Forderung aufgestellt, leibliche Expressivität und geistige Innerlichkeit müssten deutlicher aufeinander bezogen werden: „Das ‚Innere‘ kann, je länger, je weniger, der äußeren Darstellung entbehren“ (Volp, Liturgik II, 1120). 42 Wieseltier, Kaddisch, 77.

271

Im Gottesdienst treten die ritualisierten Geste – um mit Clifford Geertz zu sprechen – als „geschichtete Hierarchie bedeutungsvoller Strukturen“ auf.43 Das aus Zeichen des Verhaltens zusammengesetzte Phänomen des gemeinsamen Gebets des Vaterunsers im Gottesdienst lässt sich nun wie folgt beschreiben: Erstens hat die Körpersprache der Betenden Zeichencharakter. Rituale regeln leibliche Vollzüge. „Im Tanz entdeckt der Mensch den Rhythmus, der ihn umgibt […] Er entdeckt den Rhythmus und erfindet eine Antwort […] Er fügt seine eigenen Bewegungen und die der Geschöpfe, die ihn umgeben, ein in ein geordnetes Ganzes.“44 In der Geste des gemeinsamen Gebets ist der leibliche Vollzug des Rituals jedoch nur als schwache Spur zu erkennen. Der Psalm erinnert allerdings noch „an bewegte Feste mit Musik und sakralem Tanz, bei dem man sich im Reigen anfasste, niederwarf, die Hände auflegte usw.“45 Die sonst zumeist in Ruhe auf den Bänken sitzende Gemeinde erhebt sich zum Gebet. Diese Geste der Ehrerbietung und der Gemeinsamkeit unterstreicht die herausgehobene Stellung des gemeinsamen Gebets im Gesamtzusammenhang des Gottesdienstes. In einer historischen Perspektive lässt sich sagen: Ursprünglich hatte das Vaterunser in der Messform seinen Ort, und Luther hat in der „Deutschen Messe“ (1526) eine öffentliche Paraphrase des Vaterunsers dem Abendmahl vorgeordnet.46 Das Vaterunser wurde hier als Tischgebet verstanden.47 Wie das Vaterunser aber schon die alte Kirchenlitanei abschloss, so bildete es auch (als „gemeinsam gesprochene ‚Volks-Kollekte‘“) in nachreformatorischer Zeit den „Abschluss des allgemeinen Kirchengebets“48. Zweitens trägt das gemeinsame Sprechen Zeichencharakter: bei allen Unterschieden in der Rezeption des liturgischen Geschehens, bei allen Differenzen der Betenden untereinander ist hier die Einheit der Christenheit im Sprachvollzug sinnlich real und metaphorisch bedeutsam. Über die Geste ———— 43 Geertz, Dichte Beschreibung, 12. 44 G. van der Leeuw, Sacred and Profane Beauty: The Holy in Art, 1963, 14. 45 Volp, Liturgik II, 1119 mit Bezug auf 2Sam 6,5.14. 46 Grethlein, Grundfragen der Liturgik, 94f. Der 24. Katechese des Cyrill von Jerusalem zufolge, wurde das Vaterunser schon in der Alten Kirche unmittelbar vor der Kommunion gebetet (J. Jeremias, Das Vaterunser, 153). Als Bestandteil der Abendmahlsliturgie gehörte das Herrengebet zu demjenigen Teil des Gottesdienstes, an dem nur die Getauften teilnehmen durften, zu der sog. „missa fidelium“. In dieses „Gebet der Glaubenden“ musste man eingeweiht sein. Die Inklusivität des „Wir“ bedurfte der Eintrittskarte; wer sie nicht besaß, wird sich des Eindrucks der Exklusivität nicht haben erwehren können. Der grammatikalischen Differenz zwischen dem „Wir“, das sich von einem „Ihr“ absetzt, entspricht die Beobachtung des soziologischen Ritualtheoretikers, dass jeder Clan sein Totem habe, das nach innen sammelt, nach außen unterscheidet (Drehsen, Religion – der verborgene Zusammenhalt der Gesellschaft, 65, referiert Durkheim) 47 Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik, 25. vgl. 52f. 48 F. Schulz, Art. Gebet VII. Das Gebet im deutschsprachigen evangelischen Gottesdienst, in: TRE 12, 74. Vgl. dazu: O. Dietz, Das allgemeine Kirchengebet, in: Leiturgia II, 420.

272

des Körpers hinaus ist auch die Sprachgeste relevant, ihr Rhythmus, die (unter den Konfessionen keineswegs gleiche) Konvention der Pause, die Leitung des Bewusstseins durch diesen Rhythmus des Sprechens, das zugleich ein Hören ist. Eine Einheit wird in dieser Geste vorweggenommen, die noch nicht oder nur teilweise besteht, eine nicht nur als regulative Idee gefasste, sondern wirklich vollzogene Einheit. Was dieser Vollzug bedeutet, ist allerdings nur zu verstehen, wenn man ihn im Licht seiner Idee zu begreifen sucht. Der eschatologische Gehalt des gemeinsamen Gebets des Vaterunsers findet einen Spiegel in der Deutung der Gebetsgeste des gemeinsamen Stehens und Sprechens. Drittens tragen die leiblichen Vollzüge, die durch das Ritual geregelt werden, einen „performance-Charakter“.49 Inwiefern ist das auch für das gemeinsame Gebet des Vaterunsers zu sagen? Welche bestimmten Verhältnisse werden hier inszeniert? Mit dem Vaterunser findet der Gottesdienst als ganzer seine Zusammenfassung. Das ist zuerst hinsichtlich seiner ästhetischen Bedeutung zu beschreiben: (a.) Riten sind selbst eine darstellende Kunstform, für die das Kriterium der Angemessenheit, des Einklangs des einen Aktes mit dem anderen, der Kohärenz und der Entsprechung wird gelten können. (b.) Was in den Riten aber zur Darstellung kommt, ist das gemeinsame Leben selbst. In dieser Perspektive kann man das Ritual als eine „Kunst“ im Sinne Nietzsches ansehen, die mit dem Leben einen vorrationalen, einen vor-diskursiven Umgang pflegt, welcher seine durchaus eigene Rationalität hat. So verstanden ist das Ritual nicht nur Gegenstand einer wissenschaftlichen Hermeneutik, sondern selbst schon ein Hermeneut des Lebens. D. h. zu seinen Funktionen gehört das Deutungspotential „in der Form von Ritus und Symbol selbst“.50 (c.) Dieses Deutungspotential kann nun in Analogie zu Kunstwerken rezipiert werden. Einer individuell reproduzierenden Rezeption bietet der gestaltete Text des Vaterunsers ausreichend Nahrung. Ernst Lohmeyer hat ihn als poetische Form gedeutet, die selbst ein „liturgisches Gepräge“51 hat. Dieses gemeinsame Gebet nimmt viertens eine wichtige Stelle am Ende des Gottesdienstes ein, jedenfalls in einigen reformatorischen Kirchen wie der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, aber auch in den ökume———— 49 Zilleßen, Ritual oder Theater, 229. 50 Rössler, Grundriss, 411. vgl. 409. 51 E. Lohmeyer, Das Vaterunser, 17. Er hat darin den Kern der synoptischen und der johanneischen Tradition freigelegt (213). Im Unterschied zu einem Ästhetizismus etwa George’scher Prägung, von dem Lohmeyer bis zu einem gewissen Grade fasziniert war (G. Haufe, Ernst Lohmeyer – Leben und Werk [1890–1946], in: Pfarramtskalender 1996 [46. Jhg.], bearb. v. Studiendirektor i. R. H. Medicus, hg. v. Verband der Vereine evang. Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland e. V., 9–20, 13), feiert hier die Sprache aber nicht sich selbst (vgl. P. Ricoeur, Gott nennen, in: Casper, [Hg.], Gott nennen, 53), sondern sie erfüllt Funktionen, die einer bestimmten Realisierung des semantischen Gehalts dienen.

273

nisch gestalteten Kasualgottesdiensten, etwa im Schuljahr. So trägt die liturgisch wohl durchdachte Ordnung des Übergangs einen formal rituellen Charakter. Nach der Phase der Vorbereitung steht das gemeinsam gesprochene Gebet am Ende der eigentlichen Schwellenphase des Passageritus, vor der Rückkehr in den Alltag. Es hat seine Funktion im Zuge der Unterscheidung der Zeiten. Es schließt das, mit Turner zu sprechen, liminale Übergangsmoment ab, in dem eine schöpferische Funktion angelegt ist. Für dieses Moment wird im Zusammenhang des Gottesdienstes vor allem die Predigt stehen können. Rituell gewährleistet überbietet sie das Ritual. Noch vor der Wiederangliederungsphase an den Alltag, für die vor allem der Segen steht, fasst dieses nun nicht mehr stille, und auch nicht mehr stellvertretend vom Liturgen für die Gemeinde formulierte Gebet den Sinn des Gottesdienstes als ganzen zusammen: Darin besteht seine integrative Funktion. Auch dann, wenn zwischen der Meditation des einzelnen, den gemeinsam gesungenen Liedern, der Predigt der Pfarrerin bzw. des Pfarrers und seinem stellvertretenden Gebet für die Gemeinde Unausgeglichenheiten bestehen sollten, repräsentiert diese symbolische Form Einheit in nüchterner Schlichtheit. Ich ziehe ein kurzes Fazit meines Entzifferungsversuchs der Geste des gemeinsamen Gebets: Vor allem im Anschluss an V. Turner vermag die neuere Theorie, den dem Ritual eigenen „Spielraum der Ordnung“52 differenziert zu beschreiben. Vor diesem Hintergrund stellt sich die leitende Unterscheidung von „äußerer Form“ und „innerer Beteiligung“ so dar: schon die bloß „äußere Form“ ist eben als Struktur zu denken, die MetaStrukturelles zu integrieren vermag und integriert. Insgesamt trägt das Ritual des gemeinsamen Gebets Züge einer „Kommunikationsform“, die den „Rahmen für den Umgang mit [dem] religiösen Symbol“ abgibt.53 Und diese Kommunikation bindet das Wissen an ein gemeinsames Handeln, wie umgekehrt die ritualisierte Handlungsform der Aneignung von Wissen den Weg bereiten kann. ———— 52 I. Dalferth, Mythos, Ritual, Dogmatik, 275. 53 Thomas, Medien, Ritual, Religion, 417. Demgegenüber ist Dinkels an Luhmann anschließende These von der „Umstellung der Religiosität von Ritual auf Kommunikation“ (Dinkel, Was nützt der Gottesdienst? 103) insgesamt nicht differenziert genug. Die Kommunikationsanforderung verweist aufs Ritual wie das Ritual als ein integrales Moment von Kommunikationsprozessen angesehen werden muss. Unter dem bestimmten Gesichtspunkt der Schwierigkeit, zu beten, kann man Dinkel aber in einer ritualtheoretischen Perspektive zustimmen, der meint, „die Selbstverständlichkeit des Gebets im Gottesdienst entlaste[.] davon, sich selbst zum Gebet entschließen zu müssen“ (264). Von der nur jeweils selbst zu vollziehenden „Doppelbewegung“ im Sinne Kierkegaards (Theunissen, ǵ ĮȓIJȫȞ ȜĮȝȕȐȞİȚ, 346) im Gebet, sich unendlich von sich selbst zu entfernen, um dann auf sich zurückzukommen, vermag die gemeinsame Form allerdings nicht zu entlasten.

274

Als eine derart komplexe Kommunikationsform hat das Vaterunser seinen Ort auch in der vielfältig ausdifferenzierten Arbeit der Pfarrerinnen und Pfarrer außerhalb des gottesdienstlichen Rahmens. Es kommt der Gebetspraxis in der Volkskirche zugute, sei es im Kasualgespräch anlässlich einer Bestattung, sei es am Kranken- oder Sterbebett, sei es im Konfirmandenunterricht.54 Weil die integrierende Funktion des Rituals mit der eben dieses Gebetes übereinkommt, kann es auch ein zusammenfassendes Moment der Vielfalt von Begegnungen in den „Gruppen“ und der „Großkirche“, zwischen den sog. Kirchenfernen und Kerngemeindlern, sowie zwischen den Konfessionen sein. Seine historische Verwurzelung im Alten Testament und die nachweisbaren Parallelen zum Jesus zeitgenössischen Judentum erlauben es auch, sich im interreligiösen Dialog auf dieses Gebet zu beziehen.

8.5 Eine semantische Analyse des Vaterunsers Bisher war zu zeigen: „Das Ritual verwandelt Wesenheiten in Taten“55, um es mit einem Aphorismus Wieseltiers zu sagen. Nun ist die Pragmatik des Betens in den Formen, in denen das Vaterunser tatsächlich gebetet und anverwandelt wird, auf seine Semantik zu beziehen. Der theologische Gehalt des Vaterunsers ist in einer kleinen Skizze keineswegs auszuschöpfen.56 Dieses Gebet kann nicht nur als „Grundmodell allen Betens“57 aufgefasst werden. Es enthält auch, einem alten Diktum Jakob Wettsteins zufolge „alles […], was man von Gott bitten“58 kann. Es geht ein auf die elementaren Konflikte menschlichen Daseins und Handelns zwischen Freiheit und Bindung, zwischen dem Selbstverhältnis und dem Verhältnis zu den anderen. Schließlich findet sich in ihm auch der „Schuld———— 54 Der Vorteil vertrauter Worte im Gebet anlässlich eines seelsorgerlichen Gesprächs wird darin zu erblicken sein, dass sie verstehbar und klar sind, und man aus der Erinnerung auf sie zurückgreifen kann. Wenn die Bedingungen dafür gegeben sind, kann der Text zum gemeinsamen Medium werden. In der seelsorgerlichen Begegnung wird die Gefahr minimiert, dass der Seelsorger dem Klienten eigene Empfindungen überstülpt. Im Unterricht kann der im Vaterunser zusammengefasste Gehalt des Gebetsglaubens als eine durch eigene Erfahrung erst noch einzuholende Verheißung erarbeitet und dargestellt werden. 55 Wieseltier, Kaddisch, 78. 56 Tertullian hat es ein „breviarium totius evangelii“ genannt (zit. nach Lohmeyer, Das Vaterunser, 212.6). 57 Volp, Liturgik II, 1117. 58 Zit. bei Lohmeyer, 6. Vgl. auch: R. G. Kratz, Die Gnade des täglichen Brotes. Späte Psalmen auf dem Weg zum Vaterunser, in: ZThK 89 (1992), 1–40, 7 Anm. 25. Die Formulierung findet sich in Wettsteins Novum Testamentum Graece, Amsterdam 1751/52 Bd. 1 (zu Mt 6, 9). Vgl. auch Rosenzweig: Es gibt keine sündige Bitte (Schindler, Zeit, 353).

275

zusammenhang des Lebendigen“ (Benjamin) und die Sehnsucht nach Erlösung daraus angesprochen. Schon die Anrede Gottes im Gebet liegt ein Vertrauen, ohne das das Beten gar nicht beginnen könnte. Weil sie den „Geist der Kindschaft“ (Römer 8,15) empfangen haben, wagen es die Betenden, Gott anzusprechen. Wer in diese Anrede in der 1. Person Plural einstimmt, stellt sich zugleich in die Gemeinschaft derer, die Gott „Vater“ nennen. Der inklusive Charakter der Anrede Gottes korrigiert zudem die abgrenzende Funktion, die dem Ritual selbst eignen kann. Wie der späte Barth (in Anspielung auf ein Schauspiel von H. Sudermanns [1896]) festgehalten hat, ist die Anrufung Gottes kein „Glück im Winkel“59. Zugleich hat er im Vokativ „Vater!“ „die gebotene Präzisierung […] des an sich vieldeutigen Wortes ‚Gott‘“ erkannt.60 Zwar ist das Modell des Vaters – ebenso wie die anderen gebrauchten Modelle – nicht unproblematisch. Das Verhältnis zum leiblichen Vater ist immer auch ambivalent; es durchläuft während der Entwicklung zum Erwachsenen mehrere Phasen, die glücken oder misslingen können. Der Himmel, im ptolemäischen Weltbild als eine Art Käseglocke vorgestellt, die von anderen überwölbt wird, kann Gott nicht fassen. Die Reiche dieser Welt schließlich werden mehr oder weniger gut regiert, mehr oder weniger gerecht geordnet und sind nicht mit dem Gottesreich zu verwechseln. Paul Ricoeur zufolge stürzt nun aber der im Gebet genannte Name „alle Modelle [um]“. Denn es ist etwas anderes, Gott zu nennen, und ihn zu denken bzw. sich ihn vorzustellen. Der im Gebet genannte Name stürzt diese Modelle aber so um, „dass er sich auf sie stützt“.61 Wer es wagt, Gott anzusprechen, der bringt ein Verständnis von dem mit, was er tut. Und er hat mindestens Vorstellungen davon, wen er anspricht. Wenn Gott aber als Vater vorgestellt und trinitätstheologisch gedacht wird, führen die Gedanken über ihn auch wieder zum Gebet zurück. Wie die gebrauchten Modelle im Gebet selbst unter der Voraussetzung stehen, dass Gottes Name geheiligt werde, wird auch erst im Akt des Betens die Ambivalenz dieser Modelle erträglich. Denn in solchem Vollzug vertraut der Beter Gott noch die Begrenztheit der von ihm gebrauchten Modelle an. Auch auf dieses Differenzverhältnis bezieht sich die 1. Bitte um die Heiligung des Gottesnamens. Zugleich entspricht sie einem formalen Merkmal des religiösen Rituals selbst. In ihm wird Durkheim zufolge die Teilnahme an etwas Hohem, „Heiligem“ in der Differenz von Darstellbarkeit und ———— 59 Barth, Das christliche Leben, 135. Die Exklusivität der 1. Person Plural ist nur scheinbar; nach Röm 8, 21 ist dies „nur die Kehrseite der höchst umfassenden Sicht“, dass die Freiheit der Kinder Gottes als Hoffnung der ganzen Menschheit zu begreifen ist (163f). 60 Barth, Das christliche Leben, 83. 61 Ricoeur, Gott nennen, in: Casper (Hg.), Gott nennen, 75 mit Bezug auf Ian Ramsey. Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Barth, Das christliche Leben, 85.87.

276

Nicht-Darstellbarkeit erfahren. Diese Differenz leitet auch die 2. Bitte um das Kommen des Gottesreiches. Mit ihr wird die Weltordnung des Gebets gestiftet, wie Rosenzweig im 3. Teil des „Sterns“ formuliert.62 Zwar wird von jedem einzelnen religiösen Standpunkt aus versucht, „eine eigene Weltordnung zu stiften“63. Die Religion verlangt nach Formen des gemeinsamen Lebens, nach Riten, nach Reflexionsgestalten in der Lehre. Das darin sich verwirklichende Identitätsbedürfnis unterliegt zwar seinerseits Zwängen, die im Gebet um das Kommen des Gottesreiches aufgehoben werden können. Im Vollzug der Bitte um das Kommen des Gottesreiches ist aber die eigene Ordnung der einzelnen Religion – regulativ gewissermaßen – in die „Weltordnung des Gebets“ aufgenommen. Auch die Gesellschaft erscheint somit nur noch relativ abhängig von den in ihr geltenden Normen, wie man in kritisch gegen die Thesen Durkheims sagen kann (s. u.). Recht verstanden wird es nie nur Gebet in eigener Sache sein können, sondern die anderen einbeziehen. Wie im Gebetsglauben Jesu das kommende – proleptisch – das gegenwärtige Gottesreich ist, tritt auch der Beter in die Nähe des Gottesreiches ein.64 In dieser Nähe setzt er sein Innerstes aus, wagt es, sich unendlich von sich zu entfernen, um sich selbst neu zu empfangen und so auf sich zurückzukommen.65 „Vor Gott“, wenn diese räumliche Metapher erlaubt ist, oder in der Dimension des Unendlichen wird der Betende selbst ein anderer und bleibt doch ein – gleichwohl transformiertes – Selbst. Eine Voraussetzung dafür spricht die 3. Bitte an. Der Beter, der in den Gotteswillen einwilligt, hat schon seinen Wunsch reguliert, auf Gott im eigenen Interesse Einfluss zu nehmen. Ein Verständnis des Gebets als magische Beschwörung ist damit ausgeschlossen. Der Beter hat eine Umkehrung seiner strebenden, wünschenden und wollenden Intentionalität schon erfahren, wenn er mit dieser Bitte den göttlichen Willen zulässt. Die dritte Bitte bereitet einer „Gelassenheit des Wunschs“66 den Weg, die Rosenzweig in Vortragsnotizen folgendermaßen beschrieb: ———— 62 Rosenzweig, GS II, 297f [Stern III]. 63 Rosenzweig, GS II, 298. Nicht wenige Einleitungen und Deutungen dieses Gebets scheinen von diesem Bedürfnis geleitet zu sein, vor allem die eigene Identität zu sichern. M. Schellbach hat dafür eine ganze Reihe von Beispielen zusammengetragen (Ders., Vaterunser. Predigten für die Gegenwart. Lieder, Zeugnisse und Gebete zum Vaterunser aus achtzehn Jahrhunderten der Kirche, Berlin 1950). Warum einzig im christlichen Glauben das Gebet „als der religiöse Akt [gelten soll], in dem sich ‚das Ganze des Gottesverhältnisses konzentriert‘“ (Ringleben, „In Einsamkeit mein Sprachgesell“, 242 zit. Ebeling), ist allerdings aus einer semantischen Analyse des Vaterunsers nicht ersichtlich, die vom Wortlaut ausgeht. 64 Theunissen, ǵ ĮȓIJȫȞ ȜĮȝȕȐȞİȚ, 326f. 330. 65 Theunissen, ǵ ĮȓIJȫȞ ȜĮȝȕȐȞİȚ, 346ff. 66 Rosenzweig, GS III, 592.

277

„Erst wer die Zukunft als Wirklichkeit media in vita hat, wer das Sterben gelernt hat in jedem Augenblick […], erst der lebt […] Das zu lernen ist aber eine schwere Kunst und kostet viel Kraft und Schmerzen. Umsonst wird es keinem. Wir alle können nur bitten, dass uns die Kraft für diese Schmerzen geschenkt werde und nicht ausgehe. Amen.“67

Die Bitten des Vaterunsers konkurrieren nicht miteinander, sondern rufen jeweils einander, wie Gerhard Ebeling treffend angemerkt hat.68 Im Mittelteil wird das Alltägliche ins Gebet gezogen, indem „kraft unserer Abhängigkeit von Gott unsere alltäglichen Abhängigkeiten in die Sphäre der Freiheit erhoben“69 werden. Diese Freiheit ist nach Theunissens überaus dichter Rekonstruktion des Gebetsglaubens Jesu nicht „ausschließlich als Freiheit des Menschen zu sich selbst“70 zu denken, sondern auch als „Freiheit des Menschen von sich selbst“, die „auf eigentümliche Weise vom Druck der Zukunft [entlastet]. Sie befreit von der Sorge um die eigene Existenz“.71 Diese Freiheit ist gebunden an eine Verantwortung Gott und den Menschen gegenüber von Anfang an, wie sich die Anrede schon als Antwort verstehen ließ. Die Brotbitte nun72 knüpft den in den drei Du-Bitten ausgesprochenen Transzendenzbezug an die Leiblichkeit und Diesseitigkeit des irdischen Daseins. Die materielle, relative Abhängigkeit wird als solche anerkannt, die Wiederkehr von Hunger und Durst also, das Bedürfnis nach Anerkennung und Gemeinschaft. Leiblichkeit hat hier nicht nur den Sinn einer Selbstbezüglichkeit, sondern auch den der Sozialität. Über die ursprüngliche Passivität hinaus, von Gott dem Vater schlechthin abhängig zu sein, bekennt diese erste Wir-Bitte die menschliche Bedürftigkeit. Sie bedeutet, um eine Formulierung Simmels zu gebrauchen, „das ganze Dasein in einer bestimmten Tonart“73 – das ganze Dasein, wie es die Erläuterungen Luthers so knapp wie konkret skizzieren: „alles [eben], was zur Leibesnahrung und -notdurft gehört“, bis hin zu gutem Wetter, Gesundheit, getreuen Nachbarn und dergleichen.74 An dieser Stelle soll ein Beispiel zeigen, wie die Brotbitte in unterschiedlicher Lebenssituation zu einer Vergewisserung des je eigenen Lebens hat führen können. Ein solches Beispiel hat Rudolf Alexander Schröder mitgeteilt, der als Dichter einiger

———— 67 Rosenzweig, GS III, 589. 68 „In jeder ist das Ganze enthalten“ (G. Ebeling, Vom Gebet, 69). 69 Ebeling, Vom Gebet, 81. 70 Theunissen, ǵ ĮȓIJȫȞ ȜĮȝȕȐȞİȚ, 323f. 71 Theunissen, ǵ ĮȓIJȫȞ ȜĮȝȕȐȞİȚ, 336 (kursiv im Original). 72 Nach Ebeling ist das der Satz in der Mitte zwischen den Höhen der ersten drei und den Abgründen der drei nachfolgenden Bitten (Ders., Vom Gebet, 67). 73 Drehsen, Religion – der verborgene Zusammenhalt der Gesellschaft, 79. 74 M. Luther, Der kleine Katechismus für die gemeinen Pfarrherren und Prediger, in: BSLK Bd. 2, 514.

278

Lieder im Gesangbuch bekannt ist („Wir glauben Gott im höchsten Thron […]“, „Abend ward bald kommt die Nacht […]“). Für meine Fragestellung ist nun insbesondere ein Brief interessant, den er 1945 an einen Kriegsheimkehrer geschrieben hat.75 Denn dieser lange Brief wird mit einer Betrachtung über das Vaterunser abgeschlossen, in deren Licht dann auch der ganze Brief seine Konturen erhält. Im biographischen Rückblick hatte der 67–Jährige hier von seiner nicht direkten, aber indirekten Mitverantwortung dafür gesprochen, dass dem Wahn des Nationalsozialismus nicht deutlich genug widersprochen worden war. Seine eigenen frühen Gedichte über die Kriegserfahrung, über Volk und Vaterland waren nutzbar gewesen und ausgebeutet worden für die Ideologie der Nazis. Selbstkritisch benennt er seine eigene Haltung als Dichter und Literat, der zwar vielfach den Wandel, die Katastrophe und die Heraufkunft eines Unheils beschworen hatte, dem tatsächlichen Lauf der Dinge aber nichts wesentliches hatte entgegensetzen können.76 Am Ende dieses langen Briefes nun kommt Schröder auf das Vaterunser zu sprechen als das Gebet, das seinen eigenen Rückblick begleitet und ermöglicht hatte, als das Gebet, auf das er den viel jüngeren Kriegsheimkehrer verweist in der Hoffnung, dass er seinen Rückblick darauf wird beziehen können. „Erst im Gebet, im Gemeinschaft gründenden, Gemeinschaft erhaltenden, erst im Wort Jesu Christi, das uns immer wieder an das Gebet heran und in das Gebet hinein führt, haben wir das Licht, das wir brauchen für den schmalen, beschwerlichen Weg, auf dem allein uns unter Mühen und Anstrengungen erlaubt und möglich ist, fortzuschreiten in der Erfüllung der Pflicht, die uns unter anderm durch die tägliche Brotbitte gewiesen wird.“77 Alles, was Schröder geschrieben hatte, lässt sich ins Verhältnis zum Vaterunser setzen, dieses „Kompendium[s] alles dessen[…], dessen der Mensch für seine Seele in dieser Welt Gottes und seiner selbst bedarf“ (ebd.): der Rückblick auf sein Leben in der ersten Hälfte des Jahrhunderts mit der Erfahrung von Schuld ebenso wie das wiedergewonnene Vertrauen auf den Gott, von dem das 1. Gebot redet. „Nur wer [im Vaterunser] den tiefen und notwendigen Zusammenhang der Bitte um die tägliche Fristung unseres irdischen Daseins, der Brotbitte also, mit der Bitte um Vergebung unserer Schuld und unserm eigenen Gelöbnis der Schuldvergebung gefasst hat, ist auf dem Weg, auf dem er Schritt vor Schritt versuchen und lernen darf, den ‚Wolf‘ in einem jeden von uns in den Lastenträger zu verwandeln […] Mit anderen Worten: wahrer Dienst lebt nur, wo wahre Gemeinschaft ist. Wahre Gemeinschaft lebt nur von und zu Gott als der Quelle, dem Ursprung alles einzelnen, alles gemeinsamen Seins“ (1193). In Schröders Interpretation bildet der Bedeutungsgehalt dieses

———— 75 Schröder, Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd. 3 [= GW III], Frankfurt a. M. 1952ff, 1169–1194. Vgl. Dober, Rudolf Alexander Schröder im Kontext, 145–176. 76 „Wir alle, die wir damals für die geistige Haltung und Überlieferung der Nation mitverantwortlich waren, hatten – teils aus Harmlosigkeit, teils aus selbstischen Motiven – versäumt, uns zeitig Rechenschaft zu geben von den sehr realen Hintergründen und dem sehr realen Eigengewicht eines Volksaufstands, dessen Leiter mit unverantwortlichen Redensarten scheinbar lediglich ins Blaue zielten. Wolkenkuckucksheimerei hatten wir das genannt und nicht gemerkt, dass grade wir es waren, die mit ihrer vornehmen Abkehr und Ablehnung sich in den Wolken befanden, aus denen wir alsbald sehr unsanft auf die Erde stürzen sollten“ (Schröder, GW III, 1185). 77 Schröder, GW III, 1194.

279

Gebets das symbolische Medium, in dem er die Freiheit zur Selbstreflexion in Ehrlichkeit und Offenheit findet, ohne dabei befürchten zu müssen, sich selbst preiszugeben oder zu verlieren; in diesem symbolischen Medium kann er zugleich das Vertrauen haben, dass der Adressat eben diesen Zusammenhang versteht.

Die Bitte um Vergebung der Schuld setzt die Endlichkeit und Unvollkommenheit des Menschen in einer anderen Hinsicht als die Brotbitte voraus. Sachlich ist sie eng verknüpft mit der Leiblichkeit des Daseins, die auch auf gesellschaftliche Verteilungsprobleme verweist. Es gibt kein Leben ohne Schuld, so wie es keine völlige Gleichheit unter den Menschen gibt. Die zweite Wir-Bitte anerkennt diesen Sachverhalt allerdings nicht, um es achselzuckend dabei zu belassen, sondern um verletzte oder zerrüttete Verhältnisse in die Perspektive der Erneuerung zu stellen. Die Vergebung, deren teilhaftig zu werden der Beter bittet, wird auch als menschlicher Weg der Umkehr gesehen. Die menschliche Vergebung ist aber hierbei nicht als Bedingung göttlicher Vergebung zu verstehen. Die Bitte, nicht in Versuchung geführt zu werden, schließlich ist eng verknüpft mit der Bitte um Erlösung vom Bösen. In ihr spitzt sich „die eschatologische Bestimmtheit des ganzen Vaterunsers“ zu.78 Sie kann im Sinne der Reflexivität des Gebets überhaupt und seiner Grundlegungsproblematik interpretiert werden. Für den einzelnen geht es hierbei um die Bewahrung in der Versuchung, aus dem Vertrauensverhältnis zu fallen, in dem allein das Gebet begonnen werden konnte. Die Schwierigkeit bestünde dann darin, nicht mehr Du sagen, und also auch nicht mehr beten zu können. Aus dem lebendigen Verhältnis des Gebetsglaubens nicht (in Resignation oder Magie) zu fallen bittet die dritte Wir-Bitte. Diese Reflexivität vermag die skeptischen Anfragen an die Möglichkeit des Gebets (philosophischer oder psychoanalytischer Provenienz) zu integrieren. Sie erhält zwar das Begehren und den Wunsch aufrecht, dass Gottes Reich komme und dass sein Wille geschehe wie im Himmel, so auf Erden. Der unter der Kategorie des „Selben“ stehende Wunsch hat aber im vollzogenen Gebet eine Umkehrung erfahren in das Verlangen danach, was Gott will.79 Weil im Vollzug des ———— 78 Bayer, Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie, Tübingen 1999, 202. Der hier nicht näher auszuführende Unterschied zwischen Befreiung und Erlösung ist im Zusammenhang dieser Doppelbitte zu bedenken. Die Bitte um Befreiung wendet sich an die Macht Gottes (Theunissen, ǵ ĮȓIJȫȞ ȜĮȝȕȐȞİȚ, 364). Wovon befreit diese Macht aber? Um diese Frage zu beantworten, geht Theunissen auf den Erlösungsbegriff zurück. Sie befreit den Menschen von sich selbst, und eben so – auf eine neue Weise – zu sich selbst, indem sie ihn „vom Zwang des Nicht-handelnKönnens“ erlöst (365). Der – mit Adorno zu sprechen – gesellschaftlich vermittelte „universale Zwangszusammenhang“ hat aber nur vom Individuum aus Aussicht auf Befreiung. Dessen Ohnmachtserfahrung erfährt im Vollzug des Bittens eine Umkehrung. 79 Stolina unterscheidet die Verlockung und die Trägheit als Haupttypen der Versuchung (R. Stolina, Gebet – Meditation – Anfechtung. Wegmarken einer theologia experimentalis, in: ZThK 98 [2001], 81–100, 93). Das Problem ist hierbei, wie die moralisch getönte Verlockung von

280

Betens die eigenen Wünsche kritisch reflektiert werden (in der Dimension des Unendlichen oder „vor Gott“), kann man auch von einem „Realitätsgewinn“80 im Gebet sprechen. So steht die Wirklichkeit im Zeichen der Heiligung des Gottesnamens, auf die die Schlussdoxologie zurückkommt. In diesem Zeichen kann es als das Modell einer „befreiten und wiedererweckten Humanität“81 verstanden werden.

8.6 Das Gebet präzisiert und transzendiert das Ritual 8.6.1 Zusammenfassende Aspekte der Analyse des Vaterunsers Ritualisierte Handlungen müssen nicht als stereotype Wiederholungen angesehen werden, auch wenn gerade darin ihre Gefahr für den Handelnden bestehen mag. Sie können auch Wege zum Wissen sein, und das zumal in der „Sprachschule“ des Vaterunsers, die zugleich eine Schule des Wünschens ist.82 Das Ritual wurzelt im Unbewussten und seinen Ambivalenzen, fängt sie ein, stellt sie dar, verändert sie aber nicht. So bleibt es selbst ein durchaus ambivalentes Phänomen. Demgegenüber ist das Gebet eine Form des Umgangs mit diesen Ambivalenzen, in der diese verwunden werden können. In diese bestimmte Perspektive gestellt erfährt die kirchlich geprägte Religion, zu dessen „Kern“83 das Ritual gehört, selbst eine Präzisierung. Sie begründet sich aus der Geste des gemeinsamen Gebets und aus seinem semantischen Gehalt. Erst wenn beide wechselseitig aufeinander bezogen werden, birgt die kirchliche Ordnung Potenzen eines klärenden Umgangs mit den Ambivalenzen, die jedem Ritual eigen sind. Zweideutig ist es aber, insofern es – Petra Bahr zufolge – zwischen "Form und Unbestimmtheit“, „Darstellung und Darstellungsentzug“, „Machtförmigkeit und Subversion“ ———— dem Begehren unterschieden werden soll, ohne das der Trägheit des Herzens nicht widersprochen werden kann. Wie Theunissen mit Bezug auf Lk 11, 9–10 und Mt 7, 7–8 schreibt, sollen „wir […] uns nichts abverlangen, sondern nur verlangen“ (Ders., ǵ ĮȓIJȫȞ ȜĮȝȕȐȞİȚ, 329). Jesus setzt „unserem Bitten keine Schranken“ (ebd.). Man kann hier mit Schlatter einen Schutz des Glaubens „vor der Entartung zur bloßen Ergebung“ erblicken (372). Das „natürliche Verlangen“ ist aber nicht ohne weiteres „mit dem Streben nach dem Reich Gottes [zu] vereinbaren“ (329). Möglich ist das durch eine Umkehrung des unter der Metakategorie des „Selben“ stehenden Wunsches. 80 H.-M. Barth, Art. Gebet: 2. Systematisch-theologisch, 3. Pastoraltheologisch, in: EKL Bd. 2, 19. 81 Ricoeur, Gott nennen, in: Casper (Hg.), Gott nennen, 77. 82 Ebeling, Vom Gebet, 19. Beten ist auch „Arbeit am Gottesbild […] Der rechte Gebrauch der biblisch möglichen Prädikate Gottes des Vaters, der Mutter usw. bemisst sich korrelativ zum Gebetsleben, das man insofern einen ‚gestalteten Narzissmus‘ nennen mag“ (W. Sparn, Art. Gebet, in: HBPTh, 296). 83 Dalferth, Mythos, Ritual, Dogmatik, 284.

281

oszilliert.84 Die Ordnung des Rituals ist nicht eo ipso schon wahr, sondern konventionell. Damit sie wahr werden kann, muss der „Spielraum“ im Spannungsverhältnis von Struktur und Meta-Struktur auf das Leben der Teilnehmenden bezogen werden. Das geschieht durch die „semantische Erneuerung“ in der Andacht des einzelnen.85 Damit sind dann aber auch Grenzen gefunden, über die hinaus die neuere Ritualtheorie keine erklärende Kraft für den liturgischen Vollzug beanspruchen kann. Aufgrund der Wechselbeziehung von Pragmatik und Semantik dieses Gebets wird man für seinen Vollzug nicht uneingeschränkt sagen können, dass es sich als Ritual selbst beglaubige oder eine „selbstbezügliche Realität“86 darstelle. Und dass Rituale nur Teilnahme, aber keinen Glauben erfordern,87 wird nur für bestimmte Aspekte des gemeinsamen Gebets gelten können. Zwar gehört die Integration zu den Hauptfunktionen des Rituals, das eine individuelle und abgestufte innere Beteiligung erlaubt. Wie das einzelne, so wird auch das gemeinsame Gebet aber um eines erneuerten Selbstverhältnisses willen vollzogen. Eindeutigkeit scheint mir das zweideutige Ritual erst zu gewinnen, wenn zu Bewusstsein kommt, worumwillen es der besonderen Pflege bedarf. Die Grenze seiner Funktion für das Selbstverhältnis des einzelnen ist an dem Punkt erreicht, an dem er aufgrund seiner reichen Innerlichkeit auf die Hilfe der äußeren Form für sich selbst meint, verzichten zu können.88 Warum es aber dennoch der äußeren Form, zumal der des gemeinsamen Gebets, bedarf, ist aus der Funktion für den anderen zu sehen.89 Für Schleiermacher ist das artikulierte Gebet nur eine Hilfe zur Vergegenständlichung, zur Erinnerung und zum Prozess des Bewusstwerdens; das stille Gebet vermag wie das Denken eine selbständige Weise zu sein, sich seines Selbstverhältnisses in der Dimension der Religion zu vergewissern. Es ist also im Rahmen der Schleiermacherschen Theorie eine Stufe der Gewissheit denkbar, auf der der einzelne für sich selbst des in Lauten artikulierten Gebets nicht mehr bedarf. Doch der einzelne wird immer zugleich als in Verhältnissen der Kommunikation stehend gedacht, die die

———— 84 Bahr, Ritual und Ritualisation, 158. 85 Ricoeur, Gott nennen, 73. 86 Geertz, zit. nach Thomas, Medien, Ritual, Religion, 419. 87 Rappaport nach Thomas, Medien, Ritual, Religion, 427. 88 D. i. gegen W. Stecks Beschreibung des Gottesdienstbesuchs geltend zu machen und zu verteidigen, der von lauter mit sich selbst beschäftigten Individuen ausgeht (besonders sprechend ist: Steck, Praktische Theologie I, 315f). In der Perspektive der Ritualtheorie sind auch Zweifel angebracht, ob das Gebet – in der Form des gemeinsamen Vollzugs – „als religiöser Umgang mit sich selbst vor Gott“ (Ringleben, „In Einsamkeit mein Sprachgesell“, 235.237ff) zureichend bestimmt ist. Es ist in dieser Perspektive mehr als ein „Selbstgespräch der höheren Art“, mit dem es allerdings Ähnlichkeiten aufweist (H. Timm, Kein unnützes Geschwätz. Das Gebet – ein Selbstgespräch der höheren Art? in: NZZ Nr. 300 [23./24. Dezember 2000], 53). 89 Vor dem Hintergrund entwicklungspsychologischer Erkenntnisse weist Volp auf die „seelsorgerliche Verantwortung“ (Ders., Liturgik Bd. 2, 1101) des öffentlichen Gebets hin.

282

Artikulation in Worten und Sätzen erfordert – um der Bildung, Vergewisserung, und um des Wachsens zum Bewusstsein und Selbstbewusstsein des andern willen.90

Darauf ist dann auch die pädagogische Darstellungsfunktion zu beziehen. Wie nach Luther die Gestaltung des Gottesdienstes überhaupt an dem Kriterium zu orientieren ist, dass sie „Gott zur Ehre und den Nächsten zum Nutzen“91 gereiche, so auch die ritualisierte Handlungsform des gemeinsamen Gebets. Die Gottesdienstordnung ist in dieser Perspektive nicht selbstzwecklich, sondern eben um des anderen willen einzuhalten. In diesem Sinne heißt es in der Vorrede zu seiner Schrift „Deutsche Messe und Ordnung Gottesdiensts“ (1526): „Wir stellen diese Ordnung gar nicht um derjenigen willen auf, die bereits Christen sind, denn die bedürfen dieser Dinge keines […] Aber um derjenigen willen muss man solche Ordnungen haben, die erst noch Christen werden oder es stärker werden sollen […] Allermeist aber geschieht es um der Einfältigen und des jungen Volks willen, das täglich in der Schrift und Gottes Wort geübt und erzogen werden soll und muss.“92

Erst der im Sinne der Verantwortung dem anderen gegenüber gefasste „kommunikative Zweck“93 des Rituals führt aus der ihm eigenen Ambivalenz heraus. Wie die für das Bittgebet konstitutive Einheit von Bitten und Glauben fixiert auch die eigentümliche „Geradheit“94 der Verantwortung die Zweideutigkeit des Rituals. Die Verantwortung dem andern gegenüber lässt sich aber, der semantischen Analyse des Vaterunsers folgend, als eine Einwilligung in den Gotteswillen begreifen, die eine Umkehrung der strebenden, wünschenden und wollenden Intentionalität des Betenden bewirkt. In dieser Perspektive lässt sich der äußere Vollzug des gemeinsamen Gebets als eine sich der Wirklichkeit des Lebens immer wieder neu anmessende Form ansehen. Der Beter bleibt hierbei allerdings in der Versuchung, in die nicht geführt zu werden er bittet.

———— 90 „Anders ist es wenn die innere Gemüthsstimmung nicht bloß für das Subject sondern auch für andere heraustreten soll: dann muss ein größerer Aufwand gemacht werden" (Schleiermacher, Praktische Theologie, 188). 91 Luther, Ausgewählte Schriften Bd. 5, 30 (Von Ordnung Gottesdiensts in der Gemeinde [1523]). Barth entwickelt das „um der anderen willen“ anhand seiner Erörterung der Inklusivität der Anrufung Gottes als des Vaters in der 1. Person Plural (Das christliche Leben, 163ff). 92 Luther, Ausgewählte Schriften, 75. Vgl. 216 (Von den Konzilien und Kirchen [1539]). 93 Jetter, Symbol und Ritual, 87; vgl. Dalferth, Mythos, Ritual, Dogmatik, 285. 94 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 107. Von einer „Geradheit der Orientierung“ in der Vieldeutigkeit des Sinns von Sein ist an anderer Stelle die Rede (Lévinas, Humanismus, 44. vgl. 25).

283

8.6.2 Die Verwindung der Metaphysik im Gebet: Ein abschließender Blick auf Rosenzweigs Liturgik Rosenzweig hat die Liturgie ans Gebet und das Gebet an die Liturgie gebunden. In dieser Verknüpfung begegnet er einerseits den Ambivalenzen des Rituals, andererseits hat er aber auch den Weg für eine spezifische Verwindung der Metaphysik bereitet. Kraft seines performativen Charakters vollbringt das Ritual, was seine Funktion verspricht: Gemeinschaft, Integration, Ordnung, Abgrenzung und Bildung der je eigenen Identität. Dieses Performative hat aber eine Entsprechung in der Struktur des Gebets: Es bestätigt das Vertrauen, das zu erneuern die Anrede „Adonai“ im Judentum oder „Vater unser“ im Christentum sich immer wieder neu anschickt. Im Namen wird ein Band der Treue und des Glaubens durch den Akt seiner Anrufung gestiftet. Mehr noch kommt es in der gemeinsamen Bitte um das Kommen des Reiches – für die, die bitten – schon an. Im gemeinsamen Sprechen des Gebets wird wirkliche Einheit erlebbar, und in der Wiederholung auch erfahrbar. Damit ist mehr gesagt, als dass die Idee der Einheit eine regulative Funktion habe (wie der Gedanke der idealen Gemeinschaft in Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns), mehr auch, als dass die Idee hier „sinnlich scheine“ (wie ein Hegelsches Diktum lautet). Denn wenn das gemeinsame Gebet um das Kommen des Reiches die Form des Rituals voraussetzt, um sie mit Inhalt zu füllen, kann man sagen: Das Andere der Ordnung, der Struktur des Rituals ist nicht nur das in der Form schon implizierte Metastrukturelle, sondern der im Gebet angerufene Adressat: Gott, das in der „Metaphysik“ von Stern I hypothetisch konstruierte Element, gewinnt in der liturgisch etablierten Erfahrung von Schöpfung – Offenbarung – Erlösung Wirklichkeit, in der Gott sich dreigestaltig zeigt.95 Er gewinnt Wirklichkeit als das andere Element außer dem Menschen und der Welt. Im Vollzug des Gebets ist somit ein sichtbares, äußeres Zeichen (oder Zeichen-System) gegeben, das auf ein Nicht-Sichtbares in der Intentionalität des Betenden bezogen ist. Der im Namen Ansprechbare wohnt in der Dimension des Unaussprechlichen. Das Ritual ist also die Form, in der eine Transzendierung möglich ist, die auf Transzendenz verweist. In der korrelativen Beziehung des endlichen Men———— 95 Zwar wird man den Glauben an den dreieinigen Gott als einen zwischen Juden und Christen nicht auflösbaren Differenzpunkt anerkennen müssen. Dass Gott sich dem „Stern der Erlösung“ zufolge aber in seinem Verhältnis zur Welt und zum Menschen auf drei Weisen zeigt, die relational und temporal zu unterscheiden sind, erlaubt doch, eine Ähnlichkeit im Gottesglauben in den Blick zu nehmen. Diese Ähnlichkeit fordert zu einer Modifizierung der strikten Unterscheidung des christlichen vom jüdischen Gebet heraus, die W. Sparn hinsichtlich der „trinitarischen Struktur“ getroffen hat (Ders., Art. Gebet, 293).

284

schen zum unendlichen Gott ist es so, als „thronte“ er „über den Lobgesängen Israels“ (Psalm 22,4). Insofern Rosenzweig das Ritual als Form der Gemeinschaft in den Blick nimmt, schließt er an eine Grundeinsicht Durkheims an, und geht über ihn hinaus. Durkheim zufolge sind Rituale Mittel zur Gemeinschaftsstiftung. Es gibt, so dessen These, eine „natürliche“ Tendenz, die Handlungen aufeinander abzustimmen, zu korrelieren, zu standardisieren und zu wiederholen, wenn immer Menschen zusammentreffen. So erzeugt gemeinsames Handeln ein Gefühl der Teilnahme an etwas Überindividuellem, Transzendentem, „Heiligen“, wie es in Symbolen repräsentiert ist. Auf der Linie der religionskritischen Tendenzen des 19. Jahrhunderts meint Durkheim nun, Symbole repräsentierten nicht das Heilige, Andere, Transzendente, sondern „in Wirklichkeit“ nur „die Existenz und die Solidarität der Gemeinschaft als solcher“.96 Dem widerspricht Rosenzweig mit seinem dreidimensionalen Erfahrungsbegriff, mit seiner sprachphilosophischen Deutung der performativen Nennung des Namens und mit seiner Pluralisierung des Wahrheitsbegriffs, der allerdings (allgemein sichtbare und anerkannte) Einheit nur als – noch – uneingelösten Anspruch mit sich führt. Die dreidimensionale Erfahrung aber gewinnt Wirklichkeit schon in der (jeweils begrenzten) Gemeinsamkeit des Rituals. In Rosenzweigs letztem Tagebuch heißt es zu diesem (im Vergleich mit Durkheim auftretenden) Problem: „Hat die Seele, hat die Entwicklung, hat die Gemeinschaft Gott gemacht – oder nicht vielmehr umgekehrt? Anders ists nur mit den Göttern, – die übrigens dadurch dass Gott ist, ihrerseits nun doch auch eine selbständige Existenz kriegen.“97

Wenn sich die Dinge so verhalten, ist im Vollzug des Gebets die Metaphysik verwunden. Als Letztbegründungsinstanz in einem onto-theologischen Rahmen ist Gott auf diese Weise nicht mehr in Anspruch genommen, war doch die „Philosophie des All“ in dieser und in den anderen Gestalten, in denen der Kosmos oder die menschliche Subjektivität als Grundbestimmung des Seienden sollte gelten können, von Rosenzweig zu Beginn zerschlagen worden. Gott ist eben nicht, wie es die Übersetzung von Exodus 3,14 in der Septuaginta anzuzeigen schien, der Seiende, der das Sein im Ganzen begründet (İ҆ȖȦҁ İȓȝȚ ó ȫ҈Ȟ). Denn die Gegenwart Gottes im Sinne einer „steten Anwesenheit“ ist nicht im Sinne einer allgemeinen Voraussetzung immer schon gegeben, von der ich wissen könnte, sondern sie ist Konsequenz eines Glaubens, der im Ereignis einer Beziehung im Medium der Sprache entsteht. Die Zusage Gottes „ich werde dasein, als der ich dasein werde“,98 ist eine Verheißung, der ich glauben muss, damit sie für mich wahr werden kann. Im Gebet um das Kommen des Gottesreiches spricht sich aber die Hoffnung aus, dass Gott einmal „alles in allem“ (1Korinther ———— 96 Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 15 97 Rosenzweig, GS I, 769 [Briefe und Tagebücher, 2. Bd.], 769. 98 Die fünf Bücher der Weisung. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Heidelberg 101981, 158.

285

12,6b) sein werde, sind doch „von ihm und durch ihn und zu ihm […] alle Dinge“ (Römer 11,36). Dieses Ende eines korrelativen Prozesses zwischen den Elementen der Erfahrung wird Rosenzweig zufolge im Gebet der Synagoge einen Augenblick lang vorweggenommen; in christlichem Verständnis vermag es auch in das gemeinsame Gebet des Vaterunsers vorzufallen. Das Gebet präzisiert und transzendiert das Ritual aber letztlich durch den in ihm geltend gemachten Wahrheitsanspruch. Sowohl im jüdischen als auch im christlichen Gebet wird ein Wahrheitsanspruch geltend gemacht. Dort heißt es „Du Gott bist die Wahrheit [atta adonai emet]“, und hier „Du bist der Weg, die Wahrheit und das Leben“. So trägt das Gebet beide Male der Einsicht Rechnung, dass die Wahrheit selbst einen Zeitkern hat, sofern in der Zeit existierende, geschichtliche, endliche Menschen sie vertreten. So konnte es zur Ausbildung erst des jüdischen, und später dann des christlichen Bekenntnisses kommen. Mit diesen unterschiedlichen Wahrheitsansprüchen sind nun aber auch Grenzen gesetzt, die durch den ritualisierten Vollzug stets erneuert werden. Grenzen schließen ein und aus. Demgegenüber ist die Wahrheit bei Gott aber eine. Im Modus ihrer Antizipation im Gebet entsteht nun die Möglichkeit, die Grenze, die die Liturgie als Ritual sowohl im Juden- als auch im Christentum zieht, zu überschreiten. Somit ist die Reichweite des Rituals im Zusammenhang des Sterns ihrerseits begrenzt: weder haben rituelle Handlungen absolut ihre eigene Geltung,99 noch stellen die Teilnehmer als Darsteller bloß sich selbst zur Schau,100 noch ist das Ritual ein magisches Werkzeug, mit dem der Mensch Gott zwingen könnte.101 Vielmehr steht das Ritual im Stern für eine Wechselbeziehung zwischen den Eckpfeilern des Ganzen: Der Weg des Gedankens und der Darstellung geht „vom Tode“ „ins Leben“, doch das Vertrauen, dass dieser Weg überhaupt sinnvoll sein kann, gründet in einem Erlebnis, das zur Erfahrung wurde: für Rosenzweig eben der Teilnahme am Ritual des liturgischen Lebens der Synagoge, für seine christlichen Freunde Eugen Rosenstock, Hans und Rudolf Ehrenberg am kirchlichen Leben. Wie aber können derartige Erlebnisse zur Erfahrung werden? Das kann im Kontext des Sterns nicht auf andere Weise geschehen, als dass die „Substanz“ des religiösen Glaubens unter den Bedingungen des modernen Be———— 99 Vgl. Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 25. 100 Belliger/Krieger, Ritualtheorien, 12. So heißt es etwa bei Ebeling (so sympathisch wie apodiktisch) in sachlichem Bezug auf Mt 6, 6: „Der Beter stellt sich nicht zur Schau“ (Ders., Das Gebet, 206). 101 Malinowski unterscheidet die Magie als „eine Ersatztechnik“ von den auf die an den „Wendepunkten“ des individuellen Lebens bezogenen Ritualen. Letztere haben die Funktion, durch ihren Vollzug selbst den sozialen „Zusammenhalt der Gruppe“ in krisenhaften Lebenssituationen zu gewährleisten. Vgl. Drehsen, V./Kehrer, G., Religion – die logische Notwendigkeit der Gesellschaft: Bronislaw Malinowski und Talcott Parsons, in: Dahm/Drehsen/Kehrer, Das Jenseits der Gesellschaft, 155–172, 159f.

286

wusstseins zu verifizieren ist, nämlich subjektiv.102 Der Weg führt also durch den Bildungsprozess des Individuums als Selbst hindurch, und zu diesem Bildungsprozess gehört die Teilnahme an der Liturgie als Ritual. „Als Bearbeitung von Differenz und als Aufbau narrativ-reflexiver ‚Selbst‘Identität ist Beten ein wichtiges Medium biographischen Lernens.“103 8.6.3 Das Gebet als „Weltsprache der Menschheit“ Insgesamt wird man das Gebet mit Hermann Cohen als eine „Weltsprache der Menschheit“104 begreifen können, die nicht nur in den Religionen mit unterschiedlichem Akzent gesprochen wird, sondern sich auch in den multimedial und massendemokratisch verfassten Gesellschaften des Westens auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck bringen kann. Das Gebet umfasst alle Formen des Ausdrucks und der Darstellung, insofern sie zur „Sprache“ geworden sind, die sich ausspricht und in die Dimension des Unendlichen hinein „spricht“. Dieses Sprechen kann bis an die Grenze des Unaussprechlichen gehen, die Benjamin in seiner frühen Sprachphilosophie beschrieben hat.105 Als eine derart plural verfasste und zur Darstellung kommende Sprache, die „nicht allein Mitteilung des Mitteilbaren, sondern zugleich Symbol des Nicht-Mitteilbaren“ ist, indem sie am „Widerstreit des Ausgesprochenen und Aussprechlichen mit dem Unaussprechlichen und Unausgesprochenen“ (Benjamin) teilhat, erfährt das Gebet aber im christlichen Gottesdienst eine prägnante Präzisierung. Diese möchte die Vielfalt des individuellen Ausdrucks keineswegs reduzieren, wohl aber vermag sie dem Individuellen eine Hilfe darin zu sein, sich selbst nicht mehr nur als ein Abgesondertes zu erfahren, das für sich selbst bleiben muss, sondern als ein Einzelnes, das der Integration fähig ist, ohne sich dabei selbst aufgeben zu müssen. Das Gebet um die Heiligung des Gottesnamens, um die Erfüllung seines Willens und um das Kommen seines Reiches ist in der Form des Vaterunsers nicht zu überbieten, ist doch hier der äußerste Horizont einer allgemeinen Hoffnung mit dem individuellsten Bedürfen und der Erfahrung des Menschen auf eine ———— 102 Bei Hegel ist der Satz, es komme alles darauf an, die Substanz als Subjekt aufzufassen, aufgehoben in einer Geistphilosophie, welche dem Allgemeinen den Vorrang vor dem Individuellen einräumt (vgl. Hufnagel, Die kultische Gebärde, 22). Demgegenüber muss Rosenzweig nach Maßgabe seiner Umkehrung der Philosophie des All aus der Struktur einer Archäologie in Eschatologie (vgl. Dober, Die Zeit ernst nehmen, 32f) dem Individuum eine entscheidende Rolle im Prozess der Verifikation des subjektiv als wahr Erkannten zubilligen. 103 W. Sparn, Art. Gebet, in: HBPTh, 296. 104 H. Cohen, Religion der Vernunft, 352. 105 Vgl. Dober, Seelsorge, 247–251.

287

poetische Weise verknüpft, die das Ganze des Wünschbaren auf die Hoffnung bezieht, die ihre Wurzel in der – in Juden- und Christentum doppelt weitergeführten – biblischen Tradition hat. Der Gottesdienst, in dem das Gebet als „Sprache der Menschheit“ eine prägnante Präzisierung erfährt, ist aber seinerseits einer allgemeinen Entwicklung in den westlichen Gesellschaften unterworfen, die man mit J. Taubes als eine Bewegung „vom Kult zur Kultur“ oder mit N. Luhmann „vom Kult zur Kommunikation“ spezifizieren kann.106 Ursprünglich im Kultischen verankerte symbolische Formen sind in die allgemeine Kultur ausgewandert, die sich vom Kultischen mehr und mehr emanzipiert hat. Diese Entwicklung lässt sich besonders prägnant anhand der Kunst in der Moderne nachvollziehen, und zwar nicht nur in der Malerei, sondern auch in der Musik. Zugleich sind mit der Heraufkunft demokratischer Verhältnisse im Politischen und Gesellschaftlichen, die heute immer noch treffend mit dem Terminus der (spätmodernen) Massendemokratie bezeichnet werden können, kommunikative Anforderungen der aktiven Teilnahme auch an der Gestaltung von Gottesdiensten entstanden, die sich kaum abweisen lassen. Diese Entwicklung ist bis heute alles andere als geradlinig verlaufen, gibt es doch in der Medienkultur nicht wenige Phänomene, die von neuen „Kulten“ um Bilder,107 stars, Filme und Lieder zu sprechen erlauben bis hin zum „Kult-Marketing“.108 Insgesamt ist eine Situation entstanden, die für die Gestaltung von Gottesdiensten aufs Neue eine „Inkulturation“ der gegenwärtigen kulturellen und kommunikativen Selbstverständlichkeiten fordert. Aufs Neue, denn in der Geschichte des Christentums ist immer wieder die Forderung aufgekommen, die Mitteilung des Glaubens in der Sprache einer Zeit und einer Kultur mit Hilfe der dafür zur Verfügung stehenden Medien zu wagen. Auch wenn deren Vielfalt in der Gegenwart auf eine vorher ungeahnte Weise gesteigert worden ist, sind es doch vor allem das Wort, die Musik und das Bild, in denen das Evangelium kommuniziert wird. Und es sind die Rituale, auf die hierbei ebenso wenig verzichtet werden kann wie die symbolischen Formen, ja die Symbole des Christentums selbst, welche eine Kommunikation nicht nur auf der kognitiven und reflexiven Ebene geistiger Gegenwart, sondern auch auf der emotionalen, vorbewussten Ebene des Gefühls und des Geschmacks ermöglichen. Um solche Kommunikation zum Zweck der Vergewisserung des Einzelnen in der Gemeinschaft derer, die sich vor Gott versammelt haben, zu begünstigen, wird es heute der ———— 106 Luhmann, Funktion der Religion, 111. Vgl. V. Drehsen, Praktische Theologie als Kunstlehre, 113. Vgl. Gräb, Sinn fürs Unendliche, 161. 107 R. Calasso, Baudelaire und der Kult der Bilder, in: F. A. Z. Nr. 49 (27. Februar 2008), Seite N 5. 108 Vgl. meine Auseinandersetzung mit Bolz, N./Bosshart, D., Kult-Marketing: Die neuen Götter des Marktes, Düsseldorf 1995, in: Dober, Die Moderne wahrnehmen, 391f. Anm.

288

Integration alles relevanten Sprechens der Seele und aller Gebetssprache (in einem weit gefassten Sinn) der Gegenwartskultur in den Gottesdienst bedürfen, wenn sich dazu im Kontext einer Gemeinde die Gelegenheit ergibt. Gerade auf diesem Wege wird sich dann auch das der Kommunikation sperrende Moment des Ausdrucks zeigen können, welches dem Kultischen als ein Auratisches immer schon eigen war.109

———— 109 Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, 167. 171 [s. o. Abschnitt 5.3].

289

290

Literatur

ACHELIS, E. CHR., Lehrbuch der Praktischen Theologie, 2 Bände, Leipzig ²1898. ADORNO, TH. W., Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1973. ALBRECHT, CHR., Kasualtheorie. Geschichte, Bedeutung und Gestaltung kirchlicher Amtshandlungen, Tübingen 2006. – Sinnvergewisserung im Distanzgewinn. Liturgische Erwägungen über das Wesen des evangelischen Gottesdienstes zwischen Feier und Fest, in: ZThK 97 (2000), 362–384. ANDEREGG, J., Sprache und Verwandlung. Zur literarischen Ästhetik, Göttingen 1985. ANDERSEN, Ø., Im Garten der Rhetorik. Die Kunst der Rede in der Antike, Darmstadt 2001. ASSMANN, A., Festen und Fasten. Zur Kulturgeschichte und Krise des bürgerlichen Festes, in: Haug, W./Warning, R. (Hg.), Poetik und Hermeneutik XIV. Das Fest, München 1989, 227– 246. ASSMANN, J., Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, Frankfurt a. M. 2000. AUGUSTINUS, Bekenntnisse, übertragen u. eingeleitet v. H. Hefele, Düsseldorf/Köln 1958. BAHR, P., Ritual und Ritualisation. Elemente zu einer Theorie des Rituals im Anschluss an Victor Turner, in: Praktische Theologie 33, 1998, 143–158. BARTH, K., Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV,4, Fragmente aus dem Nachlass, Vorlesungen 1959–1961, hg. v. H.-A. Drewes u. E. Jüngel, Zürich 1976. BAYER, O., Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer, München 1988. – Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie, Tübingen 1999. BELLIGER, A./KRIEGER, D. J. (Hg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 1998. BELTING, H., Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München ²2002. BENJAMIN, W., Gesammelte Schriften (= GS I–VII), Frankfurt a. M. 1972ff. BERGER, P. L., Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Freiburg 1991. BERNHARDT, U., Der Bruch mit der Innerlichkeit. Zum Projekt der Moderne bei Le Corbusier o. J. [französisches Original: Ders., Le Corbusier et le projet de la modernité. La rupture avec l’intériorité, Paris/Budapest/Torino (L’ Harmattan) 2002; die Übersetzung durch U. B. ins Deutsche liegt dem Vf. vor]. BETZ, H. D./BROWNING, D. S./JANOWSKI, B./JÜNGEL, E. (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Tübingen 41998 (= RGG4). BEUTEL, A., In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis, Tübingen 1991. BIERI, B., Zeit und Zeiterfahrung, Frankfurt a. M. 1972. BIERITZ, K.-H., Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart, München 1988. – Zeichen setzen. Beiträge zu Gottesdienst und Predigt, Stuttgart 1995. BLOCH, E., Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1959. – Atheismus im Christentum, Frankfurt a. M. ²1977. BLUMENBERG, H., Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981. – Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M. 2001. BOBERT-STÜTZEL, S., Frömmigkeit und Symbolspiel. Ein pastoralpsychologischer Beitrag zu einer evangelischen Frömmigkeitstheorie, Göttingen 2000. BOLLNOW, O. F., Mensch und Raum, Tübingen 1963. BOLZ, N./BOSSHART, D., Kult-Marketing: Die neuen Götter des Marktes, Düsseldorf 1995.

291

BONHOEFFER, D., Akt und Sein. Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie, München 1976. BRAUN, H., Gesammelte Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt, Tübingen ³1971. BUBMANN, R., Art. Kirchenmusik, in: Gräb, W./Weyel, B. (Hg.), Handbuch Praktische Theologie, Gütersloh 2007 [= HBPTh], 578–590. CASPER, B. (Hg.), Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, Freiburg/München 1981. – „Das Gebet stiftet die Weltordnung“. Zum Verständnis der Erlösung im Werk Franz Rosenzweigs, in: Fuchs, G./Henrix, H. H., Zeitgewinn. Messianisches Denken nach Franz Rosenzweig, Frankfurt a. M. 1987, 127–150. CASSIRER, E., Philosophie der symbolischen Formen, Bd. I–III, Darmstadt 101994 [= PhsF I–III]. – An Essay on Man: An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New Haven 1944. COHEN, H., Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Nach dem Manuskript des Verfassers neu durchgearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Bruno Strauß, Wiesbaden 1978 [Nachdruck der 1966 bei Melzer in Darmstadt erschienenen Ausgabe]. DALFERTH, I., Mythos, Ritual, Dogmatik. Strukturen der religiösen Text-Welt, in: EvTh 47, 1987, 272–291. DAHLHAUS, C./H. DANUSER, H. (Hg.), Die Musik des 19. Jahrhunderts [Neues Handbuch der Musikwissenschaft Bd. 6], Darmstadt 1980. DAHM, K. W./DREHSEN, V./KEHRER, G., Das Jenseits der Gesellschaft. Religion im Prozess sozialwissenschaftlicher Kritik, München 1975. DANCKWARDT, M. (Hg.), Augsburger Bach-Vorträge. Zum 250. Todesjahr von Johann Sebastian Bach, München 2002. DINER, D., Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt, Berlin 2006. DINKEL, CHR., Was nützt der Gottesdienst? Eine funktionale Theorie des evangelischen Gottesdienstes, Gütersloh 2000. DOBER, H. M., Die Zeit ernst nehmen. Studien zu Franz Rosenzweigs „Der Stern der Erlösung“, Würzburg 1990. – Erfahrbare Kirche: dimensionierte Zeit und symbolische Ordnung im Kirchenjahr, in: ZThK 89, 1992, 222–248. – Die Verhältnisbestimmung von Judentum und Christentum nach Franz Rosenzweig, in: von der Osten-Sacken, P. (Hg.), Lernen in Jerusalem – Lernen mit Israel. Anstöße zur Erneuerung in Theologie und Kirche [Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum 20], Berlin 1993, 371–390. – Schwellenkunde. Ein Beitrag zur Theorie des kirchlichen Kasualhandelns, in: Forum EB. Beiträge und Berichte aus der evangelischen Erwachsenenbildung, 4/1998, 9–15. – Rudolf Alexander Schröder im Kontext. Zu seinem „Dichterbund“ mit Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt, in: Drehsen, V./Gräb, W./Korsch, D. (Hg.), Protestantismus und Ästhetik. Religionskulturelle Transformationen am Beginn des 20. Jahrhunderts [Veröffentlichungen der WGTH Bd. 19], Gütersloh 2001, 145–176. – Die Moderne wahrnehmen. Über Religion im Werk Walter Benjamins, PThK 8, Gütersloh 2002. – „Ich und mich sind immer zu eifrig im Gespräche“. Zum Begriff des Gewissens und seiner Bedeutung für die Theorie der Seelsorge, ZThK 99, 2002, 503–529. – Schleiermacher und Lévinas. Zum Verhältnis vom Kulturphilosophie, Religion und Ethik, NZSTh 44, 2002, 330–352. – Das Vaterunser als Ritual. Ein praktisch-theologischer Versuch über das gemeinsame Gebet im Gottesdienst, DtPfrBl 5/2002, 225–230. – Die Begegnung im Angesicht des anderen. Ein phänomenologischer Zugang zum seelsorgerlichen Gespräch im Anschluss an Emmanuel Lévinas, in: EvTh 63, 2003, 182–200. – Christian Palmer. Ein Praktischer Theologe im Zeitalter der bürgerlichen Denk- und Lebensform, in: BWKG 103, 2003, 197–213. – „Kommunikation des Evangeliums“. Die verantwortliche Gestaltung des Gottesdienstes nach Ernst Lange, in: IJPT 9, 2005, 252–272.

292

– Evangelische Homiletik. Dargestellt an ihren drei Monumenten Luther, Schleiermacher und Barth mit einer Orientierung in praktischer Absicht, Berlin/Münster 2007. – Seelsorge bei Luther, Schleiermacher und nach Freud, Leipzig 2008. – Franz Rosenzweigs „Der Stern der Erlösung“ als liturgietheoretische Konzeption (erscheint im Rahmen der Veröffentlichungen der Internationalen Franz-Rosenzweig-Gesellschaft) DREHSEN, V., Religion – der verborgene Zusammenhalt der Gesellschaft: Emile Durkheim und Georg Simmel, in: Dahm, K. W./Drehsen, V./Kehrer, G. (Hg.), Das Jenseits der Gesellschaft. Religion im Prozess sozialwissenschaftlicher Kritik, München 1975, 57–88. – Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie. Aspekte der theologischen Wende zur sozialkulturellen Lebenswelt christlicher Religion, Gütersloh 1988. – Praktische Theologie als Kunstlehre im Zeitalter bürgerlicher Kultur, in: Nipkow, K. E./ Rössler, D./Schweitzer, F. (Hg.), Praktische Theologie und Kultur der Gegenwart. Ein internationaler Dialog, Gütersloh 1991, 103–116. – Wie religionsfähig ist die Volkskirche? Sozialisationstheoretische Erkundungen neuzeitlicher Christentumspraxis, Gütersloh 1994. – Bürger-Eucharistie. „Wrapped Reichstag“ im Spiegel der Pressereaktionen: ein Lehrstück ästhetischer Kultreligion, in: Fechtner, K. (Hg.), Religion wahrnehmen (FS F. Daiber), Marburg 1996, 185–200. – Aby M. Warburg: Kunst und Religion im Aufklärungsspiel der Bilder, in: Ders./Gräb, W./ Weyel, B. (Hg.), Kompendium Religionstheorie, Göttingen 2005, 84–96. – Art. Praktische Theologie, in: HBPTh, 174–187. Durkheim, E., Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a. M. 1981. EBELING, G., Vom Gebet. Predigten über das Unser-Vater, Tübingen 1963. – Das Gebet, ZThK 70, 1973, 206–225. – Fundamentaltheologische Erwägungen zur Predigt, in: Beutel, A./Drehsen, V./Müller, H. M. (Hg.), Homiletisches Lesebuch. Texte zur heutigen Predigtlehre, Tübingen 1989, 68–83. FACKENHEIM, E. L., The Religious Dimension in Hegels Thought, Chicago/London 1967. – God’s Presence in History. Jewish Affirmations and Philosophical Reflections, New York 1970. – The Jewish Return into History. Reflections in the Age of Auschwitz and a New Jerusalem, New York 1978. – To Mend the World. Foundations of Future Jewish Thought, New York 1982. FAILING, W.-E./HEIMBROCK, H.-G., Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt – Alltagskultur – Religionspraxis, Stuttgart 1998. FINKIELKRAUT, A., Die Weisheit der Liebe, München/Wien 1987. FREUND, E., Die Existenzphilosophie Franz Rosenzweigs, Hamburg 1959. GEERTZ, C., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt 61999. VAN GENNEP, A., Les Rites de passage, 1909. GOMBRICH, E. H., Die Geschichte der Kunst, Stuttgart/Zürich 1986. GRÄB, W., Rechtfertigung von Lebensgeschichten. Erwägungen zu einer theologischen Theorie der kirchlichen Amtshandlungen, PTh 75, 1987, 21–38. – Taufe als Prozessgeschehen, in: Zeitschrift für Gottesdienst und Predigt 7/4, 1989, 23–26. – Lebensgeschichtliche Sinnarbeit. Die Kasualpraxis als Indikator für die Öffentlichkeit der kirchlichen Religionskultur, in: Drehsen, V. u. a. (Hg.), Der „Ganze Mensch“. Perspektiven lebensgeschichtlicher Individualität (FS D. Rössler), Berlin / New York 1997, 219–240. – Lebensgeschichten – Lebensentwürfe – Sinndeutungen. Eine Praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998. – Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002. – Religion als Deutung des Lebens. Perspektiven einer Praktischen Theologie gelebter Religion, Gütersloh 2006. – Art. Medien, in: HBPTh, 149–161.

293

GRAESER, E., Ernst Cassirer [BsR 527], München 1994. GRASS, G., Beim Häuten der Zwiebel, Göttingen 2006. GRETHLEIN, Chr., Grundfragen der Liturgik. Ein Studienbuch zur zeitgemäßen Gottesdienstgestaltung, Gütersloh 2001. – Grundinformation Kasualien, Göttingen 2007. – Kasualien als lebensweltbezogenes Konzept. Ein Beitrag zur Kontextualisierung des Evangeliums, in: DtPfrBl 3 /2008, 123–126. GRÖZINGER, A., Einübung in Weltlichkeit. Zu Ernst Langes Theorie des Gottesdienstes, in: Zeitschrift für Gottesdienst und Praxis 5. Jg., 1987,19–21. – Die Sprache des Menschen. Ein Handbuch, München 1991. GUTMANN, H.-M., Art. Kreuz, in: HBPTh, 322–333. HAUSCHILD, E., Was ist ein Ritual?, WzM 45, 1993, 24–35. HEIDEGGER, M., Sein und Zeit, Tübingen 151984. – Gesamtausgabe II. Abteilung: Vorlesungen 1923–1944 (Bd. 24). Die Grundprobleme der Phänomenologie, 1975. – Die Zeit des Weltbildes [1938], in: Ders., Holzwege, Frankfurt a. M. 61980, 73–110. HEITMÜLLER, W., Taufe und Abendmahl bei Paulus. Darstellung und religionsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen 1903. HENRICH, D., Bewusstes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik, Stuttgart 1999. HERMELINK, J., Die homiletische Situation. Zur jüngeren Geschichte eines Predigtproblems, 1992. – Art. Trauung, in: HBPTh, 711–723. HERMS, E., Überlegungen zum Wesen des Gottesdienstes, in: Ders., Kirche für die Welt: Lage und Aufgabe der evangelischen Kirchen im vereinigten Deutschland, Tübingen 1995, 318–348. – Was heißt „theologische Kompetenz“? in: Homiletisches Lesebuch. Texte zur heutigen Predigtlehre, hg. von Beutel, A./Drehsen, V./Müller, H. M., Tübingen ²1989, 189–202. HOFMANN, W., Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion, in: Ders., Luther und die Folgen für die Kunst. Katalog der Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle, München 1983, 23–71. HOHL, H., Die Sixtina. Fresken der sixtinischen Kapelle in Rom, orbis pictus 43/44, Bern 1965. HÖRISCH, J., Eine Geschichte der Medien. Von der Oblate zum Internet, Frankfurt a. M. 2004. HÜLSEN, H. V./RAST, J., Rom. Führer durch die ewige Stadt, Darmstadt [Wiss. Buchgesellschaft] 1960. HUFNAGEL, C., Die kultische Gebärde. Kunst, Politik, Religion im Denken Franz Rosenzweigs, München 1994. JEREMIAS, J., Das Vaterunser im Lichte der neueren Forschung, in: Ders., Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 152–171. JETTER, W., Symbol und Ritual. Anthropologische Elemente im Gottesdienst, Göttingen ²1986. JOSUTTIS, M., Der Gottesdienst als Ritual, in: Wintzer, F. (Hg.), Praktische Theologie, Neukirchen-Vluyn 1993, 40–53. – Der Weg in das Leben. Eine Einführung in den Gottesdienst auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage, München 1991. JÜNGEL, E., Das Sakrament – was ist das?, EvTh 26, 1966, 320–336. – Tod, Gütersloh ³1985. – Schmecken und Sehen. Predigten III, München 1983. – Unterbrechungen. Predigten IV, München 1989. – Der evangelisch verstandene Gottesdienst, in: Ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, Tübingen 1990, 296–305. KANT, I., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Hamburg, PhB 45, 1978. KLIE, TH., Zeichen und Spiel. Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktion der Pastoraltheologie, PThK 11, Gütersloh 2003.

294

KORSCH, D./RUDOLPH, E. (Hg.), Die Prägnanz der Religion in der Kultur [Religion und Aufklärung 7], Tübingen 2000. – Theologische Prinzipienfragen, in: A. Beutel (Hg.), Luther-Handbuch, Tübingen 2005, 352– 362. – Art. Theologie, in: HBPTh, 833–842. KUPPER, D., Michelangelo [rm 50657], Hamburg 2004. LANGE, E., Predigen als Beruf. Aufsätze zu Homiletik, Liturgie und Pfarramt, hg. und mit einem Nachwort v. R. Schloz, München ²1987. – Was nützt uns der Gottesdienst? [1973], in: Homiletisches Lesebuch. Texte zur heutigen Predigtlehre, hg. von Beutel, A./Drehsen, V./Müller, H. M., Tübingen ²1989, 332–340. – Chancen des Alltags. Überlegungen zur Funktion des christlichen Gottesdienstes in der Gegenwart [1965], hg. und mit einem Nachwort von P. Cornehl, München 1984. LÉVINAS, E., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München 1983. – Ethik und Unendliches. Gespräche mit Ph. Nemo, Graz/Wien 1986. – Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München, 1987. – Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989. – Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München 1992. LOHMEYER, E., Das Vaterunser, Göttingen 1946. LORENZER, A., Konzil der Buchhalter, Frankfurt a. M. 1981. LOWRY, L., Hüter der Erinnerung, München 1998. LUHMANN, H., Funktion der Religion, Frankfurt a. M. 1977. LÜBBE, H., Religion nach der Aufklärung, Graz/Wien/Köln ²1990. LUKÁCS, G., Die Theorie des Romans, Darmstadt/Neuwied 1971. LUTHER, H., Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992. D. MARTIN LUTHERS WERKE. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). Unveränderter Abdruck der bei Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar, erschienenen Ausgabe, Graz 1966. – Ausgewählte Schriften Bd. 1–5, hg. v. K. Bornkamm und G. Ebeling, Frankfurt a. M. und Leipzig 1995. MAKROPOULOS, M., Modernität als ontologischer Ausnahmezustand? Walter Benjamins Theorie der Moderne, München 1989. MARQUARDT, O., Moratorium des Alltags. Eine kleine Philosophie des Festes, in: Haug, W./Warning, R. (Hg.), Poetik und Hermeneutik XIV. Das Fest, München 1989, 684–691. MARTI, K., geduld und revolte. die gedichte am rand, Stuttgart 1984. – Die gesellige Gottheit. Ein Diskurs, 1989. MCEVANS, I., Saturday, Zürich 2007. MENNEKES, K./RÖHRIG, J., Crucifixus. Das Kreuz in der Kunst unserer Zeit, 1994. MENNINGHAUS, M., Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos, Frankfurt a. M. 1986. MERCIER, P., Nachtzug nach Lissabon, München 2006. MEYER-BLANCK, M., Liturgie und Liturgik. Der Evangelische Gottesdienst aus Quellentexten erklärt, Gütersloh 2001. MOSÈS, S., System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs, München 1985. – Walter Benjamin und Franz Rosenzweig, in: Vierteljahresschrift für Deutsche Literatur 56, 1982, 622–640. – Hegel beim Wort genommen. Geschichtskritik bei Franz Rosenzweig, in: Fuchs, G./Henrix, H. H., Zeitgewinn. Messianisches Denken nach Franz Rosenzweig, Frankfurt a. M. 1987, 67–89. MOXTER, M., Güterbegriff und Handlungstheorie. Eine Studie zur Ethik Friedrich Schleiermachers, Kampen 1992. – Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen 2000.

295

– Ernst Cassirer: Religion als symbolische Form, in: Drehsen, V./Gräb, W./Weyel, B. (Hg.), Kompendium Religionstheorie, Göttingen 2005, 108–120. MÜLLER, CHR., Art. Taufe, in: HBPTh, 698–710. MÜLLER, H. M., Homiletik, Berlin/New York 1996. NIETZSCHE, F., Sämtliche Werke. Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, Berlin/New York 1980 [= KGA]. NOTTMEIER, CHR./DOBER, H. M., Unterwegs zu den Quellen des Selbst [Predigtstudie zu Jesaja 58, 1–9a] zum Sonntag Estomihi [3.2.08], in: PrSt 6/1, 2007/2008, 131–140. ODENTHAL, A., Liturgie als Ritual. Theologische und psychoanalytische Überlegungen zu einer praktisch-theologischen Theorie des Gottesdienstes als Symbolgeschehen, Stuttgart 2002. PALMER, CHR. V., Geistliches und Weltliches für gebildete christliche Leser, Tübingen 1873. PICHT, G., Unter dem Diktat der physikalischen Zeit, in: Ders., Hier und Jetzt. Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima, Bd.2, Stuttgart 1981, 377–382. – Über das Böse, in: Ders., Hier und Jetzt. Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima, Bd. 2, Stuttgart 1981, 484–500. PFEIFFER, H., Die Sixtinische Kapelle neu entdeckt, Stuttgart 2007. PREUL, R., Kirche als Unternehmen, in: HBPTh, 555–565. QUINZIO, S., Die jüdischen Wurzeln der Moderne, Frankfurt a. M./New York 1995. RAHN, D., Die Bewegung im Stand. Zur Zeitdimension altgriechischer Plastik [Vorträge im Evang. Studienwerk Villigst], Schwerte 1987 RASCHZOK, K., Art. Kirchenbau, in: HBPTh, 566–577. RATZMANN, W., Art. Gottesdienst, in: HBPTh, 519–530. REIJEN, W. V., Die authentische Kritik der Moderne, München 1994. RICHTER, CHR., Im Kreuz der Wirklichkeit. Die Soziologie der Räume und Zeiten von Eugen Rosenstock-Huessy, Frankfurt a. M. 2007. RICOEUR, P., Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt a. M. 41993. – Liebe und Gerechtigkeit, Tübingen 1990. – Gott nennen, in: CASPER, B. (Hg.), Gott nennen. Phänomenologische Zugänge, Freiburg/ München 1981, 45–79. RIEDEL, I., Marc Chagalls Grüner Christus, Olten ³1988. RINGLEBEN, J., „In Einsamkeit mein Sprachgesell“. Das Gebet als Thema der Dogmatik, in: ZThK 79, 1982, 230–248. – Dornenkrone und Purpurmantel. Zu Bildern von Gründewald bis Paul Klee [Insel-Bücherei Nr. 1159], Frankfurt a. M./Leipzig 1996. ROSENBLUM, R., Modern Painting and Northern Romantic Tradition: From Friedrich to Rothko, New York 1975. RÖSSLER, D., Die Vernunft der Religion, München 1976. – Vergewisserung. 22 Beispiele christlicher Rede, Stuttgart 1979. – Der Kirchenbegriff der Praktischen Theologie. Anmerkungen zu CA VII, in: Lührmann, D./Strecker, G. (Hg.), Kirche (FS G. Bornkamm), Tübingen 1980, 465–470. – Grundriss der Praktischen Theologie, Berlin/New York ²1994. ROSENZWEIG, F., Der Stern der Erlösung Teil I-III [= Stern I-III], zit. nach: Gesammelte Schriften, II. Abteilung (= GS II), Haag 1979–1984. – Kleinere Schriften, zit. nach: Gesammelte Schriften, III. Abteilung (= GS III), Haag 1979–1984. – Briefe und Tagebücher. 2 Bände, zit. nach: Gesammelte Schriften, I. Abteilung (= GS I), Haag 1979–1984. ROTH, U., Die Beerdigungsansprache. Argumente gegen den Tod im Kontext der modernen Gesellschaft, PThK 6, Gütersloh 2002.

296

SCHARFENBERG, J., Einführung in die Pastoralpsychologie, Göttingen ²1990. SCHELLBACH, M., Vaterunser. Predigten für die Gegenwart. Lieder, Zeugnisse und Gebete zum Vaterunser aus achtzehn Jahrhunderten der Kirche, Berlin 1950. SCHINDLER, R., Zeit, Geschichte, Ewigkeit in Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung, Berlin 2007. SCHLEIERMACHER, F., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt [1830/31], hg. v. M. Redeker, Berlin 1960. – Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern [1799], Stuttgart [Reclam] 1977. – Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg. v. J. Frerichs, Berlin 1850, Photomechanischer Nachdruck Berlin/New York 1983. – Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch, Zürich 1989. SCHMIED-KOWARZIK, W., Franz Rosenzweig. Existentielles Denken und gelebte Bewährung, Freiburg/München 1991. SCHRÖDER, R. A., Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd. 3 [= GW III], Frankfurt am Main 1952ff. SIMMEL, G., Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch, Leipzig 1916. – Die Großstädte und das Geistesleben, in: Ders., GA 7, Frankfurt a. M. 1995, 116–131. SIMPFENDÖRFER, W., Ernst Lange. Versuch eines Porträts, Berlin 1997. SLENCZKA, N., Art. Phänomenologie, in: HBPTh, 770–782. SMITH, A., Caravaggio (1573–1610), in: 100 Meisterwerke aus den großen Museen der Welt, hg. v. E. Mullins. Aus dem Englischen von W. v. Bonin, Köln 1981, 13–17. SPARN, W., Art. Gebet, in: HBPTh, 287–299. – Ontologische Metaphysik versus metaphysische Religion. Inwiefern erfordert die theologische Analyse von Religion metaphysisches Denken?, in: DEUSER, H. (Hg.), Metaphysik und Religion. Die Wiederentdeckung eines Zusammenhangs [Veröffentlichungen der WGTh Bd. 30], Gütersloh 2007, 9–59. SPIEGEL, Y., Der Prozess des Trauerns. Analyse und Beratung, München 1989. STECK, W., Das homiletische Verfahren. Zur modernen Predigttheorie, Göttingen 1974. – Praktische Theologie. Horizonte der Religion – Konturen des neuzeitlichen Christentums – Strukturen der religiösen Lebenswelt, Bd. 1, Stuttgart 2000. STEFFENSKY, F., Der Seele Raum geben, in: Benn, M. (Hg.), Heilige Räume. Gotteshäuser zwischen Verkündigungspotential und Abriss, Frankfurt a. M. 2006, 12–37. STEIGER, L., Erschienen in der Zeit. Dogmatik im Kirchenjahr: Epiphanias und Vorpassion, Kassel 1982. STEINHAGEN, H., Zu Walter Benjamins Begriff der Allegorie, in: Haug, W. (Hg.), Formen und Funktionen der Allegorie, Stuttgart 1979, 666–685. STOLINA, R., Gebet – Meditation – Anfechtung. Wegmarken einer theologia experimentalis, in: ZThK 98, 2001, 81–100. STRÖKER, E., Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt a. M. 1965. TARTUFERI, A., Michelangelo. Maler, Bildhauer und Architekt, Rom 1993. TAUBES, J., Abendländische Eschatologie [Bern 1947], München 1991. – Die politische Theologie des Paulus, München 1993. TEWES, J., Zum Existenzbegriff Franz Rosenzweigs, Meisenheim am Glan 1970. THEUNISSEN, M., Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat, Berlin 1970. – Der Andere, Berlin/New York 1977. – Selbstverwirklichung und Allgemeinheit. Zur Kritik des gegenwärtigen Bewusstseins, Berlin 1981. – Negative Theologie der Zeit, Frankfurt a. M. 1991. – Vormetaphysisches Denken, in: U. J. Wenzel (Hg.), Vom Ersten und Letzten. Positionen der Metaphysik in der Gegenwartsphilosophie, Frankfurt a. M. 1998, 23–46.

297

THOMÄ, D., Eltern. Kleine Philosophie einer riskanten Lebensform, München 1992. THOMAS, G., Medien, Ritual, Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens, Frankfurt a. M. 1998. – Implizite Religion. Theoriegeschichtliche und theoretische Untersuchungen zum Problem ihrer Identifikation [Religion in der Gesellschaft Bd. 7], Würzburg 2001. TUGENDHAT, E., Wem kann ich danken? Über Religion als Bedürfnis und die Schwierigkeit seiner Befriedigung, in: N. Z. Z. Nr. 287, 9./10. Dezember 2006, S. 30. TURNER, V., Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a. M./New York 1989. Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a. M. 1995. UTTENDÖRFER, O., Zinzendorfs Gedanken über den Gottesdienst, Herrnhut 1931. VECCHI, P./COLALUCCI, G., Die Sixtinische Kapelle. Das Meisterwerk Michelangelos erstrahlt in neuem Glanz, Freiburg 1996. VOGELSANGER DE ROCHE, I., Die Chagall-Fenster in Zürich, Zürich 1971. VOLP, R., Liturgik. Die Kunst, Gott zu feiern. 2 Bde., Gütersloh 1992/1994. DE

WACKENRODER, W. H./TIECK, L., Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders [Berlin 1797], Stuttgart 1994. WAGNER-RAU, U., Praktische Theologie als „Schwellenkunde“. Fortschreibung einer Anregung von Henning Luther, in: Hauschildt, E./Schwab, U. (Hg.), Praktische Theologie für das 21. Jahrhundert, Stuttgart 2002, 177–191. WARBURG, A., Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten, Heidelberg 1920. WEIDMANN, H., Flanerie, Sammlung, Spiel. Die Erinnerung des 19. Jahrhunderts bei Walter Benjamin, München 1992. WEIMER, CHR., Luther, Cranach und die Bilder. Gesetz und Evangelium – Schlüssel zum reformatorischen Bildgebrauch [Arbeiten zur Theologie 89], Stuttgart 1999. WENDEBOURG, D., Art. Abendmahl, in: HBPTh, 433–445. WIEHL, R., Die Erfahrung im neuen Denken von Franz Rosenzweig, in: PhJ 89, 1982, 269–290. WIESEL, E., Night, New York [Bantam Books] 1982. WIESELTIER, L., Kaddisch, München/Wien 1998. WINNICOTT, D. W., Der Anfang ist unsere Heimat. Essays zur gesellschaftlichen Entwicklung des Individuums, Stuttgart 1990 [Home is where we start from, 1986]. WINTZER, F., Die Taufe als Lebensdeutung und ihr Bezug zum Abendmahl, in: Drehsen, V. u. a. (Hg.), Der „ganze Mensch“ Perspektiven lebensgeschichtlicher Individualität (FS D. Rössler), Berlin/New York 1997, 241–247. ZAFÓN, C. R., Der Schatten des Windes, Frankfurt a. M. 2005. ZILLESSEN, D., Ritual oder Theater im Spiel des Lebens, in: IJPT 2, 1999, 229–250. ZINK, J., Dia Bücherei der christlichen Kunst. Betrachtung und Deutung Bd. 9 (Advent und Weihnachten II), Eschbach [Verlag am Eschbach] 1983.

298

Register

Namen Abraham 126 Abraham, K. 206ff Achelis, E. Chr. 137f, 140, 144, 255 Adorno, Th. W. 52, 94, 138f, 145, 151, 153, 159, 173, 188f, 223, 280, 289 Albrecht, Chr. 12, 257 Allen, W. 174 Anderegg, J. 133, 201 Andersen, Ø. 148 Anselm von Canterbury 269 Arendt, H. 196 Aristoteles 131f, 170 Assmann, A. 30 Assmann, J. 100 Auffarth, Chr. 210 Augustinus, A. 33, 38, 55, 133, 204, 262, 265 Augustus, Kaiser 39 Aurel, M. 46 Bahr, P. 93, 96, 281f Barth, H.-M. 281 Barth, K. 268–270, 271, 276, 283 Baudelaire, Ch. 18, 48, 66f, 95, 148, 288 Baudrillard, J. 146 Bayer, O. 132, 280 Beethoven, L. v. 138 Benn, G. 267 Benjamin, W. 11f, 18ff, 23–25, 29ff, 41, 48, 52, 54f, 60, 62, 66ff, 70ff, 77, 95, 97, 100, 102, 104f, 107f, 111f, 121, 132, 144, 146, 148, 154, 159, 161, 165–168, 177, 181, 189, 193f, 201f, 209, 212, 214–217, 230, 232, 234, 252, 256, 260, 265, 267, 276, 287 Beier, P. 111, 116 Belting, H. 130, 145f, 148–151, 213 Benedict XVI. 25 Berger, P. L. 82, 197 Bergmann, I. 33, 44, 174 Bernhard von Clairvaux 212 Bernhardt, U. 122–127 Berlioz, H. 231

Beutel, A. 132–135, 138 Bieritz, K.-H. 78, 243 Bion, W. R. 112, 152 Bloch, E. 114, 123, 195, 210 Blumenberg, H. 17f, 32–34, 36, 39, 41–43, 63f, 103, 262 Bobert-Stützel, S. 86 Boethius 55 Bollnow, O. F. 104 Bolz, N. 288 Bonhoeffer, D. 198 Bosshart, D. 288 Botticelli, S. 218 Bourdieu, P. 116 Brahms, J. 231 Braun, H. 268 Brumlik, M. 68 Brunkhorst, H. 68 Buber, M. 60, 77, 80, 91, 127, 285 Bubmann, P. 137f 140, 144, 262 Bülow, H. v. 141 Calasso, R. 288 Caravaggio 227–229 Casper, B. 263, 268, 270 Cassirer, E. 16, 86, 93f, 103, 106, 117, 119ff, 154–158, 159, 164, 167, 169–172, 176, 214f, 217 Cervantes, M. de 24 Chagall, M. 171, 182–186, 212, 262 Cicero 148 Cohen, H. 56, 65, 117, 121, 155, 287 Coltrane, J. 261 Comenius, J. A. 148 Cornehl, P. 112 Creuzer, G. F. 215 Dalferth, I. 274, 282, 283 David (König) 108 Derrida, J. 146 Diner, D. 65, 121 Dinkel, Chr. 81, 274

299

Dostojewskij, F. M. 267 Douglas, M. 92 Dunant, H. 210 Durkheim, E. 82f, 86, 206, 272, 276f, 285 Drehsen, V. 83, 90, 149f, 167, 171, 175f, 242, 272, 278, 286, 288 Ebeling, G. 100, 135, 202, 270, 277f, 281, 286 Eco, U. 157 Ehrenberg, H. 73f, 286 Ehrenberg, R. 286 Elias, N. 202 Erikson, E. H. 83f, 87 Fackenheim, E. L. 76, 213, 215 Failing, W.-E. 94, 103–105, 110f, 116–122, 154, 175 Fechtner, K. 90 Figal, G. 256 Flaubert, G. 24 Freud, S. 44, 58, 82f, 84, 88, 152, 159, 164, 168, 196, 205ff, 221–227 Freund, E. 60 Friedrich, C. D. 173

Hebel, J. P. 68 Hegel, G. W. F. 22, 35, 51, 57–60, 73, 75, 99, 215, 261, 284, 287 Heidegger, M. 22, 48, 50, 61, 106f, 155, 157, 242, 259f Heimbrock, H.-G. 144, 175, 244, 251 Heitmüller, W. 205 Henrich, D. 267 Heraklit 35, 43 Herder, J. G. 132, 155, 201 Hermelink, J. 153, 244f, 247 Herms, E. 175, 236f, 241, 250f, 254 Herodes 39 Hölzel, A. 173 Hörisch, J. 34, 130–132, 136f, 148, 208, 267 Hofmann, W. 150 Hofmannsthal, H. v. 34 Horkheimer, M. 159 Hufnagel, C. 60, 65, 287 Husserl, E. 18, 36, 215 Iden, P. 240, 252, 254 Innozenz III. 179 Jaspers, K. 242 Jennings, Th. W. 98f Jeremias, J. 272 Jetter, W. 95f, 100, 283 Jobim, A. C. 172 Josuttis, M. 19, 21, 83, 92, 112, 117, 120, 138, 154, 202, 205–209, 251 Jüngel, E. 32, 67, 195, 243, 248f, 257 Julius II. 218, 221, 224 Jung, C. G. 179

Gauguin, P. 160, 173f Geertz, C. 155, 164, 272, 282 van der Geest, H. 251 van Gennep, A. 90 Ghirlandaio, D. 218 Giddens, A. 19 Girard, R. 207, 213f Goethe, J. W. v. 24, 56, 59, 96, 100, 167, 170, 178, 180f, 189, 215ff, 263 Goffman, E. 87–89, 92 Gombrich, E. H. 218–220 Gräb, W. 12, 16, 19, 21, 28, 91, 95, 112, 115, 128f, 145, 155, 159ff, 167, 171ff, 175f, 179, 194f, 201, 214, 239, 251, 288 Graeser, E. 106, 155–171, 214f, 217 Grass, G. 61, 233 Grethlein, Chr. 12, 81, 272 Grimes, R. 97 Grosz, G. 213 Grözinger, A. 132, 246, 248 Grotius, H. 169 Guardini, R. 21 Gutmann, H.-M. 212–214

Kant, I. 103, 119f, 155, 262 Karasek, H. 118 Kierkegaard, S. 61 Kilb, A. 120 Klie, Th. 86 Klepper, J. 32, 258 Köpf, U. 212f Kohut, H. 87f, 152, 238 Konstantin 63, 77, 113, 210, 212 Korsch, D. 160, 175, 259 Koselleck, R. 19 Knoblauch, H. 82 Kratz, R. G. 275 Krummacher, Chr. 137

Habermas, J. 284 Halewi, J. 43 Haufe, G. 273

Lange, E. 11, 194, 239, 243–255 Laube, M. 160 van der Leeuw, G. 98, 272

300

Lehnerer, Th. 171 Lévinas, E. 14, 54, 80, 105, 107, 111, 121, 126f, 196–200, 209, 249f, 259f, 266, 268, 283 Ligeti, G. 231 Lohmeyer, E. 270, 273, 275 Lorenzer, A. 152, 154 Lowry, L. 192 Lübbe, H. 34, 264 Luhmann, N. 34, 133, 177, 264, 274, 288 Lukács, G. 22–26 Luther, H. 12, 243, 250f Luther, M. 21, 41, 93, 132–136, 138–140, 142–145, 147f, 150, 201f, 207, 212f, 230f, 243, 269–272, 278, 283 McEvans, I. 131 Malinowski, B. 158, 286 Makropoulos, M. 18–20, 22–24, 27, 105, 233 Marquardt, O. 29f Marti, K. 79, 209, 263f Mead, G. H. 87 Melanchthon, Ph. 230 Menninghaus, W. 12 Mensching, G. 82 Mercier, P. 27f, 37, 45–47, 104, 174, 196 Messelkens, K. 205 Meyer-Blanck, M. 272 Meyer-Kalkus, R. 130 Michelangelo 41, 218–222, 224, 226–228 Miskotte, K. H. 247 Monk, Th. 172 Mosès, S. 60, 75, 78 Moxter, M. 163, 241, 243 Mozart, W. A. 231 Müller, Chr. 12, 196 Müller, H. M. 134 Niebergall, A. 243 Niebergall, F. 239 Nietzsche, F. 56, 59, 82, 146, 167, 172, 203, 207, 259f, 262 Nottmeier, Chr. 181 Odenthal, A. 15, 21, 81, 84–86, 88, 92, 112, 119, 152, 154f, 237 Odysseus 126 Origenes 265 Palmer, Chr. v. 139 Petrucciani, M. 262 Picasso, P. 160 Picht, G. 47, 141, 198

Pilatus 39, 185 Pius XI. 220 Platon 34f, 144, 226 Preul, R. 21 Quinzio, S. 212 Rappaport, R. A. 97, 99, 282 Raschzok, K. 105, 111, 117 Ratzmann, W. 13, 82 Reger, M. 231 van Reijen, W. 102, 104, 127 Ricoeur, P. 186, 188, 273, 276, 281f Richter, Chr. 211 Riedel, I. 184 Ringleben, J. 203, 277, 282 Roessler, R. 26 Rössler, D. 80f, 93, 134, 152, 175f, 178, 194, 197, 235, 268, 273 Rosenblum, R. 173 Rosenstock, E. 61, 73, 127, 211, 260, 286 Rosenzweig, F. 32, 34–36, 54, 56, 58–78, 93– 101, 121, 127, 131, 136, 141–144, 146, 155, 182, 188, 201, 209, 234, 260–263, 269, 275, 277f, 284–287 Rosselli, C. 218 Roth, Ph. 174 Roth, U. 59 Rudolph, E. 160 Sauter, G. 268f Scharfenberg, J. 132, 197, 237f, 242, 253, 254 Schechner, R. 97 Schellbach, M. 277 Schelling, F. W. J. 60, 215 Schelsky, H. 246 Schleiermacher, F. 53, 56, 67, 69, 90, 112, 118, 139f, 160, 164, 168f, 172, 174, 186– 194, 196, 240, 253, 268f, 271, 282f Schindler, R. 35, 56, 58, 60, 61, 65, 234, 261, 263, 275 Schmied-Kowarzik, W. 60 Schmitz, H. 117 Schnitzler, A. 34 Schröder, R. A. 278f Schulz, F. 262 Schwebel, H. 118 Schweidler, W. 242 Segantini, G. 190, 203 Seidl, U. 264–267 Signorelli, L. 218 Angelus Silesius 233 Simmel, G. 82, 123, 148, 149

301

Simonides 148 Simpfendörfer, W. 244 Sixtus IV. 218 Slenczka, N. 175, 210 Smend, J. 248f Sparn, W. 259, 270, 281, 284, 287 Spiegel, Y. 208 Spinoza, B. 33 Steck, W. 239, 242, 245, 282 Steffensky, F. 105 Steiger, L. 79 Steinhagen, H. 216 Stolina, R. 280 Stünkel, K.M. 127, 211, 260 Ströker, E. 103, 121 Tartuferi, A. 218f Taubes, J. 32, 95, 236f, 288 Tertullian 275 Tewes, J. 60 Theunissen, M. 27, 35, 38–40, 43–45, 48f, 51, 53–58, 60f, 68, 72, 78f, 92, 94, 177, 260f, 269, 274, 277f, 280f Thomas, G. 154, 274, 282 Thomä, D. 197 Tieck, L. 239 Tillich, P. 210, 241 Timm, H. 282 Troeltsch, E. 176

Tugendhat, E. 267f Turner, V. 17, 90–92, 94, 97, 105, 121f, 274 Turner, H. W. 117 Uttendörfer, O. 271 Verdi, G. 231 Volp, R. 243, 271f, 275, 282 Wackenroder, W. H. 239 Wagner-Rau, U. 12 Warburg, A. 41, 149f, 171 Weidmann, H. 102 Weimer, Chr. 145, 147, 150 Weisman, A. 120 Wendebourg, D. 202, 205 Weyel, B. 12, 176 Wichmann von Meding 271 Wiehl, R. 63, 263 Wiesel, E. 213 Wieseltier, L. 271, 275 Winnicott, D. W. 84–87, 119, 152 Wintzer, F. 194f, 201 Zafón, C. R. 129 Zilleßen, D. 273 Zink, J. 173, 203 Zinzendorf, N. L. Graf v. 271

Orte Athen, Parthenon 124 Bad Boll, Kurhaus 114 Basel, Brüder-Sozietät 114f Beit Alpha, Synagoge 41f Berlin, Museumsinsel 102 Kaiser-FriedrichGedächtniskirche 112 Dom 24 Bern, Münster 24 Kirchenfeldbrücke 46 Darmstadt, Stadtkirche 118 Eveux, Couvent Saint-Marie-de-La-Tourette 125 Florenz, Duomo 114 Frankfurt, Flörsheimer Wald 110 Genf, Kapelle im Gebäude des Weltrats der Kirchen 116 Jerusalem, Felsendom/Moriah 108

302

Erlöserkirche 108 Grabeskirche 108 Lago Maggiore, Santa Caterina del Sasso 109f Lissabon 46 Königsfeld, Kirchensaal 114 München, Pinakothek der Moderne 102 Paris, Louvre 51 Picasso-Museum 160 Portofino 109 Portovenere 109 Rom, Sixtinische Kapelle 218–220 S. Pietro in Vincoli 221, 223 Pantheon 116 Ronchamp, Chapelle Notre-Dame-du-Haut 124f Schweidnitz, Friedenskirche 114 Siena, Duomo 114

Stuttgart, Staatsgalerie 102 Trier, Basilika 113f

Tutzing, Evang. Akademie 205 Venedig, Guggenheim-Museum 160

Filmtitel About Schmidt (2002) 94 Amadeus (1984) 231 Broken Flowers (2005) 264 Cast Away (2000) 174 Das Beste kommt zum Schluss (2008) 33 Das Siebente Siegel (1957) 22 Der Flug des Phoenix ([1965] 2004) 174 Die Ehre der Prizzis (1985) 30 Die Verurteilten (1995) 131 Die Weiße Massai (2005) 122 Erbsen auf Halbsechs (2003) 174 Forest Gump (1994) 174

Gottes Werk und Teufels Beitrag (1999) 197 Jesus, du weißt (2003) 264ff Last Radio Show (2006) 149 Mein Vater der Held (1991) 193 Merry Christmas (2005) 131, 193 Moonlight Mile (2003) 94 2001: Odyssee im Weltraum (1968) 231 Smoke (1995) 193 Wie im Himmel (2004) 138 Wilde Erdbeeren (1957) 44

Bibelstellen Gen 1 95, 105, 131f Gen 2 105 Gen 1–11 164 Gen 8,21b 261 Gen 28,12 184 Ex 3,14 223, 285 Ex 20,2–7 223, 227 Ex 20,8–11 136 Ex 20,13–17 225 Num 6,25 84 2Sam 6,5.14 272 1Kön 19,11–13 128, 131 Hi 1,21b 233 Ps 1 184 Ps 22,4 285 Ps 31,9b 102 Ps 31,16a 32, 59 Ps 36,10 79, 167 Ps 86,11a 152 Ps 90 33, 233, 263 Jes 6,1–4 230 Jes 9 193 Jes 53 210 Jes 58,1–9a 295 Hes 18 164 Dan 9,18 258 Hos 6,6 15 Sach 9,9 183

Mt 6,6 270, 286 Mt 6,9 275 Mt 6,10 40 Mt 7,7f 281 Mt 28,18–20 200 Lk 2 193 Lk 11,9f 281 Lk 22,19 64 Lk 24,13–35 228 Joh 1,1 132 Joh 14,6 65 Röm 8,15 269, 276 Röm 8,21 276 Röm 8,22 40 Röm 8,26f 269 Röm 10,17 134 Röm 11,17ff 43 Röm 11,18b 184 Röm 11,36 286 Röm 12,1 248 1Kor 7,31 118 1Kor 11,23–25 64 1Kor 12,6b 285 Gal 3,13 210 Eph 5,16 32 Phil 2,5–11 184 Heb 13,9b 181 Apk 12,12 32

303

Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie 56: Norbert Schwarz »denn wenn ich schwach bin, bin ich stark« Rezeptivität und Produktivität des Glaubenssubjektes in der Homiletik Hans Joachim Iwands 2008. 360 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62406-7

54: Klaus Kohl Christi Wesen am Markt Eine Studie zur Rede von der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche 2007. 323 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62402-9

53: Gerald Kretzschmar Kirchenbindung Praktische Theologie der mediatisierten Kommunikation 2007. 384 Seiten mit 1 Grafik und mehreren Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-62398-5

52: Harald Beutel Die Sozialtheologie Thomas Chalmers (1780–1847) und ihre Bedeutung für die Freikirchen Eine Studie zur Diakonie der Erweckungsbewegung 2007. 320 Seiten mit 2 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-62396-1

51: Jörg Herrmann Medienerfahrung und Religion Eine empirisch-qualitative Studie zur Medienreligion 2007. 400 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62397-8

50: Constanze Thierfelder Durch den Spiegel der Anderen Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz in Seelsorge und Beratung 2009. 256 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62394-7

49: Andrea Grillo Einführung in die liturgische Theologie Zur Theorie des Gottesdienstes und der christlichen Sakramente Übersetzt und eingeleitet von Michael MeyerBlanck. 2006. 252 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62393-0

48: Alexander Deeg Predigt und Derascha Homiletische Textlektüre im Dialog mit dem Judentum 2006. 608 Seiten mit 1 Grafik, 8 Tab. und 3 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-62390-9

47: Eike Kohler Mit Absicht rhetorisch Seelsorge in der Gemeinschaft der Kirche 2006. 320 Seiten mit 5 Abb. und 2 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-62389-3

46: Thomas Böttrich Schuld bekennen – Versöhnung feiern Die Beichte im lutherischen Gottesdienst 2008. 319 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-62388-6