Sich geben lassen 9783161588914


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German Pages 268 [286] Year 2020

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Titel
Vorwort
Inhalt
Einleitung
A. Die ‚Gabe‘ als Thema des soziologischen und philosophischen Diskurses
1. Diskurs 1: Charakter und Funktion des wechselseitigen Austauschs von Gaben
1.1 Vorbemerkungen
1.2 Marcel Mauss: „Essai sur le don“
1.3 Die Verkennung der Reziprozität durch die Beteiligten – das Gabeverständnis von Pierre Bourdieu
1.4 Renaissance des Gabeverständnisses von Mauss
1.4.1 Alain Caillés „Anthropologie der Gabe“ und die groupe du MAUSS
1.4.1.1 Der „Essai sur le don“ als Grundlage einer mehrdimensionalen Handlungstheorie
1.4.1.2 Das Verhältnis von Gabe und Opfer
1.4.1.3 Verhältnisbestimmung von Gabe und Symbol
1.4.2 Die Interpretation des „Essai sur le don“ bei Marcel Hénaff und ihre Vertiefung bei Paul Ricoeur
1.4.2.1 Marcel Hénaff: „Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie“
1.4.2.2 Paul Ricoeur: „Wege der Anerkennung“
1.5 Zusammenfassung und Würdigung von Diskurs 1
Exkurs: Der Begriff der Anerkennung
2. Diskurs 2: Gabe als Ereignis
2.1 Vorbemerkungen
2.2 Sein als Gabe bei Martin Heidegger
2.2.1 Vorbemerkungen
2.2.2 „Zeit und Sein“
2.3 Gebung und Gabe – die Gabentheorie Jean-Luc Marions
2.3.1 Vorbemerkungen
2.3.2 „Etant donné“
2.3.2.1 Die donation als Schlüssel der Phänomenologie
2.3.2.2 Gesättigte Phänomene
2.3.2.3 Die Rolle des Empfängers der donation
2.3.2.4 Die Reduktion des sozialen Phänomens ‚Gabe‘
2.3.2.5 Zusammenfassung und Würdigung
2.4 Gabe: Eine unmögliche Möglichkeit. Das Gabeverständnis von Jacques Derrida
2.4.1 Vorbemerkungen
2.4.2 „Falschgeld. Zeit geben 1“
2.4.2.1 Die der Gabe inhärente Aporie
2.4.2.2 Gabe und Subjekt
2.4.2.3 Zeit geben
2.4.2.4 Erzählung und Gabe
2.4.2.5 Gabe als Ereignis
2.4.2.6 Zusammenfassung und Würdigung
2.5 Die Positionen Heideggers, Marions und Derridas im Vergleich
2.6 Kritische Auseinandersetzungen mit den dargestellten Gabetheorien
2.6.1 Waldenfels’ Kritik an „Falschgeld. Zeit geben 1“
2.6.2 Dalferths Interpretation der Gabe als hermeneutisches Phänomen
2.7 Zusammenfassung und Würdigung von Diskurs 2
3. Diskurs 3: Verantwortlichkeit als Gabe
3.1 Vorbemerkungen
3.2 Subjektwerdung als Gabe bei Emmanuel Lévinas
3.2.1 „Totalität und Unendlichkeit“
3.2.2 „Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht“
3.3 Der Tod als Unterbrechung des ökonomischen Zirkels bei Jacques Derrida
3.4 Zusammenfassung und kritische Würdigung von Diskurs 3
4. Auswertung des Forschungsüberblicks zum soziologischen und philosophischen Gabediskurs
4.1 Zusammenfassung und Bewertung des Gabediskurses
4.2 Der integrative Charakter von Dalferths Gabemodell
B. Die Rezeption des soziologisch-philosophischen Gabediskurses in der Abendmahlstheologie
1. Vorbemerkungen
2. Die Rezeption der Theorien zur wechselseitigen Gabe
2.1 Katholische Positionen
2.1.1 Louis-Marie Chauvet: Der liturgische Gabentausch als Form, Gottes Gabe als Gabe zu wahren
2.1.2 Veronika Hoffmann: Eucharistie als ein mehrdimensionales Gabegeschehen
2.2 Protestantische Ansätze
2.2.1 Andrea Bieler / Luise Schottroff: Gabentausch versus Marktökonomie. Ein befreiungstheologischer Abendmahlsentwurf
2.2.1.1 Grundlinien des Entwurfes
2.2.1.2 Die Rezeption der Theorie vom Gabentausch durch Bieler und Schottroff
2.2.2 Günther Bader: Die Abendmahlsfeier – der Versuch einer ‚liturgischen Theologie‘
2.2.2.1 Das Abendmahl als ‚Wortentstehungsfeier‘
2.2.2.2 Der Zusammenhang von Gabe und Abendmahl
3. Rezeption der Theorien zur einseitigen Gabe
3.1 Katholische Positionen
3.1.1 David N. Power: Die Eucharistie als ein das Moment der reinen Gabe einschließender Gabentausch
3.1.2 Jean-Luc Marion: Das Abendmahl als Gabe einer neuen Zeitlichkeit
3.2 Protestantische Position: Philipp Stoellger – Das Abendmahl als Gabegeschehen ereignislogisch durchdacht
3.2.1 Die Stiftung des Abendmahls als geglückte Gabe
3.2.2 Der Tod Jesu als Gabe erfahren und gedeutet
3.2.3 Der Gabecharakter des Abendmahls und das sich in ihm vollziehende ‚Sprachereignis‘
3.2.4 Die Präsenz Christi im Abendmahl als ‚Präsenz im Entzug‘
4. Systematische Zusammenstellung der bearbeiteten Themen
4.1 Das Verhältnis von katabatischer und anabatischer Gabebewegung im Abendmahl
4.2 Die Veränderung der Feiernden durch die Gabe des Abendmahls
4.3 Das Verhältnis von Präsenz und Entzug
4.4 Das Verhältnis von Wort und Element
C. Abendmahl als Gabe – ein Entwurf
1. Einführung
1.1 Vorbemerkungen
1.2 Das Abendmahl in Exegese und Systematik
1.2.1 Das Abendmahl in der gegenwärtigen exegetischen Forschung
1.2.1.1 Vielfalt in Form und Deutung des Abendmahls
1.2.1.2 Die Einsetzungsworte
1.2.1.3 Die Entstehung des Abendmahls
1.2.1.4 Fazit
1.2.2 Das Abendmahl in systematischer Deutung
1.2.2.1 Martin Luthers Abendmahlstheologie als Prüfstein
Exkurs: Die Rezeption des soziologisch-philosophischen Gabediskurses in der Lutherforschung
1.2.2.2 Abendmahl und Identität bei Dietrich Korsch und Notger Slenczka – zwei Abendmahlsdeutungen der zeitgenössischen Dogmatik
1.2.3 Ergebnisse der Sichtung der exegetischen Forschung und dogmatischen Deutungen des Abendmahls
1.3 Die Gabetheorie von Ingolf U. Dalferth als Grundlage für eine Interpretation des Abendmahls als Gabe
1.3.1 Zusammenfassung der Position Dalferths
1.3.2 Vertiefung: Überlegungen zu einer Hermeneutik der Gabe
1.3.2.1 Gabe und die Eröffnung von Möglichkeiten
1.3.2.2 Gabe und Identität
1.3.2.3 Identitätskontruktion nach Heiner Keupp
1.3.3 Schwerpunkte einer Interpretation des Abendmahls als Gabegeschehen nach Dalferth
Exkurs: Implikationen von Dalferths Gabebegriff für das Gottesbild
2. Das Abendmahl als wirkmächtiges Ereignis
2.1 Wirklichkeit in Metaphern
2.2 Die Metaphorik des Abendmahls in den Worten, der Handlung und den Elementen
2.2.1 Die Metaphorik der Einsetzungsworte und die Symbolik der Kommunion
2.2.2 Das in Szene gesetzte Gastmahl als ein über sich hinausweisendes Geschehen
2.2.3 Abschließende Bemerkungen
2.3 Der Ereignischarakter des Abendmahls
2.3.1 Der Ereignisbegriff bei Jacques Derrida und Jean-Luc Marion
2.3.2 Der Gabebegriff von Ingolf U. Dalferth und der Ereignisbegriff
2.3.3 Das Abendmahl als ‚unreines‘ Ereignis
2.3.4 Der Ereignischarakter des Kreuzesgeschehens und seiner Zueignung im Abendmahl
3. Das Abendmahl als Gabe
3.1 Abendmahl und Gewissheit: Gott gibt sich in der Geschichte Jesu zu erkennen
3.2 Abendmahl und Sünde: Sich selbst von Gott her neu verstehen
3.3 Abendmahl und die Eröffnung von Möglichkeiten: Selbstannahme, konstruktiver Umgang mit eigener Schuld, Gemeinschaft
3.3.1 Die Möglichkeit der Selbstannahme
3.3.2 Die Möglichkeit, konstruktiv mit eigener Schuld umzugehen
3.3.3 Die Möglichkeit von Gemeinschaft
4. Ausblick: Die Gestaltung des Abendmahls in der Gemeinde
4.1 Die liturgische Gestaltung der Abendmahlsfeier
4.2 Teilnahmevoraussetzungen für das Abendmahl
Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Dogmatik in der Moderne Herausgegeben von

Christian Danz, Jörg Dierken, Hans-Peter Großhans und Friederike Nüssel

31

Anje Caroline Miesner

Sich geben lassen Das Abendmahl als wirkmächtiges Ereignis

Mohr Siebeck

Anje Caroline Miesner, geboren 1976; Studium der Ev. Theologie in Tübingen, Heidelberg und Prag; ordinierte Pfarrerin der Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck; Stipendiatin des Hans-vonSoden-Instituts der Philipps-Universität Marburg (Lahn); 2018 Promotion; derzeit Gemeindepfarrerin im Rhein-Main-Gebiet. orcid.org / 0000‑0002‑1198‑9999

ISBN 978‑3‑16‑158890‑7 / eISBN 978‑3‑16‑158891‑4 DOI  10.1628 / 978‑3‑16‑158891‑4 ISSN 1869‑3962 / eISSN 2569‑3913 (Dogmatik in der Moderne) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020  Mohr Siebeck Tübingen.  www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung einer Dissertation, die im Sommersemester 2018 von der Theologischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg angenommen wurde. Der Philosoph Marcel Hénaff verortet den Bereich der Gabe dort, wo etwas gegeben wird, dem kein Preis zugeschrieben werden und das dementsprechend auch nicht erstattet werden kann und nennt als ein Bespiel dafür u. a. die Mäeutik. Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle meinem Doktorvater Prof. Dr. Dietrich Korsch für die Mäeutik, die ich durch ihn erfahren habe und die ich als eine Gabe betrachte, von der ich sehr profitiert habe. Er hat mich im Laufe der Entstehung der Arbeit immer wieder ermutigt, war konstruktiver Kritiker, Ratgeber und Diskussionspartner. Ferner danke ich Prof. Dr. Klaus-Dieter Osthövener für die Übernahme des Zweitgutachtens und die interessierte und hilfreiche Begleitung auf dem Weg der Entstehung der Arbeit. Ein besonderer Dank gilt ferner der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen-Waldeck für die Aufnahme in das Hans-von-Soden-Institut und das damit verbundene Forschungsstipendium. Den damaligen Leitern des Instituts Prof. Dr. Dietrich Korsch und Prof. Dr. Ulrike Wagner-Rau, sowie meinen MitstipendiatInnen danke ich für die anregenden Diskussionen während der Institutssitzungen, die mir wertvolle Impulse für meine Arbeit gegeben haben. Zudem bin ich dankbar dafür, dass ich im Rahmen der jährlich stattfindenden Institutstagungen wichtige Gesprächspartner zum Thema nach Marburg einladen konnte. Für die Durchsicht des Manuskripts danke ich Jennifer Lackmann, Sibylle Miesner, Dr.  Frank Pritzke und Lisa Sedlmayer, für eine Beteiligung an den Druckkosten der Evangelischen Landeskirche von Kurhessen-Waldeck und dem hessischen Pfarrverein. Widmen möchte ich dieses Buch meinen Eltern in Dankbarkeit für die Liebe und Unterstützung, mit der sie mich Zeit meines Lebens begleitet haben.

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

A. Die ‚Gabe‘ als Thema des soziologischen und philosophischen Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

1. Diskurs 1: Charakter und Funktion des wechselseitigen Austauschs von Gaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

1.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

1.2 Marcel Mauss: „Essai sur le don“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

1.3 Die Verkennung der Reziprozität durch die Beteiligten – das Gabeverständnis von Pierre Bourdieu . . . . . . . . . . . . . . .

17

1.4 Renaissance des Gabeverständnisses von Mauss . . . . . . . . . . . 1.4.1 Alain Caillés „Anthropologie der Gabe“ und die groupe du MAUSS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1.1 Der „Essai sur le don“ als Grundlage einer mehrdimensionalen Handlungstheorie . . . . . . . . . 1.4.1.2 Das Verhältnis von Gabe und Opfer . . . . . . . . . . 1.4.1.3 Verhältnisbestimmung von Gabe und Symbol . . . . 1.4.2 Die Interpretation des „Essai sur le don“ bei Marcel Hénaff und ihre Vertiefung bei Paul Ricœur . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2.1 Marcel Hénaff: „Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2.2 Paul Ricœur: „Wege der Anerkennung“ . . . . . . . .

26 31

1.5 Zusammenfassung und Würdigung von Diskurs 1 . . . . . . . . . .

36

Exkurs: Der Begriff der Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

20 20 21 22 24 26

VIII

Inhalt

2. Diskurs 2: Gabe als Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

2.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

2.2 Sein als Gabe bei Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 „Zeit und Sein“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44 44 44

2.3 Gebung und Gabe – die Gabentheorie Jean-Luc Marions . . . . . . 2.3.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 „Etant donné“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.1 Die donation als Schlüssel der Phänomenologie . . . 2.3.2.2 Gesättigte Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.3 Die Rolle des Empfängers der donation . . . . . . . . 2.3.2.4 Die Reduktion des sozialen Phänomens ‚Gabe‘ . . . . 2.3.2.5 Zusammenfassung und Würdigung . . . . . . . . . . .

49 49 50 50 56 60 62 67

2.4 Gabe: Eine unmögliche Möglichkeit. Das Gabeverständnis von Jacques Derrida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 „Falschgeld. Zeit geben 1“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.1 Die der Gabe inhärente Aporie . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.2 Gabe und Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.3 Zeit geben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.4 Erzählung und Gabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.5 Gabe als Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.6 Zusammenfassung und Würdigung . . . . . . . . . . .

67 67 69 69 70 72 74 76 79

2.5 Die Positionen Heideggers, Marions und Derridas im Vergleich . .

80

2.6 Kritische Auseinandersetzungen mit den dargestellten Gabetheorien 2.6.1 Waldenfels’ Kritik an „Falschgeld. Zeit geben 1“ . . . . . . . . 2.6.2 Dalferths Interpretation der Gabe als hermeneutisches Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82 82

2.7 Zusammenfassung und Würdigung von Diskurs 2 . . . . . . . . . .

86

3. Diskurs 3: Verantwortlichkeit als Gabe . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

89

3.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

3.2 Subjektwerdung als Gabe bei Emmanuel Lévinas . . . . . . . . . . . 3.2.1 „Totalität und Unendlichkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 „Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht“ . . . . . . .

90 90 93

3.3 Der Tod als Unterbrechung des ökonomischen Zirkels bei Jacques Derrida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

3.4 Zusammenfassung und kritische Würdigung von Diskurs 3 . . . .

101

Inhalt

IX

4. Auswertung des Forschungsüberblicks zum soziologischen und philosophischen Gabediskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

4.1 Zusammenfassung und Bewertung des Gabediskurses . . . . . . .

103

4.2 Der integrative Charakter von Dalferths Gabemodell . . . . . . . . 108

B. Die Rezeption des soziologisch-philosophischen Gabediskurses in der Abendmahlstheologie . . . . . . . . . . . . 111 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 2. Die Rezeption der Theorien zur wechselseitigen Gabe . . . . . . . .

117

2.1 Katholische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2.1.1 Louis-Marie Chauvet: Der liturgische Gabentausch als Form, Gottes Gabe als Gabe zu wahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2.1.2 Veronika Hoffmann: Eucharistie als ein mehrdimensionales Gabegeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2.2 Protestantische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Andrea Bieler / Luise Schottroff: Gabentausch versus Marktökonomie. Ein befreiungstheologischer Abendmahlsentwurf 2.2.1.1 Grundlinien des Entwurfes . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1.2 Die Rezeption der Theorie vom Gabentausch durch Bieler und Schottroff . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Günther Bader: Die Abendmahlsfeier – der Versuch einer ‚liturgischen Theologie‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.1 Das Abendmahl als ‚Wortentstehungsfeier‘ . . . . . . 2.2.2.2 Der Zusammenhang von Gabe und Abendmahl . . .

127 127 127 130 133 133 136

3. Rezeption der Theorien zur einseitigen Gabe . . . . . . . . . . . . . . 141 3.1 Katholische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3.1.1 David N. Power: Die Eucharistie als ein das Moment der reinen Gabe einschließender Gabentausch . . . . . . . . . 141 3.1.2 Jean-Luc Marion: Das Abendmahl als Gabe einer neuen Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 3.2 Protestantische Position: Philipp Stoellger – Das Abendmahl als Gabegeschehen ereignislogisch durchdacht . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die Stiftung des Abendmahls als geglückte Gabe . . . . . . . 3.2.2 Der Tod Jesu als Gabe erfahren und gedeutet . . . . . . . . . 3.2.3 Der Gabecharakter des Abendmahls und das sich in ihm vollziehende ‚Sprachereignis‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Die Präsenz Christi im Abendmahl als ‚Präsenz im Entzug‘ .

150 151 152 153 154

X

Inhalt

4. Systematische Zusammenstellung der bearbeiteten Themen . . . . . 157 4.1 Das Verhältnis von katabatischer und anabatischer Gabebewegung im Abendmahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157

4.2 Die Veränderung der Feiernden durch die Gabe des Abendmahls . 159 4.3 Das Verhältnis von Präsenz und Entzug . . . . . . . . . . . . . . . . 160 4.4 Das Verhältnis von Wort und Element . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

C. Abendmahl als Gabe – ein Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 1.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 1.2 Das Abendmahl in Exegese und Systematik . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Das Abendmahl in der gegenwärtigen exegetischen Forschung 1.2.1.1 Vielfalt in Form und Deutung des Abendmahls . . . . 1.2.1.2 Die Einsetzungsworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1.3 Die Entstehung des Abendmahls . . . . . . . . . . . . 1.2.1.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Das Abendmahl in systematischer Deutung . . . . . . . . . . 1.2.2.1 Martin Luthers Abendmahlstheologie als Prüfstein . . Exkurs: Die Rezeption des soziologisch-philosophischen Gabediskurses in der Lutherforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.2 Abendmahl und Identität bei Dietrich Korsch und Notger Slenczka – zwei Abendmahlsdeutungen der zeitgenössischen Dogmatik . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Ergebnisse der Sichtung der exegetischen Forschung und dogmatischen Deutungen des Abendmahls . . . . . . . . 1.3 Die Gabetheorie von Ingolf U. Dalferth als Grundlage für eine Interpretation des Abendmahls als Gabe . . . . . . . . . . . 1.3.1 Zusammenfassung der Position Dalferths . . . . . . . . . . . 1.3.2 Vertiefung: Überlegungen zu einer Hermeneutik der Gabe . . 1.3.2.1 Gabe und die Eröffnung von Möglichkeiten . . . . . . 1.3.2.2 Gabe und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2.3 Identitätskontruktion nach Heiner Keupp . . . . . . . 1.3.3 Schwerpunkte einer Interpretation des Abendmahls als Gabegeschehen nach Dalferth . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Implikationen von Dalferths Gabebegriff für das Gottesbild

168 168 168 170 172 174 174 174 182 190 195 195 195 197 197 199 199 201 202

Inhalt

XI

2. Das Abendmahl als wirkmächtiges Ereignis . . . . . . . . . . . . . .

205

2.1 Wirklichkeit in Metaphern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205

2.2 Die Metaphorik des Abendmahls in den Worten, der Handlung und den Elementen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die Metaphorik der Einsetzungsworte und die Symbolik der Kommunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Das in Szene gesetzte Gastmahl als ein über sich hinausweisendes Geschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Der Ereignischarakter des Abendmahls . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Der Ereignisbegriff bei Jacques Derrida und Jean-Luc Marion 2.3.2 Der Gabebegriff von Ingolf U. Dalferth und der Ereignisbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Das Abendmahl als ‚unreines‘ Ereignis . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Der Ereignischarakter des Kreuzesgeschehens und seiner Zueignung im Abendmahl . . . . . . . . . . . . . .

3. Das Abendmahl als Gabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

208 209 213 216 217 218 219 220 223 225

3.1 Abendmahl und Gewissheit: Gott gibt sich in der Geschichte Jesu zu erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 3.2 Abendmahl und Sünde: Sich selbst von Gott her neu verstehen . .

229

3.3 Abendmahl und die Eröffnung von Möglichkeiten: Selbstannahme, konstruktiver Umgang mit eigener Schuld, Gemeinschaft . . . . . . 3.3.1 Die Möglichkeit der Selbstannahme . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Die Möglichkeit, konstruktiv mit eigener Schuld umzugehen 3.3.3 Die Möglichkeit von Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . .

236 236 239 241

4. Ausblick: Die Gestaltung des Abendmahls in der Gemeinde . . . .

247

4.1 Die liturgische Gestaltung der Abendmahlsfeier . . . . . . . . . . . 247 4.2 Teilnahmevoraussetzungen für das Abendmahl . . . . . . . . . . . . 248

Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Einleitung Bei der Interpretation des Abendmahls herrscht eine Deutungsvielfalt, die sich u. a. in einer Vielzahl von Metaphern widerspiegelt, die zu seiner Interpretation herangezogen werden. Eine dieser Metaphern ist die der Gabe. Immer wieder wird bei der theologischen Deutung des Abendmahls auf Begriffe aus dem Wortfeld ‚Geben‘, ‚Nehmen‘, ‚Schenken‘ zurückgegriffen, um den soteriologischen Gehalt des Abendmahls zu beschreiben. So heißt es im zentralen 15. und im 18. Paragraphen der Leuenberger Konkordie wortgleich: „Im Abendmahl schenkt sich der auferstandene Jesus Christus in seinem für alle dahingegebenen Leib und Blut durch sein verheißendes Wort mit Brot und Wein.“1 Und im 18. Paragraphen heißt es weiter: „So gibt er sich selbst vorbehaltlos allen, die Brot und Wein empfangen; der Glaube empfängt das Mahl zum Heil, der Unglaube zum Gericht.“2 Auch in den Konsenspapieren zwischen Reformierten und Lutheranern, die der Leuenberger Konkordie vorausgingen, wie den Arnoldshainer Thesen und der Erklärung der vierten Bekenntnissynode der altpreußischen Union in Halle, wird an prominenter Stelle auf die Gabesemantik zurückgegriffen.3 Matthias Freudenberg bringt die Entwicklung von Halle über Arnoldshain bis Leuenberg auf die Formel: „Jesus Christus wird als Geber und zugleich als Gabe des Abendmahls benannt.“4 1   Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie), hg. v. Bünker, Michael / Friedrich, Martin im Auftrag des Rates der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, Leipzig 2013, 16 f. 2   Leuenberger Konkordie, 17. 3   In der Erklärung der Halleschen Synode heißt es: „Jesus Christus, unser Herr und Heiland, der um unsertwillen in das Fleisch gekommen ist, sich selbst am Kreuz einmal für uns geopfert hat und leiblich auferstanden ist vom Tode, ist selbst die Gnadengabe des von ihm eingesetzten Abendmahls seiner Gemeinde.“, Niemöller, Gerhard (Hg.), Die Synode zu Halle 1937. Text, Dokumente, Berichte (= AGK 11), Göttingen 1963, 441. Und in der vierten Arnoldshainer These wird folgendermaßen formuliert: „Die Worte, die unser Herr Jesus Christus beim Reichen des Brotes und des Kelches spricht, sagen uns, was er selbst in diesem Mahle allen, die hinzutreten, gibt: Er, der gekreuzigte und auferstandene Herr, lässt sich in seinem für alle in den Tod gegebenen Leib und in seinem für alle vergossenen Blut durch sein verheißendes Wort mit Brot und Wein von uns nehmen und nimmt uns damit kraft des heiligen Geistes in den Sieg der Herrschaft, auf dass wir im Glauben an seine Verheißung Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit haben.“, Arnoldshainer Abendmahlsthesen, in: Kupisch, Karl (Hg.), Quellen zur Geschichte des deutschen Protestantismus von 1945 bis zur Gegenwart Bd. 1, Hamburg 1971, 83. 4   Freudenberg, Matthias, Die Abendmahlslehre der Leuenberger Konkordie, in: Beintker, Michael (Hg.), Verbindende Theologie. Perspektiven der Leuenberger Konkordie, Neukirchen-Vluyn 2014, 70 – 103, hier: 89.

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Doch bereits vor dem Einigungsprozess zwischen Reformierten und Lutheranern, in dem die Abwendung von der Fokussierung auf die Elemente und die Hinwendung zu Christus als Person in auffälliger Weise mit einem verstärkten Vorkommen der Gabesemantik einhergehen, ist die ‚Gabe‘ als Deutung des Abendmahls präsent. Martin Luther wählt den Begriff in seinen Abendmahlsschriften gelegentlich, bevorzugt allerdings den Begriff testamentum, wählt also eine ganz bestimmte Form der Gabe als Vergleichspunkt. Letztlich implizieren die beiden in der Kirchengeschichte über weite Strecken dominanten Deutungen des Abendmahls als Feier zur Vergebung der Sünde und als Zueignung des ewigen Lebens, dass der Feiernde im Abendmahl eine heilvolle, positive Zuwendung erfährt, und dies ist im umgangssprachlichen Gebrauch des Begriffs ‚Gabe‘ eine seiner Pointen. Macht man sich deutlich, dass es sich bei der Deutung des Abendmahls als Gabe um eine Metapher handelt, ist es hilfreich, einen Blick auf die Theorie zur metaphorischen Konzeptualisierung des Denkens von Lakoff und Johnson zu werfen. George Lakoff und Marc Johnson vertreten in ihrem Buch „Metaphors We Live By“,5 durch dessen Publikation sie die kognitive Metapherntheorie begründet haben, die These, dass das menschliche Denken zu einem großen Teil so angelegt sei, dass ein Sachverhalt inhaltlich durch die Übertragung der Struktur eines anderen Sachverhalts erschlossen werde. Die beiden Autoren sprechen in diesem Fall davon, dass ein Sachverhalt bei seiner Wahrnehmung durch das menschliche Gehirn durch „metaphorical concepts“ konzeptualisiert werde,6 und es wird deutlich, dass unter einer Metapher nicht lediglich ein einzelner Begriff verstanden wird, sondern der einzelne Begriff hier Inbegriff für ein strukturiertes semantisches Feld ist. Bei der ‚metaphorischen Konzeptualisierung‘ werde in der Regel der konkrete, anschaulichere Sachverhalt als Metapher für den weniger strukturierten verwendet, und dieser werde durch die metaphorische Übertragung seinerseits strukturiert. Allerdings könne ein Sachverhalt durch eine ‚metaphorische Konzeptualisierung‘ immer nur partiell erschlossen werden, weshalb mehrere untereinander kohärente ‚metaphorische Konzeptualisierungen‘ nebeneinander stehen könnten. Im Hinblick auf das Abendmahl besagt das Modell von Lakoff und Johnson, dass die Tatsache, dass viele Gläubige das Abendmahl als eine ‚Gabe‘ konzeptualisieren, ihr Verständnis von dem, was das Abendmahl ist und was in ihm geschieht, vorprägt. Gleichzeitig macht ihr Modell deutlich, dass diese durch die Metapher der Gabe vorgeprägte Vorstellung durchaus neben anderen Metaphern stehen kann, etwa dem Verständnis des Abendmahls als ‚Gemeinschaftsmahl‘, weil diese anderen Metaphern andere durch die Konzeptualisierung als ‚Gabe‘ nicht abgedeckte Aspekte beleuchten oder aber weil sich in bestimmten wichtigen Punk5

  Lakoff, George / Johnson, Mark, Metaphors We Live By, Chicago 1980.   Lakoff / Johnson, Metaphors, 5. Hier findet sich auch Lakoffs und Johnsons Definition von Metaphern: „The essence of metaphor is understanding and experiencing one kind of thing in terms of another“. 6

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ten eine Strukturgleichheit zwischen den Metaphern ergibt. Umgekehrt scheint aber keine beliebige Metaphernpluralität möglich, weil sich Metaphern in ihrer tragenden Struktur auch widersprechen können und dann kein kohärentes Bild mehr entsteht. Wie bereits erwähnt, bedeutet eine ‚metaphorische Konzeptualisierung‘ immer, dass ein ganzer durch einen Begriff abgedeckter Sinnzusammenhang zu einem anderen Sinnzusammenhang in Beziehung gesetzt wird. Dieser Aspekt wurde bereits vor Lakoff und Johnson in sprachanalytischen und hermeneutischen Metaphernmodellen wie denen von Harald Weinrich oder Max Black herausgestellt. So heißt es bei Weinrich: „In der aktuellen und scheinbar punk­ tuellen Metapher vollzieht sich in Wirklichkeit die Koppelung zweier sprachlicher Sinnbezirke“, und Black spricht davon, dass ein metaphorisch gebrauchter Begriff ein „System mitassoziierter Gemeinplätze“ habe.7 Diese letzte Formulierung von Black macht deutlich, dass der bei der Verwendung eines Begriffs mitassoziierte Sinnzusammenhang in der Regel auf konventioneller Übereinkunft beruht. Black macht aber auch deutlich, dass die „mitassoziierten Gemeinplätze“ durchaus durch andere Assoziationen ersetzt werden können; dies müsse dann jedoch durch eine entsprechende Rahmenerzählung vorbereitet werden. Der erste Teil der vorliegenden Arbeit unterzieht die „mitassozierten Gemeinplätze“, die bei einer Konzeptualisierung des Abendmahls als ‚Gabe‘ mitschwingen, insofern einer kritischen Überprüfung, als er ihnen wissenschaftliche Überlegungen der Philosophie und Soziologie zum Thema ‚Gabe‘ gegenüberstellt.8

7   Weinrich, Harald, Sprache in Texten, Stuttgart 1976, 283; Black, Max, Die Metapher, in: Haverkamp, Anselm (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt 21996, 55 – 79, hier: 71. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird eine zitierte Wendung nur bei ihrer ersten Nennung mit der Stellenangabe dokumentiert. 8   Natürlich kann im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit nur exemplarisch auf einen Ausschnitt der Forschungsbeiträge zum Thema ‚Gabe‘ eingegangen werden. Die dargestellten Theo­ rien unterliegen einerseits einer zeitlichen Beschränkung, handelt es sich doch jeweils um Entwürfe aus dem 20. Jahrhundert. Natürlich ist bereits zuvor, etwa in der Stoa über das angemessene Geben nachgedacht worden, vgl. Senenca, De beneficiis, in: Ders., De clementia. De beneficiis, Philosophische Schriften lateinisch-deutsch, Bd. 5, übers. und hg. v. Rosenbach, Manfred, Darmstadt 1989, 99 – 139. Andererseits beschränkt sich die Darstellung auf philosophische und soziologische Gabediskurse und klammert ethnologische Darstellungen und auch historische Darstellungen über die Gabepraxis einzelner Epochen aus. Das bedeutet, dass sich die vorliegende Arbeit mit Gabeentwürfen befasst, die nach einem allgemeingültigen Wesen bzw. einer allgemeingültigen Struktur von Gabe fragen, obwohl es natürlich evident ist, dass das Geben als soziales Phänomen immer bestimmte kulturelle Ausprägungen hat. Auch wenn sich viele der dargestellten Gabetheorien mit der Gabetheorie von Marcel Mauss auseinandersetzen, stellt die Darstellung doch keine Rekonstruktion der Rezeptionsgeschichte des „Essai sur le don“ dar, vgl. Mauss, Marcel, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, übers. v. Moldenhauer, Eva, Frankfurt / M. 1990. [Mauss, Marcel, Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques, in: Ders., Sociologie et Anthropologie précédé d’une Introduction á l’œuvre de Marcel Mauss par Claude Lévi-Strauss, Paris 1950, 333 – 362] So wurde auf eine Darstellung der aus der Relektüre der Gabetheorie von Marcel Mauss durch Claude Lévi-Strauss entwickelten Reziprozitätstheorie ebenso verzichtet wie auf die Darstellung der Theorie der Verausgabung von Georg Bataille, vgl.

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Die dargestellten Gabetheorien werden im ersten Teil der Arbeit in drei Gruppen unterteilt, die verschiedenen Fragestellungen zugeordnet sind. Dahinter steht die Einsicht, dass der dargestellte Gabediskurs bei genauerem Hinsehen in verschiedene Diskurse zerfällt, bzw. die einzelnen Autoren verschiedene Fragestellungen und Intentionen verfolgen.9 Unter der Überschrift „Diskurs 1: Charakter und Funktion des wechselseitigen Austauschs von Gaben“ werden soziologische und philosophische Entwürfe dargestellt, die sich als Interpretation und Weiterführung des „Essai sur le don“ verstehen und nach der Funktion des gesellschaftlichen Phänomens des wechselseitigen Sich-Beschenkens fragen. Unter der Überschrift „Diskurs 2: Gabe als Ereignis“ werden die drei philosophischen Gabeentwürfe von Martin Heidegger, Jean-Luc Marion und Jacques Derrida vorgestellt. Der Grund, weshalb die drei Entwürfe zusammen betrachtet werden, ist, dass sich bei der Beschreibung des Wesens von Gabe Strukturgleichheiten bei den drei Philosophen feststellen lassen, denen in der Darstellung des Unterdiskurses nachgegangen wird. Dabei ist zu berücksichtigten, dass der Begriff Gabe bzw. Gebung in den philosophischen Texten zum Teil als philosophischer Spezialbegriff benutzt wird. Die Tatsache jedoch, dass gerade dieser Begriff als ‚Philosophem‘ Verwendung findet, lässt Rückschlüsse auf die von den Philosophen für den Begriff Gabe vorausgesetzten Bedeutungen ziehen. Diese Voraussetzungen haben inhaltliche Übereinstimmungen. Unter „Diskurs 3: Verantwortlichkeit als Gabe“ wird der ethische Entwurf von Emmanuel Lévinas und ein von diesem stark beeinflusster Text von Jacques Derrida dargestellt, die sich beide dadurch auszeichnen, dass Lévi-Strauss, Claude, Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, in: Mauss, Marcel, Soziologie und Anthropologie, Bd. 1. Theorie der Magie, Soziale Morphologie, Frankfurt / M. 1989; Ders., Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt / M. 21984; Bataille, Georges, Der Begriff der Verausgabung, in: Ders., Die Aufhebung der Ökonomie, hg. v. Bergfleth, Gerd, München 21985, 9 – 31; Ders., Der verfemte Teil, in: Ders., Aufhebung, 35 – 234. 9   Die Einschätzung, dass der Gabediskurs nicht einheitlich ist, teile ich mit Burkhard Liebsch, der innerhalb des Gabediskurses allerdings vier Unterdiskurse ausmacht, vgl. Liebsch, Burkhard, Umsonst: Die Gabe als nachträglich zu bewahrheitende Gegebenheit. Eine Zwischenbilanz der fragwürdigen Karriere der Gabe in kulturwissenschaftlichen, philosophischen und politischen Diskursen der Gegenwart, in: AZP 38 / 1 (2013), 29 – 59. Er unterscheidet die auf kulturwissenschaftlichempirischen Untersuchungen basierenden Überlegungen zu Gabepraktiken von einem Diskurs, der die Gabe in die Ontologie einzeichnet, einem Diskurs über die Phänomenologie der Gabe und einem Diskurs, der die Gabe unter ethischen Gesichtspunkten betrachtet. Zudem weist er darauf hin, dass in jeden dieser Diskurse noch assoziierte Fragestellungen mit hineinspielen. So drehe sich die Diskussion in der Phänomenologie seit längerem um die Frage nach den ‚Grenzen des Erscheinens‘, und die Ontologie sei herausgefordert durch die Philosophie Lévinas’. In die soziologischen und kulturwissenschaftlichen Überlegungen zu den Gabepraktiken spiele hingegen bei vielen Wissenschaftlern die Sehnsucht mit in die Untersuchungen hinein, einen Bereich benennen zu können, der die gesellschaftliche Vorherrschaft der Ökonomie breche, vgl. Liebsch, Umsonst, 30 – 33. Die Tatsache, dass ich selbst eine Dreiteilung vornehme, liegt daran, dass es mir bei den Gabetheorien von Martin Heidegger, Jean-Luc Marion und Jacques Derrida weniger darauf ankommt, in welche philosophischen Gesamtkontexte sie eingebettet sind, als vielmehr auf die Strukturgleichheiten, die sich in ihren Werken im Hinblick auf ihre Beschreibung von ‚Gabe‘ ergeben.

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sie das Geben als die adäquate Antwort auf die ethische Forderung des Anderen an das eigene Ich betrachten und gleichzeitig die Verantwortlichkeit, die dem Ich durch den Anderen und für diesen zuwächst, als zentrale Gabe betrachten. Die im ersten Teil der Arbeit dargestellte Zusammenstellung von Gabetheorien des zwanzigsten Jahrhunderts ist nicht die erste dieser Art. Vor allem Veronika Hoffmann liefert in ihrem Buch „Skizzen zu einer Theologie der Gabe“ einen umfangreichen Überblick, in dem sie soziologische und philosophische Ansätze berücksichtigt.10 Die von ihr getroffene Auswahl der Autoren deckt sich zum Teil mit den in dieser Arbeit dargestellten Autoren: so bezieht Hoffmann über die von mir dargestellten Autoren hinaus die Gabetheorie des französischen Ethnologen Maurice Godelier in ihre Darstellung mit ein, während in der vorliegenden Arbeit zusätzlich der einflussreiche Aufsatz von Martin Heidegger „Zeit und Sein“,11 sowie die Hauptwerke von Emmanuel Lévinas Berücksichtigung finden.12 Der Grund, warum die Darstellung des Gabediskurses in dieser Arbeit trotz eines bereits bestehenden Überblicks einen breiten Raum einnehmen muss, ist ein zweifacher. Einerseits gewichte ich die dargestellten Theorien anders als Veronika Hoffmann. Obgleich sie nicht müde wird, darauf hinzuweisen, dass die Theorien von Derrida und Marion auf anderen Voraussetzungen beruhen und letztlich auch ein anderes Ziel verfolgen als die dargestellten sozialwissenschaftlichen und sozialphilosophischen Theorien, rezipiert sie sie doch primär als eigenwillige Stellungnahmen zur Theorie von Marcel Mauss. Da sie auf Heideggers Gabeverständnis nicht eingeht, entgeht ihr, dass alle drei Philosophen einen Zusammenhang zwischen Gabe und Ereignis herstellen, der mir für eine Rezeption der Gabetheorien durch die Theologie gewinnbringend zu sein scheint. Wichtiger jedoch als meine von Hoffmann differierende Bewertung der dargestellten Theorien ist, dass der bei der Interpretation des Abendmahls im Teil C der Arbeit zugrundeliegende Gabebegriff von Ingolf U. Dalferth von dem Theologen in der Auseinandersetzung mit den im 10   Hoffmann, Veronika, Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucha­ ristie – Gottes- und Nächstenliebe, Freiburg / Br. 2013. Eine Darstellung der philosophischen Gabe­ theorien findet sich zudem bei Katharina Bauer. Sie stellt sehr detailliert und kenntnisreich die ­Gabetheorien von Ricœur, Marion und Derrida dar und beleuchtet sie im Zusammenhang von deren gesamtphilosophischen Ansätzen, vgl. Bauer, Katharina, Einander zu erkennen geben. Das Selbst zwischen Erkenntnis und Gabe, Freiburg / Br. 2011. Eine Zusammenstellung der philosophischen Gabetheorien findet sich ferner bei Marcel Hénaff, vgl. Hénaff, Marcel, Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken, übers. v. Moldenhauer, Eva (= Sozialphilosophische Studien 8), Bielefeld 2014. Bei dieser Darstellung ist jedoch zu bedenken, dass sie eine Auseinandersetzung Hénaffs mit den dargestellten Positionen ist, in der er seine eigene Position im Gabediskurs zu rechtfertigen sucht. 11   Heidegger, Martin, Zeit und Sein, in: Ders., Gesamtausgabe Bd. 14, hg. v. von Hermann, Friedrich-Wilhelm, Frankfurt / M. 2007, 5 – 30. 12   Lévinas, Emmanuel, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übers. v. Krewani, Nikolaus, Bamberg 42008. [Totalité et infini, Den Haag 1980]; Ders., Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. v. Wiemer, Thomas, Freiburg / Br. 42011. [Autrement qu’ être ou au-delà de l’essence, Den Haag 1978]

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Gabediskurs aufgeworfenen Fragen entwickelt wurde.13 Dalferths Position ist als Interpretation des Gabediskurses und eigenständige Positionierung innerhalb des Diskurses zu verstehen, weshalb sie bei der Darstellung des Diskurses zunächst auch nur als eine Position neben anderen dargestellt wird. Allerdings eröffnet Dalferths Gabebegriff die Möglichkeit, zu einer Definition von Gabe jenseits der den Diskurs weitgehend dominierenden Frontstellung von wechselseitiger und reiner (einseitiger) Gabe zu kommen.14 Da Dalferths Gabebegriff als Grundlage seiner Definition von ‚Gabe‘ einen anderen Bezugspunkt wählt als den im übrigen Diskurs dominierenden, gelingt es ihm, einen Gabebegriff zu etablieren, der über die bisher übliche Unterscheidung von ‚reiner‘ oder ‚wechselseitiger‘ Gabe hinausgeht. Und dadurch wird es möglich, neben der Rezeption seines Gabebegriffes auch Aspekte anderer Gabetheorien aufzugreifen. Das heißt: auch die anderen dargestellten Gabediskurse dienen in der Auslegung des Abendmahls als Ideengeber, was ihre ausführliche Darstellung und Diskussion erforderlich macht. Nach der Skizzierung des soziologisch-philosophischen Gabediskurses folgt in Teil B eine Darstellung seiner theologischen Rezeption im Hinblick auf das Abendmahl. Hierbei zeigt sich, dass letztlich nicht die Positionierungen im Gabediskurs den Entwürfen ihr entscheidendes Gepräge geben, sondern die klassischen Fragestellungen zum Abendmahl, die die Autoren bearbeiten. In Teil C folgt dann ein eigener gabetheoretischer Abendmahlsentwurf. Die Grundannahme ist hierbei, dass das Abendmahl ein Erschließungsgeschehen darstellt, bei dem die Feiernden die Bedeutung der Selbstfestlegung Gottes im Geschehen von Kreuz und Auferstehung für ihr eigenes Leben erkennen. Nach einer einführenden Klärung der exegetischen, systematischen und gabetheoretischen Voraussetzungen folgen die beiden Hauptkapitel „Das Abendmahl als wirkmächtiges Ereignis“ und „Das Abendmahl als Gabe“.15 Abgerundet wird die Darstellung durch Überlegungen zur konkreten Ausgestaltung der Feier des Abendmahls im Gottesdienst.16 Das erste der beiden Hauptkapitel beschäftigt sich zunächst mit der Metaphorik, durch die sich den Feiernden im Abendmahl die mit Gottes Selbstoffenbarung gesetzte Wirklichkeit erschließt. Dabei wird betont, dass auch die rituelle Handlung, die vor dem Hintergrund der Theorien zum Gabentausch (Diskurs 1) beleuchtet wird, Anteil am wirklichkeitsstiftenden Potential des Abendmahls hat und die Metaphorik des Abendmahls insgesamt mehrschichtig ist. Sodann wird hier der für die philosophischen Beiträge des Gabendiskurses (Diskurs 2) wichtige Begriff des „Ereignisses“ auf das Abendmahl bezogen, um auf diese Weise zu unterstreichen, dass es sich beim Abendmahl nicht um ein rei13   Dalferth, Ingolf U., Umsonst. Eine Erinnerung an die kreative Passivität des Menschen, Tübingen 2011, hier: 92 – 131. 14   Siehe dazu Kap. A.4.2. 15   Siehe die Kap. C.2. und C.3. 16   Siehe Kap. C.4.

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nes Gedächtnismahl handelt, sondern um ein wirkmächtiges Geschehen, das die Feiern­den immer wieder neu positioniert. Das zweite Hauptkapitel widmet sich der Frage, worin der Gabecharakter des Abendmahls besteht. Hierbei werden die Hauptaspekte, die Dalferth zufolge ein Gabegeschehen ausmachen, am Abendmahl aufgezeigt. Das Abendmahl wird demnach einerseits als ein hermeneutisches Geschehen verstanden, das die eigene Selbstdeutung bestimmt, und andererseits als ein eröffnendes Geschehen, durch das sich für den Feiernden neue Möglichkeiten auftun. Der hermeneutische Aspekt des ‚Gabegeschehens‘ Abendmahl wird in diesem Kapitel mit der klassischen Lehre vom ‚Abendmahl als Feier zur Vergebung der Sünde‘ verbunden. In einigen aktuellen wissenschaftlichen Beiträgen zum Abendmahl wird die These vertreten, dass die Fokussierung auf die Sündenvergebung Schuld an einem verzeichneten Relevanzverlust des Abendmahls sei, und es wird der Vorschlag gemacht, andere metaphorische Konzeptualisierungen und damit andere Deutungen stärker in den Mittelpunkt der liturgischen Gestaltung und der Reflexion über das Abendmahl in der Predigt zu rücken.17 Demgegenüber vertrete ich im vorliegenden gabetheo­ retischen Entwurf den Standpunkt, dass nicht die Fokussierung auf das Thema ‚Sündenvergebung‘ an sich zu einem Bedeutungsverlust des Abendmahls geführt hat, sondern dass das Abendmahl von einer vielfach vollzogenen moralischen Verengung des Sündenbegriffs mitbetroffen ist, die seinem ursprünglich biblischen Sinn nicht entspricht, und die für viele Menschen mit Schwierigkeiten behaftet ist.18 Es wird dementsprechend in der vorliegenden Arbeit mit einem Sündenbegriff gearbeitet, der dieser Verengung nicht unterliegt. Durch die Bezugnahme auf den Sündenbegriff Søren Kierkegaards wird die im Abendmahl zugeeignete Gabe der Sündenvergebung mit dem Thema der ‚Identitätsarbeit‘ verknüpft und kann so über die konstatierte moralische Verengung hinausgehen. Die sich für die Feiern­ den eröffnenden neuen Möglichkeiten, die aus der im Abendmahl vermittelten Gottes- und Selbsterkenntnis resultieren, werden dann in einem zweiten Schritt beispielhaft unter den Stichworten ‚Selbstannahme‘, ‚Konstruktiver Umgang mit eigener Schuld‘ und ‚Gemeinschaft‘ bedacht. So wird deutlich, dass das Abendmahl eine große Bedeutungsvielfalt für die Feiernden bereithält. Diese zeigt sich im Nebeneinander verschiedener metaphorischer Konzepte, mit deren Hilfe das Abendmahl beschrieben wird. Man nimmt diese Vielfalt jedoch auch dann wahr, wenn man exemplarisch nur ein metaphorisches Konzept betrachtet, wie z. B. im Folgenden das der ‚Gabe‘.

17   Vgl. z. B. Grethlein, Christian, Abendmahl feiern in Geschichte, Gegenwart und Zukunft, Leipzig 2015. 18  Vgl. Härle, Wilfried, Dogmatik, Berlin / New York 1995, 462 f. Sowie Ders., Zur Gegenwartsbedeutung der „Rechtfertigungs“-Lehre. Eine Problemskizze, in: Grane, Leif / Jüngel, Eberhard (Hg.), Zur Rechtfertigungslehre (= ZThK.B 10), Tübingen 1998, 101 – 139.

A.  Die ‚Gabe‘ als Thema des soziologischen und philosophischen Diskurses Der Diskurs um das Thema Gabe im Sinne einer sozialen Interaktion entzündete sich an dem 1923 / 24 veröffentlichten „Essai sur le don“ von Marcel Mauss.1 In diesem Essay beschreibt Mauss den in verschiedenen ethnologischen Untersuchungen dargestellten Vorgang des ‚Gabentausches‘, der neben dem Geben und Empfangen auch das Moment der Erwiderung umfasst, und stellt sich die Frage: „Was liegt in der gegebenen Sache für eine Kraft, die bewirkt, dass der Empfänger sie erwidert?“2 Die Vorstellung, dass es zur Funktion der Gabe gehören könnte, erwidert zu werden, steht jedoch in Spannung zu einem Gabeverständnis, wie es etwa in Teilen der Bibel oder auch in der Stoa vertreten wird und das maßgeblich die abendländische Haltung zum Thema ‚Gabe‘ geprägt hat. Hier wird die Gabe als ein selbstloses, uneigennütziges, von der Agape bestimmtes Tun beschrieben, weshalb im Gabediskurs vielfach von einer ‚reinen Gabe‘ die Rede ist. So formuliert das Matthäusevangelium einen der Kernsätze der Ethik in Kapitel 6,3: „Wenn du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut . . .“3. Und Seneca betont in seiner Schrift „De beneficiis“,4 dass es sich bei Wohltaten nicht um die Gegenstände handele, die gegeben und empfangen werden – diese seien nur Ausdrucksformen –, sondern um seelische Vorgänge. „Was also ist eine Wohltat? Eine wohlwollende Handlung, die Freude schenkt und empfängt, dadurch, daß sie schenkt, zu dem, was sie tut, geneigt und aus eigenem Antrieb bereit.“5 Vor dem Hintergrund der abendländischen Tradition verwundert es 1   Mauss, Gabe. Wiederkehrende Literaturangaben werden im Folgenden mit Kurztitel abgekürzt und die ausführlich dargestellten philosophischen Werke mit den in der Philosophie üblichen Siglen. 2   Mauss, Gabe, 18. 3   Die Bibel. Nach der Übersetzung von Martin Luther mit Apokryphen, hg. v. d. Evangelischen Kirche in Deutschland, Stuttgart 1985. 4   Im ersten Buch von „De beneficiis“ entwickelt Seneca den Gedankengang, dass die Geber einer Wohltat den Empfängern die Möglichkeit zur echten Dankbarkeit nehmen, wenn sie beim Geben immer wieder in ein berechnendes Kalkül verfallen und sich dieses in Allüren wie einem zögerlichen Geben oder einer aufgesetzten, gönnerhaften Großzügigkeit äußere. Seneca versucht demgegenüber deutlich zu machen, dass der eigene Gewinn des Gebens nicht in der Gegengabe, sondern in der inneren Haltung bestehe, die Wohltaten ermöglicht. Ihm zufolge ist ein großzügiges Geben und dankbares Empfangen unverzichtbar für einen guten Zusammenhalt einer menschlichen Gesellschaft, vgl. Seneca, De beneficiis, 99 – 139. 5   Seneca, De beneficiis, 117 f.

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A.  Die ‚Gabe‘ als Thema des soziologischen und philosophischen Diskurses

nicht, dass die von Mauss beschriebene wechselseitig gegebene Gabe immer wieder in ein Verhältnis zum Tausch gesetzt und die Frage diskutiert wurde, was den Unterschied von Gabe und Tausch ausmache. Die Frage nach dem Wesen der Gabe hat Forschungsbeiträge mit sehr unterschiedlicher Fokussierung hervorgebracht. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, werden in der folgenden Forschungsübersicht, die einzelnen Beiträge drei verschiedenen Fragestellungen zugeordnet, die auch über Diskursgrenzen hinweg zahlreiche Bezüge zueinander aufweisen. Das erste Unterkapitel stellt Forschungsbeiträge vor, die den ‚Gabetausch‘ dezidiert als Gabegeschehen verstehen und nach dessen spezieller Funktion fragen. Das zweite Unterkapitel widmet sich den philosophischen Arbeiten zur Gabe von Heidegger, Marion und Derrida, bei denen der unverfügbare Charakter von Gabe sowie der Zusammenhang von Gabe und Entzug und die Interpretation der Gabe als Ereignis im Zentrum der Überlegungen stehen. Das dritte Unterkapitel schließlich widmet sich dem Thema ‚Gabe‘ aus einer ethischen Perspektive.

1.  Diskurs 1: Charakter und Funktion des wechselseitigen Austauschs von Gaben 1.1 Vorbemerkungen Der „Essai sur le don“ von Marcel Mauss stellt eine komparative Studie dar, die auf die Arbeit verschiedener Ethnologen eingeht und darum bemüht ist, die Universalität des dreigliedrigen Gabentausches herauszustellen.1 Anders als ein Teil der Autoren, auf deren Feldforschung er zurückgreift, verstand Mauss den ‚Gabentausch‘ nicht als primitive Vorstufe des Marktes, sondern als ein System, das anderen Zwecken als dem Erwerb von Nutzgegenständen dient und das er aufgrund des Ineinandergreifens von spontaner Großzügigkeit und Dankesverpflichtung als Anregung für ein mögliches soziales und wirtschaftliches Modell jenseits des Kapitalismus betrachtete.2 Doch auch nach Mauss hat es eine Reihe von ökonomischen Interpretationen des Gabentausches gegeben. Zugespitzt und bis ins Aporetische getrieben hat diese Interpretation Jacques Derrida, der jegliche zirkuläre Bewegung von Gaben oder Symbolen als ökonomisch betrachtet und dementsprechend zu dem Schluss kommt, dass die Gabe eine „unmögliche Möglichkeit“ sei.3 1

  So auf die Untersuchungen von Malinowski; Boas; Hunt; Radcliff-Brown; Best u. a.   Stephan Moebius hebt in seiner Mauss-Biographie das dezidiert politische Interesse von Marcel Mauss hervor: Mauss sei als Reformsozialist zu bezeichnen, vgl. Moebius, Stephan, Marcel Mauss (= Klassiker der Wissenschaftssoziologie 2), Konstanz 2006. Ihm habe eine sozialistische Umformung der Gesellschaft vorgeschwebt, die jedoch nicht auf gewaltsamem Wege, sondern durch Erziehung des Volkes durch die Intellektuellen herbeizuführen sei. Auch sei es ihm nicht um die Herrschaft des Proletariats, sondern um eine klassenlose Gesellschaft gegangen, die nach Berufsgruppen gegliedert sein sollte. Insgesamt habe das Genossenschaftswesen für sein Denken eine große Rolle gespielt: So habe er die Idee favorisiert, Genossenschaftsbanken und Krankenkassen für die Arbeiter einzuführen, da er sie als mögliche erste Schritte zu einer Umformung der Gesellschaft betrachtete. Anders als der Bolschewismus, mit dem er sich intellektuell intensiv auseinandergesetzt habe, habe er das Privateigentum nicht abgelehnt, sondern den Sozialismus als „Ensemble kollektiver Ideen, Formen und Institutionen, deren Funktion darin liegt, die kollektiven ökonomischen Inte­ ressen der Nation durch die Gesellschaft sozial zu regeln“, gesehen, Mauss, Marcel, Ecrits politiques. Textes réunis et présentés par Marcel Fournier, Paris 1997, 260, zitiert nach Moebius, Mauss, 123. Moebius spricht dementsprechend davon, dass Mauss’ Vorstellungen auf „eine Art sozialdemokratische [. . .] ‚Sozialisierung‘ des Marktgeschehens“ zielten, Moebius, Mauss, 122. 3  Vgl. Derrida, Jacques, Falschgeld. Zeit geben 1, übers. v. Knop, Andreas, München 1993, 17. [Donner le temps 1. La fausse monnaie, Paris 1991, 17]; Ders., Eine gewisse unmögliche Möglichkeit vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003, 28 ff. 2

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1.  Diskurs 1: Charakter und Funktion des wechselseitigen Austauschs von Gaben

Eine andere Interpretationslinie des „Essai sur le don“ beginnt mit der „Einleitung in das Werk von Marcel Mauss“, die Claude Lévi-Strauss den von ihm veröffentlichten Teilen des Gesamtwerkes von Marcel Mauss voranstellt.4 Lévi-Strauss würdigt hier zwar, dass der „Essai sur le don“ eine neue Ära in den Sozialwissenschaften einleite,5 andererseits wirft er Mauss jedoch vor, die umfassende Struktur des Austausches nicht erfasst zu haben, weil er zu sehr auf die einzelnen Elemente des Gabezyklus Geben – Nehmen – Erwidern fixiert gewesen sei, so dass sich für ihn die Frage aufdrängte, was die Synthese der Einzelteile bewirke. Um diese Synthese herzustellen, greife Mauss auf die Aussagen der Stammesangehörigen zurück, dass es sich um das „hau“ handele:6 eine bindende Kraft, die von der gebenden Person auf die Gabe übergehe. Dies sei jedoch nicht mehr als eine kulturell geprägte Theorie, die man noch einmal einer „objektiven Kritik“ unterziehen müsse.7 Für Lévi-Strauss liegt die Erklärung für das Verhalten von Akteuren nämlich in unterbewussten, allen Menschen gemeinsamen Strukturen, zu denen er auch das Prinzip der Reziprozität zählt.8 Diese mentalen Strukturen korrespondierten mit sprachlichen Strukturen, durch die ein Wissenschaftler u. a. auf sie aufmerksam werde. So habe Mauss selbst die Feststellung notiert, dass es in den Sprachen des Pazifik nur ein einziges Wort für die Gegensätze von „kaufen und verkaufen“, „verleihen und leihen“ gebe, was darauf hindeute, dass es sich hierbei nicht um wirkliche antithetische Operationen, sondern lediglich um Momente eines Kreislaufes handele. Das folgende Kapitel wird, nach einer kurzen Darstellung des „Essai sur le don“,9 Interpretationen von Wissenschaftlern vorstellen, die weder einer ökonomischen noch einer strukturalistischen Interpretationslinie folgen, sondern beide als defizitär betrachten und jenseits davon eigene Wege beschreiten. Die unter der Überschrift „Renaissance des Gabeverständnisses von Mauss“ vorgestellte MAUSS-Gruppe sowie die Philosophen Marcel Hénaff und Paul Ricœur versuchen, den Ansatz von Marcel Mauss aus diesen interpretatorischen Engführungen herauszulösen und die Gabe als Form der wechselseitigen Anerkennung und 4

  Lévi-Strauss, Einleitung.  Vgl. Lévi-Strauss, Einleitung, 28. 6   Mauss, Gabe, 34. 7   Lévi-Strauss, Einleitung, 31. 8   Iris Därmann legt in ihren Ausführungen über das Gabeverständnis von Lévi-Strauss dar, dass es durchaus Texte wie z. B. „Der hingerichtete Weihnachtsmann“ gebe, in denen der Soziologe von seiner These, dass das Handeln des Menschen sich immer wieder nach bestimmten mentalen Strukturen vollziehe, abweiche. Es ist jedoch letztlich diese These, die paradigmatisch geworden ist. Auch weist Iris Därmann darauf hin, dass Lévi-Strauss durchaus noch einmal einen Unterschied zwischen dem Geben als spontanem, natürlichen Vorgang und dem Geben als Kulturleistung mache. Den Übergang vom einen zum anderen bilde für ihn das Inzest-Verbot, das dem Mann einen Triebverzicht auferlege und ihn dazu führe, die eigenen Töchter und Schwestern an Fremde weiterzugeben, vgl. Därmann, Iris, Theorien der Gabe zur Einführung, Hamburg 2010, 69 – 100. 9   Mauss, Gabe. 5

1.2  Marcel Mauss: „Essai sur le don“

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Beziehungsaufnahme zu interpretieren. Das unter 1.2 vorgestellte Gabeverständnis des Soziologen Pierre Bourdieu folgt ebenfalls der Interpretationslinie, die den Gabentausch als Anerkennung versteht, nimmt aber weit mehr in den Blick, dass anerkennende Gaben auch gezielt dazu eingesetzt werden können, um das eigene soziale Ansehen zu verstärken und ein subtiles Netz von Abhängigkeiten zu schaffen. Dies hat ihm von Vertretern der MAUSS-Gruppe, aber auch anderen Autoren den Vorwurf eingebracht, er vertrete ebenfalls ein utilitaristisch-ökonomisches Gabemodell.10 Die Tatsache, dass die Interpretation der Gabe als Ausdrucksform von Anerkennung neue Interpretationsmöglichkeiten für das Rechtfertigungsgeschehen bietet, wie die Arbeitsgruppe des „DFG-Netzwerk Theologie und Gabe“ gewinnbringend aufgezeigt hat,11 und dass dem Rechtfertigungsgeschehen im Abendmahl eine zentrale Rolle zukommt, begründet die Konzentration auf diese Interpretationslinie.12

1.2  Marcel Mauss: „Essai sur le don“ Marcel Mauss legt mit seinem „Essai sur le don“ eine vergleichende Studie zum Geschenkverhalten der Menschen in Polynesien, Melanesien und von indigenen Stämmen aus dem Nordwesten Amerikas vor. Dabei interessiert Mauss der festlich inszenierte Austausch von Gaben, bei dem sowohl das Geben und Empfangen als auch das mit einer zeitlichen Frist überreichte Gegengeschenk obligatorisch sind. Der Soziologe untersucht dabei den vorhandenen Zwang zur Erwiderung der Gabe und weist den Mechanismus von Gabe und notwendiger Gegengabe auch in alten römischen, indischen und germanischen Rechtstexten nach, und 10

  Vgl. Anm. 55.   Vgl. die Abschlusspublikation des DFG-Netzwerkes „Theologie und Gabe“: Hoffmann, Veronika / Link-Wieczorek, Ulrike / Mandry, Christof (Hg.), Die Gabe. Zum Stand der interdisziplinären Diskussion (= scientia & religio 14), Freiburg / Br. / München 2016. 12   Unberücksichtigt bleiben neben den Ansätzen, die dem Strukturalismus oder einer utilitaristisch-ökonomischen Interpretationslinie zuzurechnen sind, auch Arbeiten wie die von Maurice Godelier oder Annette Weiner, die die These vertreten, die Gabepraxis der Menschen im Pazifik sei nur dann vollständig beschrieben, wenn man berücksichtige, dass es neben Nutzgegenständen und Gaben auch noch eine dritte Kategorie von Gegenständen gebe, die eine Familie nicht verlassen dürften: familiäre Sacra, die für die Identitätsbildung einer Familie maßgeblich seien, vgl. Godelier, Maurice, Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, München 1999; Weiner, Annette B., Inalienable Possessions. The Paradox of Keeping-While-Giving, Berkeley / CA 1992. Ebenfalls unberücksichtigt bleiben Arbeiten wie die von Mark Rogin Anspach, die das Verhältnis von Gabe und Opfer stärker beleuchten und von einer Vorrangstellung des Opfers vor der Gabe ausgehen, vgl. Anspach, Marc Rogin, A charge de revanche. Figures élémentaires de la réciprocité, Paris 2002. Ich habe diese Entwürfe insofern nicht herangezogen, als ich den Eindruck hatte, es gehe in ihnen weniger um das Wesen von ‚Gabe‘ als vielmehr um Verhältnisbestimmungen zwischen Gaben und anderen Größen wie dem Opfer bzw. den familiären Sacra, wobei die jeweiligen Autoren natürlich den Anspruch erheben, durch ihre Verhältnisbestimmungen etwas über die Funktion von Gaben zu sagen. 11

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1.  Diskurs 1: Charakter und Funktion des wechselseitigen Austauschs von Gaben

selbst in der zeitgenössischen europäischen Kultur entdeckt er rudimentäre Spuren der Verpflichtung zum Gegengeschenk. Abschließend kritisiert er den Kapitalismus der zwanziger Jahre vor dem Hintergrund der von ihm untersuchten Kultur der Gabe und Gegengabe und äußert die Hoffnung, dass diese Einfluss auf den Antagonismus von Arbeitern und Arbeitgebern in Europa haben werde. Der von Mauss untersuchte festlich inszenierte Gabentausch zwischen verschiedenen Stammesgruppen stellt für das Leben dieser Stämme ein fait social total dar.13 Darunter versteht er ein Geschehen, das sowohl religiöse und ästhetische, aber auch ökonomische und juristische Facetten aufweist. Vor allem aber ist es ein Geschehen, durch das sich Sozialstrukturen sowohl innerhalb eines Clans als auch zwischen den Clans etablieren. Der Unterschied zum Tauschhandel – der etwa bei den Bewohnern der Tro­ briand-Inseln mit einem völlig anderen Wort bezeichnet wird als der Gabentausch – liege vor allem in seinem Zweck.14 Daraus ergebe sich ferner, dass eine qualitativ andere Art von Gütern hin und her wechsele und eine andere Art des ‚Eigentumsrechts‘ an der entgegengenommenen Sache bestehe. Das, was man sich als Gaben überreiche, seien nicht Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs, sondern Prestigeobjekte wie Kupferschalen, Muschelketten, aufwendig verzierte Leder- oder Stoffdecken. Mauss zitiert in diesem Zusammenhang Radcliffe-Brown, der über die Bewohner der Andaman-Inseln schreibt: „Trotz der Wichtigkeit dieses Austausches verfolgen diese Geschenke nicht den gleichen Zweck wie Handel und Tausch in entwickelteren Gesellschaften, da sich die lokale Gruppe und die Familie, was Geräte betrifft, selbst versorgen können. Sein Ziel ist vor allem ein moralisches: es soll freundschaftliche Gefühle zwischen den beiden beteiligten Personen hervorrufen, und wenn die Unternehmung dieses Ergebnis nicht hatte, war ihr Zweck verfehlt.“15

Das Ziel des Gabentausches ist nach Mauss ein zweifaches: Einerseits sorge der Gabentausch zwischen den Häuptlingen der Stammesgruppen für Frieden, man schaffe sich auf diese Weise Verbündete. „In allen Gesellschaften, die uns unmittelbar vorausgegangen sind oder die uns noch heute umgeben, und selbst in zahlreichen Bräuchen unseres eigenen Volkes gibt es keinen Mittelweg: entweder volles Vertrauen oder volles Misstrauen. Man legt seine Waffen nieder, entsagt der Magie und verschenkt alles, von gelegentlicher Gastfreundschaft bis zu Töchtern und Gütern.“16 Andererseits sichere der Gabentausch dem Häuptling aber auch seinen Rang inner13   In deutscher Übersetzung: „ein System der totalen Leistungen“, Mauss, Gabe, 22. Der Begriff wurde von Mauss geprägt, ist aber mittlerweile ein Terminus technicus in der Soziologie. Solche ursprünglichen Zitate, die zu allgemein genutzten Fachbegriffen geworden sind, setze ich, wie alle Fachbegriffe, kursiv. 14   Auf den Trobriand-Inseln existiert neben dem Wort kula das Wort gimwali, das den einfachen Austausch nützlicher Dinge bezeichnet, vgl. Mauss, Gabe, 55. 15   Radcliffe-Brown, Alfred, The Andaman Islanders. A Study in Social Anthropology, Cambrigde 1922, 83, zitiert nach: Mauss, Gabe, 50 f. 16   Mauss, Gabe, 180.

1.2  Marcel Mauss: „Essai sur le don“

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halb der Gruppe, da der Häuptling die erhaltenen Geschenke an seine Vasallen weiterreiche und durch sein Geben Macht und Reichtum demonstrieren könne. „Er kann seine Autorität über den Stamm, über sein Dorf, ja über seine Familie, seinen Rang unter den Häuptlingen innerhalb und außerhalb seiner Nation nur dann aufrechterhalten, wenn er beweisen kann, dass er von den Geistern begünstigt wird, dass er Glück und Reichtum besitzt und von diesem besessen ist. Und seinen Reichtum kann er nur dadurch beweisen, dass er ihn ausgibt, verteilt und damit die anderen demütigt, sie ‚in den Schatten seines Namens‘ stellt.“17

Dies gilt vor allem für die zweiten Form des Gabentausches, dem Mauss neben dem kula der Bewohner der Trobriand-Insel besondere Aufmerksamkeit schenkt: dem bei den indigenen Völkern Nordwestamerikas verbreiteten Potlatsch, einer agonistischen Form des Gabentausches.18 Hier werden zwischen Häuptlingen so lange Gaben ausgetauscht bis es einen der Tauschenden in den wirtschaftlichen Ruin treibt; in der Zeremonie werden geschenkte Kostbarkeiten durchaus auch vernichtet. Blickt man auf beide von Mauss intensiver analysierten Formen des Gabentausches, auf den Kula und den Potlatsch, so lässt sich feststellen, dass das Geben, Nehmen und Erwidern ein soziales Ganzes konstituiert, sowohl nach innen als auch nach außen. Auch die Ahnen sind in dieses das Sozialgefüge begründende Geschehen mit einbezogen, indem man entweder Gaben an die ihren Namen tragenden Stammesführer gibt oder einen Teil der Güter zerstört und ihnen damit zurückerstattet. Der Austausch von Gaben findet in einem festen rituellen Rahmen statt. So berichtet Malinowski über den Kula, dass um das den Gabentausch eröffnende Geschenk, das er „opening gift“ nennt, intensiv mit Bittgeschenken geworben wird.19 Gebe ein Häuptling einem anderen ein „opening gift“, so komme dem insofern eine hohe Bedeutung zu, als das Bündnisverhältnis, das auf diese Weise, allerdings nur auf Zeit, eingegangen werde, nahezu einem Clanverhältnis entspreche.20 Das nach einer zeitlichen Frist erwiderte Geschenk nennt Malinowski „clinching gift“ und schildert eindrücklich die Sanktionen, die erfolgen, wenn kein Gegengeschenk erfolgen sollte.21 Findet keine Erwiderung statt, so könne dies zu Ehrverlust, aber auch zum Verlust der Freiheit oder zum gewaltsamen Einfordern der Gegengabe führen. Die wechselseitige Bindung, die das Ziel des Gabentausches ist, scheint zum einen durch die mittels der Gabe zum Ausdruck gebrachte Ehrerbietung hervor17

  Mauss, Gabe, 92.   Die Ethnologin Iris Därmann weist in ihrem Buch zur Rezeption des „Essai sur le don“ darauf hin, dass die antagonistischen Züge des Potlatsches allerdings kein ursprüngliches, sondern ein spätes, durch die Einflüsse des Kolonialismus entstandenes Phänomen seien, vgl. Därmann, Gabe, 54 ff. 19   Malinowski, Bronislaw, Argonauts of the Western Pacific. An Account of Native Enterprise and Adventure in the Archipelagoes of Melanesian New Guinea, London 1922, 352 ff. Zitiert nach Mauss, Gabe, 64. Zitierte Begriffe werden nur bei erster Nennung mit einem Literaturhinweis belegt. 20  Vgl. Mauss, Gabe, 68. 21   Malinowski, Argonauts, 98. Zitiert nach Mauss, Gabe, 64. 18

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1.  Diskurs 1: Charakter und Funktion des wechselseitigen Austauschs von Gaben

gerufen zu werden und zum anderen dadurch, dass der Geber den Empfänger temporär in seine Schuld versetzt.22 Gestützt auf das Selbstverständnis der Gruppen, denen er sich in seiner Studie zuwendet, macht Mauss darüber hinaus noch ein weiteres Moment aus, das im Gabentausch Bindung erzeugt: die Tatsache, dass der Geber mit der Gabe einen Teil seiner selbst gibt. „Doch schon jetzt ist deutlich, dass im Maori-Recht die durch die Sache geschaffene Bindung eine Seelen-Bindung ist, denn die Sache selbst hat eine Seele, ist Seele. Woraus folgt, dass jemand etwas geben so viel heißt, wie jemand etwas von sich selbst geben. [. . .] Es ist vollkommen logisch, dass man in einem solchen Ideensystem dem anderen zurückgeben muss, was in Wirklichkeit ein Teil seiner Natur und Substanz ist, denn etwas von jemand annehmen heißt, etwas von seinem geistigen Wesen annehmen, von seiner Seele; es aufzubewahren wäre gefährlich und tödlich, und zwar nicht allein deshalb, weil es unerlaubt ist, sondern weil diese Sache – die nicht nur moralisch, sondern auch physisch und geistig von der anderen Person kommt –, weil dieses Wesen, diese Nahrung, diese beweglichen oder unbeweglichen Güter, diese Riten oder Kummunionen magische oder religiöse Macht über den Empfänger haben.“23

Mauss nennt die Belebung der Sache durch ihre Zugehörigkeit zu dem Geber mit einem Ausdruck der Maori hau. Es ist evident, dass die geschenkte Sache dem Empfänger nicht als Besitz zukommt, sondern nach Mauss gleichsam den Charakter einer Leihgabe, eines Pfandes hat. Iris Därmann interpretiert treffend, wenn sie schreibt: „[. . .] offensichtlich handelt es sich für Mauss um magische, aber auch um religiöse oder rechtliche Inszenierungen, Ausgestaltungen und Übersetzungen einer obsessiven Fremderfahrung der Gabe, die von der Vermischung, der mélange von Person und Sache im Akt der Übergabe selbst herrührt. [. . .] Mélange bedeutet ausdrücklich nicht symbiotische Verschmelzung, ­sondern chiastische Vermischung von Sache und Person. ‚Person wird Sache, Sache wird Person‘, fremde Person wird eigene Person, fremde Sache wird eigene Sache und vice versa. Vor und außerhalb der Gebung gehört die Sache selbst untrennbar zur Person, sie macht ihr ganzes Renommee aus, verleiht ihr Titel, Ämter, Fähigkeiten, Prestige und Ansehen. [. . .] Eine Gabe anzunehmen bedeutet demnach, im zeitweiligen Besitz der mit ihrer Sache vermischten Person, will sagen: von ihr besessen zu sein [. . .]. Der Gabenempfang ist das Widerfahrnis einer alternierenden Besessenheit durch den Geber, der dank der ihm weiterhin zugehörigen Sache eine obsessive Macht über den Empfänger ausübt und ihn so zur Erwiderung zwingt.“24 22   Liest man Mauss aufmerksam, so wird deutlich, dass dieses Den-Anderen-oder-sich-selbstim-Gabegeschehen-Verschulden vor dem Hintergrund einer Selbst- und Weltdeutung stattfindet, der gemäß das Individuum zutiefst mit der Gesamtheit des Clans und der Ahnen verwoben ist. Meines Erachtens ist Individualität – so wie Mauss die Grundauffassung der Ureinwohner deutend beschreibt – hier weniger als in der modernen abendländischen Vorstellung durch Differenz als vielmehr durch Eingebundensein in das Ganze gekennzeichnet. So hebt Mauss hervor: „Aber außerdem gibt man beim Geben sich selbst, und zwar darum, weil man sich selbst – sich und seine Besitztümer – den anderen ‚schuldet‘.“, Mauss, Gabe, 118. Auch aufgrund dieses Unterschieds im Hinblick auf das Verständnis von Individualität ist es meines Erachtens ratsam, einer ökonomischen Deutung des Gabentausches skeptisch gegenüber zu stehen. 23   Mauss, Gabe, 35. 24   Därmann, Gabe, 17 f. Die Hervorhebungen in diesem Zitat und in allen folgenden Zitaten wurden, wenn nicht anders gekennzeichnet, vom zitierten Autor vorgenommen.

1.3  Die Verkennung der Reziprozität durch die Beteiligten

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1.3  Die Verkennung der Reziprozität durch die Beteiligten – das Gabeverständnis von Pierre Bourdieu Die Darlegungen Pierre Bourdieus über die Gabe sind nicht in erster Linie eine Interpretation des „Essai sur le don“, wenngleich Bourdieu natürlich Bezüge zu Mauss herstellt.25 Bourdieu führte jedoch bei den Berbern in Algerien selbst ethnologische Studien durch und verfügte damit über eigenes Anschauungsmaterial. Pierre Bourdieu erhebt für seine Arbeiten den Anspruch, zwischen einem sozialphänomenologischen Ansatz, der beim Erleben des Subjekts einsetzt, und objektivistischen Theorien, die das soziale Geschehen aus einer Beobachterperspektive beschreiben, zu vermitteln. Eine phänomenologische Analyse habe den Vorteil, dass die unmittelbare Erfahrung, die das Subjekt mit seiner Welt mache, zur Sprache komme. In der Beschränkung auf diese unmittelbare Erfahrung, die keine Rückfragen nach Gründen und Zusammenhängen vorsehe, liege jedoch auch die Begrenztheit dieses Ansatzes. Diese in der Sozialphänomenologie fehlende Systematisierung leisten objektivierende Theorien, wie etwa die des Strukturalismus; sie haben jedoch nach Bourdieus Ansicht umgekehrt den gravierenden Mangel, dem Selbstverständnis und der Selbstdeutung der handelnden Individuen und sozialen Gruppierungen unverbunden gegenüberzustehen. Dadurch versperrten sie sich den Zugang zu der Frage nach dem Sinn von sozialem Geschehen. „Und eben weil der Objektivismus die Beziehungen zwischen dem von der Sozialphänomenologie explizierten erlebten Sinn und dem von der Sozialphysik oder objektivistischen Semiologie konstruierten objektiven Sinn ignoriert, versagt er sich der Analyse der Bedingungen, unter denen der Sinn des sozialen Spiels entsteht und fungiert, welches ermöglicht, den in den Institutionen objektivierten Sinn als fraglos gegeben zu erleben.“26

Zudem werde außer Acht gelassen, dass es die neutrale Beobachterperspektive gerade nicht gebe, sondern auch die Perspektive des neutralen Beobachters eine perspektivische Sicht bleibe; so sei es bei ethnologischen Arbeiten in der Regel die Perspektive des Fremden mit seinem eigenen kulturellen Hintergrund, bei soziologischen Arbeiten oft die Perspektive eines sozial Privilegierten. Die Deutung des Gabentausches durch den Strukturalismus sei, so Bourdieu, das Beispiel par excellence, um zu zeigen, wie objektivistische Theorie und subjektive Wahrnehmung auseinanderklafften. Der Strukturalismus, der die Aufeinanderfolge von Gaben als reziproken Zyklus deutet, betrachte das subjektive Erleben als bloßen Schein, obgleich es sich durchaus um ein kollektives Bewusstsein handele. Diese Diskrepanz entstehe dadurch, dass der Faktor ‚Zeit‘ in der strukturalistischen Theorie unberücksichtigt bleibe. Man stelle a priori einen Zusammenhang von 25   Bourdieu entwickelt sein Gabeverständnis in: Bourdieu, Pierre, Sozialer Sinn. Kritik der theo­retischen Vernunft, Frankfurt / M. 1993; Ders., Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt / M. 1998. 26   Bourdieu, Sozialer Sinn, 52.

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1.  Diskurs 1: Charakter und Funktion des wechselseitigen Austauschs von Gaben

Gabe und Gegengabe her, ohne zu berücksichtigen, dass dieser erst kontinuierlich erwachse und dass der entstehende Prozess durchaus unterbrochen werden könne. „Eine Analyse des Austausches von Gaben, Worten oder Herausforderungen, die wirklich objektiv sein will, muss berücksichtigen, dass die Reihe von Akten, die sich von außen und nachträglich als Zyklus der Wechselseitigkeit darstellt, durchaus nicht wie eine mechanische Verkettung abläuft, sondern wirklich kontinuierlich geschaffen werden muss und jeden Augenblick unterbrochen werden kann.“27 Betrachte man den Gabentausch als eine solche Verkettung, so bedeute das für das Menschenbild, dass man den handelnden Individuen den Status von programmierten Automaten zuweise. Für das Individuum bleibe aber bei jeder Gabe die Ungewissheit, ob sie erwidert werde, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit dafür statistisch sehr hoch liege. Am Beispiel von Ehrengaben macht Bourdieu deutlich, dass die Erwiderung einer Gabe deshalb nicht gewiss sein kann, weil sie immer von der Interpretation des Empfängers abhängt. Ob eine Gabe als Ehrerbietung oder als Affront gewertet werde und wie dementsprechend die Reaktion ausfalle, hänge maßgeblich davon ab, wie der Empfänger seinen eigenen sozialen Status sowie den Status des Gebers bewerte und wie er die kollektive Meinung zu diesem Verhältnis einschätze. Empfinde er eine deutliche soziale Diskrepanz zwischen sich selbst und dem Geber, stehe er der Ehrengabe wohl eher abweisend gegenüber. Mit Mauss teilt Bourdieu die Ansicht, dass Gaben auf Wechselseitigkeit angelegt sind, dass sie ihren eigentlichen Sinn nur erfüllen, wenn eine Gegengabe erfolgt. Um gleichzeitig jedoch der subjektiven Wahrnehmung der Handelnden gerecht zu werden, die ihre Gaben als einseitige Handlungen verstehen, geht Bourdieu davon aus, dass es zu einer systematischen kollektiven Verkennung der wechselseitigen Struktur von Gabe komme, die sprachlich durch die Nutzung von Euphemismen gefördert werde. Zudem sei die Zeitspanne, die traditionell zwischen Gabe und Gegengabe liege, und auch der materielle Unterschied bei dem, was gegeben werde, existenziell, damit es zur Verkennung der reziproken Struktur der Gabe kommen könne. Bourdieu weist der kollektiven Verkennung der reziproken Struktur von Gabe insofern eine zentrale Rolle zu, als nur sie es gewährleiste, dass die Gabe nicht von Geber und Empfänger als eigennützig interpretiert werde und damit ihre Wirkung gänzlich verliere. „In das Modell muss dieser doppelte Unterschied und besonders die zeitliche Verschiebung, die vom ‚monothetischen‘ Modell aufgehoben wird, nicht deshalb aufgenommen werden, wie Lévi-Strauss meint, weil dem ‚phänomenologischen‘ Bemühen um Rekonstruktion der Tauschpraxis Genüge getan werden muss, sondern weil der Gabentausch nur funktioniert, wenn die Wahrheit des objektiven Tausch‚mechanismus‘ individuell und kollektiv verkannt wird [. . .]. Erst durch die Zeitspanne zwischen Gabe und Gegengabe kann ein Tauschverhältnis, das stets Gefahr läuft, sich selbst und nach außen als umkehrbar, d. h. als zugleich pflichtschuldig und eigennützig zu erscheinen, als unumkehrbar wahrgenommen werden.“28 27

  Bourdieu, Sozialer Sinn, 192.   Bourdieu, Sozialer Sinn, 193.

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1.3  Die Verkennung der Reziprozität durch die Beteiligten

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Es ist nach Bourdieu gerade die Frage nach dem rechten Moment der Gegengabe, die den handelnden Subjekten eine große Zahl an Handlungsvarianten – und damit immer auch Deutungsvarianten der durch die Gabe hergestellten oder symbolisierten Beziehung – zur Verfügung stellt. Man kann den Anderen warten lassen, ihm Hoffnung machen, durch Überstürzung brüskieren, durch ein Heraus­ zögern das soziale Ansehen bei Dritten steigern u. a. m. Nach Bourdieu ist der Charakter von Gabe dementsprechend ein doppelter, sie habe „zwei Wahrheiten“,29 je nachdem, ob man die subjektive Perspektive des Gebenden und Empfangenden einnehme oder ob man sich in eine Beobachterperspektive begebe. Erscheine die Gabe den Beteiligten durchaus als großzügige, uneigennützige Geste, so müsse sie aus einer objektiven Perspektive als ein zielgerichteter Akt verstanden werden. Bourdieu macht deutlich, dass wechselseitige Gaben sowohl Beziehungen auf Augenhöhe stiften als auch Herrschaftsverhältnisse etablieren können, und betont, dass sowohl die durch Gaben gestiftete Beziehung unter Gleichen ein Herrschaftsmoment impliziere, als auch das durch Gaben überformte Herrschaftsverhältnis ein Moment wechselseitiger Anerkennung.30 Gaben dienten dazu, „symbolisches Kapital“ zu erwerben,31 wie Bourdieu das Ansehen, das Prestige und Charisma einer Person bezeichnet. In der Beziehung von Gleichen führe ein solches „symbolisches Kapital“ zu einem Vertrauens­ vorschuss, der sich für die betreffende Person auch ökonomisch positiv auswirken könne. Bei Herrschaftsverhältnissen dienten Gaben dazu, das Verhältnis zu einer affektiven Beziehung zu verklären und eine Bindung des Knechts an den Herrn entstehen zu lassen. Auch hier spricht Bourdieu davon, dass durch das Geben „symbolisches Kapital“ erworben werde,32 da es diese affektiven Bindungen seien, die dazu führten, dass Untergebene vertrauensvoll und mit innerer Hingabe gehorchten. Gegen den Vorwurf, sein Gabeverständnis sei letztendlich utilitaristisch geprägt, da das Handeln der Individuen eben nicht interessenfrei sei,33 auch wenn dies systematisch und kollektiv verschleiert und verkannt werde, macht Bourdieu zweierlei geltend: Er bezweifelt einerseits, dass das Handeln eines Menschen im überwiegenden Maße bewusst gesetzten Zielen folge, sondern geht davon aus, dass das menschliche Handeln zutiefst von einem erworbenen Habitus bestimmt werde. Wie ein Spieler, der die Spielregeln so verinnerlicht habe, dass sie sein Spiel 29

  Bourdieu, Praktische Vernunft, 164.   Bourdieu, Praktische Vernunft, 170. 31   Bourdieu, Praktische Vernunft, 170. 32   Bourdieu, Praktische Vernunft, 173. 33  Vgl. Caillé, Alain, Anthropologie der Gabe. Aus dem Französischen übers., hg. und eingel. v. Adloff, Frank / Papilloud, Christian, Frankfurt / M. 2008, 167. Sowie Miklautz, Elfie, Le don sans merci? Zur symbolischen Ökonomie der Gabe, in: Rosenberger, Michael / Reisinger, Ferdinand /  Kreutzer, Ansgar (Hg.), Geschenkt, umsonst gegeben. Gabe und Tausch in Ethik, Gesellschaft und Religion, Frankfurt / M. 2006, 135 – 151. 30

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1.  Diskurs 1: Charakter und Funktion des wechselseitigen Austauschs von Gaben

leiten, ohne dass er darüber nachdenken müsse, habe das Individuum aufgrund frühkindlicher Prägungen die Regeln und Ehrenkodizes seines Kollektivs so verinnerlicht, dass es sich in der Gruppe adäquat verhalte. „Das ganze Verhalten der Ökonomie des symbolischen Tausches, das doppelt ist ohne doppeltes Spiel, kann man nur erklären, wenn man sich von jener Theorie des Handelns lossagt, die das Handeln als ein Produkt eines intentionalen Bewusstseins versteht, eines expliziten Vorsatzes, einer expliziten Intention, die sich auf einen explizit als solchen gesetzten Zweck richtet (insbesondere den Zweck, den die objektive Analyse des Tausches ans Licht bringt). Die Handlungstheorie, die ich (mit dem Begriff Habitus) vorschlage, besagt letzten Endes, dass die meisten Handlungen der Menschen etwas ganz anderes als die Intention zum Prinzip haben, nämlich erworbene Dispositionen, die dafür verantwortlich sind, dass man das Handeln als zweckgerichtet interpretieren kann und muss, ohne deshalb von einer bewussten Zweckgerichtetheit als dem Prinzip des Handels ausgehen zu können [. . .]. So ist der Tausch von Gaben (oder Frauen, Dienstleistungen usw.), verstanden als das Paradigma der Ökonomie der symbolischen Güter, dem do ut des der ökonomischen Ökonomie insofern entgegengesetzt, als sein Prinzip nicht ein berechnendes Subjekt ist, sondern ein Akteur, der dazu disponiert ist, sich ohne Absicht und Berechnung in das Spiel einzulassen.“34

Andererseits betont Bourdieu, dass eine Gesellschaft durch eine Vielzahl sozialer Felder geprägt sei, in denen ganz Unterschiedliches als oberster Wert angesehen werde und das Streben ihrer Akteure präge. Es sei falsch anzunehmen, dass dieser oberste Wert immer die ökonomische Gewinnmaximierung sei.

1.4  Renaissance des Gabeverständnisses von Mauss 1.4.1 Alain Caillés „Anthropologie der Gabe“ und die groupe du MAUSS Die 1982 ins Leben gerufene groupe du MAUSS ist eine Assoziation sozialwissenschaftlicher Forscher aus dem französischen Sprachraum,35 die es sich zur Aufgabe gemacht haben, mit Hilfe der Arbeiten von Mauss die als jeweils zu einseitig empfundenen Handlungsparadigmen des normalistischen Holismus bzw. des ­utilitaristischen Individualismus zu überwinden.36 Das großgeschriebene MAUSS ist die Abkürzung für Mouvement Anti-Utilitarisme dans les Sciences Sociales (antiutilitaristische Bewegung in den Sozialwissenschaften). Seit 1987 gibt die Gruppe zur Verbreitung ihrer Thesen die Zeitschrift Revue du MAUSS heraus und bietet damit Autoren, die dem Utilitarismus kritisch gegenüberstehen, die Möglichkeit

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  Bourdieu, Praktische Vernunft, 167 f.   Zur MAUSS-Gruppe zählen Gerald Berthoud, Jean-Luc Bouleau, Alain Caillé, Jacques Dewitte, Jacques Godbout, Guy Nicolas, Philippe Rospablé und Dominique Temple. 36   Hier nimmt die MAUSS-Gruppe vor allem das Werk von Emile Durkheim und Talcott Parson, aber auch den Strukturalismus in den Blick. Der Holismus geht davon aus, dass die Strukturbeziehungen das Verhalten einzelner Elemente eines großen Ganzen vollständig bestimmen. 35

1.4  Renaissance des Gabeverständnisses von Mauss

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zur Veröffentlichung. „Spiritus Rector“ ist Alain Caillé,37 der einige seiner Aufsätze in dem Band „Anthropologie der Gabe“ zusammengefasst hat,38 der im Folgenden näher vorgestellt werden soll. 1.4.1.1  Der „Essai sur le don“ als Grundlage einer mehrdimensionalen Handlungstheorie Alain Caillé versucht, aufbauend auf den Arbeiten von Marcel Mauss und insbesondere auf dem „Essai sur le don“, ein drittes Paradigma der Sozialwissenschaften zu entwickeln, um auf diese Weise die Schwächen des Holismus und Individualismus zu umgehen. Dies sei möglich, weil nach Mauss das Kollektive und das Individuelle im selben, symbolisch vermittelten, beziehungsstiftenden Akt der Gabe entstünden, so dass keine der beiden Seiten in einen dominierenden Rang erhoben werde. Nach Caillé liegt die Schwäche sowohl des normativen Holismus als auch des Individualismus darin, dass sie eine Größe voraussetzten, deren Entstehung nicht geklärt werde. Die Frage nach der Art und Weise, wie das Kollektiv und seine das individuelle Verhalten bis ins Kleinste bestimmenden Normen entstehen, bleibe im Holismus offen. Auf der anderen Seite sei aus dem utilitaristischen Individualismus nicht wirklich zu erklären, wie ein Verzicht auf eigene Interessen, der zum Aufbau einer Gemeinschaft unabdingbar sei, zustande kommen könne. Um dies deutlich zu machen, greift Caillé das von Albert W. Tucker beschriebene Gefangenendilemma auf. Dieses beinhaltet, dass zwei gemeinsam angeklagte Gefangene von einem Richter separiert werden und beide unabhängig voneinander ein Angebot erhalten, wie sie eine Strafmilderung erreichen können. Dieses Angebot beinhalte dabei folgende Bedingungen: Denunzieren sich beide gegenseitig, erhalten beide jeweils eine vierjährige Gefängnisstrafe. Denunziert hingegen lediglich einer den anderen, käme der Denunziant frei und der Denunzierte erhielte eine Haftstrafe von acht Jahren. Eine jeweils einjährige Gefängnisstrafe erhielten die Angeklagten hingegen dann, wenn beide eine Denunziation unterließen. Aufgrund von rein rationalen Strategien müsste der Gefangene seinen Mitgefangenen verraten; zu einem Verhalten, das für beide vorteilhaft wäre, kämen die Gefangenen hingegen nur durch das Wagnis des Vertrauens in den Anderen, das auf eine Gegenleistung setzt. Ein solches Vertrauen, das, so Caillé, nach der Spieltheorie menschliches Handeln überhaupt erst ermögliche, stelle jedoch immer ein Risiko, einen Sprung ins Ungewisse dar. Und genau einen solchen Sprung ins Ungewisse stelle auch das Geben dar: es bedeute Verzicht mit der Hoffnung, aber nicht mit der Gewissheit auf eine Gegenleistung. Dieses Moment der Ungewissheit habe Mauss, anders als die Ethnologen, denen er sein Material verdanke und die die Gabe als primitive Form des Tausches interpretierten, deutlich erkannt. 37

  So bezeichnen Adloff und Papilloud Caillé in ihrem Vorwort zur „Anthropologie der Gabe“, vgl. Caillé, Anthropologie, 10. 38   Caillé, Anthropologie.

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1.  Diskurs 1: Charakter und Funktion des wechselseitigen Austauschs von Gaben

Besonders prägnant mache dies der Schluss des „Essai sur le don“ deutlich, in dem Mauss darauf hinweise, dass es keinen Mittelweg zwischen dem in der Gabe zum Ausdruck gebrachten vorlaufenden Vertrauen und einem Sich-Bekriegen gebe. Caillé ist davon überzeugt, dass Mauss’ Gabetheorie, anders als der utilitaristische Individualismus, dazu fähig ist, die Entstehung von wechselseitigen Beziehungen, aus denen sich dann gesellschaftliche Formen bilden, zu erklären, ohne indivi­ duelle Interessen zu leugnen, weil sie davon ausgehe, dass Menschen beim Geben das Risiko des Vertrauens eingehen. Caillé vertritt die These, dass man auf der Basis des „Essai sur le don“ und anderer Texte von Mauss zu einer „multidimensionalen Handlungstheorie“ gelangen könne,39 d. h. zu einer Theorie, die das Handeln einer Person auf verschiedene Faktoren zurückführe. Ihm zufolge gibt es bei Mauss vier solcher relevanten, zum Teil gegenläufigen und sich begrenzenden Faktoren: Verpflichtung und Freiheit, Eigeninteresse und Interesse am Anderen. Für letzteres führt Caillé den Begriff „aimance“ ein.40 Wie dieser Begriff allerdings genau zu füllen ist, bleibt vage. Caillé zeigt mit der Begriffswahl an, dass das Interesse am Anderen kein rein altruistischer Habitus ist, sondern aus einem Vergnügen an der Selbstdarstellung resultiert, der soziale Formen wie Freundschaft einen Rahmen bieten.41 In Bezug auf das Gegensatzpaar von Verpflichtung und Freiheit erläutert er, dass man bei der Gabe von einer bedingten Unbedingtheit sprechen müsse, da eine Gabe ohne Spontanität nicht möglich sei. Ihre beziehungsstiftende Funktion erfülle sie erst, wenn der Empfänger das Geschenk als nicht berechnend empfinde. Gleichzeitig stehe die Gabe aber immer unter dem äußeren Druck des Unfriedens, der Menschen in Koalitionen dränge. Insofern erfolge das Geben nicht bedingungs- und grundlos. „Die Verpflichtung des Gebens enthält eine immanente Paradoxie, weil sie letztlich bedeutet, spontan zu handeln. Eine rein obligatorische Gabe ist keine Gabe. Umgekehrt wäre eine rein spontane Gabe, die nicht motiviert wäre, sinnlos. Die Spannung zwischen Verpflichtung und Spontanität kann nicht aufgelöst werden. Sie zwingt jeden Menschen, um Mensch zu werden, die Verpflichtung spontan zu transzendieren (und umgekehrt), und bezeichnet damit die erste große konstitutive Opposition, aus der sich die elementare Struktur der positiven Gabe ergibt.“42

1.4.1.2  Das Verhältnis von Gabe und Opfer Die Auseinandersetzung mit Autoren wie Marc Rogin Anspach und Lucien Scubla, die davon ausgehen, dass die wechselseitige Gabe eine dritte, unabhängige Größe neben Geber und Empfänger brauche, die sie stabilisiere, und dementsprechend das durch Opfer begründete Verhältnis zu den Göttern als konstitutiv für 39

  Caillé, Anthropologie, 73.   Caillé, Anthropologie, 75. 41   Caillé, Anthropologie, 116. 42   Caillé, Anthropologie, 201. 40

1.4  Renaissance des Gabeverständnisses von Mauss

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die wechselseitige Gabe ansehen, drängt Caillé zu einer eigenen Verhältnisbestimmung zwischen Gabe und Opfer. Auch hierbei lehnt er sich an die von Mauss vertretenen Thesen an. In dem zusammen mit Henri Hubert verfassten „Essai sur la nature et la fonction du sacrifice“ aus dem Jahr 1898 war Mauss zu der Erkenntnis gelangt,43 dass das Opfer eine Möglichkeit der Kommunikation zwischen Profanem und Heiligem darstelle. „Das Verfahren baut eine Kommunikation zwischen der heiligen und der profanen Welt durch die Vermittlung eines Opfers, das heißt mittels eines Dings, auf, das während der Zeremonie zerstört wird.“44 Interpretiere man diese Erkenntnis im Lichte der Aussagen des „Essai sur le don“, so müsse man das Opfer, so Caillé, als Gabe an das Heilige verstehen, aufgrund derer eine Gegengabe erwartet werde.45 Caillé ist allerdings der Ansicht, dass beim Opfer im Vergleich zur Gabe sowohl das Moment der Unbedingtheit verstärkt sei – nämlich bis zur Opferbereitschaft – als auch das berechnende Interesse. Während Caillé die Gabe sehr wohl für ein anti-utilitaristisches Geschehen hält, schreibt er dem Opfer einen utilitaristischen Charakter zu. Den geschichtlichen Ursprung des Opfers vermutet Caillé in dem Aufkommen von Ackerbau und Viehzucht.46 Um das Opfer richtig zu begreifen, müsse man von den basalen Fragen ausgehen, wer hier Geber und Empfänger sei, was gegeben werde, welche subjektiven Ziele durch das Opfer verwirklicht werden sollen und welche objektiven Funktionen ihm zukommen. Grundfunktion des Opfers sei es gewesen, die Götter und Geister dazu aufzufordern, Wohlstand zu bringen. Dabei werde ihnen in einem Akt der Zerstörung genau das gegeben, was man von ihnen zurückerwarte. Caillé weist im Zusammenhang mit Tieropfern darauf hin, dass das Blut in vielen archaischen und antiken Kulturen als Sitz des Lebens angesehen wurde. Für Fruchtbarkeit und Leben, das von den Göttern erwartet wurde, sei man also bereit gewesen, symbolisch Leben zu geben. Eine weitere objektive Funktion des Opfers sieht Caillé darin, dass die Großzügigkeit im wechselseitigen menschlichen Geben zunehme. Dem Opfer sühnende, prophylaktische oder reparierende Funktionen zuzuschreiben, seien – historisch gesehen – hingegen erst jüngere Interpretationen des Opfergeschehens. Hinter dem Opfer stehe ein Weltverständnis, nach dem die Ordnung der Welt immer wieder durch Ausgleich hergestellt werden müsse. Grundgedanke des 43

  Hubert, Henri / Mauss, Marcel, Essai sur la nature et la fonction du sacrifice, in: Mauss, Marcel, Œuvres, Bd. 1, Paris 1968, 193 – 307. 44   Hubert / Mauss, sacrifice, 302, zitiert nach: Caillé, Anthropologie, 134. 45   Nach Caillés Einschätzung ist der Begriff des Heiligen zu nebulös, um sinnvoll mit ihm arbeiten zu können. Er verweist jedoch darauf, dass Hubert und Mauss unter dem Heiligen all das verstünden, was das betrachtende Subjekt oder Kollektiv in seiner Begrenztheit transzendiere. 46   Es sei darauf hingewiesen, dass Caillé sich ähnlich wie auch Hénaff vor dem Hintergrund ihres Mauss-Studiums dazu hinreißen lassen, dem Opfer einen ursprünglichen Sitz im Leben zuzuweisen, obwohl beide die starke religionswissenschaftliche Forschungslinie kennen, die davon ausgeht, angesichts der kulturell sehr unterschiedlich gelagerten Opferpraktiken könne nicht von einem allen Opfern gemeinsamen Kernanliegen ausgegangen werden.

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1.  Diskurs 1: Charakter und Funktion des wechselseitigen Austauschs von Gaben

Opferns sei es, dass es nur „über den Umweg des Todes möglich ist, zum Leben zu gelangen und lebenswichtige Energie zu sammeln, dass es nur unter der Bedingung, etwas zu verlieren, denkbar ist, etwas zu besitzen.“47 In Anlehnung an Georges Gusdorf kommt Caillé zu dem Schluss, dass der Opfernde im Opfer einen Teil für das Ganze anbiete; er trete einen Teil seines Wohlstandes an die Götter ab, um den Rest zu retten. 1.4.1.3 Verhältnisbestimmung von Gabe und Symbol Wie bereits dargelegt, begreift Caillé die Gabe als eine symbolgestützte Initiierung und gleichzeitige Inszenierung, die dem Ziel dient, Bindungen und Allianzen einzugehen bzw. zu erhalten. Doch er möchte es nicht bei der These bewenden lassen, dass es sich bei Gaben um Symbole handelt, sondern erweitert sie um die komplementäre These, dass Symbole Gabencharakter haben.48 Auch hier stützt er sich auf die Arbeit von Mauss, dessen Grundüberzeugung er folgendermaßen umreißt: „Im Grunde [. . .] sind Symbole und Gaben für Mauss wahrscheinlich identisch. Oder zumindest sind sie koexistent.“49 Caillé geht, um seine These zu plausibilisieren, von der griechischen Grundbedeutung des Wortes σύμβολον aus,50 das u. a. eine zerteilte Tonscherbe bezeichnete, die einen sich auf Reisen befindlichen, anklopfenden Fremden als Gastfreund der Familie ausgewiesen habe. Die zwei sich zusammenfügenden Teile der Scherbe symbolisierten die Freundschaft und stellten dadurch zugleich die Verbindung zwischen den sich bisher fremden Individuen der befreundeten Familien her.51 Folge man dieser Grundbedeutung, so käme dem Symbol ursprünglich eine verbindende Bedeutung zu, welche ja auch 47

  Caillé, Anthropologie, 125.   Caillé macht deutlich, dass für Mauss die Gemeinschaft nicht nur durch die von ihr geteilten Symbole und symbolischen Praktiken repräsentiert wird (so nach Caillé die These von Emile Durkheim), sondern dass das Teilen der Symbole, etwa durch die gemeinsame Teilnahme an einem rituellen Tanz o. ä., selbst die Gemeinschaft stiftet. Gerade diesen letzten Aspekt möchte Caillé meiner Wahrnehmung nach durch die These, dass es sich bei Symbolen um Gaben handele, herausstreichen. 49   Caillé, Anthropologie 46. 50   Hildegard Cancik-Lindemaier macht in ihrem Lexikonartikel deutlich, dass der Begriff ‚symbolon‘ (von συμβάλλειν – zusammenbringen, vergleichen, erschließen, interpretieren) wie sein Synonym σύνθημα für Erkennungs- und Beglaubigungszeichen aller Art stehen konnte, worunter die zerteilte Tonscherbe das prominenteste Beispiel sei. Platon habe die Prozedur der zerteilten Tonscherbe in seinem συμπόσιον das erste Mal metaphorisch gebraucht, vgl. Cancik-Lindemaier, Hildegard, Art. „Symbol / Symbole / Symboltheorien II“, in: RGG4 Bd. 7, Tübingen 2004, 1922 f. 51   Die Gastfreundschaft war in der griechischen und römischen Antike neben der Ehe die einzige institutionalisierte Form, um dauerhafte Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher verwandtschaftlicher oder politischer Gruppen zu initiieren, und umfasste eine Reihe von wechselseitigen Verpflichtungen wie die Gewährung von Schutz und Unterbringung auf Reisen oder die rechtliche Vertretung. Die Gastfreundschaft bezog sich in der Regel nicht nur auf die beiden Gastfreunde, sondern umfasste deren gesamte Familien, d. h. auch die nachfolgenden Generationen, vgl. Wilson, Walter T., Art. „Gastfreundschaft III“, in: RGG4 Bd. 3, Tübingen 2000, 475. 48

1.4  Renaissance des Gabeverständnisses von Mauss

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ein charakteristisches Merkmal von Gabe sei. In einer längeren Passage legt Caillé dar, inwiefern sich das Symbolverständnis von Mauss gegenüber dem seines Lehrers und Onkels Emile Durkheim abhebt, und macht deutlich, dass für Mauss alle Sozialformen letztlich auf Beziehungen beruhen, dass Gemeinschaft und Kommunikation bei ihm sehr eng zusammenrücken. Dies gelte auch für vertikale Beziehungen zwischen Mitgliedern einer Gruppe sowie für die Beziehung von Menschen zu den abstrakten Größen, die eine Totalität in ihrer Ganzheit symbolisieren (Staat, Menschheit etc.). Anders als Durkheim sei Mauss der Überzeugung, dass diese Beziehungen nicht einfach durch ein Netz wechselseitig aufeinander bezogener Symbole repräsentiert werden, sondern dass sie durch Symbole entstehen und sich erhalten: „Die Symbole stiften die Vereinbarung, sie gehören zur Illusion [. . .] und sind zugleich unmittelbar real, Schöpfer der Wirklichkeit selbst, das heißt der Gesellschaft.“52 Um ein vollständiges Bild zu zeichnen, müsse jedoch hinzugefügt werden, dass Symbole nur dann verständlich seien, wenn sie von einer Gruppe von Menschen geteilt werden, d. h. sie setzten die Beziehungen einer Gruppe voraus, die in ihnen ihre Einsichten und Beziehungen sprachlich oder bildlich verdichtet. „Symbole gibt es nur, insofern sie gegeben und geteilt werden.“53 Die Komplexität des Symbolischen tritt nach Ansicht Caillés noch deutlicher hervor, wenn man nicht nur die durch sie hervorgebrachten und in ihnen gespiegelten Beziehungen der Gegenwart betrachte, sondern mit einbeziehe, dass in der Vergangenheit entstandene Symbole diese Gegenwart wiederum mitbestimmten. Und Caillé gibt sich überzeugt davon, dass der „ererbte Symbolismus“, der sich „aus Gaben, Handlungen und Gemeinschaften der Vergangenheit speist“, nur dann „einen aktuellen Wert und Sinn“ produziere, „wenn er lebende Gaben und ein Bündnis zwischen den Lebenden weckt und hervorbringt.“54 Caillé schließt seine Reflexion zum Thema Gabe und Symbol mit der Annahme, dass es drei Ebenen des sozialen Miteinanders gebe: die mikrosoziologische Ebene der Allianz zwischen Personen, die mesosoziologische Ebene der Bündnisse zwischen Gruppen und das makrosoziologische Niveau der Verhältnisse von Personen und Gruppen zur symbolischen Totalität, die sie konstituieren. Der Operator der ersten Ebene sei die Gabe, der der zweiten Ebene die Assoziation, der der dritte Ebene das Politische. Caillé ist der Ansicht, dass „Symbole nur dann leben können, wenn sie eine der drei Operatoren repräsentieren, ihrer gedenken, sie verwirklichen und erneuern“.55

52

  Caillé, Anthropologie, 177.   Caillé, Anthropologie, 177. 54   Caillé, Anthropologie, 183. 55  Vgl. Caillé, Anthropologie, 197. 53

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1.  Diskurs 1: Charakter und Funktion des wechselseitigen Austauschs von Gaben

1.4.2  Die Interpretation des „Essai sur le don“ bei Marcel Hénaff und ihre Vertiefung bei Paul Ricœur 1.4.2.1  Marcel Hénaff: „Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie“ Unabhängig von der groupe du MAUSS hat der Philosoph und Ethnologe Marcel Hénaff eine Neuinterpretation des „Essai sur le don“ vorgelegt, die die Intentionen von Mauss und die Bedeutung seiner Arbeit in ein anderes Licht zu rücken beabsichtigt.56 Diese Interpretation ist eingebettet in einen Diskurs über die Frage, ob Geld eine in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen dominierende Stellung einnehme oder ob es Bereiche gebe, die so strukturiert seien, dass in ihnen zwar gegeben und zurückgegeben, aber nicht gekauft und verkauft werden könne, weil es sich bei dem, was weitergegeben werde, um Größen handele, denen man „keinen Preis“ zuschreiben könne.57 Hénaffs Untersuchungen gehen dabei von der These aus, dass es in den kapitalistischen westlichen Gesellschaften zu einer Dominanz der ökonomischen Sphäre gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Teilbereichen gekommen sei, und ihn treibt die Frage an, wie diese Dominanz zu erklären ist und wie Werte entstehen, die von dieser Dominanz unangetastet bleiben. Ähnlich wie bei Mauss, aber auch wie bei Caillé wird die Gabe dementsprechend zum Antipoden der Ökonomie. Anders als Caillé, dessen „Anthropologie der Gabe“ einen sehr viel kämpferischeren Ton anschlägt, legt Hénaff zunächst eine präzise, detaillierte Textanalyse des „Essai sur le don“ vor und widmet sich dann dem Versuch, nachzuzeichnen, wie sich durch die geschichtliche Veränderung von Lebenskontexten auch die Form der Gabe verändert und sich neben der wechselseitigen eine einseitige Form der Gabe herausbildet.58 Ausgehend von der Kritik Sokrates’ gegenüber den Sophisten wegen der Vergütung ihrer Lehre widmet sich Hénaff der Frage, ob es Lebensbereiche gebe, in denen das Geld als Entlohnung und damit zugleich als Bewertungsmaßstab inadäquat sei. Die Unterweisung des Sokrates, die ja gerade keine Weitergabe von vorgefertigtem Wissen war, sondern Mäeutik, Hilfestellung bei der Suche nach Wahrheit, betrachtet Hénaff zweifelsohne als eine solche, nicht durch einen Preis

56   Hénaff, Marcel, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, übers. v. Moldenhauer, Eva, Frankfurt / M. 2009. [La prix de la vérité. Le don, l’argent, la philosophie, Paris 2002] 57   Hénaff, PdW, 24. 58   Hénaff hat die Kritik (u. a. von Alain Caillé und Jacques Godbout), er habe eine Geschichte der ‚Gabe‘ schreiben wollen, die auf die Entwicklung der ‚reinen Gabe‘ ziele, zurückgewiesen. Vielmehr sei es ihm darum gegangen, die Kontextualität verschiedener Gabeformen herauszuarbeiten. In seinem Aufsatz „Métamorphoses du don: continuités et discontinuités. Réponses à Jacques Godbout“ stellt Hénaff klar, dass er selbstverständlich von einem zeitlichen Nebeneinander verschiedener Gabeformen ausgeht, vgl. Hénaff, Marcel, Métamorphoses du don: continuités et discontinuités. Réponses à Jacques Godbout, in: Revue du MAUSS 24 (2004), 441 – 450. Zu der Auseinandersetzung zwischen Hénaff und Caillé / Godbout, die in ihrer Forschung stärker die konstitutiven Elemente einer Gabe herausstellen als ihre Kontextualität, vgl. auch Hoffmann, Skizzen, 240 ff.

1.4  Renaissance des Gabeverständnisses von Mauss

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bemessbare Größe.59 Neben der Lehre des Philosophen nennt Hénaff aber auch das Werk des Künstlers als Beispiel für das, was „ohne Preis“ ist. Die Frage nach Lebensbereichen jenseits von ökonomischer Bemessung führt Hénaff zum Phänomen der Gabe, die seines Erachtens nicht dem Austausch von Gütern, sondern der wechselseitigen Anerkennung dient. In seinem Buchkapitel über die Gabe tritt Marcel Hénaff nicht nur dafür ein, verschiedene Formen von Gabe (zeremonielle Gabe, rituelles Opfer, reine Gabe, moralische Gabe) als koexistent zu betrachten und darauf zu verzichten, ein Gabephänomen zum Maßstab für die übrigen zu machen, sondern er unternimmt auch den Versuch, eine geschichtliche Entwicklung der verschiedenen Gabephänomene aufzuzeigen. Dabei lautet seine These, dass sich mit jeder grundlegenden Veränderung der sozialen Lebensform der Menschen, wie etwa der Sesshaftwerdung oder der Entstehung der Polis als sozialem Raum, auch die Form der Gabe ändere, da sich ihre soziale Funktion jeweils anpasse. Die gabetheoretische Analyse Hénaffs setzt dabei bei der Arbeit von Marcel Mauss zur zeremoniellen Gabe an, weil er diese für die ursprüngliche Form von Gabe hält. Er betont, dass der Gabentausch zwischen gleichwertigen Partnern erfolgt und die gebenden Häuptlinge als Repräsentanten ihrer jeweiligen Stammesgruppen handeln. Ziel der zeremoniellen Gabe sei es, Fremdheit zu überwinden, Beziehung durch Anerkennung zu schaffen und zu erhalten. „Wenn der Tausch mit einem Fremden erfolgt und die Gaben auf beiden Seiten akzeptiert werden, hört der Fremde auf, ein Fremder zu sein.“60 Dementsprechend umfasse eine Gabe immer zwei Aspekte, sie erkenne den Anderen als gleichwertig an und kommuniziere zugleich die implizite Bitte um ein wohlwollendes Aufeinanderzugehen, um ein Bündnis. Hénaff unterstreicht wie Mauss, dass sich der Geber in dem, was er gibt, persönlich aufs Spiel setzt. Der zirkulierende Gegenstand sei Pfand und Substitut, könne dies aber anders als beim Vertrag nur sein, insofern sich der Geber in der Sache selbst gebe. Verstehe man die zeremonielle Gabe in Anlehnung an Mauss als das Angebot und die Bitte von Anerkennung, so sei es evident, dass der Austausch von Gaben sowohl wechselseitig als auch öffentlich geschehen müsse. Dass sich die zeremonielle Gabe im Rahmen genau festgelegter Riten vollzieht, ist Hénaff zufolge auf das Wagnis zurückzuführen, das im Geben impliziert sei. Der regelgeleitete Ritus bilde hier für die Beteiligten einen gewissen Schutz. 59   In seiner Interpretation von Hénaffs Werk betont Ricœur, dass die Schwierigkeit, die Lehre des Philosophen monetär zu erstatten, in ihrem Bezug zur Wahrheit liege. Wahrheit könne nämlich nicht besessen werden, sondern man könne nur an ihr partizipieren, vgl. Ricœur, Paul, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, übers. v. Bokelmann, Ulrike / HerberSchärer, Barbara, Frankfurt / M. 2006, 292.[Parcours de la réconnaissance, Paris 2004] Katharina Bauer sieht in der sich im Verstehen vollziehenden Identitätsbildung die Größe, die keinen Geldwert als Äquivalenz gestattet, vgl. Bauer, Einander, 184. 60   Hénaff, PdW, 224 f.

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1.  Diskurs 1: Charakter und Funktion des wechselseitigen Austauschs von Gaben

Bei seiner Interpretation von Mauss’ „Essai sur le don“ präzisiert Hénaff einzelne Aspekte: Zunächst konstituiere die eröffnende Gabe kein Schuldverhältnis, sondern sei vielmehr als „ein Appell“ zu verstehen, der „beim Empfänger die Forderung einer Antwort“ auslöse.61 Der Gabentausch bleibe deshalb ein Geschehen zwischen zwei freien, gleichwertigen Partnern. Dementsprechend sei die Gegengabe auch keine Erwiderung, die ein Defizit ausgleiche, sondern eine neuerliche Gabe. „Es ist klar, dass sich diejenigen, die als erste gegeben haben, in der günstigen Position der Initiative befinden, die anderen in der passiven des Nutznießers; deshalb ist die Antwort so wichtig: Diese besteht nicht so sehr darin, die Gabe zu erwidern, als vielmehr seinerseits zu geben; nicht darin zu erstatten, sondern die Initiative des Gebens zu ergreifen.“62 Darüber hinaus interpretiert Hénaff das rituelle Opfer als zeremonielle Gabe an die Götter. Damit schließt er sich einem Opferbegriff an,63 der das Opfer als einen Kommunikationsprozess mit mindestens drei beteiligten Größen deutet: dem Opferndem, der Opfergabe und dem zu opfernden Gott. Das Moment der Gewalt reicht nach Hénaff ebenso wenig aus,64 um das zeremonielle Opfer zu beschreiben, wie das Moment des Verzichtes. Entscheidend für den Gabeprozess des Opferns sei es vielmehr, dass es sich um ein hierarchisches Verhältnis zwischen den Partnern des Gabetausches handele. Dabei sei es charakteristisch, dass das Opfer als das Moment der Gegengabe betrachtet werde. Der Opfernde stehe in einer Art Lebensschuld aufgrund der Gegebenheiten, die die Götter dem Menschen als Vorgaben seines Lebens zur Verfügung stellen. Angesichts dessen gelte es, im Opfer zurückzugeben. Aufgrund der Tatsache, dass es gerade im Bereich der Stammeskulturen von Jägern und Sammlern auch opferlose Gesellschaften gibt, schließt Hénaff, dass das rituelle Opfer ein Phänomen sei, das sich mit der Sesshaftwerdung und der Herausbildung der Agrarwirtschaft herausgebildet habe. Während die Jäger und Sammler ihre Umwelt als eine beseelte Welt betrachtet hätten,65 entwickele sich bei den Vieh- und Ackerbauern die Vorstellung eines transzendenten Götterpantheons. Da die Götter und Ahnen damit in eine größere Distanz rückten, habe das Opfer neben der oben beschriebenen Funktion die Aufgabe, die Kommunikation der so entzogenen Götter mit den Menschen herzustellen und für ein rechtes Verhältnis von Nähe und Distanz zu sorgen.

61

  Hénaff, PdW, 216.   Hénaff, PdW, 215. 63  Vgl. Hubert / Mauss, Essai sur la nature. 64   Hier wendet sich Hénaff u. a. gegen den Opferbegriff von René Girard. 65   Hénaff beschreibt, dass viele indigenen Stämme in den wilden Tieren Verkörperungen der Ahnen sahen und die Jagd von Ritualen begleitet seien, die den Respekt für die gejagten Tiere ausdrückten und deutlich machten, dass diese als Partner betrachtet würden. Hier verbleibe der Ahnenkult im Modus der zeremoniellen Gabe ebenbürtiger Partner. 62

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Schließlich macht Hénaff einen dritten Aspekt für das Zustandekommen der Opfer geltend. Die sesshaften Vieh- und Ackerbauern hätten mit ihrer Viehzucht und dem Anbau von Nutzpflanzen erstmals begonnen, selbst Leben zu reproduzieren. Dass dies jedoch ein göttliches Privileg sei, sei den Menschen deutlich gewesen. Deshalb gelte es im Opfer etwas von dem, was man produziert habe, an die Götter zurückzugeben. Dieses Opfer stelle eine Art Sühne für das Recht dar, Leben zu reproduzieren, das man sich genommen habe. Hierbei gehe es darum, eine angetastete Ordnung, ein grundlegendes Gleichgewicht wiederherzustellen. Gleichzeitig werde der erworbene Status der Menschen aber auch durch das Opfer bekräftigt. „Was genommen wurde, ist die Macht, das Leben zu reproduzieren, die Fähigkeit, die Menge der verfügbaren Lebewesen zu vermehren. Das Opfer scheint die Funktion zu haben, darauf hinzuwirken, dass die Götter diese Macht akzeptieren, indem man ihnen zeigt, dass man symbolisch darauf verzichtet: man opfert ihnen ein von Menschen produziertes Leben.“66 Wie bei der zeremoniellen Gabe konstatiert Hénaff auch beim rituellen Opfer zwei Phasen. Zunächst gehe es darum, die Lebensschuld der Menschen zu sühnen und den Göttern zurückzugeben. Erst dann könne der Mensch geben, um die Götter ihrerseits wieder zum Geben zu bewegen. In der Zerstörung der Opfergabe (Töten des Tieres, Verbrennen von pflanzlichen Gaben) sieht Hénaff den Zweck, die Götter zu einer Kompensation zu bewegen, andererseits macht er jedoch auch auf die Vorstellung aufmerksam, dass auf diese Art eine Möglichkeit des Zugangs zu der sonst unzugänglichen und der menschlichen Welt gänzlich entgegengesetzten Sphäre der Götter und Ahnen zu erlangen sei. In einem letzten Schritt widmet sich Hénaff dann der Vorstellung einer einseitigen Gabe, die er historisch als die jüngste Form von Gabe betrachtet. Die einseitige Gabe habe zwei Formen der Ausprägungen: zum einen als gnädige Zuwendung in einem hierarchischen Verhältnis, zum anderen als einseitige Hilfeleistung in Notsituationen. Hénaff nähert sich dem Phänomen der Gnade, indem er zunächst auf die Wortbedeutungen von χάρις (Vergnügen, das etwas bereitet, Zauber und Schönheit einer Sache, erwiesene Gunst, Wohltat) und gratia (Gefälligkeit, Wohltat ohne Gegenleistung) eingeht, um sodann Gnade als die unverdiente Gunst eines Höherstehenden zu charakterisieren, die nicht erwidert werden könne. Nach Hénaff hat sich die Vorstellung von Gnade etwa zeitgleich im alten Israel und in der griechischen Polis entwickelt. In beiden Fällen diente sie nach Hénaff dazu, in einer sozia­ len Krise eine Gruppe von Gleichen durch ein ideelles Band, nämlich der allen gemeinsam gewährten Gnade, zusammenzuschließen. „Wenn das gegenseitige Band, das sehr persönliche Band der Gabe und der Gegengabe nicht mehr institutionell gewährleistet ist, dann muss allen kollektiv eine Gabe gewährt werden, die

66

  Hénaff, PdW, 268.

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1.  Diskurs 1: Charakter und Funktion des wechselseitigen Austauschs von Gaben

von jedem anerkannt wird. Es bedarf einer Gunst ‚von oben‘, wie jene bedingungslose Gunst der Eltern für ihre Kinder es ist, eine Gunst, die die Nutznießer verbindet, ihnen vorausgeht, sie umfängt und sie auch dann zusammenhält, wenn sie nur noch sehr partiell darauf antworten können.“67

In Analogie zu dieser gnädigen Gabe des Höhergestellten entwickele sich die Vorstellung, dass es für den Einzelnen tugendhaft sei, freigebig zu geben und damit Hilfe in Not zu leisten. Hénaff zieht Seneca heran, um aufzuzeigen, wie sich der Gedanke, dass ein solches Geben selbstlos, absichtslos sein müsse, durchsetzt.68 Die innere Haltung werde für die Bewertung des Gebens maßgeblich. „Senecas Denken [. . .] zeugt überdeutlich vom Verschwinden der zeremoniellen Gabe. Die öffentlichen Gesten der Großzügigkeit werden mehr und mehr als eitle Prahlereien wahrgenommen; sie sind nicht länger geeignet, ein soziales Band zu knüpfen [. . .]. Daher die neue Forderung: die einseitige Gabe von jeder spektakulären Äußerung zu reinigen. Daraus ergibt sich genau die moralische Gabe als reine, allein durch die Absicht garantierte Gabe.“69

Allerdings sei ein philosophisches System, wie das von Seneca, zu schwach, um ein neues Gabeverständnis flächendeckend zu verbreiten. Anders sei dies, wenn es in ein vollständiges und machtvolles symbolisches System wie das Christentum eingebunden sei, durch das die Vorstellung von der ‚moralischen Gabe‘ als ‚reine‘ Form von Gabe die das Bewußtsein dominierende Form geworden sei. Nach Hénaff hat Jesus mit seiner Predigt von einer bedingungslosen Gabe an jedermann auf die soziale Zerrissenheit seiner Zeit reagiert. Paulus habe dieses Gabeverständnis dann noch einmal transformiert, indem er das ‚bedingungslose Geben‘ des Gläubigen als Ausdruck der Anteilhabe an Christus verstanden habe. Das mildtätige Geben des Gläubigen sei einerseits Antwort auf die göttliche Selbsthingabe in Christus, andererseits aber auch Ausdruck der Selbsthingabe an Gott. „Anthropologisch gesagt, kann man insofern von vollkommener Gabe sprechen, als das gemachte Geschenk der Geber in Person ist. Dennoch haben wir es nicht mit einer zeremoniellen Gabe der wechselseitigen Anerkennung zu tun, sondern mit dem System der Gnade in der hebräischen Bedeutung der Gunst – hen – und der griechischen Bedeutung der charis als Wohltat (was nur einer ihrer Aspekte ist). Die Gabe des Gläubigen ist zuerst die Gabe seiner selbst durch den Glauben, die Geste absoluten Vertrauens. Allein der Glaube öffnet den Raum der Mildtätigkeit. Die Gabe seiner selbst sowie jede dem Nächsten zukommende Gabe hat nur ausgehend von der empfangenden Gabe aus Sinn oder ist vielmehr nur von ihr aus möglich, von jener göttlichen Gabe, die Christus selbst ist“70

Der Glaube dränge den Gläubigen zu mildtätigen Werken als Reflex auf die erste empfangene Gabe Gottes. Auch im Falle des Christentums entstehe durch die 67

  Hénaff, PdW, 374.  Vgl. Senenca, De beneficiis. 69   Hénaff, PdW, 406. 70   Hénaff, PdW, 408. 68

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allen Christen gleichermaßen gewährte Gabe ein soziales Band, das Menschen ganz unterschiedlicher Schichten und Ethnien zusammenfüge. Hénaff kritisiert, dass der Protestantismus die Idee der Gnade in einem solchen Maße verabsolutiert habe, dass dem Menschen jeder Handlungsspielraum entzogen werde und er nichts mehr für sein Heil tun könne. Eine solche Ausformung der Vorstellung von Gnade rücke Gott in eine unendliche Ferne: „Schließlich läuft das Denken der Gnade, so wie es sich in der Predigt Luthers und Calvins radikalisiert hat, darauf hinaus, die Geste des einzigen Gebers so absolut zu setzen, dass jede menschliche Antwort als eitel oder anmaßend gilt. Gott gibt man nichts zurück. Er braucht uns nicht. Seine Geste ist allzu groß. Die menschliche Großzügigkeit – die ‚Werke‘ – verliert damit ihre Berechtigung. Diese Transzendenz der einzigen Gabe bedeutet eine radikale Scheidung, sie reißt einen unüberwindbaren Graben auf zwischen der göttlichen Gabe und der möglichen Antwort der Menschen. Sie instituiert eine bemerkenswerte – oder schreckliche (so sieht es Pascal) – göttliche Gabe.“71

Für die Moderne zeichnet Hénaff schließlich folgendes Bild: In modernen Gesellschaften könne es die Gabe insofern nicht mehr als ein „fait social total“ geben, als die Anerkennung einer Person als Person (mit garantierten Freiheitsrechten) vom Recht übernommen werde. Die Gabe als beziehungsstiftendes Element sei auf den Bereich der Primärbeziehungen beschränkt. Doch auch in dieser Beschränkung sei ihre gesellschaftliche Funktion nicht zu unterschätzen, da sie maßgeblich zur Solidarität zwischen Menschen beitrage. Das emotionale Band zwischen Menschen könne von keinem rechtlichen Rahmen erzeugt werden, lasse das menschliche Zusammenleben jedoch erst sinnhaft werden. Für die Verhältnisbestimmung von Gabe und Ökonomie, die den Ausgangspunkt der umfangreichen Untersuchungen Hénaffs bildete, kommt Hénaff zu dem Schluss, dass Gabe und Ökonomie zu Recht einander entgegengestellt würden, da durch die Gabe genau das zugesprochen und bekundet werde, was in der Tat für die Ökonomie unantastbar bleiben müsse: die Würde eines Menschen. 1.4.2.2  Paul Ricœur: „Wege der Anerkennung“ Paul Ricœur platziert seine Auseinandersetzung mit dem Thema Gabe in einen anderen Zusammenhang als Hénaff, wobei auch bei ihm der Unterschied zwischen Ökonomie und Gabe eine wesentliche Rolle spielt, um den wahren Charakter der Gabe freizulegen.72 Hénaff hatte ja bereits ausgeführt, dass Gaben Anerkennung bezeugen und transportieren können. Von dieser These ausgehend verknüpft Ricœur seine Überlegungen zum Thema ‚Gabe‘ mit dem gesellschaftlichen Kampf um ‚Anerkennung‘, wobei die Gabe für ihn einen Gegenpol zu diesem Kampf darstellt. Das Thema der wechselseitigen Anerkennung ist eines 71

  Hénaff, PdW, 442 f.   Ricœur, Paul, WdA.

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1.  Diskurs 1: Charakter und Funktion des wechselseitigen Austauschs von Gaben

von drei Themen, die Ricœur in seiner Auseinandersetzung um die Bedeutungen des französischen Wortes ‚réconnaissance‘ behandelt. Ricœur unterscheidet drei Arten der Anerkennung: Zum einen die Anerkennung als Identifizierung von etwas als etwas, zum anderen die Anerkennung als ein sich selbst Erkennen und drittens, die Anerkennung als wechselseitige Anerkennung. Er betont dabei, dass diese drei Hauptbedeutungen von ‚réconnaissance‘ nicht einfach bezugslos nebeneinanderstehen, sondern einander teils implizieren, teils beeinflussen.73 So ist beispielsweise Selbsterkenntnis stets auch ein Akt der Identifikation, und sie bedarf immer auch der Anerkennung von außen. Ferner betont Ricœur in allen drei Abhandlungen, dass ‚réconnaissance‘ in all ihren Formen einen Bezug zur Alterität aufweise und stets von ‚méconnaissance‘, d. h. von Verkennen oder Verweigerung von Anerkennung begleitet sei.74 In seinen Überlegungen zur Anerkennung als wechselseitiger Anerkennung geht Ricœur auf die Arbeit von Axel Honneth „Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte“ ein.75 Ricœur misst dem AnerkanntWerden durch andere eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Identitätsfindung des Einzelnen bei: „Anerkannt werden, wenn es denn jemals geschieht, hieße für jeden, dank der Anerkennung seines Reiches von Fähigkeiten durch andere die vollständige Gewissheit seiner Identität zu erlangen.“76 Dem durch die Verweigerung von Anerkennung angetriebenen Kampf stellt Ricœur die Erfahrung gelungener Anerkennung im Gabegeschehen gegenüber. Diese mögliche Erfahrung nennt er „Friedenszustände“ oder auch „Lichtungen“,77 um deutlich zu machen, dass es sich dabei um zeitlich begrenzte Momente handelt, die den oben beschriebenen Kampf unterbrechen. Diese Unterbrechungen hätten jedoch eine immens hohe Bedeutung, da sie Hoffnungsspielräume eröffneten. Die reale Erfahrung von Anerkennung im Gabegeschehen garantiere den am Kampf um Anerkennung Beteiligten, dass das, wonach sie streben, keine Illusion sei. Sie verhindere, dass sich bei ihnen zwangsläufig ein „unglückliches Bewusstsein“ einstelle,78 weil sich ihnen ihr Anspruch auf Anerkennung als niemals zum Ziel führende Suche erweise. Dass die Erfahrung vollzogener Anerkennung immer nur eine punktuelle Erfahrung sein kann, hängt nach Ricœur auch mit dem paradoxen Charakter der wechselseitigen Gabe zusammen: „Die Erfahrung der Gabe ist jen-

73   Ricœur, WdA, 9 – 42. Ricœur konstatiert darüber hinaus zwischen den drei Bedeutungen von Anerkennung einen Umschwung bezüglich der Aktivität des Subjekts. In den ersten beiden Formen von Anerkennung handele das Subjekt aktiv, in der dritten Form bitte es um Anerkennung und sei passiv darauf angewiesen, dass sie gewährt werde. 74  Vgl Ricœur, WdA, 317 – 325. Im Hinblick auf die wechselseitige Gabe hier besonders: 321 ff. 75   Honneth, Axel, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt / M. 82014. 76   Ricœur, WdA, 310. 77   Ricœur, WdA, 274 ff. u. 305. 78   Ricœur, WdA, 273.

1.4  Renaissance des Gabeverständnisses von Mauss

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seits ihres symbolischen, indirekten, seltenen, ja Ausnahmecharakters nicht von der Last potentieller Konflikte zu trennen, die mit der produktiven Spannung zwischen Großherzigkeit und Verpflichtung zusammenhängen.“79 Ricœur geht in der Analyse des Phänomens der ‚Gabe‘ von einer Unterscheidung zwischen ‚wechselseitiger‘ und ‚reiner‘ Gabe aus, die er allerdings nicht so betitelt, sondern unter den Gegensatz von ‚Gerechtigkeit‘ und ‚ἀγάπη‘ fasst. Die ἀγάπη sei insofern die stärkste Anfrage an den Gabecharakter wechselseitiger Gaben, als es ihr ureigenstes Begehren sei, zu geben, ihr aber das Denken in Äquivalenzen, das dem gegenüber die Gerechtigkeit ausmache, fremd sei und sie deshalb keine Gegengabe kenne: „Die Agape hingegen macht das Sichbeziehen auf Äquivalenzen sinnlos, weil sie weder Vergleich noch Kalkül kennt.“80 Andererseits müsse sich die Realität der ἀγάπη, die immer wieder gern als Illusion oder Utopie abgetan werde, gerade im Auf-den-Fremden-Zugehen, für das die wechselseitige Gabe ein probates Mittel sei, erweisen. Dementsprechend formuliert Ricœur die pointierte These: Auch im ‚wechselseitigen Gabetausch‘ gebe es ideal­ typischerweise ein Moment der Uneigennützigkeit und Selbstvergessenheit, ein Moment des Um-des-Anderen-willen, eine Spur von ἀγάπη. Und dieses Moment der Agape in der ‚Wechselseitigkeit‘ des Gabentausches sei es, das ihn von einem systematischen Zirkulieren, wie es sich Lévi-Strauss oder Anspach vorstellten, von der Reziprozität der ‚Gegenseitigkeit‘, unterscheide.81 Um, wie er sagt, den Unterschied zu einer Interpretation des Gabentausches als Form der wechselseitigen Anerkennung zu markieren, geht Ricœur im Folgenden auf die Interpretation der Gabe durch Mark Rogin Anspach ein,82 die er dezidiert als Beispiel für eine durch die Vorstellung von ‚zirkulierender Gegenseitigkeit‘ geprägte Interpretation ansieht. Würdigend hebt Ricœur hervor, dass die ‚Theorie der Gegenseitigkeit‘ es erlaube, eine ganze Reihe von Phänomenen zu erklären, wie etwa die Rache, die Gabe und auch den Markt. Es gebe also zerstörerische und segensreiche Kreisläufe und die Frage stelle sich, wie man von dem einen zu dem anderen gelangen könne. Ricœur setzt mit seiner Kritik an der Vorstellung der ‚Gegenseitigkeit‘ bei der Feststellung an, dass bei einem segensreichen Gabezyklus die Menschen ein Interesse an dessen ungebrochener Fortsetzung hätten, auch wenn er sich quasi wie ein Strom von selbst fortsetze. Diesem Interesse korrespondiere ein Vertrauen in den Fortgang des Geschehens. Und die Tatsache, dass Vertrauen in den Anderen notwendig sei, um das Zirkulieren von Gaben zu gewährleisten, zeige, dass es sich dabei – anders als bei einem automatischen Vorgang – keineswegs um ein risikofreies Geschehen handele. 79

  Ricœur, WdA, 305.   Ricœur, WdA, 276. 81   Ricœur nutzt das Begriffspaar „Gegenseitigkeit“ versus „Wechselseitigkeit“, um den Unterschied zwischen einer strukturalistischen Interpretation und einer Interpretation der Gabe als Form der Anerkennung deutlich zu machen, vgl. Ricœur, WdA, 284. 82   Anspach, Revanche. 80

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1.  Diskurs 1: Charakter und Funktion des wechselseitigen Austauschs von Gaben

Ricœur sieht den Fehler einer Interpretation des Gabentausches als ‚Gegenseitigkeit‘ darin, dass zugunsten der neutralen Beobachterperspektive die Per­ spektive der handelnden Personen vorschnell preisgegeben werde. Hénaffs Interpretation, von der Ricœur sagt, dass sie ihm die Interpretationslinie der Gabe als Ausdrucksform von Anerkennung gewiesen habe, zeichne sich dadurch aus, dass der synthetisierende Blick aufgegeben und Gabe und Gegengabe als zwei souveräne Handlungen betrachtet, dass sie als Aktionen zwischen freien, nicht austauschbaren Individuen gewertet würden: „Die gedankliche Revolution, die Hénaff vorschlägt, besteht nun darin, den Akzent von der Beziehung weg auf den Spender und Empfänger zu verschieben, den Schlüssel des Rätsels in der Wechselseitigkeit des Tausches zwischen den Protagonisten zu suchen und diese beiden gemeinsame Operation schließlich wechselseitige Anerkennung zu nennen. Das ursprüngliche Rätsel der in der Sache selbst vermuteten Kraft löst sich, wenn man das gegebene und wiedergegebene Ding als Unterpfänder und Substitute des Anerkennungsprozesses sieht, als Unterpfand des Engagements des Spenders in der Gabe, als Substitut des Vertrauens darauf, dass die Geste des Erwiderns stattfinden wird. Dann würde die Eigenheit der Anerkennungsbeziehung ihre Bedeutung allem mitteilen, was man Geschenk nennt.“83

Nach Ansicht Ricœurs ist in der bisherigen Debatte der Fokus viel zu sehr auf die Erwiderung der Gabe gelegt worden, und dabei seien die Momente des Gebens und des Empfangens unterbelichtet geblieben. Die Geste des Gebens stelle eine ‚Bewegung auf den Anderen zu‘ dar, ein Entgegenkommen, das wegen des Risikos einer Ablehnung der Gabe den Charakter eines Wagnisses habe. Und dies umso mehr, als sich in einer Gabe – wie Mauss richtig hervorgehoben habe – der Geber immer auch ein Stück weit selbst gebe. Der Geber präsentiere sich durch seine Gabe dem Anderen. Angesichts dieses Risikos habe die erste Gabe den Charakter eines Appells oder eines Angebots an den Empfänger. Ricœur geht davon aus, dass ideal­ typischerweise – d. h. wenn die Gabe nicht instrumentalisiert oder missbraucht werde – die Intention des Gebers nicht auf die Gegengabe gerichtet sei, sondern er diese zeitlich verzögerte, immer mit dem Risiko des Ausbleibens behaftete Erwiderung geradezu aus dem Blick verliere. Insofern sei auch dem anfänglichen Geben des Gabentausches ein Moment der uneigennützigen Großzügigkeit eigen, den die ἀγάπη kennzeichne.84 Die Gegengabe, so stellt Ricœur in Anlehnung an Hénaff heraus, sei als eine „zweite erste Gabe“ zu betrachten.85 „Im Zeichen der Agape muss man statt von einer Verpflichtung zur Gegengabe von der Antwort auf einen Appell sprechen, der von der Großzügigkeit der anfänglichen Gabe ausgeht.“86 83

  Ricœur, WdA, 294.   Auch im Hinblick auf die Anerkennung geht Ricœur nicht von einem intentionalen Verhalten des Gebers aus, da er prinzipiell der Meinung ist, dass sich die wechselseitige Anerkennung durch und durch im symbolischen Akt vollziehe, ohne auf einer Metaebene noch einmal von den Akteuren reflektiert zu werden. 85   Ricœur, WdA, 301. 86   Ricœur, WdA, 302. 84

1.4  Renaissance des Gabeverständnisses von Mauss

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Sei man gewillt, Gabe und Gegengabe als zwei voneinander separierte Akte zu betrachten, komme dem zwischen diesen Akten liegenden Moment des Empfangens eine besondere Bedeutung zu. Für die Art des Empfangens sei nämlich entscheidend, wie der mit der Gabe verbundene Appell, die mit ihr verbundene Verpflichtung empfunden werde. Dabei komme der Dankbarkeit eine entscheidende Stellung zu: „Die Dankbarkeit macht die Last der Verpflichtung zur Gegengabe leichter und orientiert diese auf eine Großherzigkeit, die derjenigen gleicht, die zur ersten Gabe geführt hat.“87 Die Dankbarkeit sei es, was Gabe und Gegengabe voneinander separiere und zu zwei eigenständigen Akten mache, und zwar, weil der Blick der Dankbarkeit auf die empfangene Gabe gerade unfähig sei, diese Gabe zu taxieren. Die Dankbarkeit messe einer Gabe einen anderen und höheren Wert zu, als ihr als Gebrauchsgegenstand zukäme: sie habe für den dankbaren Menschen eine Bedeutung, die nicht durch eine Äquivalenzleistung ausgeglichen werden könne. „Im Reich der Dankbarkeit sind der Wert der ausgetauschten Geschenke und der Warenpreis inkommensurabel. Das ist der Niederschlag des ‚ohne Preis‘ im Austausch von Gaben.“88 Wenn ein Mensch erkenne, dass das, was er empfängt, gar nicht äquivalent zurückgegeben werden könne, werde er frei, ­seinerseits zu geben, anstatt zurückzuerstatten. Ein weiteres Moment der „Ungenauigkeit“, das das durch Dankbarkeit bestimmte ‚wechselseitige‘ Geben vom einem ‚ökonomischen Handel‘ unterscheide, sei die Unbestimmtheit des rechten Kairos für eine Gegengabe.89 Wie oben beschrieben, stellt Ricœur in allen drei Erörterungen über die Bedeutung von ‚réconnaissance‘ eine Beziehung zur ‚méconnaissance‘, zum Verkennen her. Im Hinblick auf die Gabe bestehe die Gefahr des Verkennens darin, die Asymmetrie zwischen dem gebenden Ich und dem Anderen zu vergessen, die trotz der Gabe erhalten bleibe. Die Gabe mache gerade die Anerkennung des Anderen als solchen deutlich, der dem Ich letztlich entzogen bleibe. Die Gefahr des Verkennens dieser Asymmetrie sei gleichbedeutend mit den Gefahren, die Verschmelzungstendenzen in sich bergen. „In dem ‚zwischen‘ im Ausdruck ‚zwischen den Tausch-Protagonisten‘ verdichtet sich die Dialektik der Asymmetrie zwischen Ich und anderen und der Wechselseitigkeit ihrer Beziehungen. Und seine volle Bedeutung erhält dieses ‚zwischen‘ erst, wenn die Asymmetrie beim Gabentausch in die Wechselseitigkeit aufgenommen ist.“90 In seinen Schlussüberlegungen grenzt Ricœur die Gabe noch einmal gegen eine andere Art von Verpflichtung ab, nämlich gegen die moralische Verpflichtung, karitativ zu handeln. Karitatives Handeln sei unabdingbar, um „Lücken der Verteilungs- und Umverteilungsgerechtigkeit zu stopfen“.91 Die wechselseitige Gabe 87

  Ricœur, WdA, 303.   Ricœur, WdA, 303. 89   Ricœur, WdA, 303. 90   Ricœur, WdA, 324. 91   Ricœur, WdA, 304. 88

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1.  Diskurs 1: Charakter und Funktion des wechselseitigen Austauschs von Gaben

habe jedoch einen grundsätzlich anderen Charakter. Ihr komme der Charakter eines Festes zu, wie die rituellen und zeremoniellen Anordnungen, die der Gabentausch annehmen könne, zeigen. Dabei meint Ricœur mit ‚Festcharakter‘, dass es sich bei wechselseitigen Gaben um Ausnahmemomente handelt, um Unterbrechungen, die sich nicht institutionalisieren lassen. Indem diese Unterbrechungen ein Jenseits der „Äquivalenz-Gerechtigkeit“ im Sinne der ἀγάπη aufzeigten, seien sie, wie oben beschrieben, als dynamisierende Hoffnungsmomente anzusehen.92

1.5  Zusammenfassung und Würdigung von Diskurs 1 Überblickt man den unter der Überschrift „Diskurs 1“ dargestellten Diskursstrang, so lässt sich dieser als eine Entfaltung und Präzisierung dessen verstehen, was im „Essai sur le don“ von Mauss angelegt ist. Bereits Mauss hat deutlich gesehen, dass die wechselseitige Gabe der Etablierung und Erhaltung sozialer Strukturen dient. Die Frage, wieso einem Gabevorgang dieses beziehungsstiftende und erhaltende Potential zukommt, beantwortet Mauss in mehrfacher Hinsicht. Zum einen betont er die Ehrerbietung, die eine Gabe zum Ausdruck bringt, zum anderen ihren verpflichtenden Charakter, vor allem aber weist er auf die bestehende Verknüpfung zwischen Geber und gegebener Sache hin. Auch wenn die von Mauss in Anlehnung an die Darstellungen der Maori entwickelte These von dem der Sache innewohnenden hau nicht frei von einer magischen Tendenz ist, so ebnet Mauss’ Darstellung, die darauf abzielt, dass sich der Geber mit der gegebenen Sache ein Stück weit selbst gibt, doch den Weg für die Interpretation des Gabentausches als ‚symbolgestützte Kommunikation‘ in der jüngeren Forschung. In der Arbeit von Bourdieu wird stärker als bei Mauss, bei dem dies allerdings auch immer wieder durchscheint, deutlich, dass der Austausch von Gaben nicht nur ebenbürtige Beziehungen generiert, sondern durch ihn auch Hierarchien festgeschrieben werden können. Die Interpretation des Gabentausches als ‚symbolgestützte Kommunikation‘ bei Caillé und Hénaff lässt einerseits die handelnden Akteure mit der Vielfalt ihrer Handlungsoptionen stärker in den Blick treten als dies bei Mauss der Fall ist, andererseits erklärt die Charakterisierung des Gabentausches als Kommunikationsakt die Notwendigkeit des wechselseitigen Gebens, denn die Eröffnung einer Kommunikation zielt auf Antwort. Eine entscheidende gedankliche Weiterentwicklung der Theorie von Mauss nimmt meines Erachtens Hénaff vor, indem er den Hinweis von Mauss, dass Gaben Ehrerbietung darstellen, dahingehend präzisiert, dass er darauf hinweist, dass sie Anerkennung ausdrücken. Ricœur schließlich kommt das Verdienst zu, den Diskurs über die Gabe und den Dis-

92

  Ricœur, WdA, 305.

Exkurs: Der Begriff der Anerkennung

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kurs über das Thema ‚wechselseitige Anerkennung‘ miteinander ins Gespräch zu bringen, wodurch beide Diskurse eine entscheidende Vertiefung erfahren. Für das Nachdenken über das Thema ‚Gabe‘ besteht dieser Gewinn darin, dass über die Verknüpfung mit dem ‚Anerkennungsbegriff ‘ die entscheidende Bedeutung von Gaben für die sozial vermittelte Konstitution von Subjektivität und Konstruktion von Identität in den Blick kommt. Und für den ‚Anerkennungsdiskurs‘ ist die Verknüpfung insofern gewinnbringend, als deutlich wird, dass gelungene Anerkennung nicht lediglich eine Utopie ist, sondern in den Gesten der Gabe einen Ort hat, an dem sie von Menschen real erlebt wird, wenn auch immer nur punktuell.

Exkurs: Der Begriff der Anerkennung Ein entscheidendes Verdienst der Interpretation des „Essai sur le don“ durch Hénaff besteht darin, dass er die ‚wechselseitige Gabe‘ als Angebot und gleichzeitige Bitte um Anerkennung wertet. Die Frage jedoch, was unter Anerkennung zu verstehen ist, erörtert er nicht umfassend, sondern die Antwort darauf erschließt sich dem Leser primär aus dem Kontext. Bei seiner Analyse der ‚wechselseitigen Gabe‘ wird deutlich, dass er unter ‚Anerkennung‘ die Anerkennung des Anderen als gleichwertiges und damit der Gemeinschaft würdiges Gegenüber versteht. Die These, dass der ‚wechselseitige Gabentausch‘ heute kein fait social total mehr sein könne, weil die Garantie bestimmter Rechte der Menschen durch das Gesetz übernommen werde, macht deutlich, dass für Hénaff die durch die Gabe markierte ‚Anerkennung als gleichwertig‘ in den archaischen Gesellschaften gleichbedeutend damit war, die Legitimität bestimmter Ansprüche des Anderen zu akzeptieren und ihm bestimmte Rechte einzuräumen. Auch wenn die Gabe heute diese Aufgabe verloren habe, so sorge sie doch für eine Anerkennung, „in der sich die unschätzbare Würde eines jeden zeigt.“93 Mit dieser Formulierung akzentuiert Hénaff den Begriff ‚Anerkennung‘ noch einmal neu, nämlich als eine grundsätzliche Bestätigung der Personalität eines Menschen. Bereits der Blick auf die Verwendung des Begriffs ‚Anerkennung‘ durch Hénaff macht deutlich, dass er mit einer Vielzahl von Bedeutungen belegt werden kann. Die Verwendung dieses Begriffs bei Ricœur zeigt ähnliches. Lässt man die erkenntnistheoretischen und identitätstheoretischen Erwägungen Ricœurs außer Acht und beschränkt sich auf seine Ausführungen zur intersubjektiven Anerkennung, so kommen allein hier Akzentuierungen des Begriffs in den Blick, die bei Hénaff so nicht auftauchen. Ricœur fokussiert sich nämlich auf die soziale Anerkennung der Fähigkeiten eines Menschen. Diese betrachtet er als Grundlage für das Selbstverständnis eines Menschen. Allerdings formuliert er es als offene Frage, ob eine vollständige Anerken-

93

  Hénaff, PdW, 595.

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1.  Diskurs 1: Charakter und Funktion des wechselseitigen Austauschs von Gaben

nung der Fähigkeiten eines Menschen durch andere jemals vollzogen wird und ob ein Mensch dementsprechend jemals vollständig seiner selbst gewiss wird. Ein anderer Aspekt, den Ricœur unter dem Einfluss von Emmanuel Lévinas formuliert, ist es, dass Anerkennung eines anderen Menschen bedeute, seine Entzogenheit und bleibende Fremdheit zu akzeptieren und zu bejahen. Der Blick auf die Ausführungen von Hénaff und Ricœur hat die Vielschichtigkeit des Anerkennungsbegriff bereits angedeutet. Um diese präziser beschreiben und analysieren zu können, soll im Folgenden der Anerkennungsbegriff von Axel Honneth mit dem Anerkennungsbegriff von Thomas Bedorf kontrastiert werden.94 Ziel ist es, den Facettenreichtum des Begriffs noch weiter aufzufächern, um dann im dritten Teil dieser Arbeit im Hinblick auf das Abendmahl genauer differenzieren zu können, von welcher Art von Anerkennung die Rede ist. Axel Honneth geht davon aus, dass es verschiedene Ermöglichungsfaktoren gibt, die die Voraussetzung dafür bilden, dass Menschen eine individuelle Selbstverwirklichung möglich ist, wobei er unter Selbstverwirklichung „die ungezwungene Realisierung von selbstgewählten Lebenszielen“ versteht.95 Diese Voraussetzungen verortet Honneth im Anschluss an Hegel und Mead im zwischenmenschlichen Bereich und subsumiert sie unter dem Begriff ‚Anerkennung‘: „Die verschiedenen Muster von Anerkennung, die bei Hegel voneinander abgehoben worden waren, lassen sich als die intersubjektiven Bedingungen begreifen, unter denen menschliche Subjekte zu jeweils neuen Formen der positiven Selbstbeziehung gelangen können. Der Zusammenhang, der zwischen der Erfahrung von Anerkennung und dem Sichzusichverhalten besteht, ergibt sich aus der intersubjektiven Struktur der persönlichen Identität: die Individuen werden als Personen allein dadurch konstituiert, dass sie sich aus der Perspektive zustimmender oder ermutigender Anderer auf sich selbst als Wesen beziehen lernen, denen bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten positiv zukommen. Der Umfang solcher Eigenschaften und damit der Grad der positiven Selbstbeziehung wächst mit jeder neuen Form von Anerkennung, die der einzelne auf sich selbst als Subjekt beziehen kann.“96 Hon94  Vgl. Honneth, Axel, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt / M. 82014; Bedorf, Thomas, Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik, Berlin 2010. Es wurde auf diese beiden Positionen zurückgegriffen, weil sie Einfluss auf zwei der Autoren haben, die in der vorliegenden Arbeit eingehender besprochen werden. Der dritte Teil von Ricœurs Buch „Wege der Anerkennung“ ist eine intensive Auseinandersetzung mit Honneths Buch „Kampf um Anerkennung“, vgl. Ricœur, WdA, 234 ff. Veronika Hoffmann greift in ihren Überlegungen zum Abendmahl, die im zweiten Teil dieser Arbeit dargestellt werden, auf den Anerkennungsbegriff von Bedorf zurück, vgl. Hoffmann, Skizzen, 320 f. Es sei darauf hingewiesen, dass sich Honneth in späteren Schriften noch einmal in anderer Weise dem Thema ‚Anerkennung‘ annähert, etwa in seinem Buch „Verdinglichung“, vgl. Honneth, Axel, Verdinglichung, Frankfurt / M. 2005. Hier setzt er sich mit Georg Lukács, Martin Heidegger und John Dewey auseinander und kommt zu der These, dass Anerkennung durch ein vorlaufendes Sich-durch-Dinge-oder-Personen-involvierenLassen geschehe. 95   Honneth, Anerkennung, 278. 96   Honneth, Anerkennung, 277 f.

Exkurs: Der Begriff der Anerkennung

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neth weist im Anschluss an Hegel drei Formen der Anerkennung und drei durch sie eröffnete Möglichkeiten des Selbstbezuges aus: die Anerkennung in der Liebe, die dem Menschen die Möglichkeit des „Selbstvertrauens“ eröffne, die Anerkennung durch das Recht, die ihm „Selbstachtung“ ermögliche und schließlich die Anerkennung von gesellschaftsrelevanten Eigenschaften und Leistungen, die das Ich zu einem Selbstverhältnis der „Selbstschätzung“ führen könne.97 Um die Liebe in ihren verschiedenen Varianten der erotischen Liebe, der Freundschaft und der Eltern-Kind-Beziehung als eine Form von Anerkennung verstehen zu können, greift Honneth auf die Forschung von Donald W. Winnicott zurück und betont, dass der Moment, in dem ein Kleinkind aus der symbiotischen Verschmelzung mit der Mutter heraustrete, gleichbedeutend mit einem ersten rudimentären Ich-Gefühl sei. Die sich zunehmend erweiternde Loslösung des Kindes von der Mutter könne sich nur vollziehen, wenn die Mutter das Kind als eigenständige Person anerkennen und gleichzeitig dem Kind die Gewissheit einer bleibenden Verbindung und Erreichbarkeit vermitteln würde. Nur durch die Erfahrung, bei einem Sich-Entfernen von der Mutter die Mutter nicht zu verlieren, sondern diese als emotionalen Bezugspunkt und Unterstützung zu behalten, sei eine Loslösung für das Kind überhaupt möglich. Ein angstfreies, weil von dem Vertrauen der Erreichbarkeit getragenes Sich-lösen-Können von der Mutter stelle jedoch die Voraussetzung dafür dar, dass das Kind sich mit sich selbst beschäftigen könne: „. . . das Kleinkind gelangt dadurch, dass es sich der mütterlichen Liebe sicher wird, zu einem Vertrauen in sich selbst, das es ihm ermöglicht, sorglos mit sich selbst allein zu sein.“98 Honneth sieht in dieser kleinkindlichen Entwicklung die Elemente, die jede Liebesbeziehung ausmachen: Die innige Verschmelzung zweier Menschen miteinander, die darauf folgende notwendige Trennung voneinander, die wechselseitige Anerkennung als eigenständige Personen und die Gewissheit der bleibenden Zugewandtheit trotz Trennung, die es dem Partner ermögliche, sich „situationsvergessen und entspannt auf sich selbst zu beziehen“.99 Den Selbstbezug, den das Anerkannt-Werden durch das Recht einem Menschen eröffnet, bezeichnet Honneth als „Selbstachtung“. Die rechtliche Anerkennung eines Menschen sei gleichbedeutend mit der Anerkennung dieses Menschen als einer Person im Sinne der Kantschen Definition, nach der sich eine Person dadurch auszeichnet, dass sie ihren Zweck in sich selbst habe, was Honneth so versteht, dass ihre Willensfreiheit zu respektieren sei. Dies bedeute, dass die rechtliche Anerkennung eines Menschen als Konsequenz mit sich bringe, dass derjenige, der Anerkennung gewähre, sein Handeln gegenüber dem Anerkannten daraufhin abstimme, dass dessen Personenstatus respektiert werde. Die rechtliche Anerkennung des Anderen geschehe in einer modernen Gesellschaft wechselseitig, und zwar dadurch, 97

  Honneth, Anerkennung, 211.   Honneth, Anerkennung, 168. 99   Honneth, Anerkennung, 169. 98

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1.  Diskurs 1: Charakter und Funktion des wechselseitigen Austauschs von Gaben

dass man demselben Gesetz gehorche. Mit der Unterstellung des eigenen Willens unter das Gesetz erkenne ein Rechtssubjekt alle anderen Rechtssubjekte zugleich „als Personen an, die in individueller Autonomie über moralische Normen vernünftig zu entscheiden vermögen.“100 Die rechtliche Anerkennung eines Menschen hat nach Honneth in zweierlei Hinsicht Auswirkungen auf sein Selbstbild: einerseits ermögliche sie es ihm, sich auf sich selbst als moralisch zurechnungsfähige Person zu beziehen, zum anderen gebe sie ihm die Möglichkeit, „Ansprüche erheben zu können, deren soziale Erfüllung als gerechtfertigt gilt“.101 Zudem eröffne sie ihm mit der Möglichkeit, Rechte einzuklagen, den Zugang zu einer legitimen Art der Aktivität, durch die er sich die gemeinschaftliche Wertschätzung der eigenen Person vor Augen führen könne. Dies ermögliche einem Menschen „Selbstachtung“. Während die rechtliche Anerkennung dem Personenstatus eines Menschen gelte, beziehe sich die Anerkennung, die einen Menschen zur „Selbstschätzung“ führe, auf evaluierbare Leistungen und Eigenschaften, die vor dem Hintergrund eines intersubjektiv geteilten Wertehorizonts als für die Gesellschaft wertvoll empfunden werden. „Das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft gibt die Kriterien vor, an denen sich die soziale Wertschätzung von Personen orientiert, weil deren Fähigkeiten und Leistungen intersubjektiv danach bewertet werden, in welchem Maße sie an der Umsetzung der kulturell definierten Werte mitwirken können.“102 Da die Wertegemeinschaft einen einheitlichen Rahmen bildet, in dem die wechselseitige Anerkennung von Leistungen und Eigenschaften stattfindet, benennt Honneth sie als „Solidarität“ und betont, dass eine solche Solidarität durchaus echte „affektive Anteilnahme an dem individuell Besonderen der anderen Person“ sei, „denn nur in dem Maße, in dem ich aktiv dafür Sorge trage, dass sich ihre mir fremden Eigenschaften zu entfalten vermögen, sind die uns gemeinsamen Ziele zu verwirklichen.“103 Für das Individuum bedeutet die Anerkennung seiner Fähigkeiten, dass es ein Vertrauen in sich gewinnt, gesellschaftlich relevante Eigenschaften zu besitzen bzw. Leistungen vollbringen zu können. Honneth weiß darum, dass die rechtliche Anerkennung von Personen, wie er sie beschreibt, nur im modernen Rechtsstaat vorzufinden ist und dass innerhalb des Rechtstaats bestimmte zum Personenstatus gehörende Rechte bestimmten Gesellschaftsgruppen nicht von Anfang an zugestanden wurden. Auch im Hinblick auf den gesellschaftlichen Wertekanon, der den Horizont der solidarischen Anerkennung bildet, ist er sich darüber im Klaren, dass dieser im Laufe der Geschichte Veränderungen erfahren hat. Diese Veränderungen im Recht und im gesellschaftlichen Wertekanon sind für ihn Folgen eines gesellschaftlichen Kampfes, der aus dem Bewusstsein von versagter Anerkennung einzelner Gruppen herrühre. 100

  Honneth, Anerkennung, 177.   Honneth, Anerkennung, 193 f. 102   Honneth, Anerkennung, 198. 103   Honneth, Anerkennung, 210. 101

Exkurs: Der Begriff der Anerkennung

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Die Definition von ‚Anerkennung‘ ist bei Thomas Bedorf durch eine starke Abgrenzung gegenüber dem Verständnis bei Honneth gekennzeichnet.104 Bedorf wirft Honneth vor, dass hinter seiner Anerkennungstheorie das Telos einer stabilen Identitätsbildung stehe. Bedorf geht jedoch davon aus, dass ein Mensch niemals zu einer stabilen, in sich ruhenden Identität finde – schon allein deshalb nicht, weil jede Identität jeweils Momente von Nichtidentischem in sich aufweise. Vielmehr definiere sich der Mensch über bestimmte, im Laufe der Zeit wechselnde Identifizierungen mit bestimmten Dingen, Aufgaben, Personen etc. „Auch wenn es unvermeidlich ist, wie wir seit Freud wissen, sich mit etwas zu identifizieren, so folgt doch daraus nicht, dass eine Identität besteht. In jeder Identifizierung bleibt das ‚Risiko der Inkohärenz der Identität‘ bestehen. Gegenstand der Anerkennung kann nur diese vorläufige und unsichere Identität sein, da der Prozess der Identifizierung selbst kein Gegenstand ist“.105

Daraus, dass anstatt von einer stabilen menschlichen Identität, von wechselnden Identifikationen auszugehen sei, zieht Bedorf den Schluss, dass es sich bei Anerkennung nicht um eine zweigliedrige, sondern um eine dreigliedrige Relation handele: Nicht etwas werde anerkannt, sondern etwas werde als etwas anerkannt. Anerkennung bedeutet also die soziale Akzeptanz der Identifikation einer Person mit einer bestimmten Größe. Doch das ist für Bedorf nur ein Aspekt, da er davon ausgeht, dass Anerkennung nicht nur bereits Vorhandenes durch eine s­oziale Bejahung stabilisiert, sondern dass ihr selbst ein produktives Moment innewohnt: „Wenn etwas anerkannt werden soll, so kann man resümieren, dann wird nicht nur bestätigt, was bereits bekannt ist, sondern es wird eine Identität gestiftet, die der Anerkennung bedarf. [. . .] Als was jemand anerkannt wird, versteht sich nicht von selbst, sondern steht vielmehr in der Anerkennung auf dem Spiel.“106 Die soziale Bestätigung selbst bilde Identität in gewissem Sinne erst aus. Das ist einer der Gründe, weshalb Bedorf von „verkennender Anerkennung“ spricht: Indem Anerkennung suggeriere, dass sie Vorhandenes bestätige, setze sie faktisch das, was sie bestätige. Der zweite Grund ist, dass, wie oben bereits ausgeführt, der Mensch, indem er als etwas anerkannt wird, niemals als der anerkannt wird, der er ist. Trotz der strikten Abgrenzung Bedorfs von Honneth ist es meines Erachtens möglich, beide Theorien als einander ergänzend zu betrachten, da sich Bedorf unter dem Stichwort ‚Anerkennung‘ mit konkreten, inhaltlichen Zuschreibungen beschäftigt, die einen Menschen in seiner zu jedem Zeitpunkt seines Lebens notwendigerweise unabgeschlossenen Identität zwangsläufig verkennen müssen, während Honneth sein Augenmerk darauf richtet, dass ein Mensch in konkreten, 104

  Bedorf, Verkennende Anerkennung.   Bedorf, Verkennende Anerkennung, 117. Hier bezieht sich Bedorf auf Judith Butler, vgl. Butler, Judith, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt / M. 2001, 140. 106   Bedorf, Verkennende Anerkennung, 121 f. 105

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1.  Diskurs 1: Charakter und Funktion des wechselseitigen Austauschs von Gaben

inhaltlichen Anerkennungsprozessen eine grundsätzliche Bejahung erfährt, die für Honneth ein anthropologisches Grundbedürfnis darstellt (die Bejahung der Legitimation der eigenen Grundbedürfnisse, die Bejahung der Gleichwertigkeit gegenüber den Mitmenschen, die Bejahung, etwas für die Gemeinschaft Relevantes beitragen zu können). Ich teile Honneths Auffassung, dass diese in konkreten, inhaltlichen Anerkennungsprozessen mitkommunizierten Bejahungen nachhaltig das Selbstverhältnis des Menschen beeinflussen. Die Kritik, die Ricœur und mit ihm Burkhard Liebsch an der Tatsache üben, dass Honneth den Gewinn einer solchen Anerkennung primär durch den Kampf um Anerkennung gegeben sieht,107 ist allerdings gerechtfertigt.

107

  Liebsch, Burkhard, Gabe als Anerkennung? – Anerkennung als Gabe?, in: Hoffmann, Veronika / Link-Wieczorek, Ulrike / Mandry, Christof (Hg.), Die Gabe. Zum Stand der interdisziplinären Diskussion, Freiburg / Br. / München 2016, 51 – 75.

2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis 2.1 Vorbemerkungen Im folgenden Kapitel sollen die Arbeiten von Martin Heidegger, Jean-Luc Marion und Jacques Derrida zum Thema ‚Gabe‘ vorgestellt werden.1 Anders als die bisher dargestellten Autoren gehen diese nicht der Frage nach der Funktion von Gaben nach, sondern bei Heidegger ist der Begriff ‚Gabe‘ und bei Marion der Begriff ‚Gebung‘ zu einem Spezialbegriff in ihrem jeweiligen philosophischen System geworden. Derridas Überlegungen setzen zwar bei der sozialen Interaktion ‚Gabe‘ an, werden aber ebenfalls von seiner eigenen Philosophie mitbestimmt. Die Tatsache jedoch, dass der Begriff ‚Gabe‘ als philosophischer Spezialbegriff herangezogen wurde,2 setzt ein bestimmtes Vorverständnis des Begriffs voraus. Es ist geprägt von der Vorstellung einer Gabe als einlinigem Geschehen (‚reine Gabe‘, ‚einseitige Gabe‘). Dieses Vorverständnis wird jedoch durch den Gebrauch des Begriffs in den jeweiligen philosophischen Systemen noch einmal präzisiert und zugespitzt. So ist Gabe für Heidegger, Marion und Derrida nicht nur ein Geschehen, das der Empfänger nicht erwidert. Eine Gabe kommt ihnen zufolge für den Empfänger auch unerwartet und verändert ihn. Dies sind einige der Aspekte, die Heidegger, Marion und Derrida dazu bewegen, die Gabe unter Rückgriff auf den Begriff ‚Ereignis‘ zu interpretieren. Ein weiterer Schlüsselaspekt in dem Gabeverständnis der drei Autoren ist ferner, dass Gabe ihnen zufolge jeweils mit einer Form von Entzogenheit zusam1   Es wurde bewusst vermieden, diese drei Ansätze einfach unter dem Stichwort ‚phänomenologische Gabetheorien‘ zu subsumieren, vgl. die Eingruppierung bei Hénaff, Gabe der Philosophen, 18. Es widerspricht nämlich zum einen dem Selbstverständnis Derridas, als Phänomenologe eingeordnet zu werden, wie er in seiner Disputation mit Marion am College von Villanova in Pennsylvania bekräftigt hat, vgl. Derrida, Jacques / Marion, Jean-Luc, On the Gift. A Discussion between Jacques Derrida and Jean-Luc Marion. Moderated by Richard Kearny in: Caputo, John / Scanlon, Michael (Hg.), God, the Gift and Postmodernism, Bloomington / Indianapolis 1999, 66. Zum anderen halte ich es für eine Verengung auf einen Aspekt, wenn man Derridas Schrift „Falschgeld. Zeit geben 1“ lediglich als Dekonstruktion phänomenologischer Vorstellungen auf dem Anwendungsfeld der Gabe begreift, vgl. Dalferth, Umsonst, 92 – 102. „Falschgeld. Zeit geben 1“ ist auch eine intensive Auseinandersetzung mit der Zeit- und Todesvorstellung des jungen Heidegger, zudem sind die in ihr entwickelten Gedanken eng mit Derridas Philosophie der „différance“ verknüpft. 2   Wie bereits in der Einleitung erwähnt sind die philosophischen Kontexte, in denen Heid­ egger, Marion und Derrida den Begriff Gabe aufgreifen, unterschiedlich. Bei Heidegger ist es eine ontologische Fragestellung, bei Marion eine phänomenologische, Derridas Schrift hat verschiedene Stoßrichtungen.

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2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

mengedacht werden müsse. Damit ist etwa bei Heidegger, aber auch bei Marion an eine kognitive Entzogenheit des eigentlichen Gabegeschehens für den Empfänger gedacht, Derrida macht darüber hinaus aber auch geltend, dass das ‚Glücken‘ einer Gabe der willentlichen Intention des Gebers entzogen ist. Gerade dieser Aspekt im Werk Derridas stellte für die Autoren des ersten Diskurses eine Herausforderung dar, die sie in ihren eigenen Entwürfen auf verschiedene Weise bearbeitet haben. Meines Erachtens ist vor allem die Interpretation der Gabe als Ereignis durch Heid­ egger, Marion und Derrida ein wesentlicher Impuls, dem nachzugehen ist.

2.2  Sein als Gabe bei Martin Heidegger 2.2.1 Vorbemerkungen Nachdem Heidegger seinen in „Sein und Zeit“ unternommenen Versuch, über die Daseinshermeneutik zu einem einheitlichen Seinsverständnis zu gelangen,3 abgebrochen hatte, modifizieren sich seine Gedanken dahingehend, dass er das Sein selbst als sich gebend, sich ereignend betrachtet. Das Dasein „kann sein eigenes Sein nicht als geworfenen Grund der vielfältigen Wandlungen des Seins als solchen verstehen. Es versteht vielmehr, dass es sein eigenes Sein dem Lichtungsgeschehen des Seins selbst verdankt.“4 Ein zentraler Schlüsselbegriff Heideggers, um den Sachverhalt zu beschreiben, wie das Sein in das Denken des Menschen hereinbricht und ihn aus seiner Seinsvergessenheit löst, ist der Begriff ‚Ereignis‘.5 Auffallend ist hierbei, dass Heidegger den Begriff ‚Gabe‘ in seinen beiden großen Schriften über das ‚Ereignis‘ nicht zu diesem ins Verhältnis setzt. Dies ändert sich mit seinem 1962 gehaltenen Vortrag „Zeit und Sein“.6 2.2.2 „Zeit und Sein“ In „Zeit und Sein“ bekräftigt Heidegger zunächst noch einmal den Anspruch, „einiges von dem Versuch zu sagen, der das Sein ohne die Rücksicht auf eine Begründung des Seins aus dem Seienden denkt.“7 Dieses Denken sei ein Nach3

  Heidegger, Martin, Sein und Zeit, in: Ders., Gesamtausgabe Bd. 2, hg. v. von Herrmann, Friedrich-Wilhelm, Frankfurt / M. 1977. 4   Heinz, Marion, Zeitlichkeit und Temporalität. Die Konstitution der Existenz und die Grundlegung einer temporalen Ontologie im Frühwerk Martin Heideggers (= Elementa. Schriften zur Philosophie und ihrer Problemgeschichte 25), Würzburg / Amsterdam 1982, 209. 5  Vgl. Heidegger, Martin, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Gesamtausgabe Bd. 65, hg. v. von Herrmann, Friedrich-Wilhelm, Frankfurt / M. 1989; sowie: Heidegger, Martin, Das Ereignis, Gesamtausgabe Bd. 71, hg. v. von Herrmann, Friedrich-Wilhelm, Frankfurt / M. 2009. 6   Heidegger, Martin, Zeit und Sein, in: Ders., Zur Sache des Denkens, Gesamtausgabe Bd. 14, hg. v. von Hermann, Friedrich-Wilhelm, Frankfurt / M. 2007, 5 – 30. 7   Heidegger, ZS, 5.

2.2  Sein als Gabe bei Martin Heidegger

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denken über die Vorgabe, die durch die Schickung von Sein gesetzt ist, und gebe als ein solches den Anspruch der unmittelbaren Verstehbarkeit preis. Als Thema des oben genannten Vortrages nennt Heidegger das Nachdenken über den „Sachverhalt“ von Sein und Zeit.8 Wenn Heidegger von einem „Sachverhalt“ spricht, will er deutlich machen, dass Sein und Zeit im Verhältnis zueinander gedacht werden müssen und keine separat voneinander bestehenden Größen darstellen, die im Nachhinein zueinander in Beziehung treten. Heidegger weist seine Hörer noch einmal darauf hin, dass Sein und Zeit nicht zum Seienden bzw. zum Zeitlichen gerechnet werden können, um dann den Einstieg seines im Folgenden entwickelten Gedankenganges beim deutschen Sprachgebrauch zu nehmen, demzufolge es Sein und Zeit gibt. Diese sprachlichen Wendungen bieten ihm Anlass, darüber nachzudenken, ob sie Ausdruck einer korrespondierenden Struktur seien. Nach Heidegger ist Sein, durch das alles Seiende bestimmt ist, als „Anwesen“ zu charakterisieren.9 Man müsse jedoch präzisieren, dass Anwesen eigentlich ein „Anwesenlassen“ von Anwesendem sei,10 ein „Entbergen, ins Offene bringen“.11 Dass ein solches „Anwesenlassen“ aber nicht als ein aktiv initiierter Vorgang vorgestellt werden kann, zeige die Wendung „es gibt“ an.12 Sie mache deutlich, dass das Anwesenlassen ein Vorgang des Gewährens ist, den Heidegger mit dem Begriff „Gabe“ belegt.13 Anwesen lassen, Sein als Gabe, wird gewährt. Heidegger betont, dass das Sein als Gabe im Gebevorgang beinhaltet sei: „Sein wird als Gabe nicht aus dem Geben abgestoßen. [. . .] Als Anwesenlassen gehört es in das Entbergen, bleibt es als dessen Gabe im Geben einbehalten. Sein ist nicht. Sein gibt Es als das Entbergen von Anwesen.“14 Anders verhält es sich mit dem Vorgang des Gebens selbst. Er ist dem, dem durch das Sein Seiendes ‚angewest‘ wird, verborgen, entzogen. Ein solches Geben, bei dem zwar die Gabe, aber nicht der Gabevorgang erkennbar ist, nennt Heidegger „Schicken“.15 Die verschiedenen Charakterisierungen des Seins in der Geschichte der Philosophie begreift Heid­ egger als Antworten auf diese Bewegung. Wie bereits oben betont, gibt es das Sein nur im Zusammenhang mit der Zeit: die Charakterisierung des Seins als „Anwesen“ führe das Denken automatisch zum Begriff der Gegenwart und damit zu einer Dimension der Zeit. Heidegger  8

  Unter einer Sache versteht Heidegger hier eine „Sache des Denkens“, etwas Strittiges, das dem Denken zur Aufgabe wird. Mit dem Begriff „Sachverhalt“ greift Heidegger letztlich auf seine Überlegungen zum Ereignis vor, das gerade das Geschehen ist, dass Sein und Zeit ins Verhältnis setzt und damit in ihrer jeweiligen Eigentlichkeit etabliert, Heidegger, ZS, 8.  9   Heidegger, ZS, 9. 10   Heidegger, ZS, 9. 11   Heidegger, ZS, 10. 12   Heidegger, ZS, 10. 13   Heidegger, ZS, 10. 14   Heidegger, ZS, 10. 15   Heidegger, ZS, 12.

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2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

betont, dass Gegenwart nicht wie in der landläufigen Zeitvorstellung einfach als Jetzt-Punkt verstanden werden könne. Ein solches Verständnis sei insofern defizitär, als in ihm die Zeit nicht in Bezug auf das Dasein des Menschen gedacht werde. Heidegger bestimmt die Gegenwart in „Zeit und Sein“ zunächst ganz schlicht als Zeitmodus, in dem die Dinge den Menschen „anwesen“, ihn angehen. „Aber Gegenwart besagt zugleich Anwesenheit.“16 Im Weiteren argumentiert Heidegger, dass jedoch auch Abwesendes den Menschen angehen könne. Dementsprechend muss auch Vergangenheit und Zukunft als „Anwesen“ charakterisiert werden,17 jedoch als je eigener Modus des „Anwesens“, eben als der Angang des Menschen durch bereits Vergangenes oder als seine Inanspruchnahme durch das, was in der Zukunft geplant oder erwartet wird.18 Nach Heidegger stehen die drei Modi, in denen das Sein den Menschen angeht, jedoch nicht unverbunden nebeneinander, sondern beeinflussen und durchdringen einander. So ergäben sich die Möglichkeiten, die als Zukunft auf den Menschen zukommen, aus der Vergangenheit. Die Vergangenheit komme also im Modus der Zukunft auf den Menschen zu, und diese Verschränkung von Zukunft und Vergangenheit bestimme die Gegenwart. „Ankommen, als noch nicht Gegenwart, reicht und erbringt zugleich nicht mehr Gegenwart, das Gewesene, und umgekehrt reicht dieses, das Gewesene, sich Zukunft zu. Der Wechselbezug reicht und erbringt zugleich Gegenwart.“19 Heid­egger spricht bei dieser wechselseitigen Durchdringung der Zeitdimensionen auch vom „Zuspiel“ der drei Zeitdimensionen untereinander und bezeichnet dieses als vierte Dimension der Zeit.20 „Zuspiel“ besagt, dass jede Zeitdimension durch ihr „Anwesen“ das „Anwesen“ der anderen Zeitdimensionen möglich macht und mitbestimmt, ja dass die Zeitdimensionen nur in ihrer Verschränkung den Menschen „anwesen“. Doch bei dem sich wechselseitigen Reichen der Zeit­ dimensionen ist auch der Entzug ein wichtiges Moment. Es finde nicht nur ein Sich-Reichen, sondern auch ein Sich-Vorenthalten der Zeitdimensionen statt. Und nur dadurch seien sie überhaupt voneinander abgrenzbar. Das wechselseitige Sich-Reichen halte die übrigen Zeitdimensionen in der Nähe zueinander und zugleich „lichtend“ auseinander.21 Im Sich-Reichen der Zeit eröffne sich der „Zeitraum“,22 der für den Menschen Gestaltungsspielraum sei. 16

  Heidegger, ZS, 15.   Heidegger spricht hier vom „Gewesenen“ und von „Ankunft“, um sich deutlich vom üblichen Zeitverständnis abzuheben, in dem die Vergangenheit das Vorübergehen des Jetztpunktes und die Zukunft der kommende Jetztpunkt ist, vgl. Heidegger, ZS, 18. 18   Als Beispiel sei darauf verwiesen, wie etwa die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges Menschen innerlich angehen, ihr Selbstverständnis und ihre Weltsicht prägen, obwohl sie vergangen sind. Und ebenso nimmt zukünftig Befürchtetes oder Geplantes unser Denken und Tun in Anspruch, geht uns also an, wie etwa ein befürchteter Atomkonflikt zwischen Nordkorea und den USA. 19   Heidegger, ZS, 18. 20   Heidegger, ZS, 19 f. 21   Heidegger, ZS, 19. 22   Heidegger, ZS, 18. 17

2.2  Sein als Gabe bei Martin Heidegger

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Das wechselseitige Sich-Reichen der Zeitdimensionen habe an sich die Struktur des Gebens und sei gleichzeitig der Modus, in dem das Sein den Menschen angehe, es ihm in Form von Seiendem gegeben werde. Die Gabe des Seins im „Anwesen“ von Seiendem, das im Modus der sich wechselseitig einander reichenden Zeit geschieht, ist nach Heidegger die Conditio humana.23 Der Mensch sei, so Heidegger, „der von Anwesenheit Angegangene, der aus solchem Angang selbst auf seine Weise Anwesende zu allem An- und Abwesenden.“24 Er sei „innestehend im Angang von Anwesenheit, dies jedoch so, dass er das Anwesen, das Es gibt, als Gabe empfängt, indem er vernimmt, was im Anwesenlassen erscheint.“25 Heideggers Interesse während des gesamten Vortrags gilt dem „Es“, das sprachlich in den Sätzen „es gibt Sein“ bzw. „es gibt Zeit“ das Subjekt bildet.26 Er ist darum bemüht zu betonen, dass es sich dabei nicht um ein reales Subjekt, nicht um ein irgendwie geartetes höheres Wesen handele. Vielmehr komme die Sprache hier an ihre Grenze. Das „Es“ bezeichne die Form, in der sich das Geben – subjektlos – vollziehe, eben als ein Anwesen von Seiendem durch das Sein im Modus des sich wechselseitigen Reichens der Zeitdimensionen. Dieses Geschehen nennt Heidegger Ereignis.27 Den Schluss seines Vortrags widmet Heidegger die23   Marion Heinz macht in ihrer Auslegung von „Zeit und Sein“ gerade in ihrer Interpretation der Stellen, an denen Heidegger das Zusammenspiel von Sein und Zeit als conditio humana beschreibt, den Unterschied zu „Sein und Zeit“ noch einmal ganz deutlich, wenn sie schreibt: „Das Reichen von Sein geschieht nicht in dem Selbstangang des ekstatischen Wesens des Daseins; das Ereichtwerden des Daseins geschieht vielmehr in einem Reichen, das nicht als Struktur des Erreichten selbst aufzufassen ist.“, Heinz, Zeitlichkeit, 213. 24   Heidegger, ZS, 16. 25   Heidegger, ZS, 16. 26   Heidegger, ZS, 23. 27   Wie Rudolf Wansing herausstellt, erfährt Heideggers Ereignisdenken in dem Aufsatz „Zeit und Sein“ gegenüber der Schrift „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“ eine maßgebliche Veränderung, vgl. Wansing, Rudolf, Im Denken erfahren, in: Rölli, Marc (Hg.), Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, München 2004, 83 – 102. Diese soll zumindest kurz erwähnt werden, da das Ereignisdenken der Beiträge mit seiner Neusituierung des Menschen etwa dem Ereignisverständnis Jean-Luc Marions sehr viel ähnlicher ist als das aus „Zeit und Sein“. Während in „Zeit und Sein“ das Ereignis aus der Seinsgeschichte enthoben ist, charakterisiert Heidegger, wie Wansing herausarbeitet, in den Beiträgen den Moment als Ereignis, wenn das Sein ins Denken einfällt, wenn der Mensch die Seinsvergessenheit der Geschichte begreift. Folgt man Heideggers Schrift „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“, so besteht die Seinsvergessenheit des Menschen darin, dass er sich ausschließlich mit dem Seienden anstatt mit dem Sein beschäftigt und die Anwesenheit des Seienden als Selbstverständlichkeit hinnimmt. Diesem Denken entspreche eine Haltung, die versuche, sich des Seienden zu bemächtigen. Erst durch das Ereignis des Seins, das dem Menschen eine neue Denkmöglichkeit eröffne, werde der Mensch das erste Mal seiend, weil er sein eigenes Sein verstehe. Das Ereignis ist bei Heidegger nur denkerisch erfahrbar, niemals als objektive Realität zu erleben. Da es nicht antizipiert werden kann, schreibt Lasma Pirktina dem Ereignis bereits in den „Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis)“ den Charakter einer Gabe zu, vgl. Pirktina, Lasma, Ereignis, Phänomen und Sprache. Die Philosophie des Ereignisses bei Martin Heidegger und Jean-Luc Marion (= Libri Virides 11), Nordhausen 2012, 45. Entscheidend sei es, so Pirktina, dass der Mensch durch das Ereignis die Dinge in einen neuen Zusammenhang stelle. Durch das Ereignis entstehe im Denken des Menschen ein neues Gefüge. Heidegger stellt eingehend dar, wie das Ereignis des Seins

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2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

sem Begriff und betont dabei zweierlei: Zum einen, dass der Mensch, an dem sich das Anwesen des Seins im Modus der Zeit ereigne, selbst Teil des Ereignisses sei und dieses darum nie objektiv und umfassend begreifen und beschreiben könne. Zum anderen – komplementär dazu –, dass zum Ereignis das Enteignis gehöre im Sinne eines Entzugs. Das Moment des Entzugs im Ereignis ist dabei wiederum mehrfach konnotiert: zum einen durch die Nicht-Präsenz des Gabecharakters des Geschehens, sowie durch den Vorbehalt von Gegenwart in den Zeitdimensionen der Gewesenheit und des Ankommens: „Lässt sich vom Ereignis noch mehr sagen? Unterwegs wurde schon mehr gedacht, aber es wurde nicht eigens gesagt, nämlich dies, dass zum Geben als Schicken das Ansichhalten gehört, nämlich dieses, dass im Reichen von Gewesen und Ankommen Verweigerung von Gegenwart und Vorenthalt von Gegenwart spielen. Das jetzt Genannte: Ansichhalten, Verweigerung, Vorenthalt, zeigt dergleichen wie ein Sichentziehen, kurz gesagt: den Entzug. Sofern aber die durch ihn bestimmten Weisen des Gebens, das Schicken und das Reichen, im Ereignen beruhen, muss der Entzug zum Eigentümlichen des Ereignisses gehören.“28

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich für Heidegger in „Zeit und Sein“ die Begriffe Gabe und Ereignis wechselseitig interpretieren und dazu dienen, eine „Zeit-Raum eröffnende Dynamik“ zu beschreiben.29 Diese Dynamik ist maßgeblich durch das Paradox gekennzeichnet, dass Zuwendung und Eröffnung nur mit einem gleichzeitigen Entzug zu denken sind. Die Denkfigur des Entzuges dient Heidegger dazu, seine These von einer Seinsvergessenheit der Geschichte zu begründen. „In der ereignisbewegten Dynamik des Gebens bringt das Ereignis ‚Sein‘ und ‚Zeit‘ in einem bestimmten Seinlassen als Gabe hervor. Indem es sich selbst in dieser Gabe aber entzieht, resultiert für das Abendland die Seinsvergessenheit als Geschick dieses Zeitalters.“30 Ein Denken, das dem Zeit-Raum eröffnenden Ereignis entspricht und den Entzugscharakter des Gebens erkennt, muss für Heidegger ein Denken im Denken des Menschen Raum gewinnt und unterscheidet dabei fünf Phasen. Zunächst lasse eine Ahnung, ein Aufblitzen des neuen Denkens den Menschen die Situation der Seinsvergessenheit als Not begreifen. Diese Not dränge ihn dann dazu, sich dafür zu entscheiden, sich für das noch Unbekannte zu öffnen. Mit der Entscheidung, sich zu öffnen, konkretisiere sich das Zukünftige immer mehr vor seinen inneren Augen, indem das Neue dem Bisherigen ‚zugespielt‘ werde und es zu einer inneren Auseinandersetzung zwischen alten und neuen Denkmustern komme. Das heißt, der Impuls kommt von außen, vom Ereignis des Seins, das sich gibt. Das neue Verständnis des Seins kristallisiert sich dann jedoch aus einer diffusen Ahnung immer mehr heraus. Obgleich der ausgehende Impuls zur Veränderung von außen kommt, muss der Mensch der Verwandlung innerlich zustimmen. Diese Zustimmung bezeichnet Heidegger als „Sprung“, Heidegger, Beiträge, 227 ff. „Der Mensch ist nur dann wirklich bereit für das Neue, wenn er nicht nur davon ‚gezogen‘ wird, sondern auch ihm ‚entgegenkommt‘. Das bedeutet teilweise auch, dass in diesem Moment der Mensch erst erfährt, in welchem Maße er ein Geschenk des Ereignisses empfängt. Der Mensch wird zum Empfänger und kommt dem Anderen entgegen, indem er sein Geschenk bewußt annimmt und bestätigt [. . .].“, Pirktina, Ereignis, 43. Am Ende des Prozesses steht ein Mensch mit einem Bewusstsein für sein eigenes Dasein. 28   Heidegger, ZS, 27. 29   Wansing, Denken, 96. 30   Wansing, Denken, 97.

2.3  Gebung und Gabe – die Gabentheorie Jean-Luc Marions

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sein, das vom Ereignis selbst ergriffen wird. Ein solches Denken ist, wie Heidegger in seinem Werk „Unterwegs zur Sprache“ deutlich macht,31 nur durch eine Sprache artikulierbar, die maßgeblich aus dem Hören auf das Ereignis erwächst.

2.3  Gebung und Gabe – die Gabentheorie Jean-Luc Marions 2.3.1 Vorbemerkungen Jean-Luc Marion behandelt das Thema Gabe in seinem Werk „Etant donné“ im Rahmen seiner phänomenologischen Überlegungen zum Thema ‚Selbstgebung des Phänomens‘.32 Seinen eigenen Aussagen zufolge ist die Verbindung zwischen Gabe und Gebung vor allem semantischer Natur.33 In seinen Ausführungen in „Etant donné“ arbeitet er aber in vielerlei Hinsicht Strukturanalogien zwischen Gebung und Gabe heraus. Vor allem aber ist für ihn die ‚Selbstgebung der Phänomene‘ der Verstehenshorizont, der einen unverstellten Blick auf das Phänomen ‚Gabe‘ erst freigibt. Überblickt man das Gesamtwerk Marions, so lassen sich drei Forschungsschwerpunkte feststellen.34 Die ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen Marions sind Untersuchungen zu Descartes. Parallel zu diesen Descartesstudien erschienen mit „L’idole et la distance“ (1977), „Dieu sans l’être“ (1982), „Prolégomènes à la charité“ (1986) drei theologische Werke, die Marion sehr bewusst von seinem philosophischen Schaffen abhebt, indem er sie in einem anderen Verlag publiziert. Seit Beginn der 1990er Jahre beginnt Marion dann sein Projekt einer Neuausrichtung der Phänomenologie unter dem Stichwort „Donation“ (Gebung). Diese Neuausrichtung vollzieht Marion in seinen Büchern „Réduction et Donation“ (1989), „Etant donné“ (1997) und „De surcroît“ (2001). Das Thema ‚Gebung‘ lässt sich aber nicht nur in den letzten Werken M ­ arions ausmachen, sondern findet sich in allen drei Werkabschnitten und nimmt dort eine zentrale Rolle ein. So „entfalten die theologischen Schriften die Mitte des christlichen Glaubens als ein Gebungsgeschehen“ und auch die Descartesstudien sind von dem Thema ‚Gebung‘ durchzogen.35 In den folgenden Ausführun31

  Heidegger, Martin, Unterwegs zur Sprache, Gesamtausgabe Bd. 12, hg. v. von Hermann, Friedrich-Wilhelm, Frankfurt / M. 1985. 32   Marion, Jean-Luc, Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris 1997. [Being Given. Toward a Phenomenology of Givenness, übers. v. Kosky, Jeffrey L., Stanford 2002] 33  Vgl. Derrida / Marion, On the Gift, 61. 34   Untergliederung des Gesamtwerkes bis 2001 nach Alferi, Thomas, „Worüber hinaus Größeres nicht ‚gegeben‘ werden kann . . .“. Phänomenologie und Offenbarung nach Jean-Luc Marion, Freiburg / München 2007, 18 – 21. 35   Alferi, Phänomenologie und Offenbarung, 25. Alferi geht davon aus, dass der Begriff ‚Gebung‘, der in den theologischen Schriften der Erschließung des christlichen Glaubens galt, in den phänomenologischen Schriften eine philosophische Untermauerung finden solle.

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2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

gen wird jedoch nicht das Gesamtwerk Marions kritisch rekonstruiert, sondern schwerpunktmäßig auf sein Werk „Etant donné“ rekurriert, da er hier seine Interpretation von Gabe vor dem Hintergrund seines Verständnisses von Gebung entfaltet.36 2.3.2 „Etant donné“ 2.3.2.1 Die donation als Schlüssel der Phänomenologie Auf den ersten Seiten von „Etant donné“ präsentiert Marion sein Verständnis von Phänomenologie, mit dem er an Husserl anknüpft, dessen Ansatz aber entscheidend weiterentwickelt. Marion bezeichnet die Phänomenologie als „Gegenmethode“,37 um sie dem üblichen wissenschaftlichen Vorgehen, nach dem gesicherte Erkenntnisse durch Beweise erbracht werden, gegenüberzustellen. In der Phänomenologie gehe es darum, das Phänomen so wahrzunehmen, wie es sich selbst zu erkennen gebe und sich jeglicher erkenntnistheoretischer Prämissen, die a priori zu gelten hätten, zu enthalten. So sei beispielsweise die Frage nach der Ursache eines Phänomens völlig irrelevant, um das Phänomen adäquat rezipieren zu können. Auch müssten bereits vorhandene Vormeinungen, die dem Rezipienten das Phänomen in einem bestimmten Licht erscheinen lassen, durch die Methode der Reduktion ausgeschaltet werden. Wenn es in der Phänomenologie darum gehe, dass der Erkenntnisgegenstand für das Erkennen leitend sei, so bedeute dies für den Erkennenden, sich selbst zurückzunehmen und sich den Eindrücken, die das Phänomen in ihm hinterlassen, hinzugeben: „The initial and final paradox of phenomenology stems precisely from this: that it takes the initiative in losing it.“38 Es bedeute, dem Phänomen ‚nach zu denken‘, insofern sei die Phänomenologie eine Methode a posteriori.39 Im Zentrum von Marions Phänomenologie steht der Gedanke der Selbstgebung der Phänomene (donation). Seine Prämisse lautet: „What shows itself first gives itself “.40 Mit dieser Formulierung will er sicherstellen, dass Erkenntnis wirklich vom Erkenntnisgegenstand herrührt und quasi als Bewegung beschrieben werden kann, die auf das Ich zukommt, als ein „Sich mir auferlegen“, ein „Mir geschehen“.41 Marion wählt den Begriff donation, um den bei Husserl zu findenden Begriff ‚Gegebenheit‘ zu übersetzen. Das Wort donation ist ursprünglich in der französi36   Im zweiten Kapitel dieser Arbeit, die sich mit der Rezeption von Gabetheorien in Bezug auf das Abendmahl beschäftigt, wird dann ein zweites Mal auf Marion zurückgegriffen. 37   Marion, Jean-Luc, Reduktive „Gegenmethode“ und Faltung der Gegebenheit, in: Gabel, Michael / Joas, Hans (Hg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe. Jean-Luc Marions Phänomenologie der Gebung (= scientia & religio 4), Freiburg / München 2007, 38. 38   Marion, BG, 9. 39   Marion, Gegenmethode, 41. 40   Marion, BG, 5. 41   Marion, Gegenmethode, 45.

2.3  Gebung und Gabe – die Gabentheorie Jean-Luc Marions

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schen Rechtssprache beheimatet und bezeichnet dort eine Gebung im Sinne einer Schenkung.42 Marion nutzt diesen Begriff und nicht die wörtliche Übersetzung ‚donnée‘, um deutlich zu machen, dass bei dem Wort ‚Gegebenheit‘ immer ein Doppeltes gemeint sei: Die Gabe als Resultat des Gabeprozesses und der Prozess des Gebens und Aneignens.43 Die Verschränkung zwischen Gabe und Gegebenheit bezeichnet Marion als ‚Faltung‘ („pli“).44 Wenn man eine Gabe in den Blick nimmt, so sieht man in ihr immer auch ihre Gegebenheit. Die Tatsache, dass beim hervorgebrachten Effekt immer der Akt der Entstehung mitzudenken ist, und dass das Hervorbringen für das Ich etwas Unvorhergesehenes hat, umschreibt Marion mit dem Begriff des Ereignisses: „Die Gegebenheit kolonisiert nicht das Gegebene von außen her; sie schreibt sich vielmehr darin als dessen unersetzbarer Charakter ein, d. h. als die Artikulierung ihres Sich-Ereignens, das von der Immanenz der Gegebenheit untrennbar ist.“45 An diesem Punkt wird deutlich, inwiefern Marion über Husserl hinausgeht bzw. dessen Prämissen, wie er sie vor allem in den „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“ vertritt,46 bewusst revidiert.47 Husserls Erkenntnisgegenstand sind die Anschauungen, die sich dem Bewusstsein geben, und die von ihm entwickelte Methode der Reduktion dient ihm dazu, diese in Reinform zu erhalten. Die Frage nach allem, was im Hintergrund der Anschauung stehen könnte, nach dem ‚Ding an sich‘, klammert er aus. Marion hinterfragt, ob diese Ausklammerung überhaupt möglich sei, da der Vollzug der Reduktion ja im Grunde immer nur vollzogen werden könne mit einer Ahnung von dem, was über die vom Bewusstsein einholbare Anschauung hinausgeht. Er schlägt dementsprechend vor, nicht beim Bewusstsein als Ausgangspunkt der Überlegungen anzusetzen, sondern beim sich selbst gebenden Phänomen. Dass bei einer Erkenntnis der Prozess der Zueignung immer mitgedacht werden muss, bedeutet für Marion eine Öffnung des Bewusstseins für ein Außen. In der von Husserl geforderten reinen Immanenz von zu untersuchenden Bewusstseinsinhalten 42

 Vgl. Alferi, Phänomenologie und Offenbarung, 21 ff.   Thomas Alferi weist darauf hin, dass Marion mit seiner Übersetzung von Gegebenheit als donation durchaus sein Verständnis in den Husserlschen Begriff einträgt, deshalb sei es auch nicht sinnvoll, bei der Rückübersetzung von donation abermals den Begriff ‚Gegebenheit‘ zu verwenden. Vielmehr müsse berücksichtigt werden, dass es zu einer Relecture Husserls durch Marion gekommen sei. Dementsprechend schlägt er den Begriff ‚Gebung‘ (als Schenkung) als mögliche Übersetzung von Donation vor. Diesem Vorschlag werde ich mich im Folgenden anschließen, vgl. Alferi, Phänomenologie und Offenbarung, 23. 44   Marion, Gegenmethode, 46. 45   Marion, Gegenmethode, 46 f. 46   Husserl, Edmund, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und Phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, hg. v. Biemel, Walter, Husserliana 3 / 1, Den Haag 1950. 47   Bei der Darstellung der Interpretation Husserls und Heideggers durch Marion halte ich mich an die entsprechenden Kapitel bei Thomas Alferi und Katherina Bauer, vgl. Alferi, Phänomenologie und Offenbarung, 166; Bauer, Einander, 10. 43

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2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

leuchtet nun ein transzendentes Moment auf: „And this is indeed the givenness: that of transcendence in immanence.“48 Dementsprechend modifiziert Marion Husserls Methode der Reduktion und betont, dass es beim Vollzug der Reduktion nicht mehr darum gehen könne, alles, was von außen auf die reine Anschauung im Bewusstsein einwirke, auszublenden, sondern lediglich das, was das ‚Nachdenken‘ über die Selbstgabe des Phänomens blockiere. Ein weiterer Aspekt, der sich aus der Fokussierung auf die Selbstgebung des Phänomens für Marion ergibt, ist die Infragestellung der Husserlschen Prämissen, die besagen, dass Phänomenen notwendigerweise Sichtbarkeit und Präsenz zukommen. Als Gegenbeispiele nennt er die Gabe von Zeit oder die Gabe von Leben und verweist auf Phänomene, die zwar gegeben werden, deren Realisierung dennoch ausstehen, etwa der Frieden oder ein Versprechen.49 Mit dem frühen und dem späten Husserl, aber gegen die Vorstellungen aus den „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“ gelangt Marion zu der Einsicht, dass Phänomene nicht nur als Erscheinungen aufleuchten, sondern dass sie selbst ihren Sinn, ihre Bedeutung mitteilen: „I realized at the moment, that Husserl did not simply assume the decision taken by Kant on intuition [. . .] but he claimed boldly enough that even the signification has to be given, too, as such, and more: the essences, the logical essences, truth and so forth had to be given, too.“50 Ähnlich ambivalent wie Husserls Phänomenologie steht Marion auch der Philosophie Heideggers gegenüber, dessen frühe Philosophie er durchaus als Weiterführung der Phänomenologie Husserls begreift und würdigt. Seiner Meinung nach führt Heideggers Philosophie in zweierlei Hinsicht über Engführungen im Denken Husserls hinaus. Zum einen löse dieser sich von der Charakterisierung des Phänomens als Anschauung im Bewusstsein und definiere es stattdessen als das, was sich an sich selbst zeigt, was sich offenbart. Zudem stelle er einen Zusammenhang zwischen Phänomen und Seiendem her. Die Charakterisierung des Phänomens als Selbsterscheinung lasse Heidegger, anders als Husserl, das Woher dieses ‚Zur Erscheinung Kommen‘ in den Blick nehmen. Für Heidegger stelle sich die Frage, wie ein Phänomen überhaupt zur Präsenz kommen könne, und damit verbunden die Frage nach dem Sein und schließlich nach dem Sinn von Sein. Er versuche jedoch in „Sein und Zeit“ der Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Sein mittels der Daseinsanalyse näherzukommen, da er von der Prämisse ausgehe, dass dem Dasein als dem Seienden, das bereits über ein Seinsverständnis verfüge, ein besonderer Stellenwert einzuräumen sei. Genau in dieser Methodik sieht Marion jedoch einen einschränkenden Horizont für eine Phänomenologie der sich selbst gebenden Phänomene: „Nichts konstituiert sich als Phänomen, wenn es sich nicht der Öffnung des In-der-Welt-seins folgend zurückführen lässt auf 48

  Marion, BG, 25.  Vgl. Marion, BG, 245 f. 50   Derrida / Marion, On the Gift, 56. 49

2.3  Gebung und Gabe – die Gabentheorie Jean-Luc Marions

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das Dasein, das durch die Seienden seiner Welt verschiedenen Stimmungen ausgesetzt ist. Kurz, die Gegebenheitsweise der Phänomene setzt den Bezugspunkt voraus, der die Gegebenheit empfängt“.51 Marion versucht nun in seinem eigenen Entwurf, den er als eine dritte Reduktion bezeichnet, die Selbstgebung der Phänomene nicht durch die Vorgabe eines bestimmten Horizonts zu beschränken (Bewusstsein, Dasein), was er Husserl und Heidegger zum Vorwurf macht. Marion präzisiert seine Beschreibung der donation, indem er sie durch folgende Begriffe charakterisiert: „Anamorphosis“,52 „Contingencies“,53 „Unpredict­ able Landing“,54 „Fait Accompli“,55 „Incident“56 und „Event“.57 Dabei kommt der Beschreibung der donation als Ereignis insofern eine Schlüsselrolle zu, als in ihr alle übrigen Charakteristika der donation vereint sind. Mit dem Begriff „Anamorphosis“ beschreibt Marion, dass sich das Phänomen selbst aus einem strukturlosen ‚Prä‘ heraus formt. Vor dieser Selbstformung war es nicht identifizierbar. Gleichzeitig nimmt Marion bei seinem Rückgriff auf den Begriff „Anamorphosis“ auch dessen kunstgeschichtliche Bedeutung auf. In der Kunst bezeichnet ‚Anamorphose‘ eine verzerrte Darstellung, die der Betrachter des Bildes nur dann entschlüsseln kann, wenn er eine bestimmte Betrachterposition einnimmt, in die das Bild ihn leitet.58 Marion macht nun für jedes Phänomen deutlich, dass es nur rezipiert werden kann, wenn sich der Empfänger des Phänomens bei seiner Rezeption vollständig vom Phänomen leiten lässt: „To accede to it, not only must a gaze know how to become curious, available, and enacted, but above all it must know how to submit to the demands of the figure to be seen: find the unique point of view from which the second level form will appear, therefore make numerous and frequently fruitless attempts, above all admit that it would be necessary to alter one’s position (either in space or in thought), change one’s point of view in short, renounce organizing visibility on the basis of the free choice or the proper site of a disengaged spectator, in favour of letting visibility be dictated by the phenomenon itself, in itself.“59

51   Marion, Jean-Luc, Aspekte der Religionsphänomenologie. Grund, Horizont und Offenbarung, in: Gabel / Joas (Hg.), Ursprünglichkeit, 15 – 36, hier: 25. 52   Marion, BG, 123 f. 53   Marion, BG, 125 ff. 54   Marion, BG, 131 ff. 55   Marion, BG, 139 ff. 56   Marion, BG, 151 ff. 57   Marion, BG, 159 ff. 58   Die Verzerrung entsteht, wenn „Gegenstände und Figuren nicht planparallel, sondern in einem bestimmten Winkel zur Bildebene projiziert werden.“, Stadler, Wolf / Wiench, Peter (Hg.), Lexikon der Kunst. Malerei. Architektur. Bildhauerkunst Bd. 1, Erlangen 1994, 183. Die Anamorphose wurde bereits seit der Antike bei Wand- und Deckenmalereien verwendet, bei denen die Malerei dem Betrachter nur von bestimmten Standpunkten im Raum erschlossen werden sollte, besonders beliebt war die Methode jedoch als eigene Bildgattung im 16. Jahrhundert, weil mit ihr eine zweite, versteckte Aussageebene für das Bild gewonnen werden konnte. 59   Marion, BG, 124.

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2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

Eine zweite Charakteristik der donation ist, wie Marion betont, ihre ‚Kontingenz‘. Dabei versteht er Kontingenz zunächst nicht, wie sonst üblich, als Gegensatz zur Notwendigkeit, sondern greift auf die lateinische Grundbedeutung des Wortes zurück. Im Lateinischen bedeutet contingere u. a. berühren, anrühren, fassen, ergreifen.60 Nach Marion ist es für jedes Phänomen erforderlich, dass es den Empfänger anrührt, dass es über den Empfänger kommt oder dass es – drastisch ausgedrückt – über das Bewusstsein hereinbricht. Das bedeutet, dass es für Marion keine neutralen Phänomene gibt, keine Urbilder oder ähnliches, sondern dass die Phänomene nur in ihrer Manifestation existieren: „There is no neutral phenomenon, always already there, inoffensive and submissive.“61 Von dem Gedanken ausgehend, dass die Phänomene nur in ihrer Manifestation im Bewusstsein des Empfängers existieren, nimmt Marion den Gegensatz zwischen Notwendigkeit und Kontingenz wieder auf und betont die Unregelmässigkeit und Diskontinuität, mit der die Phänomene das Bewusstsein berühren. Er umschreibt dies mit dem Begriff „Unpredictable Landing“,62 da genau diese Diskontinuität das Phänomen für das Bewusstsein unvorhersehbar mache. Hat sich dann allerdings ein Phänomen im Bewusstsein manifestiert, komme ihm der Status der ‚Faktizität‘ zu. Das Phänomen ist für das Bewusstsein ein unumstößliches Faktum, und das bedeutet für Marion, dass es nicht nur als der von einer Ursache hervorgebracht Effekt anzusehen ist. Das Phänomen habe gerade nicht den Status des bloß Abgeleiteten. Vielmehr sei es das unumstößliche Faktum des erschienenen Phänomens, das die Rückfrage nach Gründen überhaupt erst ermögliche. Die Erklärung sei gegenüber dem Phänomen sekundär. Auch das, was aus einem Phänomen folgen wird, ändere an der Faktizität des Phänomens nichts. Auch mit der Charakterisierung des Phänomens als „Incident“ bzw. als „Event“ bezweckt Marion, die Unmöglichkeit, ein Phänomen kausal zu erklären, herauszustellen. Ein Zwischenfall ist, wie Marion betont, rein lexikalisch, ein kleines Ereignis, das dem Ich quasi aus dem Nichts zustößt, ohne voraussehbar zu sein. Es ist nicht ableitbar, nicht antizipierbar, grund- und regellos. Marion greift an dieser Stelle auf Überlegungen des Aristoteles zurück und macht deutlich, dass nicht nur unerwartetes und grundloses Geschehen als Zwischenfall betrachtet werden dürfe, sondern dass auch dann von einem solchen gesprochen werden müsse, wenn ein Geschehen zwar intendiert ist und auch eintritt, dies aber in einer Art und Weise, in der es nicht antizipiert werden konnte, und vor allem, wenn die eigene Intention nicht als Auslöser für

60   Georges, Karl Ernst, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. Nachdruck der achten verbesserten und vermehrten Auflage von Heinrich Georges, Hannover 111962, 1616. 61   Marion, BG, 125. 62   Thomas Alferi weist darauf hin, dass das von Marion im Französischen gewählte Wort ‚arrivage‘ anders als das gängige ‚arrivée‘, was eigentlich Ankunft bedeutet, ein Terminus technicus aus der Handelswelt ist und die unkoordinierte Anlieferung von Waren meint.

2.3  Gebung und Gabe – die Gabentheorie Jean-Luc Marions

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das Eintreten des Intendierten gewertet werden könne.63 Wie der ‚Zwischenfall‘ eignet sich das ‚Ereignis‘ insofern gut, um die donation zu beschreiben, als es per definitionem ein Geschehnis ist, das sich nicht kausal erklären lässt. Und wie oben bereits erwähnt, hält Marion das Ereignis für die Umschreibung von ‚Gebung‘, die alle bisher dargestellten Charakteristika umfasst: „The less they let themselves be inscribed in causality, the more they show themselves and render themselves intelligible as such. Such phenomena are named events – seeing as the characteristic of eventness gathers together all those previously recognized in the given phenomenon.“64 In seinen Ausführungen zur donation als Ereignis geht Marion noch einmal darauf ein, dass seine Prämisse „What shows itself first gives itself “ impliziert,65 dass jedem Phänomen ein Selbst zukomme. Dieses Selbst des Phänomens sei nun aber gerade kein in sich gleichbleibender Kern des Phänomens – dies würde es erlauben alle Phänomene zu objektivieren –, sondern das Geschehen der Selbstbildung in der Anamorphose. Dementsprechend ist das Selbst des Phänomens für Marion am präzisesten als Ereignis zu fassen: „If appearing implies showing itself, as showing implies giving itself, both imply a self of the phenomenon. Such a self, supposing it could be reached, would in no way be equivalent to the in itself of the object or the thing. [. . .] The self of the phenomenon is marked in its determination as event.“66 Auch, dass es zum Charakter des Ereignisses gehöre, dass es das Ich – bis ins Körperliche hinein – überkomme, hebt Marion noch einmal dezidiert hervor. Darüber hinaus benennt Marion drei weitere Charakteristika des Ereignisses, die für ihn dementsprechend auf jede Selbstgebung des Phänomens zutreffen: seine Unwiederholbarkeit, seine Exzessivität und seinen Möglichkeits­ charakter. Ein Ereignis sei insofern unwiederholbar, als entweder die zeitliche oder die örtliche Differenz einen entscheidenden Unterschied in zwei völlig gleich verlaufende Geschehen bringe. Insofern sei jedes Ereignis analogielos. Trotzdem sei nicht zu leugnen, dass jedem Ereignis eine Vorgeschichte vorausgehe und es auch eine Folgegeschichte habe. Gegenüber dieser Vorgeschichte und auch dem, was an Geschehnissen auf das Ereignis folge, zeichne es sich durch eine besondere Exzessivität aus. Ein Ereignis überrage sein Umfeld, es habe Züge von Maßlosigkeit an sich, und gerade das mache seine Einordnung unmöglich, entreiße es der Verfügbarkeit dessen, über den es hereinbricht. Doch gerade durch seinen herausgehobenen Charakter strukturiere das Ereignis die Deutung seiner Vorgeschichte neu. Übertrage man den Charakterzug der Exzessivität des Ereignisses auf die 63   Marion nimmt ein Beispiel des Aristoteles auf, in dem ein Reisender nach Ägina zu kommen wünscht und auch dorthin gelangt, aber als Gefangener von Piraten. Die Intention des Reisenden hat sich erfüllt, aber nicht so, wie erwartet. Dass er ein bestimmtes Ziel anvisierte, ist auch nicht der Grund dafür, dass er es erreichte, sondern die Intention der Piraten, die sich mit seiner eigenen deckte, vgl. Marion, BG, 153. 64   Marion, BG, 1. 65   Marion, BG, 5. 66   Marion, BG, 159.

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2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

Phänomenologie, so müsse man zugestehen, dass jede Selbstgebung eines Phänomens dem Bewusstsein etwas Neues hinzufüge und es dementsprechend nicht zu einer abgeschlossenen Weltdeutung kommen könne. Bei seiner Charakterisierung des Ereignisses als möglich grenzt sich Marion zunächst von dem metaphysischen Verständnis von Potentialität ab, das diese als noch unrealisierte Aktualität begreift, da das Potentielle bei diesem Verständnis den Charakter einer vorhersehbaren, kalkulierbaren Größe erhalte. Nach Marion gilt dies aber für das Ereignis gerade nicht: ein Vorgriff auf das ‚Prä‘ eines durch das Ereignis gesetzten Faktums sei nicht möglich, und das bedeute, dass jedes sich selbst gebende Phänomen nicht erwartbare Momente enthalte. Indem Marion den Möglichkeitsbegriff auf das Ereignis des sich selbst gebenden Phänomens bezieht, erweitert er ihn somit zur Realisierung des Unerwartbaren. 2.3.2.2  Gesättigte Phänomene Marions Ausführungen zur Selbstgebung der Phänomene münden in einen begrifflichen Vorschlag, der in der philosophischen Wissenschaft für ausgesprochen viel Resonanz gesorgt hat. Marion betont, dass nicht wie bisher in der Geschichte der Philosophie seit Kant und Husserl automatisch von einer Äquivalenz von Anschauung und Begriff ausgegangen werden könne oder aber von einer Anschauung, die den Begriff nicht völlig ausfülle, sondern dass auch der umgekehrte Fall denkbar sei, dass die Anschauung den ihr zugeordneten Begriff überborde. In diesem Fall schlägt er vor, von einem gesättigten Phänomen zu sprechen.67 Marion stellt den gesättigten Phänomenen die anschauungsarmen Phänomene gegenüber, die er wiederum in die eigentlichen anschauungsarmen Phänomene wie mathematische Formeln und die allgemeingesetzlichen Phänomene wie technische Objekte und Gegenstände des täglichen Lebens, die der Mensch in Gebrauch nimmt, unterteilt. Marion macht deutlich, dass teilweise dasselbe Phänomen als anschauungsarmes oder als gesättigtes Phänomen rezipiert werden könne.68 So könne man ein Musikstück beispielsweise analytisch hören, um dann Aussagen über seinen Aufbau zu machen, man könne sich aber auch vom ästhetischen Genuss des Hörens gefangen nehmen lassen. Dieses Beispiel macht deutlich, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen den anschauungsarmen und den gesättigten Phänomenen darin besteht, dass die Intentionalität des Bewusstseins beim gesättigten Phänomen im Gegensatz zum anschauungsarmen Phänomen völlig zugunsten der Selbstgebung des Phänomens hingegeben wird. Insofern sind es für Marion gerade die gesättigten Phänomene, an denen der Vorrang der Selbstgebung des Phänomens sichtbar wird. 67

  Marion, Jean-Luc, Sättigung als Banalität, in: Gabel / Joas, Ursprünglichkeit, 96. Der in „Being Given“ verwandte englische Begriff lautet „Saturated Phenomenon“, vgl. Marion, BG, 199 ff. 68   Marion, Sättigung, in: Gabel / Joas, Ursprünglichkeit, 96 – 142.

2.3  Gebung und Gabe – die Gabentheorie Jean-Luc Marions

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Um zu veranschaulichen, inwiefern gesättigte Phänomene die Möglichkeit, vom Bewusstsein intentionalisiert zu werden, unterlaufen, greift Marion auf Kants Kategorien zurück,69 die dieser als Bedingungen des Urteilens herausgearbeitet hat. Marion versucht zu zeigen, wie gesättigte Phänomene die Urteilsbildung anhand dieser Kategorien unmöglich machen. Er beschreibt sein Vorgehen wie folgt: „I will sketch a description of the saturated phenomenon by following the lead of the categories of the understanding defined by Kant. But the saturated phenomenon exceeds these categories (as well as principles), since in it intuition passes beyond the concept. I will therefore follow them by inverting them.“70 Dabei geht Marion auf alle Kategorienfelder Kants ein und zeigt ihre mögliche Unterwanderung auf: Quantität, Qualität, Relation und Modalität. Beim quantitativen Urteilen gehe es darum, Aussagen über den Umfang eines Phänomens zu machen sowie Teile einem Ganzen zuzuordnen. Gesättigte Phänomene machten eine solche Zuordnung unmöglich, so Marion, weil die Summe der einzelnen Teile nicht überschaubar sei oder permanent neue Teile hinzuträten. Als Beispiel nennt er bedeutende historische Ereignisse, die in der Fülle ihrer einzelnen Geschehnisse nicht überblickbar seien.71 Qualitative Urteile kämen zustande, indem eine bestimmte Eigenschaft für einen Gegenstand bejaht oder verneint werde. In diesem Falle unterliefen gesättigte Phänomene die Skala einer möglichen Einteilung. Hier führt Marion als Beispiel all jene Phänomene an, die er unter dem Begriff „idol“ subsumiert:72 Phänomene, die den Betrachter blendeten und ihn dazu bewegten, sie wieder und wieder zu betrachten, weil sie sich ihm immer wieder anders darstellen, wie etwa Kunstwerke der modernen Malerei. Nach Kant ermögliche es die Kategorie der Relation dem Erkennenden, Dinge miteinander in Verbindung zu setzen, entweder indem sie nach dem Schema von Ursache und Wirkung einander zugeordnet werden, als Akzidenz einer bestimmten Substanz oder als Substanz mit verschiedenen Akzidenzien erkannt oder in ihrer Vergleichbarkeit mit anderem betrachtet werden. Mit dieser Zuordnung des Erkenntnisgegenstandes zu anderen Gegenständen komme ein zeitliches Moment in den Erkenntnisprozess. Gesättigte Phänomene sind nach Marion insofern absolut, als sie sich einer solchen Zuordnung entziehen. Sie hätten den Charakter eines Ereignisses, d. h. sie seien unvorhersehbar und könnten nicht aus Vorausgehendem abgeleitet werden. Hier greift Marion als Beispiel auf Michel Henrys Überlegungen zur Selbstaffektion des Körpers zurück. Dieser hatte betont, dass sich der Leib mit 69   Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Timmermann, Jens nach der ersten und zweiten Originalausgabe (= PhB 505), Hamburg 2003, 145 ff. 70   Marion, BG, 199. 71   Als aktuelles Beispiel mag der arabische Frühling dienen, bei dem, wie bei jeder anderen Revolution auch, kein Historiker jemals mit Sicherheit wird sagen können, wo man welche Flugblätter gedruckt hat, welche Menschen bei welchen Demonstrationen waren etc. 72   Zu Marions Verständnis von „Idol“ vgl. Marion, Jean-Luc, Gott ohne Sein, Paderborn 2014, 23 – 93.

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2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

seinen Empfindungen wie Schmerz oder Erregung der Objektivierung durch das Erkenntnissubjekt entziehe. Während sich die ersten drei Kategorienfelder auf das Erkenntnisobjekt bzw. auf seine Relation zu anderen Objekten bezögen, bezögen sich Kants Kategorien der Modalität auf das denkende Ich: „We know that the categories of modality are distinguished from all the others in that they determine neither objects in themselves (quantity, quality) nor their mutual relations (relation), but only – Kant insists – ‚their relation to thought in general‘.“73 Im Gegensatz zu Kant räumt Marion durchaus die Möglichkeit ein, dass sich Phänomene dem Bewusstsein präsentieren, die dieses nicht durch seine Erfahrung einordnen könne. Als Beispiel nennt er in Anlehnung an Lévinas das „Antlitz des Anderen“, das er als eine Form von Ikone betrachtet.74 Lévinas zufolge ist der Andere vom menschlichen Bewusstsein nicht denkerisch einholbar, da das Ich immer nur eine adaequatio zu sich selbst, also ein alter ego denken könne. Vielmehr sehe sich das Ich dem Blick des Anderen ausgesetzt und von ihm in Anspruch genommen. Die Beschreibung der Begegnung des Ichs und des Anderen durch Lévinas entspricht insofern der Struktur, die nach Marion für die Begegnung mit jedem gesättigten Phänomen charakteristisch ist. Es ist vom menschlichen Bewusstsein nicht wie ein Gegenstand objektivierbar und setzt im Ich dadurch einen inneren Prozess in Gang. Marion betont, dass die Unmöglichkeit, eine Gegenstandserfahrung zu machen, nicht gleichzusetzen sei mit der Unmöglichkeit von Erfahrung generell. Vielmehr mache das Ich insofern eine Selbsterfahrung, als ihm seine Begrenztheit im Hinblick auf das Verstehen vor Augen geführt werde: „Dadurch, dass sich der Anschauungsüberschuss im Geschehen gesättigter Phänomene als Gegenlauf der Erfahrung aufdrängt, stellt sich vielmehr der Endlichkeitscharakter als solcher in der Empfindungs- und Erfahrungswelt des transzendentalen Subjekts ein. Er drängt das transzendentale Subjekt dazu, sich als Hingegebener zu bekennen.“75 Hinzu komme, dass gerade beim gesättigten Phänomen dem Empfänger der Gabecharakter des Phänomens besonders deutlich werde. Hier könne er die Erfahrung von sich gebender Anschauung in Reinform machen. Dem entspreche, dass sich das Ich als Empfänger und nicht als Akteur begreifen müsse, dass es bereit sein müsse, die Vorstellung von der eigenen Subjektivität als Fixpunkt aufzugeben und sich vom Phänomen formen zu lassen. In Abgrenzung zur Gegenstandserfahrung bezeichnet Marion die Erfahrung, die das Ich mit dem gesättigten Phänomen machen könne, als „Gegenerfahrung“ und im Hinblick auf die Veränderung, die es im Ich anstößt, als „gründende Erfahrung“.76

73

  Marion, BG, 212.   Lévinas, TU, 267 ff. 75   Marion, Sättigung, in: Gabel / Joas, Ursprünglichkeit, 96 – 139, hier: 127. 76   Marion, BG, 215. 74

2.3  Gebung und Gabe – die Gabentheorie Jean-Luc Marions

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Die Annahme, dass es Phänomene gebe, bei denen die Anschauung den Begriff übersteige, eröffne der Philosophie, so Marion, auch die Möglichkeit, ‚Offenbarung‘ zu denken.77 Dabei gehe Offenbarung insofern noch über ein einfaches gesättigtes Phänomen hinaus, als in ihr die verschiedenen Formen von gesättigten Phänomenen in Kombination aufträten. Marion versteht unter Offenbarung die Gebung eines Phänomens in einem bestimmten Horizont, der das Phänomen aber nur unvollständig zu fassen vermag und deshalb durch die Gebung des Phänomens selbst in Schwingung versetzt wird: „Die Offenbarung impliziert eine Inszenierung, also lässt sie sich dazu herab, einen Horizont zu übernehmen. Sie weist aber gleichwohl jede Bedingung, die ihrer Möglichkeit a priori auferlegt ist, zurück. [. . .] Die Offenbarung setzt sich in einem Horizont nur dann in Szene, wenn sie ihn ausfüllt. [. . .] Was sich jedoch so offenbart, füllt in dem Maße die Dimensionen und Möglichkeiten, die dieser Rahmen gewährt, dass das resultierende Phänomen sich selbst in Schwierigkeiten bringt. Die Gewalt und das Ausmaß dessen, was sich in Szene setzten lässt, kann nur so in die Grenzen des phänomenologischen Horizonts treten, dass es ihn aufhebt: jede Linie des Phänomens interferiert mit allen anderen, als ob sie sich kreuzten oder sich widerspiegeln würden – die eine in der anderen oder jede an den Rändern des Rahmens. Diese Auflösung des Horizonts durch die Offenbarung markiert qua Sättigung die korrekte, d. h. paradoxe Relation des einen mit dem anderen: Eine Offenbarung tritt in die Phänomenalität nur in der Gestalt des Paradoxes ein – in der Gestalt ‚gesättigter Phänomene‘, die ihrerseits den ganzen Horizont ausfüllen.“78

Im Hinblick auf das Ich, das die Offenbarung empfängt, gilt ganz analog zu dem Empfänger aller gesättigten und letztlich auch anschauungsarmen Phänomene, dass es sich durch die Gebung konstituiert vorfindet. Marion, der sich durch seine Schriften während seiner mittleren Schaffensperiode klar als christlicher Denker positioniert hat, denkt bei Offenbarung letztlich an die Offenbarung Gottes in Jesus Christus und versucht in „Etant donné“, in einer dezidiert phänomenologischen Lesart des Neuen Testaments aufzuzeigen, dass in Jesus Christus die vier von ihm dargestellten Arten von gesättigten Phänomenen (geschichtliches Ereignis, Idol, Leib und Ikone) zusammenkommen.79 Die Offenbarung in Jesus 77   In der Literatur über Marion wird zum Teil die These vertreten, dass Marion bei seinen phänomenologischen Ausführungen das Ziel verfolgt habe, das Phänomen der Offenbarung philosophisch salonfähig zu machen, dass er also implizit ein theologisches Interesse verfolgt habe, so z. B. Janicaud, Dominique, Le tournant théologique de la phénoménologie française, Combas 1991, 39 ff., aber auch Alferi, Phänomenologie und Offenbarung, 34. 78   Marion, Religionsphänomenologie, 35. 79   Es handelt sich bei Marions Lesart des Neuen Testaments insofern um eine phänomenologische und dezidiert nicht historisch-kritische Lesart, als er das Neue Testament als Reaktion auf das Empfangen der Christusoffenbarung deutet. Als Ereignis begreift Marion das Christusgeschehen insofern, als es trotz der Ankündigung der Propheten nicht antizipierbar war und es auch die ­Parusie Christi nicht ist. Interessant dabei ist, dass seine Parusie nach Marion auch für Christus selbst ­Ereignischarakter behält, dass auch er laut des Markusevangeliums Zeit und Stunde seiner Wiederkehr nicht weiß (Mk 13,32). Die Blendung und Unmöglichkeit der Bewertung und Einordnung des Christusgeschehens macht Marion an Jesu Verklärung sowie seiner Auferstehung fest. Dass es dem

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2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

Christus zeichne sich jedoch nicht nur dadurch aus, dass die verschiedenen Formen von gesättigten Phänomenen in ihr kulminierten, sondern auch dadurch dass jedes dieser Phänomene in sich noch einmal eine Brechung erfahre.80 Hierdurch komme es zu einer gegenläufigen Bewegung: Jedes gesättigte Phänomen zeichne sich durch seinen exzessiven Anschauungsüberschuss ja gerade dadurch aus, dass es zugleich Anschauung versage. Dieses Moment der Entzogenheit von Anschauung wird durch die Brechungen, die das Offenbarungsphänomen auszeichne, noch einmal verstärkt. Marion spricht deshalb von der Offenbarung als einem Paradox, bzw. einer „Saturation of Saturation“.81 Dadurch, dass die Anschaulichkeit im Paradox der Offenbarung selbst noch einmal eine Rücknahme erfährt, ist es letztlich der Gegebenheitscharakter der donation, der hier in Reinform zutage tritt und den Empfänger vollständig verpflichtet: „Hier manifestiert sich nicht nur die Anschauung, wie in der ‚einfachen‘ Sättigung, ihr irreduzibles Sich-Geben, sondern hier (ver‑)gibt sich die Anschauung als Anschauung und eröffnet dadurch das Phänomen einer letztlich unanschaulichen ‚donation pure‘. [. . .] Doch fällt in dieser anschaulichen Ganzhingabe der Blick Christi auf das Bewusstsein derer, die zu seinen Zeugen werden. Die ‚donation pure‘ bedeutet ein Blick, der mich trifft. Bei der Offenbarung weiß sich der Zeuge ganz von dieser Gebung angeschaut. Die Entäußerung der Anschaulichkeit, zur reinen Gebung hin, beansprucht den ‚adonné‘.“82

2.3.2.3  Die Rolle des Empfängers der donation Wie in den vorangegangenen Abschnitten bereits deutlich wurde, begreift Marion die Gebung eines Phänomens als einen Prozess, der dem Empfänger widerfährt. Marion betont mit außerordentlichem Nachdruck, dass das Phänomen selbst die Dynamik im Erkenntnisprozess entwickelt, indem es den Empfänger affiziert und damit zugleich verändert. Ihm geht es darum, die dominierende Stellung des die Wirklichkeit konstruierenden Bewusstseins des Menschen für den Erkenntnisprozess radikal in Frage zu stellen. Dementsprechend drängt sich die Frage auf, Schema von Ursache und Wirkung enthoben sei, lasse sich am Kreuzesgeschehen beobachten: So sei es gerade das Leiden Jesu, aus dem neues Leben erwachse, ohne dass dies in irgendeiner Weise vorher antizipierbar wäre. Auch dass etwa für den Hauptmann unter dem Kreuz sich in Jesu Leiden Gottes Herrlichkeit offenbare, sei rational nicht zu erklären. Die Sättigung des Christusgeschehens hinsichtlich der Modalität illustriert Marion daran, dass Jesu Blick auf Menschen wie etwa den Jüngern oder dem reichen Jüngling ruhe und von diesem Angeschautwerden der Anspruch zur bedingungslosen Hingabe an Jesus ausgehe, dem im Falle der Jünger entsprochen werde, im Falle des reichen Jünglings allerdings nicht. Zur Interpretation der neutestamentarischen Geschichten durch Marion vgl. Marion, BG, 236 – 241. 80   Diese Brechung sei hier exemplarisch am Beispiel des Idols erklärt: Die Offenbarung Jesu als Verklärten, bzw. dann als Auferstandenen entzieht sich dem Fassungsvermögen der Jünger. Es tritt aber hinzu, dass die Szene der Verklärung plötzlich vor den Augen der Jünger verschwindet bzw. der Auferstandene sich ihnen immer wieder entzieht. Dies trägt ein weiteres Moment der Unfassbarkeit in das Offenbarungsgeschehen mit ein. 81   Marion, BG, 242. 82   Alferi, Phänomenologie und Offenbarung, 386 f.

2.3  Gebung und Gabe – die Gabentheorie Jean-Luc Marions

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ob Marion das Ich als vollständig passiv im Gabeprozess begreift. Diese Frage verneint er entschieden und weist dem menschlichen Subjekt eine Stellung zwischen Passivität und Aktivität zu: „It goes without saying that this receptivity cannot be defined within the framework of a trivial opposition between passivity and activity, since it is privileged to mediate them.“83 Marion bestimmt den aktiven Part des Ich im Prozess, der sich an ihm vollzieht, dahingehend, dass das menschliche Bewusstsein dem Phänomen einen Ort biete, um sich manifestieren zu können, ohne den es gar nicht möglich wäre, dass das Phänomen sich zeige. Insofern vergleicht er das menschliche Bewusstsein mit einem Bildschirm, auf dem sich das Phänomen zeigen kann, mit einem Filter oder einem Prisma. Damit sich ein Phänomen zeigen könne, gehöre beides zusammen: Die Gebung des Phänomens und die Offenheit und Hingabe des Empfängers an diesen Gebungsprozess. Bei den gesättigten Phänomenen beinhalte die Tatsache, dass das Ich das Phänomen erst zur Manifestation bringt, dass dies mit einer subjektiven Interpretation des Phänomens einhergehe. Das Ich versuche durch alle ihm denkerisch zu Verfügung stehenden Mittel das zu fassen, was sein Fassungsvermögen übersteigt. Was der Mensch von dem für ihn nicht vollständig erfassbaren Phänomen dann erfasse und wie er es darzustellen vermag, sei zwangsläufig nicht objektiv, sondern perspektivisch und bruchstückhaft. Es ist eine subjektive Darstellung, weshalb Marion den Empfänger eines gesättigten Phänomens als dessen Zeugen charakterisiert: „Und dennoch kommt der Zeuge niemals dahin, das zu sagen, zu verstehen, verstehbar zu machen, was er gesehen hat. [. . .] Nur der Begriff könnte dieses Erfassen ja garantieren. Aber der Zeuge verfügt, genau genommen, nicht über einen oder mehrere Begriffe, die der auf ihn einströmenden Anschauung adäquat wären. Er legt nur seine Sicht der Dinge, seine Erzählung, die ihm bedeutsamen Einzelheiten und Informationen dar, kurz gesagt: er kann nur seine Geschichte erzählen, die niemals den Rang der objektiven Geschichte erhält.“84

Als Möglichkeit, das Verhältnis von Phänomen und Empfänger zu beschreiben, greift Marion auch auf das Bild von Ruf und Antwort zurück. Es eigne sich besonders gut, um deutlich zu machen, dass das Ich noch vor jedem intentionalen Akt von etwas außerhalb seiner selbst angegangen werde, auf das es reagiere. „Marions phänomenologischer Ansatz schafft deshalb das transzendentale Subjekt nicht ab, sondern bezieht sich auf dessen präreflexive Herkunft: Dem Denkenden liegt eine Anrufbarkeits- und Empfänglichkeitsstruktur voraus, die es für die Gebung der ‚Phänomenwelt‘ erst öffnet.“85 Marion beschreibt die Manifestation des Rufes, der an das Ich ergeht, mit verschiedenen Charakteristika, etwa als Anstoß, der das Ich deplatziere und in eine unbekannte Position versetze, als Erstaunen und als Angesprochensein im Sinne eines Vorgeladenwerdens. Entscheidend dabei sei, dass der 83

  Marion, BG, 264.   Marion, Sättigung, 137. 85   Alferi, Phänomenologie und Offenbarung, 317. 84

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2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

Ruf den Gerufenen in die Relation zu etwas setze, was er selbst nicht einzuordnen vermag. Er öffne sich vom Ruf ermutigt für etwas, was ihm selbst nur als Leerstelle erscheinen könne, weil er es nicht begreife: „The call surprises by seizing the gifted without always teaching him what it might be. [. . .] The gifted gives all his attention to an essentially lacking object; he is open to an empty gap.“86 Dieses Hingeordnetsein auf etwas, das dem Begreifen des Ichs hermetisch verschlossen ist, meint Marion, wenn er immer wieder davon spricht, dass der Ruf nicht von einem Rufenden komme, und dem Angesprochenen die Aufgabe zuweist, herauszufinden, ob es sich überhaupt um einen Ruf handele und ob er ihm gelte.87 In dem Moment, in dem das Ich jedoch außerstande sei, sich selbst über sein Wissen zu definieren, komme ihm eine neue Identität zu. Es werde zum Angesprochenen, zum „interloqué“,88 und das bedeute, dass das Ich seine Identität letztlich einer fremden Größe verdanke, dass es gesetzt werde und sich stets partiell entzogen sei: „I receive my self from the call that gives me to myself before giving me anything whatsoever“.89 Auf das Angesprochensein zu reagieren und damit zu antworten, stehe nicht in der freien Verfügung des Ichs. Wie das Ich jedoch antworte, ob es sich dem Phänomen, das es anspricht, hingebe und sich von ihm formen lasse oder sich dem verweigere, mache die Freiheit des Ich aus. Auch bei seinen Ausführungen zu Ruf und Antwort betont Marion, dass das gesättigte Phänomen durch das Ich zur Anschauung gebracht wird. Der Ruf werde, so Marion, erst in der Antwort vernehmbar. Als eines von mehreren Beispielen dafür wählt er die biblische Geschichte von der Berufung Samuels, bei der erst in Samuels Antwort „Hier bin ich“ deutlich der Ruf Gottes vernehmbar werde.90 Allerdings ist auch hier wieder das bereits über den Zeugen Gesagte zu wiederholen: In der Antwort ist der Ruf nie vollständig vernehmbar, die donation bleibt letztlich entzogen. 2.3.2.4 Die Reduktion des sozialen Phänomens ‚Gabe‘ Vor dem Hintergrund von Marions Verständnis von einer Gebung der Phänomene werden im Folgenden seine Ausführungen zum sozialen Phänomen ‚Gabe‘ näher erläutert. Marion wendet sich hierfür der Debatte zu, die Derrida durch seine Ausführungen zu Mauss’ „Essaie sur le don“ in „Falschgeld. Zeit geben 1“ entfacht hatte. Die Hinwendung zum sozialen Phänomen ‚Gabe‘ resultiert aus der Befürchtung Marions, dass die von Derrida aufgezeigte Aporie (entweder werde

86

  Marion, BG, 268.  Vgl. Marion, Jean-Luc, Ruf und Gabe als formale Bestimmung der Subjektivität. Zweites Gespräch mit Jean-Luc Marion in Bonn, in: Marion, Jean-Luc / Wohlmuth, Josef, Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie, Bonn 2000, 53 – 69, hier: 58 u. 62. 88   Marion, BG, 369. Ein anderer Begriff, den Marion im französischen Original häufig für den Empfänger der donation verwendet, ist „adonné“ [der (der Gebung) Hingegebene]. 89   Marion, BG, 269. 90   Vgl. 1. Sam  3,5 ff. 87

2.3  Gebung und Gabe – die Gabentheorie Jean-Luc Marions

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die Gabe durch die zirkuläre Struktur des Tausches aufgehoben oder sie komme den beteiligten Personen nicht zu Bewusstsein) sein gesamtes Konzept der donation aufgrund der Univozität von Gabe und Gegebenheit in Misskredit bringen könnte. So urteilt er über beide Denkmöglichkeiten, die die von Derrida aufgezeigte Aporie bilden: „In both cases, the gift does not shed any light on the fold of givenness – worse yet, it serves as an argument against the possibility of even reaching it. The aporia of the gift engulfs givenness.“91 Für Marion ergibt sich die aufgezeigte Aporie jedoch deshalb, weil Derrida ebenso wie Mauss die Gabe auf der Folie eines falschen Referenzrahmens betrachtet habe. Dieser werde bei beiden von einem ökonomischen Denken gebildet. Marion wirft diesem ökonomischen Denken aber vor, durch und durch metaphysisch zu sein und den Effizienzgedanken in das Gabegeschehen einzuführen. Die im Gabeprozess involvierten Größen ‚Geber‘, ‚Empfänger‘ und ‚Gabe‘ würden so in das Schema von Ursache und Wirkung gepresst: „Within the framework, the parties to givenness – the giver and the givee, in the singular or in the plural – who traffic with another in exchange find themselves already interpreted as causes according to the metaphysical understanding of this concept. The giver produces, like an efficient cause, the gift, which is itself effected and effective; the givee receives the gift as its final cause; finally the gift as given product calls for a formal cause and a material cause in order to be internally consistent.“92

Großzügigkeit könne angesichts eines solchen effizienten Systems nur eine Randerscheinung darstellen. Hinzu komme, dass mit dem Gedanken der Reziprozität die Vorstellung von einem mit sich selbst identischen, sich selbst setzenden, intentional agierenden, vom Gabegeschehen völlig unberührten Subjekt untermauert werde.93 Diese Subjektvorstellung stellt Marion grundsätzlich in Frage. Schließlich weist Marion darauf hin, dass die Gabe durch ein solches metaphysisches Denken den Status eines Objekts erhalte, das bei dem Transfer vom Geber zum Empfänger sowie beim Rücktransfer gleichbleibend sein müsse. Dies bedeute, dass alles Nichtgegenständliche als potentielle Gabe ausgeklammert werden müsse.94 Marion hält demgegenüber eine Interpretation der Gabe im Rahmen der Überlegungen zur phänomenologischen Gegebenheit für angemessener, um ihrem Wesen näher zu kommen. Dies bedeute, die neutrale Beobachterperspektive aufzugeben und sich zu fragen, wie sich die Gabe dem Bewusstsein von Geber und Empfänger darstelle, wie sie selbst sich dem Bewusstsein als Phänomen zu erkennen gebe.95 Um dies zu ermöglichen, führt Marion im Folgenden eine dreifache 91

  Marion, BG, 79.   Marion, BG, 82. 93   Marion, BG, 75. 94   Marion, BG, 77. 95   Der Anspruch, nicht von einer Metaebene aus auf das Gabegeschehen herabzublicken, sondern die Perspektive der beteiligten Partner einzunehmen, wird interessanterweise vereinzelt auch in der soziologischen Debatte erhoben, vgl. z. B. Bourdieu, Sozialer Sinn, 49 ff. 92

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2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

Reduktion durch. Er geht zunächst von Situationen aus, in denen das Zirkulieren der Gabe unmöglich ist, weil kein direkter Geber vorhanden ist, behandelt dann Situationen, in denen ein direkter Empfänger fehlt, und wendet sich schließlich Gabephänomenen zu, in denen die Gabe kein Objekt darstellt. Mit diesen drei Reduktionen will Marion den nicht-reziproken Charakter von Gabe in dem Sinne freilegen, wie Thomas von Aquin ihn gefasst hat: „Donum proprie est datio irredibilis . . . id est quod non datur intentione retributionis.“96 In einem ersten Gedankengang führt Marion Beispiele auf, in denen für den Geber kein direkter Empfänger der Gabe sichtbar ist oder der Empfänger den Empfang der Gabe verweigert. Bei der Auswahl der Beispiele achtet er streng ­darauf, dass es wirklich zu einem Geben kommt, dass der Geber also realiter etwas unwiederbringlich aus seinem Verfügungsbereich preisgibt. Als Beispiele führt Marion das anonyme Spenden an, bei dem der Geber dem Empfänger nicht leibhaftig begegnet, und die Gabe an den Feind, der diese eventuell ablehnen wird. Ausführlich interpretiert er das Gleichnis vom Weltgericht aus Mt. 25, in dem sich Christus dem Gläubigen als der eigentliche Empfänger von Zuwendungen an Menschen in Not präsentiert, der aber in der Situation des Gebens dem Geber gerade nicht als Empfänger präsent vor Augen stand. Schließlich führt Marion Situationen an, in denen der Geber insofern keine Gegengabe erwarten kann, als der Empfänger kein einzelner ist, sondern eine anonyme Gemeinschaft bildet, wie etwa das Volk, die Menschheit etc. In solchen Fällen komme hinzu, dass das, was der Einzelne gebe, etwa seine Zeit, seine Energie, sein Herzblut in die Kategorie von Gaben falle, die keinen Objektstatus haben, und daher gar nicht zurückgegeben werden können. Marion präsentiert diese Fülle von Beispielen, um Folgendes deutlich zu machen: auch wenn keine Gegengabe stattfindet, bildet sich im Geber das Bewusstsein heraus, dass es sich hier um eine Gabe handelt. Marion betont, dass der Geber in diesem Falle zum Empfänger werde, und zwar zum Empfänger des Phänomens ‚Gabe‘, das sich ihm aufdränge: „Absent the givee, the gift can no longer appear except to the giver, who becomes, from now on, its receiver.“97 Anders als bei Derrida ist es nicht zunächst die Selbstbestätigung, ein guter Mensch zu sein, die sich dem Geber, der keine reale Gegengabe empfängt, aufdrängt, sondern er wird zum Zeugen der Sache selbst: Er nimmt zunächst die Gabe in ihrem Charakter als überfließende Verausgabung wahr. In seiner zweiten Reduktion fingiert Marion dann eine Gabesituation ohne Geber. Als Situation ist beispielsweise eine Erbschaft denkbar, da in diesem Fall der Tod den Zirkel der Ökonomie unterbricht. Als weitere Beispiele nennt Marion Situationen, in denen ein Mensch unbewusst zum Geber wird, d. h. in denen das Tun eines Menschen für einen anderen zur Gabe wird – etwa, indem es ihn inspi96

  Thomas von Aquin, Summa theologiae Ia, q38, a. 1., zitiert nach: Marion, Being Given, 348, Endnote 48. 97   Marion, BG, 94.

2.3  Gebung und Gabe – die Gabentheorie Jean-Luc Marions

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riert oder ihm Freude bereitet – ohne, dass der Verursacher diese ‚Gabe‘ realisiert oder gar intendiert hätte. Dabei denkt Marion etwa an Künstler oder Sportler, aber auch an Liebende. Der Geber sei sich seiner Rolle als ‚Geber‘ nicht bewusst und werde erst durch die Reaktion des Empfängers auf diese aufmerksam gemacht. Dem Geber blieben Art und Intensität des im Empfänger Ausgelösten verschlossen. An diesem selbstvergessenen Geber lasse sich das Subjektverständnis aufzeigen, so Marion, um das er in seinen Ausführungen in „Etant donné“ durchgängig ringe und das einem klassischen Subjektverständnis diametral entgegenstehe. Der Geber sei ein Beispiel für ein Subjekt, dessen Identität nicht auf Selbsterkenntnis und Selbstsetzung beruhe, sondern sich – vom Ich selbst letztlich unerkannt – in der Hingabe vollziehe. Das dritte Beispiel bezeichnet Marion als das aufschlussreichste, da es direkt zum Wesen von ‚Gabe‘ führe: es handelt sich hierbei um die Erkenntnis eines Menschen, verschuldet zu sein, ohne einen Schuldner zu haben, dem diese Schuld abgetragen werden könne. „Mit Heidegger bestimmt Marion hierbei die Schuld nicht als eine mögliche Situation, in die das Selbst geraten kann, sondern als seine eigentliche ‚Seinsweise‘ – besser vielleicht seine Gegebenheitsweise oder die Weise seiner Gebung.“98 Die Erkenntnis, verschuldet zu sein, ist, wie Marion betont, nicht etwas, das zum Selbstverständnis des Empfängers hinzutritt, sondern es bestimmt sein Selbstverständnis radikal neu. Dies ist ein entscheidender Punkt für ihn: in dem Moment, in dem die Gabe vom Zyklus des Tausches gelöst betrachtet wird, wird deutlich, dass sie den Empfänger verändert, ihm eine neue Sicht auf sich selbst eröffnet: „The debt is not added to an already constituted consciousness assured of other objects, one which would be originally certain of itself. It is in recognizing its debt that the givee’s consciousness becomes self-consciousness, because the debt itself precedes all consciousness of it and defines its self. The self as such, the self of consciousness, receives itself at the outset as a gift (given) with­ out giver (giving).“99 Eine Gabe ohne Geber stelle den Empfänger jedoch, so Marion, immer vor die hermeneutische Frage: Handelt es sich um eine Gabe oder nicht? Ob diese Frage zu bejahen oder zu verneinen ist, entscheidet ausschließlich das Verständnis des Empfängers. Nur er könne etwas als Gabe ausweisen, und zwar dann, wenn er den Mangel empfinde, den sie ausfüllt. Hinzu trete eine weitere Frage, deren Beantwortung allein von der Interpretation des Empfängers abhängt: die Frage nach dem ihm verborgenen Geber. Marion betont, dass sich ein Geber durch seine Abwesenheit der Interpretation des Empfängers ausliefere: „He abandons to him the determination of his own existence; better, he hands his fate over to the prestige that the given gift possesses in the eyes of the givee himself. In contrast to the recognition of the gift as gift, which the givee can accomplish by knowing the 98

  Bauer, Einander, 490 f.   Marion, BG, 99.

99

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2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

gift (at least partially), the givee’s decision about the lacking giver demands recognition without cognition.“100 Nach Marion kann aber im Grunde jede wirkliche Gabe nur eine Gabe ohne Kenntnis des Gebers durch den Empfänger sein, weil der Geber ansonsten selbst zur Gabe werde. Die Anforderung, der der Empfänger ausgesetzt ist, nämlich den Geber anzuerkennen, ohne ihn wirklich zu kennen, betrachtet Marion als echte Bürde, der vielleicht nur die Liebe gewachsen sei. In seiner dritten Reduktion setzt Marion den Objektcharakter der Gabe in Klammern und wendet sich nicht gegenständlichen Gaben zu. Als Beispiele nennt er die Übertragung von Macht oder das gegebene Treueversprechen in der Ehe. Bei diesen Vorgängen lasse sich das, was eigentlich gegeben wird, lediglich durch ein gegebenes Objekt, etwa einen Ehering oder eine Insignie, symbolisieren. Und Marion gibt sich überzeugt: „The more the gift is radicalized, the more the object is reduced to the abstract role of support, occasion, symbol“.101 Wenn allerdings eine Gabe nicht zwangsweise gegenständlich sein muss, erhebt sich die Frage, was eine Gabe überhaupt als Gabe aus- und kennzeichnet. Marions Antwort auf diese Frage lautet: die Gebbarkeit bzw. Annehmbarkeit einer Sache mache diese zu einer Gabe.102 Um diese Antwort richtig einschätzen zu können, muss man sich noch einmal in Erinnerung rufen, dass Marion das soziale Phänomen ‚Gabe‘ aus einer phänomenologischen Perspektive betrachtet. Die Gebbarkeit einer Sache ist keine ihrer Eigenschaften, sondern ein Blickwinkel, eine Perspektive auf diese Sache, die sich dem potentiellen Geber aufdrängt. Es ist das Phänomen selbst, das diese Perspektive auf es im Betrachter – in diesem Fall dem möglichen Geber – hervorruft. Hier kommt zum Tragen, was Marion mit dem Begriff „Anamorphose“ umschreibt: Das Phänomen leitet den Betrachter in die Betrachtungsperspektive, aus der heraus es sich erschließt. Am Begriff der ‚Gebbarkeit‘ wird ebenfalls deutlich, dass Marion den Geber eines Phänomens angesichts der phänomenalen Selbsterschließung in einer passiven Rolle sieht. Das bedeute allerdings nicht, dass der Geber, dem sich eine Sache als gebbar erschlossen hat, in einem zweiten Schritt nicht die freie Entscheidung habe, die mögliche Gabe tatsächlich auch zu vollziehen oder dies zu unterlassen. Ganz analog zur ‚Gebbarkeit‘ verhalte es sich aus der Perspektive des Empfängers mit der ‚Annehmbarkeit‘. Auch ihr gegenüber sei der Empfänger nicht frei, sondern sie dränge sich ihm als Eindruck auf und mache ihm dadurch deutlich, dass eine Gabe an ihn herangetragen wird, die er dann im sozialen Vollzug annehmen oder ablehnen könne. Dabei ist es für Marion eine Selbstverständlichkeit, dass sich beim Empfänger mit der Gabe, die sich aufdrängt, auch das Gefühl von Verpflichtung bzw. Schuld einstellt.

100

  Marion, BG, 101.   Marion, BG, 106. 102  Vgl. Marion, BG, 106 ff. 101

2.4  Gabe: Eine unmögliche Möglichkeit. Das Gabeverständnis von Jacques Derrida

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2.3.2.5  Zusammenfassung und Würdigung Jean-Luc Marion stellt in seinem Werk „Etant donné“ die These auf, dass jedem Erkennen eine Gabestruktur zu Grunde liegt, und zwar die Selbstgebung des Phänomens, das von einem Ich erkannt wird. Indem er das Motiv der ‚Gabe‘ bzw. ‚Gebung‘ aufgreift, bearbeitet er das bei Husserls Korrelation von Phänomen und Bewusstsein entstehende Problem, wie etwas Neues, Bewußtseinerweiterndes überhaupt gedacht werden kann. Der Vorwurf, für Marion sei alles Gabe, wodurch er den eigentlichen Charakter von Gabe verwische,103 erscheint unberechtigt, denn durch die Differenzierung zwischen don und donation macht Marion bereits sprachlich kenntlich, dass er ‚Gebung‘ – so wie Heidegger den Begriff ‚Gabe‘ – als Philosophem gebraucht, d. h. dass er Eigenschaften, die er der Gabe zuschreibt, als Erklärungsmuster für das Verständnis des Erkenntnisprozesses heranzieht. Dabei geht es ihm bei der donation darum, das Moment des Empfangens für den Erkenntnisprozess zu betonen, um die Stellung des erkennenden Ego abzuwerten. Angesichts dieser philosophisch motivierten Zielsetzung erscheint die häufig formulierte Vermutung, über die donation solle heimlich der Gedanke eines göttlichen Gebers salonfähig gemacht werden, als konstruiert.104 Selbst wenn der Katholik Marion in seiner persönlichen Weltsicht von einem Schöpfergott ausgehen sollte, so ist in „Etant donné“ die Antwort auf die Frage nach der Entstehung der Phänomene die Figur der Anamorphose. Die Frage nach dem Geber ist in Marions Philosophie irrelevant. Marions These, das soziale Phänomen ‚Gabe‘ müsse im Horizont der ‚Gebung‘ und nicht im Horizont der Ökonomie verstanden werden, kann als engagiertes Plädoyer dafür gelten, bei dem Versuch, ein Verständnis von Gabe zu gewinnen, nicht über die jeweilige Perspektive der am Gabeprozess Beteiligten hinwegzugehen, wie es in ähnlicher Form auch von Soziologen wie Bourdieu gefordert wird.

2.4  Gabe: Eine unmögliche Möglichkeit. Das Gabeverständnis von Jacques Derrida 2.4.1 Vorbemerkungen Für Derridas Ausführungen zur Gabe gilt das, was man auch von seinen Arbeiten zu anderen ‚Sujets‘ sagen kann: Es geht ihm nicht darum, einen allumfassenden Theorieentwurf vorzulegen, sondern den Fokus des Lesers auf die Aporien zu lenken, die die Theorieansätze unterschwellig durchziehen, denen er seine Lektüre 103  Vgl. Dalferth, Umsonst, 96, sowie Derridas Position im Gespräch mit Marion, Derrida / Marion, On the Gift, 69. 104   Siehe dazu Anm. 206, sowie die von Derrida im direkten Gespräch mit Marion formulierte Kritik, Derrida / Marion, On the Gift, 64.

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2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

widmet. Auf der Basis dieser Offenlegung entwickelt Derrida dann Neues, ohne den Anspruch einer erschöpfenden Behandlung des Themas zu erheben. „Der hier philosophiert, entwickelt keine glatte und eindeutige Grundlage, sondern exponiert ihre Risse.“105 Gleichwohl kann man Derridas Ausführungen zum Thema ‚Gabe‘ in gewisser Weise als Gegenentwurf zum Gabenverständnis von Marcel Mauss und den anderen im Diskurs 1 dargestellten Autoren betrachten, da er die Gabe als ein asymmetrisches, nicht reziprokes Geschehen auffasst. Derrida legt großen Wert d ­ arauf, zwischen Gabe und Tausch zu differenzieren, und dies hat zwei Gründe. Zum einen geht es ihm darum, Gabe als etwas zu denken, das den Empfänger nicht automatisch verpflichtet und verschuldet.106 Zum anderen versucht er, unter dem Stichwort ‚Gabe‘ eine Gegengröße zu den das menschliche Denken bestimmenden Größen wie Kalkül, Gesetz und Ordnung zu denken: „Aber ist Gabe, wenn es sie gibt, nicht auch gerade das, was die Ökonomie unterbricht? Gerade das, was dem Tausch nicht mehr stattgibt, weil es den ökonomischen Kalkül suspendiert?“107 Allerdings entspricht eine solche Gabe nach Derrida nicht unserer alltäglichen Erfahrung, sondern eher ‚der Gabentausch‘, der für ihn keine Gabe darstellt. Gabe sei, so folgert Derrida, nur als „unmögliche Möglichkeit“ denkbar.108 Mit dieser auch in anderen Zusammenhängen von ihm gebrauchten Formel bezeichnet Derrida nicht etwas, das in der Realität nicht vorkommt, sondern etwas, das dem aktiven Gestaltungsspielraum des Menschen, seinem Handlungsspielraum entzogen ist, aber dennoch geschehen, sich ereignen kann. „Man muss hier von einem unmöglichen Ereignis sprechen. Von einem Un-möglichen, das nicht nur unmöglich, nicht nur das Gegenteil des Möglichen ist, sondern gleichermaßen die Bedingung oder die Chance des Möglichen. Von einem Un-möglichen, das die Erfahrung des Möglichen selbst ist“.109 In seinen Arbeiten über die Gabe reflektiert Derrida über Möglichkeiten, in denen Gabe stattfinden kann. Eine erste ausführliche Darstellung von Derridas Überlegungen zum Thema Gabe findet sich in dem Werk „Falschgeld. Zeit geben 1“.110 Ein Jahr später veröffentlichte Derrida dann seinen Aufsatz „Den Tod geben“,111 in dem er sich mit 105   Dufourmantelle, Anne, Einladung, in: Derrida, Jacques, Von der Gastfreundschaft. Mit einer „Einladung“ von Anne Dufourmantelle, hg. v. Engelmann, Peter, übers. v. Sedlaczek, Markus, Wien 2001, 116. 106  Vgl. Derrida, Fg, 23. 107   Derrida, Fg, 17. 108   Derrida, Jacques, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, übers. v. Lüdemann, Susanne, Berlin 2003, 28 f. 109   Derrida, unmögliche Möglichkeit, 41. 110   Derrida, Jacques, Falschgeld. Zeit geben 1, aus dem Franz. übers. v. Knop, Andreas, München 1993. [Donner le temps 1. La fausse monnaie, Paris 1991] 111   Derrida, Jacques, Den Tod geben, in: Haverkamp, Anselm, Gewalt und Gerechtigkeit, Frankfurt / M.1994, 331 – 445. [Donner la mort. in: Wetzel, Jean-Michel / Rabaté, Michael (Hg.), L’éthique du don. Jacques Derrida et la pensée du don, Paris 1992, 11 – 108]

2.4  Gabe: Eine unmögliche Möglichkeit. Das Gabeverständnis von Jacques Derrida

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dem Zusammenhang von Gabe, Tod und Verantwortung beschäftigt. Dieser wird im Rahmen des dritten Diskurses behandelt werden, weil er in hohem Maße von Emmanuel Lévinas’ Überlegungen zur Gabe geprägt ist. 2.4.2 „Falschgeld. Zeit geben 1“ Derrida setzt sich in „Falschgeld. Zeit geben 1“ zum einen mit dem Gabeverständnis, wie es Marcel Mauss in seinem „Essai sur le don“ entwickelt hat, auseinander, zum anderen interpretiert er die Geschichte Baudelaires „Das falsche Geldstück“ und bezieht schließlich die Gedanken,112 die sich Heidegger in seinem Aufsatz „Zeit und Sein“ zum Thema Gabe gemacht hat, mit ein. 2.4.2.1  Die der Gabe inhärente Aporie Wie oben bereits angedeutet, besteht Derridas Grundintention darin, aufzuzeigen, dass die Gabe eine aporetische Natur besitzt und somit das „Un-mögliche“ darstellt, das zwar außerhalb der menschlichen Handlungsoptionen liegt, aber dennoch denkbar und benennbar ist. Dabei geht er von einem allgemeinen Grundverständnis von Gabe aus, demzufolge dann von Gabe zu sprechen ist, wenn jemand die Intention hat, einem anderen etwas zu geben. Dabei möchte Derrida die Gabe nicht nur auf Sachgegenstände begrenzt wissen, sondern bezieht bewusst auch Symbole mit ein. In einem weiteren Schritt bestimmt Derrida das Wesen der Gabe im Gegensatz zum Tausch. Während der Tausch eine zirkuläre Bewegung darstelle, bei der es dem Gebenden letztlich um einen wie auch immer gearteten Gewinn gehe, sei die Gabe irreziprok und damit anökonomisch. Gabe sei ein letztlich maßloses Geschehen, das sich jeder Berechnung entziehe. Sie sei anomisch, alogisch und atopisch. „Gabe gibt es nur, wenn es keine Reziprozität gibt, keine Rückkehr, keinen Tausch, weder Gegengabe noch Schuld. Wenn der andere mir das, was ich ihm gebe, zurückgibt oder es mir schuldet, d. h. mir zurückgeben muss, wird es keine Gabe gegeben haben, ob diese Rückkehr nun unmittelbar erfolgt oder vorprogrammiert ist im komplexen Kalkül eines lang befristeten Aufschubs (différance).“113 Aus dieser Beschreibung von Gabe folgert Derrida, dass es dem Wesen der Gabe inhärent sei, dass sie permanent im Tausch annulliert werde. Bei der Annahme, dass sich die Gabe stets selbst zerstöre, geht Derrida, noch bevor er überhaupt auf Mauss zu sprechen kommt, indirekt von der Prämisse aus, dass eine Gabe automatisch eine Gegengabe hervorrufen müsse. Den Grund hierfür sieht er in der Struktur des Menschen gegeben, den er als homo oeconomicus definiert: „Das werdende 112

  Baudelaire, Charles, Das falsche Geldstück, in: Ders., Sämtliche Werke / Briefe Bd. 8, hg. und übers. von Kemp, Friedhelm / Pichois, Claude, München 1985, 221 ff. 113   Derrida, Fg, 23.

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2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

Subjekt (le devenir-sujet) beginnt mit sich selbst zu rechnen und als Subjekt tritt es ein in das Reich des Kalkulierbaren.“114 Im Folgenden spitzt Derrida seine These insofern noch zu, als er betont, dass die Gabe auch dann annulliert werde, wenn statt einer Gegengabe lediglich ein Dank erfolge oder wenn beim Empfänger das Gefühl der Verpflichtung dem Geber gegenüber zurückbleibe. Ja, sogar, wenn der Geber seine Gabe vom Empfänger völlig unbemerkt gebe und sich selbst für sein großzügiges Tun beglückwünsche, sei die Gabe annulliert, weil der Geber durch das positive Selbstbild, das er aus seinem Tun ziehe, einen Mehrwert erhalten habe. Dementsprechend folgert Derrida, dass die Gabe nur dann ihrer Annullierung entgeht, wenn sie von Geber und Empfänger unbemerkt geschehe oder sogleich in einem radikalen Maße vergessen werde. Gleichwohl ist es ihm wichtig, dass dieses Vergessen nicht einer Nicht-Erfahrung gleichkommt: „Und doch sagen wir ‚Vergessen‘ und nicht nichts. Denn obwohl es nichts zurücklassen darf und alles auslöschen muss, auch noch die Spuren der Verdrängung, darf dieses Vergessen, dieses Vergessen der Gabe keine bloße Nicht-Erfahrung, kein bloßes Nicht-Erscheinen sein, keine Selbstauslöschung, die mit dem, was sie löscht, einfach verschwindet.“115 Derrida betrachtet Gabe und Tausch jedoch nicht nur als Gegensätze und beschreibt die Bewegung der Umwandlung der Gabe in den Tausch und damit ihre gleichzeitige Annullierung. Gabe und Tausch stehen für Derrida durchaus auch noch in einem anderen Verhältnis. Die Gabe ist das Movens des Tausches, sie bleibt dem Tausch als ‚ideelle Größe‘ äußerlich und ist doch Grund und Ursache seines Zustandekommens: „Denn am Ende führt das Überborden des Kreises durch die Gabe, wenn es sie gibt, nicht auf ein bloßes Außen, das völlig unsagbar, transzendent und bezuglos wäre. Sondern dieses Außen gerade gibt den Anstoß, setzt den Kreis und die Ökonomie in Gang, indem es (sich) einlässt in den Kreis und ihn (sich) drehen lässt. [. . .] Was ist die Gabe als erster Beweger des Kreises?“116 2.4.2.2  Gabe und Subjekt Die These Derridas, eine Gabe könne nur stattfinden, wenn sie radikal und augenblicklich von Geber und Empfänger vergessen werde, führt zwangsläufig zu der Frage, ob es einem menschlichen Subjekt seiner Ansicht nach überhaupt möglich ist, zu geben. Derridas Antwort fällt differenziert aus, und wie Katrin Busch eindrucksvoll gezeigt hat,117 ist es gerade diese Frage, in der Derrida von „Falschgeld. Zeit geben 1“ zu „Den Tod geben“ und anderen späteren Schriften eine Ent114

  Derrida, Fg, 36.   Derrida, Fg, 29. 116   Derrida, Fg, 45 f. 117   Busch, Kathrin, Geschicktes Geben. Aporien der Gabe bei Jacques Derrida, München 2004, 115

85.

2.4  Gabe: Eine unmögliche Möglichkeit. Das Gabeverständnis von Jacques Derrida

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wicklung durchmacht. In „Falschgeld. Zeit geben 1“ geht es ihm darum, Formen von Gabe aufzuzeigen, die geschehen, ohne von einem Subjekt initiiert zu werden. Dazu greift er zum einen Heideggers Vorstellung von einer allem Seienden vorausgehenden Gabe von Sein und Zeit auf und befasst sich zum anderen mit Gabeeffekten, die von Texten hervorgerufen werden können. Dem Subjekt räumt Derrida nur dann die Möglichkeit zu geben ein, wenn es etwas gebe, was es nicht habe. Derrida stellt das ‚Zeit geben‘ in diesen Zusammenhang. Dass dies aber das einzige mögliche Beispiel für eine dem Geber in gewisser Weise unverfügbare Gabe darstellen soll, erscheint fraglich. Derrida schreibt selbst: „Auch das ‚Paradox‘ des ‚Gebens, was man nicht hat‘, von dem wir bereits sprachen, gilt und wirkt nur deshalb als ein Paradox, weil das Geben normalerweise mit dem Haben verbunden wird. Man kann sich fragen, ob dasselbe semantische System auch für jene Wendungen bestimmend ist, die im Gegenteil voraussetzen, dass man etwas, was man ist, überträgt oder dem anderen gibt, der dieses nimmt – oder wird. Denken wir an den Ausdruck ‚sich geben‘, an die Metonymien oder Synekdochen, die sich auf Partial-‚Objekte‘ beziehen, auf die Fragmente oder Zeichen dessen, was man ist, und die man ebenso gut geben oder sich nehmen lassen kann wie das, was man hat.“118

Derrida verfolgt diese Spur jedoch nicht weiter, weil er der Ansicht ist, dass die von ihm vorgebrachten Beispiele lediglich deutlich machten, dass das Wortfeld ‚geben‘ so ausufernd sei, dass es keinen semantischen Herd mehr besitze. Die Tatsache, dass die Gabe nach Derrida das für den Menschen „Un-mögliche“ darstellt, hindert ihn jedoch nicht an der ethischen Forderung, dass der Mensch sowohl die Intention verfolgen solle, zu geben, als auch die Verantwortung für dieses Tun tragen müsse: „So wisse denn auch noch, was geben sagen will, wisse zu geben, wisse, was du willst und sagen willst, wenn du gibst, wisse, was du zu geben intendierst, wisse, wie die Gabe sich annulliert, lass dich ein, selbst wenn dieses Sicheinlassen (engagement) eine Zerstörung der Gabe durch die Gabe ist, gib du der Ökonomie ihre Chance.“119 Diese Formulierung erinnert an Camus’ Sisyphus,120 der seine Aufgabe immer von Neuem beginnt, wohl wissend, dass sie nicht zum Ziel führen wird. Für Derrida beinhaltet die Verantwortung, die ein Gebender für sein Geben übernimmt, jedoch auch das Wissen darum, dass das eigene Geben möglicherweise Gabeeffekte produzieren kann, die von ihm selbst weder im Blick noch beabsichtigt waren. Insofern entspricht die Verantwortung für das eigene Geben durchaus der Charakterisierung von Verantwortung, wie Derrida sie in „Den Tod geben“ vornimmt. Hier beschreibt er Verantwortung als das Wagnis, eine Entscheidung zu treffen, ohne letztlich alle daraus folgenden Implikationen überblicken zu können.121 118

  Derrida, Fg, 69.   Derrida, Fg, 45 f. 120  Vgl. Camus, Albert, Der Mythos des Sisyphos: ein Versuch über das Absurde, hg. v. Richter, Liselotte, übers. v. Brenner, Hans Georg / Rasch, Wolfdietrich, Hamburg 1992. 121  Vgl. Derrida, Tg, 353. 119

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2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

2.4.2.3  Zeit geben Derridas These, dass eine Gabe nur dann nicht annulliert werde, wenn sie nicht als Phänomen in Erscheinung trete, also keine Präsenz gewinne, wirft die Frage nach dem Verhältnis von Gabe und Zeit auf, die sein gesamtes Buch „Falschgeld. Zeit geben 1“ durchzieht. In einer ersten Annäherung an das Thema widmet sich Derrida folgendem Zitat von Madame de Maintenon, der heimlichen Gemahlin des Sonnenkönigs: „Der König nimmt mir meine ganze Zeit; den Rest gebe ich Saint-Cyr und wie gern wollte ich sie Saint-Cyr doch ganz geben.“122 Derrida sinniert darüber, was es heißen könne, dass Madam de Maintenon keine Zeit bleibe und sie den Rest ihrer nicht vorhandenen Zeit der Stiftung Saint-Cyr gebe. Diese Überlegungen führen ihn zu dem oben bereits ausgeführten Gedanken, dass man nur geben könne, „was man nicht hat“ und lässt ihn die Zeit als Beispiel einer solchen dem Menschen unverfügbaren Gabe in den Blick nehmen. Da die Zeit nicht als Seiendes verstanden werden darf und – trotz anderen Sprachgebrauchs – auch jenseits des Besitzbaren anzusiedeln ist, kann die Zeit als die Größe betrachtet werden, die die Maßgabe, „zu geben, was man nicht hat“, erfüllt. Innerhalb des Textabschnittes über ‚Gabe und Zeit‘ erinnert Derrida seine Leser daran, dass der Kreis nicht nur die Struktur der Ökonomie beschreibt, sondern auch die Zeit immer wieder durch das Bild des Kreises charakterisiert wird. Wenn die Gabe nun das sei, was die Ökonomie radikal unterbreche, so müsse ihr ein Zeitmodus entsprechen, der ebenfalls radikal verschieden von einer zyklischen Zeitstruktur sei. Derrida charakterisiert diesen Zeitmodus in Anlehnung an Kierkegaard als „paradoxen Augenblick“.123 „Eine Gabe könnte nur möglich sein, Gabe kann es nur geben in dem Augenblick, wo ein Einbruch in den Kreis stattgefunden haben wird: in dem Augenblick, wo jede Zirkulation unterbrochen gewesen sein wird, und zu der Kondition dieses Augenblick.“124 Diesen Augenblick beschreibt Derrida als der Chronologie enthoben. Er ist eine Zäsur, die für den sie Erlebenden nicht greifbar wird. Seinen weiteren Gedankengang entwickelt Derrida wieder in Auseinandersetzung mit dem „Essai sur le don“ von Mauss und dem dort skizzierten Zusammenhang von Gabe und Gegengabe. Derrida interessiert nun besonders der zeitlich gebotene Abstand zwischen Gabe und Gegengabe, die zwischen beiden liegende Differenz, die die Gabe nach Mauss vom Tausch unterscheidet. Derrida interpretiert diese zeitliche Differenz dahingehend, dass mit der Sachgabe gleichzeitig eine Gabe von Zeit erfolge: „Eine Gabe ist die Gabe nur, sie gibt nur in dem Maße, wie sie die Zeit gibt. Der Unterschied zwischen einer Gabe und einem beliebigen anderen Tauschvorgang liegt darin, dass die Gabe

122

  Aus einem Brief von Madam de Maintenon an Madam Brinon, zitiert Derrida, Tg, 9.   Derrida, Tg, 19. 124   Derrida, Fg, 19. 123

2.4  Gabe: Eine unmögliche Möglichkeit. Das Gabeverständnis von Jacques Derrida

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Zeit gibt. Dort, wo es Gabe gibt, gibt es die Zeit. Das, was die Gabe gibt, ist die Zeit, aber diese Gabe der Zeit ist zugleich ein Verlangen nach Zeit. Es, das Ding, darf nicht unmittelbar und im selben Augenblick zurückgegeben werden. Es bedarf der Zeit und der Dauer, eines Wartens, das nicht vergisst. Warten – ohne Vergessen. Es, das Ding, verlangt Zeit, aber es verlangt nach einer begrenzten Zeit, also weder nach einem Augenblick noch nach einer unendlichen Zeit, sondern nach einer durch einen Termin determinierten Zeit: nach einem Rhythmus, einer Kadenz.“125

Doch was will Derrida mit seiner Feststellung, dass mit einer Sachgabe die Gabe von Zeit einhergehe, aussagen? Offensichtlich macht die Zäsur der Gabe aus einer neutralen eine gliederte Zeit, bei der die Verschränkung von Geschehenem und der aus ihm erwachsenen zukünftigen Verpflichtungen die Gegenwart bestimmt. „Das Ding fordert die Belebung (animation) einer neutralen und homogenen Zeit durch das Begehren der Gabe und der Rückgabe.“126 Mit Hans-Dieter Gondek, der Derridas Verhältnisbestimmung von Gabe und Zeit vor der Folie des Zeitverständnisses Heideggers unter Berücksichtigung seiner Werkentwicklung interpretiert hat, lässt sich fragen, ob die Gabe bei Derrida die Funktion einer „Stiftung einer eigentlichen Zeitlichkeit“ einnimmt,127 wie sie beim frühen Heidegger der gedanklichen Antizipation des Todes zukommt, wobei diese „freilich sofort, sozusagen im Geschehen des Augen-blicks, (der Zirkulation und dem Tausch) verfällt?“128 Gondek selbst schränkt diese These allerdings durch einige Anmerkungen wieder ein. Und in der Tat bringt sie auch nur eine Seite der bei Derrida gewohnt paradoxen Bestimmung von Gabe und Zeit zum Ausdruck. Es bleibt nämlich zu bedenken, dass für Derrida der Moment des Gebens selbst den Zeitlauf unterbricht und diese Unterbrechung durch das Bewusstsein nicht wirklich erfasst werden kann. So ist es genau dieses Entzogensein des Gebemoments, das der Zeit im oben ausgeführten Sinne Struktur gibt, da der entzogene Moment stets zur nachträglichen Rekonstruktion animiert, die keine Erinnerung vergangener Gegenwart ist, sondern deren Konstruktion. „Wenn Derrida den Vorrang der Gegenwart mit dem Argument zurückweist, dass Gegenwart überhaupt nur als solche wahrgenommen werden kann in ihrer Verschränkung mit Nicht-Gegenwart und Nicht-Wahrnehmung, so wird sie nicht allein von Zukunft und Vergangenheit konstituiert, sondern ganz wesentlich durch die Struktur der Nachträglichkeit bestimmt.“129 Im Hinblick auf den Menschen bedeutet dies, dass er durch die Gabe von Zeit nicht zu einem souveränen Umgang mit der eigenen Zeitlichkeit gelangt, sondern dass er immer in Strukturen gefangen ist, deren Ursprung ihm entzogen bleibt. 125

  Derrida, Fg, 58 f.   Derrida, Fg, 57 f. 127   Gondek, Hans-Dieter, Zeit und Gabe, in: Gondek, Hans-Dieter / Waldenfels, Bernhard, Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt / M. 1997, 183 – 225, hier: 222. 128   Gondek, Zeit und Gabe, 222. 129   Busch, Geschicktes Geben, 96. 126

74

2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

2.4.2.4  Erzählung und Gabe Die zeitliche Differenz zwischen Gabe und Gegengabe, die Tatsache, dass noch etwas aussteht, ist für Derrida der Grund, wieso sich an die Gabe in der Regel eine Erzählung bzw. ein Äquivalent für diese knüpft, das helfen soll, Erinnerung zu bewahren.130 Er schreibt: „Die Gabe gibt, verlangt, nimmt Zeit. Das Ding verlangt oder nimmt Zeit. Dies ist mit einer der Gründe dafür, dass dieses Ding der Gabe eine Verbindung mit der inneren Notwendigkeit einer gewissen Erzählung oder einer gewissen Poetik der Erzählung eingehen wird“.131 Und umgekehrt ist es so, dass gerade die Erzählung den Raum eröffnet, in dem sich Gabe ereignen kann. Derrida erklärt in einem Interview mit Elisabeth Weber dazu: „. . . und jedes Mal, wenn es Gabe gibt, ist die Sprache im Spiel. Jedes Mal, wenn es Sprache gibt, gibt es Gabe, so dass der Zirkel sich unmöglich schließen kann. Ich ziehe es jedoch immer vor, hier anstatt von Sprache von Spur zu sprechen.“132 Mit jeder Gabe ereignet sich auch die Gabe einer Erzählung, und umgekehrt eröffnet diese den Möglichkeitsraum für erneute Gaben, wie Derrida mit seiner Interpretation von Baudelaires Geschichte „Das falsche Geldstück“ eindrucksvoll vorführt. Der Grund, wieso die schriftliche Erzählung nach Derrida die Möglichkeit bietet, dass sich Gabe ereignen kann, ist, dass sie für Derrida gerade nicht die Funktion erfüllt, die man ihr gemeinhin zuschreibt, nämlich Erinnerungen oder Gedanken präzise zu fixieren.133 Die Verschriftlichung eines Gedankens oder einer Begebenheit bedeute gerade nicht seine Fixierung, sondern die Eröffnung einer Vielfalt von Verständnismöglichkeiten, die vom Kontext abhängen, in dem das Geschriebene rezipiert werde. Und es gehöre zum Wesen der Schrift, dass sie ihren ursprünglichen Kontext, ihren Autor und ersten Adressaten überdauert. Derrida führt dazu in seinem Aufsatz „Signatur, Ereignis, Kontext“ aus:134 „Meine ‚schriftliche Kommunikation‘ muss, trotz des völligen Verschwindens eines jeden Empfängers überhaupt, lesbar bleiben, damit sie als Schrift funktioniert, das heißt lesbar ist. Sie muss in völliger Abwesenheit des Empfängers wiederholbar, iterierbar sein.“135 Und einige Seiten später fährt er fort: „Was für den Empfänger gilt, gilt auch, aus denselben Gründen, für den Sender oder Produzenten. Schreiben heißt, ein Zeichen (marque) produzieren, das eine Art ihrerseits nun produzierende Maschine 130

  Derrida nennt als Beispiele: „ein Rechnungsbuch, eine Archivalie, eine Kostenaufstellung, ein Gedicht.“, Derrida, Fg, 62 f. 131   Derrida, Fg, 59. 132   Derrida, Jacques, Zeugnis und Gabe, in: Weber, Elisabeth (Hg.), Jüdisches Denken in Frankreich, Frankfurt / M. 1994, 69. 133   Dass Derrida bei Erzählungen an schriftliche Erzählungen denkt, entspricht der Präferenz, die er der Schrift vor der gesprochenen Sprache einräumt, der ihm zufolge ebenso wie der menschlichen Erfahrung insgesamt eine ‚Textstruktur‘ zukomme. 134   Derrida, Jacques, Signatur Ereignis Kontext. In: Ders., Randgänge der Philosophie, hg. v. Engelmann, Peter, übers. v. Ahrens, Gerhard, Wien 1988, 325 – 351. 135   Derrida, Signatur, 332 f.

2.4  Gabe: Eine unmögliche Möglichkeit. Das Gabeverständnis von Jacques Derrida

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konstituiert, die durch mein zukünftiges Verschwinden prinzipiell nicht daran gehindert wird, zu funktionieren und sich lesen und nachschreiben zu lassen.“136 Wenn man die Schrift in dieser Weise als eine Größe betrachtet, die in ihren Rezipienten vom Autor nicht kontrollierbare Effekte hervorruft, so ist es einleuchtend, dass Derrida sie als Ermöglichungsraum von Gabe versteht. Das, was der Leser hier empfängt, was sich ihm beim Lesen erschließt, steht nicht in der Verfügung des Autors und kann damit auch nicht als sein willentlicher Akt betrachtet werden. Hinzu tritt ein Aspekt, den Geoffrey Bennington in seiner Derrida-Interpretation hervorhebt: Auch das Schreiben selbst könne nur begrenzt als ein Akt begriffen werden. Es sei vielmehr eine Tätigkeit zwischen Aktivität und Passivität, da es zum Schreiben immer auch gehöre, sich selbst als Autor zu lesen und damit zu empfangen. Bennington spricht in diesem Zusammenhang von ‚Inspiration‘.137 Wie im Interview mit Elisabeth Weber angeklungen, präferiert Derrida den Begriff der Spur, um den Zusammenhang zwischen Gabe und Erzählung bzw. Text zu verdeutlichen. Bei seinem Verständnis von dem, was eine Spur darstellt, lässt sich Derrida von Sigmund Freuds Konzept der Nachträglichkeit leiten, demzufolge die Vergangenheit besonders dann, wenn sie nicht aktiv als Gegenwart erlebt wurde, unterschwellige Wirkungen auf die Gegenwart zeitigt.138 Anders als Freud ist es Derrida jedoch wichtig, dass die Spur stets so von ihrem Ursprung abgeschnitten ist, dass kein Zurück mehr möglich ist, sondern die Spur selbst wieder zum Ursprung von Neuem wird. In diesem Punkt trifft er sich mit Lévinas, dessen Verständnis des Begriffes Spur ihn ebenfalls beeinflusste. Für Lévinas entsteht eine Spur – im Gegensatz zu einem Zeichen,139 das von seinen Nutzern absichtlich als Ersatz für das Präsente eingesetzt wird – absichtslos, und es ist von ihm nicht eins zu eins auf den Verursacher der Spur zu schließen. Spuren sind grundsätzlich immer zweideutig: „Das Leuchten der Spur ist rätselhaft, das heißt, es ist zweideutig noch in einem anderen Sinne, durch den es vom Erscheinen eines Phänomens sich abhebt. Es kann nicht als Ausgangspunkt einer Beweisfüh136

  Derrida, Signatur, 334.  Vgl. Bennington, Geoffrey, Derridablase, in: Bennington, Geoffrey / Derrida, Jacques, Jacques Derrida. Eine Biographie, Frankfurt / M. 1994, 11 – 323, hier: 61. 138   Freud benutzt den Begriff in seinem Aufsatz von 1924 „Notiz über den Wunderblock“, vgl. Freud, Sigmund, Notiz über den Wunderblock, in: Ders., Jenseits des Lustprinzips, Gesammelte Werke Bd.  13, Frankfurt / M. 81976, 387 – 391. In diesem Aufsatz denkt er über die Konstitution des menschlichen Gedächtnisses nach und beschreibt es als ein Zusammenspiel aus zwei Systemen: einem bewussten System, das wahrnimmt und einem unbewussten System, das das Wahrgenommene konserviert, wobei die wahrgenommenen Zusammenhänge aus dem Bewusstsein schwinden. Diese unbewusste Konservierung bezeichnet Freud als ‚Dauerspuren‘, und geht ferner davon aus, dass die im Unbewussten konservierten Dauerspuren die Art der bewussten Wahrnehmung mitbestimmen. Interessant für Derrida an dieser Konstruktion ist, dass etwas dem Menschen prinzipiell Entzogenes, nicht mehr Präsentes, Wirkungen zeitigt. 139   Zu dem Begriff der Spur bei Lévinas vgl. Levy, Zeev, Der Begriff der Spur bei E. Lévinas und J. Derrida. Einflüsse und Rückwirkungen, in: Ders., Probleme moderner jüdischer Hermeneutik und Ethik, Cuxhaven 1997, 89 – 107. 137

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2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

rung dienen, die es unerbittlich in die Immanenz und ins Sein führen würde.“140 Lévinas nutzt den Begriff der Spur, wenn er von dem Transzendenten, von der Güte, von Gott spricht, und dies macht die Hervorhebung der Zweideutigkeit der Spur einsichtig: Durch das Transzendente wird die Logik der Immanenz zwangsläufig überschritten. Derrida seinerseits gebraucht den Begriff der Spur im Zusammenhang von Texten und Textverschiebungen, bei denen Textbausteine in neue Zusammenhänge gesetzt werden. Dabei ist der Begriff für ihn in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Zum einen nutzt er ihn, um deutlich zu machen, dass jedes Element im Zusammenhang eines Textes durch Spuren anderer Elemente charakterisiert ist und somit gar nicht als Einzelelement, sozusagen als Monade betrachtet werden kann, sondern man stets von einem Gewebe ausgehen muss. Zum anderen interessiert ihn der Terminus im Zusammenhang mit Textverschiebungen. Derrida betont, dass ein Text über seinen Entstehungskontext hinaus lesbar bleiben muss, dass andere Kontexte seinen Sinn jedoch verändern. Im Zusammenhang der Itera­ bilität kommt der Spur dabei eine entscheidende Bedeutung zu. Zum Begriff der Iterabilität bemerkt Levy Zeev: „Für Derridas Argumentation war dieser Begriff äußerst wichtig, da er einerseits ‚etwas wiederholen‘ bedeutet, aber dieses ‚etwas‘ gleichzeitig schon einer gewissen Änderung unterworfen ist (‚iter‘ = ‚anders‘). Das heißt: die Möglichkeit, das Neue, ‚Andere‘, zu verstehen, hängt davon ab, dass es eine Spur von vorher bewahrt. Dank ihr besteht die Möglichkeit, etwas in einem neuen Kontext zu wiederholen. Derrrida benutzt öfters auch den Begriff ‚restance‘, um assoziativ auf das Wort ‚resistance‘ anzuspielen, das heißt: in jeder Annihilation bleibt ein gewisser ‚Rest‘, der sich seiner Annihilation ‚widersetzt‘.“141 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Derrida den Begriff der Spur dazu nutzt, um deutlich zu machen, dass von einem ursprünglichen Ereignis (sei es die Gabe von Zeit oder ein anderes Gabeereignis, sei es das Schreiben eines Textes) zwar etwas überdauert, von dem jedoch nicht auf das ursprüngliche Geschehen bzw. die ursprüngliche Intention des Autors oder auch des Gebers geschlossen werden kann. Insofern produzieren Spuren Interpretationen, die sich niemals erschöpfen. 2.4.2.5  Gabe als Ereignis Derrida versteht die Gabe als Beispiel für ein Ereignis und konstatiert: „Keine Gabe (pas de don) ohne das Eintreten eines Ereignisses, kein Ereignis ohne die Überraschung einer Gabe“142 Dies macht deutlich, dass sich die Begriffe Gabe und Ereignis auch bei Derrida, wie eingangs hervorgehoben, wechselseitig interpretieren und dass dementsprechend seine Ausführungen über die ‚Gabe‘ durch seine Analysen des ‚Ereignisses‘ zu ergänzen sind. 140

  Lévinas, JS, 45.   Lévinas, JS, 101. 142   Derrida, Fg, 155. 141

2.4  Gabe: Eine unmögliche Möglichkeit. Das Gabeverständnis von Jacques Derrida

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Mit Thomas Khurana lässt sich bei Derrida zwischen Ereignissen, die sich permanent vollziehen, wenn Texte in neue Kontexte gesetzt werden und es bei diesen Verschiebungen automatisch zu Veränderungen der Sinnzusammenhänge kommt, und Ereignissen ‚im starken Sinne‘ differenzieren.143 Khurana versteht, in diesem Punkt durchaus über Derrida hinausgehend, ein Ereignis ‚im starken Sinne‘ als ein Geschehen, das wirklichkeitserschließend ist, weil es die Deutung von Wirklichkeit neu strukturiert. „Etwas, das wir als Ereignis im starken Sinne auffassen, bestimmt eine Menge oder Serie exemplarisch, reflektiert und inszeniert dadurch seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten über es hinausreichenden Zusammenhang oder Geschehen [. . .].“144 Es mag verwundern, dass eine Gabe in diesem Sinne als Ereignis betrachtet werden kann, da sie nach Derrida ja weder dem Geber noch dem Empfänger als Gabe bewusst ist. Dies lässt sich nur dann zusammendenken, wenn man davon ausgeht, dass Geber oder Empfänger der Gabe durchaus wahrnehmen, dass etwas mit ihnen geschieht, dies jedoch nicht als Gabegeschehen deuten. Für Derrida bildet die dem Empfänger und Geber verborgene Gabe deshalb ein Beispiel für ein Ereignis, weil eine Gabe den Erwartungshorizont von Geber und Empfänger überschreiten muss, und gerade dies ist für ihn eines der entscheidenden Charakteristika eines Ereignisses. Gabe wie Ereignis lassen sich nicht antizipieren. Sie stellen einen Moment der Unterbrechung der vorherrschenden Ordnung bzw. des Musters dar, das unsere Wahrnehmung und Wirklichkeitsdeutung strukturiert. „Die Gabe, wie das Ereignis, als Ereignis, muss unvorhersehbar bleiben, es aber bleiben ohne sich zu bewahren. [. . .] Aus diesem Grund ist die gemeinsame Bedingung der Gabe und des Ereignisses eine gewisse Unbedingtheit [. . .]. Das Ereignis und die Gabe, das Ereignis als Gabe, die Gabe als Ereignis müssen einfallartig, unmotiviert – zum Beispiel interessenlos – sein. Entscheidend wie sie sind, müssen sie das Raster (trame) zerreißen und das Kontinuum einer Erzählung unterbrechen, zu der sie gleichwohl auffordern; sie müssen die Ordnung der Kausalitäten stören: augenblicklich.“145

Die Unvorhersehbarkeit des Ereignisses und die Unmöglichkeit seiner Einordnung lassen Derrida von Ereignissen stets im „Modus des vielleicht“ sprechen.146 Die Tatsache, dass ein Ereignis nach Derrida den Erwartungshorizont sprengt, dass es von demjenigen, an dem es geschieht, nicht einfach eingeordnet werden kann, hat mehrere Implikationen. In „Eine gewisse unmögliche Möglichkeit vom Ereignis zu sprechen“ macht Derrida deutlich, dass das Sprechen vom Ereignis notwendigerweise das Ereignis verfehlen muss.147 Die Tatsache, dass derjenige, 143   Thomas Khurana, „. . . besser, dass etwas geschieht“. Zum Ereignis bei Derrida, in: Rölli, Ereignis, 235 – 256. 144   Khurana, Ereignis, 241. 145   Derrida, Fg, 160. 146   Khurana, Ereignis, 248. 147   Derrida, Unmöglichkeit.

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2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

dem das Ereignis widerfährt, es nicht einzuordnen vermag, bedeute, dass das Ereignis in gewisser Weise hermetisch verschlossen sei. Das Sprechen über das Ereignis bedeute die Annäherung an dieses durch Interpretation. Hinzu kommt, dass ein Ereignis für Derrida immer etwas Singuläres darstellt, wohingegen die Sprache das Medium ist, das gerade die Möglichkeit zur Iterabilität eröffnet. Die hermetische Verschlossenheit bewegt Derrida dazu, vom Ereignis als Vergangenem zu sprechen, wobei für ihn entscheidend ist, dass es sich gerade nicht um eine vergangene Präsenz im Sinne einer erfüllten Vergangenheit handelt. Vergangenheit meint hier, dass etwas entzogen ist. Gleichzeitig habe die Entzogenheit jedoch zur Folge, dass derjenige, dem ein Ereignis widerfahre, sich auch über den punktuellen Moment des Ereignisses hinaus an ihm abarbeite. Das Ereignis habe Strahlkraft in die Zukunft hinein. Derrida macht dies anhand unseres Sprachgebrauches deutlich. Die Formulierung ‚seit‘, die auf ein Ereignis hinweise, bezeichne einerseits einen konkreten Zeitpunkt, mache aber zugleich deutlich, dass dieser Zeitpunkt die nachfolgende Zeit maßgeblich präge. Ein Beispiel für ein solches Ereignis ist für ihn das Wirken von Karl Marx. Auch über das Leben von Marx hinaus habe sein Werk einen verpflichtenden und zugleich verheißungsvollen Charakter und sei deshalb nicht einfach ad acta zu legen. „Und ein ‚seit Marx‘ fährt fort, den Ort der Zuweisung zu bezeichnen, von dem her wir verpflichtet sind. Wenn es aber Verpflichtung oder Zuweisung gibt, Anweisung oder Versprechen, wenn es diesen Anruf von einem Sprechen her gibt, das vor uns erklungen ist, dann bezeichnet das ‚seit‘ oder ‚von . . . her‘ einen Ort oder eine Zeit, die uns zweifellos vorausgegangen sind, die aber, ebensogut räumlich wie zeitlich noch vor uns liegen.“148

Insofern kann Derrida davon sprechen, dass das Ereignis stets noch im Kommen ist. Es ist deutlich, dass das Ereignis für Derrida eben der Moment ist, in dem die Verschränkung der Zeitdimensionen im Sinne Heideggers greifbar wird. Auch in diesem Sinne ist die Gabe also ein Beispiel für ein Ereignis. Ein weiteres Charakteristikum des Ereignisgeschehens ist nach Derrida die Passivität bzw. Rezeptivität dessen, an dem es sich ereignet. „Das Ereignis insgesamt ist das, was das ‚ich‘ dazu antreibt zu fragen: ‚Was geschieht mir?‘, ‚was ist gerade geschehen?‘“149 Auch diese Rezeptivität hat ihre Ursache in der Tatsache, dass das Ereignis den Erwartungshorizont dessen durchbricht, dem es widerfährt. Und dies gilt gleichermaßen für denjenigen, dessen Handeln ein Ereignis auslöst, wie für den, dem es durch einen anderen zukommt. Allerdings legt Derrida Wert darauf, dass die passive Rolle, in die man durch ein Ereignis versetzt wird, dennoch ein aktives Moment enthält: Man müsse dem Ereignis stattgeben, sich ihm öffnen, sich auf es einlassen. Insofern sei es angemessener, von Rezeptivität, als von Passivität zu sprechen. Das Sich-Öffnen für das Ereignis bedeute jedoch, 148

  Derrida, Jacques, Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, übers. v. Lüdemann, Susanne, Frankfurt / M. 1995, 33. 149   Derrida, Fg, 156.

2.4  Gabe: Eine unmögliche Möglichkeit. Das Gabeverständnis von Jacques Derrida

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sich von dem, was außerhalb des eigenen Horizontes liegt, verändern zu lassen. „Die anspruchsvolle und starke Bestimmung, die hinter der Auffassung steht, ein Entscheidungsereignis im starken Sinne lasse das Subjekt nicht intakt, besteht hier darin, dass Ereignisse ursprünglich subjektivierend, das heißt präziser desubjektivierend und subjektrekonstruierend wirken.“150 2.4.2.6  Zusammenfassung und Würdigung Derrida vertritt ein Verständnis von Gabe, demzufolge ein intendiertes Geben von Mensch zu Mensch unmöglich ist, es jedoch durchaus zu anonymen Gabeeffekten kommen kann, weil das Werk eines Menschen wie ein Text oder ein Kunstwerk über dessen eigentliche Intentionen weit hinausreicht und in seiner Komplexität wiederum unvorhersehbare Effekte in einem anderen Menschen auszulösen vermag, die als Gaben begriffen werden können. Ebenso ist die innere Zeitstruktur des Menschen, der nachträglich einzuholen versucht, was bereits vorübergegangen ist, als Gabeeffekt eines ihm immer schon entzogenen Augenblicks zu begreifen. Derridas vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Thema Gabe hat mannigfaltige Kritik hervorgerufen, und seine eigene Kritik an Mauss hat mit Sicherheit dazu beigetragen, dass in den letzten zehn Jahren vermehrt Versuche unternommen wurden, dessen Gabentheorie zu rehabilitieren. Besonders die Kritik an Derridas Menschenbild, auf das sich der Gedankengang stützt, der ihn zur Annahme des aporetischen Charakters der Gabe führt, scheint gerechtfertigt zu sein. Pierre Bourdieu kritisiert etwa, dass Derrida von der Annahme ausgeht, dass das Handeln des Menschen in der Regel durch kalkulierte Zielsetzungen bestimmt werde. Dies sei jedoch nur die Ausnahme, vielmehr bestimmten verinnerlichte Verhaltensmuster eine Vielzahl der menschlichen Handlungen und auch eine Vielzahl der Gabehandlungen. Es sei zwar richtig, dass Gabe und Gegengabe eine Kreisstruktur einnehmen und auch, dass diese möglicherweise gewinnbringend für den Geber ausfallen könne. Diese Kreisstruktur aber mit Ökonomie gleichzusetzen, sei nur möglich, wenn bewusst gehandelt werde: „Sobald man vergisst, dass der Gebende wie der Nehmende durch die ganze Arbeit ihrer Sozia­lisation darauf eingestellt und dazu geneigt sind, sich ohne jede auf Profit gerichtete Absicht und Berechnung auf den großmütigen Tausch einzulassen, dessen Logik sich ihnen objektiv aufzwingt, kann man zu dem Schluss kommen, dass die unbedingte Gabe nicht existiert und unmöglich ist, denn dann sind die beiden Akteure nur als berechnende Personen denkbar, die subjektiv den Vorsatz zu dem fassen, was sie nach Levi-Strauss’ Modell objektiv ausführen, nämlich einen der Logik der Gegenseitigkeit unterliegenden Tausch.“151

Eine weitere vielfach vorgetragene Kritik ist die, dass Derrida das Risiko des Scheiterns einer Gabe, die jedem Geben innewohne, unberücksichtigt lasse. Die150

  Khurana, Ereignis, 251.   Bourdieu, Praktische Vernunft, 165.

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2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

ses Risiko rücke die Gabe deutlich aus dem Bereich des Kalkulierbaren und damit der Ökonomie.152 Diese Kritik ist jedoch nicht überzeugend, da auch jedes intendierte, kalkulierte Handeln risikobehaftet ist. Es wäre an Derridas sehr weit gefasstes Verständnis von Ökonomie über die in der Forschungsliteratur vorgetragene Kritik hinaus aber die Frage zu richten, ob wirklich jede Form von Dankbarkeit als Ausdruck des Verpflichtetseins gewertet werden darf. Ist nicht auch zu berücksichtigen, dass das Gefühl, verschuldet oder verpflichtet zu sein, und das Gefühl der Dankbarkeit zwei grundverschiedene Emotionen und Selbstwahrnehmungen darstellen?153

2.5  Die Positionen Heideggers, Marions und Derridas im Vergleich Der Religionsphilosoph John D. Caputo, ein Initiator der Disputation zwischen Jacques Derrida und Jean-Luc Marion in Villanova, formuliert am Ende des universitären Schlagabtausches den Eindruck, dass die Differenzen der beiden Philosophen im Hinblick auf ihr Gabeverständnis von einer unterschiedlichen Problemstellung, unter der sie das Thema Gabe betrachten, herrühren. Während es für Marion maßgeblich sei, die Gabe als exzessive Größe herauszustellen, die den Zusammenhang von Ursache und Wirkung durchbreche, stehe bei Derrida die Frage nach der Verschuldung, in die die Gabe zwangsweise verstricke, im Fokus: „I think that Marion’s problematic of the gift is very Heideggerian and that he wants to move the question of the gift out of the economy of causality, out of the horizon of ontotheology, and to take up the ‚gifting of gift‘, the emerging of a gift as what has been released from onto-theological and causal constraints, so that it becomes excess. I do not think that this is exactly Derrida’s concern. My sense is that the question of the gift for Derrida has to do primarily with the economy of credit and debt [. . .].“154

In der Tat ist es unübersehbar, dass ausschließlich Derrida, der durchgängig den exzessiven Charakter der Gabe hervorhebt, die Frage nach dem verschuldenden Charakter von Gabe bearbeitet. Und mit Sicherheit war es ein Movens bei der Hervorhebung der aporetischen Struktur der Gabe, eine Gabe ohne Verschuldung zu denken. Doch auch wenn diese Fokussierung Derridas auf die Frage der Verschuldung ein Alleinstellungsmerkmal seines Ansatzes ist, gibt es, wie in der Einleitung hervorgehoben, eine Reihe von Berührungspunkten zwischen den Gabeverständnissen von Heidegger, Derrida und Marion, da alle drei Philosophen die Gabe mit den Begriffen ‚Ereignis‘ und ‚Entzug‘ in Verbindung bringen. Betrachtet man, wie die Philosophen diese drei Größen zueinander in Verbindung 152

  Vgl. z. B. Caillé, Anthropologie, 60 u. 119.   Hier greift wiederum die von Marion, aber auch Bourdieu aufgeworfene Forderung, die Wahrnehmung der Handelnden nicht außer Acht zu lassen. 154   Derrida / Marion, On the Gift, 77. 153

2.5  Die Positionen Heideggers, Marions und Derridas im Vergleich

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setzen, werden die weiterreichenden Unterschiede zwischen ihnen deutlich. Der entscheidende Unterschied zwischen den Ansätzen Derridas und Marions liegt meines Erachtens in dem das Gabegeschehen begleitenden ‚Entzug‘. Bei Marion und Heidegger ist die Gabestruktur der sich selbst gebenden Phänomene bzw. des „Sein und Zeit“ gebenden Ereignisses grundsätzlich der Anschauung entzogen und kann lediglich denkerisch eingeholt werden. Allerdings ist ein solches Denken insofern ein ‚Nach-denken‘, als der Impuls für dieses Denken vom Ereignis bzw. dem sich selbst gebenden Phänomen ausgehen muss. Für Marion ist darüber hinaus das Moment der ‚Entzogenheit‘ im Zusammenhang mit den „gesättigten Phänomenen“ von Bedeutung. Diese sind dem Erkennenden insofern entzogen, als die ihm zur Verfügung stehenden Begrifflichkeiten nicht ausreichen, um sie angemessen zu erfassen. Während bei Marion die Entzogenheit aus einem Übermaß an Anschauung entsteht, rührt sie bei Derrida aus einer grundsätzlichen Verspätung des Erkennenden. Die Entzogenheit – sei es die Entzogenheit des verstrichenen, nie wirklich präsent gewordenen Augenblicks, sei es die Entzogenheit der Intentionen eines Autors – ist eine totale. Das Entzogene hinterlässt zwar Spuren, doch diese Spuren führen nicht zu dem Entzogenen zurück. Sie können nur interpretiert werden, und für die Richtigkeit der Interpretation gibt es keinen Maßstab, weil es keine Möglichkeit gibt, auf das Entzogene zurückzugreifen. Marion operiert zwar im Zusammenhang mit der Metapher von Ruf und Antwort auch mit dem Moment der Verspätung, die er auf das Empfangen gesättigter Phänomene bezieht, bei der die Antwort nie völlig dem Ruf entsprechen kann, doch – und hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen Derrida und Marion – das, worauf verspätet, d. h. unzureichend reagiert werden kann, bleibt zumindest in Ansätzen erahnbar. Marion merkt in seinem Bonner Gespräch mit Josef Wohlmuth und seinen Studierenden dazu an: „Es gibt keine Differenz als Verspätung, ohne dass es einen Ausgangspunkt gibt.“155 Da die Gabe bzw. die Gegebenheit bei allen drei Philosophen mit Entzug zusammengedacht wird, kommt ihr in allen drei Ansätzen ein überraschendes, unvorhersehbares, exzessives Moment zu, das ihren Ereignischarakter ausmacht. Bei Marion und Heidegger wird dieses Überraschungsmoment dadurch hervorgebracht, dass zwar die Gabe anschaulich ist, nicht aber der Entstehungsprozess, so dass sie wie eine creatio ex nihilo erscheinen muss. Bei Derrida ist das, was als Spur von dem Entzogenen zurückbleibt und nicht wieder zu diesem zurückverweist wie etwa ein Text, Quellgrund für neue Gabeeffekte. Wie oben bereits dargelegt, ist das Verständnis des ‚Ereignisses‘ bei Derrida und Marion strukturell eher dem verwandt, was Heidegger in seinen „Philosophischen Beiträgen (Vom Ereignis)“ herausgearbeitet hat als dem Ereignisbegriff von „Zeit und Sein“. Gemeinsam ist dem Ereignisverständnis von Marion und Derrida, sowie dem von Heideggers „Beiträgen“, dass das unvorhersehbare Gesche155

  Marion, Ruf, 56.

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2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

hen das Ich in eine Position zwischen Passivität und Aktivität versetzt, in der sich etwas an ihm vollzieht, dessen Vollzug es lediglich stattgeben kann. Gemeinsam ist ihnen ebenfalls, dass das Ich durch das Ereignis eine innere Neupositionierung erfährt oder, wie Thomas Khurana trefflich formuliert hat, dass Ereignisse „desubjektivierend und subjekt-rekonstruierend wirken.“156 Ein Unterschied zwischen den „Beiträgen“ Heideggers und dem Verständnis von Ereignis bei Derrida ist sicherlich, dass das Ich in Heideggers Werk zu einem endgültigen neuen Seinsverständnis gelangt, während bei Derrida aufgrund der eigentlichen Entzogenheit des Ereignisses ein ständiges Ringen um die richtige Interpretation des Ereignisses stattfindet. Und dies lässt sich in ähnlicher Weise von dem Ereignis sagen, das ein gesättigtes Phänomen nach Marion in seinem Empfänger auslöst. Allen drei Philosophen gemeinsam ist es, dass die Antwort des Ichs auf das Ereignis in einem quasi durch das Ereignis hervorgebrachten Sprechen beruht, wobei bei Marion und Derrida die Antwort auf das nicht zu fassende Ereignis notwendigerweise von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein muss.

2.6  Kritische Auseinandersetzungen mit den dargestellten Gabetheorien 2.6.1 Waldenfels’ Kritik an „Falschgeld. Zeit geben 1“ In seinem Aufsatz „Das Un-ding der Gabe“157 unterzieht Bernhard Waldenfels die von Jacques Derrida vorgetragenen Thesen einer kritischen Betrachtung. Waldenfels hebt zunächst wertschätzend hervor, dass Derridas Überlegungen den außerordentlichen Charakter der Gabe zu Tage treten lasse, die sich Einordnungen und logischen Festlegungen entziehe. Doch sieht er die Gabe bei Derrida durch ein Abdriften ins Anomale gefährdet: „Die Flucht in die Gabe ist aber zugleich von anderer Seite gefährdet, nämlich von der möglichen Verflüchtigung ins Exotische, Fiktionale, Virtuelle, ins Anomale oder Anarchische per se. Zwischen dem ‚Sein als Seiendem‘ und dem ‚Sein ohne das Seiende‘ läuft ein schmaler Grat. Wenn die Doxa, von der die Para-doxien abweichen, nicht nur ihre Selbstverständlichkeit, sondern auch ihr Gewicht einbüßt, so drohen Para-doxien in Hyper-doxien zu zerstäuben.“158

Nachdem Waldenfels den Argumentationsgang Derridas nachgezeichnet hat, wendet er sich dessen Überlegungen zum semantischen Feld des Gebens zu, die Derrida zu dem Resultat führen, dass das Wortfeld ‚geben‘ keinen semantischen Herd habe, sondern vielmehr eine sprachliche Dissemination festzustellen sei, die dem Wesen von Gabe durchaus entspreche. Waldenfels wendet demgegenüber 156

  Khurana, Ereignis, 251.   Waldenfels, Bernhard, Das Un-ding der Gabe, in: Gondek / Waldenfels, Einsätze, 385 – 409. 158   Waldenfels, Das Un-ding, 386. 157

2.6  Kritische Auseinandersetzungen mit den dargestellten Gabetheorien

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ein, dass bei diesen Überlegungen die Syntax zu wenig berücksichtigt sei. Alle Wendungen rund um das Verb ‚geben‘ seien mit einem Dativobjekt verbunden, und dieser Fall werde in der klassischen Grammatik nicht umsonst „Gebefall“ genannt,159 da er neben anderen sprachlichen Funktionen immer wieder den Adressaten eines Geschehens benenne. Berücksichtige man dies, so ließe sich das semantische Feld – zumindest was das Deutsche betreffe – durchaus strukturieren. So gebe es eine Fülle von Wendungen wie etwa „ein Versprechen geben“, „Rat geben“, „Gehör schenken“,160 in denen das Wort ‚geben‘ als Stützwort fungiere und gerade die Gerichtetheit auf einen Adressaten bezeichne. Daneben gebe es die Idiome, die ein reales Aushändigen von etwas an jemanden meinen, wie „überund weitergeben“,161 und unter diesen Idiomen noch einmal solche, die Geben ‚als Gabe‘ charakterisieren wie „stiften“, „schenken“ und „spenden“.162 Im Folgenden führt Waldenfels zwei grundsätzlichere Kritikpunkte an Derridas Ausführungen an. Unter Rückgriff auf die Philosophie von Lévinas betont Waldenfels, dass jedes Geben durch den Empfänger evoziert sei und dass dementsprechend der Geber nie nur autarker, selbstbestimmter Geber sei, sondern stets Geber und Empfänger zugleich: „Im Falle eines Gebens und Antwortens, das nicht den Gesetzen einer gegebenen Ordnung unterliegt, erfindet man, was man antwortet; man erfindet aber nicht, worauf man antwortet. Insofern wohnt dem Geben ein Nehmen inne als eine ‚innere Schwäche‘, die verhindert, dass der Gebende je vollends der Gebende ist. Das Wem des nehmenden Gebens ist ein Jemand, der sich nie völlig in ein Wer des gebenden Gebens verwandeln lässt.“163 Insofern lasse sich für jedes Geben ein Stück weit das geltend machen, was Derrida als konstitutiv für eine Gabe einfordere: dass der Geber gebe, was er nicht habe. Waldenfels zweite Kritik macht sich daran fest, dass Derrida nicht zwischen einem ‚neutralen Geben‘ und einem emphatischen „Geben als Gabe“ differenziert.164 Anzunehmen, dass sich die Gabe im Zyklus von Gabe und Gegengabe vollständig annulliere, bedeute, die Gabe mit dem Gegebenen gleichzusetzen. Dies berücksichtige jedoch nicht die Ausrichtung des Gebers auf den Empfänger, die sich im Schenken vollziehe. Diese Ausrichtung führe beim Schenken zu einem „Überschuss des Gebens über das Gegebene hinaus“.165 Der Tausch beruhe dagegen auf Gleichheit. Zwei Dinge würden quasi miteinander verrechnet, d. h. einander gleichgemacht. Eine solche Verrechnung beruhe auf einer zugrundeliegenden Ordnung. Insofern sich ein Geben nach solchen das Zusammenleben ordnen159

  Waldenfels, Das Un-ding, 393.   Waldenfels, Das Un-ding, 396. 161   Waldenfels, Das Un-ding, 396. 162   Waldenfels, Das Un-ding, 396. 163   Waldenfels, Das Un-ding, 402. 164   Waldenfels, Das Un-ding, 396. 165   Waldenfels, Das Un-ding, 399 f. 160

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2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

den Regeln vollziehe, wie beim Gabentausch, sei es als ein „normales Geben“ zu bezeichnen.166 Das Ausgerichtetsein auf den Anderen stelle aber ein unverrechenbares Surplus dar. Insofern sei Schenken als ein „anomales Geben“ zu bezeichnen.167 Waldenfels betont jedoch, dass das „Geben als Gabe“ nicht vom Geben im Gabentausch loszulösen sei. Vielmehr vollziehe sich die Gabe gerade mit, in und unter dem Gabentausch: „Bei Derrida ist von einer Gabe die Rede, ‚die sich nicht selber, sich nicht als solche‘ gibt, das heißt von einer Gabe, die nicht auf ein präsentierbares Ding und auf jemandes präsentierten Akt zurückgeführt werden kann: ‚eine Gabe ohne Gegebenes und ohne Geben‘ [. . .] Doch was heißt hier ‚ohne‘? Die Unentgeltlichkeit kann nur verstanden werden als etwas, das den Kreislauf der Vergeltung und Vergütung durchbricht, ihn unterbricht und die Grenzen der Tauschordnung überschreitet. So gesehen ist das ‚ohne‘ nicht zu denken ohne das, von dem es sich ablöst, und dies würde besagen, dass Marcel Mauss die Gabe dort sucht, wo sie einzig zu finden ist: im Tausch, von dem sie sich absetzt.“168

2.6.2  Dalferths Interpretation der Gabe als hermeneutisches Phänomen Ingolf U. Dalferth greift das Thema ‚Gabe‘ in seiner anthropologischen Auseinandersetzung mit der Auffassung vom Menschen als Mängelwesen auf.169 Er widmet sich dabei v. a. den Ansätzen von Derrida und Marion. Ihre Debatte über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Gabe versteht er als eine Debatte über die Grenzen der Phänomenologie als philosophischer Methode: „In beiden Fällen scheint es weniger um die Gabe und ihre Grenzen als vielmehr um die Grenzen der Phänomenologie und deren Überwindung zu gehen: Die Debatte um die Gabe als Phänomen ist im Kern ein Streit um die phänomenologische Methode.“170 Letztlich begreift Dalferth beide Ansätze als eine kritische Verarbeitung der Hindernisse, die Husserl der Phänomenologie auferlegt hat, indem er strikt forderte, vom ‚Ding an sich‘ abzusehen. Nach Dalferth dekonstruiere Derrida die phänomenologische Methode, indem er am Thema ‚Gabe‘ deutlich mache, dass es mehr gebe als das, was sich zeige. Für Derrida seien Gaben nicht einfach nichts, sie seien jedoch auch keine Phänomene, sondern durch Entzug oder Abwesenheit gekennzeichnet und könnten lediglich sprachlich erschlossen werden. Marion hingegen versuche die Phänomenologie zu retten, indem er allen Phänomenen eine Gabestruktur zuschreibe. Doch auch dies laufe letztlich auf die Erkenntnis hinaus, dass es ein Mehr gebe als das, was als Phänomen erscheine, da diese Gabestruktur dem Erkennenden gerade entzogen bleibe. Somit gehe es beiden um dieselbe Pointe.

166

  Waldenfels, Das Un-ding, 399.   Waldenfels, Das Un-ding, 399. 168   Waldenfels, Das Un-ding, 408. 169   Dalferth, Umsonst. 170   Dalferth, Umsonst, 96. 167

2.6  Kritische Auseinandersetzungen mit den dargestellten Gabetheorien

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Obwohl Dalferth die von Marion postulierte Selbstgebung aller Phänomene eher kritisch betrachtet, billigt er ihm doch zu, dass er mit seiner Forderung, die Gabe müsse im Horizont der Gegebenheit verstanden, also als Phänomen aufgefasst werden, einen wesentlichen Punkt gesehen habe: Die Tatsache nämlich, dass etwas nicht per se eine Gabe sein kann, sondern nur dann, wenn sie sich dem Empfänger als solche erschließt. „In lebensweltlichen Zusammenhängen ist nur das Gabe, was für mich, aber weder von mir noch durch mich da ist, eben das also, was mir gegeben ist. Gaben gibt es nicht ohne Empfänger, und Empfänger gibt es nur, insofern Gaben sie dazu machen.“171 Dabei betont Dalferth ähnlich wie Marion, dass das Verstehen nicht die Gabe ausmache, sondern sich die Gabe selbst als Gabe erschließe. Der konstitutive Zusammenhang zwischen einer Gabe und dem Verständnis des Empfängers, der die Gabe als ‚für ihn gegeben‘ betrachtet, veranlasst Dalferth dazu, die Gabe als „hermeneutisches Phänomen“ zu charakterisieren.172 Hermeneutisch sei ein Phänomen dann, wenn der Erkennende einen unmittelbaren Bezug zwischen sich und dem Phänomen herstelle und wenn das Erkannte sein Selbstverständnis verändere. Allerdings fordere die Hermeneutik, so Dalferth, eine andere methodische Zugangsweise als die Phänomenologie. Arbeite man hermeneutisch, so könne man die konkreten Lebensbezüge gerade nicht außer Acht lassen. Hermeneutik versuche Phänomene gerade „von ihrer Situiertheit in der Wirklichkeit aus“ zu erhellen, nehme „sie in ihrer Vernetzung mit anderem, in ihrer Verwobenheit in die sich ändernden Wirklichkeiten und damit in ihren Möglichkeitsbezügen in den Blick [. . .]“.173 Im Hinblick auf die Gabe mache eine solche lebensweltliche Verortung sehr schnell deutlich, dass es sich bei ihr nicht um ein Ding handele, sondern „um einen bestimmten sozialen Gebrauch von Sachen oder Dingen bzw. um eine bestimmte Kommunikationspraxis“.174 Diese Kommunikationspraxis zeichne sich dadurch aus, dass sie nicht Mittel zum Zweck sei. An das Geben von Gaben knüpften sich gerade keine Erwartungen an den Anderen. Entscheidender Sinn der durch das Geben vollzogenen Kommunikation sei das Eingehen und Aufrechterhalten von Beziehungen; Beziehungen, die den Einzelnen durch die Gaben zu dem werden ließen, was er für den Anderen sei. Gaben seien „personale Kommunikationsvollzüge, die diesseits aller ökonomischen und politischen Ordnungen das überhaupt erst begründen und bewahren, ohne das jene Ordnungen nicht funktionieren würden: die symbolische Identität der sozialen Akteure (Personen, Sozialitäten).“175 Identitätsbildung ist für Dalferth dementsprechend maßgeblich vom Empfangen bestimmt. 171

  Dalferth, Umsonst, 104.   Dalferth, Umsonst, 105. 173   Dalferth, Umsonst, 106. 174   Dalferth, Umsonst, 107. 175   Dalferth, Umsonst, 109. 172

86

2.  Diskurs 2: Gabe als Ereignis

Im Folgenden kommt Dalferth noch einmal auf die von der Gabe am Empfänger hervorgerufene Veränderung zu sprechen, die ihn Gaben als hermeneutische Phänomene charakterisieren lässt. Entscheidend für eine Gabe sei es, dass der Empfänger sie zunächst nur empfangen könne, dass sie ihm also Passivität auferlege: „Die Grenze der Gabe ist die Situation des Bekommens, das Unterbrochenwerden des Lebenslaufes durch etwas, was einem von anderswo her zugespielt wird, das Bestimmtwerden durch das, was man sich selbst nicht gibt, sondern bekommt.“176 Durch das Empfangen verändere sich der Empfänger jedoch, und sei es nur dahingehend, dass er nun zum Empfänger einer Sache geworden ist. Diese Veränderung eröffne ihm neben einem neuen Selbstverständnis auch neue Handlungsmöglichkeiten. „Gaben gibt es nicht als solche, zur Gabe gehört in lebensweltlichen Zusammenhängen konstitutiv die Situation des Bekommens, in der Menschen Empfänger von Neuem, von vorher nicht verfügbaren Lebensmöglichkeiten werden.“177 Aus der Prämisse, dass Gaben durch die Situation des Bekommens gekennzeichnet seien, in der sich dem Empfänger neue Möglichkeiten eröffnen, ergeben sich für Dalferth zwei Schlussfolgerungen: Zum einen, dass es von Person zu Person und von Situation zu Situation variieren könne, was für einen Menschen zur Gabe wird. Zum anderen, dass die Gabe, anders als von Derrida betont, selbstverständlich Reaktionen des Empfängers wie Dank, Freude etc. hervorrufen oder ihn zu bestimmten Aufgaben verpflichten könne. Solche Aufgaben seien jedoch keine abzutragende Schuld, sondern erwüchsen aus der Befähigung, die die Gabe mit sich bringe.

2.7  Zusammenfassung und Würdigung von Diskurs 2 Der von Heidegger, Marion und Derrida jeweils auf eigene Art und Weise akzentuierte Zusammenhang von Gabe und Ereignis scheint mir einen zentralen Zug der Gabe zu fokussieren und hat dementsprechend folgerichtig auf den Diskurs um den Gabentausch Einfluss genommen, wie ich in der Auswertung des gesamten Forschungsüberblicks genauer darstellen werde. Der Gebrauch des Ereignisbegriffs macht bei allen drei Autoren deutlich, dass es sich bei der Gabe um ein für den Geber und für den Empfänger unverfügbares Geschehen handelt. Diese Unverfügbarkeit liegt im Hinblick auf den Geber darin begründet, dass die Gabe den Empfänger nicht unverändert lässt, sondern ihn innerlich neu lokalisiert, bzw. ihm neue Möglichkeiten der Selbstdeutung und des Handels eröffnet. Und gerade diese Veränderung des Empfängers ist für den Geber nicht intentional herbeizuführen, möglicherweise häufig im Einzelnen auch nicht vorauszusehen. Wie Dalferth und Waldenfels bin ich der Ansicht, dass das unverfügbare Ereignis ‚Gabe‘ in 176

  Dalferth, Umsonst, 111.   Dalferth, Umsonst, 110 f.

177

2.7  Zusammenfassung und Würdigung von Diskurs 2

87

der Regel im Rahmen konkreter Kommunikationssituationen geschieht. Formen von ‚indirekten Gaben‘ wie etwa die von Derrida in die Diskussion eingebrachten Effekte, die Texte auf ihre Leser haben, sind deshalb ebenfalls als Gaben zu bezeichnen, weil sie in ähnlicher Weise wie überreichte Geschenke in einem Kommunikationsprozess die Eröffnung von Möglichkeiten darstellen. Es ist jedoch deutlich, dass hier eine Erweiterung stattfindet, weil das Proprium, das die zwischenmenschliche Interaktion ‚Gabe‘ kennzeichnet, auch in anderen Bereichen entdeckt werden kann.

3.  Diskurs 3: Verantwortlichkeit als Gabe 3.1 Vorbemerkungen Wenn es bei zwischenmenschlichen Gaben immer auch um den Aufbau von Beziehungen geht, so muss sich durch die Gaben auch die Art der Beziehungen regeln. Eine besondere Art der zwischenmenschlichen Beziehung ist die ethische Beziehung, d. h. die Übernahme von gegenseitiger Verantwortung. Diese ethische Beziehung ist das maßgebliche Thema der beiden Hauptwerke von Emmanuel Lévinas „Totalität und Unendlichkeit“ sowie „Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht“.1 Beide Werke sind keine Arbeiten über die Gabe im eigentlichen Sinne, sondern widmen sich der Frage nach dem Wesen des Menschen und identifizieren die menschliche Subjektivität mit der Verantwortung des Ichs für den Anderen. Das Geben spielt in Lévinas’ ethischen Entwürfen aber insofern eine herausgehobene Rolle, als sich ethisches Verhalten im Geben realisiert. In „Totalität und Unendlichkeit“ betont er, dass die Verantwortung für den Anderen darin konkret werde, dass das Ich ihm seine Welt anbietet. In „Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht“ radikalisiert Lévinas diesen Ansatz und beschreibt Verantwortung als Stellvertretung des Ichs für den Anderen und das heißt als Selbsthingabe an den Anderen. Lévinas reflektiert zudem die Voraussetzungen, die den Menschen zu einem ethischen Subjekt machen, d. h. die ihn befähigen zu geben, und geht hierbei von einer Struktur von Ruf und Antwort aus. Das Ich wird vom Anderen in die Verantwortung gerufen und kann sich diesem Ruf nicht entziehen. Diesen Ansatz übernimmt Derrida in „Donner la mort“ und erörtert die Frage, wie die Kreisstruktur des Gabentausches, die seines Erachtens das bewusste Geben von Subjekt zu Subjekt immer wieder zunichte macht, unterbrochen werden kann.2 Er sieht dies dann gegeben, wenn der Tod eine Gegengabe zunichte macht.

1

  Lévinas, TU. Ders., JS.   Derrida, Tg.

2

90

3.  Diskurs 3: Verantwortlichkeit als Gabe

3.2  Subjektwerdung als Gabe bei Emmanuel Lévinas 3.2.1 „Totalität und Unendlichkeit“ Nach Lévinas ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass das Ich ein Subjekt wird, dass es die Erfahrung von Transzendenz macht. Diese Erfahrung ist für Lévinas dort gegeben, wo das Ich eine Größe nicht erfassen kann, weil diese jeden Begriff, den es sich von ihr machen könnte, übersteigt. Nach Descartes, dem Lévinas an dieser Stelle folgt, ist das Unendliche das, was der Mensch nicht objektivierend verstehen kann, da es die Idee seiner selbst notwendigerweise immer überschreitet. Ansonsten wäre der Charakter der Unendlichkeit nicht gegeben. Das Unendliche sei für den Menschen nicht begreifbar und damit auch nicht anzueignen, es zeigt ihm ein Jenseits seiner selbst auf. Lévinas, der für das Transzendente durchaus auch den Begriff Gott verwendet, betont, dass das Unendliche nicht unabhängig von der ‚Idee des Unendlichen im Menschen‘ existiere, dass es keine Transzendenz ohne deren Offenbarung geben könne. Für Lévinas macht das Ich die Erfahrung von Transzendenz in der Begegnung mit einem anderen Menschen, der es anspricht, mit dem ‚Anderen‘. Ihn könne das Ich nicht begreifen, wenn es ihn lediglich als alter ego, als anderes Ich betrachte. Vielmehr entziehe sich der Andere grundsätzlich jedem Erkennen durch das Ich und jeder begrifflichen Vereinnahmung. Er bleibe für das Ich fremd. Durch die Ansprache dieses nicht zu vereinnahmenden Anderen werde das Ich in die Verantwortung gerufen, es werde zu einem ethischen Subjekt. Die logische Antwort auf den Anruf des Anderen ist nach Lévinas das Geben. Allerdings habe das Ich auch die Freiheit, nicht zu geben, es habe jedoch nicht die Wahl, seine Verantwortung für den Anderen abzulehnen. Voraussetzung dafür, dass es zur Begegnung zwischen dem Ich und dem Anderen kommen könne, sei, dass das Ich sich bereits konstituiert habe und nicht in seinen Weltbezügen aufgehe. Diese Konstitution des Ich geschieht nach Lévinas weder durch Abgrenzung noch durch die Vorstellungskraft des Ich oder seine Intentionen, sondern dadurch, dass sich das Ich beim Genießen als glücklich erfährt: „Der Genuss ist kein psychologischer Zustand unter anderen, eine affektive Gestimmtheit der empirischen Psychologie, sondern das eigentliche Erleben des Ich“.3 Dabei bezeichnet Lévinas all das, was der Mensch genießt, all das, was seine Bedürfnisse befriedigt, als Nahrung. Der Bezug des Menschen zur Welt gestalte sich so, dass er sie sich aneigne, um sich von ihr zu nähren. Dadurch werde das, was anders, was fremd war, in eigenes umgewandelt: „Die Ernährung als Mittel zur Wiederherstellung der Kräfte ist die Umwandlung des Anderen in das Selbe. Diese Umwandlung liegt im Wesen des Genusses: Eine andere Energie, eine Energie, die als andere erkannt wird, [. . .] wird im Genuss meine Energie, meine 3

  Lévinas, TU, 156 f.

3.2  Subjektwerdung als Gabe bei Emmanuel Lévinas

91

Kraft. In diesem Sinne ist jeder Genuss Nahrung.“4 Durch die Nahrung werden die Bedürfnisse des Menschen befriedigt. Neben der Bedürfnisbefriedigung gibt es im Menschen, Lévinas zufolge, jedoch auch ein Begehren, das nicht durch Mangel hervorgerufen werde, sondern durch das Begehrte selbst: es ist das Begehren nach dem, was das Ich und seine Welt übersteigt, nach Transzendenz. Der Andere ist nun für Lévinas die Größe, die das Ich sich nicht aneignen kann und an dem es deshalb die Erfahrung von Transzendenz macht. Lévinas benutzt den Begriff des „Antlitz“,5 um deutlich zu machen, dass der Andere durch seinen eigenen Ausdruck immer wieder das Bild zerstört, das sich das Ich von ihm macht: „Das Antlitz ist gegenwärtig in seiner Weigerung enthalten zu sein.“6 Das Ich müsse erkennen, dass es im Anderen ein Gegenüber habe, das seinen Sinn in sich selbst habe und dessen es sich nicht bemächtigen könne. Dieser Entzogenheit gemäß könne sich der Andere dem Ich lediglich offenbaren. In seinem Antlitz drücke sich der Andere selbst aus, und diese Selbstexpression irritiere und zerstöre permanent die Idee, die das Ich sich vom Anderen gemacht habe. Dieses Sich-Ausdrücken des Antlitzes ist für Lévinas bereits eine Form von Sprache: „Das Leben des Ausdrucks besteht darin, die Form zu zerstören, unter der sich das Seiende eben dadurch, dass es sich als Thema stellt, verbirgt. Das Antlitz spricht. Die Manifestation des Antlitzes ist schon Rede. Derjenige, der sich manifestiert, kommt sich nach dem Wort Platons selbst zur Hilfe. [. . .] Sich im und durch das Bedeuten gegenwärtigen, heißt sprechen.“7 Hierin liegt der große Unterschied zwischen der Sprache und dem übrigen menschlichen Werk. Das menschliche Werk ist nicht in gleicher Weise eine Möglichkeit der Selbstauslegung, wie es die Sprache ist. Alles, was der Mensch schafft, ist, sobald es fertig gestellt wurde, der Interpretation anderer Menschen ausgesetzt. Und da das Werk immer zweideutig ist, ist immer ein breiter Interpretationsrahmen gegeben. Einerseits ist es Lévinas wichtig, den Anderen nicht als Rivalen des Ichs darzustellen, d. h. nicht als anderes freies, ebenbürtiges Individuum,8 sondern als bedürftig. Und so ist evident, dass die Ansprache, die das Ich durch den Anderen erfährt, ein ethischer Anspruch ist. Dieser Anspruch des Anderen an das Ich sei zunächst der Anspruch darauf, am Leben gelassen zu werden, denn durch die Tatsache, dass das Ich sich den Anderen nicht anzueignen vermag, könne im Ich der Impuls entstehen, ihn auslöschen zu wollen. Darüber hinaus sei es der ethische Anspruch, am Besitz des Ichs, an seiner Welt, Anteil zu haben. Mit diesem Anspruch verändere der Andere den Blick des Ichs auf seine für es selbstverständ4

  Lévinas, TU, 153.   Lévinas, TU, 277. 6   Lévinas, TU, 277. 7   Lévinas, TU, 87 ff. 8   Es geht Lévinas nicht darum, dem Anderen abzusprechen, dass er sich selbst als freies, selbstbestimmtes Individuum empfindet, er lehnt jegliche Analogiebildung vom Ich auf den Anderen als Vereinnahmung des Anderen ab. 5

92

3.  Diskurs 3: Verantwortlichkeit als Gabe

liche Aneignung der Welt: das Ich entdecke das gewalttätige Moment seines Tuns. In der Begegnung mit dem Anderen erfahre es eine Infragestellung, die es befähige, sich von sich selbst zu distanzieren und für sein Tun Verantwortung zu übernehmen. Andererseits charakterisiert Lévinas den Anderen nicht nur als nackt, bloß und bedürftig, sondern auch als „Meister“,9 der das Ich unterweist. Dies wird verständlich, wenn man bedenkt, dass die Erfahrung der Transzendenz, die die Voraussetzung dafür ist, dass das Ich zu einem ethischen Subjekt werden kann, an der Ansprache des Anderen hängt: „Die Nacktheit des Antlitzes ist Blöße, Mangel. Den Anderen anerkennen, heißt, einen Hunger anerkennen. Den Anderen anerkennen – heißt geben. Aber man gibt dem Meister, dem Herrn, man gibt dem, den man in einer Dimension der Erhabenheit mit ‚Sie‘ anredet. [. . .] Die Gegenwart des Anderen ist gleichbedeutend mit dieser Infragestellung meines unbekümmerten Besitzes der Welt.“10 Die Reaktion auf den Appell des Anderen ist es, zu geben. Und dieses Geben vollzieht sich für Lévinas nicht nur in der Gabe materieller Dinge, sondern primär in der Sprache. Indem das Ich mit dem Anderen spreche, biete es ihm seine Welt dar. Dadurch entstehe Gemeinschaft zwischen dem Ich und dem Anderen, obgleich der Andere für das Ich fremd bleibe und auch weiterhin außerhalb seines Erkenntnishorizontes stehe. Lévinas spricht hier von einer sozialen, ethischen Gemeinschaft: „Die Sprache, die dem Anderen die Sache bezeichnet, ist eine ursprüngliche Enteignung, eine erste Gabe. Die Allgemeinheit des Wortes stiftet eine gemeinsame Welt.“11 Für das Ich vollziehe sich in der Darbietung seiner Welt an den Anderen durch die Sprache eine fundamentale Veränderung seiner Weltsicht. Indem die eigene Welt für den Anderen benannt werde, erlangten die einzelnen Dinge Bedeutung: „Die Dinge gewinnen eine rationale und nicht nur eine zeughafte Bedeutung, weil ein Anderer mit meinen Beziehungen zu den Dingen assoziiert ist. Indem ich ein Ding bezeichne, bezeichne ich es einem Anderen. Der Akt des Bezeichnens modifiziert die Beziehung, die ich als Genießender und Besitzender mit den Dingen habe; er stellt die Dinge in die Perspektive des Anderen. Der Gebrauch eines Zeichens beschränkt sich also nicht auf die Tatsache, dass ich an die Stelle der direkten Beziehung mit der Sache eine indirekte setze; er erlaubt vielmehr, die Dinge zum Gegenstand des Anbietens zu machen, sie von meinem Gebrauch zu lösen, sie zu entfremden, sie äußerlich zu machen.“12

Es sei diese Entfremdung zu den Dingen, die dem Ich Rationalität ermögliche. Wie eingangs bereits erwähnt, ist das Geben die Form, in der sich für Lévinas ethisch verantwortungsvolles Leben gestaltet, und es ist die Ansprache des Anderen, die das Ich zu einem ethischen Subjekt macht. Dabei ist es für Lévinas kenn 9

  Lévinas, TU, 103.   Lévinas, TU, 103. 11   Lévinas, TU, 252. 12   Lévinas, TU, 302. 10

3.2  Subjektwerdung als Gabe bei Emmanuel Lévinas

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zeichnend, dass sich nach seiner Vorstellung der Andere in seiner Ansprache an das Ich nicht dem Ich hingibt, dass er kein Erkenntnisobjekt des Ich wird, dass es zu keiner Partizipation des Ichs am Wesen des Anderen kommt. Lévinas zieht es vor, davon zu sprechen, dass der Andere für das Ich Bedeutung gewinnt. Gleichzeitig spricht er jedoch auch davon, dass das Ich durch den Anderen empfange. Es gewinnt durch die Begegnung mit ihm den Abstand zu sich selbst, der Verantwortung und Rationalität überhaupt erst ermöglicht. Zugespitzt könnte man sagen, dass das Ich sich durch den Anderen neu empfängt, dass es sich selbst als Gabe erhält, womit man allerdings über Lévinas’ Formulierungen hinausgeht. 3.2.2 „Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht“ In seinem zweiten Hauptwerk „Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht“ führt Lévinas die Verquickung des Ich und des Anderen noch weiter, indem er betont, dass es gerade die Identität des Ichs ausmache, Verantwortung für den Anderen zu tragen. Das Ich ist hierbei kein bereits gebildetes Ich, das Verantwortung für den Anderen übernimmt, sondern erst in der Übernahme der Verantwortung wird das Ich zum Individuum, zum Einzelnen. Dabei vollzieht sich die Verantwortung für den Anderen abermals im Geben, aber dieses Geben wird im Vergleich zu den Ausführungen in „Totalität und Unendlichkeit“ radikaler gedacht. Geben meint eine totale Verausgabung des Ichs, absolute Selbsthingabe: „Wenn das Geben die Nähe selbst ist, so erreicht es seinen vollen Sinn erst da, wo es mir das nimmt, was mir mehr zueigen ist als der Besitz.“13 Gleichwohl ist der Begriff ‚Gabe‘ kein Schlüsselbegriff in „Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht“. Lévinas zieht es vor, die Selbsthingabe des Ichs an den Anderen als „Stellvertretung“ zu bezeichnen.14 Entscheidend ist es auch hier, dass die Stellvertretung nicht zu einer Verschmelzung des Ich und des Anderen führt, sondern der Andere dem Ich fremd gegenübersteht. Eines der zentralen Anliegen, das Lévinas mit seinem zweiten Hauptwerk verfolgt, ist es, „[. . .] in der Subjektivität eine Ausnahme [zu] erkennen, die das Gefüge von sein und Seiendem und ihre Differenz durcheinanderbringt [. . .]. [Einfügung: CM]“.15 Lévinas ist der Ansicht, dass durch eine Gleichsetzung von Ich und Bewusstsein die Individualität des einzelnen Ichs nicht ausreichend gedacht werden kann. Das Bewusstsein sei Teil des Seins und entstehe durch eine Differenzierung innerhalb der Totalität des Seins, die gleichbedeutend sei mit der Entstehung der Zeit.

13

  Lévinas, JS, 134.   Lévinas, JS, 47. 15   Lévinas, JS, 19. 14

94

3.  Diskurs 3: Verantwortlichkeit als Gabe

„Die Wahrheit kann nur in der Darstellung des Seins für es selbst bestehen, im Selbstbewusstsein. Das plötzliche Auftauchen einer Subjektivität, einer Seele, eines Wer, bleibt korrelativ zum Sein, das heißt gleichzeitig und eins mit ihm. [. . .] Die Seele lebte allein für die Enthüllungen des Seins, durch das sie entsteht und hervorgerufen wird, sie wäre ein Moment im Leben des Geistes, das heißt der Seinstotalität, die nichts außerhalb ihrer lässt, Selbes, das sich zum Selben gesellt.“16

Als Teil des Seins und in der Abhängigkeit von allem Sein, das das Bewusstsein erkennt, sei dieses gerade nicht einzigartig. Es sei Teil einer Totalität, an und für sich bedeutungslos. Ausgehend von dem Gedanken, dass der Mensch in seiner Verantwortlichkeit unvertretbar ist, wird nun der Ruf, die Vorladung des Anderen zur Verantwortung für Lévinas zum Ort, an dem das Ich seine Einzigartigkeit gewinnt, an dem es Individuum wird: „Vorladung zur Identität wegen der Antwort der Verantwortung, in der man sich nicht ersetzen lassen kann, ohne schuldig zu werden. Auf dieses unnachgiebig zwingende Gebot ist die einzige Antwort: ‚siehe hier bin ich‘ [. . .].“17 Lévinas benutzt drastische Worte, um die Vorladung, um die Gefangennahme durch den unabweisbaren Anspruch des Anderen zu charakterisieren, so spricht er davon, dass das Ich die Geisel des Anderen sei und greift u. a. auf die Gottesknechtslieder zurück, um deutlich zu machen, dass das Ich von allen vor Gericht gezerrt werde, dass alle auf es zeigen, dass es sich nicht entziehen könne und stellvertretend für alle zu sühnen und damit Verantwortung zu übernehmen habe. Das Ich wird zum Individuum gerade nicht, indem es mit irgendetwas identisch wird, sondern als Proexistenz für den Anderen. Insofern kann man das, was Lévinas vorschwebt, vielleicht als Selbstwerdung durch Selbstverlust, durch Entwerdung umschreiben. Indem Lévinas die Identität des Ichs durch den Bezug zum Anderen, der durch Verantwortung gekennzeichnet ist, charakterisiert, löst er die Subjektivität des Menschen aus dem Bereich des Seins und damit auch aus dem Bereich der mit dem Sein korrespondierenden Zeit. Zeit entstehe, so Lévinas, durch die SubjektObjekt-Differenzierung innerhalb der Totalität des Seins. Die Zeit stelle eine „Phasenverschiebung im Jetzt“ dar, „das ‚Ganze‘, das sich vom ‚Ganzen‘ abhebt“.18 Parallel zu dieser äußeren Zeitstruktur gebe es aber auch eine Zeitstruktur des Bewusstseins. Für dieses sei es charakteristisch, dass es durch Retention und Protention Vergangenes und Zukünftiges in sich präsent halten könne. Nichts gehe dem Bewusstsein verloren. Der Ruf in die Verantwortung für den Anderen liege jedoch außerhalb des durch die Zeitvorstellung strukturierten Bewusstseins. Er sei für das Bewusstsein nicht einholbar. Um diesen Zustand der Transzendenz zu charakterisieren, spricht Lévinas verschiedentlich von einer „Vergangenheit [. . .], 16

  Lévinas, JS, 75.   Lévinas, JS, 311. 18   Lévinas, JS, 75. 17

3.2  Subjektwerdung als Gabe bei Emmanuel Lévinas

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die älter ist als jeder erinnerbare Ursprung.“19 Der Ruf in die Verantwortung sei etwas, demgegenüber das Ich völlig passiv sei, er gleiche einer Verfolgung, einer Verletzung. Lévinas charakterisiert ihn als ein „Soll, das das Haben übersteigt, aber das Geben ermöglicht.“20 Die Verantwortung für den Anderen beruhe nicht auf dem Engagement des Ichs, nicht auf seinem freien Willensentschluss. Dies wird evident, wenn man bedenkt, dass das Ich durch die Verantwortung für den Anderen erst entsteht. „Das Unendliche zeigt sich durch seinen Befehl, sich dem Nächsten zuzuwenden, nicht einer Subjektivität an, die schon fertige Einheit wäre.“21 Die oft drastischen Begriffe, die Lévinas benutzt, um die sich dem Ich aufdrängende Verantwortung für den Anderen zu beschreiben, dienen dazu, offenzulegen, dass der Ruf in die Verantwortung Widerfahrnischarakter hat. Sie verdecken jedoch ein wenig, dass es für Lévinas die Güte ist, von der das Ich vor aller Zeit in Anspruch genommen ist. Obwohl Lévinas betont, dass die vom Ich zu übernehmende Verantwortung eine transzendente Größe jenseits von Sein und Zeit ist, ereignet sich diese Trans­ zendenz in der Immanenz der Begegnung zwischen dem Ich und einem Anderen. Wie schon in „Totalität und Unendlichkeit“ ist es das Antlitz des Anderen, angesichts dessen das Ich die Erfahrung von Transzendenz macht bzw. angesichts dessen seine Verantwortung konkret wird.22 Im Gesicht des Anderen zeige sich all die Not, die menschliches Leben ausmache, wie etwa das Sich-selbst-Verlieren durch den Prozess des Alterns. Zugleich erstrahle auf ihm jedoch auch die Spur des Unendlichen. Indem das Ich auf den vom Gesicht des Anderen ausgehenden Impuls reagiere, folge es dem transzendenten Anspruch, der an es ergehe. Allerdings werde dieser Anspruch erst in der menschlichen Antwort, also im ethischen Verhalten dem Anderen gegenüber, vernehmbar.23 „Der Befehl, der mich dem Anderen weiht, zeigt sich mir nicht, es sei denn durch die Spur seiner Zurückgezogenheit, als Gesicht des Nächsten. Durch die Spur einer Zurückgezogenheit, der nie Aktualität vorausgegangen war und die nur in meiner eigenen, schon gehorchenden Stimme gegenwärtig ist – harte Gegenwart des Opfers und der Gabe.“24 Von der Güte – Lévinas nennt sie wahlweise auch das Unendliche oder Gott – lässt sich durch das verantwortungsvolle Tun nur Zeugnis ablegen. Sie sei nicht thematisierbar, sondern nur zu verherrlichen. 19

  Lévinas, JS, 38.   Lévinas, JS, 242. 21   Lévinas, JS, 47. 22   Lévinas betont immer wieder, dass von einer Verantwortlichkeit des Ich für den Anderen zu sprechen sei und nicht von einer wechselseitigen Verantwortlichkeit. Wenn von einer solch wechselseitigen Struktur ausgegangen würde, wechsele man sofort wieder in die Perspektive des beobachtenden Dritten und thematisiere damit den Anderen. Das Ich könne immer nur von dem Anspruch sprechen, der an es selbst ergehe. 23   Vgl. die ähnliche Struktur von Anruf und Antwort in der von Lévinas beeinflussten Phänomenologie Marions. 24   Lévinas, JS, 308. 20

96

3.  Diskurs 3: Verantwortlichkeit als Gabe

Die entscheidende Reaktion des Ichs auf den Anderen bestehe darin, sich ihm hinzugeben. In dieser Hingabe vollziehe sich die Stellvertretung des Ichs für seinen Nächsten. Dies geschehe vor allem anderen im Sagen. Lévinas unterscheidet zwischen Sagen und Gesagtem. Im Sagen, in dem sich das Ich an den Anderen richtet, werde Nähe hergestellt, die allem Thematisieren von Gegenständen vorausgehe. Das Sagen werde jedoch in der Regel durch das Gesagte verdeckt. Die im Sagen aufblitzende Transzendenz werde durch das Gesagte überlagert, den Modus der Thematisierung des Seins.25 Im Sagen gehe das Ich das Risiko ein, sein Innerstes zu entblößen, sich dem Anderen auszusetzen, auszuliefern: „Nicht Sagen, das sich im Gesagten verbirgt und schützt, das sich angesichts des Anderen mit bloßen Worten begnügt – sondern Sagen, das sich entblößt, das heißt das sich noch seiner Haut entledigt – Empfindlichkeit, die sich aussetzt bis zum Leiden.“26 Durch dieses sich Ausliefern stelle das Ich zugleich Nähe zum Anderen her, aber diese Nähe habe keine erotische Dimension, sondern durch und durch den Charakter von Verantwortung. Sie sei Nähe zum Nicht-Begehrenswerten, die sich in der „Beunruhigung“ um des Anderen willen äußere.27 Lévinas sagt über das Sagen, es sei ein Zeichengeben von dem Zeichen, das das Ich selbst darstelle, ein Aussetzen des ursprünglichen, vorzeitlichen Ausgesetztseins des Ichs an den Anderen, das die Verantwortlichkeit des Ichs und damit seine Identität kennzeichne. Indem das Ich seine Proexistenz für den Anderen im Sagen ausdrücke, gewinne der Andere und es selbst an Bedeutung. Der Nächste sei eben nicht ein beliebiges Seiendes in der Totalität des Seins. Sein Leiden, sein Sich-selbst-entrissen-Sein durch das Altern, sein Tod mache sein Leben nicht sinn- und belanglos: „Die Annäherung verleiht, soweit sie Opfer ist, dem Tod einen Sinn. In ihr erstreckt sich die absolute Einzigartigkeit des Verantwortlichen auch auf die Allgemeinheit oder die Verallgemeinerung des Todes. In ihr bemisst sich das Leben nicht mehr durch das Sein, und der Tod vermag in sie nicht mehr die Absurdität einzuführen.“28 Die Bedeutung des Einzelnen, die durch die Verantwortung entsteht, kann Lévinas durchaus in der Begrifflichkeit der Gabe ausdrücken. So schreibt er an einer Stelle: „[. . .] der-Einefür-den-Anderen ist vor-ursprüngliche Bedeutsamkeit, die jeglichen Sinn gibt, weil sie gibt.“29 Indem das Ich sich selbst ganz dem Anderen aussetze, indem es sich ihm gebe, sich für ihn den Bissen vom Mund reiße, den es selbst gern essen möchte, gewinnen das Ich und der Andere eine Bedeutung füreinander. Und dies heiße nichts anderes, als dass Sinn entstehe.

25   Lévinas merkt auch gegenüber seinen eigenen philosophischen Studien immer wieder an, dass das, was er darstellen möchte, durch eine Manifestation in der darstellenden Sprache verfälscht wird. 26   Lévinas, JS, 51. 27   Lévinas, JS, 314. 28   Lévinas, JS, 286. 29   Lévinas, JS, 177.

3.3  Der Tod als Unterbrechung des ökonomischen Zirkels bei Jacques Derrida

97

Die Beziehung zwischen dem Ich und seinem Nächsten ist eine Beziehung der Unmittelbarkeit und in dieser Unmittelbarkeit des Einen-für-den-Anderen hat die Verantwortung des Ichs keine Grenze. Im Gegenteil: je mehr es seiner Verantwortung nachkomme, umso mehr vergrößere sie sich. Diese Unmittelbarkeit wird nach Lévinas jedoch in dem Moment unterbrochen, wenn ein dritter Mensch in den Blick gerät: „Der Dritte führt einen Widerspruch in das Sagen ein, dessen Bedeutung angesichts des Anderen bis dahin nur in eine einzige Richtung ging. Von selbst findet nun die Verantwortung eine Grenze, entsteht die Frage: ‚Was habe ich gerechterweise zu tun?‘“30. Durch den Dritten, der ja für das Ich einen weiteren Nächsten darstellt, der aber auch für den Nächsten des Ichs ein Nächster ist, komme es dazu, dass das Ich das Unvergleichbare vergleiche und dadurch aus der Unmittelbarkeit zum Anderen heraustrete. Dieses Vergleichen ist die Grundlage dessen, was Lévinas Gerechtigkeit nennt und was der maßlosen Forderung der Verantwortung, die dem Ich auferlegt ist, ein Maß gibt. Aus diesem Vergleichen entsteht nach Lévinas auch das logische Denken, die Rationalität: „Im Vergleichen des Unvergleichlichen läge demnach die latente Entstehung der Vorstellung, des Logos, des Bewusstseins, der Arbeit, des neutralen Begriffs: Sein.“31 Es ist Lévinas jedoch wichtig, stets zu betonen, dass die menschliche Verantwortung diesem ganzen Bereich vorgeordnet ist, dass sie die Grundlage ist, auf der alles andere basiert. Das vergleichende Bewusstsein unterbreche die Erfahrung von Transzendenz und bleibe vorherrschend. Dennoch gebe es immer wieder Momente, in denen Menschlichkeit konkret werde und das Handeln des Menschen vollständig durch seine unabweisbare Verantwortung für den Nächsten bestimmt werde.

3.3  Der Tod als Unterbrechung des ökonomischen Zirkels bei Jacques Derrida Derridas 1992 veröffentlichter Essay „Den Tod geben“ ist neben „Falschgeld. Zeit geben 1“ der zweite Text, den der Autor dem Thema Gabe widmet. In ihm geht es nicht so sehr um die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit des Subjekts, zu geben, als vielmehr darum, dass Derrida es als Gabe betrachtet, dass das Subjekt Subjekt ist und damit gleichbedeutend, dass es fähig ist, verantwortungsvoll zu handeln. Entscheidend für die Überlegungen Derridas, die u. a. durch die Gedankengänge von Lévinas beeinflusst sind, ist dabei, dass das Ich nur dadurch zum Subjekt wird, dass es sich auf eine Größe außerhalb seiner selbst bezieht, die für es nicht anzueignen ist. „Das Subjekt konstituiert sich demnach in Antwort auf eine Gabe, die nicht anders in Erscheinung tritt als durch die Weise ihrer Übernahme. Diese dem Subjekt zukommende Gabe hat aufgrund ihrer Unaneigbarkeit ein Aufspringen 30

  Lévinas, JS, 343.   Lévinas, JS, 345.

31

98

3.  Diskurs 3: Verantwortlichkeit als Gabe

des Subjekts zur Folge, das Derrida als ‚Dehiszenz‘ und ‚Nicht-Koinzidenz‘ [. . .] benennt.“32 Die für das Subjekt nicht aneigbaren Größen sind zum einen der vom Subjekt nicht antizipierbare Tod, andererseits der Andere, der das Ich durch seinen Appell zur Antwort nötigt. Darüber hinaus interessieren Derrida in seinem Essay „Den Tod geben“ die Fragen, ob ein Tod für Andere möglich ist und ob nicht der Tod die Größe darstellt, die den Zirkel der Ökonomie unterbrechen und damit ein wirkliches Geben ermöglichen kann. Die Texte, die in dem Essay die Grundlage seiner Interpretation bilden, sind zum einen der Aufsatz des tschechischen Philosophen Jan Patočka „Ist die technische Zivilisation zum Verfall bestimmt?“, abgedruckt in seinen „Ketzerischen Essais zur Philosophie der Geschichte“,33 und zum anderen Søren Kierkegaards Werk „Furcht und Zittern“.34 Patočka postuliert in seinem Aufsatz, den Derrida zunächst in weiten Strecken referiert, dass die Möglichkeit, verantwortlich zu handeln, eine Art von Geheimnis als Ermöglichungsrahmen brauche und darüber hinaus mit der Deutung des eigenen Todes zusammenhänge. Patočkas Essay versucht nun, eine Geschichte der sich zunehmend entfaltenden und letztlich doch noch immer nicht eingelösten Möglichkeit, verantwortlich zu handeln, zu zeichnen, in der er drei Phasen aufzeigt: Zunächst eine Zeit, in der das orgastische Mysterium das Denken des Menschen bestimmt habe. Dies sei eine Phase der Nichtverantwortung gewesen, denn die Vorstellung, dass das Ich einen Ruf vernehme, dem es antworten müsse, habe darin keinen Raum. Es folge der Platonismus und schließlich das Christentum. Der Platonismus bahne, so Patočka, den Weg für ein verantwortliches Handeln des Menschen, weil Platon in seiner Philosophie das Selbst in Bezug auf seinen eigenen Tod reflektiere. Seine Philosophie sei eine Philosophie im Angesicht des Todes, sei „die sorgende Vorwegnahme des Todes, die auf das Sterben zu verwendende Sorge, die Meditation über die beste Weise, den Tod zu empfangen, zu geben, sich zu geben, die Erfahrung eines wachen Erwartens des möglichen Todes als Unmöglichkeit [. . .]“,35 wie Derrida es paraphrasiert. In der Bezugnahme auf das Sterben sondere sich die Seele ab und konstituiere sie sich als Selbst. Allerdings gelange die Seele insofern nicht vollständig zu einem verantwortungsvollen Handeln, da der Maßstab für ein gutes und richtiges Handeln aus der Schau der reinen Ideen deduziert werde. Und ein aus Wissen deduziertes Handeln ist für Patočka und mit ihm für Derrida gerade kein verantwortungsvolles Handeln. Ihnen zufolge gehört die freie Entscheidung vielmehr wesentlich zur Verantwortung hinzu:

32

  Busch, Geschicktes Geben, 111.   Patočka, Jan, Ist die Zivilisation zum Verfall bestimmt?, in: Ders., Ketzerische Essays zur ­Philosophie der Geschichte, übers. v. Lehmann, Sandra, Stuttgart 1988, 121 – 145. 34   Kierkegaard, SØren, Furcht und Zittern, Gesammelte Werke Bd. 4, hg. u. übers. von Hirsch, Emanuel, Düsseldorf / Köln 1962. 35   Derrida, Tg, 342. 33

3.3  Der Tod als Unterbrechung des ökonomischen Zirkels bei Jacques Derrida

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„‚Der Objektivität der Erkenntnis gar die Verantwortung zu unterwerfen‘ heißt offensichtlich in den Augen Patočkas – und wie hier nicht unterschreiben, was er darunter versteht? –, die Verantwortung zu annullieren. Die Behauptung, eine verantwortliche Entscheidung müsse sich nach dem Wissen richten, scheint zugleich die Bedingung der Möglichkeit der Verantwortung (man kann eine verantwortliche Entscheidung nicht ohne Wissen und Bewusstsein fällen, ohne zu wissen, was man tut, aus welchem Grund, mit welcher Absicht und unter welchen Bedingungen man es tut) und die Bedingung des Unmöglichen der sogenannten Verantwortung (wenn eine Entscheidung gemäß diesem Wissen getroffen wird, das zu befolgen oder zu entwickeln sie sich begnügt, so ist dies keine verantwortliche Entscheidung mehr – es ist die technische Umsetzung eines kognitiven Dispositivs, die bloße maschinelle Entfaltung des Theorems) zu definieren.“36

Das Christentum bringt nach Patočka die Voraussetzung für ein echtes verantwortliches Handeln mit sich, da hier mit einer äußeren Instanz gerechnet werde, die das Ich in der Hand habe und der es Rechenschaft abzulegen habe, die aber weder sichtbar noch verfügbar sei, nämlich Gott, der ganz Andere. Diese Tatsache sei ein Mysterium tremendum, ein Geheimnis, das Furcht und Zittern auslöse, wenn sich der Mensch seiner Existenz als Sünder bewußt sei. Verantwortung in einem solch christlichen Sinne hat nach Patočka den Charakter einer Gabe, weil sie durch die Bindung an den Anderen ein Moment der Unverfügbarkeit enthält. Derrida stimmt Patočka in seiner Charakterisierung des Todes und des Geheimnisses als Prämissen für verantwortliches Handeln zu und bejaht auch die Deutung, dass verantwortliches Handeln eine Gabe darstelle, weil es eine Antwort auf ein Gegenüber sei. Schließlich sieht er wie Patočka im verantwortlichen Handeln den Weg, wie das Subjekt zum Subjekt wird. Dem Zusammenhang zwischen Tod und Verantwortung widmet Derrida jedoch noch einige weiterführende Überlegungen. So ist er es, der für die Interpretation, die ein Mensch seinem eigenen Sterben gibt, die Formel prägt „sich selbst den Tod geben“.37 Er spielt damit auf Heideggers Überlegungen an, dass etwas, das dem Menschen unverfügbar bleibt, nämlich sein Tod, dennoch von ihm antizipiert wird und so zu einem Verständnis seiner selbst führt. Daran anschließend nimmt Derrida den Einspruch Lévinas’ gegenüber der Konstruktion Heideggers auf, dass im Grunde nicht der eigene Tod eine daseinserschließende Funktion innehabe, sondern der Tod des Anderen, die Erfahrung von Verlust und Trauer.38 Nach Lévinas ist es gerade der Tod des Anderen und die Trauer über das Unwiederbringliche, die das Ich für den Anderen öffnen und ihm auch ein Geben ermöglichen. „Insofern der Tod als Ankündigung irreduziblen Verlustes für die Alterität des Anderen empfänglich macht, kann die Verantwortung die Gestalt einer irreziproken Hinwendung 36

  Derrida, Tg, 353.   Derrida, Tg, 373. Für den Gesamtzusammenhang vgl. Derrida, Tg, 340 u. 370 ff. 38   Ausführlicher diskutiert Derrida dies in folgendem Essay: Derrida, Jacques, Aporien. Sterben – auf die „Grenzen der Wahrheit“ gefasst sein, übers. v. Wetzel, Michel, München 1998. 37

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3.  Diskurs 3: Verantwortlichkeit als Gabe

gewinnen. Der Tod als einer Gabe, von der nicht Besitz ergriffen werden kann, ist die Bedingung der Möglichkeit jeglichen Gebens und Nehmens.“39 Im zweiten Teil seines Essays untersucht Derrida einen weiteren Aspekt der Verantwortung in Auseinandersetzung mit Kierkegaards Interpretation der geplanten Opferung Isaaks.40 Abrahams Tat genüge demnach den beiden von Patočka herausgearbeiteten Kriterien, insofern als sie einerseits eine Reaktion auf den absoluten Anspruch des Anderen darstelle und Abraham andererseits seine Vorhaben weder seiner Familie noch Isaak mitteile, sondern sein Geheimnis wahre und die Last der Verantwortung auf diese Weise mit niemandem teile. Gleichzeitig betont Derrida jedoch, dass das verantwortliche Handeln, das die Bindung an den absolut Anderen über die Bindung an die Gemeinschaft der Vertrauten und der Familien stellt, die wiederum eigentlich ein ethisches Verhalten erforderlich machen würde, den Anspruch der Ethik nicht außer Kraft setze. Abraham handele verantwortlich und gleichzeitig völlig unethisch. Er werde seiner Verantwortung gerecht und sei doch zugleich ein Mörder. Während für Kierkegaard nur die Verantwortung angesichts des absolut Anderen, d. h. Gottes, die Ethik suspendieren dürfe, geht Derrida an dieser Stelle im Sinne Lévinas’ darüber hinaus. Das absolut Andere begegne einem Menschen in jedem anderen Menschen. Insofern opfere man in dem Moment, in dem man für einen anderen Verantwortung übernehme, ihm alle anderen, die einen ebenfalls in die Verantwortung riefen und für die man es nicht tue. Dieses Opfer sei zwangsläufig und doch niemals zu rechtfertigen. Als Beispiel nennt Derrida die Interessen der Menschen der sog. Dritten Welt, die die Menschen der Industriestaaten – ohne dies in der Regel überhaupt zu reflektieren – ihrem Lebensstandard opferten. Bei der Auseinandersetzung mit der Opferung Isaaks stellt Derrida en passant Überlegungen zum Thema Opfer an, die erwähnenswert sind. Zum einen arbeitet Derrida einen Opferbegriff heraus, demzufolge nur dann ein Opfer vorliegt, wenn etwas der Vernichtung preisgegeben werde, was der Opfernde liebe und er damit auch ein Stück seiner selbst preisgebe. Die Liebe zu dem, dem geopfert werde – aus Pflichtgefühl könne man nicht opfern – nötige dazu,41 etwas herzugeben, das man liebe. Zum anderen pflichtet er Heidegger bei, der betont hatte, dass es einen Tod für den Anderen nicht in dem Sinne geben könne, dass man für den anderen sterbe. Im Tod sei der Mensch unvertretbar. Dem Anderen seinen Tod abzunehmen, würde ja bedeuten, ihm seine Individualität, seine Einzigartigkeit als verantwortungsvolles Subjekt zu nehmen. Insofern könne man sich für den Anderen immer nur in einer bestimmten Sache opfern, etwa seinen Tod hinauszögern. 39

  Busch, Geschicktes Geben, 148.   Vgl. Gen 22. 41   Dies entspricht der Position, die Derrida in „Passionen. ‚Die indirekte Opfergabe‘“ einnimmt. Hier vertritt Derrida gegen Kant die Position, dass ein ethisches Handeln aus Pflicht undenkbar sei, vgl. Derrida, Jacques, Passionen. ‚Die indirekte Opfergabe‘, in: Ders., Über die Namen. Drei Essays, übers. v. Gondek, Hans-Dieter / Sedlaczek, Markus, Wien 2000, 15 – 62. 40

3.4  Zusammenfassung und kritische Würdigung von Diskurs 3

101

In Gen 22 löst Gott im letzten Moment das Opfer Isaak durch ein Tier aus und verhindert so Isaaks Tod. Für Derrida hat Abraham aber dadurch, dass er bereit war, das Opfer zu vollziehen, eine Gabe an Gott gegeben. Gerade weil Gott ihm keinen Grund für das geforderte Opfer nenne, ihm keinen Gewinn aus seinem Tun verspreche, sondern um der Bindung an ihn willen ein sinnloses und für Abraham zutiefst schmerzvolles Tun fordere, ermögliche er ihm eine Gabe, die nicht der Intention zu tauschen unterliege. Dadurch jedoch, dass er am Ende den Widder anstelle Isaaks opfern darf, werde die Gabe Abrahams, der vorbehaltlos zu geben bereit war, gnädig wieder in den Zirkel des Tausches und damit der Ökonomie zurückgeführt.

3.4  Zusammenfassung und kritische Würdigung von Diskurs 3 In den ethischen Überlegungen von Lévinas und Derrida wird die Möglichkeit, selbstlos zu geben bzw. sich hinzugeben, auf den Ruf eines Anderen zurückgeführt, der für das Ich den Status von Transzendenz besitzt. Durch den Impuls des Anderen, der für das Ich fremd bleibt und dessen Wesen es nicht zu fassen vermag, wird das Ich zur Verantwortlichkeit und zur Rationalität befähigt. Diese aufgezeigte Struktur, der zufolge das Ich durch das Aufeinandertreffen mit dem Anderen innerlich neu strukturiert wird, ist meines Erachtens als eine ‚indirekte Form von Gabe‘ aufzufassen. Im Hinblick auf den Gabediskurs ist an den Ausführungen von Lévinas besonders interessant, dass sich an ihnen – ähnlich wie in Diskurs 1 – zeigt, dass Gaben auf die Konstitution der Subjektivität der handelnden Personen entscheidenden Einfluss haben. Bei Lévinas ist es allerdings nicht die Konstitution der Subjektivität des Empfängers, sondern des Gebers, und zwar die Konstitution als ethisches Subjekt.

4. Auswertung des Forschungsüberblicks zum soziologischen und philosophischen Gabediskurs 4.1  Zusammenfassung und Bewertung des Gabediskurses Auf den ersten Blick kreist die Forschung zum Thema ‚Gabe‘ um die Frage nach der Abgrenzung von Gabe und Tausch; die Positionen der Autoren scheiden sich in solche, die nur eine einseitige Gabe als Gabe betrachten und solche, die den wechselseitige Austausch von Gaben nicht nur als legitime Form von Gabe ansehen, sondern sogar als deren ursprüngliche Grundform deuten.1 Bei der Analyse des Gabediskurses wurde deutlich, dass die Differenzen der Positionen zum Teil mit unterschiedlichen Fragestellungen zusammenhängen, die von den Autoren verfolgt werden, bzw. mit einem unterschiedlich starken Einfluss bestimmter Referenzautoren. So betrachten die Soziologen und Philosophen, die den Ansatz von Marcel Mauss weiterentwickeln,2 den Austausch von Gaben als Form symbolgestützter Kommunikation, die Anerkennung zum Ausdruck bringt und dem Eingehen oder dem Erhalt von Beziehungen und Bündnissen dient, während in der philosophischen Diskussion, die sich mit Martin Heid­egger auseinandersetzt,3 Gabe zu einem philosophischen Begriff für das wird, was unerwartet und ohne eigenes Zutun auf einen Menschen zukommt. Hier wird der Begriff ‚Gabe‘ durch den Begriff des ‚Ereignisses‘ näher erläutert. Hinzu kommt ein von Emmanuel Lévinas beeinflusster ethischer Diskussionsstrang,4 demzufolge ‚Geben‘ eine Reaktion auf den Anspruch des dem Ich begegnenden, für ihn transzendenten Anderen darstellt. Trotz der differierenden Ansätze stehen die drei Diskurse meines Erachtens jedoch nicht isoliert nebeneinander, sondern bereichern einander um wichtige Aspekte:

1   Die Gabe als einseitiges Geschehen konzipieren Heidegger, Derrida, Marion und Lévinas. Die Gabe als wechselseitiges Geschehen stellen Mauss, Bourdieu, Caillé, Hénaff und Ricœur in den Fokus. 2  Vgl. Mauss, Gabe. 3  Vgl. Heidegger, ZS. 4  Vgl. Lévinas, TU u. Lévinas, JS.

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4. Auswertung des Forschungsüberblicks

Der erste Diskurs macht deutlich, dass es sich beim Gabegeschehen um einen Kommunikationsprozess handelt, in dem die gegebene Sache zu einem Medium wird, dessen Bedeutung nicht in ihr selbst liegt. Ferner wird die Rolle von Gaben für die Entstehung von Gemeinschaft einerseits und über den Aspekt der Anerkennung für die Entstehung einer durch Beziehung vermittelten Ich-Identität andererseits hervorgehoben. Der zweite Diskurs deckt die Unverfügbarkeit des durch die Gabe teils symbolisierten, teils mitinitiierten Geschehens auf. Der dritte, ethische Diskurs schließlich begreift die Gabe im Zusammenhang einer durch die Fremdeinwirkung des Mitmenschen herbeigeführten Subjektwerdung, macht aber deutlich, dass zum Subjektsein nicht nur das Anerkanntwerden, sondern auch der – in diesem Fall ethisch geprägte – tätige Selbstvollzug gehört, der wiederum im Geben konkret wird. Im Folgenden sollen die wesentlichen Positionen des Gabediskurses noch einmal kurz zusammengefasst und seine Dynamik nachgezeichnet werden, bevor eine eigene Stellungnahme zu den dargestellten Positionen erfolgt: Ausgangspunkt des Gabediskurses bildet der „Essai sur le don“ von Marcel Mauss aus dem Jahr 1923 / 24. In ihm widmet sich Mauss dem festlich inszenierten Austausch von Gaben, wie er in dem ethnologischen Material, das er in seinem Essay auswertet, als für den Pazifikraum und für die indigenen Stämme Nordamerikas typisch dargestellt wird. Mauss macht deutlich, dass der Austausch von Gaben einerseits dem Eingehen und Erhalt von Bündnissen zwischen Stämmen, andererseits der Konstitution des sozialen Gefüges im Inneren eines Stammes dient. Von besonderem Interesse ist für ihn die Frage nach dem Grund des obligatorischen, mit zeitlicher Frist überreichten Gegengeschenks. Die wechselseitige Bindung, auf die der Gabentausch zielt, scheint zum einen durch die Ehrerbietung, die mittels der Gabe zum Ausdruck gebracht wird, und zum anderen durch die Schuld, in die der Geber den Empfänger temporär versetzt, hervorgerufen zu werden. Gestützt auf das Selbstverständnis der Gruppen, denen er sich in seiner Studie zuwendet, macht Mauss darüber hinaus als entscheidendes, Bindung stiftendes Moment geltend, dass der Geber mit der Gabe einen Teil seiner selbst gibt. Durch die Vermischung von Person und Sache bleibe die Verbindung zwischen Geber und Geschenk so lange präsent und bestimme den Empfänger, bis eine Erwiderung erfolgt sei. Es ist die zirkuläre Struktur des von Mauss beschriebenen ‚Gabentausches‘, die zu einer Verhältnisbestimmung und Abgrenzung von Gabe und Tausch nötigt. Während die Autoren, auf deren Feldforschung Mauss zurückgreift, den Gabentausch vielfach als primitive Form des Marktes werten, ihn also als Form des Tausches betrachten, hebt Mauss deutlich hervor, dass der Gabentausch keinen wirtschaftlichen Interessen folgt, und differenziert auf diese Weise zwischen Gabe und Tausch. Gleichwohl wird diese Grenzziehung wieder fließend, wenn er sich am Ende des „Essai sur le don“ vom Gabentausch als einem Ineinander von spontaner Großzügigkeit und Dankesverpflichtung Anregungen für ein mögliches soziales und wirtschaftliches Modell jenseits des Kapitalismus erhofft.

4.1  Zusammenfassung und Bewertung des Gabediskurses

105

Einen entscheidenden Impuls hat der ‚Gabediskurs‘ meines Erachtens durch die Position von Jacques Derrida erfahren,5 der jedes Zirkulieren von Waren, Symbolen, Ehrerbietungen etc. als Tausch wertet und die Auffassung vertritt, dass eine bewusst vom Geber initiierte Gabe eine „unmögliche Möglichkeit“ darstelle, da der Gabecharakter der Gabe im Tausch annulliert werde.6 Bei seiner Argumentation geht Derrida von einem ‚allgemeinen‘ Grundverständnis von Gabe aus, demzufolge dann von Gabe zu sprechen ist, wenn jemand die Intention hat, einem anderen etwas zu geben. In einem weiteren Schritt bestimmt Derrida das Wesen der Gabe im Gegensatz zum Tausch. Anders als der Tausch, bei dem es sich um eine zirkuläre Bewegung handele und bei dem der Gebende auf Gewinn ziele, sei die Gabe irreziprok und damit anökonomisch. Eine Gabe entziehe sich jeder Berechung und sei gerade dadurch ein maßloses Geschehen. Aus dieser Beschreibung von Gabe folgert Derrida, dass es dem Wesen der Gabe inhärent sei, dass sie im Tausch permanent annulliert werde – und zwar auch dann, wenn auf sie nur ein Dank folge oder wenn sie im Empfänger das vage Gefühl einer Verpflichtung zurücklasse. Den Grund hierfür sieht er in der Struktur des Menschen, den er in „Falschgeld. Zeit geben 1“ als ein permanent kalkulierendes Wesen definiert. Auf die Kritik Derridas an der Theorie von Mauss wird in der Literatur zur Gabe auf fünf unterschiedliche Weisen reagiert: 1.) Derridas These, dass ein bewusstes Geben eine Unmöglichkeit darstelle, wird zum Teil dezidiert widersprochen: Soziologen und Philosophen wie Pierre Bourdieu, Alain Caillé, Marcel Hénaff versuchen die These Derridas argumentativ zu entkräften und so den zeremoniellen Gabentausch als eine Form von Gabe zu rehabilitieren. Bourdieus Kritik an Derrida setzt beispielsweise bei dessen Menschenbild an. Zudem weist er drauf hin, dass eine Gesellschaft stets durch eine Vielzahl ‚sozialer Felder‘ mit eigenen ‚Spielregeln‘ geprägt sei, von denen das ökonomische Feld nur eines von vielen darstelle.7 Caillé weist auf das Risiko des Scheiterns hin, das jeder Gabe innewohne.8 Und Hénaff betont, dass es ‚Gaben‘ wie etwa die Vermittlung einer Erkenntnis gebe, die nicht in ihrem Wert taxierbar und somit auch nicht adäquat durch eine Gegengabe erstattbar seien.9 Die Gruppe der Autoren, die den Gabentausch als zentrale Form von Gabe ansehen, entwickeln die These von Mauss in der Regel in unterschiedliche Richtung weiter. Hier sei exemplarisch – wegen ihrer Bedeutung für die aktuelle theologische Rezeption – die Argumentation Marcel Hénaffs hervorgehoben. Hénaff betont, dass der Gabentausch gerade wechselseitig geschehen müsse, wenn man ihn in Anlehnung an Mauss als das Angebot und die Bitte um Anerkennung ver5

  Diese Einschätzung wird auch von Burkhard Liebsch geteilt, vgl. Liebsch, Umsonst, 42.   Zu der von ihm gebrauchten Formel „unmögliche Möglichkeit“ vgl. Kap. A.2.4.1. 7   Bourdieu, Praktische Vernunft. 8   Caillé, Anthropologie. 9   Hénaff, Wahrheit. 6

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4. Auswertung des Forschungsüberblicks

stehe. Die Gegengabe sei gerade keine Erwiderung, die ein Defizit ausgleiche, sondern eine neuerliche Gabe, die einen Kommunikationsprozess abschließe. 2.) Einen anderen Weg, mit der radikalen Kritik Derridas an der Gabevorstellung des „Essai sur le don“ umzugehen, schlagen die Philosophen Bernhard Waldenfels und Paul Ricœur ein.10 Sie sehen im Gabentausch ein Moment der ‚reinen‘, ‚einseitigen‘ Gabe, d. h. ein Moment von Selbstlosigkeit und Exzessivität. Waldenfels erblickt das Moment des Überschusses in der unverrechenbaren Hinwendung zum Anderen, die im Gabeakt geschieht; Ricœur betont, dass die Gegengabe, bei der der Geber nie sicher sein könne, dass sie nicht ausbleibe, beim Geben aus dem Blickfeld gerate, so dass ein Moment von Agape im wechselseitigen Geben aufblitze. 3.) Auch Derrida selbst bleibt bei seiner Reflexion über die Gabe nicht bei dem Aufweis ihres aporetischen Charakters stehen. Er sucht nach einer Form von nichtintendierter Gabe und findet dafür ein Beispiel in den Gabeeffekten, die Texte in ihren Lesern hervorrufen. Die Struktur dieser Gabe, die ich als ‚indirekte Gabe‘ bezeichnet habe, ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Entzug und Gabe. Eine dem Zugriff eines Anderen entzogene Größe – im Fall von Derridas Beispiel die Aussageintention des Autors – löst in diesem Anderen bestimmte Effekte aus. Dass diese Effekte nicht nur zufällige sein müssen, wie im Falle von Derridas Gabeeffekten von Texten, zeigt, dass sich genau die gleiche Struktur von Entzug und Gabe in der ethischen Argumentation von Emmanuel Lévinas findet, dessen ethischer Entwurf den ‚Gabediskurs‘ an verschiedenen Stellen beeinflusst hat. Bei Lévinas ist die entzogene Größe der andere Mensch und der sich in der Konfrontation mit dieser Entzogenheit einstellende Effekt die Verantwortlichkeit des Ichs für den Anderen. 4.) Der vierte im Gabediskurs beschrittene Weg, mit der von Derrida formulierten Aporie umzugehen, ist es, den Vergleich mit dem Tausch als adäquaten Verstehenshorizont für die Gabe abzuweisen, wie Jean-Luc Marion dies tut. Es ist zu beobachten, dass im gesamten Diskurs auch die Frage diskutiert wird, aus welcher Perspektive das Phänomen ‚Gabe‘ adäquat zu bestimmen ist, aus einer quasi neutralen Beobachterperspektive oder aus einer Perspektive, die die Wahrnehmung der Beteiligten auf- und ernstnimmt. Marion plädiert dafür, bei der Beantwortung der Frage nach dem Wesen der Gabe das als Ausgangspunkt zu nehmen, was sich dem Bewusstsein als Gabe darstellt, also phänomenologisch zu arbeiten. Eine Gabe liegt dementsprechend nach Marion dann vor, wenn sich etwas einem Geber als gebbar bzw. einem Empfänger als empfangbar erschließt. Dabei ist zu unterstreichen, dass Gebbarkeit und Empfangbarkeit für Marion keine Eigenschaften von Dingen sind, sondern eine Perspektive auf die Dinge, die sich dem Betrachter durch diese angestoßen eröffnet.

10

  Waldenfels, Un-ding. Ricœur, WdA.

4.1  Zusammenfassung und Bewertung des Gabediskurses

107

5.)  Ingolf U. Dalferth hat Marions phänomenologischen Ausgangspunkt einerseits aufgegriffen, ihn aber andererseits entscheidend modifiziert, indem er hervorgehoben hat, dass es sich bei Gaben nicht nur um Phänomene, sondern um „hermeneutische Phänomene“ handelt.11 Damit ist gemeint, dass durch diese Phänomene ein Deutungs- und Selbstdeutungsprozess beim Empfänger initiiert wird. Dabei wird die Stoßrichtung der Deutung bzw. Selbstdeutung durch die empfangene Gabe vorgegeben: Die Gabe wird als eine Eröffnung von Möglichkeiten verstanden; das aus der Gabe resultierende Selbstverständnis des Empfängers ist das eines um eine Möglichkeit Bereicherten. Aus der Kopplung einer phänomenologischen Herangehensweise mit einer hermeneutischen folgt für Dalferth, dass die Gabe methodisch nicht primär mittels der phänomenologischen Reduktion, sondern mittels der hermeneutischen Interpretation zu beleuchten sei, d. h. dass sie nicht isoliert betrachtet werden könne, sondern nur eingebettet in ihre sozialen, kulturellen und dem geschichtlichen Wandel unterlegenen Kontexte. Dalferth lehnt also wie Marion den Vergleich zum Tausch als Interpretationsfolie für die Gabe ab, macht aber nicht die Wahrnehmung des einzelnen Bewusstseins zum Maßstab der Interpretation, sondern verortet die Gabe im Horizont der sozialen Interaktions- und Kommunikationsprozesse. Für mich ist Dalferths Verbindung von einer phänomenologischen und einer hermeneutischen Herangehensweise an das ‚Phänomen der Gabe‘ insofern überzeugend, als ich der Ansicht bin, dass über die Momente des Gebens, Empfangens und der damit verbundenen Kommunikation nicht losgelöst von der Deutung der Akteure nachgedacht werden kann;12 und dies gilt umso mehr, wenn der Begriff der Gabe im religiösen Bereich zur Anwendung kommt. Dalferths Vorschlag, dann von Gaben zu sprechen, wenn sich dem Empfänger durch das Empfangen neue Möglichkeiten eröffnen, berücksichtigt einerseits die subjektive Wahrnehmung der Akteure, andererseits wird durch die Verbindung der Phänomenologie mit der Hermeneutik deutlich, dass das menschliche Bewusstsein selbst zutiefst bestimmt wird durch seine sozial vermittelten, kulturellen Prägungen. Dalferth zeichnet die Gabe genau in diesen Prozess der sozial angestoßenen Selbstdeutung ein. Allerdings muss man sich auch der normativen Setzungen der Dalferthschen These bewusst sein. Definiert man eine Gabe als das, was den Empfänger zum 11

  Auch Burkhard Liebsch plädiert in ähnlicher Weise wie Dalferth dafür, dass Gegebenes nur dann zu Gaben werden, wenn sie sich für den Empfänger als solche bewahrheiten, vgl. Liebsch, Umsonst, 32, 41, 47. Allerdings geht Dalferth meines Erachtens insofern über Liebsch hinaus, als er mit der Charakterisierung der Gabe als Eröffnung von Möglichkeiten ein Kriterium einführt, inwiefern sich die Gabe für den Empfänger als Gabe bewahrheiten kann. 12   Es stellt sich ohnehin die Frage, ob die ‚neutrale Beobachterperspektive‘ nicht eine Fiktion darstellt. Möglicherweise ist gerade der Vergleich zwischen Gabe und Tausch einer typisch westlichen Fragestellung geschuldet. Denn man muss sich vor Augen halten, dass sich Marcel Mauss auch als Forscher nicht gänzlich von dem Unbehagen freimachen konnte, das er als kritischer und politisch aktiver Zeitgenosse gegen den von ihm als zügellos empfundenen Kapitalismus empfand, und in modifizierter Form lässt sich dies auch von späteren Forschern wie Alain Caillé sagen.

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4. Auswertung des Forschungsüberblicks

Empfänger macht und ihm neue Optionen eröffnet, so löst man die Gabe einerseits aus der Ambivalenz, die ihr im Entwurf von Mauss, aber auch bei Derrida zugesprochen wird und die das Wortspiel mit dem deutschen und dem englischen Wort ‚Gift‘ prägnant zum Ausdruck bringt. Gabe wird dann zu einem rein positiv besetzten Begriff, und dies bedeutet, dass nicht alles, was gegeben wird, den Charakter einer Gabe hat, auch nicht jedes Geschenk.

4.2  Der integrative Charakter von Dalferths Gabemodell Der Beitrag von Ingolf Dalferth trägt meines Erachtens nicht nur maßgeblich dazu bei, die den gesamten Gabediskurs bestimmende Antithese von ‚reiner‘ Gabe und ‚wechselseitiger‘ Gabe hinter sich zu lassen, sondern es gelingt ihm, die wesentlichen Aspekte der drei Diskurse aufzunehmen. 1. Wie die Autoren des ersten Diskurses verortet Dalferth die Gabe im Bereich der zwischenmenschlichen Interaktion und versteht sie als Modus der Kommunikation, beschränkt die Möglichkeiten von Gaben jedoch nicht auf den wechselseitigen Gabentausch, dessen Funktion Mauss und die ihn interpretierenden Soziologen und Philosophen zutreffend herausgearbeitet haben. Vielmehr ermöglicht es sein vom Empfänger her entwickeltes Gabeverständnis, sowohl eine im wechselseitigen Gabentausch erhaltene Gabe als auch Begabungen, Vorgaben im Sinne von sozialen Übertragungen und schließlich Gaben bei denen – aus welchem Grund auch immer – die Erwiderung für den Empfänger unmöglich ist, als Gaben zu begreifen. 2.  Sowohl der von der Auseinandersetzung um den Gabentausch geprägte erste Diskurs als auch der dritte ethische Diskurs beleuchten die Bedeutung der Gaben für die Selbstwerdung des Subjekts. Im ersten Diskurs steht dabei der Begriff der Anerkennung im Zentrum. Gaben sind dementsprechend eine ganz bestimmte Form des bestätigenden Feedbacks an einen Menschen und das Feedback, das ein Mensch erfährt, ist eine der Quellen, aus denen sich sein Selbstbild speist. Bei Lévinas ist die Gabe, die paradoxer Weise im Anspruch des Anderen an das Ich besteht, demgegenüber deshalb subjektkonstituierend, weil das Ich durch den Anspruch des Anderen in die Verantwortung gerufen wird. Diese Verantwortung kann das Ich nicht abweisen, es hat aber die Möglichkeit, sie auf verschiedene Weise auszufüllen, d. h. in der Reaktion zu agieren. Bei Lévinas besteht die Pointe darin, dass der dem Ich durch den Anderen nahegelegte aktive Selbstvollzug ethischen Charakter hat und Lévinas davon ausgeht, dass der Mensch erst dann wirklich Subjekt ist, wenn er ein ethisches Subjekt wird. Dalferth plädiert für die gleiche Grundfigur wie Lévinas, verallgemeinert sie jedoch. So ergibt sich bei ihm eine breite Variantenvielfalt in Bezug darauf, was als Gabe und die aus ihr resultierenden Möglichkeiten denkbar ist. Schließlich bringt Dalferth noch einen dritten Aspekt in den Zusammenhang von Gabe und Selbst ein. Es ist der Aspekt, dass

4.2  Der integrative Charakter von Dalferths Gabemodell

109

die Gabe ihrem Empfänger ein ganz bestimmtes Selbstverständnis ermöglicht, indem sie es ihm erlaubt, sich als ‚Empfänger‘ zu verstehen, also sich selbst als auf das ‚Zuspiel‘ Anderer angewiesen zu begreifen. Meines Erachtens stellen die drei dargestellten Aspekte des Zusammenhangs von Gabe und Selbst wechselseitige Ergänzungen dar. 3. Die für den ersten Diskurs charakteristische Betonung der Bedeutung der Gabe für die Gemeinschaftsbildung fehlt bei Dalferth völlig. Sie lässt sich jedoch insofern in sein Konzept einzeichnen, als man Gemeinschaft als eine der Möglichkeiten verstehen kann, die von einer empfangenen Gaben eröffnet wird und die in einer bestimmten Reaktion auf die Gabe (beispielsweise durch das Geben einer Gegengabe) realisiert wird. 4. Dem von Derrida, Marion und Heidegger hervorgehobenen Zusammenhang von Gabe und Entzug wird bei Dalferth dadurch Rechnung getragen, dass zum einen darauf verwiesen wird, dass sich im Geben ein Geschehen vollzieht, dessen Kommunikation durch das Gegebene selbst immer nur symbolisch getragen wird. Zum anderen betont Dalferth, ähnlich wie Derrida, die Unmöglichkeit eines intentionalen, souveränen Gebens von Gaben. Man könne zwar, so Dalferth, etwas geben, zum Geber einer Gabe werde man jedoch erst durch den Empfänger gemacht. Indem Dalferth die unverfügbaren Momente des Gabegeschehens hervorhebt, macht er sein eigenes Gabemodell anschlussfähig für eine Interpretation der Gabe als Ereignis, auch wenn er diesen Weg nicht selbst beschreitet. Zusammenfassend lässt sich sagen: Gaben sind nach dem hermeneutischen Verständnis Dalferths insofern ein grundlegendes Interaktionsgeschehen, als sie der Ort sind, an dem sich das unverfügbare ‚Zuspiel‘ von Lebensmöglichkeiten durch Andere, die für die Subjektwerdung des Ichs unverzichtbar sind, ereignet. Durch dieses ‚Zuspiel‘ erhält das Ich zugleich ein anerkennendes Feedback von seinem gebenden Gegenüber. Dalferth spricht davon, dass Gaben die positiven Beziehungen, in denen Menschen zu anderen stehen, hervortreten lassen und ihnen so die Möglichkeit geben, zu dem zu werden, was sie für andere Menschen sind. Schließlich wird ein Empfangender durch die Gabe in die Möglichkeit versetzt, sich selbst in Beziehung zur erhaltenen Gabe zu setzen und dies zu reflektieren. Dalferth macht deutlich, dass diese Reflexion über die Reflexion des eigenen Ichs in der gegebenen Situation hinausgehen und zu einer grundsätzlichen Einsicht in das Wesen der menschlichen Struktur werden kann. Gaben erschließen ihm zufolge, „was man die Dativ-Struktur menschlicher Existenz nennen könnte: Uns wird gegeben, und wir sind die, denen (etwas) gegeben wird.“13 Der Mensch kann sein gesamtes Dasein als ermöglicht begreifen. Dalferth plädiert bei seinen Ausführungen zur Gabe dafür, die Einsicht in das Wesen des Menschen als ermöglicht und als auf das ‚Zuspiel‘ Anderer angewiesen nicht als Mangel aufzu-

13

  Dalferth, Umsonst, 113.

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4. Auswertung des Forschungsüberblicks

fassen, sondern das Augenmerk auf die relative Freiheit zu legen, die durch das vorgängige Empfangen ermöglicht wird. Zudem legt er Wert darauf, dass durch das Empfangen nicht nur Bedürftigkeit ausgeglichen wird, sondern dass es viele Gabesituationen gibt, in denen den Empfangenden ein Surplus jenseits jeglichen Bedürfens zukommt.

B.  Die Rezeption des soziologisch-philosophischen Gabediskurses in der Abendmahlstheologie

1. Vorbemerkungen Die Erwartung, dass sich die theologische Rezeption des soziologisch-philosophischen Gabediskurses in Bezug auf das Abendmahl einheitlich gestaltet und sich zwei Interpretationslinien abzeichnen, die damit korrespondieren, ob ein Theologe bzw. eine Theologin auf die Theorien zur wechselseitigen oder zur einseitigen Gabe zurückgreift, erwies sich in der Durchsicht der im Folgenden dargestellten theologischen Positionen als falsch. Dies liegt zum einen daran, dass einige der Theologinnen und Theologen Aspekte aus beiden Theorien aufgreifen oder sich selektiv von Einzelaspekten der jeweiligen Theorien inspirieren lassen. Es liegt vor allen Dingen jedoch daran, dass unterschiedliche theologische Fragestellungen anhand der Gabetheorien erörtert werden. Vier solcher Fragestellungen lassen sich nach der Sichtung der gabetheoretischen Abendmahlsansätze feststellen: die Frage nach dem Verhältnis von katabatischen und anabatischen Gabebewegungen in der Feier des Abendmahls; nach den Veränderungen, die die Gabe in den Feiernden auslöst; nach dem Verhältnis von Präsenz und Entzogenheit der Gabe bzw. des Gebers; und schließlich nach dem Verhältnis von Wort und Element im Abendmahl. Am ehesten als eine einheitliche Gruppe lassen sich die Arbeiten von LouisMarie Chauvet (2.1.1), Veronika Hoffmann (2.1.2) und Andrea Bieler / Luise Schott­ roff (2.2.1) auffassen: Sie alle rezipieren Theorien zur wechselseitigen Gabe und grenzen das Abendmahl dadurch vom Bereich der Ökonomie ab. Gemeinsam ist ihnen ferner, dass sie einer – dem vorrangigen Geben Gottes nachgeordneten – anabatischen Gabe der Menschen einen theologischen Sinn zusprechen und schließlich, dass sie ihr Augenmerk auf die Veränderung richten, die das Abendmahl im Gläubigen bewirkt. Auch David N. Power (3.1.1) versucht, die in der katholischen Liturgie vorgegebene anabatische Gabebewegung der Menschen theologisch positiv zu besetzen, tut dies jedoch mit einem Erklärungsmodell, das von einer ‚reinen‘ Gabe im Rahmen der ‚wechselseitigen Gabe‘ ausgeht. Dem entspricht, dass er auch ansonsten den philosophischen Theorien zur ‚reinen‘ Gabe folgt, vor allem denen Jean-Luc Marions. Einen weiteren Schwerpunkt legt Power auf die Frage nach dem Verhältnis von Gabe und Entzogenheit, einer Fragestellung, die er mit dem ihn inspirierenden Jean-Luc Marion (3.1.2) teilt. Dieser versucht in seinen theologischen Überlegungen, der bleibenden Entzogenheit Gottes vor jeglichem menschlichen Zugriff angesichts der göttlichen Selbshingabe im Abendmahl dadurch Rechnung

114

1. Vorbemerkungen

zu tragen, dass er den Begriff der ‚Präsenz‘ im Sinne Heideggers umdeutet. Auch der Abendmahlsentwurf Philipp Stoellgers (3.2.1) befasst sich mit dem Verhältnis von Gabe und Entzogenheit, greift dafür aber primär auf die Arbeiten von Jacques Derrida und Bernhard Waldenfels zurück. Daneben setzt er einen weiteren Schwerpunkt bei der Frage nach dem Verhältnis von Wort und Element, das er als das Verhältnis von Sagen und Zeigen präzisiert. Mit diesem Schwerpunkt nimmt Stoellger den Diskurs um den eigenwilligen Abendmahlsentwurf von Günther Bader (2.2.2) auf. Dieser wiederum legt nicht die philosophischen Gabeentwürfe, sondern den Entwurf von Marcel Mauss zugrunde, legt den Fokus aber anders als die zuerst genannten Autoren (Chauvet, Hoffmann, Bieler / Schottroff) nicht auf das beziehungsstiftende Moment des Gabentausches, sondern auf Mauss’ Überlegungen zum hau, auf die Belebung einer Sache durch die Tatsache, dass sie gegeben wird. Der Einfachheit halber sollen die Beiträge der genannten Autoren in der folgenden Darstellung der Abendmahlsentwürfe trotz ihrer z. T. unterschiedlichen theologischen Schwerpunkte nach dem Gesichtspunkt geordnet werden, ob sie sich an den Theorien zur ‚wechselseitigen‘ oder zur ‚reinen‘ Gabe orientieren. Ein weiterer Gliederungsaspekt soll die Zugehörigkeit der Autoren zur römisch-katholischen bzw. protestantischen Konfession sein, weil die unterschiedliche liturgische Tradition und die theologischen Differenzen zwischen den Konfessionen in Bezug auf das Abendmahl die Ansätze der Autoren mitbestimmen.1 In einer abschließenden 1   Auf protestantischer Seite blieb die Arbeit von Hans-Martin Gutmann „Symbole zwischen Macht und Spiel“ unberücksichtigt, da Gutmann die Gabe- und die Opfertheorie von Mauss nicht dazu verwendet, um eine eigene Abendmahlstheorie zu entwickeln, sondern als Analyseinstrument für die von Karl Bernhard Ritter im Zusammenhang der Berneuchener Bewegung ausgearbeitete Evangelische Messe, vgl. Gutmann, Hans-Martin, Symbole zwischen Macht und Spiel. Religionspädagogische und liturgische Untersuchungen zum ‚Opfer‘ (= ARP 2), Göttingen 1996. Auf katholischer Seite wurde der Aufsatz von Josef Wohlmuth „‚. . . mein Leib, der für euch gegebene‘ (Lk 22,19): Eucharistie – Gabe des Todes Jesu jenseits der Ökonomie“ nicht berücksichtigt, vgl. Wohlmuth, Josef, ‚. . . mein Leib, der für euch gegebene‘ (Lk 22,19): Eucharistie – Gabe des Todes Jesu jenseits der Ökonomie, in: Hoffmann, Veronika (Hg.), Die Gabe als „Urwort“ der Theologie?, Frankfurt / M. 2009, 55 – 72. Josef Wohlmuth hat sich sehr darum verdient gemacht, Jean-Luc Marion bei der deutschen theologischen Fachwelt bekannt zu machen. Und schon in seinem Aufsatz „Impulse für eine künftige Theologie der Gabe bei Jean-Luc Marion“ hat er darauf verwiesen, dass die Philosophie Marions auch gewinnbringend für die Abendmahlstheologie sei, vgl. Wohlmuth, Josef, Impulse für eine künftige Theologie der Gabe bei Jean-Luc Marion, in: Gabel / Joas, Ursprünglichkeit, 252 – 272. In seinem Aufsatz „‚. . . mein Leib, der für euch gegebene‘ (Lk 22,19): Eucharistie – Gabe des Todes Jesu jenseits der Ökonomie“ umreißt Wohlmuth nun zunächst skizzenhaft die Positionen zur Gabe von Derrida, Lévinas und Marion, um dann in drei Thesen Übertragungen im Hinblick auf die Abendmahlstheologie zu leisten. Er greift dabei eine Fülle von Aspekten auf, etwa Derridas Gedanken zur ‚Gabe von Zeit‘ oder Marions Überlegungen zur ‚Veränderung des adonné‘. Allerdings bleiben seine Ausführungen zu sehr im thesenhaften Gestus befangen, um bei der folgenden Darstellung als eigener Entwurf aufgenommen zu werden. Das lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen: Wohlmuth bezieht Derridas These aus „Donner la mort“, dass die Hingabe in den Tod eine Gabe sei, die den Kreislauf der Ökonomie unterbreche, auf Christus. Während Derrida jedoch in seiner Interpretation von Gen 22 hervorhebt, dass die Gabe Abrahams durch die

1. Vorbemerkungen

115

Betrachtung möchte ich mich dann nochmals den vier oben genannten theologischen Fragestellungen zuwenden und darstellen, inwiefern sich die von den Autoren angebotenen Lösungen voneinander unterscheiden.

Intervention Gottes, der statt Isaak einen Widder als Opfer annimmt, wieder in den Kreislauf der Ökonomie zurückgeführt wird und damit gerade ein Beispiel dafür bilde, dass sich die reine Gabe immer wieder der Ökonomie einschreibe und dabei zugleich annulliert werde, sieht Wohlmuth in der ‚Erhöhung des Gekreuzigten‘ keine Reökonomisierung der Lebenshingabe Jesu, sondern eine Umwandlung der Gabe an Gott in eine Gabe an die Menschheit. Mit welchen Gründen Wohlmuth im Hinblick auf die Lebenshingabe Christi die Interpretationslinie Derridas von Gen 22 verlässt, wird nicht deutlich. Der Theologe legt weder dar, inwiefern sich die Situation zwischen Jesu Kreuzestod und seiner Erhöhung einerseits und Abrahams Opfer andererseits so fundamental unterscheidet, dass hier anders zu urteilen ist als von Derrida in Bezug auf Gen 22 geschehen. Noch zeigt er auf, dass dem französischen Philosophen auch schon im Hinblick auf die Abrahamsgeschichte zu widersprechen sei. Eine solch detaillierte Argumentation ist im Rahmen eines Vortrages, der verschiedene Anknüpfungspunkte der Abendmahlstheologie an die moderne französische Philosophie aufzeigt, nicht zu leisten. Sie wäre allerdings unabdingbar, wollte man Wohlmuths Thesen wie einen vollendeten Abendmahlsentwurf behandeln, mit dessen Argumentationslinien es sich im Detail auseinanderzusetzen gilt.

2.  Die Rezeption der Theorien zur wechselseitigen Gabe 2.1  Katholische Positionen 2.1.1  Louis-Marie Chauvet: Der liturgische Gabentausch als Form, Gottes Gabe als Gabe zu wahren Louis-Marie Chauvet legt den Akzent in seinen Ausführungen zur Sakramentenlehre „The sacraments. The word of God at the Mercy of the Body“ auf die Bedeutung und Funktion von Sprache.1 Das Thema Gabentausch kommt bei ihm jedoch insofern in den Blick, als er ihn in Analogie zur symbolischen Funktion von Sprache versteht. Chauvet differenziert zwischen Zeichen und Symbol. Während das Zeichen immer auf eine Größe außerhalb seiner selbst verweise und auf dem Unterschied zwischen Zeichen und Bezeichnetem beruhe, führe das Symbol in eine Ordnung ein, die über es hinausreiche, wobei es jedoch dessen Bestandteil sei. In ähnlicher Weise wie dem Zeichen immer ein Bezeichnetes als externe Größe zugeordnet sei, so werde jedem Tauschobjekt bei ökonomischen Tauschvorgängen ein bestimmter Wert zugeschrieben. Anders verhalte es sich beim symbolischen Gabentausch. Hier gehe es nicht um den Wert des Getauschten, sondern die Weitergabe von Geschenken diene der Einführung eines Menschen in bestimmte soziale Systeme. Chauvet bezieht sich dabei auf die Gabetheorie von Marcel Mauss und unternimmt eine Übertragung seiner Ausführungen auf die katholische Sakramentenlehre. Anhand einer narrativen Analyse des zweiten Eucharistiegebetes der römischen Messliturgie,2 zeigt er auf, wie sich die Elemente des Gabentausches Gabe – Empfang – Gegengabe im Vollzug des Sakraments zwischen Gott und Menschen seines Erachtens ereignen. Bei Mauss hebt Chauvet besonders drei Aspekte hervor. Im Gegensatz zum ökonomischen Tausch sei es für den symbolischen Gabentausch erstens charakteristisch, dass in ihm nicht mit dem materiellen Wert eines Geschenks kalkuliert 1   Chauvet, Louis-Marie, The Sacraments. The Word of God at the Mercy of the Body, Collegeville / MN 2001. 2   In deutscher Sprache findet sich das zweite Eucharistische Hochgebet in: Messbuch. Für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Authentische Ausgabe für den liturgischen Gebrauch, hg. im Auftrag der Bischofskonferenz Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sowie der Bischöfe von Luxemburg, Bozen-Brixen und Lüttich, Freiburg / Br. 1978, 478 – 489.

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2.  Die Rezeption der Theorien zur wechselseitigen Gabe

werde, dass also nicht im Hinblick auf einen möglichen eigenen Nutzen gegeben und dieser Nutzen berechnet werde. Im Gegenteil sei ein großzügiges Verhalten beim Gabentausch gerade obligatorisch, da er sonst sein Ziel verfehle und es zu einem Gesichtsverlust für den Geber oder gar zu seinem gesellschaftlichen Aus führen könne. Zweitens beruhe der symbolische Gabentausch anders als der ökonomische Tausch nicht auf einer binären, sondern auf einer tertiären Struktur. Für den Gabentausch sei das Moment des Empfangens entscheidend, d. h. das Moment des Erkennens einer Gabe als Gabe. Die Gegengabe stelle insofern das Herzstück des Empfangens dar, als mit ihr dieses Erkennen dokumentiert werde. Und schließlich betont Chauvet, dass es dem Ziel des Gabentauschs, soziale Bindungen herbeizuführen und am Leben zu erhalten, entspreche, dass der Geber sich in seiner Gabe jeweils ein Stück weit selbst gebe. Bei Symbolik und damit auch beim symbolischen Gabentausch gehe es um das, was den Menschen unmittelbar in seiner Identität berühre. Mit Gabe und Gegengabe versicherten sich die Schenkenden, dass sie sich in ihrer Subjektivität als ähnlich und gleichwertig erkennen und doch die Andersartigkeit des Anderen respektieren. Chauvet findet Mauss’ Gabetheorie aus verschiedenen Gründen für die Theologie interessant und gewinnbringend: Zum einen sieht er in der Theorie des Gabentausches eine große Nähe zur christlichen Vorstellung von Gnade, weil in beiden Bereichen von einer Kalkulation eines möglichen Wertes abgesehen werde. Ferner interessiert ihn die ‚Sprachähnlichkeit‘ des Gabentausches, der ein eröffnender Prozess sei. Im Prozess des Gabentausches könne der Mensch lernen, sich selbst von Anderen zu empfangen und sich dabei als Subjekt erleben. Bei seiner Übertragung der Theorie von Mauss auf die Eucharistie ist es Chauvet zum einen wichtig, die freie Initiative der göttlichen Gabe zu betonen, zum anderen die Notwendigkeit hervorzuheben, dass aus der Rezeption der Gabe als Gabe durch den Menschen notwendig Glaube, Hoffnung und Liebe als Gegengabe folgen müssten. Göttliche Gnade und menschliche Freiheit schlössen sich gerade nicht aus. Es sei angebracht, zwischen großzügigen und gnädigen Geschenken zu unterscheiden. Großzügige Geschenke könnten dem Beschenkten durchaus die Möglichkeit zur Erwiderung nehmen, damit degradierten sie ihn aber zu einem Objekt: „To overwhelm someone with gifts so gratuitous that one takes away from the other even the possibility of giving in return is to treat that person as an object because, by denying her or him the possibility of being a subject of duty, one deprives her or him the dignity of subject [. . .].“3 Dies sei bei gnädigen Gaben nicht der Fall. In seiner narrativen Analyse des zweiten Eucharistiegebetes der römischen Messe stellt Chauvet zunächst heraus, dass es das performative Programm des Gebetes sei, Gott zu danken. Das Gebet fordere die Gläubigen zu Beginn zu die-

3

  Chauvet, The Sacraments, 125.

2.1  Katholische Positionen

119

sem Dank auf und vollziehe ihn schließlich in der Abschlussdoxologie. Da der Dank an Gott jedoch alles andere als ein einfaches, kreatürliches Verhalten des Menschen sei, stünden zwischen Beginn und Schluss drei Teile, in denen es darum gehe, wie der Mensch dazu befähigt werde, Gott zu danken. Nach dem Aufruf zum Dank folge zunächst eine Zusammenfassung der Heilsgeschichte, die auf die Erzählung von Jesu letztem Abendmahl zulaufe. In einer zweiten Sequenz, in deren Zentrum die Einsetzungsworte Jesu und die Austeilung von Brot und Wein stehen, gehe es darum, wie das als historisch erzählte Heil von den Gläubigen als gegenwärtig, als für sie gegebenes Geschenk begriffen werden könne. Dabei komme den Einsetzungsworten insofern eine zentrale Bedeutung zu, als hier nicht nur Christus direkt zitiert und damit auf seine Autorität Bezug genommen werde, sondern Christus in seinen Worten wiederum die Gemeinde herbeizitiere. Daran werde deutlich, dass es unmöglich sei, von Christus als dem Herrn zu erzählen, ohne sich selbst automatisch dem Anspruch dieses Herrn auszusetzen. In einer dritten Sequenz, die u. a. die Epiklese und ein eschatologisches Gebet umfasst, stehe schließlich die Bitte im Zentrum, dass die Teilnehmer des Abendmahls durch die heilvolle Gabe Gottes verwandelt werden. Chauvet charakterisiert die drei Teile so, dass es im ersten Teil um den historischen und erhöhten Leib Christi gehe, im zweiten Teil um seinen eucharistischen und im dritten Teil um seinen ekklesiologischen Leib, in den die Gemeinde verwandelt werden solle. Und er schreibt den drei Teilen jeweils die Funktion der Gabe, des Empfangs und der Gegengabe zu. Interessant ist ein Blick auf die zweite Sequenz, die Chauvet dem Empfangen zuordnet, weil in der römischen Liturgie an dieser Stelle von einer Darbringung des Opfers Christi durch die Kirche die Rede ist und dies eine anabatische Bewegung anzeigt. Chauvet betont, dass die gesamte zweite Sequenz der Rezeption der göttlichen Gabe gelte, aber ein Moment des Offerierens, der Gabe an Gott, enthalten müsse, da ein Empfangen im Sinne eines schlichten Entgegennehmens die göttliche Gabe in ein Wertobjekt verwandelt würde, über das man verfügen und das man einfach in Besitz nehmen könne. Eine solche Vorstellung sei jedoch der göttlichen Gabe gegenüber inadäquat, sie verkenne die Gabe als unverfügbare Gabe: „We find ourselves in a singularly paradoxical situation: whereas the whole sequence [. . .] is concerned with the present reception, by the church, of Christ under the sacramental mode, here the church, instead of appropriating the gift as a value object, opens its hands since it offers it. This paradox brings us back to Christian identity. Because, as was forcefully emphasized above, the gratuitous and gracious gift of God is not in order of value-objects, the church can appropriate it only by letting go off it, take it only by giving it back, giving it back with thanksgiving or, better still, giving back to God the very Grace of God, that is, Christ Jesus who continues to give himself up to the church in sacrament.“4 4

  Chauvet, The Sacraments, 135.

120

2.  Die Rezeption der Theorien zur wechselseitigen Gabe

Chauvet betont, dass es sich bei der Darbringung Christi durch die Kirche während der zweiten Sequenz nicht um die auf eine Gabe folgende Gegengabe handele. Sie stehe jedoch insofern in einer Beziehung zu ihr, als die liturgische Gabe der Kirche eine Symbolisierung darstelle, die auf die eigentliche Gegengabe verweise. Diese stelle die existentielle Hingabe der Gläubigen an Gott dar, die sich in einem bestimmten ethischen Verhalten äußere. So sei es klar, dass die Eucharistie letztlich auf die Einheit der Christen und ein barmherziges Verhalten der Christen untereinander ziele. Christen sollten zu dem werden, was sie empfangen haben. Die Darbringung Christi durch die Kirche symbolisiere diese existenzielle Hingabe insofern, als es aufgrund der Einheit zwischen Christus und den Gläubigen unmöglich sei, Christus darzubringen, ohne mit ihm die Kirche bzw. die Gläubigen Gott darzubringen. „The church cannot offer Christ in sacrament without being itself offered through and in him.“5 Stellungnahme Es ist offensichtlich, dass Chauvet gegenüber der römischen-katholischen Liturgie und dem in ihr zum Ausdruck kommenden theologischen Gehalt eine zugleich affirmierende und explizierende Position einnimmt. Kritische Anfragen gegenüber einzelnen liturgischen Teilstücken formuliert er hingegen nicht. Aus protestantischer Perspektive ist vor allem würdigend hervorzuheben, dass er durchgängig die Verwandlung der Gläubigen als Zielpunkt des Abendmahlsgeschehens herausstellt. Seine Erklärung, dass die anabatische Passage der mittleren Sequenz des Eucharistiegebets dazu diene, zu verhindern, dass die Kirche die Gabe Gottes in Christus wie ein ihr zugeeignetes und damit zu ihrer Verfügung stehendes Objekt behandele, wirft jedoch Fragen auf. Zunächst ist festzuhalten, dass sich Chauvet für seine Argumentation in hohem Maße die Frontstellung von Gabe und Ökonomie zu Nutze macht, die u. a. die Arbeit von Marcel Mauss prägt. Bereits Mauss hatte darauf hingewiesen, dass Ökonomie und Gabentausch nicht miteinander zu verwechseln sind, weil sie unterschiedliche Intentionen verfolgen. Marcel Hénaff, dessen Veröffentlichung von „Der Preis der Wahrheit“ allerdings erst nach der Veröffentlichung von Chauvets Abendmahlsentwurf erfolgte,6 rückt Gabentausch und Ökonomie noch weiter auseinander, indem er deutlich macht, dass dem Sachgegenstand nur eine untergeordnete Rolle, nämlich die Rolle des Kommunikationsmediums zukommt. Ist vor diesem Hintergrund wirklich von einem ökonomischen Missverstehen der göttlichen Gabe durch die Kirche auszugehen? Und wenn ja, wie sieht die Instrumentalisierung der Gabe durch die Kirche konkret aus? Und lassen sich konkreten Instrumentalisierungen der göttlichen Gabe, wie etwa dem Ausschluss von Menschen vom Abendmahl aus Gründen der Kirchenzucht, wirklich durch eine liturgische Geste des Wieder-aus-der5

  Chauvet, The Sacraments, 137.   Hénaff, PdW.

6

2.1  Katholische Positionen

121

Hand-Gebens wirksam begegnen? Diese Fragen machen deutlich, dass Chauvet in seinen Ausführungen stellenweise die nötige Konkretion vermissen lässt. 2.1.2 Veronika Hoffmann: Eucharistie als ein mehrdimensionales Gabegeschehen In ihrem Buch „Skizzen zu einer Theologie der Gabe“ greift Veronika Hoffmann auf das Gabeverständnis von Marcel Hénaff und Paul Ricœur zurück,7 um mit ihrer Deutung der wechselseitigen Gabe als ‚Gabe der Anerkennung‘ verschiedene Themen der Theologie wie die Rechtfertigung, das Opfer, die Eucharistie und die Nächstenliebe neu zu beleuchten. Dabei bereiten die Kapitel zur Rechtfertigung und zum Opfer die Argumentationslinien des Abendmahlskapitels vor und sollen deshalb ebenfalls kurz umrissen werden. In ihren Ausführungen zur Rechtfertigung beschreibt Veronika Hoffmann Sünde als eine „Ökonomisierung von Verhältnissen [. . .], die eigentlich nicht ökonomisch sind“.8 Mit dem Stichwort der „Ökonomisierung“ möchte sie verdeutlichen, dass der Mensch sein Gottesverhältnis ebenso wie sein Verhältnis zum Nächsten immer wieder einem Kosten-Nutzen-Kalkül unterzieht, dass er es ‚verzweckt‘. Diese Verzweckung diene der Selbstverwirklichung des Menschen, der bestrebt sei, seine Existenz aus eigener Kraft abzusichern. Durch eine solche Verzweckung von Beziehungen werde jedoch gerade ihr Selbstwert verkannt, und diese Verkennung ist Hoffmann zufolge Sünde. Die Sünde führe nicht zu einer Ablehnung Gottes, sondern zu einem ‚falschen‘, weil kalkuliertem Ja zu Gott. Eine solche durch die Sünde geprägte Gottesbeziehung zeichne sich vor allem durch die Unfähigkeit des Menschen aus, zu empfangen und sich selbst als Empfangenden zu begreifen. Hoffmann beschreibt die Rechtfertigung des Menschen vor diesem Hintergrund als einen göttlichen Akt der Anerkennung, wobei sie im Rückgriff auf Thomas Bedorf betont, dass Anerkennung nicht nur als ein feststellender, sondern auch als ein identitätsstiftender Akt verstanden werden müsse.9 Insofern impliziere bei Bedorf Anerkennung immer auch ein Moment der Verkennung: Dem Anerkannten werde mehr zugesprochen, als es in diesem Moment seinem Sein faktisch entspreche. Hoffmann greift nun nicht, wie üblich, auf die der Rechtsprechung entlehnte Metaphorik zurück, um den Akt der Anerkennung zu beschreiben, sondern auf die Metaphorik der Gabe. Die der Rechtsprechung entlehnte Metaphorik habe nämlich gegenüber der Metaphorik der Gabe den entscheidenden Nachteil, dass sie – ganz ähnlich wie die Sprache der Ökonomie – dem Denken in Äquivalenzen verhaftet sei. Die Gerechtigkeit frage danach, was einem Menschen als recht und billig zustehe. Dies habe zur Folge, dass die der Rechtsprechung entlehnte 7   Hoffmann, Skizzen. Für ein über theologische Fachkreise hinausreichendes Publikum hat sie ihren Gedankengang noch einmal vereinfachend dargestellt in: Hoffmann, Veronika, Christus – die Gabe. Zugänge zur Eucharistie, Freiburg / Br. 2016. 8   Hoffmann, Skizzen, 303. 9   Vgl. Kap. A1 (Exkurs).

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2.  Die Rezeption der Theorien zur wechselseitigen Gabe

Metaphorik jeweils einer extremen Transformation unterzogen werden müsse, um zur Beschreibung des Rechtfertigungsgeschehens herangezogen werden zu können. Hinzu komme, dass sie das Bild Gottes auf das des Richters und Gesetzgebers fixiere. Die Metaphorik der Gabe setze demgegenüber beim gemeinschaftsbildenden Moment des Gebens an: Beim Geben werde, durch die Gabe vermittelt, Anerkennung ausgesprochen mit dem Ziel von Gemeinschaftsbildung. Und als Gemeinschaft mit Gott, als Teilhabe am göttlichen Leben charakterisiert die Theologin ganz traditionell das, was menschliches Heil ausmacht. Durch das Verständnis von Rechtfertigung als einen Akt von Anerkennung sieht Hoffmann das zentrale Grundanliegen der reformatorischen Rechtfertigungslehre gewahrt, welche die Initiative im Rechtfertigungsgeschehen ausschließlich Gott zuschreibt und in der Tatsache, dass ausschließlich Gott handelt, den Garanten für die Unverbrüchlichkeit des Heils erkennt. Ein Problem sei in einigen protestantischen Ansätzen jedoch, dass die Sünde so radikal gedacht werde, dass sie die Struktur des Menschen verderbe und es deshalb keinerlei menschlichen Anknüpfungspunkt für Gottes Heilshandeln gebe, so dass die Rechtfertigung des Sünders quasi einer creatio ex nihilo entspreche.10 Hier werde die Personalität des einzelnen Menschen sekundär. Dies sei jedoch insofern mit der Vorstellung einer ‚Gabe der Anerkennung‘ unvereinbar, als ein solches Geben immer ein Akt der Zuwendung zu einem Gegenüber sei, an dem der Geber persönlich interessiert sei. Und von genau einer solchen Zuwendung Gottes zum Menschen sei im Rechtfertigungsgeschehen auszugehen. Deshalb sei die Annahme, der Mensch sei in einem sündigen Welt- und Gottesverständnis gefangen, sinnvoller als die Vorstellung einer verdorbenen menschlichen Struktur. Wenn es jedoch die aktuelle Situation des Menschen sei, vollständig durch die Sünde bestimmt zu werden, so könne Gottes Zuwendung dem Geschöpf gelten, dass er geschaffen hat und das in die Gemeinschaft mit ihm zurückgeholt werden soll. Anerkennung des Sünders könne im Sinne Bedorfs dann so verstanden werden, dass Gott im Menschen mehr zu sehen vermag, als er aktuell zu sein fähig ist. Eine solche Anerkennung habe befreienden Charakter: „Gottes schöpferische Gestalt der ‚verkennenden Anerkennung‘ hingegen, die im Menschen nicht weniger, sondern mehr sieht, als er aktuell ist, stammt aus seiner Überfülle und kann so auch den kalkulierenden, in sich verkrümmten gewissermaßen ‚geizigen‘ Sünder aus einer ökonomischen Logik zu einer ‚Logik der Überfülle‘ befreien.“11 Wirkliche Gemeinschaft ist nach Hoffmann jedoch nur dort möglich, wo beide Partner befähigt seien, durch ihr Geben ihre Zuwendung zum Anderen zu symbolisieren. Deshalb könne es letztlich nur das Ziel der Rechtfertigung sein, dass der Mensch wieder „gabe-fähig wird: fähig, zu empfangen und zu geben, ohne zwanghaft ökonomisch zu denken und zu handeln; fähig also zu empfangen, statt 10

  Ihre Kritik zielt vor allem auf Jüngel, Eberhard, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, Tübingen 1998. 11   Hoffmann, Skizzen, 324.

2.1  Katholische Positionen

123

zu verdienen, und zu geben, ohne den anderen in Funktionen und Kalküle einzusperren.“12 Ein solches Geben könne jedoch immer nur als eine Reaktion auf Gottes initiales Geben verstanden werden. Veronika Hoffmanns Kapitel zur Eucharistie fußt auf der impliziten Annahme, dass das Abendmahl der Ort ist, an dem das rechtfertigende Handeln Gottes zur Darstellung kommt, und es zugleich den Raum eröffnet, in dem sich Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch im Sinne eines wechselseitigen Gebens vollziehen kann. Der Fokus des Kapitels liegt auf der ökumenisch strittigen Frage nach der Richtung der Gabebewegung im Abendmahl, d. h. auf der Frage, ob es sich hierbei um ein anabatisches oder katabatisches Geschehen handelt. Ausgehend von der innerprotestantischen Diskussion zwischen Dorothea Wendebourg und Hans-Christoph Schmidt-Lauber bzw. Ulrich Kühn, sowie der Analyse der drei relativ konträren Abendmahlsdeutungen von Emil Josef Lengeling, Louis-Marie Chauvet und Eberhard Jüngel stellt Hoffmann fest, dass in keiner der Ausdeutungen des Abendmahls das anabatische Moment vollständig fehle. Es werde jedoch inhaltlich sehr unterschiedlich bestimmt. Ökumenisch denkbare Möglichkeiten seien, das anabatische Moment im Dank der Gemeinde für Gottes Zuwendung in Brot und Wein oder in der inneren Selbsthingabe der Glaubenden an Gott zu verorten. Zudem sei die Darbringung der (nicht konsekrierten) Gaben von Brot und Wein als anabatisches Moment denkbar. Die traditionellen Formeln der römischkatholischen Liturgie stellten als anabatische Bewegung hingegen die Gabe des Leibes und Blutes Jesu an den Vater bzw. die Gabe seiner ganzen Person als Opfer für Gott heraus. Veronika Hoffmann problematisiert in ihrem eigenen Entwurf die für sie vorschnelle Gleichsetzung von katabatischen mit göttlichem und anabatischen mit menschlichem Handeln. Vielmehr sei im Abendmahl von einer Mehrzahl von anabatischen und katabatischen Gabebewegungen auszugehen, die sowohl von Gott als auch vom Menschen ausgingen. In der Analyse der Diskussion zwischen Wendebourg einerseits und Schmidt-Lauber und Kühn andererseits hatte Hoffmann herausgearbeitet, dass hier mit einem dialogischen Geschehen im Abendmahl gerechnet werde, dort mit einem ‚Ineinander‘ von göttlichem und menschlichem Handeln. Beide Charakterisierungen betrachtet Hoffmann als Beschreibung für die Gabebewegungen als unterkomplex. Sie geht vielmehr davon aus, „dass Gott und Mensch jeweils auf allen Positionen zu finden sind: auf der des Gebers wie des Empfängers wie der (Selbst)Gabe.“13 Diese Pluralität ergibt sich für sie aus der Tatsache, dass die wechselseitige Gabe zwischen Gott und Mensch keine direkte Gabe sei, sondern Christus eine entscheidende Vermittlungsposition zukomme. Neben den anabatischen und katabatischen Gabebewegungen seien zudem horizontale Gabebewegungen im Abendmahl auszumachen, und zwar sowohl auf göttlicher als auch auf menschlicher Ebene. 12

  Hoffmann, Skizzen, 326.   Hoffmann, Skizzen, 443.

13

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2.  Die Rezeption der Theorien zur wechselseitigen Gabe

Veronika Hoffmann gliedert ihre weiteren Überlegungen gemäß dem von Marcel Hénaff übernommenen Gabeschema und geht zunächst auf die initiale, erste Gabe ein, dann auf das Empfangen und schließlich auf die Gegengabe, die Hénaff als ‚zweite‘ erste Gabe, als freie Antwort auf den von der ersten Gabe ausgehenden Appell charakterisiert hatte. Es bestehe mittlerweile ökumenische Einigkeit darüber, dass die erste Gabe die Selbsthingabe Gottes an den Menschen darstelle, die sich im Leben und Sterben Jesu Christi vollziehe und in der Gabe von Brot und Wein immer wieder neu zur Darstellung gebracht werde.14 Es sei jedoch zu betonen, dass die Selbsthingabe Gottes durch diese zweifache Vermittlung geschehe und gerade diese vermittelte Selbsthingabe dazu zwinge, die Bestimmungen von katabatischen und anabatischen Bewegungen im Abendmahl zu differenzieren. So sei es evident, dass in der katabatischen Bewegung der Selbsthingabe Gottes dem Menschsein Jesu eine entscheidende Rolle zukomme, dass also auch der menschliche Part – in Gestalt des Menschen Jesus – Anteil an dieser Bewegung habe. Zu bedenken sei ferner, dass der Selbsthingabe Gottes an die Menschen die innertrinitarische Selbsthingabe vorausgehe. Aus dieser Selbsthingabe resultiere, dass die Menschwerdung Christi stets ein Geschehen mit einer doppelten Ausrichtung darstelle. In Jesu Selbsthingabe an die Menschen spiegele sich die Selbsthingabe des Vaters, zugleich sei die Selbsthingabe Jesu an seine Mitmenschen auch ein Akt der Selbsthingabe an den Vater, durch den er sich im Gehorsam ganz bestimmen lasse. In der katabatischen Bewegung der Selbsthingabe Gottes an die Menschen leuchte somit ein anabatisches Moment mit auf. Zu bedenken sei schließlich, dass die Gleichsetzung von Christi Leib und Blut mit Brot und Wein nur durch das Wirken des heiligen Geistes zustande komme, was das Ineinander von Selbstgabe Christi und Gabe Gottes noch einmal besonders unterstreiche. Besondere Aufmerksamkeit widmet Veronika Hoffmann dem Empfangen der göttlichen Gabe. In Anlehnung an Paul Ricœur hebt sie hervor, dass die Dankbarkeit als Modus des Empfangens betrachtet werden müsse und nicht – wie in zahlreichen, protestantischen Abendmahlsauslegungen – als Gegengabe. Die Dankbarkeit durchbreche das Denken in Äquivalenzen, das die Gabe taxiert und nach ihrem Wert befragt. Für das Abendmahl bedeute dies, dass das dankbare Empfangen es verbiete, die von Seiten der Menschen ausgehende anabatische Gegengabe an Gott als ‚werkgerecht‘ zu klassifizieren. Gerade im dankbaren Empfangen begreife der Gläubige das Übermaß der durch nichts aufzuwiegenden Gabe Gottes. Bei ihrer Beantwortung der Frage, worin denn die Gabe des Menschen an Gott zu sehen sei, greift Hoffmann auf die Ergebnisse ihres Kapitels zum Thema Opfer zurück. Hier hatte sie nach einer Textanalyse von Hebr 4 – 10, Röm 3,25 14   Veronika Hoffmann betont dezidiert, dass das Abendmahl eingebettet in einen Prozess von Gabebewegungen ist, der weit vor der eigentlichen Feier beginnt. Dazu merkt sie an, dass Jesu Selbsthingabe am Kreuz im Abendmahl nicht ‚wiederholt‘ im Sinne von ‚verdoppelt‘ werde, sondern dass sie je neu zur Darstellung gebracht werde.

2.1  Katholische Positionen

125

und Eph 5,2 herausgestellt, dass die neutestamentlichen Texte Christus sowohl als Opfernden als auch als Opfergabe charakterisieren. Die klassisch katholische Vorstellung, dass die Gläubigen mit Christus als Opfergabe vor Gott treten, scheint Hoffmann ein gangbarer Weg zu sein, um das Dilemma zu lösen, das sich ergibt, wenn man – wie sie es im Kapitel zur Rechtfertigung tut – Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch in ein wechselseitiges Gabeverhältnis münden sieht und gleichzeitig die anthropologische Prämisse vertritt, dass sich der Mensch nie so in der Hand habe, dass er sich vollständig hingeben könne, sondern ihm der Kern seines Selbst – auch durch die Verstrickung in Sünde – entzogen sei. „Will man [. . .] mit den vorangegangenen Überlegungen zu Gnade und Rechtfertigung die ‚Gabe der Rechtfertigung‘ als Befreiung zur Wechselseitigkeit verstehen, [. . .] dann eröffnet die Akzentuierung der Menschheit Christi und die damit verbundene christologische Verdichtung des Opfers eine Alternative. Denn so kann Christus selbst als Opfergabe nicht nur seines, sondern auch unseres Gebens gedacht werden. Das ist nicht exklusiv, sondern gerade inklusiv zu verstehen: Wir geben Gott, wenn es gut geht, sicherlich auch uns selbst – soweit wir können und sicherlich je länger je mehr. Aber während wir in unserem Leben immer (nur und noch) auf dem Weg sind, eine ‚Opfergabe‘ zu werden, ‚die Gott gefällt‘ (Röm 15,16), ist Christus selbst das makellose Opfer, die vollkommene Gabe, die nicht nur er selbst gibt, sondern die auch uns in die Hand gegeben ist, damit wir mit ihm vor Gott treten können in Antwort auf seine Gabe an uns, zum Eintritt in die Gemeinschaft.“15

Im Kapitel zur Eucharistie befragt sie diesen Lösungsvorschlag in Bezug auf das Verständnis von Kirche. Ist der Vorwurf berechtigt, dass die Kirche in den Rang eines souveränen Gabesubjektes gelangt, das Christus quasi zur Verfügung hat, wenn man der römisch-katholischen Liturgie folgend Christus als Opfergabe versteht, so fragt Hoffmann, und wendet dagegen ein, dass hier von einem Gabeverständnis ausgegangen werde, in dem Geben damit gleichgesetzt werde, etwas aus seiner souveränen Verfügungsgewalt heraus zu geben. Gerade die Vorstellung, dass Geben ein souveräner Akt sei, werde jedoch durch den philosophischen und soziologischen Gabediskurs kritisch in Frage gestellt. Vielmehr sei gerade bei der Vorstellung, dass die Gläubigen mit Christus als Gabe vor Gott treten, zu konstatieren, dass sich Gottes Heilshandeln noch in die Antwort auf dieses einschreibe und sie mitpräge. So kann sie davon sprechen, dass das Sich-Geben des Menschen, der, indem er Christus Gott darbringt, selbst in seiner Hingabe an Gott wächst, unter dem „Vorzeichen des Mitgenommen Seins durch Christus“ stehe.16 Abschließend kommt Hoffmann noch einmal auf die horizontalen Gabebewegungen zu sprechen und betont, dass Gabebewegungen von Mensch zu Mensch nicht nur als Folge des Abendmahls betrachtet werden dürften, etwa in dem Sinne, dass die im Abendmahl erfahrene Anerkennung durch Gott ethische Folgen zeitige, sondern dass selbstverständlich auch im Abendmahl selbst solche horizon15

  Hoffmann, Skizzen, 403.   Hoffmann, Skizzen, 455.

16

126

2.  Die Rezeption der Theorien zur wechselseitigen Gabe

talen Gabebewegungen stattfänden. Dies liege daran, dass sich Gott zur Vermittlung seines Heilshandelns menschliche Vollzüge wie eben das Teilen von Brot und Wein wähle. Und so sei es natürlich, dass Brot und Wein von Mensch zu Mensch weitergegeben werde. Auch sei der Mensch in das katabatische, von Gott ausgehende Heilsgeschehen einbezogen, etwa durch die vom Priester gesprochenen, das Mahl deutenden Teile der Liturgie. Insgesamt kommt Veronika Hoffmann zu dem Schluss, dass bei den zahlreichen Gabebewegungen des Abendmahls sowohl ein Gegenüber von Gott und Mensch als auch eine Verschränkung, ein ‚Ineinander‘ von göttlichem und menschlichem Tun zu beobachten sei. Stellungnahme Der Arbeit von Veronika Hoffmann kommt das Verdienst zu, sehr eindringlich darauf hinzuweisen, dass der Theologie mit der Metapher der Gabe neben der juristischen Metapher der Rechtfertigung ein weiteres „Bildfeld“ zur Verfügung steht,17 mit dessen Hilfe die durch Christus herbeigeführte Veränderung in der Gott-Mensch-Beziehung anschaulich werden kann und dessen Zuhilfenahme an etlichen Stellen sogar bruchloser möglich ist als bei der dem Rechtsgeschehen entliehenen Metapher, da diese nur unter Anpassungen im bildspendenden Sinnbezirk herangezogen werden kann. In ihren Ausführungen zum Abendmahl versteht sie dieses primär als performativen Vollzug eines Anerkennungsgeschehens, dabei gerät ihr jedoch die ‚metaphorische‘ Dimension des im Ritus inszenierten Gastmahls aus dem Blick. Mit anderen Worten: Die Gott-Mensch-Kommunikation wird völlig analog zu zwischenmenschlichen Kommunikationsformen behandelt. Meines Erachtens ist es sinnvoller, davon auszugehen, dass die im Ritus in Szene gesetzte Form eines zwischenmenschlichen Anerkennungsgeschehens im Abendmahl über sich hinaus weist und dadurch etwas von Gott erkennen lässt und dass diese Gotteserkenntnis dazu führt, dass der Mensch sich durch den Vollzug des Abendmahls als von Gott angenommen und anerkannt begreift. Die Performativität des Abendmahls würde dann aus der durch den über sich hinausweisenden Ritus vermittelten Gotteserkenntnis herrühren. Um diesen Zusammenhang zu erhellen, könnte der ‚Ereignisbegriff ‘ herangezogen werden, den Hoffmann jedoch unberücksichtigt lässt, weil sie sich auf die Weiterentwicklung der Theorie des Gabentausches von Mauss durch Hénaff und Ricœur beschränkt. Offenkundig begreift Hoffmann ihre Ausführungen als Brückenschlag für das ökumenische Gespräch. Allerdings konzentriert sie sich lediglich auf eine der 17   Der Begriff „Bildfeld“ geht auf Harald Weinrich zurück, der ihn benutzt, um darauf hinzuweisen, dass bei einer Metapher zwei sprachliche Sinnbezirke miteinander gekoppelt werden und diese dann ein neues Bildfeld entstehen lassen. Weinrich spricht unter Rückgriff auf Jost Trier bei den beiden Sinnbezirken auch von Bildspender und Bildempfänger, vgl. Weinrich, Sprache, 283 ff.

2.2  Protestantische Ansätze

127

zwischen den Konfessionen strittigen Fragen, nämlich auf die Frage nach der Richtung der Gabebewegung des Abendmahls. Die Lektüre ihres Abendmahlsentwurfes lässt aber Zweifel aufkommen, ob die offenen Fragen im ökumenischen Gespräch wirklich separat voneinander beantwortet werden können. So fällt bei ihrer ‚Positionsbesetzung‘ im Gabegeschehen auf, dass sie den Priester außer Acht lässt. Aber ist eine solche Auslassung aus einer katholischen Perspektive tragbar oder müsste der Priester nicht vielmehr als eine vermittelnde Instanz in die Gabebewegungen eingezeichnet werden, was wiederum für die protestantische Seite unannehmbar wäre? So ehrbar der Versuch ist, sich durch die Reduktion der Fragestellung ökumenisch aufeinander zuzubewegen, so schwierig erscheint es gleichzeitig, das mit dem Abendmahl aufs engste verknüpfte Amtsverständnis aus der Diskussion auszuklammern.

2.2  Protestantische Ansätze 2.2.1 Andrea Bieler / Luise Schottroff: Gabentausch versus Marktökonomie. Ein befreiungstheologischer Abendmahlsentwurf 2.2.1.1  Grundlinien des Entwurfes Andrea Bieler und Luise Schottroff legen in ihrem Buch „Das Abendmahl. Essen, um zu leben“ einen Abendmahlsentwurf vor,18 der nicht die Frage nach der Realpräsenz Christi im Abendmahl in den Fokus rückt, sondern das Abendmahl als ein Ritual begreift, das das Leben der Gläubigen in einen eschatologischen Horizont stellt. Das Abendmahl eröffne den Gläubigen einen „imaginären Raum, in dem sich Hoffnungsbilder entfalten“ könnten,19 die dann auf das Leben der Menschen einwirkten. Das zentrale Hoffnungsmoment, das sich mit dem Abendmahl verbinde, sei die Hoffnung, mit dem eigenen realen Körper und der eigenen Lebenswirklichkeit Anteil zu gewinnen an der Realität der Auferstehung Christi, an den im Abendmahl zugleich als an ein Opfer von römischer Staatsgewalt erinnert werde. Um einen Raum eröffnen zu können, in dem Menschen Hoffnungsbilder imaginieren, sei es für das Ritual des Abendmahls von zentraler Bedeutung, dass in ihm die reale Lebenswelt der Menschen zu einem eschatologischen Horizont in Spannung gesetzt werde. In dieser Spannung könne sich dann die Hoffnung auf Gottes Kommen und sein Wirken in der Welt entfalten. Um den von ihnen beschriebenen Vorgang genauer zu umreißen, benutzen Bieler und Schottroff die Schlüsselbegriffe „sakramentale Durchlässigkeit“, „eschatologische Imagination“ und „eucharistisches Leben“.20 18

  Bieler, Andrea / Schottroff, Luise, Das Abendmahl. Essen, um zu leben, Gütersloh 2007.   Bieler / Schottroff, Abendmahl, 15. 20   Bieler / Schottroff, Abendmahl, 16. 19

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2.  Die Rezeption der Theorien zur wechselseitigen Gabe

Unter „sakramentaler Durchlässigkeit“ wird dabei verstanden, dass reale Gegenstände des alltäglichen Lebens zu Mitteln werden können, an denen Gott sichtbar wird. Diese Möglichkeit sei nicht nur bei Brot und Wein, sondern prinzipiell bei allen Dingen gegeben. Dies sei aber keine konstante Eigenschaft der Dinge, sondern eine Potentialität, eine Möglichkeit, die zur Entfaltung kommen könne. Sakramentalen Charakter nähmen Dinge dann an, wenn sie auf die Anwesenheit oder auch Abwesenheit Gottes in der Welt hinwiesen. Besonders zentral ist für Bieler und Schottroff die Kategorie der „eschatologischen Imagination“. Imagination wird als „sinnlich-konkrete Aktivität“ und als „sozialpolitische Praxis“ definiert.21 Die erste Definition macht deutlich, dass es bei Imagination um innere Bilder und Ideen geht, die in den Menschen aufsteigen, aber auch um vorsprachliche Momente wie das Gefühl von Sinnhaftigkeit. Imagination beziehe sich immer auf Größen, die entweder physisch abwesend oder fiktiv seien. So sei beispielsweise die Erzählung vom letzten Abendmahl Jesu ein Anknüpfungspunkt für Imagination: Im Präteritum erzählt und damit als vergangen, d. h. zeitlich abwesend charakterisiert, lade die Erzählung doch dazu ein, innerlich am Mahl teilzunehmen und sich mit den versagenden und zugleich angenommenen Jüngern zu identifizieren. Ein Beispiel für Fiktionen, die Imaginationen anregten, seien auch die zahlreichen metaphorischen Reich-GottesGleichnisse. Imagination präge die Wahrnehmung der Menschen von ihrer Welt. So können Bieler und Schottroff im Anschluss an Paul Ricœur sagen, Imagination sei ein „Sehen als“.22 „Der Imagination liegt die Fähigkeit, eine Sache in einem anderen Lichte zu sehen, zugrunde.“23 Die Tatsache, dass Imagination die Wahrnehmung von Wirklichkeit beeinflusst und umgekehrt die Art und Weise der Imagination von real gemachten Erfahrungen mitgeprägt wird, scheinen die beiden Autorinnen im Blick zu haben, wenn sie von der Imagination als „sozialpolitischer Praxis“ sprechen. Die Charakterisierung der durch das Ritual des Abendmahls eröffneten Imagination als eschatologisch beziehe sich, so Bieler und Schottroff, nicht darauf, dass hier die letzten Dinge wie Tod, jüngstes Gericht und Eschaton Inhalt der Imagination seien. Eschatologie als Lehre von den letzten Dingen zu definieren, sei nur ein mögliches Verständnis. Eschatologie könne vielmehr auch als Modus der Erwartung des Kommens Gottes in diese Welt verstanden werden, einer Erwartung, die einen zentralen Einfluss auf das Jetzt gewinnen könne und damit das lineare Verständnis von Zeit aufbreche.24 „Vergangene, gegenwärtige und zukünf21

  Bieler / Schottroff, Abendmahl, 42.   Bieler / Schottroff, Abendmahl, 44. Sie nehmen hier Bezug auf Ricœur, Paul, The Metaphorical Process as Cognition, Imagination and Feeling, in: Critical Inquiry 5 (1978), 143 – 159. 23   Bieler / Schottroff, Abendmahl, 44. 24   Bieler und Schottroff nehmen hier die postmoderne Kritik auf, dass die Vorstellung einer einheitlichen Erwartung, nämlich des Kommens Gottes, nicht der Pluralität gerecht werde, die die Lebenswelt von Menschen ausmache und wegen des universellen Anspruchs totalitäre Züge habe. 22

2.2  Protestantische Ansätze

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tige Zeit werden von der messianischen Zeit bestimmt, die mit dem Kommen Jesu bereits begonnen hat.“25 Bieler und Schottroff stellen sich der Herausforderung, den Begriff „eschatologische Imagination“ zu den klassischen systematischen Begriffen der Offenbarung und der Erfahrung in Beziehung zu setzen, und kommen zu dem Schluss, dass die eschatologische Imagination als „Schnittstelle zwischen göttlicher Offenbarung und menschlicher Erfahrung“ interpretiert werden müsse,26 weil sich in der Imagination „Gottes Welt im menschlichen Leben durch Wahrnehmung, Symbolisierung und Konzeptualisierung“ ausbreiten könne.27 Eschatologische Imagination „schaffe Fenster“, durch die Menschen mittels Analogie eine Ahnung von der Wirklichkeit Gottes erhalten.28 Diese Ahnung unterbreche deren gängige Weltsicht und bleibe insofern nicht folgenlos, als sie zu einem kritischen Weltabstand führe. Der dritte Schlüsselbegriff der Abendmahlstheologie der beiden Autorinnen ist der des „eucharistischen Lebens“. Dieser Begriff nimmt die bereits dargestellte Grundvoraussetzung von Bieler und Schottroff auf, dass eschatologische Imagination die Selbst- und Weltwahrnehmung von Menschen verändert. Durch die Feier des Abendmahls könne schrittweise eine an Christus orientierte Sichtweise auf die Welt vertieft werden, die schließlich zu einer Umorientierung der eigenen Gewohnheiten führen könne. Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass sich das Sakramentenverständnis von Bieler und Schottroff weit von einer Vorstellung entfernt hat, die die Sakramente als Objekte begreifen, die Heil vermitteln, und es verwundert nicht, dass sie in Anlehnung an Kenan Osborne auf den ‚Ereignisbegriff ‘ zurückgreifen,29 um das sakramentale Geschehen zu beschreiben. Durch die eschatologische Imagination stellten die Feiernden des Abendmahls ihr eigenes Leben in einen Zusammenhang mit der Auferstehung Jesu. Wenn dies geschehe, dann sei dies ein Ausdruck des Glaubens, d. h. ein „Beziehungsakt des Vertrauens in Gottes Zukunft.“30

Sie weisen jedoch darauf hin, dass die globalen Herausforderungen wie etwa der Klimawandel den ‚Zeitraum‘, der sich heutigen Menschen zum Leben eröffne, zu einem einheitlichen mache, selbst wenn die Menschen diesen natürlich aufgrund kultureller Prägungen und individueller Voraussetzungen heterogen wahrnehmen. 25   Bieler / Schottroff, Abendmahl, 38. 26   Bieler / Schottroff, Abendmahl, 43. 27   Bieler / Schottroff, Abendmahl, 43. 28   Bieler / Schottroff, Abendmahl, 46. 29   Osborne, Kenan B., Christian Sacraments in a Postmodern World. A. Theology of the Third Millennium, New York 1999. 30   Bieler / Schottroff, Abendmahl, 20.

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2.  Die Rezeption der Theorien zur wechselseitigen Gabe

2.2.1.2  Die Rezeption der Theorie vom Gabentausch durch Bieler und Schottroff Wie bereits dargestellt, entzündet sich eine eschatologische Imagination für Bieler und Schottroff aufgrund der Spannung von eigenem Leben und eschatologischem Horizont, der in den biblischen Texten und in der Liturgie aufleuchtet. Dementsprechend gehen sie der Spannung nach, die sich durch die Erfahrung der Menschen im Umgang mit ‚Brot‘ (Hunger auf der einen Seite der Welt – Essstörungen, Wegwerfgesellschaft, aber auch das Bewusstsein von ungerechten Produktionswegen auf der anderen) und den Brotgeschichten der Bibel wie der „Speisung der Fünftausend“ (Mk  6,30 – 44; Mt  14,13 – 21; Lk  9,10 – 17; Joh  6,1 – 13), der „Versuchung Jesu durch den Satan“ (Mt 4,1 – 11) oder der „Verfluchung des Feigenbaums“ (Mk 11,11 – 25; Mt 21,10 – 22) ergibt. Vertiefend gehen sie dann auf die Spannung zwischen der die oben benannten Phänomene wie Hunger und Essstörungen hervorbringende Ökonomie des Marktes und einem nachhaltigen Wirtschaften einerseits und dem Gabentausch andererseits ein. Die Autorinnen nähern sich der Ökonomie des Marktes an, indem sie sich zunächst mit der Theorie des homo oeconomicus befassen. Der homo oeconomicus sei „die mythologische Figur des besitzenden Mannes, dessen Hauptinteresse die Akkumulation des Geldes (Gold und Silber) ist.“31 Während von der Antike bis zur Neuzeit ein solches Verhalten prinzipiell nur als individuelle Charaktereigenschaft in den Blick gekommen sei, sei es mit der Industrialisierung zum Gesellschaft prägenden Prinzip geworden. Wohl wissend, dass die Theorie des homo oeconomicus eine neuzeitliche, auf Adam Smith zurückgehende Kreation ist, wenden sich Bieler und Schottroff zunächst der Kritik an der Tendenz zur Akkumulation von Reichtum in der Antike zu, wie sie sich etwa bei Ovid in seiner Erzählung über den phrygischen König Midas oder bei Plinius dem Älteren findet. Der Philosoph Dion Chrysostomos (etwa 40 – 120 n. Chr.) formulierte erstmals einen Kritikpunkt, der auch für Bieler und Schottroff zu einem der zentralen Kritikpunkte am Denken des homo oeconomicus gehört: Die Illusion von „unendlichem Leben als endlosem Warenkonsum“,32 die sich durch die Anhäufung von Gütern einstelle. Moderne Theorien über den homo oeconomicus fußen, wie bereits erwähnt, auf den Theorien des Philosophen Adam Smith. Dieser gehe davon aus, dass der ökonomisch handelnde Mensch danach strebe, seine eigenen Interessen zu optimieren und seinem Handeln um dieser Optimierung willen rationale Entscheidungen zu Grunde lege. Durch den Widerstreit der differierenden Einzelinteressen, die zu einem Ausgleich gebracht werden müssen, ergebe sich nach Smith ein wie durch eine unsichtbare Hand initiierter Zustand des Ausgleichs, der sozialen Integration und Wohlfahrt. Kritikwürdig erscheint Bieler und Schottroff dieser Ansatz insofern, als er – wie die Verarmung der Dritten Welt zeige – offensicht31

  Bieler / Schottroff, Abendmahl, 122.   Bieler / Schottroff, Abendmahl, 124.

32

2.2  Protestantische Ansätze

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lich nicht der Realität standhalte. Ein Grund für die Kluft zwischen Theorie und Realität ergebe sich u. a. durch die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der ökonomisch handelnden Akteure, die weder über die gleichen Ressourcen noch über die gleiche Expertise verfügten, so dass die Möglichkeiten, mit denen sie ihre Einzelinteressen verfolgen könnten, nicht gleichwertig seien. Eine dritte Kritik, die die beiden Theologinnen in Anlehnung an Karl Marx an dem mit der Theorie über den homo oeconomicus verbundenen Denken formulieren, bezieht sich schließlich auf den Rang, den Geld und Waren im Denken des homo oeconomicus einnehmen: Ihnen komme der Status eines Fetischs zu, um dessentwillen vieles andere geopfert werden müsse. Im Abendmahl erlebten die Feiernden, deren Lebenswelt und damit auch deren Erleben in starkem Maße durch das Denken des homo oeconomicus geprägt sei, ein Fest, das sich nach der Logik des Gabentausches vollziehe. Bieler und Schottroff greifen auf die Theorie des Gabentauschs von Marcel Mauss sowie ihre Adaption durch die Theologen Louis-Marie Chauvet, David N. Power und Hans-Martin Gutmann zurück und betonen, dass beim Gabentausch nicht primär die getauschten Waren, sondern die durch das Geben und Nehmen entstandene Beziehung maßgeblich sei: „Während das Geldmarktsystem auf Akkumulation und Kalkulation setzt, kreiert es abstrakte Beziehungen und fokussiert auf Besitz. Der symbolische Austausch hingegen zielt letztlich nicht auf den Erwerb von Besitz, sondern auf die Herstellung und Pflege von Beziehungen, weil er nicht den Objekten, die getauscht werden, Wert zuschreibt, sondern den Subjekten, die in einen Kommunikationsaustausch eintauchen. Wichtig ist nicht, was ausgetauscht wird, sondern dass sich im Akt des Austausches Menschen als Subjekte erkennen.“33

In ihrer Argumentation betonen Bieler und Schottroff Chauvet folgend die absolute Initiative Gottes bei den Gabevorgängen des Abendmahls ebenso wie die Notwendigkeit, dass die Gläubigen ihrerseits eine darauffolgende Initiative ergreifen, um eine Geste des Gebens in Richtung Gottes zu machen. Diese vom Menschen ausgehende Gabebewegung sei erforderlich, weil dem Menschen im Akt des Gebens erst bewusst werde, was er empfangen habe. Zudem verhindere die Möglichkeit, selbst geben zu können, dass die Menschen sich angesichts der göttlichen Gnade passiv oder gering fühlen. Bieler und Schottroff betonen jedoch konsequent, dass das menschliche Geben ein respondierendes Geben im Sinne von Waldenfels sei. Die Möglichkeit für die Menschen, selbst in die Rolle des Gebers zu schlüpfen, ergibt sich für die beiden Autorinnen liturgisch durch die Gebete und die Spende materieller Gaben. Unter den Gebeten komme den Danksagungen insofern eine Schlüsselstellung zu, als sich den Gläubigen durch sie Gottes Großzügigkeit vor dem inneren Auge vergegenwärtige und staunend anerkannt werde. Durch die Danksagung werde das Empfangene als Gabe anerkannt. Die Aner33

  Bieler / Schottroff, Abendmahl, 137.

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2.  Die Rezeption der Theorien zur wechselseitigen Gabe

kennung des Empfangenen als Gabe begrenze den leichtfertigen und verschleudernden Gebrauch von Gütern. Zudem öffne die Beziehung zu Gott, die in dem Bewusstsein zu empfangen mitschwinge, den Blick auf den verpflichtenden Charakter der empfangenen Gaben im Hinblick auf Dritte. Insofern trete gerade die Danksagung in eine produktive Spannung zum Mainstream-Denken des homo oeconomicus und sei eine latente Kritik gegen die Verdinglichung der Welt, gegen den Fetischcharakter von Waren, sowie gegen die Illusion von Ewigkeit durch unendliche Akkumulation materieller Dinge. Doch nicht nur die Danksagung, sondern auch die Fürbitte setze eschatologische Imagination frei, da Fürbitte zu halten immer bedeute, dass sich der Betende für Gottes verborgene Möglichkeiten öffne. Neben den Gebeten sehen Bieler und Schottroff in der Darbringung der Gaben eine weitere Möglichkeit der Menschen, ihrerseits zu geben. Sie sehen in dem Ritus durchaus die von den Reformatoren kritisierte Gefahr, dass Menschen in ein marktorientiertes Denken nach dem Muster do, ut des zurückfallen könnten. Dies sei jedoch nur dann möglich, wenn übersehen werde, dass das Darbringen von Gaben ein Zurückbringen der von Gott empfangenen Gaben sei. Würden die Gaben jedoch in diesem Bewusstsein zum Altar gebracht, so sei diese Darbringung durchaus dazu angetan, ein Nachdenken in den Feiernden über die Diskrepanz zwischen Gottes guten Gaben und den ungerechten Produktionswegen unserer Verarbeitung in Gang zu setzen. Auch sind Bieler und Schottroff offen für den Gedanken des katholischen Theologen Power, der betont, dass die Sachgabe es den Menschen erleichtere, sich Gott mit der eigenen Dankbarkeit, Sehnsucht und Gebrochenheit ganzheitlich hinzugeben. Stellungnahme Der Abendmahlsentwurf von Andrea Bieler und Luise Schottroff verdient insofern Beachtung, als hier das Augenmerk auf die Mehrdimensionalität der Abendmahlsmetaphorik gelenkt wird, die sich, den beiden Autorinnen zufolge, nicht nur in der Metaphorik der Einsetzungsworte erschöpft, sondern auch dadurch geprägt ist, dass die Elemente Assoziationen an biblische Geschichten einerseits und an Situationen aus der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit der Feiernden andererseits hervorrufen. Diese Assoziationen können ihrer Ansicht nach so zueinander in Wechselwirkung treten, dass die gesellschaftliche Realität vor dem Hintergrund der biblischen Geschichten einer Kritik unterzogen wird und diese zugleich Hoffnung auf Veränderung wecken. Allerdings erscheint mir die Gegenüberstellung von ökonomischer Realität und ‚Gabegeschehen als Gegen­realität‘ weniger geglückt als die Gegenüberstellung der biblischen Brotgeschichten und der alltäglichen Erfahrungen im Umgang mit Lebensmitteln und ihrem Verzehr, und zwar deshalb, weil hier die Kritik Pierre Bourdieus an Jacques Derridas ‚ökonomischen‘ Menschenbild zu wiederholen ist, der darauf hinweist, dass die Charakterisierung von ‚Nutzenoptimierung‘ als einzige Antriebsquelle menschlichen Handelns angesichts der gesellschaftlichen Realität nicht komplex genug sei. Zudem

2.2  Protestantische Ansätze

133

ist auffällig, dass die subjektkonstituierende Dimension von Gabe zugunsten des Gemeinschaftsaspektes zurücksteht, dass der ethische und im weiteren Sinne auch politische Impuls, der vom Abendmahl ausgeht, im Fokus steht, die Bedeutung des Abendmahls für das Selbstverständnis des Einzelnen und seine Gottesrelation demgegenüber jedoch nur nachrangig betrachtet wird. 2.2.2  Günther Bader: Die Abendmahlsfeier – der Versuch einer ‚liturgischen Theologie‘ 34 Der Ausgangspunkt von Baders theologischen Überlegungen zum Abendmahl bildet die Feststellung, dass das Abendmahl primär in der vollzogenen Feier real ist und sich alle theologischen, philosophischen, soziologischen und ästhetischen Überlegungen aus dem Erleben der Feier speisen, selbst wenn sie dann zu einem kritischen Korrektiv der Feier werden können: „Die höchste Realität, die das Abendmahl gewinnen kann, ist die Abendmahlsfeier.“35 Die Abendmahlsfeier sei jedoch mehr als reine Gedanken, sie sei primär Liturgie. Und als solche solle sie das Nachdenken über das Abendmahl bestimmen. Nach Bader ergeben sich aus der Abendmahlsfeier drei Gesichtspunkte, die dieses Nachdenken strukturieren können: die Tatsache, dass es sich beim Abendmahl um ein Fest handelt, der Aspekt des Mahls und die Frage, was dieses Festmahl als spezielles ‚Herrenmahl‘, als ‚christliches Abendmahl‘ charakterisiert. Indem er diese Gesichtspunkte in jeweils größere Gesamtzusammenhänge stellt, gewinnt Bader als Gliederungspunkte für seinen Abendmahlsentwurf die Bereiche Liturgik, Ökonomik und Ästhetik. In der folgenden Darstellung soll dieser Dreischritt jedoch nicht nachgezeichnet werden, sondern es soll zunächst entfaltet werden, wie Bader die für seinen Abendmahlsentwurf typische Charakterisierung des Mahls als ‚Wortentstehungsfeier‘ gedanklich entwickelt. In einem zweiten Schritt soll dann aufgezeigt werden, wie der Theologe das Thema ‚Gabe‘ in seine Überlegungen einbezieht. 2.2.2.1  Das Abendmahl als ‚Wortentstehungsfeier‘ Der Ansatzpunkt Baders bei der Liturgie führt ihn fast zwangsläufig zum Begriff der Feier, denn Liturgie vollzieht sich im Modus der Feier und gestaltet diese. Ein Blick auf die Forschung zum Thema ‚Fest‘ mache deutlich, dass dieses entweder als „Zustimmung zur Welt“ oder in Anschluss an Freud als gestatteter Exzess, als „feierlicher Durchbruch eines Verbotes“ verstanden werde.36 Am überzeugends34   Bader, Günter, Die Abendmahlsfeier. Liturgik, Ökonomik, Symbolik, Tübingen 1993. Baders Abendmahlsentwurf kann insofern als ‚liturgische Theologie‘ charakterisiert werden, als er die Liturgie als den Ort ansieht, an dem Theologie entsteht. 35   Bader, Abendmahlsfeier, 1. 36   Bader, Abendmahlsfeier, 5.

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2.  Die Rezeption der Theorien zur wechselseitigen Gabe

ten findet Bader jedoch das von Gerhard Marcel Martin vertretende Ineinander von beiden Aspekten. Er selbst weist jedoch darauf hin, dass all diese Festtheorien letztlich Deutungen bereithalten, also um den Sinn des Festes und damit um seinen sprachlichen Anteil kreisen. Festlichkeit entstehe jedoch vor allem dann, wenn der Mensch mit all seinen Sinnen beteiligt sei, bzw. wenn die einzelnen Sinne miteinander zu kommunizieren begännen. In dem Zusammenspiel der Sinne sieht Bader auch das seiner Ansicht nach jedes Fest bestimmende Moment des Exzesses gegeben und betont, dass Festlichkeit bedeute, im Alltag etwas anderes als Alltag zuzulassen. Im Moment des Exzesses berühre sich das Fest ebenso mit der Theologie wie im Moment der alles übersteigenden Affirmation: „Anders als durch Exzess ist nämlich die Qualität des Theologischen nicht erreichbar. Anders aber auch kein Fest. Für die Seite der Affirmation gilt dasselbe, nämlich dass sowohl in Fest wie in Theologie das Ja alle alltäglichen Ja übersteigt.“37 Der Theologiebegriff, den Bader bei dieser Aussage im Blick hat, ist in Anlehnung an die griechische Grundbedeutung des Wortes entwickelt, der zufolge unter θεολογία das „Lautwerden Gottes in seinem Namen samt Akklamation, Gebet, Gesang, Liturgie, Ausbreitung eines Mythos oder Logos“ zu verstehen ist.38 Damit wird deutlich, dass sich Theologie für Bader immer im Modus des Festes, des Liturgischen ereignet. „Gelingendes Nennen des Unnennbaren ist an sich festlich.“39 Nachdem Bader die dargestellte erste Zuordnung von Fest, Theologie und Liturgie vollzogen hat und deutlich wurde, dass letztlich auch die Abendmahlsfeier dazu dient, einen Raum zu eröffnen, in dem es um das „Nennen des Unnennbaren“, um das Nennen Gottes geht, wählt er eine zweite Zugangsweise und setzt sich mit der Etymologie des Wortes ‚Liturgie‘ auseinander. Λειτουργία bedeute seinem ursprünglichen „Wortsinn nach ein Wirken [. . .] das in Hinsicht auf das Gemeinwesen [. . .] erbracht wird“.40 Λειτουργίαι waren spezielle politische oder auch kultische Leistungen, die Begüterte für außergewöhnliche Staatszwecke zu erbringen hatten, die aber in späterer Zeit auch durch Geldleistungen abgelöst werden konnten. Bader legt großen Wert darauf, dass ‚Liturgie‘ ursprünglich eine Handlung, eine Tätigkeit darstellte, denn für ihn sind mit λειτουργία und θεολογία, also mit einem handlungsbasierten Geschehen und einem Wortgeschehen, genau die beiden Pole benannt, in deren Spannung das liturgische Geschehen eines Festes im weiteren und das Abendmahlsgeschehen im engeren Sinne steht. Er fasst diese Pole auch so, dass Liturgie zwischen einer dinglich geprägten Seite und einer wortdominierten Seite oszilliert, wobei die dingliche Seite in seinen weiteren Überlegungen zunehmend mit dem Begriff der Last, ja des Leides belegt 37

  Bader, Abendmahlsfeier, 8.   Bader, Abendmahlsfeier, 8. 39   Bader, Abendmahlsfeier, 19. 40   Bader, Abendmahlsfeier, 12. 38

2.2  Protestantische Ansätze

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wird und ein Wechsel zur wortdominierten Seite dementsprechend als Entlastung, als Erlösung betrachtet wird: „In doppelter und entgegengesetzter Richtung ist Liturgie lesbar: teils regressiv in Richtung unaufschiebbarer, unablösbarer Last, mit sich selbst, nicht mit einem Ablösungsmittel zu tragen, teils progressiv in Richtung Schiebenkönnen der Last durch hilfreiche Medien der Ablösung. Beides ist Liturgie, oder genauer: dies ist Liturgie, dass beide Richtungen sich gegenseitig überschneiden in einem ständigen Spiel von Belastung und Entlastung.“41

Die Liturgie selbst nimmt nach Baders Überlegungen eine Zwischenstellung zwischen Ding und Wort ein. „Ist Liturgie Einspielen von Sprache, Sprachwerdung, so hat sie Anteil an beidem, an Nicht-Sprache wie Sprache.“42 Im weiteren Verlauf seiner Überlegungen versucht Bader, diese Grundstruktur von Liturgie einerseits durch Überlegungen zum Thema Arbeit zu vertiefen, indem er herausstellt, dass jede Arbeit, jede Handlung mit dem Aspekt des SichMühens und damit des Leides verbunden ist, sowie durch Überlegungen zu den Themen Transport bzw. zur Metapher als sprachliche Form der Verschiebung. Zentral für seinen Gedankengang ist dabei die Metapherntheorie von Friedrich Nietzsche.43 Dieser hatte die Metapher nicht als Randphänomen der Sprache, sondern als Wurzel ihrer Genese betrachtet. In der Sprache gehe es um eine Loslösung von der Welt der Dinge mittels Metaphernbildung. Dabei vollziehe sich die schrittweise Loslösung von den Dingen durch „Gleichsetzen des Nicht-Gleichen“, durch eine „Übertragung in eine ganz neue Sphäre“.44 Im Falle des Abendmahls ist dieses Gleichsetzen von Ungleichem die Gleichsetzung von Jesu Leib mit Brot und Jesu Blut mit Wein: „Es ist die metaphorische Leistung der Abendmahlsfeier, dass in ihr das Nicht-Gleiche, Leib Jesu und Brot, Blut Jesu und Wein, gleichgesetzt wird trotz manifester Nicht-Gleichheit. Also wäre naheliegenden Versuchen, zwischen Leib und Brot, noch mehr zwischen Blut und Wein geistreich gleitende Analogien herzustellen, gerade der Riegel vorgeschoben. Die eigentliche Pointe ist die Nicht-Gleichheit, Brot als metaphorisches Fortlassen von Leib, Wein als metaphorisches Auf-Abstand-Kriegen des Blutes.“45

Wie oben bereits dargestellt, ermöglicht es die Liturgie den Feiernden nach Bader zwischen dem dinglichen Pol und dem wortbasierten Pol zu oszillieren. Im Abendmahl sei die reine Dinglichkeit, der sich mittels der Metaphern angenähert und von der sich wieder gelöst werde, im Leichnam Jesu gegeben. Dieser komme als Opfer von Gewalt stellvertretend für alle Gewaltopfer in den Blick und eröffne angesichts dieser Gewalt die Frage nach Gott. Diese Seite stelle im Abendmahl 41

  Bader, Abendmahlsfeier, 14.   Bader, Abendmahlsfeier, 11. 43   Bader bezieht sich hier auf Nietzsches Text „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“. 44   Bader, Abendmahlsfeier, 129. 45   Bader, Abendmahlsfeier, 131. 42

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2.  Die Rezeption der Theorien zur wechselseitigen Gabe

die Seite der Anamnesis dar. Ihr gegenüber stehe die eschatologische Erwartung, die liturgisch zum Ausdruck kommt durch die Bitte „Komm, Jesu, komm“.46 Die ausstehende und vom Abendmahl bereits in den Blick genommene, in der Abendmahlseulogie bereits anbrechende Erlösung ist nach Bader ein Zustand reiner Worthaftigkeit. „Wenn die Abendmahlsfeier in den liturgischen Zustand – Liturgie als Art Sprache, Zwischen – versetzt, in dem Dinge Sprache sind und Sprache zugleich Ding ist, und zwar so, dass sie nach rückwärts dem metaphernlosen Zustand bloßer Dinge enthebt, dann wird nach vorwärts ein Zustand sichtbar, in dem die Sprache ganz zu sich selbst gekommen ist und also bloßes Sprechen auch schon Handeln, Arbeit, Opfer ist, ja das Wort alle sinnlichen Bedürfnisse wie Riechen und Schmecken in sich aufgenommen hat und buchstäblich gilt: ‚dein Wort ist meine Speise‘.“47

2.2.2.2  Der Zusammenhang von Gabe und Abendmahl Das Thema Gabe spielt bei Bader in allen drei Unterabschnitten ‚Liturgik‘, ‚Ökonomik‘ und ‚Ästhetik‘ eine entscheidende Rolle, und zwar bei seinem Nachdenken über die Überlieferung, über das wechselseitige Geben als Kommunikationsmedium und über das Opfer. Eine Auseinandersetzung mit der Theorie von Marcel Mauss findet im mittleren Abschnitt zur ‚Ökonomik‘ statt. In der folgenden Darstellung soll mit dieser Rezeption von Mauss begonnen werden, weil es hier um das Thema ‚Gabe‘ im engeren Sinne geht, während sich die Reflexionen Baders zur ‚Überlieferung‘ und zum ‚Opfer‘ auf spezifische Gabephänomene beziehen. a)  Das wechselseitige Geben als Kommunikationsmedium Das Interesse Baders an der Gabetheorie von Marcel Mauss erklärt sich aus der Tatsache, dass die Gabe in ihrer Funktion als dingliches Kommunikationsmedium genau den Zwischenbereich zwischen Sache und Wort repräsentiert, den er als Charakteristikum von Liturgie bestimmt hat. Bader nimmt die Frage von Mauss, woher die bindende Kraft einer Gabe komme, und seinen Lösungsvorschlag, dass es sich dabei um eine das Ding beseelende Kraft, um das hau handele, auf und betont, dass es gerade das Moment des Gebens sei, dass eine Sache beseele. So kann Bader pointiert formulieren: „Nur als gegebene Dinge sind Dinge redende Dinge.“48 Dadurch, dass die Gabe durch das Geben zum Bedeutungsträger wird, sei sie, so Bader eine Form von Metapher. Und umgekehrt seien Metaphern, die ja immer auch von ihrem Bildgehalt, d. h. von ihrer dinglichen Unterfütterung leben, Gaben. Im Hinblick auf das Abendmahl mit seiner Dopplung von Gabe und den in den Einsetzungsworten enthaltenen Metaphern lasse sich schließlich sagen, 46

  Bader, Abendmahlsfeier, 157.   Bader, Abendmahlsfeier, 137. 48   Bader, Abendmahlsfeier, 68. 47

2.2  Protestantische Ansätze

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dass hier Wort und Sakrament bruchlos ineinandergriffen: „Das Zusammenspiel von Wort und Sakrament ist daher von der Art, dass in der Pause des Wortes die Dinge beginnen zu sprechen, also Worttheologie fugenlos zur Sakramentstheologie wird.“49 Bader interessiert jedoch noch ein zweiter Aspekt an Mauss’ Gabetheorie. Mauss hatte die Gabe als ein fait social total bezeichnet, als ein umfassendes Geschehen, das sowohl ökonomische und juristische als auch religiöse und ästhetische Facetten aufweist. Für Bader macht genau diese Einheit der in der heutigen Gesellschaft getrennten Sphären das Archaische der Gabe aus, und er betont immer wieder, dass das Abendmahl – obwohl es selbst nur ein partikulares Geschehen („Lebensbereich Religion, Abteilung Liturgie“) sei – den Anspruch erhebe, ein solch umfassendes, einheitliches Geschehen darzustellen, dass es beanspruche, das ‚Ganze‘ zu sein.50 b) Die Überlieferung Die erste Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Gabe‘ führt Bader im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Überlieferung. Diese kommt gleich im ersten Kapitel als Frage nach dem Anlass und damit auch des Spezifikums des Abendmahlfestes in den Blick. Die Fragestellung, die ihn in diesem Zusammenhang primär interessiert, ist die nach dem Verhältnis von göttlicher und menschlicher παράδοσις, von göttlicher und menschlicher Gabe. Menschliche παράδοσις könne, so Bader, immer nur im Zusammenhang mit παράλεπσις, das heißt mit dem Annehmen des Überlieferten gedacht werden. Es sei ein Zusammenspiel aus Geben und Nehmen. Göttliche παράδοσις hingegen sei durch Einseitigkeit gekennzeichnet. Dennoch könne gerade nicht durch Abzug der menschlichen Anteile zu einer göttlichen παράδοσις gelangt werden, sondern das Ineinander von göttlicher und menschlicher παράδοσις sei unhintergehbar.51 Deshalb kritisiert Bader im Hinblick auf das Abendmahl auch das historisch-kritische Vorgehen von Joachim Jeremias, der versucht, durch die methodischen Schritte der historisch-kritischen Exegese zwischen der Urparadosis Jesu und späteren Interpretationsschichten zu differenzieren. Gleichwohl betrachtet Bader wie Jeremias die Einsetzungsworte als Urparadosis, jedoch nicht, weil sie historisch-kritisch nicht mehr zu reduzieren seien, sondern weil hier der Text nicht auf andere Textpassagen Bezug nehme, auf sie verweise, sie quasi zitiere. Die Einsetzungsworte bildeten einen eigenständigen Text im Text. Dieser sei charakteristischer Weise eine Metapher, die den Feiernden noch einmal mit einer anderen Ebene konfron49

  Bader, Abendmahlsfeier, 72.   Bader, Abendmahlsfeier, 69. 51   Meines Erachtens ist die Frage nach dem Verhältnis von göttlicher und menschlicher Überlieferung ein Beispiel für die philosophischen Überlegungen zum Außerordentlichen, das im Ordentlichen aufscheint. 50

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2.  Die Rezeption der Theorien zur wechselseitigen Gabe

tiere. „Elementare Metaphern zeichnen sich dadurch aus, dass sie als Text im Text keines weiteren Textes Text mehr sind; als solche letzten Texte tragen sie ihr Wahrheitsrisiko an sich selbst.“52 Die Ebene, mit der die Metaphern der Einsetzungsworte den Feiernden konfrontieren, sei die Ebene der Handlungen und der Dinge. Einerseits seien in ihnen Worte und Gesten, Sprachgabe und dingliche Gabe verbunden, und zwar dergestalt, dass das auf der Handlungsebene vollzogene Geben und Nehmen Inhalt des sprachlichen Gebens und Nehmens sei, die Dinge jedoch, die auf der Handlungsebene gegeben werden, zwischen substantiellen Dingen und „Bedeutungsdingen“ changierten.53 Andererseits leuchte in der Metapher der Einsetzungsworte die hinter dem Abendmahl stehende Urparadosis der Preisgabe Jesu in den Tod auf. Nach der Darstellung des Nebeneinanders von dinglicher und sprachlicher παράδοσις im Abendmahl wendet sich Bader wieder der Frage nach der göttlichen παράδοσις zu und verweist darauf, dass im antiken Griechenland große Kulturgaben wie Feuer, Musik, Sprache, Dichtung als göttliche Gaben betrachtet wurden, dass „παράδοσις zuallerst als θεία δόσις“ verstanden wurde.54 Dass göttliche Gaben jedoch keineswegs nur positiv, sondern zutiefst ambivalent seien, zeige, dass Paulus seine Abendmahlsüberlieferung mit dem Verweis auf die Nacht, in der Jesu ‚dahingegeben werde‘, beginne und damit ein passivum divinum benutze,55 welches Gottes Urhebertum an Jesu Leiden verschleiere. Dass Gottes Gaben sowohl gut als auch böse seien können, führt Bader zu einem Gedankengang, den er in einem Kapitel zum Thema ‚Opfer‘ vertieft und der ein tragender Gedanke seines Abendmahlsentwurf wird: Eine Gabe ist nach Bader nur dann möglich, wenn auch ein Moment der Preisgabe erfolgt. c)  Das Opfer Der Gedankengang, dass jegliche Handlung mit Arbeit verbunden ist, Arbeit aber auch immer ein Moment des Mühens, ja Leidens umfasst, dass sie Opfer kostet, führt Bader zur Beschäftigung mit dem Begriff des Opfers. Er stellt drei Opfertheorien vor: Die Theorie Walter Burkerts, der das Opfer als eine gesellschaftliche Form ansieht, durch die die gegen Mitmenschen gerichtete Gewalttätigkeit von Menschen kanalisiert werden könne. Die Theorien von Marcel Detienne und Jean-Pierre Vernant, die die Möglichkeit, zu einem einheitlichen Opferbegriff zu gelangen, verneinen, und die Theorie Burkhard Gladigows, der das Opfer primär unter einem wirtschaftlichen Aspekt betrachtet. Es ist vor allem diese letzte Theo­rie, die Baders Gedankengang zum Abendmahl beeinflusst. Gladigow hebt in seinen Überlegungen hervor, dass beim Opfervorgang – abgesehen vom Ganz­ 52

  Bader, Abendmahlsfeier, 30.   Bader, Abendmahlsfeier, 31. 54   Bader, Abendmahlsfeier, 33. 55   Bader, Abendmahlsfeier, 32. 53

2.2  Protestantische Ansätze

139

opfer – stets zwischen einem Teil des Opfertieres, das für die Götter bestimmt sei, und einem Teil für die Menschen unterschieden werde. Mit dem für die Menschen bestimmten Fleisch werde Handel getrieben und es sei gerade charakteristisch, dass durch die Preisgabe eines Teils des Opfertiers ein höherer Gewinn für den anderen Teil erzielt werden könne, da das Fleisch nun anders, nämlich als Opferfleisch, qualifiziert sei. Bader ergänzt im Hinblick auf die mit den antiken Opfern in der Regel verbundenen Opfermähler, dass durch das Opfer im Sinne der Preisgabe eines Teils desselben nicht nur eine Steigerung des wirtschaftlichen Gewinnes, sondern auch der Kommunikation gegeben sei. „Opfer ist die bei jedem Kommunikationsbedarf fällige Teilung zwischen Kommunikablem hier und dafür dahingegebenem Inkommunikablem dort; und offenbar: je mehr hier, desto mehr dort.“56 Für Bader ist die Steigerung der Kommunikation bzw. des wirtschaftlichen Gewinnes durch die Preisgabe einer zu opfernden Größe ein generelles Phänomen. Davon ausgehend, gelangt er zu dem Ergebnis, dass das gesamte liturgische Abendmahlsgeschehen vom Moment des Opfers durchzogen sei. Für Bader ist die zunehmende Ablösung von der den einen Pol des liturgischen Geschehens markierenden Dinglichkeit durch eine zunehmende Metaphorisierung nur über den Weg des Opfers zu haben, etwa des materiellen Signifikanten zugunsten des immateriellen Signifikaten. Gleichwohl ist gerade das, was den äußersten Pol der Dinglichkeit für Bader markiert, nämlich das Leiden und Sterben Jesu, kein Opfer, aus dem Profit geschlagen werden könne. Bader verwehrt sich mit diesem Gedanken gegen ja bereits im Neuen Testament anzutreffende theologische Überlegungen nach dem ‚Um zu‘ von Jesu Sterben: „Mit dem Tod Jesu ist eine etwaige Relation von Kommunikation und dazu außer Kommunikation Gestelltem gänzlich aufgehoben. In ihm erscheint ein Maß an Leid, das durch nichts aufzufangen ist. Das Leiden Jesu ist derart maßlos, dass es sich nicht fruktifizieren lässt.“57 Die Abendmahlsliturgie ermögliche es dem Feiernden nicht nur, sich diesem Leid auszusetzen, weil sie die Möglichkeit bereithalte, wieder Abstand zu gewinnen. Sie eröffne auch den Blick auf den diesem absolut unsinnigen, unfruchtbaren Leiden entgegengesetzten Pol. Als Hoffnungsperspektive blitze im Abendmahl eine Form von Kommunikation auf, die keines Opfers mehr bedürfe, die Liturgie in ihrer Funktion des Sich-Distanzieren-Könnens von Last überflüssig werden lasse. Hier werde Kommunikation zur Hymnologie. Und so stehe im Abendmahl dem monströsen Opfer der Gesang als Opfer, das „Singopfer“ gegenüber.58

56

  Bader, Abendmahlsfeier, 150.   Bader, Abendmahlsfeier, 154. 58   Bader, Abendmahlsfeier, 156. 57

140

2.  Die Rezeption der Theorien zur wechselseitigen Gabe

Stellungnahme Günther Baders Versuch, das Abendmahl als liturgisches Geschehen ins Zentrum der systematischen Aufmerksamkeit zu rücken und dem Ineinandergreifen von Wortgeschehen und Dinglichem zentrale Aufmerksamkeit zu schenken, ist ausgesprochen interessant und vermittelt einen Eindruck von der Komplexität und Mehrdimensionalität des Abendmahls. Dass die Theorie von Marcel Mauss in diesem Rahmen Baders Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist wegen der bei ihm beschriebenen Zwitterstellung der Gabe zwischen Wort und Ding naheliegend. Baders Interpretation der Liturgie als eines Oszillierens zwischen den beiden Polen ‚Ding‘ und ‚Wort‘ hat allerdings zur Folge, dass er ‚Erlösung‘ nur als körperlosen Zustand fassen kann, was in einem deutlichen Kontrast zu biblischen Erlösungsvorstellungen steht.59

59

  Vgl. 1. Kor 15,35 – 49; Röm 8,23.

3.  Rezeption der Theorien zur einseitigen Gabe 3.1  Katholische Positionen 3.1.1  David N. Power: Die Eucharistie als ein das Moment der reinen Gabe einschließender Gabentausch Powers Buch „Sacrament. The Language of God’s Giving“ stellt den Versuch dar, postmoderne und hermeneutische Sprach- und Texttheorien auf die Sakramentenlehre zu beziehen.1 Intendiert wird dabei eine Sakramentenlehre, die die kulturell bedingte Vielfalt in der Ausprägung der Feier der Sakramente fokussiert und positiv würdigt. Das Thema ‚Gabe‘, dem Power zwar nur ein Kapitel widmet, ist für ihn aus mehreren Gründen zentral. Zum einen betont er, dass Sakramentstheologie stets eine Theologie sein muss, die sich an der Feier der Sakramente orientieren und diese reflektieren müsse. Diese betrachtet Power jedoch letztlich als ein Gabegeschehen, als ein Geschehen, in dem Gott den Feiernden sein Wort und seinen Geist als Gabe zukommen lässt und ihnen erst dadurch die Möglichkeit eröffnet, ihn kraft dieser Gaben als Geber zu feiern. Zum anderen betrachtet Power die ‚Gabe‘ als Schlüsselmetapher, um den tieferen Sinn der Sakramente zu beschreiben. Und schließlich sind die Texttheorien, von denen er sich leiten lässt – wenn auch nicht explizit – von dem Schema ‚Vorgabe und situationsbedingte Antwort‘ geprägt. So betont Power, dass jedes Sprechen und Schreiben ein Eintauchen in ein Netz von Referenzen darstelle, auf die der Sprechende bzw. Schreibende antwortet, und dass jedes Sprechen bzw. Schreiben mit dem vorhergehenden Gefühl des ‚Gemeintseins‘, des ‚Adressatenseins‘ beginne. Literatur und Kunst drückten die Welt so aus, wie sie von Menschen in einer bestimmten Zeit empfangen werde, und sie eröffneten zugleich einen kreativen Umgang mit dieser vorgegebenen Welt. Seine Reflexionen zum Thema ‚Gabe‘ sind dabei stark von den Gedanken JeanLuc Marions beeinflusst.2 Wie Marion lehnt Power jegliche Ontologie ab und sieht es als wichtige Aufgabe der Theologie an, Gott nicht als ultima causa zu denken. Und wie dieser sieht Power in einer Theologie der Gabe die Möglichkeit, zu unterstreichen, dass Gott dem menschlichen Verstehen letztlich entzogen ist, und 1

  Power, David N., Sacrament. The Language of God’s Giving, New York 1999.   Es ist allerdings darauf zu verweisen, dass Power Marion in seinen theologischen Überlegungen zur Rolle des Klerus für den Sakramentalvollzug nicht folgt, sondern seine philosophischen Prämissen und seine Überlegungen zur Ikone rezipiert. 2

142

3.  Rezeption der Theorien zur einseitigen Gabe

gleichzeitig Aussagen über die Gott-Mensch-Relation zu treffen. Powers Darlegungen kreisen um drei Themenschwerpunkte: um die Relation von göttlicher Gabe und dem in der Liturgie inszenierten ‚Gabentausch‘, um das Verhältnis von Gabe und Gottes Transzendenz wahrender Entzogenheit, sowie schließlich um die Wirkung der göttlichen Gabe auf den feiernden Gläubigen. Power benutzt für das Gabegeschehen im Abendmahl den Begriff „economy of gift“,3 obgleich er damit riskiert, in einer ökonomischen Weise missverstanden zu werden. Das Festhalten am Begriff ‚Ökonomie‘ ist ihm jedoch insofern wichtig, als er in direkter Linie zu dem griechischen Begriff οἰκονομία und dem lateinischen Begriff commercium steht. Und besonders letzterer erscheint Power dazu geeignet, um den ‚fröhlichen Wechsel‘ zu charakterisieren, den die Inkarnation des göttlichen Wortes bedeutet. Auf diesen Bezug legt Power großen Wert, weil für ihn die göttliche Gabe im Abendmahl gerade keine Reaktion auf das menschliche Geben im Abendmahl darstellt, das in der katholischen Liturgie in verschiedenen liturgischen Stücken zum Ausdruck kommt. Vielmehr sei die Gabe Gottes, die sich im ganzen Heilsgeschehen äußert, eine absolute ‚Vorgabe‘ zu jeder menschlichen Aktivität. Liturgische Stücke wie die Gabenbereitung hätten gerade nicht den Sinn, Gott seinerseits zum Geben zu bewegen, sondern vielmehr die feiernden Gläubigen in die Gabebewegung Gottes zu involvieren: „The fundamental reason, befitting this economy of exchange, why the Church brings its gifts is not to offer something to God, but to present them to God so that they might be taken up into the celebration of what God has given, and gives, in the Word made flesh.“4 Da Power die Voraussetzungslosigkeit der göttlichen Gabe betonen möchte, liegt es für ihn nahe, dass er zu einem Modell tendiert, das ein Moment der ‚einseitigen‘, ‚reinen Gabe‘ im liturgisch inszenierten Gabentausch erblickt. Er beruft sich in seiner Argumentation jedoch nicht auf Bernhard Waldenfels, sondern auf einen Aufsatz des Italieners Robert Bernasconi,5 der das Gabeverständnis von Derrida und Lévinas miteinander vergleicht und zu dem Ergebnis gelangt, dass nach Lévinas eine Gabe dann möglich sei, wenn sie nicht das Ziel habe, den Empfänger an den Geber zu assimilieren, sondern der Geber die Andersartigkeit des Empfängers akzeptieren könne. Lévinas beurteile die Möglichkeit der Realisierung einer solchen Gabe jedoch kritisch, so Bernasconi. Für das göttliche Geben bewertet Power dies jedoch anders: hier gewinne der Mensch durch Gottes Geben zwar Anteil an dessen Geist, Liebe und Vergebung, eine Verschmelzung von göttlicher und menschlicher Seite sei jedoch ausgeschlossen. Es komme nicht zu einer Vergottung des Menschen. Zudem betont Power einen Aspekt, der auch im Gabeverständnis von Derrida und Marion eine große Rolle spielt, nämlich dass eine wirkliche Gabe sich nie voll3

  Power, Sacrament, 276.   Power, Sacrament, 276. 5   Bernasconi, Robert, What Goes Around Comes Around: Derrida and Lévinas on the Economy of the Gift and the Gift of Genealogy, in: Schrift, Alain D. (Hg.), The Logic of the Gift. Toward an Ethic of Generosity, New York / London 1997, 256 – 273. 4

3.1  Katholische Positionen

143

ständig in Präsenz erschöpfe, sondern gerade Zukunft eröffne und verändere. Das göttliche Geben, so Power, intendiere, dass der Mensch mehr und mehr zu sich selber finde, und habe dabei eine eschatologische Komponente. Insgesamt lasse sich die Vorgängigkeit der göttlichen Gabe mit der alles eröffnenden Vorgängigkeit des Sagens vor dem Gesagten in der Philosophie Lévinas’ vergleichen. Bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen der durch die Gabe hergestellten Präsenz des Gebers und seiner die Gabe als Gabe wahrenden Entzogenheit lehnt sich Power wiederum eng an Marion an. Zunächst setzt er sich mit dem häufig formulierten Einwand auseinander, dass man, wenn man von Gabe spreche, automatisch einen präsenten Geber mitdenken müsse, wodurch man Gott auf den Rang eines Seienden verweise, und führt in seiner Argumentation M ­ arions Gedanken zur Ikonik ins Feld, um diesen Einwand zu entkräften.6 Schon in der Alten Kirche, etwa in den Überlegungen von Johannes von Damaskus und Pseudo-Dionysius, dienten die Ikonen der Kontemplation des Mysteriums Gottes. Nach Johannes von Damaskus reproduzierten die Ikonen die dargestellte Realität jedoch gerade nicht, sondern seien dazu da, das weder Sichtbare noch Fassbare kommunizierbar zu machen. Hinzu komme, wie Marion betone, dass der Bildlichkeit der Ikonen selbst ein aktives Moment zukomme, so dass der Betrachter eher das Gefühl habe, ergriffen zu werden, als selbst zu begreifen. Sowohl die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes in der Armseligkeit der Menschlichkeit Jesu Christi als auch die Elemente von Brot und Wein haben nach Power einen ikonischen Charakter. Brot und Wein seien letztlich Dinge des alltäglichen Lebens, die dafür ‚durchlässig seien‘, dass sich an ihnen die Realität der Erlösung zeige und für die Gläubigen zum Ereignis werde: „Bread, wine, oil, and water are images which first express human and cosmic life. It is in and through such images that the event and reality of redemption is shown forth, so that it can be known in how it enters in the power of Spirit into human living.“7 Im sakramentalen Geschehen kämen die ikonische Wirkung der Elemente, die deutenden Worte und die Rituale zusammen. So sei es gerade das Einbezogensein in die rituellen Praktiken, durch die die Elemente ihre Durchlässigkeit hinsichtlich des Heiligen gewönnen. Die entscheidende Funktion billigt der Theologe allerdings den Deuteworten zu, weil sie die Aufmerksamkeit der Feiernden auf die historische Gestalt Jesu Christi und die mit ihm verbundene Heilsgeschichte lenkten. Auch die die Deuteworte rahmende Liturgie habe eine wichtige Bedeutung, da die Danksagung und die Fürbitte den Gabecharakter der Sakramente zu Tage treten ließen und den Feiernden vergegenwärtigten, dass sie in erster Linie Empfänger sind. Ähnlich, wie es Marion in Bezug auf die gesättigten Phänomene beschreibt, ist Power in Bezug auf die in den Sakramenten zuteilwerdende Gabe Gottes der 6

 Vgl. Marion, Jean-Luc, Gott ohne Sein, übers. v. Letzkus, Alwin, Paderborn 2014, 23 – 49. [Dieu sans l’être, Paris 1991] 7   Power, Sacrament, 283.

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3.  Rezeption der Theorien zur einseitigen Gabe

Auffassung, dass sie für die Gläubigen nicht ‚an und für sich‘ erkennbar sei, sondern lediglich aufgrund der Wirkungen, die sie auf ihre Empfänger habe. Er vertritt dabei die Auffassung, dass Rituale dem Menschen die conditio seiner eigenen Existenz ins Bewusstsein rufen, etwa die eigene Endlichkeit, das Eingebundensein in kosmische Zusammenhänge, die historische Prägung des eigenen Denkens und Fühlens. Durch die Rituale werde dem Menschen seine eigene Begrenzung vor Augen geführt. Die sich in den Sakramenten vollziehende göttliche Gabe befähige den Menschen jedoch dazu, die eigenen Grenzen auf die eine oder andere Weise zu transzendieren, sei es, indem sie ihm eine andere Art zu handeln eröffne, sei es, indem sie ihn in seiner Hoffnung über den Tod hinaus bestärke: „Though the gift itself that is offered in sacrament cannot be thought in the terms of human being, acting, and suffering, nor within the time frame of human existence, from the side of the human it can be thought as a way of being that is given. The gift is addressed to participants with the possibilities of living and loving in a way that transcends the boundaries that circumscribe being in this world, even if on condition that one consents to these boundaries as the conditions of life.“ 8

Stellungnahme Power beschreibt den im Ritual inszenierten Gabentausch als eine Art ‚Rahmen‘ für die sich in ihm vollziehende ‚reine‘ Gabe Gottes. Dies ist vorteilhaft, weil er auf diese Weise eine Parallelisierung von zwischenmenschlicher Interaktionsform und göttlichem Wirken umgeht. Obwohl Power nicht auf Dalferths Charakterisierung einer Gabe als der Eröffnung einer Möglichkeit rekurriert, gehen seine Gedanken zum Abendmahl in eine ähnliche Richtung, wenn er darauf verweist, dass die göttliche Gabe des Abendmahls Wirkungen zeitigt, und er diese als Befähigung zu einem durch den Glauben getragenen Umgang mit den Begrenzungen und der Endlichkeit des menschlichen Daseins beschreibt. Allerdings hätte man sich an dieser Stelle weitere Ausführungen dazu gewünscht, inwiefern das Ritual des Abendmahls die Begrenzungen des Daseins verdeutlicht und durch die Erschließung der Selbsthingabe Gottes zugleich zu tragen hilft. 3.1.2  Jean-Luc Marion: Das Abendmahl als Gabe einer neuen Zeitlichkeit Wie bereits im soziologisch-philosophischen Gabediskurs erwähnt, hat JeanLuc Marion auch theologisch gearbeitet und unter anderem Überlegungen zur Eucharistie als Gabegeschehen veröffentlich. Die in seinem theologischen Hauptwerk „Gott ohne Sein“9 entfaltete Abendmahlstheologie zeugt in hohem Maße 8

  Power, Sacrament, 290.   Im Folgenden soll sich auf die Ausführungen in seinem Buch „Gott ohne Sein“ konzentriert werden, vgl. Marion, Gott. In ihm finden sich neben den Ausführungen zur Eucharistie als Gabe auch Überlegungen zur Eucharistie als dem Ursprung einer christlichen Hermeneutik, die in der folgenden Darstellung aber unberücksichtigt bleiben. Einen Einblick zu Marions Abendmahlstheo9

3.1  Katholische Positionen

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von einer konservativen katholischen Position, vor allem, weil Marion mit seiner Argumentation versucht, die Transsubstantiationslehre zu verteidigen. Interessant an seinem Ansatz ist jedoch, dass er das Zeitverständnis Heideggers, wie es im Teil I dieser Arbeit in der Darstellung von „Zeit und Sein“ skizziert wurde, auf das Abendmahl überträgt und dadurch einen Beitrag zur Frage nach der Präsenz Christi im Abendmahl leistet.10 Marions Überlegungen kreisen um die Frage, wie eine Deutung des Abendmahls der Gefahr der Idolatrie entkommen kann. Um diese Frage richtig einzuordnen, muss man um die Unterscheidung Marions zwischen Idol und Ikone wissen. Nach Marion liegt der Unterschied zwischen einem Idol und einer Ikone in der Art der Verehrung des Göttlichen. Ein Idol sei dadurch gekennzeichnet, dass es für den betrachtenden Blick des Sinn suchenden Menschen zu einem Fixpunkt werde, der den Blick an sich binde und damit der Suchbewegung ein Ende bereite. Ferner stellt Marion heraus, dass sich im Idol der Blick erschöpfe, und spielt dabei mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs ‚Erschöpfung‘. Einerseits meint er damit, dass der Suchende sich bei seiner Suche verausgabt hat und das Idol ihm die Möglichkeit bietet, von seiner Suche abzulassen, andererseits weist er mit der Verwendung des Begriffs darauf hin, dass sich der Suchende vom Idol suggerieren lässt, dass das, was er vom Göttlichen erkennen kann, allumfassend, erschöpfend sei. Damit suggeriert das Idol ihm zugleich, dass das Göttliche im Sichtbaren aufgehe, vollständig erkennbar und handhabbar sei. Dadurch, dass das Idol durch seinen Glanz blende, verdunkle es zugleich, dass durch seine Fokussierung Ausblendung geschehe. Marion merkt an, dass dem Idol eine Spiegelfunktion innewohne, dass daran, was für einen Menschen zum Idol werde, die Reichweite seiner Intentionen erkennbar sei, ohne dass dies dem vom Idol Geblendeten bewusst sei. Im Hinblick auf das Göttliche heißt das für Marion, dass bei einem Idol der Offenbarungsraum Gottes daran bemessen werde, was der menschliche Blick von ihm ertragen könne. Bei einer Ikone hingegen falle die Herrlichkeit des Göttlichen auf etwas Irdisches, das nicht den Anspruch der Ähnlichkeit zum Göttlichen erhebe, und scheine in ihm auf. Durch diesen Vorgang werde das Unsichtbare als Unsichtbares kenntlich. Den Anspruch, das Unsichtbare in der Sichtbarkeit zu reproduzieren, es in die Sichtbarkeit zu überführen, erhebe die Ikone jedoch nicht. Stattdessen ziele

logie in Gänze bietet: Holping, Helmut, Christus praesens. Die Gabe der Eucharistie und ihre Zeitlichkeit, in: Bruckmann, Florian (Hg.), Phänomenologie der Gabe. Neue Zugänge zum Mysterium der Eucharistie, Freiburg / Br. 2015, 197 – 218. 10   Der von Marion verfolgte Ansatz, die ‚Präsenz Christi‘ im Abendmahl neu zu deuten, indem man sie unter Zuhilfenahme eines von philosophischer Seite neu entfalteten Zeitverständnisses interpretiert, wird auch in neueren theologischen Arbeiten weiterverfolgt. Als Beispiel sei verwiesen auf den Aufsatz von René Dausner „Realpräsenz und Diachronie“, in der er das Zeitverständnis von Lévinas auf das Abendmahl bezieht, vgl. Dausner, René, Realpräsenz und Diachronie. Die Eucharistielehre in zeittheoretischer Perspektive, in: Bruckmann (Hg.), Phänomenologie, 219 – 242.

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3.  Rezeption der Theorien zur einseitigen Gabe

sie darauf, dass die Suchbewegung des Suchenden über sie selbst hinausgehe: „Die Ikone dagegen versucht, das Unsichtbare als solches sichtbar zu machen, das heißt zuzulassen, dass das Sichtbare nicht aufhört, an ein anderes als es selbst zu verweisen, ohne dass allerdings dieses andere jemals in ihm reproduziert würde.“11 Bedenkt man, dass auch Begriffe und theoretische Systeme nach Marion als Idol bzw. als Ikone wirken können, je nachdem, ob sie definierend nach der Wirklichkeit, der sie sich widmen, ausgreifen oder versuchen, dieser um des Preises der Aufgabe eines geschlossenen Systems nachzuspüren, wird deutlich, warum Marion in seinen Überlegungen zum Abendmahl die klassische Transsubstantia­ tionslehre und die modernere Transsignifikations- bzw. Transfinalisationslehre auf den Vorwurf der Idolatrie hin untersucht. Marion geht es darum, das Abendmahl als ein Geschehen darzustellen, in dem die sich hingebende Liebe Gottes den Menschen ergreift, als ein Gabegeschehen, in das der Mensch involviert wird und an dem sich jede Theoriebildung zu messen hat – nicht umgekehrt. In seinen Ausführungen zum Abendmahl weist Marion zunächst die Kritik an der Transsubstantiationslehre zurück, sie stelle lediglich eine Übertragung der aristotelischen Philosophie auf die Theologie dar, sieht aber dennoch die mit ihr verbundene Schwierigkeit, dass die Präsenz Christi als substantielle Gegenwart gedacht wird. Dies berge die Gefahr, dass die Präsenz Christi als für die Kirche verfügbar gedacht werde: „Die substanzielle Gegenwart lässt also die Person zu einer Sache erstarren und gerinnen, die verfügbar, beständig, handhabbar und genau umschrieben ist.“12 Aus dem Drang, sich Gottes durch Verdinglichung zu versichern, seien Bräuche wie die der eucharistischen Reserve entstanden, die Marion für abwegig hält. Vor allem aber sieht er die Gefahr, dass die Vorstellung der Verfügbarkeit der Präsenz Christi durch die Kirche dahingehend instrumentalisiert werde, dass mit ihr der Versuch unternommen werde, Bedeutung und Identität der Gemeinschaft abzusichern. Doch auch die Versuche in zeitlicher Nähe zum zweiten Vatikanischen Konzil, die Transsubstantiation im Sinne einer Transsignifikation oder Transfinalisation zu präzisieren, sieht Marion der Gefahr der Idolatrie ausgesetzt, wobei diese jedoch anders gelagert sei.13 Es sei auffällig, dass diese Entwürfe zwar die Präsenz Christi in den Elementen in Frage stellen, nicht jedoch den Präsenzgedanken an sich. Ort der Präsenz Christi seien nun nicht mehr die Elemente, sondern das kollektive Bewusstsein der Feiernden: „Die Gegenwart – die aufhört sich auf eine res zu stützen – hängt von nun an vollständig von dem Bewusstsein ab, das die in der Kommunion verbundene Gemeinschaft von ihr hat. Und

11

  Marion, Gott, 38.   Marion, Gott, 252. 13   Eine ausführliche Darstellung und Erörterung der unter den Begriffen Transsignifikationsbzw. Transfinalisationslehre zusammengefassten theologischen Entwürfe findet sich bei Slenczka, Notger, Realpräsenz und Ontologie. Untersuchung der ontologischen Grundlage der Transsignifikationslehre, Göttingen 1993. 12

3.1  Katholische Positionen

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deshalb verschwindet auch jede sinnlich wahrnehmbare Vermittlung: Das Brot und der Wein dienen als bloß wahrnehmbare Stütze für einen Prozess, der sich allein im Geiste abspielt – die kollektive Bewusstwerdung der Gemeinschaft durch sich selbst.“14

Problematisch für Marion ist, dass auch in diesem Modell Gottes Gegenwart von Menschen abhängig gedacht werde, da die göttliche Gegenwart nur vorstellbar sei, solange das kollektive Bewusstsein diese empfinde bzw. ihre Aufmerksamkeit auf sie richte. Auch diese Vorstellung beinhalte – wenn auch auf einer abstrakteren intellektuellen Ebene – ein Verfügen über Gott. „Die (menschliche und vorgestellte) Gegenwart gebietet über die göttliche Gegenwart.“15 Marion wertet diese Form der ‚Idolatrie‘ sogar als die weiterreichende, weil bei der Transsubstantiationslehre wenigstens davon ausgegangen werde, dass das Bewusstsein in der Form der Hostie mit einem Anderen seiner selbst konfrontiert sei, dass es zu einer Begegnung mit dem Anderem komme: „Indem die glaubende Gemeinschaft sich des Dinges bewußt wird, in dem die eucharistische Gegenwart konkrete Gestalt annimmt, wird sie sich nicht ihrer selbst bewusst, sondern etwas anderem, des Anderen par excellence. Auf diese Weise vermeidet sie, auch auf die Gefahr hin, einer materiellen Idolatrie zu verfallen – die höchste und zugleich am subtilsten verborgene Idolatrie, in der das Bewusstsein für sich selbst zum Idol Christi wird.“16

Nach Marion liegt die Schwierigkeit der in der Transsignifikations- und Transfinalisationslehre angebotenen Deutung der Präsenz Christi auch in der ihnen zugrunde liegenden Vorstellung von Präsenz allgemein. Dieser Vorstellung von Präsenz als das, was das Bewusstsein im Moment affiziert, stellt Marion ein Verständnis von Präsenz gegenüber, das er aus der Übertragung des Zeitverständnisses Heideggers auf das Abendmahl gewinnt. Es ist vor allem die von Heidegger hervorgehobene Verschränkung und wechselseitige Qualifizierung der drei Zeitmodi, die Marion für das Abendmahl geltend macht: „Mit dem Wort ‚Zeit‘ meinen wir aber nicht mehr das Nacheinander der Jetztfolge. [. . .] Zeit-Raum nennt jetzt das Offene, das im Einander-sich-reichen von Ankunft, Gewesenheit und Gegenwart sich lichtet.“17 Ein Beispiel für das Einander-sich-reichen, von dem Heid­ egger spricht, wäre etwa, dass sich durch ein vergangenes Geschehen für einen Menschen Möglichkeiten eröffnen und diese Möglichkeiten als erdachte, erhoffte Zukunft zum Maßstab für die Wahrnehmung und das momentane Handeln werden. Mit anderen Worten: der Moment wird von einem Menschen immer gedeutet, inhaltlich qualifiziert, und diese inhaltliche Qualifizierung des Moments ergibt sich aus den in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen und der aus ihnen resultierenden, für die Zukunft erhofften Visionen. Im Hinblick auf das Abendmahl hebt Marion zunächst die Bedeutung des Gedenkens hervor und unter14

  Marion, Gott, 257.   Marion, Gott, 257. 16   Marion, Gott, 260. 17   Heidegger, ZS, 14 f. 15

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3.  Rezeption der Theorien zur einseitigen Gabe

streicht, dass es sich dabei um ein Verständnis von ‚Gedenken‘ ganz im Sinne der jüdischen Tradition handele, also nicht um eine Erinnerung an abgeschlossene vergangenen Geschehnisse, sondern um eine Rückbesinnung auf ein zurückliegendes Geschehen, das durch seine Bedeutung die Gegenwart präge: „Die Vergangenheit ist also weit davon entfernt, sich als Nicht-Gegenwart oder als längst vergangene Wirklichkeit bestimmen zu lassen, sondern sie beherrscht durch die uneinholbare Vorgänglichkeit und endgültige Abgeschlossenheit ihrer ‚Vorgabe‘ ein Heute, das ohne sie unbedeutsam, kurz gesagt, null und nichtig wäre – unwirklich. Das Gedenken verwandelt das Vergangene in eine entscheidende Wirklichkeit für die Gegenwart [. . .].“18

Im jüdischen Sinne sei Gedenken in der Regel ‚Gedenken an die göttliche Zusage‘ und ein Flehen um das Wirksamwerden dieser Zusage in der Gegenwart. Im Abendmahl werde an die göttliche Selbsthingabe in Christus gedacht, sowie an Inkarnation und Auferstehung, die Marion als Unterpfand für die ausstehende menschlichen Erlösung und Vollendung durch Gott begreift. Die Liturgie des Abendmahls mache deutlich, dass das Gedenken die Feiernden im Abendmahl auf die Erwartung der Parusie ausrichten soll. Die Hoffnung auf Vollendung wiederum qualifiziere die Gegenwart des Abendmahls inhaltlich. „Das gegebene Unterpfand, das zur Feier des Gedächtnisses führt, nimmt nun die Zukunft vorweg, sodass sich die Gegenwart ganz und gar aus dieser konkreten Vorwegnahme ereignet.“19 Ohne dies weiter auszuführen, merkt Marion an, dass die Prägung der Gegenwart des Abendmahls durch die erhoffte Zukunft auch dazu führe, dass im Abendmahl eine Ahnung von dem Menschen greifbar werde, der der Mensch angesichts der Liebe Gottes einmal sein werde. Durch die Verschränkung von Gedenken und Parusieerwartung werde die Gegenwart des Abendmahls qualifiziert. Die Gegenwart entstehe durch die Verschränkung, werde gestiftet, ereigne sich für die Feiernden. Dieses Ereignis der ‚eucharistischen Gegenwart‘ hat für Marion Gabecharakter, d. h. es ist ein Geschehen, das dem Zugriff der feiernden Menschen entzogen ist und sie zugleich neu positioniert. Letztlich ist für Marion die Selbsthingabe Christi, in der die Hingabe der Liebe greifbar werde und die auf die Eingliederung der Feiernden in den geistigen Leib Christi ziele, die zentrale Gabe des Abendmahls. Diese Gabe bringe als ‚weitere Gabe‘ eine Neuqualifizierung der Gegenwart, eine ihr gemäße, von ihr durchdrungene Gegenwart mit sich: „Die eucharistische Gegenwart ereignet sich für uns in jedem Moment als Gabe dieses Momentes selbst und, in ihm, des Leibes Christi, in den es sich einzugliedern gilt.“20 Marion weist dem Gebet im Rahmen der als Gabegeschehen interpretierten Eucharistie eine herausragende Rolle zu, weil sich der Feiernde in ihm auf das Gabegeschehen einlasse. Dabei betont er die bleibende Bedeutung der Vorstellung 18

  Marion, Gott, 267 f.   Marion, Gott, 269. 20   Marion, Gott, 271 f. 19

3.1  Katholische Positionen

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von den konsekrierten Elementen, weil nur durch sie dem Betenden das Andersheit Gottes gegenüber dem eigenen Ich vor Augen gestellt werde: „Ich kann meinen Zugang zur eucharistischen Gegenwart nur dann verändern – und mich an ihren Dimensionen ausrichten, wenn die eucharistische Gegenwart selbst sich von mir unterscheidet sowie auch von dem Bewusstsein, das ich selbst von mir (das wir selbst von uns) anlässlich ihres Ereignisses habe. Man muss eine Distanz einräumen, damit der Andere darin die Bedingungen für meine Vereinigung mit ihm darlegen kann. Nun ist es aber allein die Theologie der Transsubstantiation, die eine solche Möglichkeit der Distanz anbietet, da sie ja streng zwischen meinem Bewusstsein und demjenigen, der es hervorruft, trennt.“21

Insofern erscheint Marion die Transsubstantiationslehre, bei aller idolatrischer Gefahr, die sie in sich berge, den Vorgang des Abendmahls doch angemessen zu interpretieren. Stellungnahme Im Hinblick auf die Transsubstantiationslehre sieht Marion einerseits die mit ihr verbundene Schwierigkeit, dass in ihr die Gegenwart Christi substantiell gedacht wird, andererseits betont er jedoch auch die Notwendigkeit einer medialen Vermittlung des Heils, einer Vermittlung, bei der sich der gläubige Mensch mit einer für ihn externen Größe auseinandersetzen kann. Beide Aspekte beschäftigten auch die Auseinandersetzung der Reformatoren mit dem Abendmahl, wobei Luthers Lösung befriedigender erscheint als die letztendliche Festschreibung der Transsubstantiationslehre durch Marion, da Marion die problematische Vorstellung der substantiellen Gegenwart Christi um der medialen Vermittlung willen in Kauf nimmt, während Luther von einer wirklichkeitssetzenden sprachlichen Zuschreibung ausgeht, durch die die Präsenz Christi mit dem Elementen verbunden ist.22 Marions Überlegungen zum Abendmahl sind aber weniger wegen seiner Ausführungen zur Transsubstantiationslehre von Interesse, als vielmehr wegen seiner Übertragung des Heideggerschen Zeitverständnisses auf das Abendmahl. Diese Übertragung ist im Hinblick auf die Frage nach der Art der Präsenz Christi im Abendmahl bedenkenswert. Für Marion bedeutet die Präsenz Christi im Abendmahl, dass der aktuelle Moment der Feier inhaltlich durch das sich in Jesu Geschick ausdrückende, für die Menschen bestimmte göttliche Heil und seine erhofften zukünftigen Implikationen qualifiziert wird, dass das Jetzt durch die vergangene Lebensgeschichte Jesu und die in ihr aufscheinende göttliche Zukunft für die Menschen geprägt wird. Christi Präsenz als eine inhaltliche Qualifizierung der Gegenwart zu begreifen, ist ein verfolgenswerter Ansatz, allerdings versäumt es Marion, die durch die Verschränkung von Vergangenheit und Zukunft entstehende ‚eucharistische Gegenwart‘ noch einmal verstärkt mit der Alltagsgegenwart der Feiernden zu verschränken. 21

  Marion, Gott, 273.   Siehe dazu Kap. 3.2.

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3.  Rezeption der Theorien zur einseitigen Gabe

3.2  Protestantische Position: Philipp Stoellger – Das Abendmahl als Gabegeschehen ereignislogisch durchdacht Philipp Stoellger stellt sich in seinem Aufsatz „Von realer Gegenwart im Abendmahl. Paradoxien der Gabe der Gegenwart und der Gegenwart der Gabe, oder: ‚Materialität, Präsenz, Ereignis‘“ die Aufgabe, das Abendmahl als Gabegeschehen zu interpretieren.23 Dabei trifft er zunächst die Feststellung, dass die Gabemetapher in Bezug auf das Abendmahl in der Regel dazu herangezogen werde, um der Interpretation des Rituals, der „Pointe des Geschehens“ „metaphorische Prägnanz“ zu verleihen,24 d. h. um die Anschaulichkeit seines tieferen Sinnes zu erhöhen. Die Diskussion um den Gabebegriff in der Soziologie und Philosophie zeige jedoch, wie interpretationsbedürftig der Interpretant ‚Gabe‘ sei. Zudem gibt sich Stoellger davon überzeugt, dass nicht nur die ‚Gabe‘ zur Interpretation des ‚Abendmahls‘ herangezogen werden könne, sondern auch umgekehrt das ‚Abendmahl‘ zur Interpretation von ‚Gabe‘ beitrage und zwar insofern, als das Abendmahl mit seinem Nebeneinander von Deixis und Lexis darauf aufmerksam mache, dass es sich bei der Gabe nicht einfach um eine sprachliche Metapher, sondern um ein „Interaktions- und Interpassionsgeschehen“ handele.25 Innerhalb des Gabediskurses verortet sich Stoellger auf der Seite der Autoren, die Gabe und Tausch als eine Leitdifferenz betrachten und die Gabe als irreziprokes, asymmetrisches Geschehen ansehen. Eine Gabe werde gerade nicht aufgrund einer Verpflichtung gegeben, sondern stelle einen „spontanen Akt der Freiheit des Gebers“ oder aber einen „nicht-intentionalen Effekt“ dar.26 Für Stoellger ist die Differenz zwischen Tausch und Gabe im Grunde die Differenz zwischen dem, was nach dem Muster einer festgelegten Ordnung geschieht, und dem Außerordentlichen. In seiner Verhältnisbestimmung beider Größen folgt er Bernhard Waldenfels, der ein unverrechenbares Moment von Gabe, also von Außerordentlichem, im der Ordnung folgenden Gabentausch erblickt, macht aber auch geltend, dass es vorgängig zu allen Tauschprozessen ein Moment von Gabe geben müsse, das diese Prozesse erst eröffnet.27 „Der Zirkel des Tausches lebt wie jede Kommuni23   Stoellger, Philipp, Von realer Gegenwart im Abendmahl. Paradoxien der Gabe der Gegenwart und der Gegenwart der Gabe, oder: ‚Materialität, Präsenz, Ereignis‘, in: Hoffmann, Urwort, 73 – 97. 24   Beide Formulierungen Stoellger, Abendmahl, 74 f. 25   Stoellger, Abendmahl, 75. 26   Stoellger, Philipp, Gabe und Tausch als Antinomie religiöser Kommunikation, in: Tanner, Klaus (Hg.), Religion und symbolische Kommunikation, Leipzig 2004, 185 – 222, beide Formulierungen hier: 197. 27   Als Beispiel dafür, dass der Gabentausch als Grundlage für seine Existenz ein Jenseits seiner selbst bedürfe, verweist Stoellger auf die ethnologisch-soziologische Arbeit von Maurice Godelier, der im Anschluss an Annette Weiner herausgearbeitet hat, dass es bei den Völkern, bei denen der Gabentausch im Sinne eines fait social total noch existiert, immer heilige Güter gebe, die nicht getauscht werden dürfen, vgl. Godelier, Maurice, Rätsel, 18. Ihr Verbleib in der Familie sichere deren Identität und sei als solche der durch den Gabentausch entstehenden Kommunikation zwischen

3.2  Protestantische Position: Philipp Stoellger

151

kation von Latenzen, die ihm entzogen sind und nicht zur Disposition stehen.“28 Aus der Zuordnung von Gabe und Außerordentlichem ergibt sich für Stoellger automatisch die Schwierigkeit der Thematisierung von Gabe. Aus der Waldenfelsschen Theorie, dass die Gabe ein außerordentliches Moment in der Ordnung des Tausches darstellt, zieht Stoellger den Schluss, dass der Modus der Gabe der der „glücklichen Kontingenz“ sei.29 Der Gedanke, dass Gaben nicht machbar sind, sondern glücken müssen, durchzieht auch die gesamten Ausführungen Stoellgers zum Abendmahl. Hier benutzt er jedoch in Anlehnung an Derrida und andere französische Denker den Begriff des Ereignisses, um das Moment der der Intention der Akteure entzogenen „glückenden Kontingenz“ zu umschreiben. „Gabe ist nicht Akt, sondern wenn Gabe ist, dann ist sie Ereignis: eine Konstellation, in der mehrere beteiligt sind, auch mehrere Intentionalitäten. Das Gelingen oder Wirken des Ereignisses ist aber nicht eine Funktion dieser Intentionalitäten.“30 An drei Themenkomplexen macht Stoellger deutlich, wie das Abendmahl als Gabe ereignislogisch zu denken sei, nämlich an der Frage nach der Stiftung des Abendmahls durch Jesus, am Verhältnis von Abendmahl und Jesu Tod, sowie an der Frage nach dem Ineinander von göttlichem und menschlichem Anteil an der Überlieferung bzw. der Rolle der das Abendmahl bestimmenden Metaphorik. 3.2.1  Die Stiftung des Abendmahls als geglückte Gabe Folge man den Erzählungen vom letzten Mahl, so werde hier von der Einsetzung eines Rituals durch Jesus berichtet. Die Entstehung des Rituals sei ein Vorgang, bei dem das Außerordentliche – nämlich das letzte Mahl Jesu – durch die Wiederholung der Jünger in eine Ordnung gegossen werde. Das letzte Mahl Jesu stehe insofern außerhalb jeder Ordnung, als es zwar im Rahmen des jüdischen Passahfestes stattfinde, dieser Rahmen durch Jesu Zeichenhandlung jedoch gesprengt werde. Die Ordnung des jüdischen Passahfestes werde überschritten, die des christlichen Abendmahls sei jedoch noch nicht vorhanden. Die Gabe des Rituals des Abendmahls sei jedoch keine Gabe, die im Möglichkeitsbereich Jesu gelegen habe, denn ob diese Gabe glücken werde, hänge von den Gabenempfängern ab, denen sich die Gabe als solche erschließen müsse. Insofern sei die durch die Gabe von Brot und

Identitäten vorgeordnet. Dass diese dem Gabentausch vorgeordneten Größen auch den Charakter einer Gabe haben können, verdeutlicht Stoellger am Beispiel der Taufe, die identitätsstiftend sei und so einen Ermöglichungsgrund des Lebensvollzuges darstelle. Stoellgers Argumentation richtet sich an dieser Stelle gegen eine Verabsolutierung des Austausches als alleiniges Paradigma im Strukturalismus, sowie weiterführend gegen eine Verabsolutierung von Kommunikation als Paradigma. 28   Stoellger, Gabe und Tausch, 210. 29   Stoellger, Gabe und Tausch, 217. 30   Stoellger, Abendmahl, 84.

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3.  Rezeption der Theorien zur einseitigen Gabe

Wein symbolisierte Selbsthingabe Jesu ein Akt des Auslieferns an die Empfänger gewesen: „Nicht in aller Vollmacht, sondern in aller Ohnmacht gibt er, was ihm geblieben ist und was bleibt. Und selbst das, was ihm geblieben ist, gibt er hin und weg. Nicht als einer der beati possidentes gibt er, sondern er gibt, was er nicht hat – sich selber in seinem Tod. Er gibt, was ihm übergeben wurde, die Vergebung (und deren Weitergabe). Er gibt, was er nicht machen kann, in aller Machtlosigkeit: die Versöhnung untereinander und mit Gott. Er gibt Ungeheures und Außerordentliches – aber nicht ‚aus seinem Eigentum‘, nicht aus dem ‚thesaurus gratiae‘, sondern er gibt, was erst wird, indem es gegeben wird.“31

Dass das Glücken der Gabe keineswegs selbstverständlich sei, zeige die Sprachund Handlungsunfähigkeit der Jünger angesichts des Todes Jesu. Erst in der erneuten Feier des Abendmahls im Lichte von Ostern bekomme das Abendmahl für die Jünger den Charakter einer Gabe. Wie auch in seinen allgemeinen Überlegungen zur Gabe, billigt Stoellger in seinen Ausführungen zum Abendmahl dem Außerordentlichen den Rang zu, die Ordnung, in die es eingeht, kritisch zu hinterfragen. So sieht Stoellger in der Machtlosigkeit von Jesu Geben in der Urszene des Abendmahls eine kritische Anfrage an alle kirchlichen Tendenzen, die das Abendmahl als Machtinstrument missbrauchen. 3.2.2  Der Tod Jesu als Gabe erfahren und gedeutet Die Frage nach der Souveränität bzw. Passivität des Gebens kehre, so Stoellger, wieder, wenn man sich dem Tod Jesu am Kreuz zuwende, den die Gabe von Brot und Wein im Abendmahl interpretiere und in Erinnerung bringe. In den biblischen Deutungen gebe es ein Nebeneinander von Aussagen, die von Jesu Selbsthingabe sprechen, von einem Hingeben des Sohnes durch den Vater und Hinweisen darauf, dass Jesu sein Leben gewaltsam von der Obrigkeit genommen wurde. Stoellger insistiert darauf, dass Jesu Tod – anders etwa als ein selbstgewählter Freitod – kein autonomer, selbstbestimmter Akt gewesen ist, sondern äußerste Passion. Diese Passion durch die Metapher der Selbsthingabe zu deuten und diese Selbsthingabe durch Wendungen wie ‚Für euch gegeben‘ als ein Geschehen zugunsten von Jesu Jüngerschaft zu qualifizieren, sei ein ambivalentes Unterfangen, weil dadurch dem als Gabe verstandenen Tod Jesu eine Intentionalität eingeschrieben werde, die ihn leicht als souveränen Akt missverstehen lasse. Den Tod als äußerste Form von Nichtintentionalität als Gabe zu deuten, sei wiederum nur dann möglich, wenn man Gabe als eine Größe begreife, die dem Möglichkeitsbereich des Gebers entzogen sei, sich jedoch ereignen könne, wenn etwas als Gabe wirke: „Erst wenn die Gabe als Ereignis glückender Nichtintentionalität verstanden wird, entspricht sie der ultimativen Entmächtigung in der Widerfahrung des Todes. [. . .] Er ist nicht Gabe, sondern wird dazu, wenn er so wirkt. Seine Perfor31

  Stoellger, Abendmahl, 78.

3.2  Protestantische Position: Philipp Stoellger

153

manz und sein ‚implizites Wirkungspotenzial‘ lässt ihn zur ‚Gabe für uns‘ werden – kraft des Geistes.“32 Sowohl für die Charakterisierung des Todes Jesu als Gabe pro nobis als auch für die Deutung des Abendmahls auf das Kreuzesgeschehen hin gelte, dass es sich dabei um nachträgliche Deutungen der Nachfolgerschaft Jesu handele. Es sind, so Stoellger, Antworten auf ein Geschehen, das sich den Christen im Nach­hinein als Gabegeschehen darstellt. Dementsprechend könne man die Jünger Jesu als die Geber der Deutung, der Metapher betrachten. Dass die Gaben Jesu erst durch diese Deutungen zu dem werden, was sie sind, hat Stoellger bereits mehrfach betont, er ergänzt jedoch, dass auch die ‚Gabe der Deutung‘ keine souveräne Gabe darstelle, sondern ein Reflex auf das sei, was sich der Deutung als Gaben Jesu erschließe: „Die Zuschreibung dieses ‚für uns‘ ist eine Antwort auf die heilsame Widerfahrnis dieses Ereignisses.“33 Doch auch das Geschehen, das die Deutung evoziert, versteht Stoellger mit Waldenfels als ein Antwortgeschehen: Die Hinwendung und ‚Selbsthingabe‘ Jesu sei Antwort auf den unberechtigten „Anspruch der Menschen auf Gabe“.34 3.2.3  Der Gabecharakter des Abendmahls und das sich in ihm vollziehende ‚Sprachereignis‘ Aus der Tatsache, dass Deutungen evozierte Antworten auf das sind, was sich als Gabe erschließt, ergibt sich für Stoellger aus dem Gabediskurs, dass im Hinblick auf die biblische Überlieferung nicht zwischen göttlichem und menschlichem Anteil unterschieden werden könne, sondern dass beide ineinander verwoben seien.35 „Die Metapher der Gabe ist selbstredend ‚von Menschen‘ – und daher denk- und sagbar. Dass darin die Sprache mit spricht, die Metapher sich gibt, entzieht sich der Alternative ‚von Gott oder bloße Überlieferung‘. Denn in der gemeinsamen Sprache ‚von Gott und Mensch‘ spricht nicht der eine gegen den anderen, sondern als geteilte Sprache gibt sie beiden einen Horizont der Verständigung.“36 Die Tatsache, dass weder der Geber noch der Empfänger mit seiner Deutung souverän agiert, führt Stoellger auf die Eigendynamik der Metapher zurück, von der man sagen könne, dass sie selbst ‚gebend‘ sei. „Das Wirkungspotenzial der Metapher ist ‚überschwänglich‘ und ‚eigendynamisch‘. Daher ist es auch nicht vom ‚Geber‘ zu beherrschen, sondern wird mitbestimmt durch den ‚Empfänger‘. Und zwischen beiden ist es von einer Energie, die von beiden Fassungen nochmals zu unterscheiden ist.“37 Dies gelte gerade auch für eine Handlungsmetapher, wie es 32

  Stoellger, Abendmahl, 83 f.   Stoellger, Abendmahl, 87. 34   Stoellger, Abendmahl, 89. 35   Vgl. hierzu auch die Überlegungen Günther Baders. 36   Stoellger, Abendmahl, 88. 37   Stoellger, Abendmahl, 90. 33

154

3.  Rezeption der Theorien zur einseitigen Gabe

die Gabe im Abendmahl darstelle, da hier das Zeigen und das Sagen ineinander griffen und einander erhellten, wobei Deixis und Lexis jeweils einen Überschuss über das beinhalteten, was die jeweils andere Seite darstellen könne.38 Insofern die Metapher gebend sei, könne man den Ereignischarakter des Gabegeschehens im Grunde enger als „Sprachereignis“ fassen.39 Damit solle aber keine Vorrangstellung des Sagens vor dem Zeigen ausgesagt werden: Vielmehr seien das Sagen und das durch die Gabe vollzogene Zeigen zwei verschiedene symbolische Energien, wobei man die Lexis als Antwort auf die Deixis betrachten könne. 3.2.4  Die Präsenz Christi im Abendmahl als ‚Präsenz im Entzug‘ Nachdem Stoellger anhand des Stiftungsgedankens, des Zusammenhangs von Abendmahl und Kreuz sowie anhand der Auseinandersetzung mit der Metaphorik des Abendmahls gezeigt hat, inwiefern das Abendmahl ereignislogisch zu denken ist, kommt er zur Kernthese seines Aufsatzes: Eine ereignislogische Betrachtungsweise des Abendmahls sei geeignet, um die innerprotestantische Differenz zwischen der lutherischen Vorstellung von Realpräsenz und der reformierten Vorstellung vom symbolgestützten Gedächtnismahl zu überwinden. Um dies zu verdeutlichen prägt er die Formel die ‚reale Gegenwart‘ Christi im Abendmahl sei „Präsenz im Entzug“ und weist darauf hin,40 dass sich Evidenz immer nur im Rückblick auf ein bereits vergangenes und damit entzogenes Augenblicksereignis einstellt. Dementsprechend ordnet Stoellger die ‚reale Präsenz‘ auch nicht der Seite des Sagens, sondern des Zeigens zu. „‚Etwas als etwas‘ zu deuten ist bereits von einer Differenz und Distanz gezeichnet. In der Bezeichnung ist das Bezeichnete bereits im Entzug begriffen. Lexis per se kennt keine ‚reale Gegenwart‘ (gegen G. Steiner). Deixis aber ist von solcher Präsenz: was sich zeigt, ist präsent, diesseits der Bezeichnung. Nicht der Sinn im Abendmahl ‚macht‘ die Präsenz, sondern die Sinnlichkeit des Sinns.“41 Stoellger möchte damit jedoch keiner kruden Dinglichkeit Vorschub leisten, sondern daran erinnern, dass Brot und Wein im Abendmahl als Gaben fungierten: „Brot und Wein als Gabe sind nicht nur ‚Mehr‘ als Ding; sie sind als Gabe (im Geben, Austeilen, Teilen, Weitergeben) übergängliche Materialität. Sie sind Woher und Woraufhin von Sprechen und Denken, ohne darin aufzugehen.“42 Abschließend weist Stoellger – wie bereits mehrfach im Laufe des Aufsatzes geschehen – noch einmal darauf hin, dass Brot und Wein nicht per se Heilsmedien sind, an denen sich automatisch göttliche Gegenwart festmachen 38   Stoellger weist ähnlich wie Bader noch einmal darauf hin, dass der Gegenstand an sich selbstverständlich nicht sprechend ist, sondern in seiner Verwendung als Gabe, besonders im Zusammenhang des Festes. 39   Stoellger, Abendmahl, 89. 40   Stoellger, Abendmahl, 94. 41   Stoellger, Abendmahl, 95. 42   Stoellger, Abendmahl, 95 f.

3.2  Protestantische Position: Philipp Stoellger

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ließe, sondern dass sie im Laufe der Feier, d. h. im Gabegeschehen, dazu werden: „Im Ereignis der Gabe (im Geben, Teilen, Konsumieren) wird die Materialität medial – und das Medium materiell.“43 Stellungnahme Bei Stoellger ist die Interpretation des Gabegeschehens als Ereignis im Hinblick auf das Abendmahl am stärksten entfaltet. Dabei dient ihm der Ereignisbegriff dazu, die Unmöglichkeit einer intentional angestrebten Gabe auch für das Abendmahl aufzuzeigen. Dass Gaben nicht vom Geber intendiert werden können, beruht seines Erachtens auf der Tatsache, dass Impulse, welche die Menschen treffen und verändern, erst durch die von ihnen ausgelösten Deutungen inhaltlich präzisiert werden. Deutungen lassen Impulse für Menschen zu dem werden, was sie ‚für sie‘ sind. Vor dem Hintergrund dieses Schemas erklärt Stoellger dann die Entstehung des Abendmahls und seine Interpretation als ‚Gabe‘. Unbearbeitet lässt Stoellger hingegen weitgehend die Frage nach der Konkretion dessen, in welcher Hinsicht das Abendmahl für die es heute feiernden Menschen zu einer wirkmächtigen Gabe werden kann, möglicherweise auch aufgrund der Tatsache, dass die Antwort auf diese Frage sehr individuell sein kann.

43

  Stoellger, Abendmahl, 96.

4.  Systematische Zusammenstellung der bearbeiteten Themen Wie in den Vorbemerkungen bereits angekündigt, soll nach der Einzeldarstellung der gabetheoretischen Abendmahlsentwürfe noch einmal ein Blick auf die vier theologischen Fragestellungen geworfen werden, die in den Entwürfen mit Hilfe der Gabetheorien bearbeitet werden.

4.1  Das Verhältnis von katabatischer und anabatischer Gabebewegung im Abendmahl Bei den dargestellten Abendmahlsentwürfen der katholischen Theologen (Chauvet, Hoffmann, Power) zeigt sich durchgängig ein Interesse daran über den Rückgriff auf die Gabetheorien das anabatische Moment theologisch zu rechtfertigen, das sich in den eucharistischen Abendmahlsgebeten der römisch-katholischen Messe findet, die von einer Darbringung Christi als Opfer der Kirche sprechen. Luther hatte diese liturgischen Stücke aufgrund seiner Kritik am Messopfergedanken in seiner „Formula Missae et communionis pro Ecclesia Wittenbergensi“ von 1523 und seiner „Deutschen Messe“ von 1525 / 26 konsequent aus der Liturgie ausgeschieden.1 Chauvet, Hoffmann und Power bemühen sich darum, den Gedanken, die Liturgie gewinne durch die anabatischen Elemente den Charakter eines do, ut des, zu zerstreuen, und heben die Vorrangigkeit der göttlichen Gabe betont hervor. Power tut dies unter Rückgriff auf ein gabetheoretisches Modell, demzufolge der Gabentausch ein Moment der reinen, einseitigen Gabe einschließt, das den Gabentausch überhaupt erst ermöglicht. Chauvet und Hoffmann beziehen sich hingegen auf soziologische und philosophische Positionen (Mauss, Hénaff, Ricœur), die auf ein für das Gelingen des Gabentausches notwendiges Moment der Freiwilligkeit der initialen Gabe hinweisen. Bei ihrer Argumentation für die Sinnhaftigkeit einer liturgisch vollzogenen Gegengabe machen sich Chauvet und Hoffmann jeder auf seine Weise die scharfe Abgrenzung des Gabentausches von der Ökonomie zu Nutze, die einen Grundzug in den Theorien zur wechselseitigen Gabe darstellt. Während Chauvet primär

1   Luther, Martin, „Formula Missae et communionis pro Ecclesia Wittenbergensi“ (1523), WA 12, 205 – 220; Ders., Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdiensts (1525), WA 19, 72 – 113.

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4.  Systematische Zusammenstellung der bearbeiteten Themen

damit argumentiert, dass die Möglichkeit zu einer liturgisch vollzogenen Gegengabe den Charakter der göttlichen Gabe wahre, indem die Gläubigen diese gerade nicht wie eine Ware in Besitz nehmen und so ihren Charakter einer unverdient empfangenen Zuwendung unterstreichen, sieht Hoffmann durch die Möglichkeit zur Gegengabe den Subjektstatus der Empfänger der göttlichen Gabe gewahrt. Auch diese Argumentationslinie kommt bei Chauvet am Rande zum Tragen, wobei Chauvet das Subjektsein des Empfängers interessanterweise an der Möglichkeit festmacht, verpflichtet werden zu können, während es Hoffmann an die Möglichkeit bindet, durch aktives Verhalten Beziehungen eingehen zu können. Unterschiede zwischen Chauvet und Hoffmann bestehen auch in der Zuordnung der liturgisch vollzogenen Darbringung des Opfers Christi durch die Kirche und der in der Theorie der wechselseitigen Gabe obligatorischen Gegengabe. Während Chauvet die eigentliche Gegengabe in einer Selbsthingabe der Christen an die göttliche Liebe sieht, die sich in einer ethischen Lebensführung äußert, und die liturgische Darbringung des Opfers Christi während der Liturgie ihm zur Folge nur symbolisch auf diese Gegengabe verweist, betrachtet Hoffmann die liturgische Darbringung Christi quasi als eine stellvertretende Gegengabe. Durch die intensive Auseinandersetzung mit protestantischen Ansätzen zur Rechtfertigungslehre ist sie offen für den Gedanken, dass die sündige Struktur des Menschen eine freie Selbsthingabe an Gott erschwert, und betrachtet die Möglichkeit hierzu als einen schrittweisen, lebenslangen Prozess. Die beiden protestantischen Theologinnen Bieler und Schottroff teilen mit den katholischen Positionen das Interesse an der scharfen Abgrenzung des Gabentausches von der Ökonomie. Allerdings ist dieses Interesse bei ihnen anders motiviert. Es resultiert aus der These, dass die Differenzerfahrung zwischen der ökonomisch geprägten Realität des Alltags der Feiernden und der Wirklichkeit, die die biblischen Texte und das liturgische Geschehen als Sehnsucht in den Gläubigen wachrufen, zu einem Lernprozess führt, der die Gläubigen für das mit der ReichGottes-Verkündigung Jesu eng verbundene Thema der Gerechtigkeit sensibilisiert. Im Rahmen der Rezeption der Theorie des Gabentausches als Möglichkeit, Bindungen zu schließen und Anerkennung auszudrücken, öffnen sich die beiden Theologinnen für die katholische Argumentationsweise, dass durch die Möglichkeit, selbst zu geben, das Bewusstsein, empfangen zu haben, geschärft und die Selbsthingabe an Gott erleichtert werde. Sie betonen jedoch auch, dass die Gefahr eines missbräuchlichen Verständnisses der anabatischen Momente der Liturgie im Sinne eines do, ut des immer latent vorhanden sei.

4.2  Die Veränderung der Feiernden durch die Gabe des Abendmahls

159

4.2  Die Veränderung der Feiernden durch die Gabe des Abendmahls An den Abendmahlsentwürfen, die sich mit Gabetheorien auseinandersetzen, ist bemerkenswert, dass in vielen von ihnen ein besonderes Augenmerk auf die Veränderung der Feiernden durch die sich im Abendmahl vollziehende Gabe gelegt wird (Chauvet, Hoffmann, Bieler / Schottroff, Power). Besonders die Ausführungen Marions zum „adonné“, der sich durch das Phänomen, dem er ausgesetzt ist, neu empfängt, aber auch die in den Theorien der wechselseitigen Gabe obligatorische Größe der ‚Gegengabe‘ lenken den Blick der Autorinnen und Autoren auf dieses Thema. Wie bereits erwähnt, versteht Chauvet eine ethische Lebensführung als die auf Gottes Gabe reagierende Gegengabe. Die Gläubigen sollten zu dem werden, was sie empfangen haben, zu Christi ekklesiologischem Leib. Insofern integriert Chauvet in seine Überlegungen zum Abendmahl ein klassisches Konzept von Heiligung. Auch Bieler und Schottroff gehen von einer dauerhaften Veränderung der Gläubigen, also von einer Form von Heiligung aus, beschreiben diese jedoch als eine schrittweise Veränderung des Bewusstseins durch die Differenzerfahrungen, die die „eschatologische Imagination“ in den Gläubigen hervorruft. Diese Bewusstseinsveränderung führe zu einem intensiven Hoffen auf eine Veränderung der lebenszerstörenden, oft ökonomisch bedingten weltlichen Zusammenhänge durch Gott, aber natürlich auch zu einem konkreten veränderten ethischen und politischen Handeln. Ganz ähnlich wie Bieler und Schottroff betrachtet auch Power das liturgische Geschehen insgesamt und das des Abendmahls im Besonderen als einen Raum, in dem die Gläubigen eine wohltuende Differenzerfahrung machen können. Hier werde den Feiernden die Grenzen, die ihnen die menschlichen Lebensbedingungen auferlegen, bewusst gemacht und zugleich durch die Hoffnung auf Gott transzendiert. Allerdings lenkt Power seinen Blick dabei nicht im gleichen Maße wie Bieler und Schottroff auf Gerechtigkeitsfragen, sondern primär auf die menschlichen Bemühungen, mit der eigenen Endlichkeit umzugehen. Ob die im Abendmahl gemachten Differenzerfahrungen zu einer dauerhaften Bewusstseinsänderung führen oder aber eine Hilfe darstellen, um durch den Glauben konkrete Einzelsituationen zu bewältigen, bleibt bei ihm offen. Für Hoffmann schließlich, deren gesamte Konzeption um die Frage nach einer gelungenen bzw. misslungenen Gott-Mensch-Beziehung kreist, eröffnet die göttliche Gabe dem Menschen eine qualitativ andere Art der Gottesbeziehung, deren konkrete Umsetzung zugleich die Gegengabe des Menschen an Gott darstellt. Der Mensch werde zum Geben und zur Selbsthingabe befähigt. Doch diese Befähigung sei ein schrittweiser, durch die menschliche Sünde immer wieder zurückgeworfener, teilweise zerstörter Prozess.

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4.  Systematische Zusammenstellung der bearbeiteten Themen

4.3  Das Verhältnis von Präsenz und Entzug Die Frage nach der Art und Weise der Präsenz Christi im Abendmahl und nach der Verhältnisbestimmung dieser Präsenz zu den Elementen beschäftigt christliche Theologen seit der Antike.2 Power, Stoellger und Marion nehmen diese Frage in ihren gabetheoretischen Überlegungen zum Abendmahl jeweils auf, wobei sich Power in seiner Argumentation von Ideen Marions seinerseits inspirieren lässt, Stoellger den Ansätzen Derridas und Waldenfels’ folgt und Marion den Zeitbegriff Heideggers für das Abendmahl fruchtbar zu machen versucht. Betrachtet man die Entwürfe von Stoellger und Power, so kann man den Eindruck gewinnen, dass die beiden Theologen die spezifische christliche Fragestellung nach der Präsenz Christi insofern noch einmal modifizieren, als sie sie mit den Fragestellungen verbinden, die für Derrida und Marion im Hinblick auf das Thema ‚Präsenz und Entzogenheit‘ von Gabe und Geber im Allgemeinen leitend waren. So ordnet Power die Frage nach der Präsenz Christi im Abendmahl im Grunde in die weitergehende, von Marion aufgeworfene Frage nach der Präsenz und Entzogenheit Gottes ein, der nicht einfach als letzter Verursacher in ein menschliches Gedankengebilde eingefügt werden dürfe. Power referiert dann den Ansatz Marions, dass Gott den Gläubigen in Form von ikonischen Bildern gegenwärtig sei, deren Inbegriff Christus selbst darstelle. Und in Analogie zur Präsenz und Entzogenheit Gottes, die für die Gläubigen an Christus als dem ikonischen Bild Gottes deutlich werde, betrachtet Power auch die Elemente von Brot und Wein im Abendmahl als einen ikonischen Verweisungszusammenhang auf den erhöhten und zugleich im Abendmahl gegenwärtigen Christus. Bei Stoellger ist die Frage nach der Präsenz Christi im Abendmahl dahingehend modifiziert, dass sie nun lautet: Wie kann Christus als Geber und als Gabe im Abendmahl präsent sein, wenn doch ein präsenter, souverän agierender Geber gerade den Gabecharakter einer Gabe zerstört? Stoellgers Antwort darauf ist die Feststellung, dass Jesu ‚Selbsthingabe‘ in den Tod bzw. im Abendmahl erst dadurch zur Gabe wird, dass diejenigen, denen diese Gabe zugedacht ist, sie auch als Gabe deuten. Die Gabe realisiere sich in einem Geschehen zwischen Geber und Empfänger, das letztlich beiden unverfügbar sei. Es ist interessant, dass sich in den beiden Entwürfen von Power und Stoellger die Differenz im Hinblick auf die Zuordnung von Gabe und Entzug wiederfindet, die einen der wesentlichen Unterschiede der Entwürfe von Marion und Derrida 2   Bereits Ignatius von Antiochien weist in seinem Brief an die Smyrnäer darauf hin, dass die Eucharistie das Fleisch Christi sei, vgl. Sm 7,1, in: Lindemann, Andreas / Paulsen, Henning (Hg.), Die Apostolischen Väter, Griechisch-deutsche Parallelausgabe, Tübingen 1992, 230 f. Die Frage nach der Art der Präsenz Christi im Abendmahl bestimmte nicht nur den ersten und zweiten Abendmahlsstreit der Westkirche im Mittelalter, sondern auch die innerprotestantischen Auseinandersetzungen der Reformationszeit, vgl. Leppin, Volker, Das Ringen um die Gegenwart Christi in der Geschichte, in: Löhr, Helmut (Hg.), Abendmahl, Tübingen 2012, 95 – 132.

4.3  Das Verhältnis von Präsenz und Entzug

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ausmacht. Während bei Power im Anschluss an Marion das Moment der Entzogenheit Gottes bzw. des erhöhten Christus als eine kategoriale Entzogenheit verstanden wird, ergibt sie sich bei Stoellger wie bei Derrida aus der Flüchtigkeit des Augenblicks der Präsenz. Gabe, auch die Selbsthingabe Christi, erweist sich jeweils nur im Nachhinein, in der nachträglichen Deutung als Gabe. Während für Power bei seinen Überlegungen zum Abendmahl vor allem Marions Philosophie der Gegebenheit und seine Überlegungen zur Ikonik Pate stehen, greift Marion selbst in seinem Abendmahlsentwurf auf die Philosophie Heid­ eggers zurück und definiert mit Hilfe von dessen Zeitverständnis das, was unter Präsenz Christi im Abendmahl zu verstehen ist, neu. Für Marion ist es entscheidend, dass unter der Präsenz Christi eine inhaltliche Qualifizierung des gegenwärtigen Moments der Feier zu verstehen sei, die sich dadurch ergebe, dass das in der Vergangenheit im Geschick Jesu eröffnete Heil und seine aus ihm für die Zukunft erhofften Implikationen der Gegenwart ihren Stempel aufdrücken, sie prägen. Vergleicht man die drei Positionen, so lässt sich sagen, dass Power die Präsenz Christi zwar auf die Elemente bezieht, aber betont, dass diese Präsenz keine konstante Eigenschaft der Elemente ist, sondern in diesen – wie theoretisch in anderen materiellen Dingen auch – aufscheinen kann. Die Elemente weisen im Sinne einer Ikone über sich selbst hinaus und lassen Christus als den präsent sein, dessen Präsenz sich in den Elementen niemals ganz erschöpft. Obwohl Marions Unterscheidung von Idol und Ikone für Powers Präsenzverständnis die maßgebliche Inspirationsquelle darstellt, verläuft dessen eigene Argumentation im Hinblick auf die Frage nach der Präsenz Christi im Abendmahl anders. Für Marion ergibt sich diese Präsenz durch ein Ineinandergreifen der Zeitmodi, die den Feiernden „anwesen“ und ist letztlich ein Bestimmtwerden des Augenblicks durch das, was das Proprium des christlichen Glaubens und Hoffens ausmacht.3 Stoellger schließlich ordnet die Präsenz Christi den Elementen und den durch sie evozierten Deutungen zu, wobei er die geläufige Vorstellung, präsent sei das unmittelbar sinnlich Erfassbare, aufnimmt und dieses Charakteristikum den Elementen zuweist. Die Pointe liegt bei ihm jedoch darin, dass diese Präsenz erst durch die Deutungen, denen immer das Moment der Nachträglichkeit anhaftet, zur Präsenz Christi wird.

3   Ich habe hier auf den Begriff Heideggers zurückgegriffen, dessen Zeitkonzept für Marions Überlegungen leitend ist, vgl. dazu den Abschnitt Kap. 1.2.1.

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4.  Systematische Zusammenstellung der bearbeiteten Themen

4.4  Das Verhältnis von Wort und Element Luthers Interpretation des Abendmahls als testamentum geht einher mit einer Fokussierung auf die Einsetzungsworte,4 die Luther als das eigentliche Medium der Heilszueignung begreift, und auf den ihnen korrespondierenden Glauben. Dies stellt, wie Reinhard Schwarz in Bezug auf die Abendmahlstheologie von Gabriel Biel hervorhebt, einen deutlichen Bruch zum spätmittelalterlichen Verständnis dar, bei dem das Zu-sich-nehmen der eucharistischen Speise das Zentrum der Heilszueignung darstellte.5 Allerdings verschob sich bekanntermaßen die Gewichtung der Rolle, die Luther den Elementen zuweist, im Rahmen des innerprotestantischen Abendmahlstreits. Hatte er sie in seinen frühen Schriften primär als die Zusage bestätigendes Zeichen gewertet, betonte er nun die Realpräsenz Christi in den Elementen, verstand sie allerdings als eine durch das Wort hervorgerufene Präsenz. Luthers Abendmahlstheologie wirft dementsprechend die Frage nach dem Verhältnis von Wort und Element auf. Günther Baders Interpretation der Abendmahlsfeier als ‚Wortentstehungsfeier‘ liest sich wie ein eigenwilliger Kommentar zu dieser Fragestellung. Mit seiner Gegenüberstellung von ‚Wort‘ und ‚Ding‘ weitet er die Perspektive über das Gegensatzpaar ‚Wort‘ und ‚Element‘ hinaus aus, denn unter dem Pol ‚Dinglichkeit‘ kann er auch die Faktizität des gewaltsamen Todes Jesu in den Blick nehmen, die die Feier des Abendmahls liturgisch verarbeitet. Die Elemente ‚Brot‘ und ‚Wein‘ sind für ihn hingegen Teil einer Metaphernkette, die es den Feiernden erlaubt, sich dem σκάνδαλον des Todes Jesu während der Feier emotional und rational anzunähern und sich wieder aus seinem Bann zu lösen. Charakteristisch für diese Metaphernkette ist es, dass sich in ihr Mischformen aus Worten und Dingen finden, und genau eine solche Mischform stellen die Elemente dar. Philipp Stoellger würdigt verschiedentlich die Ansätze Baders und teilt mit diesem die Ansicht, dass die Abendmahlsmetaphern gegenüber der Aussageintention der Sprecher ein inhaltliches ‚Mehr‘ transportieren, dass ihnen eine Eigendynamik innewohnt, die es rechtfertige, davon zu sprechen, dass die Metapher gebe.6 Dieser Gedanke korrespondiert mit der Überzeugung beider Theologen, dass die Abend4   Vgl. etwa Luther, Martin, Sermon von dem Neuen Testamant, das ist die heilige Messe (1520), WA 6, 353 – 378. In diesem Punkt folgt Luther im Übrigen Augustinus, der in seinem „Tractatus in Johannis evangelium“ nicht nur herausstellt, dass Wort und Element gemeinsam das Sakrament bilden, sondern am Beispiel der Taufe auch deutlich macht, dass die Elemente bzw. die mit ihnen verbundenen Zeichenhandlungen erst durch die Worte sprechend werden, vgl. Augustinus, Aurelius, Vorträge über das Evangelium des hl. Johannes Bd. 3, übers. v. Specht, Thomas, Kempten / München 1914, 119. 5   Vgl. zu Luthers Abendmahlstheologie insgesamt: Schwarz, Reinhard, Martin Luther. Lehrer der christlichen Religion, Tübingen 2015. Der Vergleich zwischen Luther und Biel findet sich ebd., 510. 6   Bader, Abendmahlsfeier, 126. Stoellger bringt dies in Form von Umschreibungen zum Ausdruck, vgl. Stoellger, Abendmahl, 88.

4.4  Das Verhältnis von Wort und Element

163

mahlsfeier selbst nicht lediglich Abbild einer wie auch immer gearteten theologischen Theorie ist, sondern Wirklichkeit setzt.7 Es sei die Feier und innerhalb der Feier das Moment des Gebens, das aus den Elementen Brot und Wein dingliche Metaphern werden lasse.8 In einem Punkt widerspricht Stoellger Bader jedoch: Während Bader die Bewegung vom Ding zum Wort als Erlösung charakterisiert und dieser damit – wenn auch ganz anders als Luther – die protestantische Vorrangstellung des Wortes vor dem Element teilt, betont Stoellger die nicht gegeneinander aufzurechnende Notwendigkeit von Wort und Element, von Lexis und Deixis. Vor dem Hintergrund der Derridaschen Gabetheorie, der zufolge eine Gabe nie präsent sein kann, sondern in dem Augenblick, in dem sie bereits vergangen ist, Deutungen provoziert, darunter auch die Deutung der Gabe als Gabe, macht Stoellger geltend, dass sich die Präsenz Christi an der Sinnlichkeit der gegebenen Elemente von Brot und Wein festmachen lasse. Diese allein seien aber noch keine Gabe, sondern würden es erst durch die Deutungen, d. h. durch das Moment des Wortes. Für Stoellger verdoppeln somit die Elemente nicht einfach die Worte, sind also nicht bloß verba visibilia, sondern, im Falle des Abendmahls, Ermöglichungsgrund des Deutungsgeschehens.

7   Auch Bieler / Schottroff und Power betonen auf ihre Weise die wirklichkeitssetzende Macht von Sprache, wenn sie davon ausgehen, dass die im Gottesdienst erzählten Narrationen und die liturgischen Stücke die Kraft haben, die Vorstellung einer anderen Wirklichkeit als der real erlebten in den Feiernden wach zu rufen. 8   Vgl. dazu Baders Interpretation von Mauss, dass gerade das Geben eine Sache zu einer beseelten, d. h. einer Botschaft tragenden Sache mache.

C. Abendmahl als Gabe – ein Entwurf

1. Einführung 1.1 Vorbemerkungen Die Darstellung der theologischen Rezeption des Gabediskurses im Hinblick auf das Abendmahl hat deutlich gemacht, dass die möglichen Fragestellungen, auf die der Diskurs bezogen werden kann, vielfältig sind. Im Folgenden soll mit dem Gabebegriff von Ingolf U. Dalferth gearbeitet werden, für den in der Auswertung von Kapitel A plädiert wurde.1 Dieser sieht die Situation des Bekommens als für eine Gabe zentral an. Dementsprechend liegt es nahe, den Fokus der folgenden Betrachtung auf die Veränderung zu legen, die das Abendmahl bei den Feiernden auslöst. Diese Veränderung wurde in den dargestellten Entwürfen entweder als eine Befähigung zu einem veränderten Umgang miteinander bzw. einem verantwortungsvollen Umgang mit der Schöpfung und den Mitgeschöpfen interpretiert oder als Befähigung zu einem veränderten Umgang mit den existenziellen, menschlichen Herausforderungen oder als eine Veränderung in der Gottesbeziehung. Diese letzte Deutungsweise ist in der klassischen, theologischen Begrifflichkeit gemeint, wenn das Abendmahl als eine ‚Feier zur Vergebung der Sünde‘ beschrieben wird. Im nun folgenden Versuch einer Interpretation des Abendmahls als Gabegeschehen möchte ich, ähnlich wie Veronika Hoffmann, die durch das Abendmahl angestoßene Veränderung der Gottesbeziehung der Feiernden in den Fokus stellen. Anders als Hoffmann werde ich mich jedoch primär der Bedeutung dieser Veränderung für die „Identitätsarbeit“ der Feiernden widmen.2 Dieser Akzentuierung ergibt sich meines Erachtens aus Dalferths Gabetheorie, da er die Gabe nicht primär unter dem Fokus betrachtet, welche Relevanz sie für den Aufbau des Sozialwesens hat, sondern sein Augenmerk auf ihre Funktion für die sozial vermittelte Konstruktion des Selbstbildes legt.3 Den Überlegungen zur Bedeutung des Abendmahls für die Erneuerung der Gott-Mensch-Beziehung und damit verbunden für die „Identitätsarbeit“ der Feiern­den steht ein Kapitel zur Metaphorik des Abendmahls voran. Dahinter steht die Einsicht, dass der Ritus des Abendmahls selbst zutiefst von den Momenten des 1

  Vgl. Kap. A.4.2.   Der Begriff ist von Heiner Keupp übernommen, vgl. Keupp, Heiner, Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten der Spätmoderne, Hamburg 42008, 60. 3   Siehe Kapitel C.3. 2

168

1. Einführung

Gebens und Empfangens bestimmt ist, und dass gerade dies maßgeblich dazu beiträgt, dass sich im Abendmahl für die Feiernden die Gewissheit der Zugewandtheit Gottes trotz der Sündhaftigkeit des Menschen einstellen kann.4 Den beiden Hauptkapiteln geht eine Übersicht über die Auseinandersetzung mit dem Abendmahl in Exegese und Systematik voran. In dieser Übersicht werden kurz die Ergebnisse aus der exegetischen Forschung zum Abendmahl referiert, soweit sie für die Interpretation des Abendmahls als Gabe relevant sind. Es wird die Abendmahlstheologie Martin Luthers dargestellt, die einen Referenzpunkt für jeden protestantischen Abendmahlsentwurf bildet und zudem mit der Fokussierung der Interpretation des Abendmahls als Testament ebenfalls ein an der Metapher der Gabe orientierter Abendmahlsentwurf ist. Und es werden als Beispiele für zwei gegenwärtige Abendmahlsdeutungen die Abendmahlsentwürfe von Notger Slenczka und Dietrich Korsch vorgestellt. Diese wurden aus der Fülle von zeitgenössischen Abendmahlsentwürfen ausgewählt, weil sie das Abendmahl ebenfalls mit dem Thema „Identität“ verbinden. Die Darstellung der exegetischen und systematischen Forschung zum Abendmahl dient mir auch dazu, meine eigene Fragestellung im Hinblick auf eine Interpretation des Abendmahls als Gabe zu präzisieren. Schließlich geht der eigenen Darstellung noch einmal eine Zusammenfassung von Dalferths Gabetheorie voran, in der ein vertiefender Blick auf seine Zentralbegriffe geworfen und seine Theorie mit einer modernen Identitätstheorie in Verbindung gebracht wird.

1.2  Das Abendmahl in Exegese und Systematik 1.2.1  Das Abendmahl in der gegenwärtigen exegetischen Forschung 1.2.1.1 Vielfalt in Form und Deutung des Abendmahls In der neutestamentlichen Forschung zum Abendmahl stehen die Rekonstruktion seiner Entstehung sowie die Fragen, wie die Christen in den ersten Jahrzehnten und Jahrhunderten n. Chr. das Abendmahl verstanden und in welcher Form sie es begangen haben, im Zentrum des Interesses. Hierbei ist auch von Belang, welche Traditionselemente und sozialen Riten sie dabei aus ihrer jüdischen bzw. hellenistischen Umwelt aufgenommen haben.5 Es ist für die Beantwortung dieser Fragen von erheblicher Relevanz, dass die exegetische Forschung nicht nur die neutestamentlichen Texte zum Thema untersucht, sondern auch nicht kanonisch gewordene Texte der Zeit auswertet. Einen besonderen Stellenwert hat dabei die Dida4

  Siehe Kapitel C.2.   Die exegetische Darstellung orientiert sich weitgehend an: Schröter, Jens, Das Abendmahl. Frühchristliche Deutungen und Impulse für die Gegenwart (= SBS 210), Stuttgart 2006. Daneben bietet Helmut Löhr einen aktuellen Forschungsüberblick, vgl. Löhr, Helmut, Entstehung und Bedeutung des Abendmahls im frühen Christentum, in: Ders., Abendmahl, Tübingen 2012, 51 – 94. 5

1.2  Das Abendmahl in Exegese und Systematik

169

che aus dem frühen 2. Jahrhundert,6 weil sich unter den in ihr zusammengestellten Gebeten auch solche finden, die über den Mahlelementen zu sprechen sind. Diese Gebete entstammen vermutlich einem judenchristlichen Milieu. In ihnen wird für das Offenbarungshandeln Gottes in Christus gedankt und Jesus in die jüdische Tradition gestellt. Die Mahlgebete der Didache haben in der neutestamentlichen Forschung zu einer Debatte darüber geführt, ob man von einer Abendmahlsform ohne Einsetzungsworte ausgehen soll, bei der stattdessen diese oder ähnliche Gebete über den Elementen gesprochen wurden, und ob eine solche Form neben einer Form mit den Einsetzungsworten stand, deren liturgischer Gebrauch erst in der Traditio Apostolica definitiv belegt ist.7 Doch nicht nur die Diskussion um den Stellenwert der Mahlgebete der Didache läßt eine Vielfalt in der konkreten Ausgestaltung des Abendmahls in der frühen Christenheit erkennen. Während bei der judenchristlichen Didache ganz klar ein am jüdischen Mahlverlauf des Passahmahls orientierter Ablauf des Abendmahls zu erkennen ist, legt die paulinische Argumentation im 1. Korintherbrief es nahe, dass die Form der Abendmahlsfeier dort analog zu paganen Vereinsfeiern vollzogen wurde, nämlich dass eigene Speisen mitgebracht wurden und es erst ein gemeinsames Essen, dann einen kultischen Teil und abschließend ein lockeres Zusammensein (symposium) gab. Doch nicht nur bei den Formen, in denen das Abendmahl vollzogen wurde, ist von einer anfänglichen Vielfalt auszugehen, sondern auch bei seinen Deutungen. Im 1. Korintherbrief steht die durch das Mahl vermittelte Teilhabe an Christus im Zentrum, die dann zu der Gemeinschaft der an Christus Anteilhabenden untereinander führt, zu ihrer Verbundenheit zu einem einheitlichen Ganzen, zu einem „Leib“.8 In den synoptischen Evangelien ist ein wesentliches Interpretationsmoment, dass Jesu letztes Mahl während des Passahfestes situiert wird. Judith 6   Didache, in: Paulsen, Henning / Lindemann, Andreas, Die Apostolischen Väter. Griechischdeutsche Parallelausgabe, Tübingen 1992, 4 – 19. 7   Schröter geht davon aus, dass es in den Anfängen des Christentums lediglich eine Form des Abendmahls gab, bei der die Gebete das Mahl aus dem profanen Bereich heraushoben und Christus vergegenwärtigten. Löhr verweist auf die Ungesichertheit der exegetischen Befunde an dieser Stelle. Er geht davon aus, dass der religiös aufgeladene Part Teil eines Sättigungsmahles war, dieser könne ebenso gut von Gesten und Deuteworten wie von den Gebeten vom übrigen Teil abgehoben worden sein. Gleichzeitig vermutet er, dass sich in der Formung der Einsetzungsworte bereits die zunehmende Tendenz widerspiegelt, Sättigungsmahl und rituelle Elemente voneinander zu separieren, vgl. hierzu Löhr, Abendmahl, 68. Theißen hingegen geht von einem Nebeneinander von sakramentalem Herrenmahl, bei dem das Gedenken an Jesu Tod und die Identifikation mit den ihn möglicherweise verratenden Jüngern im Zentrum stand, und einem sakralen Mahl, das den Dank für die Erlösung in Christus thematisierte, aus. Während bei jenem die Einsetzungsworte Teil der Liturgie gewesen seien, vergegenwärtigten bei diesem die Gebete Christus. Das Sakramentalmahl sei vermutlich nur einmal im Jahr parallel zum Passahfest gefeiert worden, das Sakralmahl wöchentlich, vgl. Theissen, Gerd, Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh 2007, 378 f. 8   Vgl. hierzu: 1. Kor 10,17. Dabei ist zu beachten, dass der Leib sich nicht durch die Gemeinschaft konstituiert, sondern vorgängig ist und die Christen in den Leib eingeliedert werden und dadurch zu einer Gemeinschaft werden, vgl. Kap. C.3.3.3.

170

1. Einführung

Hartenstein gibt dazu zu bedenken, dass im Alten Testament immer dann von Passahfesten erzählt wird, wenn ein wichtiger Übergang in der Geschichte I­ sraels markiert werden soll. Auf der Erzählebene zeige die Feier des Passahfestes an, dass eine Zeit der Verbindung des Volkes mit Gott beginne, dass es als Gemeinde Gottes neu- bzw. wiederkonstituiert werde.9 Kombiniert wird die Vorstellung der Stiftung einer neuen Gottesbeziehung durch Christus und ihrer Vermittlung im Abendmahl durch die Aufnahme des Bundesgedankens in der Einsetzungsworten, der je nach Evangelium entweder auf Jer 31,31 – 34 oder auf Ex 24,8 Bezug nimmt. Nur bei Matthäus findet sich der Zusatz, dass das Blut des Bundes zur Vergebung der Sünde vergossen werde.10 Sachlich schließt die Vorstellung einer Neukonstitution des Bundes zwischen Gott und seinem Volk jedoch die Vergebung von Sünde mit ein. Spezifisch für das Lukasevangelium ist es, dass die Deutung des letzten Mahles Jesu mit den Jüngern als Vorgriff auf ein eschatologisches Passahfest im Reich Gottes verstanden wird. In der Didache, aber auch im Johannesevangelium und bei Ignatius werden das ewige Leben bzw. die Unsterblichkeit als das Heilsgut genannt, das im Abendmahl vermittelt wird.11 Neutestamentliche Forscher untersuchen die frühchristlichen Texte auch unter der Fragestellung, wann die für die weitere Kirchengeschichte dominanten Deutungen des Abendmahls in ersten Ansätzen zu erkennen sind. So stellt Jens Schröter heraus, dass der griechische Begriff für Opfer, θυσία, sich zwar bereits in der Didache finde, sich dort aber auf die mit der Feier des Mahles verbundenen Dankgebete an Gott beziehe, also der Dank an Gott eigentlich als Opfer verstanden werde. Der Gedanke, dass der Tod Christi im Mahl vergegenwärtigt werde und diese Vergegenwärtigung dann als Opfer an Gott, den Vater, verstanden werde, finde sich erst bei Cyprian zu Beginn des 3. Jahrhunderts.12 Und im Hinblick auf den Gedanken einer Wandlung der Elemente stellt Schröter klar, dass erstmals Justin von einer ‚Umwandlung‘ im Zusammenhang des Abendmahls spreche.13 Sie beziehe sich aber nicht auf die Elemente, sondern auf die Verwandlung des Feiernden im Abendmahl. 1.2.1.2  Die Einsetzungsworte Eine gewichtige Deutung des Abendmahls stellen auch die Einsetzungsworte dar, indem sie die Mahlhandlung auf Jesu Leib und Blut beziehen und dadurch  9   Hartenstein, Judith, Abendmahl und Pessach. Frühjüdische Pessach-Traditionen und die erzählerische Einbettung der Einsetzungsworte im Lukasevangelium, in: Hartenstein, Judith / Petersen, Silke / Standhartinger, Angela (Hg.), „Eine gewöhnliche und harmlose Speise?“ Von der Entwicklung frühchristlicher Abendmahlstradition, Gütersloh 2008, 180 – 199. 10   Vgl. Mt 26,28. 11   Joh  6,51 – 58; Did  10,2 f., vgl. Lindemann, Paulsen, Die Apostolischen Väter, 15; Ign. Eph 20,2, vgl. Lindemann, Paulsen, Die Apostolischen Väter, 191. 12   Vgl. Schröters Auslegung von Cyprians 63. Brief, in: Schröter, Abendmahl, 110 f. 13   Vgl. Schröters Auslegung von Justins 1. Apologie (1 Apo 65 – 67) und dem Dialog mit dem Juden Trypho (Dial 41 – 117), in: Schröter, Abendmahl, 79 ff.

1.2  Das Abendmahl in Exegese und Systematik

171

deutlich machen, dass durch den Genuss der Mahlelemente eine Verbindung der Feiernden zu Jesus gestiftet wird. In den Evangelien liegen unterschiedliche Varianten der Einsetzungsworte vor, die vermutlich durch die der schriftlichen Form vorgängige mündliche Tradition zu erklären sind. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Versionen jedoch die parallele Satzstruktur, das Vorkommen des Bundesmotivs, sowie der eschatologische Ausblick.14 Jens Schröter wirft in seinen Ausarbeitungen zum Abendmahl die bereits in ähnlicher Weise von Ottfried Hofius vertretene These auf,15 dass sich die beiden parallelen Einleitungsformeln τοῦτό ἐστιν nicht auf die Mahlelemente, sondern auf die gesamte Handlung beziehen. Schröter argumentiert, dass das Neutrum τοῦτο sich nicht auf ἄρτος beziehen könne, da dies maskulinum sei. Vielmehr sei mit τοῦτο hier der gesamte Vorgang des Brechens und Verteilens des Brotes gemeint. Und beim Kelchwort weise die Verwendung des Begriffes ‚Kelch‘ anstelle des dem Brot eigentlich korrespondierenden Wortes ‚Wein‘ darauf hin, dass sich das τοῦτο auf den Vorgang des Herumreichens des Kelchs beziehe. Auch Hofius ist der Ansicht, dass das τοῦτο in den Einsetzungsworten nicht nur für die Mahlelemente, sondern für den Gesamtvorgang der Danksagung, des Herumreichens und der Kommunion stehe, argumentiert aber anders als Schröter und versucht, anhand von parallel konstruierten Stellen im Buch Joseph und Aseneth aufzuweisen, dass das ἔστιν in den Einsetzungsworten die Bedeutung von Anteil geben annimmt. Deshalb spricht Hofius auch von „Gabeworten“.16 Schröter macht in seiner Auslegung ferner geltend, dass im Brotwort bewusst der Begriff σῶμα verwendet worden sei und nicht der Begriff σάρξ, der eigentlich das Pendant zu ἇιμα darstelle. Der Begriff σῶμα beziehe sich hier nämlich gerade nicht auf den Körper, sondern auf Jesus als ganze Person: das gesamte Heil, das sich mit Jesu Leben und Sterben verbinde, werde den Feiernden durch das Brotwort zugeeignet. Anders sehen dies Hofius und Löhr. Nach Hofius’ Auffassung, die er durch einen Verweis auf eine ähnliche Verwendung an etlichen Stellen des Römerbriefes stützt, meint σῶμα den am Kreuz in den Tod gegebenen Leib Christi, und Löhr verweist auf einen synonymen Gebrauch von σάρξ und σῶμα in den johanneischen Schriften. Im Lukasevangelium folgt auf das Brotwort, im 1. Korintherbrief auf das Kelchwort der in der Geschichte der Kirche so relevant gewordene Anamnese-Befehl. Hofius widmet diesem Anamnese-Befehl in seiner Auslegung einige Aufmerksamkeit und betont, dass er vor dem Hintergrund dessen zu verstehen sei, was im Alten Testament unter ‚Gedenken‘ gemeint sei. Das Gedenken stelle nach Vorstellung des Alten Testaments eine spätere Generation in die Beziehung zu einem 14

  Vgl. Mt 26,26 – 29; Mk 14,22 – 25; Lk 22,14 – 20; 1 Kor 11, 23 – 25.   Hofius, Otfried, Herrenmahl und Herrenmahlsparadosis. Erwägungen zu 1. Kor 11,23b – 25, in: Ders., Paulusstudien (= WUNT 51), Tübingen 1989, 203 – 240. 16   Hofius, Herrenmahl, 224 ff. 15

172

1. Einführung

vormaligen heilvollen Ereignis, von dessen Auswirkungen sie selbst noch immer betroffen sei. Es vollziehe sich in der lobpreisenden Proklamation, d. h. in Bezug auf das Abendmahl in den Eucharistiegebeten. „Die ἀνάμνησις ist [. . .] keine sakramentale ‚Vergegenwärtigung‘ in dem Sinne, als hole erst das ‚Gedenken‘ selbst das an sich Vergangene in die Gegenwart hinein und lasse es so präsent und wirksam werden. Im Horizont alttestamentlichen Denkens ist die ἀνάμνησις demgegenüber als die lobpreisende ‚Vergegenwärtigung‘ dessen zu beschreiben, was einmal, eben damit aber ein für allemal geschehen ist und als Ereignis inkludierender Sühne von Karfreitag und Ostern her alle zum Herrenmahl Versammelten immer schon betrifft und umschließt und so für sie vor allem ‚Gedenken‘ und unabhängig von allem ‚Gedenken‘! – bereits seinsbestimmend ist.“17

1.2.1.3  Die Entstehung des Abendmahls In der neutestamentlichen Forschung herrscht Einigkeit darüber, dass es sich bei den Einsetzungsworten und dann, im weiteren Sinn, bei der Darstellung des letzten Mahles Jesu um eine Kultätiologie mit identitätsstiftender Funktion handelt. Wie das Abendmahl entstanden ist, wird jedoch nach wie vor kontrovers diskutiert. Neben der Annahme einer Stiftung durch Jesus selbst – in einer zu der ja bereits uneinheitlichen Darstellung der Evangelien noch einmal modifizierten Form – wird die These vertreten, dass sich das Abendmahl als Fortsetzung und Transformation der fortlaufenden Mahlgemeinschaft Jesu mit seinen Jüngern herausgebildet hat, dass aber auch die Mahlfeiern der paganen Umwelt der frühchristlichen Gemeinden, sei es im Vereinswesen oder in den Mysterienkulten, Einfluss auf die Ausformung des Abendmahls gehabt haben.18 Jens Schröter nimmt in seiner Rekonstruktion der Entstehung des Abendmahls die ersten beiden Aspekte auf. Er hebt hervor, dass die gemeinschaftlichen Mahlzeiten zu Jesu Lebzeiten eng mit seiner Verkündigung des Reiches Gottes verknüpft waren und in den von Jesus gebrauchten Metaphern und Gleichnissen für das Reich Gottes immer wieder auch als Bildspender dienten. Im Rahmen der Mahlgemeinschaften Jesu nehme das letzte Abendmahl, von dessen Historizität Schröter ausgeht, insofern eine Sonderstellung ein, als Jesus, für den sich sein bevorstehender Tod bereits abzeichnete, es für eine besondere Zeichenhandlung genutzt habe. Diese Zeichenhandlung sei einerseits auf seinen bevorstehenden Tod, andererseits auf das von Jesus als relativ unmittelbar nach seinem Tod erwartete Reich Gottes bezogen gewesen.19 Diet17

  Hofius, Herrenmahl, 235.   Vgl. dazu den Überblick bei Stein, Hans Joachim, Frühchristliche Mahlfeiern. Ihre Gestalt und Bedeutung nach der neutestamentlichen Briefliteratur und der Johannesoffenbarung (WUNT II, 255), Tübingen 2008, 27 – 95. 19   Auch Löhr plädiert für die Historizität einer Einsetzung des Abendmahls durch Jesus und zwar im Rahmen eines gefeierten Passahmahles. Sein Argument ist, dass die Abendmahlstexte im Grunde zu wenige Elemente der Passahtradition zur Interpretation heranziehen, als dass die Datierung des letzten Mahles auf das Passahfest eine nachträgliche Tradition sein könne, vgl. Löhr, Abendmahl, 79. Zur Gegenmeinung siehe, Hartenstein, Abendmahl und Pessach. 18

1.2  Das Abendmahl in Exegese und Systematik

173

rich Korsch, der aus einer systematischen Perspektive auf die neutestamentlichen Versuche einer Rekonstruktion der Entstehung des Abendmahls Bezug nimmt,20 weist darauf hin, dass selbst dann, wenn es historisch zu einer Stiftung des Abendmahls durch Jesus gekommen sein sollte, zwischen dem letzten Abendmahl Jesu und dem christlichen Abendmahl ein kategorialer Unterschied bestehe, der damit zusammenhänge, dass die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu im Glauben der Jünger noch einmal dahingehend transformiert worden sei, dass Jesu Tod und seine Auferstehung als entscheidende Momente in diese Verkündigung integriert wurden. Auch Schröter geht von dieser kategorialen Differenz aus: „Die Entwicklung vom letzten Mahl Jesu zum frühchristlichen Abendmahl stellt somit einen Vorgang dar, bei dem eine Zeichenhandlung Jesu mit der Erfahrung seiner Auferweckung verbunden, zu seinem irdischen Wirken in Beziehung gesetzt und auf diese Weise zum sakramentalen Mahl als einem zentralen religiösen Symbol des Urchristentums ausgedeutet wurde.“21 Korsch geht jedoch noch einen Schritt weiter, indem er den Gedanken entwickelt, dass die Herausbildung der Auferstehungsgewissheit und die Transformation der Mahlgemeinschaften Jesu mit seinen Jüngern in das Abendmahl Hand in Hand gingen. Um dies zu verdeutlichen, stellt er dem Leser die Situation der Jünger nach der Hinrichtung Jesu vor Augen. Der Tod ihres Herrn habe die Hoffnung der Jünger, ihre Gottesvorstellung, ihre Weltsicht zerstört. Mit Jesu Tod umzugehen, habe deshalb auch bedeutet, nach Erklärungsmöglichkeiten für diesen Tod zu suchen, mit denen die Jünger an ihre bisherigen Überzeugungen anknüpfen konnten. Sie taten dies unter Rückgriff auf die Schrift und auf das, was Jesus sie vom Reich Gottes gelehrt hatte. Parallel dazu setzten sie die Feiern der alltäglichen Mahlgemeinschaften auch nach Jesu Tod fort: „Nun gibt es einige Hinweise im Neuen Testament, dass sich das Bewusstsein von Jesu Präsenz genau in solchen Situationen der gemeinsamen Erinnerung an ihn einstellt. Man kann hier an Lk 24,30 f und Joh 20,19 denken. Es kommt also eine soziale Situation der Erinnerung mit einer theologischen Deutung zusammen, und aus ihrer Einheit erwächst das Bewusstsein von der lebendigen Gegenwart Jesu. Damit wird aus der von Jesus mit seinen Jüngern gehaltenen Mahlgemeinschaft das durch die Deutung des Todes ergänzte und vervollständigte Abendmahl. So wie sich die Vorstellung vom Reich Gottes durch Jesu Tod wandelt, so wird auch das vorösterliche Gemeinschaftsmahl in das nachösterliche Abendmahl transformiert.“22

20   Korsch, Dietrich, Antworten auf Grundfragen christlichen Glaubens. Dogmatik als integrative Disziplin, Tübingen 2016, 219 – 222. Die Überlegungen Korschs zur Entstehung des Abendmahls werden an dieser Stelle präsentiert und nicht im Überblick der systematischen Deutungen, weil ich die Fragestellung nach der Entstehung des Abendmahls für eine genuin neutestamentliche Fragestellung halte, die Korsch aus einer systematischen Perspektive bearbeitet. 21   Schröter, Abendmahl, 161. 22   Korsch, Antworten, 219 f.

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1. Einführung

1.2.1.4 Fazit Im Hinblick auf die Interpretation des Abendmahls als Gabegeschehen war bei der Durchsicht der gegenwärtigen exegetischen Forschung zum Abendmahl besonders interessant, dass betont wird, dass in paulinischer Perspektive vor allem die durch das Abendmahl erwirkte Verbindung mit Christus und die Wirkung dieser Verbindung auf die Gläubigen im Fokus steht, und weniger die Frage nach der Art der Präsenz Christi im Mahl. Ein weiterer für den hier vorzulegenden systematischen Entwurf interessanter Aspekt ist, dass im neutestamentlichen Diskurs die Frage diskutiert wird, ob aufgrund der Struktur der Einsetzungsworte die kirchengeschichtlich gewachsene Verknüpfung des Gedankens der Präsenz Christi mit den Elementen zu halten ist oder ob die Einsetzungsworte diese Präsenz nicht vielmehr mit der gesamten (Gabe)Handlung verbinden. Ferner ist es hilfreich, durch die exegetische Forschung die von Anfang an bestehende Vielfalt in den Deutungen des Abendmahls vergegenwärtigt zu bekommen. Vor dem Hintergrund des Gabediskurses ist diese Vielfalt als im Gabecharakter des Abendmahls selbst angelegt zu bewerten. Es ist in diesem Zusammenhang an den von Marion herausgestellten Gegebenheitscharakter von Phänomenen zu erinnern: Phänomene lancieren nach Marion eine bestimmte Art ihres Verständnisses und lozieren so den Erkennenden neu. Darstellbar ist ein erkanntes Phänomen aber stets nur perspektivisch und damit in einer Pluralität von möglichen Perspektiven.23 Insofern sollte die Vielfalt an Deutungen des Abendmahls als ihm wesentlich begriffen werden. 1.2.2  Das Abendmahl in systematischer Deutung 1.2.2.1  Martin Luthers Abendmahlstheologie als Prüfstein Die Deutung des Abendmahls als Gabe ist in besonders prägnanter Form von Martin Luther entfaltet worden. Insofern bleibt Luthers Abendmahlstheologie für die gegenwärtige Dogmatik und insbesondere für einen dogmatischen Versuch, der wie die vorliegende Arbeit die Leistungsfähigkeit des Gabebegriffs als Deutungskategorie des Abendmahls untersucht, Referenzpunkt und Herausforderung. Eckpfeiler von Luthers gabetheologischem Abendmahlsverständnis ist, dass er von einer Selbstgabe Christi im Abendmahl ausgeht, d. h. dass das Ganze in seiner Person umschlossene Heil dem Menschen im Abendmahl zuteilwird. Dieses Heil wird primär unter den Begriff der Sündenvergebung gefasst. Zueignungsform ist das verheißende Wort, wobei Luther im Laufe der innerprotestantischen Abendmahlsstreitigkeiten zunehmend auf der medialen Vermittlung des Heils durch den für die Feiernden real erfahrbaren Vollzug des Essens von Brot und Wein beharrte. Schließlich ist es für Luthers Abendmahlsverständnis charakteristisch, dass er die 23

  Vgl. Kap. A.2.3.2.3.

1.2  Das Abendmahl in Exegese und Systematik

175

Gabemetaphorik konsequent mit der Wortmetaphorik verknüpft.24 Herausforderung für die gegenwärtige Theologie ist besonders die Betonung der Realpräsenz Christi in den Elementen und, damit einhergehend, insgesamt die Fokussierung auf die Elemente, durch die die metaphorische Bedeutung des Handlungsvollzugs bei Luther in den Hintergrund getreten ist.25 Betrachtet man Luthers Abendmahlstheologie unter der Prämisse, dass er sie als Gabetheologie verfasst hat, so ist es von nicht unerheblichem Interesse, dass für die Gesamtkonzeption der lutherischen Theologie die ‚Gabe‘ eine zentrale Deutungskategorie darstellt. Besonders greifbar wird dies in seiner Schrift „Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis“,26 in der er an eine seinem Verständnis nach abschließende Stellungnahme im Abendmahlsstreit ein persönliches Bekenntnis anschließt, das sich am apostolischen Glaubensbekenntnis orientiert. In diesem Bekenntnis findet sich als Zusammenfassung des vorab Gesagten ein ausgesprochen knappes Bekenntnis, das durchgängig in der Gabesemantik formuliert wurde. In diesem Bekenntnis werden jeweils Gott-Vater, Sohn und Heiliger Geist als Geber und Gabe charakterisiert, und es wird betont, dass Gott sich in seiner Selbsthingabe dem Menschen vollständig zugeeignet habe, d. h. dass über das, was sich dem Menschen im Gabeprozess von Gott vermittelt, nichts mehr Weitergehendes über Gott zu sagen ist. Während für den Sohn und den Heiligen Geist die Charakterisierung als Geber und Gabe relativ geläufig ist, ist auffällig, dass Luther auch Gott Vater in dieser Weise beschreibt. Luther sagt über die erste Person der Trinität: „Der Vater gibt sich uns mit hymel und erden sampt allen creaturen, das sie dienen und nütze sein müssen.“27 Mit dieser knappen Formulierung charakterisiert Luther die Welt als Schöpfung, die der Mensch zu seinem Nutzen gebrauchen kann, macht darüber hinaus aber deutlich, dass die ‚Möglichkeit, eine Welt zu haben‘ den Menschen auf Gott verweist, dass durch die ‚Gegebenheit‘ der Welt Gott dem Menschen 24

  Martin Wendte hebt hervor, dass die Verknüpfung von Gabe- und Wortthematik auch in anderen Bereichen von Luthers Theologie vorkomme. So machten Luthers Predigten deutlich, dass Luther die Schöpfung u. a. auch deswegen als gute Gabe verstand, weil der Mensch durch sie auf Gott verwiesen werde. Als Gabe habe die Schöpfung für Luther Anredecharakter, vgl. Wendte, Martin, Ansprechende Gabe. Luther und das Gabetheorem: Intrinsische Verbindungen, weitere Kontaktpunkte und neue Impulse, in: Ebner, Martin (Hg.), Geben und Nehmen (= JBTh 27), Neukirchen-Vluyn 2013, 321 – 339. 25   Diese Herausforderung ist meines Erachtens in den letzten Jahren mit gewinnbringenden Resultaten bearbeitet worden. Die Auseinandersetzung der Forschung mit Luthers Vorstellung von der Realpräsenz Christi in den Elementen hat zunächst einmal die Beobachtung hervorgebracht, dass Luther diese Realpräsenz nicht substantiell verstand, sondern davon ausging, dass das Wort hier eine neue Wirklichkeit hervorbringe. Eine Art, mit dieser Erkenntnis produktiv umzugehen, stellen z. B. die Arbeiten von Notger Slenczka und Joachim von Soosten dar, vgl. Slenczka, Notger, Neubestimmte Wirklichkeit. Zum systematischen Zentrum der Lehre Luthers von der Gegenwart Christi unter Brot und Wein, in: Korsch, Dietrich (Hg.), Die Gegenwart Jesu Christi im Abendmahl, Leipzig 2005, 79 – 98; von Soosten, Joachim, Präsenz und Repräsentation. Die Marburger Unterscheidung, in: Korsch, Gegenwart, 99 – 122. 26   Luther, Martin, Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis (1528), WA 26, 241 – 509. 27   WA 26, 505, 39 – 41.

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1. Einführung

als Schöpfer – und damit als zugewandt und Leben gewährend – ansichtig wird. Durch die Sünde sei ein durch die Schöpfung vermittelter Gottesbezug für den Menschen jedoch versperrt. Deshalb bedürfe es der erneuten Selbsthingabe Gottes, um das Gott-Mensch-Verhältnis wieder ins Lot zu bringen und dem Menschen den Blick für den Gabecharakter der Welt zurückzugeben. Diese neuerliche Selbsthingabe Gottes vollziehe sich im Leben und Sterben Jesu Christi. Die Selbsthingabe Gottes in Jesus Christus hat für Luther christologisch zur Voraussetzung, dass Vater und Sohn innergöttlich in einem Gabeverhältnis zueinander stehen, dass der Vater dem Sohn Anteil an seinen Eigenschaften gibt und umgekehrt (Idiomenkommunikation). Die Selbsthingabe Christi wird für den Gläubigen dadurch zu einer Gabe, dass er sich Christi Eigenschaften, vor allem seine Gerechtigkeit, d. h. sein ungebrochenes Gottesverhältnis, als ihm eigene Eigenschaften zusprechen lässt. So formuliert Luther etwa in der Vorrede zur Weihnachtspostille „Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten soll“ aus dem Jahr 1522: „Das hewbtstuck vnd grund des Euangelij ist, das du Christum tzuuor, ehe du yhn tzum exempel fassist, auffnehmist unnd erkennist alß eyn gabe vnd geschenck, das dyr von gott geben vnd deyn eygen sey, alßo das, wenn du yhm tzusihest odder hoerist, das er ettwas thutt odder leydet, das du nit tzeyffellst, er selb Christus mit solchem thun vnd leyden sey deyn, darauff du dich nit weniger muegist vorlassen, denn alsz hettistu es than, ia alß werist du der selbige Christus.“28

Indem sich der Mensch Christi Taten als ihm eigene anrechnen lässt, habe er, so Luther, das Heil erlangt. In der Vorrede zur Weihnachtspostille wird sehr deutlich, dass es für Luther das Gabegeschehen ist, das den Glauben als Reaktion hervorruft. „Christus als eyn gabe, nehret deynen glawben und macht dich tzum Christen.“29 Dem Christen kommt bei dem Zustandekommen des Glaubens lediglich der Part des Gewährenlassens zu. „Heltistu hie still vnd lessist dyr gutt thun, das ist, ßo du es glewbist, das er dyr wol thu vnnd helff, ßo hastu es gewiß, ßo ist Christus deyn vnd dyr tzur gabe geschenckt“.30 Auch die Gabe des Heiligen Geistes stellt nach Luthers Bekenntnis von 1528 eine Selbstgabe Gottes dar. Der Heilige Geist bewirkt das Moment des Präsentwerdens der göttlichen Selbsthingabe in Christus im Bewusstsein des Menschen. „So kompt der heilige geist und gibt sich auch uns gantz und gar, der leret uns solche wolthat Christi, uns erzeigt, erkennen, hilfft sie empfahen und behalten, nuetzlich brauchen und austeilen, mehren und foddern [. . .].“31 Es ist interessant, dass Luther als Wirkweisen des Heiligen Geistes das Erkenntnisstiften nennt, aber auch, dass er dem Menschen helfe, ein Empfangender zu sein. Ferner schreibt er dem Wirken des Heiligen Geistes zu, dass er für die 28   Luther, Martin, Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten soll (1522), WA 10,1,1, 8 – 18, hier: WA 10,1,1, 11, 12 – 18. 29   WA 10,1,1, 12, 17 – 18. 30   WA 10,1,1, 14, 5 – 7. 31   WA 26, 506, 4 – 6.

1.2  Das Abendmahl in Exegese und Systematik

177

Kontinuität im Glauben sorge, sowie dem Menschen helfe zu teilen (seien es geistige Einsichten oder materielle Güter). Der Heilige Geist wirke sowohl innerlich als auch äußerlich durch die Verkündigung und die Sakramente. Damit ist der Punkt in Luthers Gabetheologie erreicht, an dem sein Verständnis des Abendmahls als Gabegeschehen entfaltet werden kann. Dies soll im Folgenden geschehen. a)  Luthers Verständnis des Abendmahls als Gabe32 Luther versteht das Abendmahl, im Gegensatz zu den spätmittelalterlichen Interpretationen als Opfer bzw. Memoriale primär als eine durch das Wort vermittelte Heilszueignung und greift, um dies zu beschreiben, in den Schriften der frühen 1520er Jahre den Begriff testamentum der Einsetzungsworte auf.33 Dieser Begriff erscheint ihm insofern geeignet, als durch ein Testament eine Zueignung in Gang gesetzt wird, die unwiderruflich ist, da sie den Tod des Erblassers voraussetzt. Luther treibt seinen Vergleich zwischen Abendmahl und einem Testament noch weiter, indem er betont, dass es bei einem Testament die Worte sind, die dem Erben das Vermächtnis zusprechen, und der gesamte Vorgang dann noch einmal durch ein Siegel bekräftigt werde. Ganz parallel dazu seien es im Abendmahl die Worte Jesu, konkret die Einsetzungsworte, durch die dem Menschen das Heil zugeeignet werde. Die Beglaubigung der Gültigkeit dieser Worte geschehe durch Jesu Tod, der durch die Elemente für die Feiernden greifbar sei. Dies wird an einer Passage aus dem „Sermon von dem neuen Testament“ deutlich, in der Luther Christus folgende Worte als direkte Rede in den Mund legt: „ʿSihe da, mensch, ich sag dir zu und bescheyde dir mit dißen worten vorgebung aller deyner sund und das ewig leben, und das du gewiß seyest und wissest, das solch gelubd dir unwidderruefflich bleyb, ßo wil ich drauff sterben und meyn leyb und bluet dafur geben, vnd beydes dir zum zeychen und sigell hynder mir lassen, da bey du meyn gedencken solt, wie er sagt, ʿßo offt yhr das thut, ßo gedenckt an mich!“34 32   Dass die Deutung des Abendmahls als Gabegeschehen bei Luther die prägende, aber nicht die einzige Deutung des Abendmahls ist, zeigt seine sehr frühe Schrift „Sermon vom hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leibes Christi und von den Bruderschaften“ (1519), WA 2, 742 – 758. In ihr interpretiert Luther das Abendmahl als Gemeinschaftsmahl und versteht dabei ‚Gemeinschaft‘ in zweifacher Hinsicht: als Gemeinschaft mit Christus und Gemeinschaft mit den zu einem ‚Leib‘ zusammengeschlossenen Christen. Vor dem Hintergrund des soziologisch-philosophischen Gabediskurses wenig überraschend verbirgt sich allerdings auch in der Deutung des Abendmahls als Gemeinschaftsmahl letztlich das Gabemotiv. Gemeinschaft mit Christus zu haben, bedeutet nach Luther, von ihm Anteil zu bekommen an seinen ‚geistigen Gütern‘, d. h. an dem durch ihn vermittelten Heil. Gemeinschaft mit Christus zu haben, heiße aber auch, Anteil zu haben an dem, woran Christus leide, und das sei das Leid der Mitchristen, das sich Christus zu eigen mache. Luther verknüpft also einen ethischen Impuls, der vom Abendmahl ausgehen sollte, durch die Deutung als Gemeinschaftsmahl unmittelbar mit dem Gabemotiv. 33   Prominent etwa im „Sermon von dem Neuen Testament, das heißt: von der heiligen Messe“ (1520), WA 6, 353 – 378, in „Vom Missbrauch der Messe“ (1521), WA 8, 482 – 563 und in „De captivitate Babylonica ecclesiae“ (1520), WA 6, 484 – 573. 34   WA 6, 358, 18 – 24.

178

1. Einführung

Die Tatsache, dass Luther in den Schriften der frühen 1520er Jahre die Wirkmächtigkeit des Abendmahls an das in ihm enthaltene Wortgeschehen bindet, nötigt an dieser Stelle dazu, einige kurze Ausführungen zu Luthers Wort-Verständnis zu machen. Von theologischen Lutherinterpreten wie Dietrich Korsch oder Joachim Ringleben wird bei der Charakterisierung der ‚Wort Gottes-Theologie‘ Martin Luthers immer wieder der Anredecharakter des Wortes hervorgehoben.35 Damit ist gemeint, dass das Wort Gottes auf die Zueignung Gottes für den Hörenden abzielt. Es geht im Verlauten von Gottes Wort um das, was eine der Grundbedeutungen des lateinischen Wortes communicare besagt, zu „vereinigen“.36 „Christlich gesprochen muss daher die Sprache als solche immer von Gott und vom Menschen her zugleich gedacht werden: als Ort ihrer Begegnung.“37 Wie zentral für Luther der Anredecharakter des Wortes ist, wird auch in den sog. Abendmahlstreitigkeiten deutlich, in dessen Verlauf Luther immer wieder betont, die Abendmahlsworte seien keine Beschreibungen, sondern Verheißungen. Die Charakterisierung des Wortes als Ort der Begegnung von Gott und Mensch ist nun dahingehend zu präzisieren, dass diese Begegnung nicht anders zu verstehen ist, als dass der Mensch, angestoßen durch das Wort, zu einer grundsätzlichen Neudeutung seiner selbst im Lichte Gottes gelangt; zu einer Selbstdeutung, die darauf beruht, dass der Mensch Gott ‚seinen Gott‘ sein lässt.38 Dabei ist der Mensch durch das Wort einerseits mit der Forderung Gottes, mit dem Gesetz, das ihn vor allem seine Gottferne, also seine sich immer wieder vollziehende Selbstdeutung unter Absehung von Gott, erkennen lässt, konfrontiert und andererseits mit Gottes Verheißung, dem Evangelium. Diese Verheißung ist die Zusage, dass die das Leben Jesu bis in seinen Tod hinein prägende Gerechtigkeit, die in seinem ungebrochenen Gottvertrauen bestand, dem gläubigen Menschen zugerechnet wird, dass Gott den gläubigen Menschen mit Christus identifiziert: „Die Momente des Lebensgehorsams Christi werden dem Menschen im Evangelium

35   Korsch, Dietrich, Martin Luther. Eine Einführung, Stuttgart 2007, 39. Sowie: Ringleben, Joachim, Gott im Wort. Luthers Theologie von der Sprache her, Tübingen 2010, 9. 36   Georges, Handwörterbuch, 1326 f. 37   Ringleben, Gott im Wort, 9. 38   In seiner Auslegung des Johannesprologs in der Wartburgpostille beschreibt Luther das „von neuem Geborenwerden aus dem Geist“, vgl. Joh 1,13; Joh 3,5, als ein zum Glauben kommen. Dieses Zum-Glauben-Kommen charakterisiert Luther als ein Sich-den-Worten-des-Evangeliums-Überlassen als ein Sich-führen-Lassen – das ja immer auch ein Akt des Vertrauens ist – durch das dann eine Veränderung des Menschen bewirkt wird. Das Evangelium beginne den Verstand zu bestimmen und durch diesen dann auch den Willen und die Affekte des Menschen. Luther bemüht das Bild eines Führungswechsels, da für ihn zuvor der natürliche Verstand leitend gewesen war. Wie grundsätzlich die hier beschriebene Umorientierung des Menschen zu bewerten ist, macht Luther durch einen Vergleich mit einer Schlange deutlich, die ihre alte Haut verlässt: „Unnd muß alßo der gantz mensch ynn das Euangelium kriechen unnd alda new werden, die allte hawtt außziehen, wie die schlange thutt, wenn ihr hawtt allt wirtt [. . .].“, Martin, Luther, Kirchenpostille. Evangelium in der hohen Christmesse (1522), WA 10,1,1, 233, 11 f.

1.2  Das Abendmahl in Exegese und Systematik

179

als Urteil Gottes zugeeignet.“39 Einer der zentralen Gedanken Luthers besteht nun darin, dass das Wort wirkmächtig den Glauben im Sinne der eben beschriebenen Selbstdeutung im Lichte Gottes entstehen lässt. Glauben entsteht ex auditu, d. h. aus einem Für-sich-selbst-gelten-lassen des Wortes: „‚Hören‘ bedeutet in diesem soteriologisch gefüllten Sinn: an nichts anderem als am bloßen Wort hängen.“40 Die zur Charakterisierung lutherischer Soteriologie üblich gewordene Formel sola fide besagt, dass der Mensch in eben diesem Für-sich-gelten-lassen des göttlichen Wortes Gott die Ehre gibt und so trotz all seiner Unzulänglichkeit das 1. Gebot erfüllt und ihm dies von Gott als vollständige Gerechtigkeit angerechnet wird: „Dasselb wort gottis ist das erst, der grund, der felß, darauff sich ernoch alle werck, wort, gedancken des menschen bawen, wilchs wort der mensch muß danckbarlich auffnehmen und der gotlichen zusagung trewlich gleuben und yhe nit dran zweyffeln, es sey und gescheh also, wie er zusagt. Diße trew und glaub, ist der anfang, mittell und end aller werck und gerechtickeit, dan die weyl er gott die eere thut, das er yhn fur warhafftig helt und bekennet, macht er yhm einen gnedigen gott, der yhn widderumb eeret vnd warhafftig bekennet vnd helt.“41

Die Grundaussage der Abendmahlstexte Luthers aus den frühen 1520er Jahren, dass der Glaube und das damit verbundene Heil im Abendmahl durch die Einsetzungsworte bewirkt werden und dass der so entstandene Glaube dann die Kommunion der Elemente als Bekräftigung wahr- und aufnehmen kann, wird von Luther in seiner Auseinandersetzung mit den Schweizern und Oberdeutschen noch einmal modifiziert. Bekanntlich geht es in der besagten Auseinandersetzung um die Realpräsenz Christi in den Elementen. Dass Luther sich vehement für die Realpräsenz einsetzt, folgt einerseits organisch aus seinem Verständnis des göttlichen Wortes als wirkmächtig, das, wenn es die Gegenwart Christi aussagt, diese Präsenz auch bewirkt.42 Zum anderen ist es verständlich vor dem Hintergrund eines Charakteristikums von Luthers Wort-Theologie, das in den bisherigen Ausführungen noch nicht ausreichend hervorgehoben wurde. Bei Luther kommt das göttliche Wort immer im menschlichen Wort zur Verlautbarung, was Joachim Ringleben dazu veranlasst von einer „Kondeszendenz Gottes“ im menschlichen Wort zu sprechen.43 Gerade dies ist der entscheidende Unterschied zur Theologie Zwinglis, der eine Verbindung von Geistigem und Materiellem nicht zulässt. Die Pointe von Luthers Verständnis der Realpräsenz Christi in den Elementen besteht jedoch darin, dass er die Präsenz Christi anders als die Theologen, die von einer Transsubstantiation ausgingen, und anders auch als Zwingli nicht substanzontologisch versteht, sondern eben als eine durch das Wort geschaffene Wirk39   Slenczka, Notger, Art. „Christus“, in: Beutel, Albrecht (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 2010, 381 – 391, hier: 384. 40   Ringleben, Gott im Wort, 38. 41   WA 6, 356, 6 – 13. 42   Vgl. etwa Luthers Ausführungen in WA 26, 284. Hier wird deutlich, dass Luther die Promissio im Grunde als eine Form von Schöpfungswort versteht. 43   Ringleben, Gott im Wort, 26.

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1. Einführung

lichkeit. Den Zusammenhang zwischen dem Wort und der von ihr geschaffenen Wirklichkeit begründet Luther in zweifacher Hinsicht. Für ihn ist die tatsächliche Wirksamkeit immer Eigenschaft des göttlichen Wortes, aber er argumentiert auch unter Rückgriff auf die Rhetorik. So bewirke eine antithetische Prädikation zum einen die Veränderung des Wortsinns des Prädikats, so dass eine im ursprünglichen Wortsinn unsinnige Aussage keineswegs unsinnig sei: „Denn vocabülüm simplex & metaphoricum sind nicht ein / sondern zwey wort“.44 Zum anderen geschehe in der antithetischen Prädikation sprachlich eine Zuschreibung, die wirklichkeitssetzenden Charakter habe. „Die Neudefinition verfährt nicht sinnlos, sondern ergänzt den festgehaltenen semantischen Gehalt durch antithetische Prädikate. Der sprachliche Vorgang ist gerade nicht das Konstatieren von vorfindlichen Prädikaten, sondern ein Vollzug der Zuschreibung von etwas ursprünglich Fremdem als Eigenes. [. . .] Dem sprachlichen Vollzug der Attribution entspricht also die Neubestimmung der Wirklichkeit, die zugleich sie selbst ist und anderes ist als sie selbst: ihr Gegenteil.“45 Notger Slenczka macht deutlich, dass Luthers Vorstellung von der Realpräsenz Christi in Brot und Wein damit eine parallele Struktur zu seiner durch die Lehre von der Communicatio idiomatum geprägten Christologie und vor allem zu seiner Lehre von der Rechtfertigung als zugesprochener Gerechtigkeit aufweist: „Die Lehre Luthers von der Realpräsenz fügt sich ein in ein Verständnis des Evangeliums als Kommunikationsvorgang, in dem die im identifizierenden Urteil festgeschriebene widerspruchsfreie Identität in einem neuen Urteil über sich selbst hinausgehoben und als mit dem anderen seiner selbst identisch präzisiert und beurteilt wird.“46 b) Fazit Bedenkt man, dass für Luther die Wirkmächtigkeit des Abendmahls an dem in ihm enthaltenen Wortgeschehen hängt, so ergeben sich vor dem Hintergrund des in dieser Arbeit zum zeitgenössischen Gabediskurs der Soziologie und Philosophie Erarbeiteten zwei Aspekte, die in den folgenden Kapiteln dieser Arbeit weiter beleuchtet werden sollen. 1.) Die weiterführenden Interpretationen von Mauss’ „Essai sur le don“ durch Hénaff und Ricœur hatten den Gabentausch als Form der nonverbalen Kommunikation beschrieben, durch den Anerkennung ausgedrückt und an den Empfänger der Gabe appelliert wird, in ein gemeinschaftliches Verhältnis zum Geber zu treten. Das im Ritus des Abendmahls inszenierte Gastmahl stellt nach Mauss eine typische Form des Gabentausches dar. Martin Luther konzentriert sich in seinen Aussagen zum Abendmahl – anders etwa als Erasmus – in einem solchen Maße auf die Einsetzungsworte und ihr Verhältnis zu den Elementen und zur Kommu44

  WA 26, 277, 5.   Slenczka, Neubestimmte Wirklichkeit, 95. 46   Slenczka, Neubestimmte Wirklichkeit, 95. 45

1.2  Das Abendmahl in Exegese und Systematik

181

nion,47 dass das im Abendmahl inszenierte Gastmahl keine entscheidende Rolle spielt. Es stellt sich nun jedoch die Frage, wie die durch die Handlung des Gastmahls vollzogene Kommunikation im Sinne Luthers einzuordnen ist. Ist sie, wenn auch nonverbal, als Wortgeschehen aufzufassen? Oder ist sie wie die Kommunion als bekräftigendes ‚Unterpfand‘ zu werten, wobei immer zu berücksichtigen bleibt, dass Luther seit dem innerreformatorischen Abendmahlsstreit die Kommunion selbst als stärker in die Heilszueignung involviert angesehen hat? Aufgrund des ‚Anredecharakters‘, der der Einladung zum Gastmahl innewohnt, plädiere ich dafür, es als Teil des sich im Abendmahl ereignenden Wortgeschehens zu begreifen, obgleich es eine Handlung darstellt. Dies wird dadurch gestützt, dass sowohl das Wortgeschehen im engeren Sinne als auch das inszenierte Gastmahl auf die Gemeinschaft von Gott und Mensch zielen. Allerdings kann das Gastmahlgeschehen die im gesprochenen Wort enthaltene Dialektik zwischen Gesetz und Evangelium nicht adäquat abbilden. Es ist nur fähig, die Bejahung zum Ausdruck zu bringen. Betrachtet man das inszenierte Gastmahl jedoch in seiner Wechselwirkung mit dem gesprochenen Wort, so fällt auf, dass das Gastmahl, ähnlich wie das Essen und die Elemente, durch das Wort noch einmal eine Transzendierung oder in Anlehnung an Luthers Sprachgebrauch eine ‚Vernewung‘ erfährt.48 Allerdings geht diese ‚Vernewung‘ nicht von den Einsetzungsworten, sondern vom Erzählrahmen aus. Dies ist jedoch insofern unproblematisch, als uns anders als Luther aufgrund der heutigen exegetischen Forschung deutlich ist, dass es sich bei den Einsetzungsworten nicht um direkte Jesusworte handelt und sie bis ins 3. Jahrhundert hinein nicht Teil der Liturgie waren,49 d. h. die Einsetzungsworte und ihr Erzählrahmen stehen grundsätzlich auf einer Stufe, sie sind Menschenworte, Zeugnis gläubiger Christen, durch die Gottes Wort vernehmbar werden kann und vernehmbar wird. Es bleibt eine der Aufgaben der nachfolgenden Interpretation des Abendmahls als Gabe, zu entfalten, wie das Ineinandergreifen von Wort und Handlung zum Medium der Erschließung Gottes und damit verbunden des menschlichen Heils wird. 2.) In den philosophischen Beiträgen zum Gabediskurs wird die Gabe jeweils durch den Begriff ‚Ereignis‘ interpretiert. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass eine Gabe keine Größe darstellt, die durch die Intention des Gebers hervorgerufen werden kann. Diese Grundannahme trifft auch für das im folgenden Kapitel in Anlehnung an Dalferth vertretene Gabeverständnis zu, wonach dann von einer Gabe zu sprechen ist, wenn sie dem Geber neue Möglichkeiten eröffnet. Dies wirft vor dem Hintergrund der dargestellten Abendmahlstheologie Luthers jedoch die 47   Vgl. die Darstellung der Abendmahlstheologie des Erasmus von Rotterdam bei Wendebourg, Dorothea, Essen zum Gedächtnis. Der Gedächtnisbefehl in den Abendmahlstheologien der Reformation, Tübingen 2009, 23 – 39. 48   Luther spricht in seiner Schrift „Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis“ immer wieder von „vernewete[n] worte[n]“ (gram. Angleichung: C. M.), vgl. WA 26, 273, 12. 49   Vgl. die Ausführungen bei Schröter, Abendmahl, 132 f. sowie 170

182

1. Einführung

Frage auf, wie die Vorstellung von der Wirkmächtigkeit des göttlichen Wortes mit der Kontingenz, die dem Begriff ‚Ereignis‘ inhärent ist, zu vereinbaren ist. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass Luthers Grundannahme, dass Gotteswort im menschlichen Wort zu vernehmen ist, auch ‚eine Entäußerung Gottes ins menschliche Wort‘ darstellt, d. h. eine Bindung an ein äußeres Geschehen ist, das, wie Joachim von Soosten richtig herausstellt, Auswirkung auf die Vorstellung von der göttlichen Souveränität hat: „Sie verbleibt nun nicht mehr im Interpretationsrahmen der Selbstmächtigkeit Gottes (potentia absoluta), sondern erfährt eine Inversion zugunsten der Selbstbindung Gottes (potentia ordinata) in der Welthaftigkeit seines Wesens.“50 Für die Möglichkeit, das Entstehen des Glaubens aus dem Wort als Ereignis zu interpretieren, ist die Vorstellung der Selbstbegrenzung der göttlichen Allmacht durch Einschluss des göttlichen Wortes in das Menschenwort Voraussetzung. Exkurs: Die Rezeption des soziologisch-philosophischen Gabediskurses in der Lutherforschung Die Rezeption des soziologisch-philosophischen Gabediskurses hat in der Luther­ forschung zu einer Auseinandersetzung um das lutherische Verständnis von Rechtfertigung geführt, die im Folgenden kurz skizziert werden soll. Angestoßen wurde diese Auseinandersetzung durch die Thesen des dänische Kirchenhistoriker Bo Kristian Holm, der in seinem Buch „Gabe und Geben bei Luther“ sowie in zahlreichen Aufsätzen die Auffassung vertritt,51 dass bei der Interpretation der Rechtfertigung in der Geschichte der modernen Lutherforschung bisher der Tatsache, dass Rechtfertigung ein effektives Gerechtwerden des Sünders bedeute, zu wenig Beachtung geschenkt worden sei. Man habe Luthers Verständnis von einem neuen Leben des Christen in Christus angesichts einer als hermeneutisches Geschehen verstandenen Rechtfertigung aus dem Blick verloren.52 Holm sieht die Ursache hierfür auch darin, dass das bei Luther vorhandene Motiv der 50

  von Soosten, Präsenz, 119.   Holm, Bo Kristian, Gabe und Geben bei Luther. Das Verhältnis von Reziprozität und reformatorischer Rechtfertigungslehre, Berlin 2006 (TBT 134). Ders., Wechsel ohnegleichen. Über die Grundstruktur der Rechtfertigung und der Heiligung und das Austauschen von „Gaben“ in Luthers „tractatus de libertate christiana“, in: NZSTh 40 (1998), 182 – 196. Ders., Luther’s Theology of the Gift, in: Ders. / Gregersen, Niels Henrik / Peters, Ted, The Gift of Grace. The Future of Lutheran Theology, Minneapolis / MN 2005, 78 – 86. Ders., Der fröhliche Verkehr. Rechtfertigungslehre als GabeTheologie, in: Hoffmann, Veronika (Hg.), Die Gabe – ein „Urwort“ der Theologie?, Frankfurt / Main 2009, 33 – 53. Ders., Justification and Reciprocity. Purified Gift-Exchange in Luther and Milbank, in: Ders. / Widmann, Peter, Word – Gift – Being: Justification – Economy – Ontology (= RPT 37), Tübingen 2009, 87 – 116. 52   Holm legt in seinem Forschungsüberblick dar, dass fast die gesamte moderne Lutherforschung seines Erachtens das Moment der Heiligung vernachlässigt. Positive Ausnahmen sind für ihn Karl Holl, sowie Oswald Bayer und die neuere finnische Lutherforschung, an die Holm anknüpft. Vgl. Holm, Gabe, 19 – 47. 51

1.2  Das Abendmahl in Exegese und Systematik

183

reziproken Gabe bisher nicht ausreichend in den Blick genommen worden sei. Als Grund dafür benennt Holm die mit den reziproken Strukturen stets verbundene Gefahr, dass sie als Werkgerechtigkeit missverstanden werden können.53 Um dieser Gefahr zu entgehen, sei in weiten Teilen der Lutherforschung ein Verständnis von Gabe in Luthers Theologie eingezeichnet worden, nach der Gabe ausschließlich ein einseitiges Geschehen darstellt. Bei seinen Überlegungen kann Holm auf Vorarbeiten von Risto Saarinen zurückgreifen, der sich in seinem Buch „God and the Gift“ generell mit dem Gabephänomen auseinandersetzt,54 aber auch ausführlich auf Luthers Gebrauch der Gabesemantik eingeht und hierbei den Fokus des Lesers u. a. auf ‚reziproke‘ Strukturen lenkt. Allerdings führt Saarinen seine über zehnjährige Beschäftigung mit der Gabethematik nach Veröffentlichung dieses Buches dazu, linguistische Arbeiten zum Verb ‚geben‘ in seine Überlegungen mit einzubeziehen. Dies sowie ausführliche Untersuchungen an Luthers Werk lassen ihn schließlich in dem Buch „Luther and the Gift“ zu einer weitgehenden Bejahung des Standpunktes von Ingolf U. Dalferth kommen,55 der eine Gegenposition zu Holm vertritt. Dalferth unterstreicht in seinem Buch „Umsonst. Eine Erinnerung an die kreative Passivität des Menschen“ die klassische Interpretation des Gabemotivs bei Luther,56 derzufolge mit dem Begriff ‚Gabe‘ die Passivität des Menschen angesichts des göttlichen Heils hervorgehoben wird. Im Folgenden sollen die Positionen der drei Autoren Holm, Dalferth und Saarinen kurz nachgezeichnet werden. In seinem Buch „Geben und Gabe bei Luther“ untersucht Bo Kristian Holm das Gabemotiv in den Schriften Luthers und stellt sich vor allem die Frage, welche Bedeutung einem reziproken Gabegeschehen in Luthers Theologie zukommt. Als theoretischen Bezugsrahmen stützt er sich dabei auf die Überlegungen zur Reziprozität von Marshall Sahlins und auf die Gabetheorie von Pierre Bourdieu.57 Holm geht von einer Entwicklung bei Luther aus, die zeitlich mit seiner Abwendung vom klösterlichen Leben und der Aufgabe, kirchliche Strukturen aufzubauen, einhergeht. Während in Luthers frühen Schriften das Moment der Selbstpreisgabe, das Absterben des ‚alten‘ Menschen, die tiefe Demütigung und Reue als menschliches Äquivalent zu dem rechtfertigenden Handeln Gottes verstanden worden seien, habe sich mehr und mehr ein Verständnis der Rechtfertigung als Gabe durchgesetzt, bei dem die Gabe selbst den Menschen verwandele und dieser in gewisser Weise selbst zum Geben befähigt werde.58 Am Text des Gala53

  Holm, Gabe, 3.   Saarinen, Risto, God and the Gift, An Ecumenical Theology of Giving, Collegeville / MN 2005. 55   Ders., Luther and the Gift (= SMHR 100), Tübingen 2017. 56   Dalferth, Umsonst, 50 – 91. 57   Sahlins, Marshall D., On the Sociology of Primitive Exchange, in: Komter, Aafke E. (Hg.), The Gift. An Interdisciplinary Perspective, Amsterdam 1996, 26 – 38. Bourdieu, Pierre, Sozialer Sinn. Ders., Praktische Vernunft. 58   Als Wendepunkt begreift Holm den Übergang vom „Sermon Die S. Andreae“ zum „Sermon de duplici iustitia“ und die hier vollzogene Aufgabe der dem juristischen Bereich entnommenen 54

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1. Einführung

terkommentars von 1519 macht Holm deutlich, dass seines Erachtens zu diesem Zeitpunkt reziproke Strukturen einen festen Platz im Denken Luthers gewonnen haben, dass den Verben do und reddo ein zentraler Stellenwert zukomme.59 Allerdings sei auch dann, wenn Luther auf eine reziproke Denkstruktur zurückgreife, die absolute Vorrangstellung der göttlichen Gabe der Rechtfertigung gewahrt, weil er die Rechtfertigungslehre auf die Christologie beziehe. Dabei deute Luther den Kreuzestod Christi einerseits als Akt der Hingabe des Sohnes an den Vater, andererseits als Gabe des Lebens an die Menschen. „Die Selbsthingabe Christi wirkt auf diesem Hintergrund wie die ‚erste unbedingte Gabe‘, die als die erste Gabe einen nicht einzuholenden Überschuss zum Inhalt hat, der dazu beiträgt, die notwendige Asymmetrie aufrecht zu erhalten.“60 An verschiedenen Stellen macht Holm deutlich, dass Luther die Rechtfertigungslehre in mehreren seiner Schriften in der Auseinandersetzung mit der gängigen antiken Formel der Verteilungsgerechtigkeit suum cuique tribuere entwirft und die Frage als zentral betrachtet, wie der Mensch Gott das Seine zukommen lassen könne. In der Römerbriefvorlesung aber auch in seiner Schrift „De libertate christiana“ führe Luther aus, dass der Glaube gerade dadurch Gerechtigkeit sei, dass er Gott suum zukommen lasse: der Mensch gebe im Glauben Gott nämlich dadurch die Ehre, dass er anerkenne, dass er alles von Gott empfange und ihm seinerseits nichts geben könne.61 Holm wertet dieses Anerkennen seitens des Menschen als Antwort auf das rechtfertigende Handeln Gottes jedoch gerade als Gegengabe des Menschen. Es sei festzustellen, dass bei Luther das Moment der Gegengabe eine Brechung erfahre: der Mensch gebe Gott dadurch die Ehre, dass er versteht, dass er Gott eigentlich nichts geben kann.62 „Die ‚Gabe‘ des Christen ist jedoch zweideutig, weil sie in erster Linie die durch die Sündenerkenntnis vermittelte Anerkennung dessen ist, dass nur Gott ‚Geber‘ ist.“63 Auch in seinem Galaterbriefkommentar entfalte Luther den Gedankengang, dass das Gesetz den Menschen anklage und ihn dazu auffordere, Gott das zurückzugeben, was der Mensch ihm schulde, und differenziere dann zwischen einer äußeren, kalkulierenden Gerechtigkeit, bei der der Mensch Metapher der cessio bonorum zugunsten der Ehemetaphorik. Da dieses Bild auch den Gedanken der Gütergemeinschaft impliziere, ermögliche es Luther in späteren Schriften, mit seiner Hilfe den Gedanken der menschlichen Heiligung zu entfalten, da nun deutlich sei, dass alles, was der Christ an Gutem vermöge, letztlich das Wirken Christi in ihm sei, vgl. Holm, Gabe, 60. Der entscheidende Vorteil des Bildes von der Ehe gegenüber dem Bild der cessio bonorum sei es, dass letzteres keine Brücke biete, um eine Restauration einer Gott-Mensch-Gemeinschaft zu denken, vgl. Holm, Gabe, 236. 59  Vgl. Holm, Gabe, 74 ff. 60   Holm, Gabe, 244. 61  Vgl. Holm, Gabe, 51 und 238. 62   An dieser Stelle greift Holm auf die Überlegungen Bourdieus zur Gabe zurück, denen gemäß eine Gabe, wenn sie sich nicht selbst annullieren sollen, notwendigerweise vom Geber verkannt werden müsse, vgl. Kap. A.1.3. 63   Holm, Gabe, 238.

1.2  Das Abendmahl in Exegese und Systematik

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aus Kalkül versuche, das Gesetz zu erfüllen, und einer inneren Gerechtigkeit, bei der der Mensch seine eigene Unfähigkeit, das Gesetz zu erfüllen, erkenne, und sich ganz der göttlichen Barmherzigkeit anheimstelle. Der Galaterbriefkommentar gehe jedoch insofern noch einen Schritt weiter, als nicht nur das Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit als die Erfüllung der Gerechtigkeit angesehen werde, sondern es bei dem Sich-Beziehen auf die göttliche Barmherzigkeit und den Namen Christi zu einer Gott gewirkten Vereinigung von Seele und Christus komme und der Christ Anteil gewinne an Christi Gerechtigkeit.64 Der Heilige Geist werde in das Herz des Gläubigen eingegossen und er werde Gottes Kind. Und nur durch das Anteilgewinnen an Christus könne der Christ Gott das Seine zukommen lassen. „Die Miteinbeziehung des Christen in die göttliche Reziprozität ist nur möglich auf dem Hintergrund der Vereinigung mit Christus, die Christus zum Subjekt der Christen werden lässt. Diese Vereinigung kann jedoch selbst nur durch den Gebrauch von Reziprozitätsstrukturen ausgedrückt werden.“65 Hierbei denkt Holm vor allem an die Metaphern von der Ehe zwischen Christus und der Seele und an die Metapher vom fröhlichen Wechsel. Nach Holm eröffnet Gottes Gabe der Rechtfertigung bei Luther dann den Christen die Möglichkeit, ihrerseits ihren Mitmenschen zu geben, und zwar dem Exemplum Christi gemäß einzig am Wohl des Mitmenschen orientiert. Dalferth unterstreicht in seiner Auseinandersetzung mit Holms Lutherinterpretation, dass die Rechtfertigung des Menschen ein Geschehen darstellt, in dem er selbst vollständig passiv ist. Unter mere passive versteht Dalferth,66 dass dem Menschen nicht der Part zukommt, die Rechtfertigung zu empfangen, sie zuzulassen, sich für sie zu öffnen oder Ähnliches. „Das ‚empfangen‘ wird hier also gerade nicht als eine Aktivität des Menschen verstanden, sondern passiv als ein gar ‚nichts tun‘. Man wird Christ nicht dadurch, dass man etwas empfängt, sondern allein durch das, was man von Gott empfängt. Gottes Gabe, nicht das Empfangen dieser Gabe macht Sünder zu Christen.“67 Während Holm, den Prämissen, die sich durch die Orientierung an reziproken Gabestrukturen ergeben, folgend, primär die Restauration der Gott-Mensch-Beziehung in den Fokus stellt, ist die Gabe der Rechtfertigung bei Luther nach Dalferth ein kreativer Akt der Neuschöpfung. Es handele sich dabei um eine Gabe, die das entstehen lasse, was sie gibt. Dieser Akt der Neuschöpfung habe bei Luther verschiedene Momente, so Dalferth. An erster Stelle stehe die Vernichtung des Sünders. Dabei sei unter Sünde zu verstehen, dass der Mensch sein eigenes ‚Gegebensein‘, das seinem Wesen als Geschöpf ent64   Holm, Gabe, 74 ff. Die Darstellung der gegenüber anderen Schriften leicht modifizierten Argumentation des Galaterbriefkommentars ist Holm insofern wichtig, als er hier meint, deutlich machen zu können, dass sich die Rechtfertigung des Sünders nicht allein als hermeneutisches Geschehen fassen lässt. 65   Holm, Gabe, 244. 66   Dalferth, Umsonst, 50 ff. 67   Dalferth, Umsonst, 56.

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1. Einführung

spreche, und damit seinen Gottesbezug leugne, dass er seine aller eigenen Aktivität vorgängige Passivität verneine. Dementsprechend könne vom sündigen Menschen gerade keine Kooperation in Bezug auf seine Rechtfertigung erwartet werden, sondern im Gegenteil ein scharfer Widerstand gegen diese. Nach der Vernichtung des Sünders, erfolge dann ein Neuwerden des Menschen, das einer creatio ex nihilo gleichkomme. Inhaltlich sei das Sein des neuen Menschen bei Luther durch eine Partizipation am Christusgeschehen qualifiziert. „Aus diesem Zustand wird er neu geschaffen, indem er mere passive zum Christianus wird – und zwar deshalb zum Christianus, weil dieses mere passive Werden, das Luther mit der Metapher vom fröhlichen Wechsel erläutert, soteriologisch als Eintreten für den Sünder entfaltet wird, und zwar in dem doppelten Sinne, dass Christus einerseits dessen Sünde und ihre Folgen ganz umsonst übernimmt (der Sünder also ganz passiv von ihr befreit wird) und dass er andererseits dem Sünder an seinem eigenen Leben mit Gott ganz umsonst Anteil gibt (der Sünder also ganz passiv in den Genuss von Gottes lebensstiftender Zuwendung zu Jesus Christus kommt).“68

Der Mensch könne bei seiner Rechtfertigung nicht kooperieren, sondern sich lediglich posthum zu ihr verhalten, ähnlich wie ein Erbe zu seiner Erbschaft oder ein Befreiter zu seiner Befreiung, da die Rechtfertigung eine das Sein des Gerechtfertigten konstituierende Gabe darstelle. Luther sehe in der absoluten Passivität des Menschen in Bezug auf seine Rechtfertigung jedoch einen Vorteil, weil sie so nicht wieder von ihm verspielt werden könne. Dalferth betont, dass die Kontinuität zwischen dem ‚alten‘ und dem ‚neuen‘ Menschen lediglich darin bestehe, dass Gott auf ihn Bezug nehme.69 Was die Heiligung betrifft, so stellt Dalferth klar, dass der Mensch in diesem Geschehen zwar aktiv werde, dass diese Aktivität aber nach Luthers Auffassung eine Aktivität sei, die aus dem Wirken Gottes an dem Gerechtfertigten entstehe. „Das heißt, das Aktivitätszentrum und die Aktionskraft dieser guten Werke ist nicht der menschliche Täter von sich aus, sondern der in und durch ihn wirkende gut und gerecht machende Gott.“70 Das Sein des Christen bleibe dauerhaft durch das Einbezogenwerden in das Sein Christi bestimmt, und diese existentielle Bestimmtheit präge sein Handeln. Deshalb rechne Luther die ‚guten Werke‘ auch nicht den Menschen an, sondern Gott und könne sie auch nur dann als solche verstehen, wenn die Gläubigen in dem Selbstverständnis handelten, dass ihr Tun Gott zuzuschreiben sei. Dalferth prägt für die Aktivität der Gerechtfertigten die Begriffe „Passivitätsaktivität“ und „Passivitätsbestimmtheit“.71 Wie bereits erwähnt, ist die Arbeit, die Saarinen in seinem Buch „God and the Gift“ vorlegt, eine wichtige Vorlage für die Untersuchungen von Holm. Saarinen stellt sich dem Gedankenexperiment, wie sich die theologischen Akzentsetzun68

  Dalferth, Umsonst, 68.   Dalferth, Umsonst, 83. 70   Dalferth, Umsonst, 73. 71   Dalferth, Umsonst, 75. 69

1.2  Das Abendmahl in Exegese und Systematik

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gen verändern würden, wenn nicht das Empfangen, verstanden als ein passives Geschehen, im Fokus der Aufmerksamkeit stünde, sondern der göttliche Akt des Gebens. Saarinen spricht immer wieder von einem Wechsel von einer ‚am Empfänger orientierten‘ zu einer ‚am Geber orientierten‘ Sicht.72 Und es ist für ihn schon in der ersten Annäherung an das Thema ‚Gabe‘ klar, dass diese veränderte Akzentsetzung automatisch die Vorstellung von einem aktiven bzw. aktivierenden Empfangen nach sich ziehen müsse, da Geben als eine von Intentionen geleitete Handlung zu verstehen sei und die Intention des Gebens als eines Kommunikationsaktes eben darin bestehe, eine Antwort zu erhalten.73 Ein Kapitel des Buches widmet Saarinen Luther und bezieht sich neben dem in der Gabesemantik formulierten Bekenntnis aus Luthers Schrift „Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis“ auf die beiden Katechismen sowie den Großen Galaterkommentar von 1535, die Römerbriefvorlesung und die Auslegung der Goldenen Regel. In seiner Auslegung des Großen Galaterkommentars betont Saarinen, dass der Gläubige für Luther nicht nur Begünstigter der Selbsthingabe Jesu in den Tod sei, sondern dass dieser Akt für Luther zugleich ein Ausdruck von Liebe-Geben sei, bei dem der Mensch den Empfänger der Gabe darstelle. Ferner betont er, dass die Selbsthingabe Jesu in den Tod immer auf die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch ziele, auf die unio, so dass auch in dieser Hinsicht festgestellt werden müsse, dass Christus als Gabe nicht nur für uns, sondern auch an uns gegeben werde. „Likewise Christ was handed over to death for our sake, and thus death is the recipient and we are the beneficiaries of this sacrifice. Luther is saying with Paul that this act of self-giving is not only pro nobis, an act done for our sake, but also an act with results in nobis when Christ lives in us.“74 In Luthers Auslegung der Goldenen Regel werde dann greifbar, was es bedeute, dass Christus in den Gläubigen lebe. Luther betone, dass die Goldene Regel nur dann zu erfüllen sei, wenn der Christ beginne, die göttliche Liebe zu imitieren und sich selbst an den Bedürfnissen des Anderen zu orientieren. Nur auf diese Weise werde der Mensch zum Geber. Es sei aber bei Luther immer deutlich, dass ein solches Verhalten nur aus der göttlichen Gabe an den Menschen resultieren könne und auf ihrer Grundlage möglich sei, denn von sich aus handele der Mensch immer, auch dann, wenn er Anderen etwas zukommen lasse, aus Selbstinteresse. „Human beings cannot give true gifts on their own, since every gift is given in order to promote some self-interest and thus ceases to be a true gift. Second, there is the perspective of God as poetic giver which becomes the model for interpreting the Golden Rule. This means giving gifts to enemies and regarding everybody as ‚you‘ whose needs we are called to meet. [. . .] Probably for Luther, the positive perspective is not a rational account, but a spiritual account . . .“75 72

  Saarinen nutzt die Begriffe „receiver-oriented“ and „giver- oriented“, vgl. Saarinen, God, 10 f.   Saarinen, God, 9. 74   Saarinen, God, 51 f. 75   Saarinen, God, 56. 73

188

1. Einführung

Saarinen zeigt in seinem Buch „God and the Gift“, dass nach Luthers Verständnis die göttliche Gabe den Menschen zuallererst dazu befähigt, zu empfangen. Saarinen unterstreicht das sola gratia als klare lutherische Prämisse, macht aber zugleich deutlich, dass Luther der göttlichen Gabe auch zuschreibt, den Menschen zu einer Antwort, zu eigenem Geben in Form von karitativen und gottesdienstlichen Handlungen zu befähigen. Allerdings seien diese Handlungen nie vollständig dem handelnden Menschen zuzuschreiben, sondern der Tatsache, dass Christus in dem Gläubigen wirke. In dem Buch „Luther and the gift“ lässt Saarinen umfangreichere Untersuchungen an Luthers Texten folgen. Im 15. Kapitel legt er seine eigene Sicht auf Luthers Gabeverständnis dar und unterstreicht sein Einverständnis mit Dalferths Auslegung. Zunächst geht er jedoch dem immer wieder erhobenen Vorwurf nach, dass die Deutung der Gabe der Rechtfertigung als Neuschöpfung das Problem aufwerfe, wie die Kontinuität der menschlichen Personalität gewahrt bleibe, bzw. ob man den Menschen mit einer Reduktion auf eine absolute Passivität nicht seiner Personalität entkleide.76 Saarinen geht dieser Frage nach, indem er sich mit den linguistischen Arbeiten zum Verb ‚geben‘ von Adele Goldberg und John Newman befasst.77 Während Goldberg davon ausgehe, dass das Verb ‚geben‘ in seiner Grundstruktur eine Transaktion bezeichne und das Empfangen dementsprechend als in gewissem Maße willentliche Aktion begriffen werden müsse, begreife Newman, dem Saarinen zustimmt, das Verb ‚geben‘ als Basisbegriff, der ganz unterschiedliche Konnotationen erhalten könne. Diese Konnotationen ergäben sich daraus, welche der vier Grundaspekte (räumlich-zeitlicher Aspekt, Kontrollaspekt, einen Energiefluss bezeichnender Aspekt und der Aspekt des menschlichen Interesses), die das Verb in sich vereinige, dominierend sei. Entscheidend für Saarinen ist nun, dass nach Newman auch außerhalb des theologischen Nachdenkens, das Verb ‚geben‘ Vorgänge bezeichnen kann, in denen der Empfänger ein Mensch ist, das Empfangen aber ein rein passives Geschehen und nicht ein willentliches Akzeptieren darstellt.78 Bezogen auf Dalferths Auslegung hebt Saarinen allerdings hervor, dass die aus systematischer Perspektive säuberlich unterschiedenen Aspekte der Annihilation des Sünders, der Neuschöpfung des Christen und der Heiligung untrennbar sind. Und dementsprechend schlägt er vor, die Unterscheidung zwischen ‚Rechtfertigung‘ und ‚Heiligung‘ als zweitrangig anzusehen und 76  Siehe Saarinen, Luther, 265. Als Beispiel für die von Saarinen aufgegriffene Kritik vgl. Werbick, Jürgen, Gottes-Gabe. Fundamentaltheologische Reflexionen zum Gabe-Diskurs, in: Hoffmann, Urwort, 15 – 32. Werbick formuliert hierzu: „Aber müsste theologisch nicht noch genauer gedacht werden können, wie der schöpferische Gott gerade darin schlechthin schöpferisch ist, dass er die Menschen in keiner Hinsicht zu bloßen Objekten seines Handelns macht, dass er sie vielmehr auch ihm selbst gegenüber zu positiver Wechselseitigkeit hervorruft?“, ebd., 21. 77   Goldberg, Adele E., Constructions. A Construction Grammar Approach to Argument Structure, Chicago 1995; Newman, John, Give: A Cognitive Linguistic Study, Berlin 1996. Zu Saarinens Auseinandersetzung mit den beiden linguistischen Entwürfen vgl. Saarinen, Luther, 243 – 252. 78   Saarinen, Luther, 268.

1.2  Das Abendmahl in Exegese und Systematik

189

den unaufhörlichen Akt des Einbezogenwerdens des Christen in das Sein Christi als Rechtfertigung zu bezeichnen.79 Obwohl die Auseinandersetzung zwischen Holm und Dalferth durchaus mit Schärfe geführt wurde, sind in ihren Auslegungen doch auch Parallelen zu erkennen: Beide betonen, dass ausschließlich die göttliche Gabe menschliche Aktivität ermögliche und initiiere und dass diese Aktivität immer nur eingeschränkt dem Menschen zuzuschreiben sei, weil sie immer maßgeblich davon bestimmt werde, dass das Sein des Christen nur als ein Einbezogensein in das Sein Christi gedacht werden könne. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Darstellungen besteht darin, dass Dalferth immer wieder betont, dass mit der Gabe der Rechtfertigung notwendigerweise die Annihilation des alten Menschen korrespondiere. Holm räumt zwar ein, dass dieses Moment auch bei den späteren Arbeiten Luthers vorhanden ist, sieht es aber mit zunehmender Verwendung der Gabemetaphorik in den Hintergrund treten. Für kritikwürdig an Holms Ausführungen halte ich vor allem seinen Rückgriff auf die Arbeiten von Marshall Sahlins als theoretischen Referenzrahmen, weil sie die von Holm bei Luther selbst herausgearbeitete Brechung, die durch eine Verschränkung von reziproken und einseitigen Gabeformen entsteht, eher verdeckt als unterstreicht.80 79

  Saarinen, Luther, 270.   Marshall Sahlins entwirft in seinem Aufsatz „On the Sociology of Primitive Exchange“ eine Skala der Reziprozität, die sich zwischen zwei Extrempolen aufspannt, vgl. Holm, Gabe, 8 – 11 . Diese Extrempole sind einerseits die generalisierte Reziprozität, bei der ein Mensch, der etwas empfangen hat, aus dem Gefühl der Dankbarkeit heraus etwas an Dritte weitergibt und andererseits ein Empfangen ohne jegliche Reziprozität. Die übliche Form, der Mittelwert sozusagen, sei eine wechselseitige Interaktion zwischen zwei Partnern. Während es plausibel ist, dass Reziprozität ihre Grenzen in einer generalisierten Weitergabe und in der Nichtweitergabe findet, wird es meines Erachtens an der Stelle schwierig, wenn, wie in der Rezeption von Sahlins durch Holm geschehen, Reziprozität und Gabe einfach gleichgesetzt werden. Das Phänomen einer ‚reinen Gabe‘ ohne Gegengabe wird bei einer solchen Gleichsetzung partiell als Randphänomen in das aufzeigte Reziprozitäts-System integriert, partiell aber auch einfach als ‚unmoralisch‘ abqualifiziert. Das Phänomen der wechselseitigen Gabe hingegen erfährt meines Erachtens durch eine solche Auffächerung der Reziprozität eine Überdehnung, die ihm gerade seine Struktur nimmt. Es gehört zur Struktur der wechselseitigen Gabe, dass ihr eine klare Funktion zugewiesen werden kann. Nach Marcel Mauss dient das wechselseitige Geben dazu, Fremdheit, Feindschaft zu überwinden und Bündnisse zu schließen und aufrechtzuerhalten. Holm arbeitet, wie oben dargestellt, heraus, dass Luther in das Motiv der ‚wechselseitigen‘ Gabe Brechungen einarbeitet, um es unmöglich zu machen, dass menschliche Gegengabe als Werkgerechtigkeit missverstanden wird. Diese Brechungen entstehen jedoch meines Erachtens gerade dadurch, dass ‚wechselseitige‘ und ‚einseitige‘ Gabe aufeinander bezogen werden. Als Beispiel mag etwa eine Passage aus Luthers Schrift „Von den guten Werken“ dienen, die Holm bearbeitet. Hier wird Gott als derjenige charakterisiert, der allumfassend gibt. Dieses allumfassende Geben macht reziproke Strukturen eigentlich undenkbar. Doch dann führt Luther aus, dass Gott sich selbst zurücknehme, um dem Menschen die Möglichkeit zur cooperatio dei zu geben, indem er seinerseits anderen Menschen gebe, vgl. Holm, Gabe 107. Dem Menschen wird also als göttliche Gabe ermöglicht, in eine reziproke Struktur einzutreten, wenn auch in diesem Fall in eine generalisierte. Auch im Hinblick auf die beiden von Holm für die Lutherische Theologie als zentral 80

190

1. Einführung

1.2.2.2 Abendmahl und Identität bei Dietrich Korsch und Notger Slenczka – zwei Abendmahlsdeutungen der zeitgenössischen Dogmatik Die in den biblischen und frühchristlichen Quellen dokumentierte Vielfalt in der Deutung des Abendmahls schlägt sich natürlich auch in den Abendmahlsentwürfen der Gegenwart nieder. Im Folgenden sollen mit den Abendmahlsentwürfen von Notger Slenczka und Dietrich Korsch zwei Arbeiten vorgestellt werden, die das Abendmahl mit dem Thema ‚Identität‘ verbinden. Da in Dalferths Gabebegriff ebenfalls die Bedeutung der Gabe für die Identität des Empfängers im Mittelpunkt steht und das Thema ‚Identität‘ dementsprechend auch für meine eigenen Ausführungen zum Abendmahl von zentraler Bedeutung sein werden, werde ich im Folgenden immer wieder in die Auseinandersetzung mit diesen beiden Entwürfen eintreten. a)  Notger Slenczka: Das Abendmahl als „kontrafaktische Identitätszuschreibung“ 81 Notger Slenczka stellt in seinem jüngsten Aufsatz zum Abendmahl „In Ipsa fide Christus adest – ‚im Glauben selbst ist Christus da‘ (Luther) als Grundlage einer evangelischen Lehre des Abendmahls und von der Realpräsenz Christi“ zunächst einige methodische Überlegungen voran.82 Das Abendmahl erschließe sich dem Feiernden immer nur als ‚gedeuteter‘ Ritus. Hinter eine wie auch immer geartete Form von Deutung lasse sich nicht zurücktreten, auch nicht durch den Rückgriff auf die biblischen Texte wie die reformatorischen Theologen irrtümlicherweise glaubten. Vielmehr zeige der biblische und frühchristliche Befund, dass es von Beginn an eine Deutungspluralität in Bezug auf das Abendmahl gab. Als kritischen Maßstab für die Angemessenheit einer Deutung macht Slenczka geltend, dass sie den auf die biblischen Abendmahlstexte und insbesondere die Einsetzungsworte zurückgreifenden liturgischen Vollzug des Mahles für die das Abendmahl feiernden Zeitgenossen verständlich machen müsse, d. h. eine Deutung müsse dem liturgischen Vollzug und den biblischen Texten angemessen sein und herausgestellten Metaphern von der Ehe und dem fröhlichen Wechsel ist die Gleichsetzung von Reziprozität und wechselseitiger Gabe schwierig. Beide Metaphern bilden reziproken Strukturen ab, aber keine wechselseitigen Gabenverhältnisse. Wechselseitige Gabe können dann ihre gemeinschaftsbildende Funktion erfüllen, wenn das gegebene Objekt eine Ehrerbietung oder zumindest Anerkennung zum Ausdruck bringt. Im Fall des Bildes vom fröhlichen Wechsel, empfängt die Seele durch die Anteilhabe an Christus die Gabe der Rechtfertigung, was sie gibt, ist aber die Last ihrer sie anklagenden Sünde. Und im Bild von der Hochzeit steht die ‚Vereinigung‘ zwischen Christus und der Seele im Mittelpunkt. Eine solche Vereinigung ist aber, anders als es bei Holm manchmal den Anschein hat, nicht einfach mit der Gemeinschaft gleichzusetzen, die durch wechselseitige Gabe entsteht. Wechselseitige Gaben nähern Fremdes einander an, ohne dass beide Pole symbiotisch miteinander vereinigt würden. 81   Slenczka, Notger, In ipsa fide Christus adest – „im Glauben selbst ist Christus da“ (Luther) als Grundlage einer evangelischen Lehre des Abendmahls und von der Realpräsenz Christi, in: Löhr, Abendmahl, 137 – 193, 170. 82   Slenczka, In ipsa fide, 526.

1.2  Das Abendmahl in Exegese und Systematik

191

sie müsse die zeitbedingten Verstehensvoraussetzungen der jeweiligen Zeitgenossen, für die die Deutung erschließend sein soll, berücksichtigen. Nach einer ausführlichen Darstellung der Positionen der Reformationszeit und z. T. ihrer spezifischen konfessionellen Weiterentwicklung wendet sich Slenczka dementsprechend dem liturgischen Vollzug des Mahles in protestantischer Prägung zu. Für diesen Vollzug konstatiert Slenczka, dass den Feiernden in mehrfacher Hinsicht eine bestimmte Identität zugesprochen werde und dieser Zuspruch die implizierte Aufforderung enthalte, diese Identität zu einem Teil des eigenen Selbstverständnisses zu machen. Zunächst werde den Gläubigen nahegelegt, sich mit den Jüngern im Moment des letzten Mahles Jesu zu identifizieren, d. h. sich selbst als Menschen zu verstehen, die in die Nachfolge Jesu berufen seien. Zugleich sei die Situation der Jünger, mit denen sich die Gläubigen identifizieren sollten, zutiefst ambivalent, da es für die Jünger absehbar gewesen sei, dass Jesu Tod bevorstehe. Das Versagen der Jünger angesichts dieses Todes werde in den Abendmahlserzählungen und durch diese in der Abendmahlsliturgie greifbar. Den Feiernden werde also die Identifikation mit den versagenden und damit schuldverstrickten Jüngern nahegelegt. Die Mahlgemeinschaft, die Jesus als Gastgeber den Jüngern in der Erzählung des letzten Abendmahls gewährt, gewinne vor dem Hintergrund des bevorstehenden Verrates den Charakter des Zuspruchs von Vergebung. Die letzte Zuschreibung, die die Feiernden nach Slenczka auf sich selbst beziehen sollen, sei die in den Einsetzungsworten enthaltene Deutung, dass das Blut Jesu „für euch / für die vielen“ vergossen sei. Jesus gehe allein in den Tod, und gerade dadurch könne sein Tod als stellvertretender Tod des Gottesfürchtigen für den Gottlosen verstanden werden, d. h. als ein Tod, durch den ein Freispruch für die eigentlich Schuldigen erreicht werde. Slenczka bezeichnet die verschiedenen im Abendmahl vollzogenen Identitätszusagen, die von den Gläubigen in das eigene Selbstverständnis übernommen werden sollen, mit dem Begriff „kontrafaktische Identitätszuschreibung“,83 den er bereits an diversen Stellen gebraucht hat, um die Pointe von Luthers Christologie und Rechtfertigungslehre zu beschreiben. Damit ist gemeint, dass sich der Gläubige eine fremde, seiner Wahrnehmung von sich selbst widersprechende Identität als ihm eigen gelten lässt. Damit ist für Slenczka das eigentliche Proprium des Abendmahls benannt: im Abendmahl vollzieht sich ein Wandel des Selbstverständnisses des Gläubigen, der sein Selbst als ein fundamental durch die Zueignung des Todes Jesu bestimmtes versteht. Slenczka betont, dass das skizzierte Abendmahlsverständnis ohne eine explizierte Lehre von der Realpräsenz Christi auskommen könne, um dann einige Gedanken zur Realpräsenz Christi im Abendmahl anzufügen. Zunächst geht er dabei auf Luthers Verständnis von der Realpräsenz ein und betont, wie auch an anderer Stelle, dass diese nicht isoliert betrachtet werden dürfe, sondern bei Luther strukturgleich zur Idiomenkommunikation in der Christologie oder dem „fröhlichen Wechsel“ in der Rechtfertigungslehre sei. 83

  Slenczka, In ipsa fide, 170.

192

1. Einführung

Nach der Vorstellung Luthers mache Christus durch die Einsetzungsworte das Brot und den Wein zu einem Teil seiner Identität mit dem Ziel, dass derjenige, der die beiden Nahrungsmittel im Abendmahl zu sich nehme, sich bewusst sei, dass er Christus zu sich nehme: „Christus ist nicht ‚in‘ Brot und Wein, sondern eins mit Brot und Wein, und zwar so, dass es der Empfänger des Mahles im Umgang mit Brot und Wein mit Christus selbst zu tun hat. Dies geschieht gerade nicht so, dass Christus gleichsam eingeschlossen wäre in Brot und Wein und daher mit ergriffen und verspeist würde, sondern so, dass das auf das Brot gerichtete Berühren und Essen ein Widerfahrnis des Brotes ist, das Christus sprachlich zugeeignet wird, weil Christus sich mit dem Brot verbindet und mit dem Brot gibt.“84

Im nächsten Schritt weist Slenczka darauf hin, dass es für die Eröffnung des neuen Selbstverständnisses des Gläubigen und der damit verbundenen Neubestimmung der Wirklichkeit eine Instanz brauche, die dem Subjekt gegenübertrete und durch die die Veränderung initiiert werde. Diese Instanz sei die Verkündigung, und das Abendmahl sei ein Spezialfall derselben. Dabei sei es beim Abendmahl entscheidend, dass sich die Einsetzungsworte nicht auf die Elemente bezögen, also keine Worte seien, die eine Wandlung der Elemente anstreben, sondern die Verwandlung der Feiernden. Sie richteten sich an den Empfänger von Brot und Wein und bedeuteten „ihm, dass gerade ihm im Geben und Entgegennehmen von Brot und Wein die Person und das Werk Christi zugeeignet wird.“85 Indem der Empfänger diese Zusage für sich gelten lasse, sei Christus für ihn realpräsent. Das bedeute aber genau genommen, Christus werde „im Glaubenden – das heißt in seinem Selbstverständnis – realpräsent“.86 Damit bezieht Slenczka die Realpräsenz Christi zurück auf den durch das Abendmahl angestoßenen Wandel der Person des Feiern­den. Indem Brot und Wein zum Medium würden, das den inneren Wandel anstoße, seien sie auch Medium der Gegenwart Christi: „Die Identifikation des Brotes und des Weins mit der Person und dem Werk – dem Todesgeschick – Jesu fasst diese Erfahrung der Vergegenwärtigung Christi im Glaubenden durch das Mahl zusammen. [. . .] Die ‚Realpräsenz Christi unter Brot und Wein‘ ist nichts anderes als eine Beschreibung der Erfahrung, die der Glaubende im Empfang der Elemente macht“.87 b)  Dietrich Korsch: Das Abendmahl als Herausforderung für die Feiernden und Möglichkeit zur Identitätsfindung in Christus Dietrich Korsch hat sich in verschiedenen Texten zum Abendmahl geäußert und dabei immer wieder unterschiedliche Ansatzpunkte gewählt. In seinem jüngsten Beitrag rückt er das Identitätsthema ins Zentrum seiner Überlegungen zum 84

  Slenczka, In ipsa fide, 182.   Slenczka, In ipsa fide, 185. 86   Slenczka, In ipsa fide, 185. 87   Slenczka, In ipsa fide, 186. 85

1.2  Das Abendmahl in Exegese und Systematik

193

Abendmahl und entfaltet es unter der Prämisse, dass Identität jeweils im Angesicht des Anderen zu gewinnen sei, also im Schritt des Transzendierens der eigenen Selbstverschlossenheit und Selbstbezüglichkeit.88 Der Ausgangspunkt seiner durch die Praxis geprägten Überlegungen ist, dass das Abendmahl bei vielen Gläubigen eine Form von Irritation und Unbehagen auslöse, die seiner Einschätzung nach nicht durch liturgische Reformen zu beheben sei, weil sie mit der ‚Sache selbst‘ zu tun habe. Die Einsetzungsworte konfrontierten den Feiernden mit der Anforderung, einen Fremden in sich aufzunehmen, d. h. sich diesem zu überlassen, und in der Ritualhandlung werde diese Aufnahme des Fremden dann symbolisch vollzogen. Das nötige den Feiernden, dessen Teilnahme am Abendmahl ja ein willentlicher und aktiver Akt sei, sich auf ein Geschehen einzulassen, das sich an ihm vollziehe, und dem er sich überlassen müsse. Dabei sei die Verheißung des Abendmahls, auf die die Teilnehmer des Abendmahls sich vertrauend einlassen müssten, dass die eigene „Grenzsetzung, diese sich verschließende Selbstbezüglichkeit, diese Schuld überwunden werde durch die Annahme Jesu Christi, durch die Eingliederung in das durch seinen Tod transformierte Reich Gottes.“89 Auch in seiner „Dogmatik im Grundriss“ charakterisiert Korsch das Abendmahl als ein Geschehen,90 das wesentlich durch das Empfangen gekennzeichnet ist. So bezieht er die durch das Abendmahl vermittelte christliche Gemeinschaft auf dieses Empfangen zurück, versteht sie als das Resultat aus dem gemeinsamen Empfangen. Die Frage nach dem Inhalt des Empfangens entfaltet Korsch hier allerdings nicht unter dem Stichwort ‚neue Identität in Christus‘, sondern unter dem Stichwort ‚Vergebung von Schuld‘, wobei es evident ist, dass beide Aspekte zusammengehören, da das Erleben von zu verantwortender Schuld die eigenen Identitätskonstruktionen eines Menschen nachhaltig in Frage stellen kann und umgekehrt ein Sich-selbst-von-der-Zusage-Gottes-her-verstehen ein positives Selbstverhältnis und damit ein Weiterleben trotz Schuld ermöglicht. Korsch beginnt seine Überlegungen damit, dass Menschen im Leben immer wieder Brüche, also Elemente des Todes erfahren, die zum Teil als schuldhaft erlebt werden. Solche Situationen seien als Beziehungsstörungen zwischen Menschen nur durch die Bitte und den Zuspruch von Vergebung zu überwinden. Möglicher Ausdruck einer geschehenen Vergebung sei das gemeinsam vollzogene Mahl. Korsch schließt dann ähnlich geartete Überlegungen zur Entstehung des Abendmahls an, wie sie bereits oben dargestellt wurden, um zu plausibilisieren, inwiefern die Jünger das Erleben von Christi Gegenwart in den nach seinem Tod fortgesetzten gemeinsamen Mahlzeiten als einen Akt des Zuspruchs von Vergebung verstehen konnten. Und im Grunde ist genau dies für Korsch der Sinn des Abendmahls bis heute: „Indem Gott im Vollzug 88

  Korsch, Antworten.   Korsch, Antworten, 228. 90   Korsch, Dietrich, Dogmatik im Grundriss. Eine Einführung in die christliche Deutung menschlichen Lebens mit Gott, Tübingen 2000. 89

194

1. Einführung

des Essens und Trinkens als symbolische Akte für das gemeinsame natürliche, von Schuld nicht gebrochene Leben gegenwärtig gewusst wird, ja, indem mit dem Ritus, der aus Essen und Trinken besteht, seine Gegenwart als Schuldüberwindung empfangen wird, findet auch in der Lebensführung selbst eine stets anfängliche Neueinstellung auf Gott statt.“91 Da Korsch den Akt des gemeinsamen Essens als Ausdruck der Erneuerung des durch Schuld beschädigten Verhältnisses begreift, ist es evident, dass er die Gegenwart Christi nicht an die Elemente gekoppelt sieht, sondern an den Vollzug der Handlung. Es ist die Qualität des eröffnenden Neuanfangs von Vergebung, die nach Korsch diesen Begriff zur treffenden Beschreibung des Abendmahls mache. Das Abendmahl thematisiere das Bedrohtsein des menschlichen Lebens zu Lebzeiten eines Menschen und durch seinen bevorstehenden Tod, aber es thematisiere dieses Bedrohtsein in der durch Ostern eröffneten Perspektive, rücke es also in die Perspektive des menschlichen Gottesverhältnisses. Gerade aber dadurch habe das Abendmahl einen bestätigenden Charakter und sei eine Feier der „Beständigkeit des Lebens vor und mit Gott“.92 Da das Abendmahl für Korsch die Eröffnung von Lebensperspektiven durch die Vergegenwärtigung Gottes angesichts der Bedrohung menschlichen Lebens darstellt, bedarf es ihm zufolge eines regelmäßigen Vollzuges des Rituals für ein „beständiges Neuwerden“ des Lebens.93 c) Fazit Sowohl Slenczka als auch Korsch verstehen den mit dem Abendmahl verbundenen Wandel im Selbstverständnis der Gläubigen als einen von außen angestoßenen. Slenczka konzentriert sich bei der Frage nach dem Auslöser des Wandels ganz im Duktus der lutherischen Theologie auf den Zuspruch des göttlichen Urteils, das das Selbst in das eigene Selbstbild integrieren kann bzw. das das Selbstbild des Menschen neu strukturiert. Die Ausführungen von Korsch hingegen erinnern entfernt an Formulierungen von Lévinas, demzufolge nur ein Anderer, Fremder das Ich dazu herausfordern kann, seine Selbstbezüglichkeit zu durchbrechen. Für Korsch ist dies Gott selbst. Die Herausforderung im Angesicht des Fremden bestehe in der Zumutung, sich anzuvertrauen. Gleichzeitig betont Korsch das eröffnende Potential des Abendmahls. Eine Interpretation des Abendmahls als Gabe wird das Abendmahl in ähnlicher Weise wie die beiden Entwürfe als einen von außen herbeigeführten Wandel des Selbstverständnisses des Menschen begreifen. Ein Vorteil der Interpretation des Abendmahls als Gabe liegt darin, dass der Gabebegriff, wie ihn Dalferth vorgelegt hat, verschiedene Aspekte, die für die Konstruktion des Selbstbildes relevant sind, in ein System bringt.

91

  Korsch, Dogmatik, 258.   Korsch, Dogmatik, 261. 93   Korsch, Dogmatik, 261. 92

1.3  Die Gabetheorie von Ingolf U. Dalferth

195

1.2.3  Ergebnisse der Sichtung der exegetischen Forschung und dogmatischen Deutungen des Abendmahls Die Sichtung der Ergebnisse der exegetischen Forschung, sowie die Auseinandersetzung mit den Abendmahlsentwürfen von Luther, Slenczka und Korsch machen noch einmal deutlich, dass das Thema Gabe für die Interpretation des Abendmahls auf zwei Ebenen relevant ist. Zum einen ist der Ritus des Abendmahls selbst ein Gabegeschehen, und es stellt sich die Frage, wie Gabeschehen und Wortgeschehen im Ritus so zusammenwirken und ineinandergreifen, dass durch sie die in Christi Geschick sichtbar gewordene Selbstoffenbarung Gottes für die Feiernden greifbar wird. Zum anderen ist die Gabe einer der Interpretanten, die zur Interpretation des Abendmahls herangezogen werden. Die Interpretation des Abendmahls als Gabe legt den Fokus auch auf die Veränderung, die durch das Abendmahl in den Gläubigen hervorgerufen wird. Bezieht man diese Veränderung auf die Gott-MenschBeziehung und geht man davon aus, dass sie Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Gläubigen hat, so steht es noch aus, eine Präzisierung bezüglich der Frage vorzunehmen, welche Veränderungen des Selbstverständnisses durch eine Veränderung der Gott-Mensch-Beziehung potentiell eröffnet werden.

1.3  Die Gabetheorie von Ingolf U. Dalferth als Grundlage für eine Interpretation des Abendmahls als Gabe 1.3.1  Zusammenfassung der Position Dalferths Um die aufgeworfenen Fragen bearbeiten zu können, soll im folgenden Abendmahlsentwurf auf die Gabetheorie von Ingolf U. Dalferth zurückgegriffen werden. Dieser hat seine Überlegungen in Auseinandersetzung mit den philosophischen Gabeentwürfen von Derrida und Marion, aber auch in Kenntnis des Diskurses über den „Essai sur le don“ entwickelt. Da Dalferth in seinen Überlegungen, das ‚Bekommen‘ als entscheidendes Charakteristikum einer Gabe herausstellt und damit den Fokus ganz auf den Empfänger verlagert, umgeht er die den Gabediskurs über weite Strecken dominierende Frontstellung von ‚wechselseitiger‘ versus ‚einseitiger‘ Gabe und macht es gerade deshalb möglich, über seinen Entwurf ­hinaus auch Aspekte aus anderen Gabetheorien einzubeziehen. Im Folgenden sollen die Aspekte, die in den drei Diskurssträngen des Gabediskurses als für eine Gabe wesentlich herausgearbeitet wurden, noch einmal zusammengestellt und dann auf wesentliche Punkte in Dalferths Gabetheorie eingegangen werden. Die soziologischen und philosophischen Entwürfe zur Gabe, die im ersten Teil der Arbeit referiert wurden, ließen sich in drei verschiedene Sichtweisen auf das ‚Phänomen Gabe‘ unterteilen. Jede diese Sichtweisen bringt entscheidende Aspekte des Phänomens zur Sprache. So macht der die Forschung von Marcel

196

1. Einführung

Mauss aufnehmende erste Diskurs deutlich, dass das Geben und Empfangen von Gaben einen Kommunikationsprozess darstellt, bei dem die materielle Gabe nur Kommunikationsmedium ist, um Anerkennung auszudrücken und Beziehung zu stiften.94 Der zweite Diskurs, auf den die Überlegungen Martin Heideggers entscheidenden Einfluss hatten, betont die Unverfügbarkeit des Gabegeschehens und, je nach Autor, auch die Neulozierung des Empfängers durch die Gabe.95 Der dritte Diskurs mit den maßgeblichen Schriften von Emmanuel Lévinas schließlich setzt die Gabe in Beziehung zum Prozess der Subjektwerdung eines Menschen und charakterisiert das Geben als adäquate ethische Reaktion auf den Anspruch des Anderen an das Ich.96 Wie die Auswertung des ersten Teils zeigte, ist das Gabemodell von Ingolf U. Dalferth dazu in der Lage, eine Reihe wichtiger Aspekte des Diskurses zu integrieren, für andere ist es anschlussfähig. Ingolf U. Dalferth kennzeichnet die Gabe, ähnlich wie die Autoren des ersten und des dritten Unterdiskurses, als entscheidendes Moment in dem von außen, durch Fremdeinwirkung angestoßenen Prozess der Selbstwerdung bzw. Identitätsfindung des Menschen. Er beschreibt die Gabe als Kommunikationsmedium, bei dem das, was kommuniziert werde, außerhalb der eigentlichen Gabe zu suchen ist. Diese habe nur symbolischen Charakter. Die Wirkung einer Gabe auf die Identitätsfindung eines Menschen ist für Dalferth vielfältig: Erstens weise eine Gabe ihrem Empfänger die Möglichkeit einer bestimmten Selbstdeutung zu, zunächst der, ein Empfangender zu sein. Zweitens versetze sie den Empfänger in eine Form von ‚aktivierender Passivität‘, d. h. dass das an und für sich passive Geschehen des Empfangens den Empfänger aktiviere. Diese Aktivität kann zunächst in einer ablehnenden oder annehmenden Reaktion auf die Gabe bestehen, sie kann aber auch weitergehend darin bestehen, dass die von der Gabe eröffnenden Möglichkeiten vom Empfänger umgesetzt werden. Indem das Ich bestimmte Möglichkeiten realisiert, gestaltet es zugleich sein Leben, realisiert es sich selbst. Der bei Dalferth nicht besonders hervorgehobene Aspekt, dass durch eine Gabe Anerkennung zum Ausdruck gebracht wird, kann als weiterer ergänzender Aspekt im Zusammenhang von Gabe und Identitätsfindung eines Menschen hinzugenommen werden. Der Aspekt, dass durch das Geben von Gaben Gemeinschaft angestrebt wird, lässt sich meines Erachtens in die von Dalferth entfaltete Struktur, dass Gaben Möglichkeiten eröffnen, die der Empfänger realisieren kann, eintragen.

94

  Vgl. Kapitel A.1.   Vgl. Kapitel A.2. 96   Vgl. Kapitel A.3. 95

1.3  Die Gabetheorie von Ingolf U. Dalferth

197

1.3.2 Vertiefung: Überlegungen zu einer Hermeneutik der Gabe Ein Schlüsselbegriff Dalferths zur Beschreibung einer Gabe ist ihre Charakterisierung als ‚Eröffnung neuer Möglichkeiten‘. Über die Implikationen dieser Wendung soll im folgenden Diskurs vertiefend nachgedacht werden; zudem werden die anthropologischen Prämissen, die Dalferths Gabebegriff zugrunde liegen, mit einem modernen Identitätskonzept in Beziehung gesetzt. 1.3.2.1  Gabe und die Eröffnung von Möglichkeiten Neben dem hermeneutischen Zugang ist für Dalferths Gabeverständnis vor allem die Definition von Gabe als einer ‚Eröffnung einer neuen Möglichkeit‘ charakteristisch. Der Begriff der ‚Möglichkeit‘ wurde durch Aristoteles in die Philosophie eingeführt und ist seitdem einerseits als modallogischer Begriff von Relevanz, andererseits spielt er in der Anthropologie eine Rolle, um das menschliche Vermögen oder auch die menschlichen Handlungsspielräume zu charakterisieren.97 Im Hinblick auf Dalferths Definition ist der zweite Bereich von Bedeutung, wenngleich beide Bereiche nie völlig voneinander getrennt sind, da nur logische Möglichkeiten auch reale Handlungsoptionen darstellen können. Wenn Ingolf U. Dalferth von der Eröffnung neuer Möglichkeiten spricht, so ist dabei einerseits an Handlungsmöglichkeiten, andererseits an Seinsmöglichkeiten zu denken. Im Folgenden soll eine kurze Erörtung darüber folgen, was potentielle Handlungen eröffnet oder umgekehrt beschränkt, damit die Bandbreite dessen sichtbar wird, was nach Dalferth als Gabe zu betrachten ist. Wilfried Härle und Eilert Herms definieren eine Handlung als „Wahlakt von (handelnden) Instanzen“.98 Diese Definition ermöglicht es, eine Fülle verschiedener Akte unter den Begriff der Handlung zu subsumieren: so fallen erzeugende 97   Die Relevanz des Begriffs in zwei ganz unterschiedlichen philosophischen Bereichen ist bereits bei Aristoteles angelegt. Im Buch θ der Metaphysik, das die umfangreichste Auseinandersetzung mit dem Möglichkeits-Begriff bietet, entwickelt er die Bedeutung von δυνατόν vom Begriff δύναμις her und betont, ein Vermögen sei dem ursprünglichen Wortsinn nach die Eigenschaft, die eine Veränderung in einem anderen Wesen hervorrufe bzw. analog dazu die Eigenschaft, die es einem Wesen ermögliche, dass ein anderes eine bestimmte Veränderung in ihm hervorrufe, vgl. Aristoteles, Metaphysik. Zweiter Halbband: Bücher VII (Z) – XIV (N), übers. von Hermann Bonitz, Hamburg 1980. Über diese verändernden Vermögen reflektiert Aristoteles im Hinblick auf Wesen mit und ohne Verstand. Dabei spielt es für die veränderten Vermögen von Wesen mit Verstand eine Rolle, dass sie gedanklich das τέλος der gewünschten Veränderung antizipieren und dann die Schritte zur Veränderung einleiten. Im Zuge seines Nachdenkens über die logischen Voraussetzungen des Entstehens von Dingen kommt Aristoteles schließlich dazu, den Status des ‚Möglichseins‘ dem des ‚Verwirklichtseins‘ als zwei Seinsmodi gegenüberzustellen, wobei die Möglichkeit das Potential zur Verwirklichung bezeichnet, vgl. Aristoteles, Metaphysik, 113 ff. Zum Möglichkeitsbegriff bei Aristoteles siehe auch: Wolf, Ursula, Möglichkeit und Notwendigkeit bei Aristoteles und heute, München 1979. 98   Härle, Wilfried / Herms, Eilert, Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens. Ein Arbeitsbuch, Göttingen 1980, 145.

198

1. Einführung

Tätigkeiten unter den Handlungsbegriff, rein intellektuelle Tätigkeiten wie Deutungen, aber auch das bewusst gewählte Zulassen bzw. An-sich-Geschehen-lassen. Wenn man eine Handlung als Wahlakt definiert, gehört zu jeder Handlung ein ‚Handlungsspielraum‘, also eine begrenzte Zahl an Wahlmöglichkeiten. Diese Wahlmöglichkeiten können erstens durch äußere Faktoren begrenzt sein.99 Jede Herstellung eines bestimmten Produktes bedarf des geeigneten Materials. Eine Gabe kann dementsprechend insofern eine neue Möglichkeit eröffnen, als sie einem Menschen eine materielle Grundlage zukommen lässt, die es ihm ermöglicht, eine bestimmte Handlung auszuführen. Eine solche Gabe wäre etwa ein Buch, das gelesen werden kann, Farben, aus denen ein Bild entstehen kann, ein Klavier, das das Üben ermöglicht usw. Zweitens gehört zu jeder erzeugenden, aber auch zu vielen intellektuellen Handlungen eine gewisse Fähigkeit auf Seiten des Handelnden, um die entsprechende Handlung ausführen zu können. Solche Fähigkeiten müssen erlernt werden. Das Lehren von Fähigkeit ist dementsprechend ebenfalls unter den Begriff der Gabe zu fassen, weil es für den lernenden Menschen die nicht allein aus eigener Kraft herbeigeführte Erweiterung seiner Handlungsmöglichkeiten darstellt. Schließlich sind die Wahlmöglichkeiten eines Menschen durch innere Faktoren begrenzt, etwa durch prägende Erfahrungen oder durch Wertvorstellungen. Daraus folgt, dass auch eine von außen erwirkte Veränderung dieser inneren begrenzenden Faktoren, durch die eine Erweiterung des Handlungsspielraums ermöglicht wird, als Gabe zu betrachten ist. Als Beispiel wäre etwa eine ein Trauma lösende Therapie zu nennen, die es der betreffenden Person ermöglicht, für sie aufgrund der traumatischen Erfahrung bisher verschlossene Handlungsoptionen zu realisieren. Die Reflexion über Faktoren, die einen Handlungsspielraum begrenzen und deren Veränderungen nach Dalferths Definition als Gabe zu betrachten sind, macht zweierlei deutlich: zum einen, dass eine Gabe nach dieser Definition keineswegs ausschließlich materiellen Charakter haben muss. Dies deckt sich mit der im Gabediskurs verschiedentlich hervorgehobenen Tatsache, dass das Proprium einer Gabe nicht im materiellen Geschenk zu suchen ist, das weitergegeben wird. Zum anderen unterstreicht die Reflexion über handlungseröffnende Faktoren, dass eine Gabe nicht notwendig einen Geber mit der Intention zu geben voraussetzt. Etwas wird für einen Menschen zu einer Gabe, indem es ihm eine bestimmte Lebensmöglichkeit eröffnet. Dieser Vorgang kann auch zufällig, d. h. von einer Person unbeabsichtigt ausgelöst werden – ein Lehrer weiß z. B. oft nicht im Einzelnen, was ein Schüler ihm eigentlich verdankt – und er kann auch durch nichtpersonale Instanzen bewirkt werden. Ein Beispiel für solche Gaben sind die Gabeeffekte von Texten bei Lesern, über die Jacques Derrida in „Falschgeld. Zeit geben  1“ nachgedacht hat. Ein anderes in der Darstellung des philosophisch99   Zu den folgenden Überlegungen vgl. auch Bieri, Peter, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt / M.62006, besonders 45 – 53.

1.3  Die Gabetheorie von Ingolf U. Dalferth

199

soziologischen Gabediskurses thematisierte Beispiel für eine nichtintendierte, immaterielle Gabe ist die bei Emmanuel Lévinas dargestellte Befähigung einer Person zur Subjektwerdung. 1.3.2.2  Gabe und Identität In der bisherigen Darstellung wurde deutlich, dass die Gabe nach Dalferth in mehrfacher Hinsicht eine entscheidende Bedeutung für die Selbstwerdung und das Selbstverständnis des Subjekts hat. Dabei ist von verschiedenen Prämissen ausgegangen worden: 1. Der Mensch steht vor der permanenten Aufgabe, sein Leben aktiv zu vollziehen, das heißt Handlungen im Sinne von Wahlakten zu tätigen. Diese Handlungen wirken maßgeblich auf ihn selbst zurück, indem sie einerseits die Situation mitprägen, in der er sich jeweils befindet, und andererseits sein Verständnis von dieser Situation und von sich selbst. 2. Die Situation, in der sich ein Mensch befindet, ist aber andererseits nicht ausschließlich durch ihn selbst verursacht, sondern jeder Mensch wird in eine vorgängige Situation hinein geboren und erlebt im Laufe seines Lebens Eröffnungen von Lebensmöglichkeiten, die nicht auf ihn selbst zurückzuführen sind, die für sein Leben und sein Selbstverständnis aber zentrale Bedeutung haben (von Dalferth als Gaben bezeichnet). 3. Der Mensch hat die Fähigkeit, sich noch einmal von sich selbst und seinem Handeln zu distanzieren und es auf diese Weise zu reflektieren. Er ist sich seiner selbst bewusst und fähig zur Selbstreflexion. 4. Das Bild, das ein Mensch von sich selbst hat, wird nicht nur durch die Reflexion über sein Handeln bestimmt, sondern auch durch die (z. T. unterbewusste) Auseinandersetzung mit dem Bild, das andere Menschen von ihm zeichnen. Diese bisher jeweils vorausgesetzten anthropologischen Prämissen sollen im Folgenden zu einem modernen Identitätskonzept in Beziehung gesetzt werden. 1.3.2.3  Identitätskontruktion nach Heiner Keupp Heiner Keupp und der von ihm initiierte Arbeitskreis gehen davon aus,100 dass der Prozess der Identitätsbildung eines Menschen, der als „Identitätsarbeit“ bezeichnet wird,101 ein lebenslanger Prozess ist. Dieser Prozess wird als eine Art permanenter „Passungsprozess an der Schnittstelle von Innen und Außen“ charakterisiert,102 d. h. als ein Prozess, bei dem das Subjekt einerseits angesichts seiner äußeren Rahmenbedingungen zu einem für es stimmigen Selbstverständnis finden und andererseits sein eigenes Selbstbild seiner sozialen Umwelt vermitteln muss. Dabei ist für Keupps Verständnis von „Passungsprozess“ wesentlich, dass von den Individuen keine spannungsfreie Äquivalenz zwischen äußeren Gegebenheiten und 100

  Keupp, Identitätskonstruktionen.   Keupp, Identitätskonstruktionen, 60. 102   Keupp, Identitätskonstruktionen, 191. 101

200

1. Einführung

Selbstbild angestrebt werde, sondern für sie ein von Mensch zu Mensch gra­duell unterschiedliches Maß an Spannung zwischen Innen und Außen tolerabel sei. Auch müsse das durch die „Identitätsarbeit“ entstehende Selbstbild keineswegs einheitlich sein, da ein Individuum je nach den Anforderungen seiner jeweiligen Rollen unterschiedliche Teilidentitäten ausbilde. Keupp weist darauf hin, dass eine gelingende „Identitätsarbeit“ auch eine Voraussetzung dafür darstelle, dass ein Individuum handlungsfähig sei. Gelingende „Indentitätsarbeit“ besteht Keupp zufolge nun grob vereinfacht darin, dass ein Individuum gemachte Erfahrungen retrospektiv unter bestimmten Perspektiven ordnet und sich aufgrund der so strukturierten und erzählbar gewordenen Erfahrungen in die Zukunft hinein entwirft. Diese Entwürfe können dann zu bestimmten „Identitätsprojekten“ werden,103 die das Individuum zu realisieren versuche. Bei der Strukturierung von Erfahrungen bilden sich je nach Lebensbereich bestimmte Teilidentitäten heraus, sowie übergeordnet die Kernnarration der Person, sowie ihr Identitätsgefühl. Die Kernnarration, in der Ereignisse zeitlich und ursächlich einander zugeordnet werden, diene dem Individuum nicht nur zur Selbstreflexion, sondern auch zur Selbstpräsentation anderen gegenüber. Im Identitätsgefühl spiegele sich die Nähe bzw. Distanz eines Menschen zur eigenen Person, die daraus resultiere, ob das eigene Verhalten und Dasein selbstgesetzten, z. T. unterbewussten Standards entspreche oder nicht. Zum Identitätsgefühl zähle aber auch ein Gefühl für Kohärenz, d. h. die gefühlsmäßige Einschätzung eines Menschen, ob er sein Tun als sinnhaft erachte und ob er ein Zutrauen in das Gelingen der von ihm anvisierten Projekte hege. Wie die emotionale Selbstbewertung eines Menschen ausfalle, hänge maßgeblich daran, inwiefern ein Mensch bestimmte Identitätsziele erreichen könne. Diese Identitätsziele sind für die Autoren nicht mit den von den Individuen angestrebten Projekten identisch, sondern sozusagen ‚Grunderfahrungen des Gelingens‘. Zu ihnen zählt Keupp primär die Erfahrung von Anerkennung, aber auch die Erfahrung von Autonomie und Selbstbestimmtheit oder die Erfahrung, sich in einem ‚Werk‘ verwirklichen zu können. Es scheint so zu sein, dass Gaben vor allem einen Beitrag zur Verwirklichung der von Keupp so bezeichneten Identitätsziele eines Menschen leisten. Zum einen transportieren sie die für die Identitätsfindung eines Menschen wesentliche Anerkennung durch Andere. Zum anderen eröffnen sie Möglichkeiten eines selbstbestimmten Handelns und in manchen Fällen auch der ‚Selbstverwirklichung‘ eines Menschen. Insgesamt wird an Keupps Ausführungen meines Erachtens erneut deutlich, dass ein Individuum sein Selbstbild – oder, mit Keupp gesprochen, seine kognitiv geprägte Kernnarration und sein emotional bestimmtes Identitätsgefühlimmer anhand der Erfahrungen entwickelt, die es in der tätigen Auseinandersetzung mit seiner Umwelt sammelt. Dementsprechend ist hervorzuheben, dass die als Resultat einer Gabe verstandene Eröffnung von Möglichkeiten nicht nur in der 103

  Keupp, Identitätskonstruktionen, 189.

1.3  Die Gabetheorie von Ingolf U. Dalferth

201

Eröffnung von äußeren Handlungsmöglichkeiten bestehen kann, sondern auch im Anstoß zur ‚inneren Veränderung‘. In den meisten Fällen wird dies Hand in Hand gehen, und die Eröffnung einer äußeren Handlungs- und damit Erfahrungsmöglichkeit wird die Möglichkeit einer inneren Veränderung nach sich ziehen. Es ist jedoch auch vorstellbar, dass ein äußerer Impuls, etwa eine neue, motivierende Stimme im üblicherweise wahrgenommenen Feedbackchor rein innerlich wirkt und auf diese Weise zur Gabe wird. 1.3.3  Schwerpunkte einer Interpretation des Abendmahls als Gabegeschehen nach Dalferth Vor dem Hintergrund des Gabediskurses und insbesondere von Dalferths Gabebegriff lässt sich die oben bereits angedeutete Schwerpunktsetzung, nämlich das Abendmahl als Gabegeschehen im Hinblick auf seine Bedeutung für die „Identitätsarbeit“ des Menschen zu untersuchen, noch präzisieren: 1.) Der Fokus der Interpretation soll im Folgenden auf der durch die Veränderung seiner Gottesbeziehung bewirkten Veränderung des Selbstverständnisses eines Gläubigen liegen, und es soll der Frage nachgegangen werden, welche Möglichkeiten sich ihm durch diese Veränderung auftun. 2.) In der von Mauss angestoßenen soziologischen Forschung zur Funktion des wechselseitigen Gabentausches wird das Eingehen von Beziehungen und der Vollzug von Gemeinschaft als wichtige Aufgabe von wechselseitigem Gabentausch herausgestellt. Auch dieser Aspekt soll bei einer Interpretation des Abendmahls als Gabe aufgegriffen werden. Der Aspekt, dass das Abendmahl auch unter den Feiern­den Gemeinschaft stiftet, ist in einer Interpretation des Abendmahls als Gabegeschehen der vorgängigen Gemeinschaft zwischen Christus und dem Gläubigen zuzuordnen. 3.) Wie der Durchgang durch die exegetische und systematische Forschung deutlich gemacht hat, ist es bei der Darstellung des Abendmahls als Gabegeschehen zu berücksichtigen, dass die ‚Gabe‘ nicht nur ein wesentlicher Interpretant ist, um die Pointe des Abendmahlsgeschehens zu beschreiben, sondern dass auch der Ritus als Gabegeschehen strukturiert ist, dass mit dem in Szene gesetzten Gastmahl ein Gabegeschehen vollzogen wird. Folglich wird im Folgenden auch der Frage nachgegangen, welchen Anteil das im Abendmahl vollzogene Gabegeschehen daran hat, dass sich den Feiernden im Ritus ein neues Gottes- und Selbstverständnis eröffnet. Dabei geht die Arbeit von der Prämisse aus, dass die vielschichtige Metaphorik des Abendmahls dazu angetan ist, den Feiernden eine neue Deutung von Wirklichkeit zu erschließen. Da das Gastmahl nach Mauss ein klassisches Beispiel für einen Gabetausch darstellt, sollen bei dieser Frage die Erkenntnisse aus dem ersten Diskursstrang mit einbezogen werden. 4.) Wenn Dalferth die Pointe einer Gabe darin sieht, dass sie dem Empfänger neue Möglichkeiten eröffnet, so vollzieht sich an diesem durch die Gabe eine Ver-

202

1. Einführung

änderung. Dies impliziert, dass das Gabegeschehen im Abendmahl als wirkmächtig zu betrachten ist, da während der Feier etwas mit dem Gläubigen geschieht und nicht nur an vergangene Geschehnisse erinnert wird. Gleichzeitig teilt Dalferth jedoch mit den Autoren des zweiten Diskursstranges die Skepsis gegenüber der Vorstellung, dass eine Gabe intendiert werden könne. Dies legt es nahe, bei der Intepretation des Abendmahls als Gabe die von den Autoren des zweiten Diskursstranges vorgestellten Überlegungen zur Gabe als Ereignis miteinzubeziehen. Die in den folgenden Kapiteln vorgestellte Interpretation des Abendmahls als Gabegeschehen wird sich zunächst mit der Metaphorik des Abendmahls und seinem Ereignischarakter beschäftigen (3.2) und sich dann der Veränderung, die die Gläubigen an sich erfahren, zuwenden (3.3). Einige Überlegungen zur praktischen Gestaltung des Abendmahls in den Gemeinden schließen sich an (3.4). Exkurs: Implikationen von Dalferths Gabebegriff für das Gottesbild Wie bei der Darstellung von Dalferths Gabebegriff immer wieder hervorgehoben wurde, haben für ihn das Empfangen und die Wirkung der Gabe auf den Empfänger zentrale Bedeutung. Damit ist implizit gesagt, dass auch Dalferth von der Vorstellung abrückt, es sei möglich, intentional eine Gabe zu geben. Dies hat, wenn man seine Gabetheorie zum Abendmahl in Beziehung setzt, jedoch Auswirkungen auf das Gottesbild, die hier kurz benannt werden sollen: 1.) Dalferths Definition von Gabe lässt es ausschließlich zu, aus der Perspektive der Empfänger von Gabe zu sprechen. Das bedeutet, dass die Rede von einem ‚Geber, der jemandem eine Gabe gibt‘ dahingehend zu präzisieren ist, dass ein ‚Geber jemandem etwas gibt und dies für den Empfänger zur Gabe wird‘. Ein Geber kann erhoffen und beabsichtigen, dass sein Geschenk für den anderen zur Gabe wird, d. h. dass ihm durch das Geschenk neue Möglichkeiten eröffnet werden, er kann durch sein Geben aber nicht sicherstellen, dass dies geschieht. Zwischen der Intention des Gebers und dem Zustandekommen einer Gabe gibt es ein unverfügbares Moment, das es rechtfertigt, eine Gabe als Ereignis zu interpretieren. Dies hat Konsequenzen für den Zusammenhang zwischen der Selbstoffenbarung Gottes am Kreuz und in der Auferweckung Jesu einerseits und der Erschließung dieser Offenbarung in Wort und Sakrament andererseits, denn es erfordert, Abstand zu nehmen von der Vorstellung, dass Gott die von ihm intendierte Selbsterschließung für den Menschen vollständig ursächlich wie ein absolutes Subjekt realisiert. Vielmehr nötigt die oben genannte Prämisse dazu, die Heilszueignung des Menschen folgendermaßen zu beschreiben: Gott exponiert sich mit seiner Selbstoffenbarung, die allen Menschen gilt. Mit dieser Exponierung eröffnet er einen Raum, in dem das Ereignis stattfinden kann in der Weise, dass seine Selbstoffenbarung zu einer Erschlossenheit seiner selbst für den Menschen wird, d. h. dass seine Selbsthingabe für den Menschen zur Gabe wird. Auch wenn die Annahme

1.3  Die Gabetheorie von Ingolf U. Dalferth

203

eines für Gott unverfügbaren Moments in der Heilszueignung zunächst irritiert, so kongruiert sie doch mit der Vorstellung, dass Gottes Selbstoffenbarung darauf zielt, des Menschen Gott zu werden, d. h. von ihm als sein Gott wahrgenommen und anerkannt zu werden. Das Moment der Anerkennung jedoch impliziert, dass es sich dabei um eine freie Regung des Menschen handelt. Und auch die Annahme, dass der Mensch durch seinen Gottesbezug zu seiner eigentlichen menschlichen Bestimmung findet, nötigt dazu, bei der Beschreibung der Heilszueignung nicht davon auszugehen, dass eine Tätigkeit des Menschen ausgeschlossen ist. Es gehört zum Menschsein dazu, sich selbst permanent im Vollzug des Selbstbewusstseins präsent zu sein. Nach Dalferth vermag eine Gabe das Selbstverständnis eines Menschen zu verändern, d. h. dass es zu einer Umprägung im Selbstbild kommt. Sucht man nach einer Verknüpfung der beiden ‚Freiheiten‘ Gottes und des Menschen, dann legt sich der Begriff des Geistes nahe. Im und als Geist gibt sich Gott aus der Hand, um für den Menschen zur Gabe des Geistes zu werden, der das Leben des Menschen erfüllt und leitet – und darin die vom Menschen aus unverfügbare Umprägung des Selbstverständnisses realisiert. Diese Veränderung ist natürlich von außen angestoßen, und doch bleibt die Vollzugsform des Selbstbewusstseins unhintergehbar. Es bleibt das aktive Moment des Verstehens. Bei der Gabe des Abendmahls ist die Umprägung des Selbstbildes eine fundamentale, weil ein Bezug auf den allein tragfähigen Grund des Selbst in das Selbstbild eingeht. Der dargestellte Gedankengang, dass die Selbstoffenbarung Gottes für den Menschen ein unverfügbares Moment darstellt und die Reaktion des Menschen darauf ein für Gott unverfügbares Moment, schafft die gedankliche Voraussetzung, die es gerechtfertigt erscheinen lässt, in der folgenden Darstellung den Begriff des ‚Ereignisses‘ heranzuziehen, um die Heilszueignung genauer zu beschreiben. 2.) Wenn man, wie es hier geschieht, für ein Verständnis von Gabe plädiert, das eine Gabe dann für gegeben hält, wenn sich beim Empfänger das Bewusstsein einstellt, etwas empfangen zu haben und sich ihm durch das Empfangene neue Möglichkeiten eröffnen, so tritt die Vorstellung eines intentionalen Gebens einer Gabe notwendigerweise in den Hintergrund. In den biblischen Aussagen, die Karfreitag und Ostern interpretieren, finden sich bekanntlich zahlreiche Wendungen, die davon sprechen, dass Christus sich „für uns gegeben“ hat oder dass „Gott seinen Sohn für uns dahingab“.104 In beiden Fällen wird von Gott bzw. Christus als aktivem Geber gesprochen. Vom Gedanken des Geistes her empfiehlt es sich jedoch, die Selbsthingabe Christi, in der sich Gottes Selbsthingabe zeigt, nicht unter den Begriff der intentionalen Gabe, sondern der ‚Verausgabung‘ zu fassen.105 Die Selbsthingabe Christi stellt eine ‚Verausgabung‘ dar, die für die 104

  Vgl. zum Beispiel Gal 1,4; 2,20 / Eph 5,2.25 / 1. Tim 2,6 / Tit 2,14 sowie Röm 8,32 / Joh 3,16.   Der Begriff der Verausgabung ist auch ein Schlüsselbegriff in der Philosophie von Georges Batailles, Vgl. Bataille, Georges, Verausgabung; Ders., Der verfemte Teil. Das Votieren für den Begriff der ‚Verausgabung‘ im Zusammenhang der Selbsthingabe Gottes am Kreuz und in der Auferweckung Christi bedeutet jedoch nicht, dass man deshalb auch das 105

204

1. Einführung

Gläubigen zur ‚Gabe‘ geworden ist. Der Duden bietet als Synonyme für das Wort „Verausgabung“ die Begriffe „Aufwand“, „Anstrengung“, „Aufbietung“, „Aufopferung“, „Einsatz“, „Hingabe“, „Kraftanstrengung“ an.106 Sich zu „verausgaben“ bedeutet nach dem „Deutschen Wörterbuch“ von Wahrig, „sich bis zur Erschöpfung anstrengen“, „sein Bestes, alles hergeben . . .“, „sein Geld völlig ausgeben“.107 Diese Aufzählung zeigt, dass der Begriff der Verausgabung eine maximale ‚Investition‘ bzw. ein maximales ‚Sich Investieren‘ bezeichnet. Dies ist der Grund, weshalb er mir als Charakterisierung von Gottes Handeln am Kreuz und in der Auferweckung Christi geeignet erscheint. Gott wirft sich selbst in die Waagschale, gibt sich hin, investiert sich mit dem Risiko, dass seine Selbstoffenbarung verkannt oder abgelehnt wird. Und dieses ‚Sich Investieren‘ Gottes kann, wenn es vom Menschen als solches erkannt wird, für ihn zur Gabe im oben beschriebenen Sinne werden. In seinem Geist weiß sich der Mensch in Freiheit Gott als Geist verbunden, der sich selbst verausgabt.

Konzept der Philosophie Batailles als Referenzrahmen übernehmen müsste. Im Gegenteil: Meines Erachtens könnte lediglich Batailles grundsätzliche Definition von ‚Verausgabung‘ der Theologie als Anknüpfungspunkt dienen, insofern es sich nach Bataille bei ‚Verausgabung‘ immer um eine Verlusthandlung handelt, bei der das Subjekt jedoch zu sich selbst findet. Eine weitergehende Adap­ tion des Gedankengangs von Bataille ist insofern nur schwer möglich, als er keine Verausgabung zugunsten anderer zu denken vermag, Selbsthingabe aber eine solche ‚Verausgabung zugunsten anderer‘ darstellt. Für Bataille verbindet sich mit der Verausgabung das Moment der Selbstfindung, der Subjektwerdung. Ihm zufolge überwindet der Mensch in der Verausgabung einen Augenblick lang die eigene Begrenztheit, die die Subjekt-Objekt-Spaltung notwendigerweise mit sich führt, da an den Verlust der Selbstverlust, der eine ekstatische Komponente beinhalte, gekoppelt sei. In der ekstatischen Selbsttranszendenz gewinne der Mensch jedoch seine Souveränität zurück. Ob man auch bei einer Verausgabung zugunsten eines Anderen davon ausgehen kann, dass der Verlusthandlung ein Moment der Selbstfindung innewohnt, auch wenn diese ganz anders definiert werden müsste als bei Bataille, nämlich eher so wie bei Lévinas, und ob man von Gottes Selbsthingabe am Kreuz und in der Auferweckung sagen kann, dass Gott in ihr zu sich selbst findet, kann in diesem Rahmen nicht erörtert werden. 106   Vgl. Art. „Verausgabung“, in: Duden Online, [www.duden.de], zuletzt abgerufen am 26.10.2017. 107   Wahrig, Gerhard, Art. „Verausgabung“, in: Ders., Deutsches Wörterbuch. Mit einem Lexikon der deutschen Sprachlehre, Gütersloh 1977, 3903.

2.  Das Abendmahl als wirkmächtiges Ereignis Es kam bisher bereits mehrfach zur Sprache, dass im Ritus des Abendmahls die Kombination von sprachlicher Zusage und vollzogener Handlung eine hochkomplexe Einheit bildet. Der metaphorische Gehalt dieser Einheit – so eine der grundlegenden Prämissen meiner eigenen, nun folgenden Ausführungen – ist dazu fähig, den Blick der Feiernden auf die Wirklichkeit Gottes zu lenken, wie sie sich im Geschehen von Kreuz und Auferstehung offenbart hat, und dadurch die Feiernden in ihrer Selbst- und Weltdeutung neu zu positionieren, so dass man sagen kann, dass Christi Selbsthingabe für sie im Abendmahl zur Gabe wird. Das folgende Kapitel wird sich zur weiteren Präzisierung zum einen der Metaphorik des Abendmahls zuwenden und zum anderen den Ereignischarakter des Abendmahls explizieren. Nach einer kurzen Erörterung der Funktionsweise von Metaphern  (2.1) soll auf die einzelnen Komponenten der Abendmahlsmetaphorik eingegangen werden (3.2) und in einem dritten Schritt der Ereignischarakter des durch Metaphern getragenen Erschließungsgeschehens des Abendmahls herausgearbeitet werden (2.3).

2.1 Wirklichkeit in Metaphern In der Theologie war es unter anderen Eberhard Jüngel, der darauf hinwies, dass der gläubige Mensch auf metaphorische Sprache angewiesen ist, um über Gott und seine Gottesbeziehung zu sprechen und um Gott und die eigene Gottesbeziehung zu verstehen. Jüngels Ansatz steht für ein Metaphernverständnis, demzufolge das Wissen über den Gegenstand, der durch eine Metapher charakterisiert wird, durch die metaphorischen Prädikationen erweitert wird. Metaphern haben für ihn wirklichkeitserschließenden Charakter.1 1   Jüngel, Eberhard, Metaphorische Wahrheit. Erwägungen zur theologischen Relevanz der Metapher als Beitrag zur Hermeneutik einer narrativen Theologie, in: Ricœur, Paul / Jüngel, Eberhard, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache (= EvTh Sonderheft 1974), München 1974, 71 – 122. Eberhard Jüngel bezieht sich in seinen Überlegungen primär auf die Ausführungen zur Metapher bei Aristoteles, der ersten theoretischen Abhandlung zur Metapher, und deutet lediglich in den Fußnoten an, dass er den neuzeitlichen Diskurs über die Metapher ebenfalls zur Kenntnis genommen hat. Heute ist der Metapherndiskurs noch breiter und facettenreicher als 1974, und Anselm Haverkamp stellt heraus, dass es sich im Grunde nicht um eine einheitliche Forschung handelt, son-

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2.  Das Abendmahl als wirkmächtiges Ereignis

Ausgangspunkt für Jüngels Überlegungen bildet die Tatsache, dass religiöse Rede Wirklichkeit nicht einfach konstatiert, sondern von einer ganz bestimmten Möglichkeit der Wirklichkeit spricht und damit einerseits über das Faktische hinausgeht, sich aber andererseits auf dieses bezieht. Um dies leisten zu können, sei religiöse Sprache primär metaphorische Sprache. Jüngel entwickelt seinen Metaphernbegriff anhand der Ausführungen zur Metapher von Aristoteles, modifiziert diese jedoch dahingehend, dass er die Metapher nicht als bloß ‚uneigentliche Rede‘, als bloße Form der Rhetorik versteht, sondern als spezifische Form der präzisierenden Rede.2 Er folgt Aristoteles aber in seiner Beschreibung des Zustandekommens einer Metapher. Für eine Metapher sei es charakteristisch, dass sie „zwei Sinnhorizonte zueinander in Beziehung setze“.3 Diese Beziehung entstehe, indem ein Wort als Prädikation eines Sachverhalts herangezogen werde, in dessen Kontext es eigentlich nicht gehöre, sondern fremd sei. Die Fremdheit sei insofern jedoch keine totale, als das ‚fremde Wort‘ und sein neuer Sachverhalt mittels einer Analogiebildung in einen Zusammenhang gebracht werden können. Auf diese Weise könne das ‚fremde Wort‘ im Verstehen eingeholt werden.4 Jüngel führt aus, dass der metaphorische Gebrauch eines Wortes, also die Einführung eines ‚fremden Wortes‘ in einen neuen Zusammenhang, nicht nur diesen dern um konkurrierende Ansätze, deren Konkurrenz aus den unterschiedlichen Paradigmen der im Bereich der Metapherntheorien einflussreichen Metatheorien resultiert. Haverkamp nennt hier Sprachanalyse, Strukturalismus und Hermeneutik, vgl. Haverkamp, Anselm, Theorie der Metapher, Darmstadt 21996. Die Sichtung und Bewertung des gesamten Metapherndiskurses einschließlich ihrer metatheoretischen Hintergründe würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Das ist neben der großen Aufmerksamkeit, die Jüngels Überlegungen in der Theologie erfahren hat, auch ein Grund, weshalb ich mich entschieden habe, mit seinen Ausführungen zu arbeiten. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass der Aspekt, der für die vorliegende Arbeit relevant ist, nämlich der wirklichkeitserschließende Charakter von Metaphern, auch von anderen Autoren hervorgehoben wird. So schreibt beispielsweise Harald Weinrich über eine Metapher bei Celan: „Denn den Widerspruch sollen wir aushalten, und wir halten ihn aus, weil wir durch Metaphern überhaupt daran gewöhnt sind, Widersprüche hinzunehmen und uns von ihnen über die handgreifliche Wirklichkeit hinaustragen zu lassen.“, Weinrich, Harald, Semantik der kühnen Metapher, in: Haverkamp, Metapher, 316 – 339, hier 327. Und Paul Ricœur spricht vom „besonderen Verfahren der Metapher, das den Sprachgebrauch über sich selbst hinaushebt“, und stellt die Frage: „Warum sollten wir neue Bedeutungen aus unserer Sprache herausholen, wenn wir nichts Neues zu sagen, wenn wir keine neuen Welten zu projizieren hätten?“, Ricœur, Paul, Die Metapher und das Hauptproblem der Hermeneutik, in: Haverkamp, Metapher, 376 – 375, hier: 375. 2   An diesem Argumentationsschritt liegt Jüngel viel, weil er darum bemüht ist, aufzuzeigen, dass selbstverständlich auch metaphorische Rede einen Wahrheitsbezug hat. Für Jüngel hat die Sprache insgesamt eine metaphorische Struktur und partizipiert am besonderen Anredecharakter metaphorischer Rede. 3   Jüngel, Metaphorische Wahrheit, 112. 4   Dabei ist deutlich, dass die Analogie nicht unbedingt in der Metapher angelegt ist, sondern die Spannung zwischen „Bildspender“ und „Bildempfänger“ den Hörer der Metapher in einen Suchprozess nach einem Vergleichspunkt entlässt; zur Begrifflichkeit vgl. Weinrich, Sprache, 297. Der Hörer der Metapher muss sich fragen, inwiefern a = x ist. Und genau dadurch, dass die Metapher diesen Suchprozess anstößt, ist sie wirklichkeitserschließend.

2.1 Wirklichkeit in Metaphern

207

Zusammenhang, sondern auch das Wort selbst verändere. Als Beispiel verweist er auf Luthers Argumentation gegenüber Zwingli im Abendmahlsstreit. „Metaphorische Rede präzisiert, indem sie mit der Dialektik von Vertrautheit und Verfremdung arbeitet. Sie verfremdet sowohl den Sachverhalt als auch den Sprachgebrauch, indem sie ein für die Bezeichnung des Sachverhalts ungewöhnliches Wort und dieses in einer ungewöhnlichen Bedeutung verwendet.“5 Durch die für die Metapher charakteristische Dialektik von Fremdem und Vertrautem entstehe eine „hermeneutische Spannung“,6 die insofern zu einer Erkenntniserweiterung führe, als das Subjekt durch die metaphorische Prädikation auf neuartige Weise charakterisiert werde. Es werde in seinem „Sein“ präzisiert.7 Allerdings sei eine Voraussetzung dafür, dass die Erkenntniserweiterung glücken könne, dass die beiden zueinander ins Verhältnis gesetzten Sinnhorizonte dem Hörer einer Metapher vertraut seien. Sei dies nicht auf natürlichem Wege gegeben, müsse dies Vertrautheit durch das Erzählen hergestellt werden. Untersuchungen zu Metaphern beziehen sich in der Regel auf sprachliche Phänomene. In der kognitiven Metapherntheorie wird der Forschungsgegenstand jedoch dahingehend erweitert, dass man die Metapher, in der etwas als etwas gedeutet wird, als eine grundlegende Struktur des menschlichen Denkens betrachtet. Da die kognitive Metapherntheorie von Georg Lakoff und Mark Johnson ebenfalls Antworten darauf zu geben vermag,8 inwiefern Metaphern Wirklichkeit erschließen, soll die Darstellung ihrer Theorie den Ausführungen zu Jüngel zur Seite gestellt werden. Lakoff und Johnson gehen davon aus, dass das menschliche Gehirn so arbeite, dass ein abstrakter Sinngehalt durch die Übertragung der Struktur eines konkreteren Sachverhaltes erschlossen werde. Die beiden Autoren sprechen in diesem Fall von einer metaphorischen Konzeptualisierung. Dies sei deshalb möglich, weil mit dem Einzelbegriff, der in der sprachlich gefassten Metapher den Bildspender darstellt, ein ganzes in sich strukturiertes semantisches Feld aufgerufen werde, so dass die konkrete Metapher eine Fülle von Implikationen und Ableitungen beinhalte. Lakoff und Johnson heben hervor, dass sowohl der metaphorisch konzeptualisierte als auch der zur Konzeptualisierung herangezogene Sinngehalt mit gemachten Erfahrungen korrespondiere. Diese seien aber bei dem Sinngehalt, der den anderen metaphorisch konzeptualisiere, konkreter fassbar, weshalb er sich auch besser als Konzept eigne. Die meisten Metaphern, mit deren Hilfe das menschliche Gehirn komplexe Sachverhalte konzeptualisiere, seien konventionelle Metaphern, so dass sie in der Regel gar nicht als Metaphern ins Auge fielen. Doch auch freie, kreative Metaphern 5

  Jüngel, Metaphorische Wahrheit, 119.   Jüngel, Metaphorische Wahrheit, 120. 7   Jüngel, Metaphorische Wahrheit, 120. 8   Lakoff / Johnson, Metaphors. 6

208

2.  Das Abendmahl als wirkmächtiges Ereignis

funktionierten nach dem gleichen Prinzip. Allerdings forderten die freien Metaphern ihre Hörer jeweils dazu heraus, zu überprüfen, inwieweit die Metaphern dem Sachverhalt, den sie konzeptualisieren sollen, auch gerecht werden.9 Dies geschehe, indem sie ihre Erfahrungen mit dem konzeptualisierten Sachverhalt in das System einzeichneten, das die Metapher vorgebe. Sei es möglich, dass eine Person die für sie entscheidenden Erfahrungen in das durch die Metapher bezeichnete System einzeichnen könne, werde sie die Metapher als stimmig, als ‚wahr‘ empfinden. Durch das Einzeichnen von gemachten Erfahrungen in das strukturierte Feld, das die Metapher eröffnet, würden die Einzelerfahrungen zu­einander in Beziehung gesetzt, geordnet und bewertet. Insofern Erfahrungen durch Metaphern strukturiert werden, kann man meines Erachtens davon sprechen, dass Metaphern wirklichkeitsbildend wirken. Metaphern geben einen bestimmten Zugang zur Deutung gemachter Erfahrungen vor. Allerdings weisen Lakoff und Johnson auch darauf hin, dass die Art und Weise, wie Metaphern und Erfahrungen miteinander verknüpft werden, kulturabhängig sei. Kreative neue Metaphern eröffnen nach Lakoff und Johnson neue Möglichkeiten der Weltauslegung. Das Konzeptsystem eines Menschen als Ganzes, d. h. die Gesamtheit seiner Konzeptualisierungen, erfahre durch eine neue Metapher zudem eine Verschiebung. Auch dies ist ein Grund, weshalb man davon sprechen kann, dass neue, kreative Metaphern wirklichkeitserschließend sind: sie führen zu einer Veränderung von Wahrnehmung. Lakoff und Johnson heben auch hervor, dass metaphorische Konzeptualisierungen, die Menschen für sich als ‚wahr‘ übernommen haben, fortan ihre Wahrnehmung und Handlungen prägen, zumal das strukturierte Feld, das eine Metapher eröffne, vielfach auch implizite Zielsetzungen enthalte.

2.2  Die Metaphorik des Abendmahls in den Worten, der Handlung und den Elementen Denkt man darüber nach, was dem Abendmahl seine sinnerschließende Kraft verleiht, so kommt in der Regel zunächst die metaphorische Struktur der Abendmahlsworte in den Blick. Es ist jedoch so, dass nicht nur die Metaphern der Einsetzungsworte, und damit verbunden die Symbolik des Essens, dazu angetan sind, die Wirklichkeit von Kreuz und Auferstehung für den Feiernden zu erschließen, sondern dass auch die soziale Dimension der Einladung zum gemeinsamen Mahl metaphorisch über sich hinausweist.10 So ermöglicht es die Leuenberger Konkordie durch ihre Abwendung von der Fokussierung auf die Elemente, einen Blick  9

  Lakoff / Johnson, Metaphors, 139 ff.   Philipp Stoellger hat in seinem dargestellten Aufsatz zum Abendmahl darauf aufmerksam gemacht, dass die Metaphern der Einsetzungsworte mit den Gesten des Ritus wie dem Zeigen des Brotes, dem Brechen und Austeilen eine unauflösbare Einheit bilden, die ihn dazu bringen im Falle 10

2.2  Die Metaphorik des Abendmahls in den Worten, der Handlung und den Elementen

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dafür zu gewinnen, dass im Abendmahl eine ineinandergreifende und zugleich mehrdimensionale Metaphorik vorliegt und die Handlung als ganze „sakramentale Durchlässigkeit“ gewinnen kann.11 An dieser Stelle soll zunächst auf die Metaphorik der Einsetzungsworte und dann, etwas ausführlicher, auf die Metaphorik des Gastmahls eingegangen werden, da hierbei relevante Einsichten aus dem soziologischen Gabediskurs zum Tragen kommen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die in den Metaphern des Abendmahls verwendeten Bilder in der konkreten Abendmahlsfeier auch dadurch ihre Kontur gewinnen, dass sie einerseits Assoziationen an andere biblische Texte wie etwa die Speisung der 5000 wecken,12 anderseits im jeweiligen Kontext der Feiernden Diskurse geführt werden, durch die das Bildmaterial der Metapher bestimmte Konnotationen enthält.13 Dies verleiht den sprachlichen Bildern einen dynamischen Charakter. 2.2.1  Die Metaphorik der Einsetzungsworte und die Symbolik der Kommunion Die Einsetzungsworte des Abendmahls sind ihrer Struktur nach dreigeteilt. Den eigentlichen Metaphern „Das ist mein Leib, der für euch gegeben ist“ und „Dieser Kelch ist das neue Testament in meinem Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ geht die Aufforderung, zu essen bzw. zu trinken, voraus, und es folgt die Aufforderung zur Erinnerung.14 Und obgleich die Aufforderung, des Abendmahls von „Handlungsmetaphern“ zu sprechen, vgl. Stoellger, Abendmahl, 75. Davon inspiriert habe ich mich dazu entschlossen, den Begriff ‚Metaphorik‘ als Überbegriff für den symbolischen Gehalt des Abendmahls insgesamt zu wählen, wohl wissend, dass diese Verwendung eine Ausweitung des eigentlichen Begriffssinns bedeutet, der sich ursprünglich ja rein auf die Gesamtheit der sprachlichen Bilder eines Textes bezieht. Hinter der Wahl dieser Begrifflichkeit steht auch die im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch eingehender dargestellte Beobachtung, dass sich auch im Miteinander von Wort und Gesten eine „hermeneutische Spannung“ aufbaut, wie sie nach Eberhard Jüngel für sprachliche Metaphern charakteristisch ist, vgl. Jüngel, Metaphorische Wahrheit, 120. 11   Der Begriff der „sakramentalen Durchlässigkeit“ ist einer der Zentralbegriffe des Abendmahlsentwurfes von Andrea Bieler und Luise Schottroff. Siehe dazu Kap. B.2.2.1. 12   Vgl. Mt 14, 13 – 21par. 13   Diese Einsicht verdanke ich ebenfalls Andrea Bieler und Luise Schottroff, deren Abendmahlsentwurf maßgeblich von dem Gedanken getragen ist, dass die Assoziationen aus dem biblischen Kontext und die Assoziationen aufgrund gegenwärtiger sozialer Debatten im Abendmahl in eine produktive Wechselwirkung treten. Das vielleicht eindrücklichste Beispiel, das die beiden Theologinnen für die inhaltliche Färbung der Abendmahlsmetaphorik durch gesellschaftliche Diskurse anführen, ist der Diätwahn in der westlichen Welt und die damit verbundene Wahrnehmung von Nahrung und von Körperlichkeit, aber natürlich sind auch die Armutsdebatten und Diskussionen um eine umweltgerechte Landwirtschaft Diskurse, die an dieser Stelle zu nennen sind. Hier sei noch einmal betont, dass natürlich nicht nur die Elemente eine Vielzahl von Assoziationen hervorrufen, sondern auch die sprachlichen Bilder der Metapher, vor allem der Begriff σῶμα. 14   Vgl. Evangelisches Gottesdienstbuch. Agende für die Evangelische Kirche der Union und für die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, hg. von der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und im Auftrag des Rates von der Kir-

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2.  Das Abendmahl als wirkmächtiges Ereignis

zu essen und zu trinken, ganz real gemeint ist, gewinnt das Essen und Trinken durch die Metaphern, die folgen, selbst eine symbolische Dimension, sie werden zum Sinnbild für die Aufnahme des göttlichen Heils. Deshalb soll im Folgenden zunächst auf die Einsetzungsworte und dann auf die symbolische Dimension des Essens und Trinkens eingegangen werden. Bereits in den jüdischen Tischgebeten, die, folgt man der narrativen Darstellung des letzten Abendmahls in den Evangelien, den Rahmen für die Einsetzung des Abendmahls bieten, kommt den Elementen von Brot und Wein eine herausgehobene Stellung zu. Dabei ist es für die Metaphorik von Bedeutung, dass es sich bei Brot um ein Grundnahrungsmittel handelt. An es bindet sich die Assozia­ tion der Sättigung, der Überwindung von Hunger. Als Energielieferant für den menschlichen Körper bildet es als Grundnahrungsmittel die Voraussetzung dafür, dass der Mensch körperlich und geistig etwas zu leisten vermag. Wein hingegen ist eng mit dem Außergewöhnlichen, mit den Festen des Lebens verbunden. Bei der Auslegung des Brotwortes ist die neutestamentliche Beobachtung von Relevanz, dass zwischen den griechischen Wörter σάρξ und σῶμα ein semantischer Unterschied besteht: Während σάρξ in seiner Grundbedeutung ‚Fleisch‘ heißt und im Neuen Testament im weiteren Sinn für die menschliche Leiblichkeit, seine irdische Bedingtheit, sowie seine irdische Herkunft im Gegensatz zu einer göttlichen Herkunft bezeichnet, wird der Begriff σῶμα für den menschlichen Leib, den lebenden wie den toten, gebraucht und kann für die Persönlichkeit selbst stehen.15 In den Einsetzungsworten steht nach Schröter das σῶμα für die Person Jesu als Ganze, für sein Leben und all das, was er bewegt hat, ebenso wie für sein Sterben. Bezeichnet der Begriff σῶμα in den Einsetzungsworten jedoch die ganze Persönlichkeit Jesu, so wird in der Handlung des Brechens und Verteilens des Brotes symbolisch das gesamte Heil zugeeignet, das Jesus durch sein Leben, sein Sterben und sein Auferwecktwerden durch Gott offenbarte. Das Kelchwort stellt insofern eine Variation zum Brotwort dar, als es das Geschick Jesu zu einem der zentralen Motive der jüdischen Heilsgeschichte in Bezug setzt, dem Bund Gottes mit Israel. Biblische Referenzpunkte sind je nach Evangelium entweder Jer 31,31 – 34 oder Ex 24,8. Es ist zu betonen, dass es sich bei dem Bund, von dem das Kelchwort spricht, nicht um eine Ablösung, sondern um eine Erneuerung des Bundes Gottes mit Israel handelt, in den die Völker mit hineingenommen werden.16 Obgleich der Bezug zu Ex 24,8 eine kultische Lesart der Prädikation des Bundes als „in meinem Blut, das für euch vergossen wird“

chenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union, Berlin 22001, 80 und Agende I der evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Die Gottesdienste an Sonn- und Feiertagen, hg. v. dem Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Kassel 1996, 18. 15   Hier schließe ich mich der unter C.1.2.1.2 dargestellten Position von Jens Schröter an. 16  Vgl. Hartenstein, Abendmahl, 197. Hartenstein betont deshalb, dass das Abendmahl nach frühchristlichen Verständnis auch nicht in Konkurrenz zum Passahfest stand.

2.2  Die Metaphorik des Abendmahls in den Worten, der Handlung und den Elementen

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(Lk 22,20) nahelegt, betont eine ganze Reihe von Neutestamentlern, dass hier die Vorstellung einer unkultischen Form von Stellvertretung im Hintergrund steht.17 Sie weisen auf die in der frühjüdischen Theologie verbreitete Vorstellung hin, dass sich der Tod von Märtyrern im Nachhinein als ein Rettungshandeln für das ganze Volk erweisen könne, da Gott durch ihre Treue dazu bewegt werde, seinen Zorn gegen das Volk zu beenden und rettend in die Geschichte einzugreifen. Aufgrund der Sünde des Volkes habe Gott dessen Feinde die Oberhand über es gewinnen lassen, die Standhaftigkeit des Märtyrers und seine Thoratreue brächten Gott nun dazu, sich zu erbarmen.18 In diesem Sinne sei auch Jesu Tod durch die ersten Christen verstanden worden: „Jesu Tod hat sich im Nachhinein durch die Anerkennung seiner Treue zu Gott bis in den Tod in der Auferstehung als wirksam 17  Vgl. Standhartinger, Angela, Das Abendmahl im Neuen Testament: Eine Einführung, in: Hartenstein / Petersen / Standhartinger, Speise, 19 – 33, hier: 29.; hierzu auch: Bieler / Schottroff, Abendmahl, 90 ff. und 206 ff. Günther Röhser stellt in seinem Buch „Stellvertretung im Neuen Testament“ die unterschiedlichen in der neutestamentlichen Forschung für möglich gehaltenen prägenden Einflüsse für die ὑπὲρ-Formel zusammen und bewertet sie, vgl. Röhser, Günther, Stellvertretung im Neuen Testament (= SBS 195), Stuttgart 2002. Neben der alttestamentlichen Sühnopfervorstellung und der Märtyrer­tradition nennt er die Tradition des leidenden Gerechten aus Jes 53 ebenso wie Stellvertretungsvorstellungen in der paganen Umwelt des entstehenden Christentums und stellvertretendes Handeln in der Bibel, das nicht stellvertretendes Sterben meint. Die Rückführung des Stellvertretungsgedankens auf das Sühnopfer hält auch er für unwahrscheinlich und macht dafür zwei Gründe geltend: Erstens beschränke sich die Möglichkeit des Sühnopfers auf eine geringe Zahl von Vergehen, nämlich nur auf die unabsichtlich begangenen, während Jesu Tod im Neuen Testament eine umfassende Sühnewirkung zugesprochen werde. Zweitens stehe nicht der Tod des Opfertieres im Zentrum des Sühnopfers, sondern das Besprengen des Altars mit seinem Blut, vgl. Röhser, Stellvertretung, 58 ff. Wie plausibel die Zurückführung der ὑπὲρ-Formel auf die Märtyrertheologie ist, scheint allerdings auch von der Datierung des 4. Makkabäerbuch abzuhängen. 18   Luise Schottroff und Andrea Bieler versuchen deutlich zu machen, worin in inhaltlicher Hinsicht der Unterschied zu einer kultischen Auslegung besteht, vgl. Bieler / Schottroff, Abendmahl, 200 – 217. Einerseits sei die mitschwingende Bewertung der Gewalt, die Jesus widerfährt, eine andere. Während bei einer Opferhandlung die Gewaltanwendung an dem Opfer durch die Handlung gerechtfertigt werde, weil sie dem finalen Ziel des Ritus diene, sei das Leiden des Gerechten zugleich ein Protest gegen die ihm widerfahrende Gewalt und gegen die Strukturen, die mit dieser Gewalt gestützt werden. Die Gewalt werde als Unrecht entlarvt. Sie mache den Märtyrer jedoch nicht zu einem stummen Opfer, sondern zu einem Zeugen für die Gerechtigkeit Gottes. Andererseits seien die Implikationen für das Gottesbild andere, weil nicht von dem Kausalitätszusammenhang ausgegangen werde, es bedürfe des Opfers, um die Vergebung Gottes zu erwirken. Vielmehr stelle man sich Gott in der Märtyrertheologie derart vor, dass er sich durch ein bereits geschehenes Ereignis reuen lasse und durch die Veränderung seines Verhaltens nun seinerseits Position zu der von dem Märtyrer erlittenen Gewalt beziehe. In dieser Hinsicht sei die Auferweckung Jesu als ein scharfer Widerspruch Gottes gegen die Sünde der Menschen zu verstehen, wie sie sich auch in der Gewalt gegen Jesus geäußert habe. Es ist meines Erachtens allerdings fraglich, ob die Märtyrertheologie die problematischen Implikationen, die sich aus der Deutung des Todes Jesu als Stellvertretung für das Gottesbild ergeben, wirklich umgeht. Diese ergeben sich meiner Meinung nach nämlich auch dadurch, dass der Stellvertretungsgedanke mit einer rechtlichen Metaphorik verknüpft wird. Wenn der Tun-Ergehen-Zusammenhang jedoch nicht als Zusammenhang von verfehltem Tun und Strafe ausgelegt wird, sondern als Folgen des verfehlten Tuns die Zerstörung von Gemeinschaft und die Beschädigung der Beziehung des Täters zu sich selbst in den Blick kommt, gewinnt der Gedanke von Stellvertretung eine andere Dynamik.

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2.  Das Abendmahl als wirkmächtiges Ereignis

erwiesen. Der Tod dieses Gerechten hat Gott zur Selbstoffenbarung vor allem Mächten (Phil 2,6 – 11) bewegt [. . .].“19 Obwohl Brotwort und Kelchwort darin variieren, dass das Kelchwort das durch Christus zugeeignete Heil zu der Bundesgeschichte Israels in Beziehung setzt, handelt es sich im Grunde um parallele Aussagen. In den beiden Einsetzungsworten geht es jeweils darum, dass der Feiernde Anteil gewinnt an Christus und der durch ihn vermittelten Gottesbeziehung. Lakoff und Johnson fragen sich in ihren Überlegungen zur Funktion von Metaphern, ob es neben metaphorischen Konzepten, durch die andere Konzepte strukturiert werden, auch basale Grundkonzepte gebe, die ihrerseits nicht mehr metaphorischer Natur sind und die wiederum in die Metaphern einfließen, und kommen zu dem Schluss, dass es sich bei der menschlichen Raumorientierung um ein solches Basiskonzept handele.20 Folgt man dieser These, so verbirgt sich in der durchaus gängigen Metaphorisierung eines geistig-geistlichen Geschehens als Nahrung die Einsicht, dass etwas von außerhalb des Menschen in sein Inneres gelangt, dass es Teil seiner selbst wird. Ein weiterer Schwerpunkt der Metapher der geistig-geistlichen Nahrung besteht darin, dass diese Inkorporation Lebensenergie zuführt und den, der genährt wird, am Leben erhält. Nun sind die Einsetzungworte keine ‚reinen‘ Metaphern, sondern sprengen den sprachlichen Bereich dadurch auf, dass es sich bei den „Bildempfängern“ um Demonstrativa handelt, die sich auf Brot und Kelch beziehen, die den Feiernden gezeigt und dann zur Kommunion bereitgestellt werden. Diesen Vorgang hat Notger Slenczka durchaus treffend charakterisiert, wenn er davon spricht, dass Christi Existenz sprachlich mit Brot und Wein verbunden, diesen quasi eingeschrieben werde: „[. . .] vielmehr handelt es sich um den Vollzug einer Mitteilung Christi an das Brot und einer Aufnahme des Brotes in die eigene Existenz.“21 Durch die sprachlich geschaffene Verbindung von Christus mit Brot und Wein wird es möglich, dass die Feiernden die sinnliche Basiserfahrung, auf der die Metapher der geistigen Nahrung beruht – Äußeres wird zu Innerem – real machen können. Es wird nicht nur sprachlich an diese Basiserfahrung erinnert, sondern durch den Vollzug der Handlung wird die Erfahrung selbst ermöglicht. Es scheint so, dass Wort und Handlung im Abendmahl in besonderer Weise verschränkt sind und sich gegenseitig neu qualifizieren. Durch die Metaphern der Einsetzungsworte gewinnt die sich anschließende Handlung erst den Charakter der Aneignung des göttlichen Heils. Umgekehrt verstärkt die Handlung des Essens den Charakter der Zueignung, weil diese real vollzogen wird. Diese Verschränkung hat Philipp Stoellger treffend mit dem Begriff der „Handlungsmetapher“ charakterisiert: „Der Ausdruck ‚Handlungsmetapher‘ besagt, dass Metaphorik nicht ‚nur‘ eine sprach19

  Standhartinger, Einführung, 30.   Lakoff / Johnson, Metaphors, 14 ff. 21   Slenczka, In ipsa fide, 181. 20

2.2  Die Metaphorik des Abendmahls in den Worten, der Handlung und den Elementen

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liche und semantische Figur ist, sondern auch agiert, begangen und inszeniert ­werden kann. Die Gesten des Zeigens, Gebens, Teilens und Empfangens sind ‚Metaphern ohne Worte‘.“22 2.2.2  Das in Szene gesetzte Gastmahl als ein über sich hinausweisendes Geschehen Wie bereits hervorgehoben, ist nicht nur die Metaphorik der Einsetzungsworte wirklichkeitserschließend, sondern auch das im Ritual in Szene gesetzte Gastmahl weist über sich hinaus und zwar aufgrund der Spannung zwischen der Handlung des Rituals und der Erzählung, die die Einsetzungsworte rahmt. Bei der Ritualhandlung wird dem Teilnehmer des Rituals eine ganz bestimmte Rolle zugewiesen, die mit bestimmten Erwartungen an ein rollengemäßes Verhalten verknüpft ist. Bei dem im Abendmahl inszenierten Gastmahl ist dies die Rolle des Gastes, dem durch die Aufmerksamkeit des Gastgebers Anerkennung zuteilwird und der diese Anerkennung durch sein Verhalten als Gast seinerseits erwidert. Gleichzeitig wird dem Feiernden durch den Erzählrahmen die Identifikation mit den Jüngern Jesu, als den Gästen des letzten Mahles Jesu, nahegelegt, deren Verhalten jedoch nicht mit der zu erwartenden Rolle von Gästen konform ist. Blickt man auf die Szene, in die die Evangelien das Abendmahl narrativ einbetten und die durch die liturgische Einleitung „Unser Herr Jesus Christus, in der Nacht, da er verraten ward“ bei jeder Feier des Abendmahls vor dem inneren Auge der Feiernden evoziert wird,23 so ist diese Szene durch die Spannung zwischen dem die Gemeinschaft fördernden Mahl einerseits und dem Verrat an Jesus sowie der Verleugnung durch einen Teil seiner Jünger andererseits gekennzeichnet. Inhaltlich legt der Hinweis auf den Verrat den Fokus darauf, dass die Anfeindung Jesu, die in den Evangelien bis zum letzten Abendmahl als eine äußere beschrieben wird, ein Geschehen innerhalb der Gruppe wird. Verrat bedeutet die Aufkündigung der Gemeinschaft. Mit seinem Verrat wendet sich Judas von Jesus ab. Einer der Jünger übernimmt nun selbst die Rolle des ‚Feindes Jesu‘, des ‚Gottfeindlichen‘. Und doch wird das Mahl auch mit diesem Jünger vollzogen. Schröter weist zwar darauf hin, dass die Benennung des Verräters vor dem Mahl erzählerisch den Sinn haben könne, den Verräter aus der Gemeinschaft auszusondern, um die Gemeinschaft zu schützen, aber von einem Ausschluss Judas aus der Mahlgemeinschaft wird gerade nichts berichtet.24 Das 22

  Stoellger, Abendmahl, 75.   Vgl. Evangelisches Gottesdienstbuch, 80;. Agende I, 18. Die Entscheidung, sich an dieser Stelle, an der es ja um das gottesdienstliche Erleben geht, auf die liturgisch gebräuchliche Form und nicht auf die neutestamentlichen Texte zu beziehen, ist insofern folgenreich, als das im Griechischen verwendete Verb παραδίδωμι lediglich „übergeben“ bedeutet. Dies eröffnet gegenüber dem „verraten“, wie Luther übersetzt hat und wie es in die Liturgie eingegangen ist, andere Deutungsmöglichkeiten, etwa die von Bader präferierte, dass Gott das Subjekt der Übergabe Christi sein könnte, vgl. Bader, Abendmahlsfeier, 22 ff. 24  Vgl. Schröter, Abendmahl, 45 f. 23

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2.  Das Abendmahl als wirkmächtiges Ereignis

Gastmahl ist aus der Sicht von Mauss eine Form des Gabentausches, und als performative Handlung vollzieht sich in ihr das, was durch sie angestrebt wird: Anerkennung wird zum Ausdruck gebracht, Beziehung wird gestiftet, Frieden und eine soziale Gemeinschaft entstehen. In der Ritualaufführung des Abendmahls wird den Feiernden die Identifikation mit den Jüngern nahegelegt, und das bedeutet, dass ihnen auch der Verrat als potentielle Möglichkeit eigenen Handelns vor Augen gestellt wird. Gleichzeitig erleben sie das Abendmahl als ein Mahl, durch das auch derjenige, der Gott feindlich gegenübersteht, in die Gemeinschaft hinein­ genommen und seine Feindschaft auf diese Art und Weise überwunden wird. Führt man den Gedankengang weiter, dass im Abendmahl auch derjenige zum Gast werden kann, der sich zuvor von Gott, wie er sich in Jesus Christus gezeigt hat, abgewandt hat, so wird deutlich, dass das gängige Bild des Gastgebers durch das Abendmahl eine Transformation erfährt. Dies soll mit Hilfe von Derridas Überlegungen zur Gastfreundschaft verdeutlicht werden.25 Derrida kontrastiert die „absolute Gastfreundschaft“ und die „rechtlich geregelte Gastfreundschaft“,26 wie sie praktiziertem Ethos oder festgeschriebenen Gesetzen entspricht. Als Beispiel für die ‚rechtlich geregelte Gastfreundschaft‘ wendet sich Derrida der im antiken Griechenland gepflegten ϕιλοξενία zu und betont, dass es sich dabei um ein quasi-rechtlich verfasstes System handelte. Gastfreundschaft sei einem Individuum eines bestimmten Familienverbandes gewährt worden, dessen Familie mit der Familie des Gastgebers im Verhältnis der Gastfreundschaft gestanden habe. Aus der empfangenen Aufnahme sei für den Gast seinerseits die Verpflichtung erwachsen, an einem Mitglied der Familie des Gastgebers Gastfreundschaft zu üben, wenn dieses in die eigene Stadt, den eigenen Landstrich gekommen sei. Derrida hebt hervor, dass sich der Fremde habe ausweisen müssen, um das Recht auf Gastfreundschaft in Anspruch nehmen zu können: Sein Familienname habe ihn als Gastfreund kenntlich gemacht, das heiße aber, er habe eines Familiennamens und damit einer Gruppenzugehörigkeit und eines sozialen Status bedurft, um anerkannt zu werden. Nicht jeder Ankömmling sei automatisch Gastfreund gewesen. Das Nennen des Namens habe die Gastfreundschaft ermöglicht, sie jedoch zugleich begrenzt. Und es sei das Kennzeichen jede ‚relativen Gastfreundschaft‘, dass der Gastgeber sich das Recht vorbehalte, Grenzen zu ziehen. Die ‚absolute Gastfreundschaft‘ beziehe sich hingegen auf jeden Ankömmling, und Derrida denkt in diesem Zusammenhang darüber nach, ob es wohl ein höheres Maß an Zuwendung darstelle, den Fremden nach seinem Namen zu fragen oder ihn gerade nicht zu fragen: „Die absolute Gastfreundschaft erfordert, dass ich mein Zuhause (chez-moi) öffne und nicht nur dem Fremden (der über einen Familiennamen, den sozialen Status eines Fremden usw. verfügt), sondern auch dem unbekannten, anonymen absolut Anderen (eine) Statt gebe 25

  Derrida, VG.   Derrida, VG, 27.

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2.2  Die Metaphorik des Abendmahls in den Worten, der Handlung und den Elementen

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(donne lieu), dass ich ihn kommen lasse, ihn ankommen und an dem Ort (lieu), den ich ihm anbiete, Statt haben (avoir lieu) lasse, ohne von ihm eine Gegenseitigkeit zu verlangen (den Eintritt in einen Pakt) oder ihn nach seinem Namen zu fragen.“27

Derrida macht deutlich, dass diese ‚absolute Gastfreundschaft‘ letztlich auch einem dem Gastgeber feindlich gesonnenen Gegenüber gelte.28 Bedenkt man, dass die Feiernden sich in der Ritualaufführung des Abendmahls mit den zutiefst ambivalent dargestellten Jüngern, die einerseits für die dezidierte Anhängerschaft, andererseits für die Möglichkeit des Verrats und der Gottfeindlichkeit stehen, identifizieren, so wird deutlich, dass die Gastmahlmetaphorik im Abendmahl so angelegt ist, dass der Feiernde erkennen kann, dass die mit dem Gastgeber üblicherweise verbundene Rollenerwartung im Hinblick auf Gott überschritten wird. Mit dem Wissen um Kreuz und Auferstehung als Verstehenshorizont ist es möglich, dass sich Gott dem Feiernden während der Feier des Abendmahls als ‚absoluter Gastgeber‘ erschließt. Gott, wie er sich in Jesu Tod und Auferstehung gezeigt hat, ist ein Gastgeber, der auch das Widergöttliche gastlich empfängt und im Vollzug dieses Empfangens zugleich aufhebt. Die Metapher des absoluten Gastgebers, der über jede Einschränkung hinaus zu geben bereit ist, hebt einen Zug hervor, der im Zusammenhang des Gabediskurses immer wieder eine Rolle spielt: die Exzessivität der Gabe, die Übermäßigkeit, die sie von all dem rechtmäßig Geschuldeten abhebt. Begreift man das inszenierte Gastmahl des Abendmahls im oben dargestellten Sinne als ein über sich hinausweisendes Geschehen, so lässt sich sagen, dass die Form des Gabentausches, die als wechselseitige Gabe immer dazu dient, zwei Seiten in das Verhältnis eines Bündnisses zu versetzen, zum Bild wird für eine Verausgabung Gottes, die jedem Bündnis zwischen Gott und Mensch noch einmal zuvor kommt, die keine Hinwendung des Menschen zu Gott voraussetzt. Es ist die Gott als Gott offenbarende Verausgabung im Kreuzesgeschehen und im Ereignis von Ostern. In dem Moment, in dem der Feiernde sich selbst als einen von diesem absoluten Gastgeber Empfangenen betrachtet, begreift er sich als ein Mensch, der durch die Vergebung Gottes lebt. Es ist noch einmal zu unterstreichen, was Veronika Hoffmann als eine Quintessenz ihrer Beschäftigung mit der Gabethematik hervorhebt: Mit der Metaphorik des Gabentausches besitzt das Christentum neben der forensischen Metaphorik ein weiteres prägnantes Bild, um die christliche Rechtfertigungsbotschaft zum Aus27   Derrida, VG, 27. In einer der Gabethematik analogen Argumentationsweise führt Derrida im Folgenden aus, dass die Umsetzung von ‚relativer Gastfreundschaft‘ immer einen Bruch mit dem Gesetz der ‚absoluten Gastfreundschaft‘ darstelle. Nichtsdestotrotz seien die Gesetze ‚relativer Gastfreundschaft‘ unabdingbar, damit sich die ‚absolute Gastfreundschaft‘ nicht zu einer Utopie verflüchtige. Und umgekehrt befruchte die ‚absolute Gastfreundschaft‘ als ein bleibender Stachel, als absolute Herausforderung, die Praxis der relativen Gastfreundschaft. 28   Derrida stellt immer wieder Wortspiele zwischen den Worten hostis, hospitalité, hostilité und hostipitalité, die meines Erachtens deutlich machen, dass die Gastfreundschaft dem Feind gegenüber die äußerste Form der „absoluten Gastfreundschaft“ darstellt, vgl. Derrida, VG, 38.

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2.  Das Abendmahl als wirkmächtiges Ereignis

druck zu bringen, ein Bild, das als Teil des Abendmahls den Gläubigen an zentraler Stelle des Gottesdienstes begegnet und das die Schwierigkeiten, die die forensische Metaphorik mit sich bringt, umgeht.29 Allerdings wird dieses Bild, indem es als Metapher zur Beschreibung der von Gott angestoßenen neuen Gott-MenschBeziehung herangezogen wird, aufgesprengt und transformiert, weil deutlich wird, dass die Hinwendung Gottes zum Menschen, wie sie sich am Kreuz und in der Auferweckung Jesu vollzieht, eine Vorgabe der menschlichen Existenz ist, die jedem Eintritt des Menschen in eine wechselseitige Beziehung zu Gott vorausgeht. 2.2.3 Abschließende Bemerkungen Die Darstellung hat gezeigt, dass im Abendmahl sowohl der durch die Einsetzungsworte gedeutete Akt des Essens als auch die soziale Dimension des Mahles über sich selbst hinausweisen und als eine miteinander verschränkte, mehrdimensionale ‚Metaphorik‘ den Feiernden die Möglichkeit eröffnen, das in der Person Christi präsente, göttliche Heil zu erkennen und als für sie geltend zu erfahren. Sowohl die Tatsache, dass die ersten Christen ihre nach Jesu Tod fortgesetzten gemeinsamen Mahlzeiten als ein Gastmahl ihres Herrn verstanden als auch die prägnant formulierten Einsetzungsworte sind als eine auf gemachten Erfahrungen beruhende Form der Resonanz zu bewerten. In beidem kommt zum Ausdruck, dass sich den ersten Christen der Eindruck aufgedrängt hatte, im Abend29  Vgl. Hoffmann, Skizzen, 291 ff., besonders 295. Wilfried Härle vertritt in seinem Beitrag zur Diskussion um die „Gemeinsame Erklärung“ die These, dass es vor allem die forensische Metaphorik ist, die gegenwärtig den Menschen den Zugang zur Rechtfertigungsbotschaft erschwere, und sieht in der Bedeutungsverschiebung, die der Begriff ‚sedaqa‘ bei seiner Übersetzung in das Griechische gemacht hat, eine entscheidende Ursache für diese Tatsache, vgl. Härle, „Rechtfertigungs“Lehre. Denn während der hebräische Begriff ein „Beziehungsgefüge, das prozesshaften Charakter hat und sich an der Vorstellung einer umfassenden Wohlordnung orientiert“, bezeichne, gehöre der griechische Begriff in den Bereich des Rechts und charakterisiere die Fähigkeiten eines Menschen, jedem das Seine, bzw. sein Recht zukommen zu lassen, vgl. ebd., 121. Die Verbindung des Rechtfertigungsgedanken mit der Rechtsmetaphorik habe nun folgende schwerwiegende Folgen: 1. Die forensische Metaphorik habe negative Auswirkungen auf das Gottesbild, denn Gott werde durch diese Sprachbilder primär die Rolle des Gesetzgebers, Richters und Anklägers zugewiesen, selbst wenn er den Menschen begnadige. 2. Mit der forensischen Metaphorik sei ein Menschenbild verbunden, das den Menschen als Angeklagten begreife. Gleichzeitig komme es zu einer Gleichsetzung von Schuld und Sünde, die zur Folge habe, dass die Schuld des Menschen generalisiert werde. Viele Menschen könnten eine solch absolut gesetzte Schuld jedoch nicht mit ihrer konkreten Lebensführung in Verbindung bringen. Zudem erhebe sich die Frage, ob eine universalisierte Schuld noch in den Verantwortungsbereich des Einzelnen falle oder als schöpfungsbedingter Mangel aufgefasst werden müsse. 3. Die forensische Metaphorik enthalte einen offenkundigen Bruch, da das Urteil trotz einer Feststellung der Schuld auf Freispruch laute. Dieses juristisch gesehen als Fehlurteil zu bewertende Urteil fuße auf dem Gedanken der Stellvertretung durch Christus. Doch an einer so verstandenen Stellvertretung müsse sich zwangsläufig die Frage entzünden, ob ein Mensch in seiner moralischen Verantwortung überhaupt vertretbar sei. 4. Eine in forensische Metaphorik gekleidete Rechtfertigungslehre wirke schließlich „in ethischer Hinsicht auf gefährliche Weise quietistisch“, ebd., 109.

2.3  Der Ereignischarakter des Abendmahls

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mahl Empfangende zu sein, dass sie es als ‚Gabegeschehen‘ begriffen. Stimmt man der These von Lakoff und Johnson zu, dass aus Erfahrung erwachsene metaphorische Konzeptualisierungen die Wahrnehmung derer prägen, die mit dieser Konzeptualisierung umgehen, so lässt sich sagen, dass der Ritus des Abendmahls, der den Feiernden die Konzeptualisierung des Geschehens als Gabe anbietet, dazu einlädt, das Abendmahl ebenfalls als ‚Gabegeschehen‘ zu begreifen. Der Ritus stellt die Verheißung in den Raum, dass das Abendmahl auch für den Feiernden zur Gabe wird, wenn dieser der im Abendmahl durch die Metaphern zum Ausdruck gebrachten Verkündigung glaubt. Dass das Abendmahl jedoch genau dann für die Feiernden zur Gabe wird, wenn es auf Glauben stößt – d. h. wenn sich die Feiern­den der metaphorischen Konzeptualisierung als Gabegeschehen hingeben – macht jeglichen Automatismus unmöglich. Dass das Abendmahl für die Feiernden zur Gabe wird, ist in jeder Feier erneut ein Ereignis.

2.3  Der Ereignischarakter des Abendmahls Der Forschungsüberblick über den Gabediskurs hat gezeigt, dass die philosophischen Arbeiten von Heidegger, Derrida und Marion darin übereinstimmen, dass sie Gabe unter Zuhilfenahme des Begriffs ‚Ereignis‘ beschreiben. Der Begriff ‚Ereignis‘ dient ihnen dazu, die Gabe als ein Geschehen zu charakterisieren, das ohne eigenes Zutun des Empfängers auf diesen zukommt und für ihn unvorhergesehen ist. Durch den Ereignisbegriff unterstreichen sie, dass ihrem Verständnis entsprechend zu einer Gabe als Zueignung immer auch das Moment des Entzuges gehört. Gleichzeitig betonen sie durch die Verwendung des Begriffs die Tatsache, dass der Empfänger einer Gabe durch die Gabe eine Veränderung erfährt, dass er in gewisser Weise ‚neu loziert‘ wird. Der Ereignisbegriff eignet sich meines Erachtens auch dafür, bestimmte Charakteristika des Abendmahlsgeschehens pointiert hervorzuheben. Und ich halte es gerade auch dann für geboten, das Abendmahl als ‚Gabeereignis‘ zu interpretieren, wenn man sich bewusst macht, dass es sich beim Abendmahl um eine Ritual­aufführung handelt, um ein rituelles Geschehen, das sich durch eine wiederkehrende Handlungsabfolge auszeichnet und wie alle Rituale der Explikation der implizit für eine Gruppe geltenden Werte dient. Das Abendmahl als ‚Gabeereignis‘ zu interpretieren, legt sich aus mehreren Gründen nah. Der erste Grund liegt in der Unverfügbarkeit des Glaubens, den die in der Metaphorik des Abendmahls zusammengefasste Verkündigung hervorzurufen beabsichtigt. Dass Glaube im Abendmahl entsteht, kann sich ereignen, es muss dies aber nicht zwangsläufig geschehen. Darüber hinaus macht der Ereignisbegriff deutlich, dass dann, wenn der Ritus Glauben hervorruft, ein Geschehen in Gang gesetzt wird. Der Rückgriff auf den Ereignisbegriff bietet sich an, um zu unterstreichen, dass das Abendmahl nicht nur an die Selbsthingabe Jesu am Kreuz erinnert, wie Zwingli es ausdeutete,

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2.  Das Abendmahl als wirkmächtiges Ereignis

sondern dass sich während des Abendmahls ein Gabegeschehen im Sinne einer Zueignung des Heils vollzieht, dass es sich beim Abendmahl also tatsächlich um ein wirkmächtiges Geschehen handelt. Für die die Interpretation des Abendmahls prägende Vorstellung von der ‚Präsenz Christi‘ bringt die Interpretation des Abendmahls als Ereignis zudem eine interessante Verschiebung der Pointe mit sich. Die Interpretation des Abendmahls als Ereignis macht deutlich, dass die Präsenz Christi nicht losgelöst von der Resonanz zu begreifen ist, die sie in den Feiernden hervorruft. Vielmehr zeigt sich diese Präsenz gerade darin, dass sie auf die Feiernden wirkt, dass sie sich für sie ereignet. 2.3.1  Der Ereignisbegriff bei Jacques Derrida und Jean-Luc Marion Bevor im Folgenden das Gabegeschehen im Abendmahl als Ereignis interpretiert wird, sollen kurz die wesentlichen Züge des Ereignisbegriffes in Erinnerung gerufen werden. Wie bei Marc Rölli deutlich wird, ist der Ereignisbegriff einer der Schlüsselbegriffe der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts.30 Die folgende Interpretation des Abendmahls als Ereignis wird sich jedoch auf die Charakteristika des Ereignisses beschränken, wie sie Derrida und Marion definieren. Alles, was sich ereignet, ist dem eigentlichen Wortsinn entsprechend als ‚Ereignis‘ zu verstehen. Als ‚besonderes Ereignis‘ wird etwas jedoch nur dann wahrgenommen, wenn es sich aus dem Fluss des sich permanent Ereignenden abhebt, weil es die gängigen Ordnungs- und Denkstrukturen durchbricht.31 Ereignisse stellen für Derrida und Marion Unterbrechungsmomente dar, die Irritation auslösen, weil sie den Erwartungshorizont derer überschreiten, die von ihnen betroffen sind. Sie lassen sich nicht antizipieren,32 sondern erscheinen den Betroffenen einfallartig, unmotiviert. Daraus ergibt sich besonders nach Derrida die Schwierigkeit, angemessen von einem Ereignis zu sprechen: Da sich das Ereignis den gängigen Einordnungsmustern entziehe, stelle jeder Versuch, von einem Ereignis zu sprechen, nur eine subjektive Annäherung dar, eine Interpretation, die dem Ereignis immer nur partiell entspreche. Hinzu komme die Schwierigkeit, das Ereignis sprachlich zu fassen, da bei seiner Versprachlichung etwas Singuläres in ein Medium überführt werde, das Iterabilität herstelle. Die Entzogenheit des Ereignisses, die durch die Schwierigkeit seiner Einordnung entstehe, bewirke, dass das Ereignis, selbst wenn man das Geschehen historisch an einem bestimmten Zeitpunkt festmachen könne, für den Betroffenen unabgeschlossen bleibe. Aufgrund 30

  Rölli (Hg.), Ereignis.   Die Gegenüberstellung von Ereignis und Ordnungsmuster stammt nicht von Derrida oder Marion, sondern findet sich bei Bernhard Waldenfels, vgl. Waldenfels, Bernhard, Die Macht der Ereignisse, in: Rölli (Hg.), Ereignis, 447 – 458. 32   Marion weist bei seinen Überlegungen zum Begriff des ‚Zwischenfalls‘ darauf hin, dass auch intendierte Geschehnisse Ereignischarakter haben können, wenn sie sich in ihrer Qualität von dem eigentlich Intendierten unterscheiden. 31

2.3  Der Ereignischarakter des Abendmahls

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der Tatsache, dass der vom Ereignis Betroffene sich subjektiv an ihm abarbeite, und natürlich auch aufgrund der objektiven Folgen, die das Ereignis nach sich ziehe, komme das Ereignis ‚als Zukunft‘ auf den Betroffenen zu. Weil es sich der gängigen Einordnungen entzieht, die Betroffenen aber dennoch dazu zwingt, es in irgendeiner Weise zu ihrer bisherigen Erfahrung in Beziehung zu setzen, hat das Ereignis für Derrida und Marion wirklichkeitserschließenden Charakter. Es strukturiert die Deutung von Wirklichkeit neu. Eine letzte Eigenschaft, die die beiden Philosophen in Bezug auf das Ereignis festhalten, ist sein Widerfahrenscharakter. Dies besagt, dass der vom Ereignis Betroffene sich in einer Situation wiederfindet, die zwischen Passivität und Aktivität anzusiedeln ist: einerseits geschieht durch das Ereignis etwas mit dem Betroffenen (passives Moment), andererseits fordert ihn dieses Geschehen dazu auf, sich selbst in Bezug zu dem ihm Geschehenen zu setzen (aktives Moment). 2.3.2  Der Gabebegriff von Ingolf U. Dalferth und der Ereignisbegriff Der Gabebegriff Ingolf U. Dalferths, der selbst auf eine Zuordnung von Gabe und Ereignis verzichtet,33 lässt sich zumindest mit zwei der oben dargestellten Eigenschaften eines Ereignisses in Beziehung setzen. Zum einen haben Gaben für ihn einen deutlichen ‚Unterbrechungscharakter‘: „Die Grenze der Gabe ist die Situation des Bekommens. Nicht wer gibt oder was oder wem gegeben wird, ist entscheidend, sondern der Modus des Bekommens, das Unterbrochenwerden des Lebenslaufes durch etwas, was einem von anderswo her zugespielt wird, das Bestimmtwerden durch das, was man sich selbst nicht gibt, sondern bekommt.“34 Auch das Moment der Unverfügbarkeit der Gabe für den Empfänger spielt in dieser Sicht von Gabe eine Rolle, wenngleich diese Unverfügbarkeit bei Dalferth nicht so weit geht, dass Gaben nicht gedanklich antizipierbar wären. Ein zweiter Berührungspunkt ist, dass Dalferth das Empfangen von Gaben als ein Ineinander von Passivität und Aktivität beschreibt, bzw. als eine ‚aktivierende Passivität‘ versteht: „Gaben sind nicht deshalb Gaben, weil sie gegeben werden, sondern weil sie bekommen oder im Kierkegaardschen Sinn angeeignet werden. In der Aneignung agiert ja nicht das Subjekt, sondern man wird zum Subjekt, indem ein anderer sich so zu einem verhält, dass man sich dazu nicht nicht verhalten kann.“35 Ein weite33   Auch Dalferth bearbeitet den Ereignisbegriff, Dalferth, Ingolf U., Ereignis und Transzendenz, in: ZThK 110 (2013), 475 – 500. Er führt hier aus, dass es nicht einen Ereignisbegriff gebe, sondern mehrere und diese zu unterschiedlichen Diskursen gehörten, und deshalb nicht einfach aus dem einen Diskurs in den nächsten transferiert werden könnten. Dabei geht es ihm primär darum, zu zeigen, dass sich durch die Überlegungen der französischen Gegenwartsphilosophie zum Ereignis die Pointe des theologischen Diskurses über die Offenbarung Gottes als ‚Sprachereignis‘ nicht erfassen lasse. 34   Dalferth, Umsonst, 111. 35   Dalferth, Umsonst, 110.

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2.  Das Abendmahl als wirkmächtiges Ereignis

res entscheidendes Merkmal eines Ereignisses ist sein wirklichkeitserschließender Charakter. Für Dalferth haben Gaben, wie beschrieben, wirklichkeitserschließenden Charakter, weil sie es dem Empfänger ermöglichen, sich als Empfänger zu verstehen. Über diese allgemeine durch Gaben ermöglichte Einsicht in Bezug auf das eigene Selbst hinaus kann aber auch die „vorher nicht verfügbare Lebensmöglichkeit“,36 die eine Gabe mit sich bringt, in einer Horizonterweiterung liegen. 2.3.3  Das Abendmahl als ‚unreines‘ Ereignis Es ist vor allem die Charakterisierung des Ereignisses als eines Geschehens, das den Erwartungshorizont der von ihm Betroffenen übersteigt, welche eine Anwendung des Begriffs auf das Abendmahl zunächst als schwierig erscheinen lässt. Das Abendmahl ist, anders als die Taufe, nicht das Ritual, das den Übergang, die Hinwendung eines Menschen zum christlichen Glauben markiert. Es ist das Ritual, durch das sich die christliche Gemeinde immer von Neuem ihrer eigenen Identität versichert. Das bedeutet, dass die meisten der Feiernden ihr Leben bereits in einem christlichen Deutungshorizont sehen. Der Gedanke, dass jede Abendmahlsfeier für die Feiernden dennoch Ereignischarakter hat, ergibt sich meines Erachtens aus der Tatsache, dass sich ihr Lebenskontext kontinuierlich verändert und die durch die Metaphorik des Abendmahls angestoßene Gotteserkenntnis dementsprechend jeweils vor einem teilweise auch nur geringfügig anderen Verstehenshorizont aufgenommen wird. Eine Brücke zu einem besseren Verstehen dieses Zusammenhangs kann an dieser Stelle ein Blick auf Derridas linguistische Überlegungen zum Verhältnis von Text und Kontext bzw. einer neuen Kontextualisierung von Texteinheiten dienen. Exemplarisch sollen diese Überlegungen an Derridas Ausführungen in seinem Aufsatz „Signatur Ereignis Kontext“ verdeutlicht werden.37 In diesem Text exponiert Derrida seine bereits an anderer Stelle ausgeführte These, dass nicht den Ideen und ihrer Kommunikation der Primat vor der Schrift zuzuerkennen sei, sondern dass umgekehrt die Sprache die Charakteristika der Schrift an sich trage. Als entscheidendes Charakteristikum der Schrift stellt Derrida ihre bleibende Existenz auch bei Abwesenheit von Schreiber und Empfänger heraus und betont, dass, anders als in der klassischen Philosophie und Philologie vielfach hervorgehoben, diese bleibende Existenz nicht nur eine überbrückende Funktion habe, sondern etwas Geschriebenes über den Tod von Schreiber und Empfänger hinaus lesbar bleibe. Schrift zeichne sich vor allem durch Iterabilität aus. Sie sei nicht nur in ganz verschiedenen Kontexten lesbar, sondern sie habe auch nicht den Charakter eines starren Codes, den die Rekontextualisierung in ihrem Sinn völlig unverändert lasse. Derrida meint nun, dass auch die Sprache selbst und damit der gesamte Bereich 36

  Dalferth, Umsonst, 111.   Derrida, Signatur.

37

2.3  Der Ereignischarakter des Abendmahls

221

der Erfahrung durch die Rekontextualisierung von Zeichen und Textsequenzen geprägt sei. Er verdeutlicht dies anhand der Überlegungen zu performativen Aussagen von John Austin. Jede performative Äußerung wie etwa die Eröffnung einer Sitzung oder die Taufe eines Schiffes gewinne gerade darin ihre Wirksamkeit, dass bestimmte Codes aufgerufen würden, d. h. dass sie zitiere. Thomas Khurana stellt nun eine Verknüpfung zwischen Derridas frühen Schriften zur Iterabilität und seinen späteren expliziten Aussagen zum Ereignis her.38 Seiner Interpretation zufolge verhalten sich Derridas Aussagen zur Iterabilität sowohl kritisch als auch affirmativ zum Begriff des Ereignisses. Derridas Aussagen zur Iterabilität stünden einer Auffassung von Ereignis kritisch gegenüber, die sich auf die Neuartigkeit und Singularität des Ereignisses konzentriere, da in jedem Ereignis Vorausgegangenes zitathaft enthalten sei.39 Dadurch, dass jedoch jedes Zeichen und jede Textsequenz beim Wechseln des Kontextes sowohl diesen als auch sich selbst verändere, gehöre das Moment des Ereignisses auf der anderen Seite wesensmäßig zu Derridas Schriftverständnis dazu: „Ein Zeichen im Derridaschen Sinne, eine ‚Marke‘ ist immer nur ‚von neuem‘ und folglich in der Weise eines ‚signifizierenden Ereignisses‘ gegeben.“40 Ich halte es für legitim in ähnlicher Weise jedes Erleben des Abendmahls als „signifizierendes Ereignis“ [gram. Angleichung: C. M.] zu verstehen, da der Text des Rituals jeweils auf eine neue Lebenssituation trifft.41 Durch gemachte Lebenserfahrungen kann sich für einen Menschen z. B. das, was er im Leben als Schuld empfindet, verändern. Grenzerfahrungen wie der Umgang mit dem Tod treten in einigen Lebensphasen in den Vordergrund, in anderen eher zurück. Insofern kommt es in jedem Abendmahl neu zu einem In-Beziehung-Setzen der konkreten Lebenssituation eines Menschen und der christlichen Botschaft. Das „signifizierende [. . .] Ereignis“ im Abendmahl ist jedoch im Sinne der Derridaschen Überlegungen ein ‚unreines‘ Ereignis, da in ihm in der Regel zitathaft einer der Sinnaspekte aufleuchten, die sich im Laufe der Kirchengeschichte mit dem Abendmahl verbunden haben, dieser aber zugleich durch die konkrete Lebenssituation des Menschen modifiziert wird. Der dem Abendmahl im Laufe der Geschichte zugewachsene Sinn ist, wie bereits mehrfach erwähnt, polyzentrisch, da das Abendmahl im Hinblick auf verschiedene Bezugspunkte bzw. mit verschiedenen

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  Khurana, Ereignis.   Dies scheint im Widerspruch dazu zu stehen, dass auch Derrida, wie oben dargestellt, in späteren Schriften davon spricht, dass das Ereignis „Überraschung, Unvorhergesehenheit und Exponiertheit“ bedeutet, Derrida, Möglichkeit, 7. Khurana löst diesen Wiederspruch jedoch meines Erachtens plausibel auf, indem er bei Derrida zwischen einem ‚starken‘ und einem ‚schwachen‘ Ereignis differenziert, wie im Folgenden weiter dargestellt wird. 40   Khurana, Ereignis, 239. 41   Derrida betont mehrfach, dass auch die menschliche Erfahrung schriftgemäß funktioniere, d. h. durch das Prinzip der Iterabilität geprägt sei, das „Idealität und Allgemeinheit“ mit „Situiertheit und Singularität“ kombiniere, Khurana, Ereignis, 238. 39

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2.  Das Abendmahl als wirkmächtiges Ereignis

Kontexten interpretiert wurde. Ich möchte im Folgenden in Bezug auf die das Abendmahl heute Feiernden von verschiedenen ‚Deutungshorizonten‘ sprechen. Bei den im Laufe der Geschichte des Christentums prominent gewordenen Deutungen des Abendmahls handelt es sich um seine Deutung als Feier zur Vergebung der Sünden, als Zueignung des ewigen Lebens, als Gabe oder Ausdruck von Gemeinschaft, als Ausdruck des eigenen christlichen Bekenntnisses und schließlich als Verpflichtung zu einem Christus gemäßen Leben. Die bisher skizzierte Ereignishaftigkeit ist grundsätzlich jedem Verstehen zu eigen und ist noch keineswegs ausreichend, um das Abendmahl als ‚wirkmächtig‘ zu charakterisieren. ‚Wirkmächtig‘ ist das Abendmahl erst dann, wenn es für den Feiernden zur Gabe wird. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal die Ausführungen von Thomas Khurana heranziehen, der die Differenz zwischen Derridas Überlegungen zur Iterabilität und seinen späteren Aussagen zum Ereignis dahingehend auszugleichen versucht, dass er in Anlehnung an Giorgo Agambens Überlegungen zur ‚Exemplarität‘ zwischen einem ‚starken‘ und einem ‚schwachen‘ Ereignis differenziert.42 Es sei evident, so Khurana, dass ein ‚starkes Ereignis‘, das man als solches auch emphatisch erlebe, nicht so sehr das Moment der Wiederholung, sondern das alternierende Moment betonen müsse, wobei natürlich auch das ‚starke Ereignis‘ ein Wiederholungsmoment enthalte. Diese Bestimmung allein sei jedoch noch nicht hinreichend, vielmehr müsse ein starkes Ereignis den Charakter eines Exemplum haben, d. h. einerseits Teil einer Menge sein, sich aber andererseits aus dieser herausheben, weil es ein Reflexionsmoment auslöse. Es sei insofern ausgezeichnet, als durch es sichtbar werde, was es selbst und alle anderen Momente der Serie, zu der es gehört, ausmache. Anders ausgedrückt: ein starkes Ereignis ist ein Exemplum in dem Sinne, dass es Vorkommnisse, die vor ihm liegen, und andere, die sich ihm anschließen, in ein neues Licht taucht.43 „Etwas, das wir als ein Ereignis im starken Sinne auffassen, bestimmt eine Menge oder Serie exemplarisch, reflektiert und inszeniert dadurch seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten über es hinausreichenden Zusammenhang oder Geschehen, zu einer über es hinausreichenden ‚allgemeinen‘ Spezies oder Form.“44 Dies besagt aber nichts anderes als dass es einen Verstehenshorizont eröffnet. Die Art und Weise, wie sich das Exemplum auf die Serie, die es charakterisiert, bezieht, kann meinem Eindruck nach unterschiedlich sein. Am naheliegendsten ist es, dass das Exemplum eine Eigen42   Agamben, Giorgio, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt / M. 2002, 31 f. 43   An dieser Stelle wird deutlich, wieso auch das Moment der Wiederholung notwendig ist, damit ein Ereignis zu neuen Deutungen führen kann. Ein Ereignis ohne Wiederholungsmoment steht ohne Bezug zu der Serie da, die es exemplarisch deuten können soll. Das Ereignis „muss selbst – in gewissem Sinne und mit nicht einfach zu tilgender Varianz – wiederholbar sein, um als Exemplum zu erscheinen und nicht bloß als momenthaftes Etwas, als bloßes Dass aufzublitzen und zu verlöschen.“, Khurana, Ereignis, 241. 44   Khurana, Ereignis, 241.

2.3  Der Ereignischarakter des Abendmahls

223

schaft besonders gut zur Schau stellt, die der gesamten Serie zukommt. Es ist aber auch denkbar, dass das Exemplum andere Teile der Serien als Voraussetzungen oder Wirkungen seiner selbst erscheinen lässt; dies ist etwa bei bestimmten historischen Geschehnissen der Fall, die Derrida gern als Beispiel für Ereignisse heran­ zieht. Im Falle des Abendmahls steht das Exemplum meines Erachtens in einer relativierenden Relation zu der Serie, auf die es sich bezieht. Diese Serie umfasst die Akte der Selbstauslegung der das Abendmahl feiernden Menschen. Es sind die Projekte, durch die sich das Selbst zu verwirklichen und Anerkennung zu erzielen versucht. Das Abendmahl relativiert das Gelingen und Scheitern dieser Projekte, indem es in Form des Anerkennung zum Ausdruck bringenden Gastmahls, den Feiernden ein Bewusstsein für die vorgängige göttliche Bejahung des Menschen eröffnet wie sie in der Auferweckung Jesu zum Ausdruck kommt.45 2.3.4  Der Ereignischarakter des Kreuzesgeschehens und seiner Zueignung im Abendmahl Man könnte an dieser Stelle die Frage stellen, ob die Charakterisierung als Ereignis nicht eher auf das Geschehen von Kreuz und Auferstehung selbst zu beziehen sei als auf die Zueignung dieses Geschehens im Abendmahl. Meines Erachtens sind diese beiden Zuordnungen jedoch nicht als Gegensätze zu interpretieren, sondern aufeinander zu beziehen und zwar als Gehalt und Prozess der Zueignung. Wird das Christusgeschehen für einen Menschen zu einem wirklichkeitserschließenden Ereignis, so ist die Wirklichkeit, die sich ihm erschließt, untrennbar mit Gottes auf die Kreuzigung Christi bezogener Selbstoffenbarung verbunden. Insofern kann man das Geschehen von Kreuz und Auferstehung als das Zentralereignis der Christenheit bezeichnen, durch das sachlich alles erschlossen wird. Die oben gemachten Ausführungen verdeutlichen jedoch, dass zu einem Ereignis jeweils ein Mensch gehört, für den sich etwas ereignet und der durch ein bestimmtes Geschehen ‚neu loziert‘ wird. Insofern ist jedes Glauben erschließende Moment als „signifizierendes Ereignis“ [gram. Angleichung: C. M.] zu fassen.46 Der im Hinblick auf das Abendmahl entfaltete Gedanke, dass das Christusgeschehen im Leben eines Menschen immer wieder neu zu einem „signifizierenden Ereignis“ wird, weil er sein eigenes, unabgeschlossenes und für ihn in seiner Ganzheit auch unüberschaubares Leben immer wieder neu auf das Christusgeschehen beziehen muss, lässt sich bruchlos mit Derridas Gedankengang verbinden, dass ein von einem Ereignis betroffener Mensch mit diesem nicht an ein Ende kommt, sondern sich immer wieder an ihm abarbeitet, sodass das Ereignis für ihn immer wieder in neuen Facetten und damit überraschend, gleichsam als ‚Zukunft‘ auf ihn zukommt. 45

  Näheres dazu in Kap. C.3.   Khurana, Ereignis, 243.

46

3.  Das Abendmahl als Gabe Die Auswertung des soziologisch-philosophischen Gabediskurses hat gezeigt, dass es verschiedene Aspekte sind, die einen Akt des Gebens zu einer Gabe machen. Gaben stellen für den Empfänger ein Zuspiel seitens eines Gegenübers dar. Dieses beeinflusst einerseits sein Selbstverständnis und eröffnet ihm andererseits eine oder mehrere positive neue Möglichkeiten, die er handelnd realisieren kann. Das Zuspiel des Gebers kann ein bewusstes Sich-in-Beziehung-Setzen zum Empfänger darstellen, einen Kommunikationsakt, bei dem der Geber dem Empfänger durch die Gabe die Anerkennung zum Ausdruck bringt. (Dies ist jedoch nicht bei jeder Gabe der Fall.) Der gegebenen Sache kommt im Gabegeschehen lediglich der Status eines Mediums zu, durch dessen Gabe kommuniziert wird oder an das sich gegebenenfalls auch die neu eröffnete Möglichkeit für den Empfänger knüpft. Vergegenwärtigt man sich die Grundstruktur von Gaben, der zufolge Gaben die Eröffnung neuer Möglichkeiten der Selbstdeutung und des Handelns nach sich ziehen, so kann man die These vertreten, dass es sich bei Ostern um das zentrale Gabegeschehen des Christentums handelt. Als Ostern bezeichnen wir das Ereignis, durch das die Jüngerinnen und Jünger Jesu eine innere Wandlung erfahren haben. Aus den um ihren Herrn trauernden, ihrer Hoffnung und Vision für ein anderes Zusammenleben beraubten Jüngern wurden zunächst in ihrer Einschätzung der Situation irritierte Menschen, bei denen sich dann aber die Gewissheit durchsetzte, dass das Sterben Jesu nicht nur nicht sinnlos gewesen ist, sondern als das entscheidende Moment betrachtet werden müsse, durch das sich Gottes Wesen und seine Relation zu den Menschen offenbart. Und durch diese Erkenntnis eröffnete sich ihnen auch ein neues Verständnis ihrer selbst. Die neue Gotteserkenntnis und die aus ihr resultierende Selbsterkenntnis wird im christlichen Bekenntnis jedoch nicht als selbst herbeigeführt eingeschätzt, sondern als Folge einer Aktion Gottes, die mit der Metapher der ‚Auferweckung Jesu von den Toten‘ umschrieben wird. Die Erkenntnis selbst wird auf die Einwirkung des göttlichen Geistes zurückgeführt. Das heißt: die innere Neupositionierung der Jünger wird im christlichen Bekenntnis als durch einen äußeren (göttlichen) Impuls ausgelöst verstanden und damit als Gabegeschehen interpretiert. Nun schließen sich an die These, dass Ostern das zentrale Gabegeschehen der Christenheit darstellt, vor dem Hintergrund des philosophisch-soziologischen Gabediskurses zwei Fragen an. Gaben werden dort als medienvermitteltes Geschehen beschrieben, und es stellt sich die Frage, ob sich nicht auch die österliche Selbst-

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3.  Das Abendmahl als Gabe

und Gotteserkenntnis medienvermittelt herauskristallisiert hat. Dieser Frage ist, wie oben bereits erwähnt, Dietrich Korsch in seinen jüngsten Überlegungen zum Abendmahl nachgegangen, und seine These, dass die Entstehung des christlichen Bekenntnisses zur Auferweckung Jesu und die Transformation des jüdischen Gastmahls in den religiösen Ritus des Abendmahls miteinander verschränkt gewesen seien, erscheint plausibel. Sie besagt jedoch nichts anderes, als dass das gemeinsame Mahl zum Medium der veränderten Gottes- und Selbsterkenntnis geworden ist und durch diesen Mediencharakter selbst transformiert wurde. Das Abendmahl eröffnete den Jüngern einen Raum, in dem sich die neue Gotteserkenntnis einstellen konnte und darüber hinaus in leiblichen Vollzügen erfahrbar wurde. Es stellt sich ferner die Frage, ob es weiterführend ist, einzig das zur Neupositionierung der Jünger führende Gabegeschehen mit dem Begriff ‚Ostern‘ zu belegen, oder ob sich ein strukturgleiches Geschehen nicht vielmehr in jedem Glaubensprozess vollzieht. Wenn man Letzteres bejaht, so besteht grundsätzlich kein Unterschied zwischen den Abendmahlsfeiern der ersten Christen und denen aller späterer Generationen: Der Kern der Abendmahlsfeier ist dann auch heute das ‚Sich-Erschließen‘ der Osterbotschaft für den Feiernden und die daraus resultierende Veränderung des eigenen Selbstverständnisses. Diese Veränderung wird, vor allen Dingen in der westlichen Tradition, mit dem Begriff der „Vergebung der Sünde“ gekennzeichnet. Im Folgenden soll zunächst auf die im Osterbekenntnis zum Ausdruck gebrachte Gotteserkenntnis eingegangen werden, wobei der Gedanke, dass sich das Abendmahl gemeinsam mit dieser Gotteserkenntnis herausgebildet hat und sachlich auf diese bezogen ist, noch einmal genauer entfaltet werden soll (3.1). In einem zweiten Schritt soll dann auf die Möglichkeit der neuen Selbstdeutung eingegangen werden, wobei evident ist, dass beide Aspekte nicht voneinander zu trennen sind (3.2). Abschließend soll es um die aus Gotteserkenntnis und veränderter neuer Selbstdeutung resultierenden neuen Möglichkeiten gehen, die sich für den Gläubigen eröffnen (3.3).

3.1 Abendmahl und Gewissheit: Gott gibt sich in der Geschichte Jesu zu erkennen Blickt man auf neuere dogmatische Entwürfe, so wird dort durchweg hervorgehoben, dass der Tod Jesu als eine Zäsur zu begreifen ist, an die sich eine radikale Transformation des Glaubens der Jünger anschließt und die ihre inhaltlich prägnanteste Form in der metaphorischen Rede von der „Auferweckung des Gekreuzigten durch Gott“ findet.1 Allerdings ist die Transformation des Glaubens der 1   Als Grundlage der folgenden Darstellung dienen die exemplarisch ausgewählten dogmatischen Ausarbeitungen von Dalferth, Ingolf U., Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der

3.1 Abendmahl und Gewissheit: Gott gibt sich in der Geschichte Jesu zu erkennen

227

Jünger und die Herauskristallisierung der Bekenntnisaussage von der „Auferweckung Jesu von den Toten“ nicht nur die verarbeitende Reaktion auf die Verlusterfahrung und das traumatische Erleben von Jesu offensichtlichem Scheitern, sondern auch die Reaktion darauf, dass die Jünger Jesus auch nach seinem Tod als präsent, als lebendig erfahren haben und zwar in dem Sinne, dass er auf sie und an ihnen gewirkt hat. Die Deutung, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, ist allerdings mehr als die Versprachlichung der Erfahrung von Jesu ‚Lebendigsein‘. Sie impliziert die Vorstellung, dass Gott sich durch die Auferweckung zu den Geschehnissen, die zu Jesu Tod geführt haben, positioniert habe, und zwar in revidierender, Einspruch erhebender Weise. Die synoptischen Evangelien stimmen darin überein, dass die Verkündigung des Reiches Gottes das Zentrum von Jesu Wirken gewesen sei und dass er noch intensiver als die alttestamentlichen Propheten das Reich Gottes aufs engste mit seiner eigenen Person verknüpft habe. Das menschliche Handeln, das auf verschiedenen Ebenen zu Jesu Tod geführt hat, wird durch die Deutung der Jünger, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, dementsprechend als gottfeindliches Verhalten qualifiziert. Für die Jünger Jesu und alle späteren Gläubigen bedeutet die Auferweckung Jesu, dass sich Gott zu seinem Sohn bekennt und dessen Verkündigung bekräftigt. „In der Auferweckung identifiziert sich Gott selbst mit Jesu Identifizierung Gottes als barmherzige Liebe und stellt damit klar, dass dieser bestimmte Mensch (totus homo) Gottes Christologie, Tübingen 1994; Korsch, Dietrich, Antworten; Lange, Dietz, Glaubenslehre Bd. 2, Tübingen 2001. Korsch nennt als entscheidenden Aspekt des Transformationsprozesses die Integration der Person Jesu in die Reich-Gottes-Verkündigung, die dadurch ihre inhaltliche Ausrichtung erfährt. Den Grund hierfür sieht er darin, dass an Jesu Schicksal deutlich werde, dass Gott alles zu überwinden fähig sei, was seiner liebenden Zuwendung zuwiderlaufe. Sowohl Korsch als auch Lange betonen, dass mit der Transformation der Reich-Gottes-Verkündung ihre universale Entgrenzung einhergehe. Dalferth und Lange bedienen sich der Metaphorik der ‚eschatologischen Neuschöpfung‘, um die soteriologische Dimension von Kreuz und Auferstehung deutlich zu machen. Dabei machen beiden geltend, dass ‚ewiges Leben‘ ein qualitativer Begriff sei und ein Leben in Gemeinschaft mit Gott bezeichne. Da vor allem Dalferth auf dem radikalen Unterschied zwischen Alt und Neu als einer unvermittelbaren Differenz zwischen einer weltlichen und einer göttlichen Perspektive auf die Welt besteht, ist es in seiner Auslegung folgerichtig, dass die Vermittlung der göttlichen Per­spektive nur durch Gott selbst geschehen kann. Dieses Erschließungsgeschehen vollziehe sich in den Erscheinungen der Jünger. Hier liegt ein entscheidender Unterschied zu der Auffassung von Dietrich Korsch, für den der Osterglaube eher eine hermeneutische Transformationsleistung darstellt. Doch auch innerhalb von Dalferths Ausführungen steht diese Aussage in einer gewissen Spannung zur von ihm ebenfalls betonten hermeneutischen Transformationsleistung der Jünger. So schreibt Dalferth: „Indem sie die Botschaft Jesu gleichsam auf diesen selbst, seine Geschichte und ihre Jesuserfahrung nach seinem Tod anwandten, transformierten die ersten Christen etwas ganz und gar Unwahrscheinliches hermeneutisch so in Wahrscheinliches, dass sich ihnen eine fundamental widersprüchliche Erfahrung als eschatologische Gewissheit erschloss.“, Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte, 25. Beide Aussagen lassen sich jedoch meines Erachtens verbinden, wenn man annimmt, dass die Erscheinungen als Erfahrungen jenseits des eigenen Erfahrungshorizonts bei den Jüngern eine intensive hermeneutische Arbeit angestoßen haben, vgl. die Struktur von Marions gesättigten Phänomenen.

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3.  Das Abendmahl als Gabe

ganzes Wesen (totus deus) wahrhaftig manifestiert und ausgelegt hat.“2 Interessant ist allerdings, dass vermutlich aufgrund der Lektüre des Alten Testaments die Ablehnung Jesu als Gottes Gesandten, die in seinen Tod führte, lediglich als exemplarisches Verhalten für das menschliche Verhalten insgesamt verstanden wurde, Gott nicht als Gott zu akzeptieren. Und dementsprechend gewinnt auch der Widerspruch Gottes gegen Jesu Tod eine universale Dimension: In ihr wird sichtbar, dass selbst widergöttliche Impulse, wie die Tötung seines Gesandten, Gott nicht an der Durchsetzung seines Reiches und an der Zuwendung zu seinen Menschen hindern können: „Das Reich Gottes überwindet den Widerstand gegen es selbst durch sich selbst“.3 Ingolf Dalferth macht darüber hinaus geltend, dass im Lichte der Auferstehung auch das für die Jünger auf den ersten Blick nur als Katastrophe deutbare Kreuzesgeschehen einen tieferen Sinn erhält. Hier verdichte sich die Erkenntnis, dass Gottes Wesen in seiner liebenden Hinwendung bestehe. „Das Wort vom Kreuz erweist Gottes Göttlichkeit nicht als die allmächtige Selbsterhaltung, unbegrenzte Selbstdurchsetzung und allwissende Selbstgenügsamkeit, die wir erwartet und in unserem Gottdenken metaphysisch entfaltet und polemisch bekämpft haben, sondern als ungeschuldete Selbsterniedrigung um unsertwillen, freie Selbstbindung an das ihm Ferne, selbstloses Erbarmen für uns [. . .].“4 Wie bereits erwähnt, wird das Sich-in-Beziehung-Setzen eines anderen dann für einen Menschen zur Gabe, wenn es ihm zu einer neuen Selbstdeutung verhilft und ihm neue Möglichkeiten eröffnet. Bezogen auf das Ostergeschehen heißt das: es wurde für die Jünger dadurch zu einer Gabe, dass sie begriffen, dass die Auferweckung Jesu auch sie selbst in ihrem Sein betraf, dass mit seinem Sterben und seiner Auferweckung eine Aussage über ihr eigenes Gottesverhältnis gemacht war. Das setzte voraus, dass sie sich selbst und ihr Verhalten als Teil des allgemeinen Widerstands gegen Gott begriffen haben. Das eigene Verhalten als nicht Gottes Willen gemäß zu begreifen, lag für sie angesichts des eigenen Versagens im Verlauf der Passion Jesu jedoch durchaus nahe. An dieser Stelle ist nun noch einmal auf die Beziehung zwischen der Entstehung des Auferstehungsglaubens und der Entstehung des Abendmahls zurückzukommen. Eine Stiftung des Abendmahls durch Jesus ist historisch nicht mehr rekonstruierbar. Unabhängig davon muss jedoch eines der Mahle Jesu mit seinen Jüngern das letzte gemeinsame Mahl gewesen sein, und dieses gemeinsame Mahl stand wahrscheinlich unter dem Eindruck der sich abzeichnenden Passion. Von daher könnte die Spannung, die die heutige Liturgie des Abendmahls prägt, durchaus auch die Atmosphäre des letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern bestimmt haben. Die im Mahl erfahrene Anerkennung der Jünger durch Jesus trotz eigenen Versagens könnte dann einer der Gründe dafür gewesen sein, warum sich der 2

  Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte, 27.   Korsch, Antworten, 127. 4   Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte, 45. 3

3.2 Abendmahl und Sünde: Sich selbst von Gott her neu verstehen

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Osterglaube in den nach Jesu Tod fortgesetzten gemeinsamen Mahlzeiten ausprägte bzw. sich zumindest mit ihnen verbunden hat. Hinzu kommt, dass bereits Jesus, wenn man Geschichten wie der von Zachäus einen historischen Kern zubilligt,5 die Gabestruktur des Gastmahls nutzte, um die Zuwendung Gottes zu einem von seiner sozialen Umwelt als ‚sündig‘ eingestuften Menschen zum Ausdruck zu bringen.6

3.2 Abendmahl und Sünde: Sich selbst von Gott her neu verstehen Der in der westkirchlichen Tradition dominierende Deutehorizont, ‚Gabe als Vergebung von Sünde und Schuld‘, wurde durch den nur bei Matthäus überlieferten Zusatz zum Kelchwort „zur Vergebung der Sünden“ angestoßen,7 ist sachlich aber auch in den anderen Evangelien angelegt.8 Der Begriff ‚Sünde‘ wird im Folgenden inhaltlich so gefüllt werden, dass er sich auf die Selbstdeutung des Menschen bezieht. Da die Zuspitzung auf diesen Aspekt nicht zwingend ist – wenngleich er meines Erachtens in jedem Sündenbegriff mitschwingt – möchte ich diese Fokussierung zunächst in einer Vorüberlegung erläutern. Der Sündenbegriff des Neuen Testaments weist bei allen Differenzen zwischen den neutestamentlichen Autoren die Gemeinsamkeit auf, dass sich die Frage, ob ein Verhalten oder ein Dasein als sündig einzuschätzen ist, an dem Verhältnis eines Menschen zu Jesus Christus bemisst.9 „Wenn es im Neues Testament so 5

  Vgl. Lk  19,1 – 10.   Hier stellt sich die Frage, was eine mögliche Stiftung des Mahles durch Jesus dem inhaltlich noch hinzufügen kann. Nähme man, wie von Jens Schröter vorgeschlagen, an, dass der eschatologische Verweis in der lukanischen Szene des letzten Abendmahls, in dem Jesus darauf hinweist, er werde nicht mehr vom Gewächs des Weinstocks trinken, bis er in Gottes Reich von neuem davon trinken werde, jesuanisch sei, so hat diese Aussage eine doppelte Pointe. Zum einen spiegelt sich in ihr das Vertrauen Jesu auf ein bleibendes Festhalten Gottes an ihm als Person, auch über die eigene Passion hinaus, wider. Damit verbunden ist die Deutung des eigenen Todes als Hingabe, nämlich als ein äußerstes Investieren des eigenen Selbst im Vertrauen auf Gott und damit zugleich als Zeugnis für diesen. Parallelen zur Märtyrertheologie sind an dieser Stelle unverkennbar. Das lässt den zweiten Aspekt in den Blick treten. Der eschatologische Verweis ist an die Jünger adressiert, er beinhaltet eine Verheißung, nämlich die des Kommens des Reiches Gottes, trotz der drohenden Passion. Mit dieser Verheißung wirbt Jesus bei seinen Jüngern um Vertrauen. Sie ist ein Sprechakt mit einer disponierenden Wirkung. Ob Jesus aber durch eine vorgreifende Selbstdeutung seines Todes in Verbindung mit dem Abendmahl ebenfalls zu dessen nachösterlicher Transformation beigetragen hat, lässt sich historisch nicht verifizieren. 7   Mt 26,29. 8   Das Bundesmotiv ist in allen vier Evangelien mit dem Kelchwort verbunden, die Erneuerung des Bundes meint jedoch de facto die Erneuerung der Gottesbeziehung der Feiernden und dies ist inhaltlich gleichbedeutend mit dem, was ‚Vergebung der Sünde‘ meint. 9   Wolter stellt diese Unterschiede natürlich auch in Breite dar: Für die Synoptiker sei typisch, dass weniger nach dem konkreten Inhalt von Sünde gefragt werde, sondern dass vielmehr Jesu Umgang mit den Sündern in Fokus stehe. Die Charakterisierung eines Menschen als Sünder sei ein Urteil der Umwelt über diesen Menschen gewesen, auf das seine Stigmatisierung erfolgt sei. 6

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3.  Das Abendmahl als Gabe

etwas wie eine gemeinsame Perspektive auf die Sünde gibt, die alle individuellen Akzentuierungen übergreift, so besteht sie darin, dass die zu Jesus Christus Gehörenden von ihrer Sünde befreit wurden.“10 Sünde und Sündenvergebung sind mithin Begriffe, die die Qualität einer Relation beschreiben. Auch bei Martin Luther ist es die Verfehlung der Gottesrelation, die im Zentrum der Hamartiologie steht. Es ist die Verfehlung des 1. Gebotes, d. h. die Tatsache, dass der Mensch im eigenen Leben Gott immer wieder ausblendet und Gott nicht ‚seinen Gott‘ sein lässt, die für Luther die Grundsünde darstellt.11 In seiner Schrift „De libertate christiana“ – nach Oswald Bayer ein „Schlüsseltext zu Luthers Sündenlehre“ – charakterisiert Luther das Missverhältnis in der Gottesbeziehung,12 das für Luther letztlich die Sünde ausmacht, als Rebellion, Unglaube und Beleidigung.13 Sachlich geht es Luther darum, dass der Mensch Gottes Zusage keinen Glauben schenkt und ihn damit sozusagen als ‚Lügner‘ darstellt. In einem solchen Umgang mit der göttlichen Zusage komme aber letztlich zum Ausdruck, dass der Mensch Gottes Wort und damit Gott insgesamt als nichtig betrachte: „Luther gewinnt seinen Sündenbegriff ganz vom Promissioglauben her, indem er dessen Verkehrung denkt.“14 Dass die auf Unglauben beruhende Störung im Gottesverhältnis Folgen für die Selbstdeutung hat, wird in Luthers Text durchaus deutlich, wenn er davon spricht, dass der Mensch mit diesem Verhalten sich selbst zu einem idolum in corde mache.15 Das Bild Gottes vom Menschen kann durch die Negation der Gottesbeziehung nicht mehr in das Selbstbild einfließen. Dass dies zu einem Kreisen des Menschen um sich selbst führt, macht Luther durch die von ihm häufig verwendete Wendung incurvatio in se ipsum deutlich.16 Volker Leppin macht im HinVon den Synoptikern als berichtenswert eingestuft werde es nun, dass Jesus Gemeinschaft mit den Sündern hat. In der Rechtfertigung dieses Verhaltens durch Jesus werde deutlich, dass das Sündersein von ihm als eine Entfremdung von Gott verstanden werde, die Gott betrübe, weshalb er selbst den Sündern nachgehe und diese zur μετάνοια führen wolle. Das Interessante, so Wolter, sei nun, dass die Hinwendung der ‚Sünder‘ zu Jesus genau als eine solche Metanoia verstanden werde, d. h. dass das Sündersein, im Sinne des gestörten Gottesverhältnisses, durch die Relation zu Jesus überwunden werde. Für die johanneischen Schriften lasse sich sagen, dass Sünde hier als Ablehnung des göttlichen Vollmachtanspruches Jesu verstanden werde. Für das paulinische Sündenverständnis sei es charakteristisch, dass Sünde nicht nur als konkrete Unrechtstat verstanden werden, sondern als eine den Menschen seit Adam bestimmende Macht, durch die es unmöglich werde, willentlich nicht zu sündigen, was allerdings nicht zu einem Lossprechen der Menschen aus ihrer konkreten Verantwortlichkeit führe, vgl. Wolter, Michael, Die Rede der Sünde im Neuen Testament, in: Härle, Wilfried (Hg.), Sünde (= MJTh 20), Leipzig 2008, 15 – 44. 10   Wolter, Sünde, 41 f. 11   Die Grund- oder auch ‚Wurzelsünde‘ (peccatum radicale) ist für Luther zugleich Erbsünde. Damit ist gemeint, dass sie zwar nicht zur Natur des Menschen gehört, aber de facto seine conditio humana bestimmt. 12   Bayer, Oswald, Martin Luthers Theologie, Tübingen 32007, 160. 13   Luther, Martin, De libertate christiana (1520), WA 7, 49 – 73. 14   Bayer, Luthers Theologie, 162. 15  WA 7,54,15. 16   Zur Verwendung des Begriffs bei Luther vgl. die Anmerkungen bei Bayer, Luthers Theologie, 165.

3.2 Abendmahl und Sünde: Sich selbst von Gott her neu verstehen

231

blick auf die Römerbriefvorlesung darüber hinaus darauf aufmerksam, dass zur Sünde für Luther neben der Ignoranz der für den Menschen konstitutiven Gottesbeziehung auch der Missbrauch Gottes zu eigenen Zwecken gehört.17 Wie ein Sündenbegriff, in dessen Zentrum der Unglaube steht, zu einem ethischen Sündenbegriff im Verhältnis steht, wird deutlich, wenn Luther fragt: Quid ergo prosunt opera in hac impietate facta, etiam si Angelica et Apostolica forent?18 Elisabeth Gräb-Schmidt charakterisiert den Zusammenhang von Aktualsünde und Grundsünde in der lutherischen und reformatorischen Theologie so, dass die Gottesbeziehung einen „die Moral allererst qualifizierenden Horizont“ abstecke und dass dieser Horizont, der die eigene menschliche Freiheit zugleich zu einer begrenzten, verantworteten Freiheit mache, durch die Grundsünde geleugnet werde.19 Die Skizzierung der Hamartologie Luthers zeigt, dass in seinen Vorstellungen von Sünde der Aspekt der Missdeutung der eigenen Person aufgrund der pervertierten Gottesbeziehung mitschwingt. In den philosophisch-theologischen Überlegungen Søren Kierkegaards, die im Folgenden als Grundlage für die Interpretation des Abendmahls als ‚Feier zur Vergebung der Sünden‘ herangezogen werden soll, stehen die Folgen des fehlenden Gottesbezugs für den eigenen Selbstvollzug und die eigene Selbstdeutung im Zentrum. Die Konzentration auf diesen Aspekt von Sünde im Rahmen des vorliegenden Abendmahlsentwurfes liegt deshalb nahe, weil in der Beschäftigung mit der Gabethematik die Verklammerung von Relationalität und Konstruktion des eigenen Selbstbildes zum Thema wurde. Für den Rückgriff auf den Sündenbegriff Kierkegaards spricht ferner, dass dieser nicht den freiheitlichen Selbstvollzug des Menschen an sich als Sünde bewertet, diesen hält er als zur conditio humana gehörig für unabdingbar, sondern das Vollziehen dieses notwendigen Selbstvollzuges ohne Bezug auf die Instanz, die den Menschen gesetzt hat. Elisabeth Gräb-Schmidt sieht gerade darin eine gelungene Transformation der Anliegen von Luthers Hamartologie unter den Bedingungen der Neuzeit.20 Ein weiterer Vorteil von Kierkegaards hamartologischen Überlegungen ist schließlich, dass er nicht allein die faustische Selbstsetzung unter Absehung des Gottesbezuges als Sünde charakterisiert, sondern auch das Gegenteil, d. h. die ängstliche Selbstverweigerung des Vollzugs und völlige Selbstzurücknahme. Im Folgenden soll nun Kierkegaards Sündenbegriff, wie er ihn in seiner Schrift „Die Krankheit zum Tode“ entwirft, für den skizzierten Zweck charakterisiert werden.21 17  Vgl. Leppin, Volker, Aristotelisierung, Immediatisierung und Radikalisierung. Transformation der Sündenlehre von Thomas von Aquin bis Martin Luther, in: Härle, Wilfried (Hg.), Sünde (= MJTh 20), Leipzig 2008, 45 – 73, hier: 69. 18   WA 7, 54, 15 f. 19   Gräb-Schmidt, Elisabeth, Sündenerkenntnis als Erschlossenheit des Daseins. Zur anthropologischen und philosophischen Deutungsleistung des protestantischen Sündenbegriffs, in: Härle, Sünde, 75 – 106, hier: 79. 20   Gräb-Schmidt, Sündenerkenntnis, 90 f. 21   Es ist mir bewusst, dass das Sündenverständnis Kierkegaards nur dann in seiner Vollständigkeit bedacht werden kann, wenn auch sein Werk „Der Begriff Angst“ hinzugezogen wird, in der

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3.  Das Abendmahl als Gabe

Kierkegaard definiert Sünde als die Situation, „wenn der Mensch vor Gott oder mit der Vorstellung von Gott verzweifelt nicht er selbst sein will oder verzweifelt er selbst sein will.“22 Diese Definition zeichnet sich durch zwei konstitutive Elemente aus: Sie macht deutlich, dass der Gottesbezug für den Begriff Sünde grundlegend ist und charakterisiert Sünde als Verzweiflung. Verzweiflung ist für Kierkegaard kein emotionaler Begriff, mit dem eine bestimmte Gefühlsregung beschrieben wird, sondern die Bezeichnung eines Missverhältnisses im Selbstverhältnis des Menschen. Kierkegaard beschreibt den Menschen als eine Synthese von „Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit“.23 Nur dadurch, dass sich der Mensch noch einmal reflexiv zu dieser Synthese als seiner conditio humana verhalten muss, ist er ein Selbst und zwar gerade im Vollzug des sich Verhaltens. Durch die Tatsache, dass der Mensch sich als Synthese aus den genannten Gegensätzen vorfindet und diese Synthese nicht selbst erzeugt, kommt schließlich eine weitere seine conditio humana konstituierende Relation hinzu: im Vollzug seines Selbstverhältnisses muss sich der Mensch zwangsläufig auch zu der Macht verhalten, die ihn als Synthese gesetzt hat: „Das Missverhältnis der Verzweiflung ist nicht ein einfaches Missverhältnis, sondern ein Missverhältnis in einem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und von einem anderen gesetzt ist, so dass das Missverhältnis in jenem für sich seienden Verhältnis sich zugleich unendlich im Verhältnis zu der Macht reflektiert, die es setzte.“24 Um den Begriff der Verzweiflung und damit auch den Sündenbegriff Kierkegaards noch genauer zu fassen, müssen die Polaritäten, die die ‚Synthese Mensch‘ ausmachen, im Folgenden genauer in den Blick genommen werden. Kierkegaard beginnt seine weiteren Überlegungen mit dem Gegensatzpaar „Unendlichkeit und Endlichkeit“. Dabei ist unter Endlichkeit all das gemeint, was dem Leben des Menschen seine faktische Kontur gibt, d. h. seine Lebensumstände, aber auch seine ihn in gewisser Hinsicht festlegenden Begabungen und Schwächen. Unendlichkeit als Antipode dazu ist das, was die Festgelegtheit des Menschen zu transzendieren vermag und damit den Motor für die Veränderungen in seinem Dasein darstellt. Kierkegaard verweist in diesem Zusammenhang auf die entscheidende Rolle, die der Phantasie bei dem Moment des Selbsttranszendierens zukommt, die er als „unendlich machende Reflexion“ und als „Wiedergabe

er eine Transformation der Erbsündenlehre vornimmt, vgl. Kierkegaard, SØren, Der Begriff Angst, übers. u. hg. v. Hirsch, Emanuel, Gesammelte Werke Bd. 11 / 12, Düsseldorf 1958. Da es in dem hier dargestellten Zusammenhang aber um die Frage geht, inwiefern die christliche Gottesgewissheit dem Menschen neue Möglichkeiten eröffnet, werde ich mich auf das Werk „Die Krankheit zum Tode“ beschränken, das diesen Themenkomplex zu erhellen in der Lage ist. 22   Kierkegaard, SØren, Krankheit zum Tode, in: Ders., Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Der Begriff Angst, hg. v. Diem, Hermann / Rest, Walter u. übers. v. Rest, Walter / Jungbluth, Günther / Lögstrup, Rosemarie, München 22007, 109. 23   Kierkegaard, KT, 31. 24   Kierkegaard, KT, 33.

3.2 Abendmahl und Sünde: Sich selbst von Gott her neu verstehen

233

des Selbst, was die Möglichkeit des Selbst ist“ bezeichnet.25 In einem nächsten Schritt weist Kierkegaards dem Selbst als seine zentrale Aufgabe zu, „konkret“ zu werden,26 d. h. dass es willentlich zu einer Form des Austarierens der beiden Pole der Synthese kommen muss. Dies geschieht in einer Bewegung, in der der Mensch von sich selbst gedanklich Abstand nimmt, um dann in einem zweiten Schritt das, was er durch die Selbsttranszendenz gewonnen hat, wieder auf seine faktischen Lebensumstände zurück zu beziehen: „Konkret werden heißt aber weder endlich noch unendlich werden, denn was konkret werden soll, ist ja eine Synthese. Die Entwicklung muss also darin bestehen, unendlich von sich selbst loszukommen im Unendlichmachen, und darin unendlich zu sich selbst zurückzukehren im Endlichmachen.“27 Das Telos in diesem permanenten Prozess besteht in der Identität mit sich selbst, der Selbstkongruenz, weshalb Kierkegaard auch sagen kann, dass die Aufgabe des Selbst darin bestehe, es selbst zu werden, wobei der Philosoph bereits an dieser Stelle anmerkt, dass dieses Ziel nur im Verhältnis zu Gott zu erreichen ist: „Die Lösung der Krisis endlicher Subjektivität ist folglich nur so möglich, dass der Mensch sich, indem er sich zu sich selbst verhält, zu einem Anderen sich verhält. Dadurch wird der Vollzug des Selbst als Selbstsein zugleich unter der Bestimmung des Gesetztseins vollzogen.“28 Als zweites Paar von Polaritäten reflektiert Kierkegaard die Gegensätze von „Möglichkeit und Notwendigkeit“. Es fällt auf, dass er den auf den ersten Seiten von „Die Krankheit zum Tode“ benannten Gegensatz von „Freiheit und Notwendigkeit“ variiert, was allerdings nicht dazu verführen sollte, Freiheit und Möglichkeit einfach als Synonyme zu begreifen, da die Freiheit, wie Kierkegaard sie versteht, „das Dialektische in den Bestimmungen von Möglichkeit und Notwendigkeit“ ist.29 Kierkegaard trägt durch dieses Begriffspaar der Tatsache Rechnung, dass die Aufgabe, man selbst zu werden, einen notwendigerweise unabgeschlossenen Prozess darstellt. „Das Selbst ist κατὰ δύναμιν ebenso sehr möglich wie notwendig; denn es ist ja es selbst, aber es soll es selbst werden. Insoweit es es selbst ist, ist es notwendig, und soweit es es selbst werden soll, ist es eine Möglichkeit.“30 Es ist allerdings nicht so, dass die Notwendigkeit einfach das gewordene Selbst bezeichnet und die Möglichkeit das zu werdende Selbst. Vielmehr ist es nach Kierkegaard erforderlich, dass die Notwendigkeit die Richtung der künftigen Selbstentfaltung mitbestimmt, da es für das Selbst ja darum geht, nicht ‚irgendetwas‘ zu werden, sondern ‚es selbst‘. Die Notwendigkeit des Selbst ist also maßgeblich für die Bestimmung des Telos der 25

  Kierkegaard, KT, 52.   Kierkegaard, KT, 51. 27   Kierkegaard, KT, 51. 28   Axt-Piscalar, Christine, Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher, Tübingen 1996, 208. 29   Kierkegaard, KT, 50. 30   Kierkegaard, KT, 58. 26

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3.  Das Abendmahl als Gabe

Selbstwerdung und setzt dadurch den Möglichkeiten der Selbstverwirklichung Grenzen. Den Akt des sich zu sich selbst (als einer Synthese aus Endlichkeit und Unendlichkeit, Notwendigkeit und Möglichkeit) Verhaltens charakterisiert Kierkegaard als Freiheit und macht dadurch zugleich deutlich, dass die Gestaltung des Selbstbezugs ein Willensakt ist, der jedoch vom Grad des Bewusstseins des Selbst von seiner polaren und relationalen Struktur abhängt. Dementsprechend gliedert Kierkegaard die Darstellung der Formen von Verzweiflung auch danach, ob dem Verzweifelten seine Verzweiflung und in einem weiteren Schritt die Struktur seines Selbst bewusst ist oder nicht, und wenn sie ihm bewusst ist, wie sich der Mensch willentlich zu dieser Struktur stellt. So kommt Kierkegaard zu seiner berühmten Einteilung der Verzweiflung in ein „Verzweifelt nicht man selbst sein wollen“ und ein „Verzweifelt man selbst sein wollen“.31 Das „Verzweifelt nicht man selbst sein wollen“ ist eine Umschreibung für den verzweifelten Wunsch, ein Anderer sein zu wollen, der entweder durch einen Schicksalsschlag ausgelöst werden kann oder dadurch, dass das Selbst bestimmte seiner Eigenschaften nicht annehmen oder sich eine bestimmte Handlung oder Haltung nicht vergeben kann. Das „Verzweifelt man selbst sein wollen“, das Kierkegaard auch als Trotz charakterisiert, ist wiederum das Aufbegehren gegen die Tatsache, dass das Selbst sich als Selbst vorfindet. Es ist die Nichtakzeptanz dessen, dass das Selbst in einer ganz bestimmten Weise gesetzt ist. Die eigene Vorfindlichkeit des Selbst werde nicht als Ausgangsund Zielpunkt des Selbstwerdens verstanden, so dass das Selbst letztlich immer nur hypothetische Bilder von sich entwickelt. „Dieses unendliche Selbst ist indessen eigentlich nur die abstrakte Form, die abstrakte Möglichkeit des Selbst. Und gerade dies will das Selbst verzweifelt sein, das Selbst von jedem Verhältnis zu der Macht losreißend, die es gesetzt hat, oder von der Vorstellung losreißend, dass es eine solche Macht gibt. [. . .] [Der Mensch, der verzweifelt er selbst sein will, Einfügung C. M.] will sich nicht ein Selbst aneignen, nicht in dem ihm verliehenen Selbst seine Aufgabe sehen, er will es mit Hilfe der unendliche Form selbst konstruieren.“32

Im zweiten Teil von „Die Krankheit zum Tode“ geht Kierkegaard von seinen Betrachtungen der Verzweiflung über zum Begriff der Sünde, d. h. er stellt einen Bezug her zwischen dem, was er über die Verzweiflung herausgearbeitet hat, und der Gottesoffenbarung des Christentums. Dabei kommt er, wie oben bereits erwähnt, zu der Definition von Sünde als der Situation, „wenn der Mensch vor Gott oder mit der Vorstellung von Gott verzweifelt nicht er selbst sein will oder verzweifelt er selbst sein will.“33 Der Unterschied zwischen Christentum und Judentum einerseits und dem Heidentum andererseits besteht nach Kierkegaard darin, dass der Bezug zu der Macht, die das Selbst gesetzt hat, dem Heiden ledig-

31

  Kierkegaard, KT, 31   Kierkegaard, KT, 100 f. 33   Kierkegaard, KT, 108. 32

3.2 Abendmahl und Sünde: Sich selbst von Gott her neu verstehen

235

lich durch die Tatsache seines Gesetztseins deduktiv zu erschließen ist, während sie dem Christen und Juden durch die göttliche Offenbarung explizit zu Bewusstsein gebracht worden ist. Das Zentrum von Kierkegaards Sündenbegriff ist dementsprechend die Verzweiflung wider besseres Wissen. Damit ist implizit gesagt, dass sich Verzweiflung dann überwinden lässt, wenn die Selbsttranszendierung des Menschen auf Gott hin stattfindet. Sünde wäre dementsprechend, den eigenen Gottesbezug aus dem Blick zu verlieren oder willentlich zu ignorieren und dann in das Missverhältnis zu sich selbst zu geraten, das Kierkegaard Verzweiflung nennt. Kierkegaard stellt seinen Überlegungen zur menschlichen Verzweiflung bzw. dem menschlichen Sündersein in der „Krankheit zum Tode“ keine ausführlichen Ausführungen zum Glauben als Form der möglichen Überwindung des Sünderseins zu Seite, sondern definiert lediglich: „Glaube ist: dass das Selbst, indem es selbst ist und indem es selbst sein will, durchsichtig in Gott gründet.“34 Versteht man das Entstehen des Glaubens im Abendmahl als Gabe und fragt danach, worin die mit dieser Gabe verbundene Erweiterung bzw. Veränderung des eigenen Selbstverständnisses besteht, so müsste man im Sinne Kierkegaard festhalten, dass diese in dem Wissen um das eigene ‚Gesetztsein‘ besteht oder – wenn man der klassisch theologischen Terminologie folgt – im Wissen um die eigene ‚Geschöpflichkeit‘, das ein maßgeblicher Aspekt des Sich-in-Gott-GründenKönnen darstellt. Sich seines eigenen ‚Gesetztseins‘ bewusst zu sein, bedeutet nun aber, das eigene Leben als Eröffnung, als Gabe zu interpretieren. Und in der Interpretation des Lebens ‚als Gabe‘ liegt ein entscheidendes Moment des Bejahtseins. Durch die Selbstauslegung Gottes im Geschehen von Kreuz und Auferstehung, in dem deutlich wird, dass Gott der Gott-Mensch-Entfremdung durch die Sünde, die auch im Akt von Jesu Hinrichtung sichtbar wird, aktiv widerspricht, wird dieses Moment des Bejahtseins noch einmal unterstrichen. Indem Gott den Menschen von seinem Tun – und dazu zählt auch die Negierung seiner Gottesbeziehung – unterscheidet, dieses Tun verurteilt und den Täter als Person aber zugleich bejaht, gewinnt der Mensch durch die von Gott hergestellte Beziehung eine unaufhebbare Würde. Kierkegaard drückt dies so aus: „Ein Selbst Christus gegenüber ist ein potenziertes Selbst durch das ungeheure Zugeständnis Gottes, potenziert durch den ungeheuren Nachdruck, der dadurch auf es fällt, dass Gott um der Schuld des Selbst willen sich gebären ließ, Mensch wurde, litt und starb.“35 Das Zitat macht deutlich, dass das Bejahtsein des Menschen dabei zugleich die Bejahung des aktiven, verantwortungsvollen Selbstvollzug des Menschen und eine Ermutigung dazu ist. Im Ritus des Abendmahls wird das Bejahtsein des Menschen durch das inszenierte Gastmahl zum Ausdruck gebracht, durch das Anerkennung vermittelt wird. 34   Kierkegaard, KT, 116. Ein Entwurf, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, diese knappe Definition zu explizieren, ist der von Christiane Tietz, vgl. Tietz, Christiane, Freiheit zu sich selbst. Entfaltung eines christlichen Begriffs von Selbstannahme (= FSÖTh 111), Göttingen 2005. 35   Kierkegaard, KT, 154.

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3.  Das Abendmahl als Gabe

3.3 Abendmahl und die Eröffnung von Möglichkeiten: Selbstannahme, konstruktiver Umgang mit eigener Schuld, Gemeinschaft 3.3.1  Die Möglichkeit der Selbstannahme Christiane Tietz greift die Leerstelle bei Kierkegaard auf und geht der Frage nach,36 inwiefern der Glaube zu einer Überwindung der Verzweiflung führen kann. Für ihre Analysen zieht sie dabei auch Paul Tillichs religionsphilosophische Schrift „Der Mut zum Sein“ heran und unterscheidet gleich zu Beginn ihrer Darlegung zwischen dem Glauben als einer „Bejahung dessen, dass man bejaht ist“ und einer „Selbstbejahung aufgrund dieser Bejahung“.37 Letzteres sei die Folge des Ersten und zugleich eine entscheidende Vollzugsform des Glaubens. Damit ist aber nichts anderes gesagt, als dass der Glaube als Gabe dem Menschen die Möglichkeit der Selbstannahme eröffnet.38 Doch was ist im Anschluss an Kierkegaard unter einem bejahenden Selbstverhältnis zu verstehen? Tietz betont, dass ein solches dann gegeben sei, wenn das Selbst das „von Gott gesetzte Selbst sein wolle“,39 dass es aufgrund seines Sichselbst-in-Gott-Gründens weder einzelne zum Selbst gehörende Eigenschaften als Teil seiner Endlichkeit kategorisch verneinen und verleugnen müsse, noch dem von Gott empfangenen Selbst ein eigenes hypothetisches Selbst entgegensetzen müsse, dem es nacheifere. Elisabeth Gräb-Schmidt interpretiert Kierkegaard hingegen so, dass der Gottesbezug zu einer Akzeptanz der Offenheit des freiheitlichen Selbstvollzuges führe; einer Offenheit, die zwangsläufig gegeben sei, da das Telos der Selbstwerdung zwar in der Selbstkongruenz bestehe, aber das, was das Selbst, das sich ja im Werden befinde, ausmache, inhaltlich immer nur partiell für es selbst greifbar sei. Die Gefahr, dem das Selbst in seinem freiheitlichen Selbstvollzug stets ausgeliefert sei und die nach Gräb-Schmidt den Kern des Kierkegaardschen Sündenverständnisses darstellt, sei es, die eigene Freiheit zugunsten einer Selbstfestlegung auf eigene oder fremde Bilder vom Selbst aufzugeben, von einem prozessualen Selbstvollzug zu einer statischen Selbstfestlegung überzugehen: „Sünde ist es, nicht der Ambivalenz der Freiheit Rechnung zu tragen, sondern diese vielmehr selbstmächtig in die Eindeutigkeit überführen zu wollen. [. . .] Sie ist der Versuch des begrifflichen Festlegens, des Herbeiführens der Berechenbarkeit und Eindeutigkeit der Verhältnisse. Dieses Festhalten-wollen ist aber eine den Bedingungen des Menschseins nicht angemessene

36

 Vgl. Tietz, Freiheit.   Tillich, Paul, Der Mut zum Sein, in: Ders., Sein und Sinn. Zwei Schriften zur Ontologie, Gesammelte Werke Bd. 11, Stuttgart 1969, 13 – 139, hier: 128, zitiert nach: Tietz, Freiheit, 23. 38   Bei dieser Aussage ist impliziert, dass Glaube als stets angefochten und immer wieder neu geschenkt zu denken ist. Dementsprechend hat auch die realisierte Selbstannahme im Glauben Momentcharakter. Sie ist ein Unterbrechungsmoment im permanenten Ringen um die eigene Identität und das eigene Selbstverhältnis. 39   Tietz, Freiheit, 52. 37

3.3 Abendmahl und die Eröffnung von Möglichkeiten

237

Haltung. Das Menschsein ist bei Kierkegaard gekennzeichnet als ‚Interesse‘, ein Zwischensein, das nur durch einen transzendenten Begründungszusammenhang als ein ‚esse‘ akzeptiert werden kann.“40

Beide Interpretationen sind sich darin einig, dass der Glaube nach Kierkegaard insofern die Verzweiflung bzw. die Sünde überwinden kann, als er zu einer Distanzierung von den eigenen Selbstfestlegungen und damit verbundenen Selbstverwerfungen durch die Fokussierung auf ein Drittes, nämlich auf Gott, führt und dass der Mensch in der Ausrichtung auf Gott eben auch auf die Bejahung des eigenen Selbst trotz aller Unannehmbarkeit stößt. Die in der Christusoffenbarung mitschwingende Bejahung des Menschen bei gleichzeitiger Verneinung seiner Sünde eröffnet dem Menschen die Möglichkeit, einen anderen Selbstbezug zu entwickeln als den der Verzweiflung. Es ist ein Selbstbezug, der in Analogie steht zu der Bejahung des Menschen durch Gott bei gleichzeitiger Verneinung seiner Sünde: es ist eine Selbstbejahung des Menschen, die die Möglichkeit einschließt, sich kritisch zu bestimmten Eigenschaften des Selbst zu stellen und eigene Taten zu bereuen, die aber Geschehenes gleichzeitig als Teil des eigenen Lebens akzeptieren kann und gegebenenfalls eine produktive Kraft zur Veränderung entwickelt, eine Lebensbejahung, die das Leben als offenen Prozess mit Brüchen akzeptiert. Die besondere Stärke von Kierkegaards Sündenbegriff wird deutlich, wenn man das Abendmahl als eines der Geschehen, an dem sich Gotteserkenntnis entzündet, mit diesem Sündenbegriff in Beziehung setzt. Verzweiflung bzw. Sünde ist nach Kierkegaard die Konstruktion eines Selbstbildes unter Absehung des menschlichen Gottesbezuges. Es ist interessant, dass Kierkegaard zwischen einem „Verzweifeln über“ und einem „Verzweifeln an“ differenziert.41 Die Wendung „Verzweifeln über“ nutzt er, um die irdischen Situationen zu benennen, an denen sich die Verzweiflung eines Menschen entzündet. Mit der Wendung „Verzweifeln an“ macht er hingegen deutlich, dass jede Verzweiflung auch die Beziehung des Menschen ‚zum Ewigen‘ tangiert. Verzweiflung kann sehr verschiedene Anlässe habe, doch trotz dieser unterschiedlichen Anlässe liegt der Grund der Verzweiflung jeweils in der Verfehlung des Gottesbezugs. Dabei ist allerdings daran zu erinnern, dass für Kierkegaard auch dann Verzweiflung vorliegen kann, wenn ein Mensch diese emotional gar nicht empfindet, etwa weil er seinen Gottesbezug über die geglückten und durchaus glückhaften Selbstprojekte aus den Augen verliert. Menschen, die zum Abendmahl kommen, befinden sich in sehr unterschiedlichen Lebenssituationen. Zum Teil sind diese herausfordernd wie etwa das Nachlassen der eigenen Kräfte im Alter, Schicksalsschläge oder die unabweisbare Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit eigenen Fehlern. Solche Herausforderungen führen Menschen in der Regel in eine intensive Auseinandersetzung 40

  Gräb-Schmidt, Sündenerkenntnis, 97 f.   Kierkegaard, KT, 91.

41

238

3.  Das Abendmahl als Gabe

mit dem eigenen Selbstbild. Doch auch wenn keine herausfordernde Lebenssituation im Hintergrund steht, kann das Abendmahl das eigene Selbstbild zum Thema werden lassen. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass eine Fülle von Faktoren auf das Selbstbild eines Menschen Einfluss haben, wie die dargestellte Theo­rie von Heiner Keupp deutlich machte,42 etwa das Feedback anderer Personen, gesellschaftliche Wertungen und Abwertungen, aber auch das Erreichen von oder Scheitern an selbstgesetzten „Identitätsprojekten“.43 Die Konstruktion eines Selbstbildes unter Ausrichtung an solchen Maßstäben gehört zur conditio humana. Es besteht jedoch die Gefahr, dass dieser dynamische Prozess erstarrt, weil die eigene Festlegung auf eine fremde Zuschreibung oder auch auf ein Identitätsprojekt absolut gesetzt wird. Die Gefahr, sich auf ein fremdes Bild des eigenen Selbst festzulegen oder aber den Wert des eigenen Selbst am Erreichen des in den Identitätsprojekten anvisierten Wunschbildes zu messen, ist potentiell immer gegeben. Eine solches Verhalten wäre jedoch im Sinne Kierkegaards Verzweiflung bzw. Sünde. Durch das inszenierte Gastmahl bringt das Abendmahl die Bejahung Gottes ins Bewusstsein der Feiernden und lenkt auf diese Weise ihren Blick von sich fort auf Gott und eröffnet ihnen so die Möglichkeit, mit einem veränderten Blick zurück auf sich selbst zu blicken.44 Ereignet sich im Abendmahl Glauben, d. h. lässt sich ein Mensch in der Beschäftigung mit seinem Selbstsein durch die göttliche Perspektive auf sein Selbst unterbrechen, so ist dies insofern als ‚starkes Ereignis‘ zu werten, als die Selbst- und menschlichen Fremdbewertungen des Ichs durch das göttliche Werturteil als relativ qualifiziert werden.

42

  Vgl. Kap. C.1.3.2.2.1.   Begriff ist entliehen von Keupp, Heiner, Identitätskonstruktionen, 189. Vgl. zum Konzept Kap. C.1.3.2.3. 44   In meinen Überlegungen gehe ich davon aus, dass Menschen im Vollzug des Mahls Gottes bejahende Anerkennung erfahren, ähnlich wie Zachäus durch sein gemeinsames Mahl mit Jesus (Lk 19). Dies impliziert, dass eigene Sünde rückwirkend, also bereits als vergebene erkannt wird. Kierkegaard spricht in seiner Schrift „Der Liebe Tun“ in Bezug auf den zwischenmenschlichen Bereich davon, dass die Menschen von Gott lernen könnten, bereits vor der ausgesprochenen Bitte um Vergebung zu vergeben und dann alles daran zu setzen, den, der ihnen Unrecht getan hat, für sich zu gewinnen. Darunter versteht Kierkegaard, dass der Geschädigte den, der Unrecht getan hat, durch Zuwendung dazu bringt, dies einzusehen, ohne dass dies zur Folge hat, dass sich der Täter aus Scham vom Opfer abwendet, Kierkegaard, SØren, Der Liebe Tun: etliche christliche Erwägungen in Form von Reden, übers. v. Gerdes, Hayo, Gesammelte Werke Bd. 19, Düsseldorf / Köln 1966, 367 – 377. In der theologischen und philosophischen Literatur wird diese Form von Vergebung als ‚vorlaufende Vergebung‘ bezeichnet. Menschen können nach dem bisher Gesagten im Abendmahl Gottes vorlaufende Vergebung erfahren, und dies ungeachtet dessen, dass die Abendmahlsliturgie daneben mit dem Sündenbekenntnis und dem darauf folgenden Vergebungszuspruch auch ein ‚klassisches‘ Kommunikationsschema zur Vergebung von Schuld beinhaltet, demzufolge die Vergebung auf die Kommunikation von Reue antwortet. Meines Erachtens ist dieses Nebeneinander kein Widerspruch, sondern ähnlich wie die Vielzahl der ineinandergreifenden Metaphern ein Zeichen für die Mehrdimensionalität des Ritus. 43

3.3 Abendmahl und die Eröffnung von Möglichkeiten

239

3.3.2  Die Möglichkeit, konstruktiv mit eigener Schuld umzugehen Wenn man in hohem Maße das Scheitern der Gottesbeziehung und die Folgen dieses Scheiterns für das Selbstbild in den Fokus der Hamartologie rückt, lässt dies die Frage aufkommen, welchen Platz in einer solchen Sündenlehre die verfehlte Beziehung zum Mitmenschen bzw. Mitgeschöpf einnimmt. Oder anders ausgedrückt: In welchem Verhältnis steht die Sündenthematik zur Schuldthematik? Der Begriff Schuld – wie ich ihn im Folgenden verwenden möchte – geht über eine auktoriale Dimension hinaus; er besagt mehr, als dass eine Person die Verantwortung für eine Handlung trägt. Schuld im engeren Sinne liegt dann vor, wenn es zu einer „moralischen Verletzung“ einer Person durch eine andere Person kommt.45 Der von Karin Scheiber übernommene Begriff der „moralischen Verletzung“ besagt, dass durch eine Handlung die Botschaft kommuniziert wird, dass eine andere Person nicht als Person anerkannt wird, wobei Scheiber im Anschluss an Kant hervorhebt, dass einer Person ein Wert an sich zukommt und sie gerade kein Mittel für irgendeinen außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck darstellt.46 Der an der Ich-Du-Beziehung orientierte Begriff der „moralischen Verletzung“ ist meines Erachtens noch dahingehend zu erweitern, dass es auch bestimmte gesellschaftliche Strukturen sein können, durch die die Würde einer Person und ihre Unversehrtheit in Frage gestellt wird. Dementsprechend muss es auch als Schuld betrachtet werden, wenn Menschen durch ihr aktives oder passives Verhalten solche gesellschaftlichen Strukturen erhalten (strukturelle Schuld). Wie lassen sich der Schuld- und der Sündenbegriff nun einander zuordnen? Was den Begriff der „moralischen Verletzung“ und den ihm korrespondieren Vergebungsbegriff betrifft, so stimme ich grundsätzlich den Ausführungen Karin Scheibers zu, die in ihrer Arbeit den kommunikativen Charakter beider Phänomene hervorhebt. Das bedeutet jedoch, dass Vergebung, die die Kommunikationssituation zwischen zwei Menschen wiederherstellt, grundsätzlich immer nur von demjenigen ausgehen kann, der ‚moralisch verletzt‘ wurde. Die im Abendmahl sich vollziehende Vergebung der Sünde im Sinne des Bewusstwerdens des eigenen Gottesbezugs durch einen Menschen und der in diesem Bezug mitgesetzten grundsätzlichen Bejahung eröffnet Menschen die Möglichkeit, sich eigener Schuld zu stellen, anstatt sie zu verdrängen, weil die Anerkennung Gottes auch ihnen selbst eine Unterscheidung zwischen sich als Person und dem eigenen Tun ermöglicht. Sie kann aber auch deshalb zu einer Erkenntnis von Schuld führen, weil dem Menschen durch die bejahende Liebe Gottes ein Maßstab für sein eigenes Tun an die Hand gegeben wird. Als Eröffnung der Möglichkeit, sich eigener Schuld bewusst zu werden und zu stellen, kann das Abendmahl somit der Impuls dafür 45  Vgl. Scheiber, Karin, Vergebung. Eine systematisch-theologische Untersuchung (= RPT 21), Tübingen 2006, 146. 46  Siehe Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg. v. Weischedel, Wilhelm, Gesammelte Werke Bd. 7, Frankfurt / M. 1968, 59 f.

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3.  Das Abendmahl als Gabe

sein, dass Menschen den Mut finden, andere um Vergebung zu bitten. Umgekehrt kann das Abendmahl aber auch die Kraft geben, die Verwehrung von Vergebung auszuhalten, weil die ‚Vergebung der Sünde‘ es verhindert, dass ein Mensch sich selbst ganz mit einer einzelnen geschehenen Tat identifiziert.47 Im Ritus des Abendmahls ist es vor allem der Friedensgruß, der die Feiernden für die eröffnete Möglichkeit sensibilisiert, vor dem Hintergrund ihres neu gewonnenen Gottesverständnisses voneinander Vergebung zu erbitten und sie zu gewähren. Das Evangelische Gottesdienstbuch leitet den Friedensgruß mit der liturgischen Formel ein: „Der Friede des Herrn sei mit euch. Lasst uns einander ein Zeichen des Friedens und der Gemeinschaft geben.“48 Diese Formulierung zeigt, dass der Zuspruch des göttlichen Friedens als Basis für das zwischenmenschliche Aufeinander-Zugehen gewertet wird. Vermutlich sind die Mitfeiernden, auf die ein Mensch im Gottesdienst mit dem Friedensgruß zugeht, selten auch die Menschen, an denen er konkret schuldig geworden ist, doch die im Gottesdienst vollzogene Geste öffnet den Blick für die Möglichkeit des Aufeinander-Zugehens auch über den Gottesdienst hinaus. Zudem macht sie den Feiernden deutlich, dass nicht nur das eigene Selbstverständnis als Christ davon geprägt ist, auf die göttliche Vergebung angewiesen zu sein, sondern dass das Bewusstsein dieser Angewiesenheit zum Selbstverständnis eines jeden Christen gehört. Der das Abendmahl feiernde Christ begreift sich als in eine Gemeinschaft von Menschen gestellt, die darum wissen, dass sie in ihrer Beziehung zu Gott und zu ihren Mitmenschen versagen und der Vergebung bedürfen. Auch dieses Gefühl der Gemeinschaft kann den Einzelnen in dem Bemühen um eine konstruktive Auseinandersetzung mit eigener Schuld bestärken. 47   Dass das Abendmahl die eigene Gottesbeziehung und die darin mitgesetzte Bejahung in den Fokus des Bewusstseins eines Menschen rückt, kann umgekehrt auch bei einem Opfer von Schuld ermöglichen, dass es sich aus einer möglichen inneren Fixierung auf das eigene ‚Opfersein‘ löst. Zwar ist die Verarbeitung von erfahrenen Verletzungen und Schuld ein langwieriger und komplexer Prozess, dennoch kann die im Rahmen des Ritus des Abendmahls gemachten Erfahrungen ein Mosaikstein sein, der bei der Bewältigung hilft. 48   Vgl. Evangelisches Gottesdienstbuch, 171. In der Abendmahlsliturgie der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck wird der Zusammenhang noch deutlicher, da hier der Friedengruß mit den Worten eingeleitet wird: „Der Friede des Herrn sei mit euch allen. Keiner sei gegen die anderen, keiner in sich selbst verschlossen, vergebt, wie euch vergeben ist, nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“, Agende I,19. Diese Formulierung charakterisiert die empfangene göttliche Vergebung der Sünde als Basis und zugleich als Modell für zwischenmenschliche Vergebung. Die wieder hergestellte intakte Gott-Mensch-Beziehung wird als Grundlage für die Möglichkeit gesehen, auch die Beziehungen zwischen Menschen zu heilen. Zugleich wird dem gläubigen Menschen nahegelegt, einem anderen, der an ihm schuldig geworden ist, mit einer inneren Haltung des Entgegenkommens zu begegnen und damit der ‚vorlaufenden Vergebung Gottes‘ mit seinem eigenen Verhalten zu entsprechen. Doch meines Erachtens spricht die Agende nicht nur die Menschen an, an denen Schuld begangen wurde, sondern auch diejenigen, die schuldig geworden sind. Die Wendung „Keiner sei in sich selbst verschlossen“ kann sich auf beide Gruppen beziehen und die Täter zu einem konstruktiven Umgang mit der eigenen Schuld ermutigen, wie sie oben dargestellt wurde.

3.3 Abendmahl und die Eröffnung von Möglichkeiten

241

3.3.3  Die Möglichkeit von Gemeinschaft Die Deutung des Abendmahls als ein Gemeinschaft stiftendes Mahl ist gegenwärtig eine seiner populärsten Deutungen. Sie ist ebenfalls im Gaberitus des Gastmahls anlegt, zielt doch der Austausch von Geschenken, zu denen Marcel Mauss auch die Einladungen zu Gastmählern zählt, auf die Etablierung und den Erhalt von Bindungen und Gemeinschaft. Der biblische Referenztext für die Deutung des Abendmahls als Gemeinschaftsmahl ist 1. Kor 10,16 – 22. Josef Hainz geht in seiner Arbeit über den Begriff κοινωνία intensiv auf diesen Text ein.49 Grundthese seines Buches, die er auch im Hinblick auf das Abendmahl zu erhärten sucht, ist es, dass das griechische Wort κοινωνία nicht nur die beiden Bedeutungen ‚Gemeinschaft‘ und ‚Anteilhabe an‘ annehmen kann, sondern dass κοινωνία zumindest im paulinischen Sprachgebrauch eine Gemeinschaft kennzeichnet, die durch die gemeinsame Anteilhabe an einer bestimmten Sache gekennzeichnet ist. Dieser Befund ist insofern interessant, als er sich mit soziologischen Arbeiten über Vergemeinschaftung trifft, in denen der gemeinsame Bezugspunkt ebenfalls als ein wichtiger Grund für die Gemeinschaftsbildung angesehen wird. Die Soziologin und Journalistin Carolin Emcke stellt heraus,50 dass kollektive Identitäten entweder auf den Selbstzuschreibungen einer Gruppe oder auf Fremdzuschreibungen basieren, wobei letztere, die oftmals einen verletzenden, diffamierenden Charakter haben, in die Selbstzuschreibungen der Gruppe eingehen können. Emcke unterscheidet folglich zwischen kollektiven Identitäten, bei denen die Mitglieder des Kollektivs letztlich ihre Mitgliedschaft bejahen, und solchen, bei denen die Mitgliedschaft erzwungenermaßen stattfindet. Für die von den Mitgliedern bejahten Kollektive sei es charakteristisch, dass sie über ein von allen geteiltes Sinnsystem verfügen, das zu sozialen Praktiken führe. Die Sinnsysteme kollektiver Identitäten seien vielfach symbolisch gefasst, etwa in Form von Narrativen über Ursprung und Ziel des jeweiligen Kollektivs, und würden durch Rituale für die Mitglieder des Kollektivs präsent. Ganz ähnlich sieht diesen letzten Aspekt auch Michael Moxter,51 der davon spricht, dass Gemeinschaften stets des Imaginären bedürfen, um sich ihrer selbst und ihrer Einheit zu vergewissern: „Ursprungserzählungen vergewissern über den Grund des sozialen Zusammenseins und formen das Bild, das sich die Gemeinschaft von sich selbst macht [. . .]. Sie [die Gemeinschaften, Anmerkung C. M.] leben von einem Überschuss über 49   Hainz, Josef, Koinonia. „Kirche“ als Gemeinschaft bei Paulus (= BU 16), Regensburg 1982. Die Monographie von Hainz ist zwar bereits vor mehr als 35 Jahren erschienen, dient aber immer noch, wie mir scheint, als Referenzpunkt, so etwa in: Popkes, Wiard, Art. „Gemeinschaft und Individuum III“, in: RGG4 Bd. 3, Tübingen 2000, 638 f. 50   Emcke, Carolin, Kollektive Identitäten. Sozialphilosophische Grundlagen, Frankfurt / M. / New York 2000. 51   Moxter, Michael, Das Unsichtbare der Gemeinschaft und die Verborgenheit der Kirche, in: Gräb-Schmidt, Elisabeth / Menga, Fernando G. (Hg.), Grenzgänge der Gemeinschaft (= DoMo 17), Tübingen 2016, 127 – 148.

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3.  Das Abendmahl als Gabe

das Reale, der keine belanglos – beliebige Phantasie, sondern konkrete Kraft der Ineinsbildung ist.“52 Die Funktion der sozialen Imaginationen sei es, die Erwartungen, die die Menschen eines Kollektivs aneinander haben, zu strukturieren und Kohärenz zu stiften. Moxter stellt dabei pointiert heraus, dass die Bildprozesse, die die wesentliche Imagination einer Gruppe zum Ausdruck bringen, nicht der Verfügungsgewalt der einzelnen Individuen unterliegen, sondern im Kollektiv entstehen und das Verhalten des Einzelnen maßgeblich mitbestimmen. Am Beispiel der treibenden reformatorischen ‚Imagination‘, durch eine strikte Rückbesinnung auf die Bibel zu den fontes, zu der ursprünglichen Form des christlichen Glaubens zurückzukehren, macht Moxter deutlich, dass die Orientierung am vermeintlichen Ursprung immer auch eine Interpretation von einem als ‚eigentlich‘ postulierten Sinn enthält und damit zugleich eine Zukunftsvision für die Gemeinschaft. Für die christliche Gemeinschaft sind es die Geschichte von Jesu Leben und Passion, sowie die Erzählungen über die Erfahrungen der Jünger mit ihrem auferstandenen Herrn, die den entscheidenden Bezugspunkt für die Gemeinschaft darstellen und diese erst zu einer Gemeinschaft machen. Vergegenwärtigt man sich, dass diese Geschichten – auch dann, wenn sie Jesu Leben beschreiben und nicht das Verhältnis der Jünger zu ihm ins Zentrum stellen – deutendes Zeugnis eines die Jünger in ihrem Selbstverständnis neupositionierenden Ereignisses sind, nämlich dem Selbsterschließungsgeschehen Gottes durch das Geschick Jesu, dann kann man die christliche Gemeinschaft als eine durch die Selbsterschließung Gottes – das eigentliche Gabegeschehen – ermöglichte Möglichkeit begreifen. Allerdings wurden in den bisherigen Ausführungen die durch eine Gabe eröffneten Möglichkeiten jeweils als Ermöglichungsgrund dargestellt, der dann durch die Aktivität des Empfängers realisiert werden kann. Gerade im Falle der Vergemeinschaftung ist dies jedoch zweifelhaft bzw. es muss genauer bestimmt werden, ob und, wenn ja, inwiefern dem Subjekt ein aktiver Part zuerkannt werden kann. In seinen Ausführungen zum Abendmahl in 1. Kor 10 stellt Paulus in Vers 17 ­heraus, dass die Christen durch Teilhabe an dem ‚einen Brot‘ und dem sich im Ritus vermittelnden Heil ‚ein Leib‘ sind. Hainz versteht Vers 17 so, dass die Konstitution der christlichen Gemeinschaft unmittelbar im Abendmahl geschieht, dass sie nach dem Anteilgewinnen an Christus kein zweiter Schritt ist, sondern der Christ mit seinem Anteilgewinnen an Christus faktisch zugleich in ein Verhältnis zu denen gesetzt wird, die ebenfalls an Christus Anteil haben: „Diese Gemeinschaft wird nicht durch Solidarisierung einzelner herbeigeführt, sie wird durch die gemeinsame Teilhabe an etwas gestiftet und vermittelt.“53 Das heißt: nicht nur der die Gemeinschaft ermöglichende inhaltliche Grund, nämlich das Anteilgewinnen an Christus, ist der aktiven Gestaltung der zur christlichen Gemeinschaft Gehörenden entzogen, auch die Vergemeinschaftung selbst basiert nach Hainz nicht 52

  Moxter, Das Unsichtbare, 133.   Hainz, Koinonia, 34.

53

3.3 Abendmahl und die Eröffnung von Möglichkeiten

243

auf einem bewussten Willensakt der Einzelnen, sondern diese finden sich in der Gemeinschaft vor.54 An dieser Stelle ist es jedoch interessant, auf die Überlegungen von Carolin Emcke zurückzukommen. Emcke differenziert, wie gesagt, zwischen kollektiven Identitäten, die von den Mitgliedern bejaht werden, und solchen, die von außen erzwungen sind, und sie beschreibt eingehend, was sie unter einer Bejahung der Gemeinschaft durch den Einzelnen, die für diesen trotz allem zunächst vorfindlich sein kann, versteht.55 Affirmation einer kollektiven Identität umfasst für die Soziologin drei Aspekte:56 erstens, dass das Sinnsystem, das der Gemeinschaft zugrundeliegt, inhaltlich bejaht wird, zweitens, dass es nach außen als Überzeugung präsentiert wird, und drittens, dass es sich im eigenen sozialen Handeln niederschlägt, dass es für den Einzelnen zu einem „Muster alltäglicher Orientierung“ wird.57 Allerdings ist es Emcke wichtig, dass die Bejahung des einer Gemeinschaft zugrunde liegenden Sinnsystems keine einmalige Affirmierung eines starren Systems ist, sondern dass es sich bei der Affirmation um eine dynamische Aus­ einandersetzung, um einen permanent andauernden Prozess handelt, durch den innerhalb des Sinnsystems Gewichtungen vorgenommen werden und inhaltliche Verschiebungen stattfinden. Um dies zu verdeutlichen, greift sie auf Überlegungen von Homi K. Bhabha zurück, für die dieser den Begriff der „Performanz des Narrativs“ eingeführt hat.58 Bhabha zufolge beziehe sich eine Gruppe in einem permanenten Interpretationsprozess auf seine Kernnarration, die dadurch wiederum Veränderungen erfahre. Dieser Interpretationsprozess könne bewusst verlaufen 54   Ähnlich wie Hainz sieht dies auch Wolfgang Schrage in seinem Kommentar zum ersten Korintherbrief. Er kommentiert Vers 17 mit den Worten: „Teilhabe am sakramentalen σῶμα aber bedeutet Integration in das ekklesiologische σῶμα.“, Schrage, Wolfgang, Der erste Brief an die Korinther Bd. 2, EKK Bd. VII / 2, Neukirchen-Vluyn 1995, 440. Dabei versteht er unter dem ekklesiologischen σῶμα den Machtbereich Christi und betont, dass Paulus hier den Gemeinschaftsgedanken auch gegen die Unsterblichkeitsvorstellung von pneumatischen Individualisten ins Spiel bringe. 55   Emcke bemüht sich um einen Mittelweg zwischen einem holistischen Gemeinschaftsverständnis, bei dem sich der Einzelne der übermächtigen Prägung durch das Kollektiv eigentlich nicht entziehen kann, ja im Grunde erst aus dieser hervorgeht, und einem individualistischen Gemeinschaftsverständnis, demzufolge die Gemeinschaft einen Zusammenschluss freier Individuen darstellt. Diese Position untermauert sie, indem sie auf das Menschenbild von G. H. Mead zurückgreift und unterstreicht, dass das Individuum natürlich die Ansprüche der Umwelt, in der es sich vorfinde, in sich aufnehme, mit zunehmender Entwicklung jedoch auch die Fähigkeit zur Abstandnahme entwickele, vor allem auch deshalb, weil es zunehmend mit unterschiedlichen, durchaus auch divergierenden Ansprüchen konfrontiert sei. So bilde sich die Kritikfähigkeit auch am eigenen Kollektiv, und diese Kritikfähigkeit setzt Emcke voraus, wenn sie von einem produktiven Umgang des Einzelnen mit der eigenen kollektiven Identität bzw. den eigenen kollektiven Identitäten ausgeht. 56   Emcke, Kollektive Identitäten, 203. 57   Seel, Martin, Ethik und Lebensform, in: Brumlik, Micha / Brunkhorst, Hauke (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt 1993, 244 – 259, hier 245. 58   Bhabha, Homi K., DissemiNation: Time, Narrativ and the Margins of the Modern Nation, in: Ders. (Hg.), Nation and Narration, London / New York 1990, 299. Zitiert nach Emcke, Identitäten, 22.

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3.  Das Abendmahl als Gabe

und intensiv kommuniziert werden, er könne aber auch durch eine semibewusste Selektion geschehen, etwa wenn bestimmte Aspekte der Kernnarration stärker das eigene soziale Handeln bestimmen als andere.59 In Anlehnung an Emcke verstehe ich die Möglichkeit eines Christen, sich mit anderen Christen interpretierend über sein Christsein zu verständigen, es auszulegen, um es zu ringen und es in seinem eigenen Handeln zu präsentieren, als aktiv umsetzbare Möglichkeit, die durch die Gabe des Sich-zu-erkennen-Geben Gottes und der daraus resultieren Vergemeinschaftung der Christen eröffnet wird. Diese eröffnete Möglichkeit ist für die Gemeinschaft selbst aber alles andere als sekundär, sie ist der Vollzug der Gemeinschaft, der nicht nur für das Selbstverständnis der Gemeinschaft, sondern auch des Einzelnen als Einzelnen in der Gemeinschaft wesentlich ist. Mit der Interpretation des Abendmahls als Gemeinschaftsmahl waren in der Geschichte des Christentums häufig soziale Implikationen verbunden. Dies ist bereits bei Paulus so, der in 1. Kor 11 betont, dass ein zum Abendmahl dazugehöriges Sättigungsmahl, bei dem Christen aus unterschiedlichen sozialen Schichten nicht mit dem Essen aufeinander warten und miteinander teilen, die sakrale Dimension der Mahlfeier konterkariere.60 Diese Tendenz ist jedoch auch beim frühen Luther zu finden.61 Luther nimmt das paulinische Bild von dem ‚einen Leib‘ Christi, den die Christenheit darstellt, auf und betont in Analogie zu den paulinischen Aussagen in 1. Kor 12, dass das Leiden eines Teils des Leibes das Mitleiden des gesamten Leibes bedeute. Für Luther zieht die gemeinsame Anteilhabe an Christus im Abendmahl automatisch eine Übernahme von Verantwortung füreinander nach sich. Eine andere Argumentationsführung, die Luther dazu heranzieht, um die Christen dazu zu ermahnen, dass die Sinndimension des Abendmahls Auswirkungen auf ihre soziale Existenz miteinander haben muss, ist die, dass Christus mit seiner Selbsthingabe am Kreuz, auf die sich das Abendmahl 59

  Auch der Beitrag von Eilert Herms in dem Band „Grenzgänge der Gemeinschaft“ gesteht dem Einzelnen ein starkes aktives Moment innerhalb der Gemeinschaft zu, vgl. Herms, Eilert, Kirche als gestiftete Gemeinschaft durch das Wort, in: Gräb-Schmidt / Menga, Grenzgänge, 199 – 214. Herms versteht zwar das Faktum des Zusammenseins als vorgegeben, weist dem Einzelnem im Diskurs mit den Anderen jedoch die Aufgabe zu, den Sinn dieses Zusammenseins zu deuten, und zwar unter der Prämisse, dass es sich bei dem sich zusammengefunden habenden Kollektiv jeweils um Personen handelt, dass also die Mitglieder der Gemeinschaft fähig sind, die Bedingungen ihrer gemeinsamen Existenz durch das Abstimmen von Regeln selbst mitzubestimmen. Die Deutungsarbeit, die bei Herms in ganz verschiedene Richtung gehen kann, sei dementsprechend für die Gemeinschaft selbst konstitutiv. An diesem Punkt trifft sich Herms mit Carolin Emcke. Meines Erachtens berücksichtigt Herms jedoch zu wenig die Bedeutung dessen, was in der Tradition der Deutungsarbeit des jeweiligen Kollektivs vorgegeben ist und das Deuten mitbestimmt, wobei sich Eigendynamiken entwickeln, die über den Willen des Einzelsubjekts deutlich hinausgehen. Moxter demgegenüber veranschlagt umgekehrt das aktive Moment des Einzelnen meiner Einschätzung nach zu wenig, deshalb habe ich mich in der Darstellung an Emcke orientiert, weil sie geschickt beide Momente vereint. 60   Vgl. 1. Kor  11,33 f. 61   Luther, Martin, Ein Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen, wahren Leichnams Christi und von den Bruderschaften (1519), WA 2, 742 – 758.

3.3 Abendmahl und die Eröffnung von Möglichkeiten

245

bezieht, den Christen ein Exemplum gegeben habe, dem es nachzueifern gelte. Das Abendmahl ist für Luther demnach auch Einübung der Christen in die ‚geschwisterliche Liebe zueinander‘: „Wan du alßo diß sacraments genossen hast odder niessen wilt, So mustu widderumb auch mit tragen der gemeyn unfall [. . .] Da muß nu deyn hertz sich yn die lieb ergeben und lernen, wie diß sacrament eyn sacrament der lieb ist, und wie dir lieb vnd beystand geschehn widderumb lieb vnd beystand ertzeygen Christus in seynen durfftigen. [. . .] Alßo do Christus das sacrament eyngesetzet. Sprach er’ das ist meyn leyb, der fur euch geben wyrdt, das ist meyn blutt, das fur euch vorgossen wirt, ßo offt yhr das thut, ßo gedenckt meyn dabey’, Als sprech er ich bin das heupt, ich will der erst sein, der sich fur euch gibt, will ewr leyd und unfall mir gemeyn machen und fur euch tragen, auff das yhr auch widderumb mir und untereynander ßo thut und alles last yn mir und mit mir gemeyn seyn, unnd laß euch diß sacrament des alliß zu eynem gewissen warzeichen, das yhr meyn nit vorgesset, Sondernn euch teglich dran ubet vnd vormanet, was ich fur euch than hab vnd thu, damit yhr euch stercken muget und auch eyner den andernn alßo trage’.“62

Die Verbindung des Gemeinschaftsaspekts mit sozialen Implikationen ist nicht weiter erstaunlich, wenn man bedenkt, dass es für kollektive Identitäten charakteristisch ist, dass die Sinnsysteme, die ihnen zugrunde liegen, „ins Leben eingreifen“,63 dem Leben Orientierung geben. Geht man davon aus, dass das ÜberzeugtSein von dem Sinnsystem, welches die Gemeinschaft stiftet, eine Art ‚Ergriffensein‘ darstellt, dann versteht man die Vorstellung Luthers, dass aus dem Glauben ganz selbstverständlich Taten hervorgehen, die Gottes Willen entsprechen. Die soziale Aktion wäre dann ebenfalls als eine durch die sich im Abendmahl zueignende Gabe des Sich-erkennen-Gebens Gottes ermöglichte Möglichkeit zu verstehen. Wie fragil der Zusammenhang zwischen Überzeugung und Umsetzung im alltäglichen Leben jedoch ist, zeigt, dass das soziale Engagement in den biblischen und späteren theologischen Schriften vielfach eingefordert werden muss.

62

  WA 2,745, 19 bis 746, 5 (mit Auslassungen).   Emcke, Kollektive Identitäten, 205. Emcke macht hier deutlich, dass sie sich in der Formulierung an Wittgenstein anlehnt, ohne ihn exakt zu zitieren. 63

4. Ausblick: Die Gestaltung des Abendmahls in der Gemeinde 4.1  Die liturgische Gestaltung der Abendmahlsfeier Die bisherigen Ausführungen zum Abendmahl haben deutlich gemacht, dass der Ritus mit seiner wirklichkeitserschließenden Metaphorik einerseits und dem performativen Moment, das dem Vollzug des Gastmahls zu eigen ist, andererseits, eine Art ‚Rahmen‘ bildet, in dem und durch ihn angestoßen und vermittelt es zu dem ‚eigentlichen‘ Gabegeschehen kommen kann, aber keineswegs zwingend kommen muss. Dieses zentrale Gabegeschehen besteht darin, dass sich Gott dem Feiernden anhand des Geschicks Jesu so erschließt, dass seine Zugewandtheit Grundlage der eigenen Selbstdeutung des Menschen wird und sich aus dem erneuerten Selbstverständnis sowie dem erneuerten Gottesbezug bestimmte Handlungsoptionen eröffnen. Trotz der letztlichen Entzogenheit des eigentlichen Gabegeschehens für alle am Ritus beteiligten Akteure sieht sich der Liturg der Anforderung ausgesetzt, dass ihm das Abendmahl als eine ‚Ritualinszenierung‘ – wenn auch immer nur in begrenztem Maße – Akzentsetzungen in der Gestaltung ermöglicht und abverlangt.1 Um es in Anlehnung an Derridas Überlegungen zur Gabe zu sagen: Der Liturg muss die (gestalterische) Verantwortung für ein Geschehen übernehmen, das für ihn letztlich unverfügbar bleibt. Betrachtet man die in der evangelischen Kirche übliche Abendmahlsliturgie,2 so kann man feststellen, dass sich die unterschiedlichen für die Kirchengeschichte prägenden Deutungen, die sich teilweise ergänzen, teilweise aber auch widersprechen, in der Liturgie niedergeschlagen haben.3 Meines Erachtens sollte sich der Liturg bei der Formulierung der von ihm frei zu gestaltenden Liturgiestücke wie etwa den Gebeten um eine Balance bemühen, die für ihn wichtige zentrale Leitmetapher zu unterstreichen, ohne aber die Liturgie in eine derartige Einheitlichkeit zu zwingen, dass sich für die Feiernden nicht mehr unterschiedliche Sinnaspekte des Mahls als für sie in ihren gegenwärtigen Kontexten zentral erschließen können. Die liturgische Gestaltung sollte vielfältige assoziative Anknüpfungspunkte für die Feiernden bieten. 1   Die für den Liturgen verbindliche Agende und das ius liturgicum der Gemeinde setzen seinen Gestaltungsmöglichkeiten natürlich Grenzen, die er aus kirchenrechtlichen Gründen nicht einfach übergehen kann. 2   Vgl. Evangelisches Gottesdienstbuch, 80; Agende I,18. 3   Als Beispiel sei etwa der Friedensgruß genannt, der den ‚Gemeinschaftsaspekt‘ des Abendmahls verstärkt.

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4. Ausblick: Die Gestaltung des Abendmahls in der Gemeinde

In der vorliegenden Arbeit wurde für die Gabemetapher als Zentralmetapher des Abendmahls plädiert. Möglichkeiten, den Gabecharakter des Abendmahls zu unterstreichen, ergeben sich einerseits aufgrund der liturgischen Gestaltungsmöglichkeiten des Abendmahls selbst. So sollte der Liturg die Entscheidung für eine Kommunion im kleineren oder größeren Halbkreis oder für eine Wandelkommunion nicht nur anhand pragmatischer Gesichtspunkte treffen, sondern sich immer auch fragen, welches Arrangement den Gastmahlcharakter des Abendmahls zutage treten lässt und damit auch den gemeinschaftstiftenden und Anerkennung zum Ausdruck bringenden Aspekt eines gemeinsamen Mahls. Zum anderen bin ich der Ansicht, dass die Zulassung von Kindern zum Abendmahl den Gabecharakter des Abendmahls besonders gut vor Augen treten lässt,4 wobei die Verifizierung diese Einschätzung im Rahmen einer praktisch-theologischen Arbeit, die mit qualifizierten Interviews von Gemeindemitgliedern arbeiten könnte, erst noch zu erbringen wäre.5 Grundlage dieser Einschätzung ist folgende Überlegung: Viele Kinder bringen kein detailliertes theologisches Vorwissen über das Abendmahl mit, haben auch keine anderweitigen Vorleistungen erbracht und versinnbildlichen den Erwachsenen von daher, dass die Zuwendung Gottes im Abendmahl eine grundsätzliche ist. Feiern Erwachsene mit Kindern gemeinsam Abendmahl, so könnte dies die Wahrnehmung dafür verstärken, dass jeder Mensch prinzipiell auf unverdiente Zuwendung angewiesen ist, und so den Gabecharakter des Mahls hervortreten lassen.

4.2  Teilnahmevoraussetzungen für das Abendmahl Doch nicht nur zu der Diskussion um die Fragen der liturgischen Gestaltung des Abendmahls kann die Beschäftigung mit der Gabemetapher als Leitmetapher des Abendmahls beitragen, sondern auch zur Frage nach den Teilnahmevoraussetzungen des Mahls. Bereits die Didache betont in ihren Ausführungen zum Abendmahl, dass die Teilnahme getauften Christen vorbehalten sein solle.6 Ähnliche

4

  Auch die Zulassung von Kindern zum Abendmahl ist natürlich nicht die Entscheidung des Liturgen, sondern des Kirchenvorstands, sofern eine Landeskirche den Gemeinden grundsätzlich die Option über eine solche Entscheidung eröffnet hat. 5   Es gibt derzeit zwei Veröffentlichungen, die Statements bzw. Zuschriften von praktizierenden Christen zu ihrem Abendmahlsverständnis auswerten, vgl. Grümbel, Ute, Abendmahl: „Für euch gegeben?“, Erfahrungen und Ansichten von Frauen und Männern; Anfragen an Theologie und Kirche (= AzTh 85), Stuttgart 1997, sowie Sattler, Dorothea / Nüssel, Friederike, Menschenstimmen zu Abendmahl und Eucharistie. Erinnerungen, Anfragen, Erwartungen, Frankfurt / M. / Paderborn 2004. Beide Untersuchungen legen jedoch keinen Fokus auf die Feier des Abendmahls mit Kindern. 6   Vgl. Did 9,5, vgl. Lindemann / Paulsen (Hg.), Die Apostolischen Väter, 14.

4.2  Teilnahmevoraussetzungen für das Abendmahl

249

Anordnungen finden sich auch bei Justin.7 Mit der auf Martin Bucer zurückzuführenden Einführung der Konfirmation im Jahr 1539 geht dann die für die evangelische Kirche lange Zeit maßgebliche Regelung einher, dass sich die Zulassung zum Abendmahl an die Konfirmation bindet.8 Diese Regelung wurde in vielen Gemeinden in den letzten Jahrzehnten intensiv diskutiert und vielerorts aufgegeben zugunsten einer Zulassung von allen Getauften, unabhängig von ihrem Alter. In der Diskussion um das Abendmahl mit Kindern wird theologisch häufig mit Stellung und Funktion der Taufe argumentiert, die in ihrer Bedeutung sachlich nichts durch die Konfirmation hinzugewinne und deshalb durch diese auch keine Beschneidung in der aus ihr resultierenden Rechte erfahren dürfe. Auf dieser Linie liegt etwa die Argumentation von Wilfried Härle: „Wenn die Taufe die zeichenhafte Eingliederung in den ‚Leib Christi‘, also in die Gemeinde ist, zu der alle Menschen berufen sind, und wenn das Abendmahl die zeichenhafte Anteilhabe an dieser Gemeinschaft ist, dann hat die [. . .] Position die stärksten Argumente auf ihrer Seite: Taufe ist Zulassung zum Abendmahl.“9 Der Gegenargumentation zufolge ist ein gewisses theologisches Verständnis von Nöten, um das Abendmahl als Symbolhandlung mit tieferem theologischem Gehalt zu verstehen, weshalb der Konfirmandenunterricht als ‚aufgeschobener Taufunterricht‘ als Voraussetzung für die Teilnahme am Abendmahl angesehen wird. Im Gegensatz zu dieser Auffassung geht der in dieser Arbeit vorgelegte Abendmahlsentwurf davon aus, dass Menschen im Abendmahl einen Impuls erhalten, der als Gabegeschehen beschrieben werden kann und der dann wiederum nachträglich von Menschen durch Deutungen versprachlicht und intellektuell gefasst wird. Die in der Tradition relevanten Deutungen des Abendmahls prägen dabei die eigenen Deutungen von Menschen mit und liefern durch ihre logischen Strukturen Verstehenshilfen, 7   Just 1 Apol, 66, vgl. Justin, der Märtyrer, Erste und zweite Apologie, übers. v. Rauschen, Gerhard, in: Die Apologie des Philosophen Aristides von Athen. Frühchristliche Apologeten und Märtyrerakten Bd. 1, hg. v. Bardenhewer, Otto, Kempten / München 1913, 11 – 101, hier: 80. 8  Vgl. Bucer, Martin, Ordenung der christlichen Kirchenzucht. Für die Kirche im Fürstenthumb Hessen 1539, bearb. v. Jahr, Hannelore, in: Ders., Opera Omnia Bd. 7, hg. v. Stupperich, Robert, Gütersloh 1964, 260 – 278, hier: 264. Christian Grethlein rekonstruiert, dass der Ausschluss der Kinder vom Abendmahl sich um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert vollzog und auf verschiedene Einflüsse zurückzuführen ist. Zum einen habe sich die Auffassung durchgesetzt, dass die Taufe allein zum Heil genüge, und so sei die Zahl der Säuglings- und Kinderkommunionen drastisch zurückgegangen, zum anderen habe die Transsubstantiationslehre die Ehrfurcht vor dem Abendmahl erheblich verstärkt und zu einer Furcht davor geführt, unwürdig zur Kommunion zu gehen. Schließlich macht Grethlein den Einfluss der Scholastik geltend, die das kognitive Element des Glaubens stark betont, was dazu geführt habe, dass bis heute der Gedanke populär sei, für die Teilnahme am Abendmahl sei ein präzises Wissen um seine Bedeutung erforderlich. Die Reformatoren, allen voran Luther, haben zwar gegen die Firmung, die sich als Zulassung zum Abendmahl durchsetzte, polemisiert, andererseits haben sie jedoch auch ein großes Interesse daran gehabt, das Volk religiös zu bilden und eine Möglichkeit dafür in der einer Zulassung zum Abendmahl vorangehenden Unterweisung erblickt, vgl. Grethlein, Christian, Abendmahl – mit Kindern?! Praktischtheologische Überlegungen, in: ZThK 106 (2009), 345 – 370, hier v. a. 355 f. 9   Härle, Dogmatik.

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4. Ausblick: Die Gestaltung des Abendmahls in der Gemeinde

aber nicht mehr. Günter Bader ist zuzustimmen, der hervorhebt, dass das Abendmahl zunächst als Raum zu begreifen ist, der es ermöglicht, eine tiefgreifende religiöse Erfahrung zu machen, wenn er den Primat der Abendmahlsfeier vor jeder Abendmahlslehre postuliert: „Die höchste Realität, die das Abendmahl gewinnen kann, ist die Abendmahlsfeier. Über die Abendmahlsfeier hinaus gibt es keine wirklichere Wirklichkeit von Abendmahl. [. . .] Ihr gegenüber bleiben alle äußeren Betrachtungen, seien sie theologische, philosophische oder soziologische, seien es literaturwissenschaftliche, ikonographische oder musikwissenschaftliche, mehr oder weniger abgeleiteten Ranges.“10

Kinder bis zur Konfirmation nicht zum Abendmahl zuzulassen, bedeutet, sie von einer elementaren religiösen Erfahrung, die das Abendmahl ermöglichen kann, auszuschließen.11 Anders als die Frage, ob bereits Kinder zum Abendmahl zugelassen werden sollten, stellt die Forderung, das Abendmahl müsse getauften Christen vorbehalten bleiben, keinen Diskussionspunkt dar, wohl auch, weil an dieser Stelle in der Praxis bisher kein besonderer Druck verspürt wurde. Verständlich wird die mit dieser Eingrenzung auf die Christen einhergehende Abgrenzung, wenn man sich den Stellenwert des Abendmahl für die Vergemeinschaftung und ‚kollektive Identität‘ der Christen vergegenwärtigt. Dennoch ist zu fragen, ob die Eingrenzung der Abendmahlsgemeinde auf die getauften Christen wirklich sachgemäß ist. Betrachtet man das Narrativ, auf das sich das Selbstverständnis jedes einzelnen Christen und die kollektive Identität der Christen insgesamt gründen, so stellt man fest, dass in ihm die konstitutive Bedeutung der Gott-Mensch-Beziehung für das menschliche Subjekt festgehalten ist, dass gleichzeitig aber mit dem Moment der Abkehr des Menschen von Gott und der Notwendigkeit der einseitigen Restitution der Gott-Mensch-Beziehung durch Gott gerechnet wird, da diese von menschlicher Seite nicht zu leisten ist. Mit anderen Worten: es ist Teil des Selbstverständnisses eines Christen, ein über die eigene Würdigkeit hinaus Empfangender zu sein. In der Abhängigkeit von dem sich erschließenden und ihr Selbstverständnis verändernden göttlichen Impuls unterscheiden sich Christen nicht von Nichtchristen. Insofern wiederstrebt das christliche Narrativ der Abgrenzung der Gruppe in Form der Ausgrenzung von Menschen, auch vom Abendmahl.12 10

  Bader, Abendmahlsfeier, 1.   Aus pädagogischer Perspektive ist ein solcher Ausschluss nach Grethlein überaus unglücklich, weil vor allem kleine Kinder durch Imitation lernten, und zwar am besten ‚am Modell‘, das sie verinnerlichten und zu einem späteren Zeitpunkt dann zur Grundlage ihrer Reflexion machen könnten. Zu einem solchen modellhaften Lernen eigne sich das Abendmahl ganz hervorragend. Die Pubertät hingegen sei entwicklungspsychologisch durch den Wunsch der Abgrenzung gegenüber der Erwachsenenwelt geprägt und damit wenig geeignet, einen bisher für die Erwachsenen vorbehaltenen Ritus einzuführen, vgl. Grethlein, Abendmahl, 362 f. 12   Hartmut Rosa und seine Mitautoren weisen in ihrem Band „Theorien der Gemeinschaft zur Einführung“ unter Bezug auf das Œuvre von Bernhard Waldenfels darauf hin, dass Gemeinschaf11

4.2  Teilnahmevoraussetzungen für das Abendmahl

251

In der Metaphorik des Abendmahls ist es das sich abzeichnende Bild Gottes als eines ‚absoluten Gastgebers‘, das kirchlichen Zulassungsbedingungen zum Abendmahl zuwiderläuft. Wie oben ausgeführt, wird das ‚Bild des Gastgebers‘ durch das Abendmahl noch einmal transzendiert, lässt doch das Wissen um Gottes Heilshandeln am Kreuz und in der Auferweckung Gott im Abendmahl als einen Gastgeber erscheinen, der auch den sündigen, widergöttlichen Menschen empfängt, um die Folgen der Verfehlung, die zwischen Gott und Mensch steht, zu überwinden. Insofern spiegelt sich in der Metaphorik des Abendmahls die Universalität des göttlichen Heilshandelns, die eine Vorgabe des menschlichen Daseins darstellt, unabhängig davon, ob ein Mensch sich deren Bedeutung für sein eigenes Leben bewusst wird. Die Einschränkung der Abendmahlsteilnahme verdeckt diesen Zusammenhang ein Stück weit. Da die Feier des Abendmahls aus protestantischer Perspektive immer ein Zusammenkommen der christlichen Gemeinde voraussetzt, wird die Funktion, die das Abendmahl für die Vergegenwärtigung der eigenen Identität als Christen hat, nicht dadurch geschmälert, dass man auch ungetaufte oder andersgläubige Menschen am Abendmahl teilnehmen lässt.13 Voraussetzung dafür ist jedoch, dass ihre Motivation, am Abendmahl teilzunehmen, aus einer Offenheit für den grundlegenden Sinn resultiert, der sich ihnen durch das Mahl erschließen kann. Bedenkt man, dass das Abendmahl für Menschen zu einem wirkmächtigen Ereignis werden kann, so ist es durchaus denkbar, dass die Teilnahme an der Abendmahlsfeier ein erster Schritt hin zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Christentum sein kann, bis hin zu dem Wunsch, sich taufen zu lassen.

ten, in dem Moment, in dem sie sich (etwa durch den Bezug auf ein bestimmtes Narrativ) konstituieren, notwendigerweise eine Grenzziehung vollziehen, vgl. Gertenbach, Lars / Laux, Henning / Rosa, Hartmut / Strecker, David, Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, Hamburg 2010. Diese gehöre zum eigenen Selbstverstehen und dem Definieren des eigenen Selbst notwendig dazu. Waldenfels betone, so Rosa, dass ‚das Fremde‘ ein relationale Größe sei, weil es immer in Beziehung zu dem stehe, was als ‚das Eigene‘ verstanden werde: „In Bezug auf Gemeinschaften bedeutet dies, dass diese konträr zum jeweils Eigenen das Fremde bzw. ihr Fremdes erzeugen [. . .].“, Ders., Theorien, 78. Waldenfels mache aber auch deutlich, dass es bei der Art der Grenzziehung eine Bandbreite von Gestaltungsspielräumen gebe. Im Hinblick auf das Abendmahl besteht meines Erachtens diese mögliche Bandbreite darin, die Taufe als vorgeschaltetes Bekenntnis für die Teilnahme als obligatorisch zu betrachten oder aber Menschen, die sich in einem Annäherungsprozess an das Christentum befinden, die Teilnahme am Abendmahl als eine Art ‚Probehandlung‘ zu gestatten unter der Prämisse, dass das Abendmahl selbst Einfluss auf diesen Annäherungsprozess haben wird. 13   Die Begrenzung des Abendmahls auf getaufte Christen wird in der Regel mit dem Verweis auf 1. Kor 11,27 begründet, doch der unwürdige Genuss des Abendmahls von dem hier gesprochen wird, bezieht sich gerade nicht auf mögliche ‚Ungläubige‘, sondern auf das ganz konkrete Verhalten der getauften Christen in Korinth, bzw. ihr unsoziales Verhalten, das sich darin äußerte, das die Gemeinde beim Sättigungsmahl, das das sakramentale Mahl rahmte, nicht teilte, sondern in arm und reich zerfiel. Durch dieses Verhalten konterkarierte die Gemeinde die Gemeinschaft, die sich aus der Zugehörigkeit zu Christus ergibt, und missachtete die unhintergehbare Würde, die jedem Menschen durch die göttliche Zuwendung zuteilwird, vgl. Theissen, Erleben und Verhalten, 373.

Schlussbetrachtung Ziel der vorliegenden Arbeit war es, die in Theologie und Kirche häufig anzutreffende Interpretation des Abendmahls als Gabe durch den Rückgriff auf die Ergebnisse des soziologisch-philosophischen Gabediskurses zu präzisieren. Dieser erscheint jedoch auf den ersten Blick heterogen und stark durch die aufgebaute Frontstellung zwischen ‚reiner Gabe‘ und ‚wechselseitiger Gabe‘ bestimmt zu sein. Durch die im ersten Teil der Arbeit vorgenommene Untergliederung des in der Soziologie und Philosophie geführten Diskurses in Unterdiskurse konnte zum einen gezeigt werden, dass die auf den ersten Blick unversöhnlichen Differenzen innerhalb des Diskurses auf den Einfluss unterschiedlicher Referenzautoren und unterschiedliche Fragestellungen zurückgeführt werden können. Es konnte ferner deutlich gemacht werden, inwiefern sich die Antipoden innerhalb des Diskurses wechselseitig beeinflusst und inhaltlich angetrieben haben. So erscheint es plausibel, dass sich die im ersten Teil der Arbeit dargestellten Mauss-Interpreten auch durch die Auseinandersetzung mit der radikalen Position Derridas vermehrt der Frage nach dem unverrechenbaren Moment innerhalb des Gabentauschs zugewandt haben. Die Aufteilung des Diskurses ermöglichte es schließlich, die in den jeweiligen Unterdiskursen als Proprium der Gabe herausgestellten Charakteristika als wechselseitige Ergänzung zu begreifen. Als Ergebnis der Auseinandersetzung mit dem Gabediskurs wurde bei der Interpretation des Abendmahls das folgende, besonders von der Gabetheorie von Ingolf U. Dalferth beeinflusste, Verständnis von ‚Gabe‘ zugrunde gelegt: Für die Einstufung von etwas Gegebenem als Gabe ist entscheidend, wie es vom Empfänger aufgenommen wird, bzw. was die Gabe im Empfänger auslöst. Gaben stellen entscheidende Faktoren für den sozial angestoßenen Prozess der menschlichen Identitätsbildung dar. Dabei spielt das materielle Objekt, das gegeben wird, nur eine untergeordnete Rolle, da es letztlich nur Kommunikationsmedium ist. Entscheidend ist, dass sich der Geber durch die Gabe zum Empfänger in Beziehung setzt und ihm gegenüber Anerkennung zum Ausdruck bringt. Der positive äußere Impuls, den die Gabe darstellt, kann beim Empfänger einen Prozess der Selbstreflexion auslösen. Zudem versetzt die Gabe den Empfänger in einen Zustand ‚aktivierender Passivität‘. Im Moment des Beschenktwerdens ist er passiv, die Gabe ist jedoch zugleich ein Appell an den Empfänger, aktiv auf sie zu reagieren. Durch eine Gabe bekommt der Empfänger neue Möglichkeiten zugespielt, die in der Möglichkeit zu reagieren bestehen können, aber auch aus dem resultie-

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Schlussbetrachtung

ren können, was gegeben wird. Gerade der Aspekt, dass eine Gabe Anerkennung transportiert, lässt sie, sofern sie wechselseitig gegeben wird, zu einem wichtigen Faktor im Prozess menschlicher Vergemeinschaftung werden. Von einer Gabe, die auf den Aufbau von Gemeinschaft zielt, ist eine ethische Form der Gabe zu unterscheiden. Für sie ist charakteristisch, dass der Geber sich durch den Anspruch eines anderen Menschen auf Zuwendung und Hilfe in die Verantwortung rufen lässt und mit seinem Geben auf den Anspruch des Anderen reagiert. Die Bedeutung der Gabe für die menschliche Identität legitimiert eine Ausdehnung des Begriffs auf Bereiche, in denen kein materieller Gegenstand gegeben wird bzw. in dem kein Geber mit der Intention zu geben vorhanden ist. Voraussetzung dafür ist, dass die Situation, die als Gabe charakterisiert wird, einen eröffnenden Charakter für einen Menschen hat und dieser sich als Empfänger von etwas begreift, das ihm zugeeignet wurde. Solche ‚Gaben‘ wurden in der vorliegenden Arbeit mit dem Begriff der ‚indirekten Gabe‘ belegt. Schließlich ist das unverfügbare Moment einer Gabe zu unterstreichen, das darin besteht, dass ein Geber durch sein aktives Verhalten nicht sicherstellen kann, dass sein Geschenk die eröffnende Wirkung entfaltet, die es als Gabe qualifiziert. Nach der Sichtung des soziologisch-philosophischen Gabediskurses schloss sich in der vorgelegten Arbeit die Darstellung und Bewertung der von Seiten der Theologie bereits geleisteten Rezeption des Gabediskurses im Hinblick auf das Abendmahl an. Dabei konnte gezeigt werden, dass die mit dem Thema befassten Theologinnen und Theologen den soziologisch-philosophischen Gabediskurs mit vier klassischen Fragestellungen in Bezug auf das Abendmahl in Verbindung bringen. 1. Vor allem katholische Theologinnen und Theologen versuchen, durch die Rezeption von Theorien zur ‚wechselseitigen Gabe‘ die in der katholischen Messe enthaltenen, von Luther aber konsequent eliminierten anabatischen Passagen der Liturgie zu legitimieren. 2. Durch den Rückgriff auf Theorien zur Gabe wird in der theologischen Rezeption die in der Alten Kirche durchaus präsente, aber im Laufe der Kirchengeschichte phasenweise in den Hintergrund getretene Erkenntnis unterstrichen, dass das Abendmahl auf einen Wandel der Feiernden hinzielt. 3. Durch den Zusammenhang, den Heidegger, Derrida und Marion zwischen Gabe und Entzug herstellen, lassen sich Theologen in ihrer Interpretation der Rede von der ‚Präsenz Christi im Abendmahl‘ inspirieren. Obgleich die Interpretationen in diesem Bereich recht unterschiedlich ausfallen, ist ihnen doch gemeinsam, dass sie die Präsenz Christi als ein sich den Gläubigen erschließendes, sich für sie ereignendes Geschehen begreifen, das die Feiernden innerlich bewegt. 4. Schließlich wird in der Rezeption des Gabediskurses die Vorrangstellung des Wortes vor der Handlung, die vor allem Luther in seiner Abendmahlstheologie vertritt, relativiert und die Notwendigkeit beider Momente betont. Nach der Darstellung der theologischen Rezeption des Gabediskurses wurde ein eigener Interpretationsentwurf des Abendmahls als Gabegeschehen vorgenommen. Außer der Frage nach einer möglichen Legitimation von anabatischen

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Momenten in der Abendmahlsliturgie nimmt dieser Entwurf alle in der theologischen Rezeption des Gabediskurses bearbeiteten Fragestellungen auf und setzt eigene Schwerpunkte. So wird die Ansicht geteilt, dass Wort und Handlung als gleichberechtigt für das Sich-Erschließen der göttlichen Präsenz im Abendmahl zu betrachten sind, und es wird darüber hinaus geltend gemacht, dass auch die sozialen Implikationen des ‚in Szene gesetzten Gastmahls‘ an der metaphorischen Erschließung des göttlichen Heils Anteil haben. Den Philosophen Marion und Derrida folgend, die aus jeweils eigenen Gründen den Präsenzgedanken meiden, aber menschliche Erfahrungen des Bewegtwerdens mit dem Begriff des Ereignisses belegt haben, wurde der Versuch unternommen, das Abendmahl als ein ‚starkes‘ Ereignis zu interpretieren. Schließlich wurde über die Veränderung, die das Abendmahl in den Feiernden auslöst, nachgedacht und dies mit der klassischen Lehre des Abendmahls als ‚Feier zur Vergebung der Sünden‘ verbunden. Dabei wurde Dalferths Charakterisierung, dass es sich bei Gaben um die Eröffnung von Möglichkeiten handelt, im Hinblick auf das Abendmahl konkretisiert. Die im dritten Teil der Arbeit herausgearbeiteten Thesen sollen im Folgenden noch einmal kurz umrissen werden: 1.  Eine Prämisse des Kapitels „Das Abendmahl als Gabe – ein Entwurf “ ist, dass das an und für sich unverfügbare Gabegeschehen des Sich-zu-erkennen-Geben Gottes durch die Metaphorik des Abendmahls angestoßen wird. Basierend auf Eberhard Jüngels Ausführungen zu Metaphern sowie der kognitiven Metapherntheorie von George Lakoff und Marc Johnson, wird davon ausgegangen, dass Metaphern wirklichkeitserschließend sind. Dabei ist impliziert, dass die Wirklichkeit einem Menschen immer nur als gedeutete Wirklichkeit zugänglich ist. Metaphern bündeln und strukturieren solche Deutungen. Dementsprechend können ungewohnte Metaphorisierungen zu Wahrnehmungsverschiebungen führen und damit Wirklichkeit erschließen. Eberhard Jüngel, der in seiner Metapherntheorie anders als George Lakoff und Marc Johnson nicht die Struktur des menschlichen Denkens untersucht, sondern sich ganz traditionell auf das konkrete Sprachspiel konzentriert, hebt hervor, dass der Spannung, die durch eine dem Wortfeld des Subjekts fremde Prädikation entsteht, hermeneutische Bedeutung zukommt. Vor diesem Hintergrund vertritt die vorliegende Arbeit die These, dass nicht nur den Einsetzungsworten als sprachlich gefassten Metaphern, sondern auch dem Ritus des Gastmahls als ganzem wirklichkeitserschließende Bedeutung zukommt. Auch im Hinblick auf das rituell inszenierte Gastmahl lässt sich im Abendmahl eine Spannung von hermeneutischer Bedeutung feststellen. Diese Spannung wird sichtbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die in einem Gastmahl angebotene und vollzogene Gastfreundschaft normalerweise nicht vorbehaltlos jedem Fremden angeboten wird, sondern nur demjenigen, den der Gastgeber seiner Freundschaft als würdig empfindet bzw. bei dem er ein Interesse an einem dauerhaften Bündnis hat. Im Abendmahl wird den Feiernden im Ritus jedoch nicht nur die Rolle der Gäste zugewiesen, sondern sie werden auch zur Identifikation mit den Jün-

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gern Jesu in der Situation des letzten Mahls ermutigt. Diese Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Jünger Jesus in Bälde verrät und die anderen angesichts der äußeren Bedrohung nicht zu ihm stehen können. Aus diesen zwei Aspekten ergibt sich ein spannungsvolles Rollenangebot an die Feiernden der Ritual­ inszenierung: nämlich die Rolle des eigentlich unwürdigen und dennoch geladenen Gastes. Dieser Rollenzuschreibung entspricht, dass die traditionelle Rolle des Gastgebers im Abendmahl transzendiert wird. Gott erscheint im Abendmahl als Gastgeber, der seiner Gastfreundschaft keine Grenzen errichtet. In der vorliegenden Arbeit wurde eine solche Gastfreundschaft unter Rückgriff auf Derridas Überlegungen zur Gastfreundschaft als „absolute Gastfreundschaft“ qualifiziert. Für die Feiernden des Abendmahls, die mit der christlichen Auslegungstradition des Geschicks Jesu vertraut sind, ergibt diese absolute Gastfreundschaft einen Verweisungszusammenhang auf das Ostergeschehen, an dem sich nach christlichem Bekenntnis verdeutlicht, dass Gott sich auch durch widergöttliche Impulse nicht von seinem Willen zur Gemeinschaft mit den Menschen abbringen lässt. Neben der dargestellten Bedeutung des inszenierten Gastmahls für die Gesamtmetaphorik des Abendmahls kommt ihm eine weitere Rolle im Ritus zu. Als klassische Gabehandlung hat das Gastmahl performativen Charakter: Anerkennung wird in ihm konkret vollzogen, Gemeinschaft aufgerichtet. 2. Nach Dalferth wird eine Gabe vor allem dadurch zur Gabe, dass sie für den Empfänger neue Möglichkeiten eröffnet. Dementsprechend muss bei der Interpretation des Abendmahls als Gabegeschehen, in dem das Sich-selbst-zuerkennen-Geben Gottes als zentrale Gabe betrachtet wird, dargelegt werden, worin die sich eröffnende Möglichkeit für die Feiernden besteht. Zusammenfassend lässt sich diese als Eröffnung ‚christlicher Freiheit‘ gegenüber den eigenen Selbst- und Lebensentwürfen beschreiben. Fußend auf der Identitätstheorie von Heiner Keupp, aber auch dem Menschenbild von Søren Kierkegaard wird in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass der Mensch sich in von Keupp so betitelten „Identitätsprojekten“ permanent selbst entwirft und sein Leben diesen Projekten gemäß zu gestalten versucht.1 Die eigene Selbstakzeptanz hängt nach Keupp maßgeblich davon ab, ob ein Mensch seine „Identitätsprojekte“ verwirklichen kann oder nicht und welches Feedback er von seiner Umwelt erhält. Übergeordnete „Identitätsziele“ sind nach Keupp vor allem die Anerkennung durch Andere, die Selbstbestätigung durch die Möglichkeit, autonom zu entscheiden und die eigene Befriedigung durch die Möglichkeit eigenen Gestaltens und Erschaffens. Søren Kierkegaard geht in seiner Schrift „Die Krankheit zum Tode“ ebenfalls von der Notwendigkeit von „Identitätsprojekten“ des Menschen aus, sieht aber anders als Keupp die Gefahr, dass ein Mensch sich selbst mit einem seiner „Identitätsprojekte“ verwechselt bzw. sich vollständig auf ein Identitätsprojekt festlegt. Ein Selbstverständnis, welches das Selbst noch einmal von seinen Identitätsprojekten 1

  Begriff stammt von Keupp, vgl dazu die Ausführungen in Kap. C.1.3.2.3

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zu unterscheiden vermag, ist nach Kierkegaard nur durch relationale Bezugnahme zu gewinnen, und zwar durch die Bezugnahme auf die Macht, die das Selbst als Selbst gesetzt hat. In der vorliegenden Arbeit wird die These vertreten, dass dem Feiernden durch den Ritus des Gastmahls, in dem auch dem eigentlich unwürdigen Gast die Anerkennung Gottes zuteilwird, ein Bejahtsein durch Gott zum Bewusstsein kommen kann, das zwischen ihm als Person und seinem Tun unterscheidet, und dass dieses Bewusstsein dem Gläubigen wiederum die Möglichkeit eröffnet, dieselbe Unterscheidung im Hinblick auf die eigene Person zu vollziehen und zwischen sich und den eigenen Identitätsprojekten zu unterscheiden. Was dies für den einzelnen Teilnehmer am Abendmahl genau beinhaltet, hängt von seiner spezifischen Lebenssituation ab. Welche Gestalt die eröffnete Möglichkeit zur Selbstdistanzierung und Selbstannahme annimmt, kann vielfältig sein. Vor allem kann sie auch zu einem konstruktiven Umgang mit eigener Schuld führen. 3. Zu den durch die Gabe des Abendmahls eröffneten Möglichkeiten wird im dritten Teil der Arbeit auch die Gemeinschaft der Gläubigen untereinander gezählt. Grund der Vergemeinschaftung der Christen ist die von ihnen geteilte, ihr Leben strukturierende Erfahrung der Selbstoffenbarung Gottes als eine ihnen zugeeignete Gabe sowie der Bezug auf das christliche Narrativ, das diese Erfahrung zu versprachlichen versucht. Die Tatsache, dass es zur Vergemeinschaftung kommt, unterliegt nicht dem Willen der Gläubigen, sondern sie finden sich vielmehr in der Gemeinschaft vor, sobald sie zum Glauben kommen. Die Gestaltung der Gemeinschaft hingegen ist eine sich ihnen eröffnende Möglichkeit. Bei der Gestaltung der Gemeinschaft bzw. bei ihrem Vollzug ist zu unterscheiden zwischen der eröffneten Möglichkeit, sich im Dialog über den eigenen Glauben zu verständigen, und der Möglichkeit, den eigenen Glauben durch Worte und Handlungen nach außen zu tragen. In der christlichen Reflexion über das Abendmahl liegt der Fokus seit Paulus auf dem letztgenannten Aspekt, und es wird erwartet, dass der Teilnahme am Abendmahl ein bestimmtes Sozialverhalten entspricht. 4. Versteht man wie Dalferth eine Gabe als Zueignung, die Möglichkeiten eröffnet, und interpretiert man das Abendmahl in diesem Sinne als Gabe, so ist damit zugleich gesagt, dass das Abendmahl nicht nur ein Bekenntnisakt des eigenen Glaubens sein kann und dass es nicht nur den Inhalt des Glaubens vergegenwärtigend erinnert. Mit der Interpretation der Gabe als Eröffnung ist zugleich ausgedrückt, dass mit der Gabe etwas Neues initiiert wird. Interpretiert man das Abendmahl als Gabe in diesem Sinne, so interpretiert man es zugleich als wirkmächtiges Geschehen. In der vorliegenden Arbeit wird die These vertreten, dass durch den Begriff des Ereignisses, wie er von Jacques Derrida, aber auch Jean-Luc Marion gebraucht wird, die Wirkmächtigkeit des Abendmahls genauer beschrieben werden kann. Ausgangspunkt der These sind auch die Überlegungen von Thomas Khurana zum Ereignisbegriff bei Derrida. Khurana hebt hervor, dass bei jedem Ereignis neuartige Momente und Wiederholungsmomente gleichermaßen vorhanden sind. Bestünde ein Ereignis nur aus Neuem, so stünde es beziehungslos

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neben den Abläufen, die es rahmen. Das Gefühl, dass es sich bei einem Geschehen um ein ‚starkes‘, das eigene Erleben bestimmendes Ereignis handelt, resultiere daraus, dass ein ‚starkes‘ Ereignis die Funktion eines Exemplums übernehme und andere Geschehnisse, die ihm zugeordnet werden können, strukturiere. In diesem Sinne wird in der vorliegenden Arbeit das Gabegeschehen, zu dem es im Rahmen des Abendmahls kommen kann, als ein starkes Ereignis bewertet. Das Sichin-Beziehung-Setzen Gottes zum Menschen und die darin zum Ausdruck kommende Anerkennung des Menschen seinem Sünder-Sein zum Trotz strukturiert insofern das Selbstverständnis des Menschen neu, als es seine eigenen Bemühungen um Selbstverwirklichung in ihrer Bedeutung relativiert. Hierdurch entsteht die spezielle Struktur eines christlich geprägten Selbstbewusstseins. Wie bereits in der Einleitung dargestellt, ist die Interpretation des Abendmahls als Gabe nur eine von mehreren teils miteinander konkurrierenden, teils einander ergänzenden Interpretationen des Abendmahls. Nach der Betrachtung des soziologisch-philosophischen Gabediskurses, der Darstellung seiner theologischen Rezeption im Hinblick auf das Abendmahl und einem eigenen Interpretationsversuch stellt sich abschließend die Frage, worin das Proprium dieser Interpretation besteht. Meines Erachtens betont einzig die Interpretation des Abendmahls als Gabe seine Wirkmächtigkeit. Wenn das Abendmahl als Gabe verstanden wird, handelt es sich um eine Zueignung, die die Feiernden im Moment der Feier verändert, ihnen neue Möglichkeiten zuspielt. Zudem lenkt eine solche Interpretation den Blick auf die Bedeutung des Abendmahls für das Selbstverstehen eines Christen und macht deutlich, dass es für den Gläubigen je neu des Impulses von außen bedarf, um seine „Identitätsarbeit“ mit Gott in Beziehung zu setzen und zu erkennen, dass er sein Selbst nur über den Gottesbezug findet. Das Abendmahl als Gabegeschehen zu interpretieren, liegt insofern nah, als der Ritus selbst ein Gabegeschehen darstellt. Im Lauf der Untersuchung stellte sich mir jedoch mehrfach die Frage, ob nicht auch die Taufe als Gabe-Ereignis zu interpretieren ist, d. h. ob der Gabecharakter nicht generell als entscheidendes Moment der Sakramente anzusehen ist. Ricœur reflektiert über den von den Eltern empfangenen Namen als ‚Vor-Gabe‘ eines menschlichen Lebens,2 für die in besonderem Maße das von Derrida hervorgehobene Kriterium eines Ereignisses zutrifft, dass ein Mensch sich immer wieder an ihm abarbeitet, ohne mit ihm jemals an ein Ende zu kommen. Die Reflexionen der beiden Philosophen aufzunehmen, sie mit der Taufe als einer ‚Taufe im Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes‘ als einer Unterstellung des Täuflings unter den Namen Gottes zu verbinden und eine Sakramentenlehre auszuarbeiten, die diese als Möglichkeiten eröffnende Gaben interpretiert, könnte eine Perspektive weiterer Forschungsarbeit sein. 2

  Ricœur, WdA, 242.

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Hainz, J.  241 ff. Härle, W.  7, 197, 216, 249 Hartenstein, J.  169 ff., 210 Heidegger, M.  4 f., 10, 43 f., 44 – 49, 52 f., 65, 67, 69, 71, 73, 78, 80 – 82, 86, 99 f., 103, 109, 114, 145, 147, 149, 160 f., 196, 217, 254 Hénaff, M.  5, 12, 23, 26 – 31, 34, 36, 37, 38, 43, 103, 105, 120, 121, 124, 126, 157, 180 Herms, E.  197, 244 Hoffmann, V.  5, 13, 26, 38, 42, 113 f., 121 – 127, 157 – 159, 167, 182, 188, 215 f. Hofius, O.  171 ff. Holm, B. K.  182 – 186, 189 f. Honneth, A.  32, 38 – 42 Husserl, E.  50 – 53, 56, 84 Janicaud, D.  59 Johnson, M.  2 f., 207 f., 212, 217, 255 Jüngel, E.  122 f., 205 – 207, 209, 255 Kant, I.  52, 56 ff., 100, 239 Keupp, H.  167, 199 f., 238, 256 Khurana, Th.  77, 79, 82, 221 – 223, 257 Kierkegaard, S.  7, 72, 98, 100, 231 – 238, 256 ff. Korsch, D.  168, 173, 178, 190, 192 – 194, 195, 226 ff. Lakoff, G.  2 f., 207 f., 212, 217, 255 Lange, D.  227 Leppin, V.  160, 230 Lévinas, E.  4 f., 38, 58, 69, 75 f., 83, 89, 90 – 97, 99 f., 101, 103, 106, 108, 114, 142 f., 145, 194, 196, 199, 204 Lévi-Strauss, C.  3, 12, 18, 33, 79 Levy, Z.  76 Liebsch, B.  4, 42, 105, 107 Löhr, H.  168 f., 171 f. Luther, M.  2, 31, 149, 154, 157, 162 f., 168, 174 – 190, 190 ff., 194 ff., 207, 213, 230 f., 244 f., 249, 254

270

Personenregister

Malinowski, B.  11, 16 Marion, J.‑L.  4 f., 10, 43 f., 49 – 67, 80 – 82, 84 f., 86, 103, 106 f., 109, 113, 114, 141 ff., 144 – 149, 160 f., 174, 195, 217 – 219, 254 f., 257 Mauss, M.  3 ff., 9 f., 11 f., 13 – 16, 17, 18, 20 ff., 26 ff., 34, 36, 62 f., 68 f., 72, 79, 84, 103 ff., 107 f., 114, 117 f., 120, 126, 131, 136 f., 140, 157, 163, 180, 183, 140, 157, 163, 180, 196, 201, 214, 241, 253 Moebius, S.  11 Moxter, M.  241 f., 244 Patočka, J.  98 ff. Pirktina, L.  47 f. Power, D. N.  113, 131 f., 141 – 144, 157, 159 – 161, 163 Ricoeur, P.  12, 26, 27, 31 – 38, 42, 103, 106, 107, 124, 126, 128, 157, 180, 206, 258 Ringleben, J.  178 f. Röhser, G.  211 Saarinen, R.  183, 186 – 189

Sahlins, M. D.  183, 189 Scheiber, K.  239 Schottroff, L.  113 f., 127 – 132, 158 f., 163, 209, 211 Schröter, J.  168 – 173, 181, 210, 213, 229 Schwarz, R.  162 Senenca  9, 30 Slenczka, N.  146, 168, 175, 180, 190 – 192, 194 f., 212 von Soosten, J.  175, 182 Standhartinger, A.  211 f. Stoellger, Ph.  114, 150 – 155, 160 – 163, 208 f., 212 f. Tietz, C.  235 f. Tillich, P.  236 Waldenfels, B.  82 – 84, 86, 106, 114, 131, 142, 150, 153, 160, 218, 250 f. Wansing, R.  47 f. Weiner, A.  13, 150 Weinrich, H.  3, 126, 260 Wohlmuth, J.  81, 114 f. Wolter, M.  229 f.

Sachregister Abendmahl  1 ff., 6 f., 113 passim Anabatisch  113, 118 f., 123 f., 157 f., 254 der Andere  58, 90 – 97, 98, 149 Anerkennung  12 f., 19, 27, 30, 31 – 37, 37 – 42, 103 ff., 108, 121 f., 125 f., 189, 184, 190, 196, 200, 213 f., 223, 225, 228, 235, 238 f., 248, 253 f., 256 ff. Antlitz  58, 91, 95 Aporie  62 f., 69, 106 Appell  28, 34 f., 92, 98, 124, 253 Arnolshainer Thesen  1 Auferweckung  173, 202 ff., 211, 216, 223, 225 – 228, 251 Beobachterperspektive  17, 19, 34, 63, 106 f. Brot  1, 119, 123, 126, 128, 130, 135, 143, 147, 154, 160, 162 f., 171, 174, 192, 210, 212 Bündnis  25, 27, 103 f., 255 Dankbarkeit  9, 35, 80, 124, 132, 189 Donation  49 – 63, 67 Einsetzungsworte  119, 132, 137 f., 169, 170 f., 174, 177, 179 ff., 190, 192, 193, 208 – 212, 213, 216 Elemente  2, 113 f., 132, 143, 146, 149, 160 f., 162 f., 169 ff., 174, 175, 177, 179 f., 181, 192, 194, 208 ff. Entstehung des Abendmahls  155, 172 f., 228 Entzug  10, 46, 48, 80 f., 84, 106, 109, 154, 160 f., 254 (vgl. auch: Spur, Nachträglichkeit) Empfangen  9, 85 f., 107, 110, 119 f., 121 f., 124, 131 f., 158, 159, 185, 187 f., 193 f., 202 f., 219 Empfänger  16, 18, 22, 28, 34, 43 f., 48, 53 f., 58 ff., 63 ff., 66, 68, 70, 77, 83, 85 f., 104 – 107, 108 f., 142 f., 144, 152, 158, 160, 187 f., 192, 195 f., 201 ff., 217, 219 f., 225, 253 f., 256

Ereignis  4 ff., 43, 44, 47 ff., 51, 53, 55 f., 76 ff., 80 ff., 86, 109, 150 – 155, 181 f., 202 f., 205, 217 – 223, 238, 242, 251, 255, 257 f. exemplum  222 f., 245 Exzessivität  55, 80, 81, 106, 215 Fait social total  14, 31, 37, 137, 150 Feier  133, 163 Fest  36, 131, 136 f. Friedensgruß  240 Gabe passim – Gabentausch  6, 11, 13 – 16, 18, 27 f., 35 f., 68, 84, 104 ff., 108, 117 f., 127, 130 f., 141 f., 144, 150 f., 157, 180, 201 (vgl. Teil A1 insgesamt) – Gegengabe  9, 13 – 16, 18 f., 23, 28 f., 33 ff., 64, 69, 70, 72, 74, 79, 83, 89, 104 ff., 118 ff., 124, 157 ff., 184, 189 (vgl. Teil A1 insgesamt) – einseitige Gabe  29 f., 43, 103 – wechselseitige Gabe  19, 33, 35 ff., 103, 123, 136, 189 f., 215 f. – reine Gabe  27, 30, 43, 114 Gedächtnismahl  7, 154 Gastfreundschaft  14, 24, 214 f., 255 Gegenseitigkeit  33 f., 79, 215 Gemeinschaft – durch die Gabe vermittelte Gemeinschaft  21, 24, 25, 37, 42, 92, 104, 109, 196, 201, 213 f., 254 (vgl. Teil A1 insgesamt) – Gemeinschaft mit Gott  122 f., 125, 181, 187, 190, 213 f., 227, 230, 256 (vgl. auch: Sünde, Vergebung) – Gemeinschaft unter den Gläubigen  169, 177, 193, 213 f., 222, 240, 241 – 245, 251, 257 Gemeinschaftsmahl  2, 173, 177, 241, 244 Gesättigtes Phänomen  56 f. Gottesbeziehung  121, 159, 167, 170, 204, 205, 212, 230 f.

272

Sachregister

Handlung  6, 134 f., 151 ff., 171, 174, 181, 194, 197 f., 105, 209, 210, 212 – 214, 254 f. Hau  12, 16, 36, 114, 136 Hermeneutik  85 f., 107 – hermeneutische Spannung  207, 209 – hermeneutische Arbeit  277 – hermeneutisches Phänomen  84 f. Identität  32, 37, 38, 41, 62, 65, 85, 93, 94, 96, 104, 118, 168, 180, 190 ff., 199, 233, 236, 254 – Identitätsarbeit  7, 167, 199 ff., 201, 258 – Identitätskonstruktionen  193, 199 ff. – Identitätsbildung  41, 85, 199, 253 – Kollektive Identität  243, 250 Idol  57, 145 ff., 161 Ikone  145 f., 161 Intention  20, 23, 44, 56 ff., 61, 63, 69, 71, 79, 81, 86, 101, 105, 106, 109, 150 – 152, 155, 181, 187, 202 Jünger  173, 191, 213, 225 – 228, 242, 256, 151 ff. katabatisch  113, 123 f., 126, 157 f. Kreuz  1, 6, 124, 152, 202, 204, 205, 215, 216, 217, 223, 227 f., 235, 244, 251 Kommunikation  23, 25, 28, 103, 107, 108, 109, 126, 139, 150 f., 180, 181 – Kommunikationsmedium  136, 196, 253 Kontingenz  54, 151, 182 Kula  14 f. Leib  1, 119, 135, 148, 159, 169, 170, 171, 177, 210, 242, 244, 249 – σῶμα  171, 209 f., 243 Leuenberger Konkordie  1, 208 Liturgie  119 f., 123, 125, 133 – 136, 139 f., 142, 148, 157 f., 247 – Λειτουργία  134 Metapher  1 ff., 126, 135 ff., 150, 152 ff., 162 f., 205 – 213, 215 ff., 247 f., 255 – Handlungsmetapher  153, 212 Möglichkeit  107, 109, 197 – „unmögliche Möglichkeit“  11, 67 f., 77, 84, 105 – Eröffnung von Möglichkeiten  7, 86, 87, 107 ff., 181, 196 ff., 200 ff., 208, 225 f., 228, 236, 239, 242, 253, 255 – 258

Nachträglichkeit  73, 75, 161 Offenbarung  59 f., 90, 129, 143, 202, 235 Ordnung  68, 77, 83, 150 ff. Ökonomie  4, 20, 26, 31, 67, 68, 70 ff., 98, 101, 113, 114 f., 120, 121, 127, 130, 142, 157 f. Opfer  13, 22 ff., 27 ff., 100 f., 115, 121, 123 ff., 136, 138 f., 170, 211 Ostern  152, 194, 215, 225 f. Paradox  48, 50, 60, 71 Passahfest  169 f., 172, 210 Passivität  61, 75, 78, 82, 86, 152, 183, 186, 188, 196, 219, 253 Phänomenologie  49 – 67, 151, 206 Performativität / performativ  126, 214, 247, 256 Potlatsch  15 Präsenz  48, 52, 72, 78, 113 f., 127, 143, 149, 150, 154, 160 f., 162 f., 173, 174, 175, 179 f., 190 ff., 218, 243 f. – Realpräsenz  154, 175, 179 f., 191 f. Rechtfertigung  13, 121 f., 180, 182 – 190, 215, 216 Reduktion  50 ff., 62 ff., 107 Rezeptivität  78 Ritus  27, 126, 132, 167, 180, 190, 194 f., 201, 205, 217, 226, 235, 247, 255 ff. Schrift  74 f., 220 Schuld  7, 16, 65, 66, 69, 80, 86, 104, 193 f., 216, 239 f., 257 Selbstannahme  236, 257 Selbstbild  40, 70, 108, 194, 199 f., 203, 230, 238 Selbstdeutung  7, 86, 107, 178 f., 196, 228, 229 – 231, 247 Selbsthingabe  89, 93, 123, 124, 144, 148, 152 f., 158 f., 160 f., 175 f., 184, 187, 202, 203, 205, 217, 244 Selbstverständnis  17, 34, 40, 65, 85 f., 107, 109, 191, 192, 194, 195, 199, 201, 203, 225, 240, 247, 256, 258 Sein  44 ff., 96 Sprache  49, 74, 78, 91 f., 135 f., 153, 206, 220 Spur  74 ff., 95 Stellvertretung  89, 93, 96, 211, 216

Sachregister

Strukturalismus  12 f., 17, 20, 151, 206 Subjektwerdung  104, 109, 196, 199, 204 Sünde  2, 7, 121 f., 125, 159, 167, 170, 176, 185 f., 190, 211, 216, 226, 229 – 240 Symbol  24 f., 117 Tausch  10, 14, 18, 20, 35, 68 ff., 72, 79, 83 f., 103 ff., 107, 117 f., 150 testamentum  2, 162, 177 Tod  64, 69, 89, 96, 97 – 101 Transsubstantiationslehre  145 – 149, 249 Unterbrechung  32, 36, 73, 77, 97, 219 Unverfügbarkeit / unverfügbar  10, 71, 86, 99, 104, 109, 119, 160, 196, 247, 254 f. Veränderung – Veränderung durch das Ereignis  48, 58, 114 – Veränderung durch die Gabe  86, 92, 217 – Veränderung der Feiernden  113, 126, 132, 159, 167, 192, 195, 202 f., 226, 235, 237, 255

273

– Veränderung des Wortsinns durch die Metapher  180, 208 Verantwortung  69, 71, 89 – 101, 108, 216, 239, 244, 247, 254 Verausgabung  4, 64, 93, 203 f., 215 Vergebung  1, 2, 7, 167, 170, 174, 191, 193 f., 209, 211, 215, 226, 229 ff., 238, 239 f., 255 Verpflichtung  14, 22, 33, 34 f., 66, 70, 73, 104, 105, 150 Vertrauen – Vertrauen in der Fortgang des Gaben­ tausches  14, 21 f., 33 – Vertrauen in Gott  185, 229 – Selbstvertrauen  39 f. Verzweiflung  232 – 238 Wort  1, 135 ff., 140, 162 f., 174, 175, 177 – 182, 206 f., 209, 212, 255 Zeit  17, 44 – 49, 71, 72 f., 74, 78, 93 f., 95, 128 f., 147 Zulassung zum Abendmahl  238 f.