Sich irritieren lassen: Fremdheit und Befremden in der Arbeit mit geflüchteten Menschen [1 ed.] 9783666404856, 9783525404850


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Sich irritieren lassen: Fremdheit und Befremden in der Arbeit mit geflüchteten Menschen [1 ed.]
 9783666404856, 9783525404850

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Martin Merbach

Sich irritieren lassen Fremdheit und Befremden in der Arbeit mit geflüchteten Menschen

Geflüchtete Menschen psychosozial unterstützen und begleiten Herausgegeben von Maximiliane Brandmaier Barbara Bräutigam Silke Birgitta Gahleitner Dorothea Zimmermann

Martin Merbach

Sich irritieren lassen: Fremdheit und Befremden in der Arbeit mit geflüchteten Menschen Mit 2 Abbildungen und 2 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Nadine Scherer Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2625-6436 ISBN 978-3-666-40485-6

Inhalt

Geleitwort der Reihenherausgeberinnen . . . . . . . . . 7 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1 Befremden über Frau A. – Eine Annäherung . . 14 2 Was in den Worten steckt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 3 Wo das Fremde auffällt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3.1 Divergierende Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3.2 Liebe vs. Vernunft – Partnerschaftskonzepte 25 3.3 Handeln nach Vorschrift – Soziale Rollen . . 30 3.4 Selbstbezogenheit oder Gruppen-Ich . . . . . 33 3.5 Zu viel oder zu wenig? – Gefühle und ­Gefühlsausdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.6 Fremd-(e) Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3.7 Fremder Schrecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 4 Das Fremde als sprachlose Selbstverständlichkeit – ein soziologischer Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 5 Fremdheit zwischen Innen und Außen – ­psychodynamische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . 54 5.1 »Der andere, das ist mein (eigenes) ­Unbewusstes« – Fremdes als Verdrängtes . . 54 5.2 Die fremden Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 5.3 Die fremde Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 6 Fremdheit in der helfenden Beziehung . . . . . . . . 71 6.1 Das Fremde als dynamisches Beziehungs­ geschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 6.2 Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

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Inhalt

6.3 Was zu Konflikten in helfenden Beziehungen führt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 6.4 Gegenübertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 6.5 »Da ist irgendwie Interesse …« – Befremden in einer helfenden Beziehung . . . . . . . . . . . . 83 6.6 Über die Bannung der Fremdheitsgefühle 86 6.7 Wie wir das Fremde verstehen können – Zur Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Abschließende Bemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Geleitwort der Reihenherausgeberinnen

»Das Eigene« und »das Fremde« sind uns als Diskurs­ figuren vertraut, nicht nur im wissenschaftlichen Kontext, sondern auch aus Politik und Medien und in Alltagsdiskussionen, z. B. mit Kolleg*innen, Freund*innen oder Ehrenamtlichen. Hier wird immer wieder deutlich, wie sehr dieses »Fremde« und Vorstellungen davon eigentlich zu einem »Befremden« in zwischenmenschlichen Beziehungen führen kann, meist als etwas Trennendes, dessen Verstehen das intersubjektive Verständnis erleichtern soll. Martin Merbach, Diplom-Psychologe, psychologischer Berater und Paar- und Familientherapeut sowie Dozent am Evangelischen Zentralinstitut für Familienberatung Berlin, nähert sich aus verschiedenen Perspektiven dem »Fremden«. Nach einer differenzierten Betrachtung wichtiger Aspekte in der zwischenmenschlichen Kommunikation, wo es zu Befremden oder Irritation kommen kann, befasst sich der Autor mit dem Thema aus soziologischer und anschließend schwerpunktmäßig aus psychodynamischer Per­spektive. Den Bezug zur Praxis verliert der Autor dabei aber nie, schließlich stützt er seine von ihm ausgewählten Theorien auf eigene Erfahrungen als Berater und Supervisor, die Auswahl seiner Themen, wo das »Befremden« häufig auftritt (Kapitel 3) – z. B. Werte, Liebes- bzw. Partnerschaftsvorstellungen, soziale Rollen etc. – nimmt er aus seinen Erfahrungen mit Menschen aus psychosozialen Praxisfeldern. »Sich irritieren lassen« – Martin Merbach findet einen treffenden Titel für sein Buch, das sich auf relativ wenigen Seiten in einer erstaunlichen Tiefe mit dem Thema

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Geleitwort der Reihenherausgeberinnen

Fremdheit beschäftigt. Irritation ist ein erstes Gefühl in der Wahrnehmung von »Befremden«, in der Auseinandersetzung mit »dem Fremden«. Es ist aber auch ein Angebot, sich ruhig mal irritieren zu lassen, dieses Gefühl auszuhalten und den Blick nach innen zu werfen: Was hat da eigentlich irritiert? Und warum irritiert mich das? Und weshalb irritiert mich das? Der Autor gibt an verschiedenen Stellen im Buch Raum zur Selbstreflexion, um das Geschriebene und die darin gestellten Fragen auf sich wirken zu lassen und für sich selbst zu beantworten. Und er verknüpft diese Bereitschaft zur Irritation und sich einzulassen mit einer (psycho-)sozialen Kernkompetenz: Empathie. Wir laden Sie als Leser*innen ein, Martin Merbach in seiner Auseinandersetzung mit Fremdheit und Befremden zu folgen, immer wieder inne zu halten und sie auf sich wirken zu lassen. So eröffnet sich beim Lesen ein ganz individueller Zugang, neue Perspektiven entstehen. Maximiliane Brandmaier Barbara Bräutigam Dorothea Zimmermann Silke Birgitta Gahleitner

Vorwort

Die Begegnung zweier Menschen ist stets die Begegnung zweier Fremder. Die Pluralisierung der Lebensformen, die Globalisierung der Welt mit ihren Folgen für Migrations- und Fluchtbewegungen führen dazu, dass eine größere Vielfalt von einander fremden Menschen und Lebensentwürfen aufeinanderprallen. Gesellschaftliche Normen und die damit verbundenen Verhaltensanweisungen, wie man sich zu begegnen hat, sind oft nicht vorhanden, helfen nicht weiter oder werden nicht wirksam. Das Zusammentreffen mit dem Fremden aber löst in jedem*jeder von uns eine ganze Palette unterschiedlicher Gefühle aus, von Neugier bis Angst. Und auch der öffentliche Raum ist häufig durch Gruppenbildungen oder Spaltungen geprägt: Auf der einen Seite Menschen, die sehr engagiert in der Arbeit mit den Fremden sind, die von Neugier motiviert beispielsweise auf geflüchtete Menschen zugehen, den Kontakt suchen und helfen wollen. Auf der anderen Seite finden wir Menschen, die sich abschotten, die Fremdheit als bedrohlich und als zu viel erleben oder ihr gar aggressiv begegnen. Vor diesem Hintergrund beleuchtet und reflektiert dieses Buch verschiedene Facetten von Fremdheit und Befremden für die eigene Arbeit. Zu Beginn beschreibe ich einen Fall aus der psychosozialen Beratung, der einen subjektiven Blick auf das Befremdende wirft. Ich habe bewusst kein Beispiel aus der Arbeit mit Geflüchteten gewählt, um zu zeigen, dass Flucht und Fremdheit nicht unbedingt miteinander verknüpft sein müssen. Fremdheit besteht zwischen allen

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Vorwort

­ enschen. In der Begegnung von Menschen, die sich M durch bestimmte Merkmale offensichtlich unterscheiden, kann das Fremde allerdings sichtbarer werden. Bei Menschen mit bestimmten Lebensgeschichten kann es an Intensität gewinnen. Trotzdem bleibt Fremdheit ein allgemeines Phänomen. An das Fallbeispiel schließt sich eine Annäherung an das Thema über die Bedeutung des Wortes fremd an, gefolgt von einem Exkurs, bei dem uns das Fremde in der professionellen Arbeit besonders ins Auge fällt. Im folgenden Teil des Buches versuche ich Erklärungsansätze für das Fremde zu finden, die ich aus meiner praktischen Beratungs- und Supervisionserfahrung geeignet für das Verstehen des Fremden halte. Diese Auswahl ist also eher subjektiv und gewinnt ihre Bedeutsamkeit lediglich durch die erlebte praktische Relevanz. Dabei beginne ich mit einer soziologischen Perspektive, die das Befremden im Aufeinandertreffen zweier Gruppen mit unterschied­lichen Denkstrukturen beschreibt. In den psychodynamischen Erklärungsmodellen, die darauf folgen, wird das Fremde zum einen als ein Aspekt des eigenen Unbewussten konzipiert. Zum anderen wird der*die fremde Andere als wichtiger Baustein in der Entwicklung des Selbst beschrieben. In neueren psychoanalytischen Konzeptionen aus dem englischsprachigen Raum, die sich mit Fremdheit beschäftigen, taucht die Vorstellung einer inneren Struktur auf, die das Fremde aktivieren kann, wenn es zu bedrohlich scheint. Diese Struktur wird als in­ nerer Rassismus bezeichnet. Schließlich gehe ich kurz auf die Kultur ein, die immer eine fremde ist. In dem darauffolgenden Teil des Buches wird anhand von Beispielen beleuchtet, wie das Fremde in der zwischenmenschlichen Begegnung entsteht, warum es in bestimmten Momenten der Interaktion auftaucht und wie wir es wieder zum Verschwinden bringen. Zum Schluss

Vorwort13

versuche ich das Konzept der Empathie für das Verstehen des Fremden zu nutzen. Dabei wird als eine der wichtigsten Möglichkeiten, einen empathischen Zugang zum Fremden herzustellen, das Sich-irritieren-­ Lassen beschrieben. Noch einige Worte zur Rezeption des Buches: Da das Fremde immer auch mit der eigenen Subjektivität verbunden ist, werden Sie an einigen Stellen des Buches zur Reflexion eingeladen. Sie finden nach einer Frage oder Äußerung einige Leerzeilen im Text, die Zeit und Platz für Ihre eigenen Gedanken lassen. Daraus ergeben sich verschiedene Lesemöglichkeiten: Sie könnten kontinuierlich im Buch voranschreiten. Genauso gut ließen sich Kapitel überspringen oder in vertauschter Reihenfolge lesen. Die aus meiner Sicht beste Möglichkeit besteht aus einer Kombination: Diesem Modus folgend, würden Sie ein Blatt Papier zur Seite legen und von Zeit zu Zeit (vielleicht auch an den markierten Stellen) innehalten. Sie könnten dabei Ihre Ideen und Assoziationen auf das Blatt Papier oder einfach gleich ins Buch schreiben, um es sich besser anzueignen und es nicht so fremd in den Händen zu halten.

1 Befremden über Frau A. – Eine Annäherung

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Fremdheit und Befremden sind nicht unbedingt an die Begegnung mit Menschen aus anderen Ländern, mit anderer Hautfarbe oder unbekannter Sprache gebunden. Sie sind allgegenwärtig. Jede zwischenmenschliche Begegnung kann Fremdheit und Befremden auslösen. Und dennoch werden sie uns in bestimmten Situationen ungleich bewusster als in anderen. Die Begegnung mit geflüchteten Menschen zählt zu jenen Situationen, in denen das Befremden oftmals so stark ins Auge fällt, dass wenig Raum und Zeit für ein Nachdenken über seine Bedeutung bleibt. Daher zunächst ein Beispiel aus dem Kontext einer Intervision, das nicht primär etwas mit Flucht zu tun hat. Es soll den Aspekt des Befremdens durch das Fluchtgeschehen etwas in den Hintergrund rücken, um das Wesentliche zwischenmenschlicher Fremdheit besser zu verdeutlichen. Frau A. hat sich zur psychologischen Beratung angemeldet und gibt als Grund an, dass sie schwanger sei und Probleme mit ihrem Partner habe. Zur Beratung erscheint eine kleinere Frau mit langen Haaren, die sie zum Zopf zusammengebunden hat. Sie wirkt relativ jung, vielleicht Anfang dreißig und trägt ein enganliegendes knielanges Kleid, unter dem sich ihr Bauch wölbt. Ihre Augen blicken freundlich und aufgeschlossen. Nach der Begrüßung nimmt sie – ihren Umständen entsprechend – etwas schwerfällig im Beratungszimmer Platz. Nach dem Beratungsanlass gefragt, gibt sie an, dass sie Pro­bleme mit ihrem Partner, dem Vater des zukünftigen Kindes, habe. Er und seine Familie würden sie nicht akzeptieren und nicht zu ihr stehen. Sie und ihr Freund würden nicht

Befremden über Frau A. – Eine Annäherung 15

zusammenwohnen, das habe er nicht gewollt. Sie kenne ihn nun schon seit einem Jahr und habe zu Beginn eine Verbundenheit gespürt, die sie noch nie in ihrem Leben empfunden habe. Als sie die Schwangerschaft bemerkte, habe sie das Gefühl gehabt, dass beide sich auf das Kind freuten. Erst allmählich sei ihr aufgefallen, dass er seiner Familie nichts von dem Kind erzählt habe. Das Beratungsgespräch läuft bereits seit zwanzig Minuten, als die Klientin erwähnt, dass ihr Partner ein senegalesischer Flüchtling sei. Aber er sei überhaupt nicht wie die Anderen, sondern ein sehr offener Mensch, sagt sie. Lediglich in Streitsituationen habe sie manchmal das Gefühl, dass alles nach seinen Vorstellungen gehen solle. Da würde sie dann schon manchmal an der Beziehung zweifeln. Alle diese Schwierigkeiten erzählt sie mit einem leicht traurigen Unterton, andere Emotionen sind nicht spürbar. Auf die Bemerkung, ob wegen des Verschweigens gegenüber der Familie des Partners und der damit verbundenen Illoyalität ein Traum zerplatzt sei, wird sie lebhafter und beschreibt, dass sie sich ihren Partner schon als Lebenspartner vorgestellt hätte. Wie er aber in der letzten Situation mit ihr umgegangen sei, sei für sie nicht akzeptabel. Sie habe ihrem Ex-Freund, der in einer schwierigen Lage gewesen sei, als beste Freundin zur Seite stehen wollen. Dies habe ihr Partner als Vertrauensmissbrauch bezeichnet. Daraufhin hätten sie so laut gestritten, dass die Kinder es mitbekommen hätten. Nach ihren Kindern befragt, erzählt Frau A. an dieser Stelle des Beratungsgesprächs, dass sie vier Kinder im Alter von 19, 16, 11 und 5 Jahren habe. Zu den Vätern der jeweiligen Kinder habe sie guten Kontakt. Solche Auseinandersetzungen ähnlich der in der jetzigen Partnerschaft hätte es dort nicht gegeben. Sie würde seit elf Jahren nicht arbeiten, sei ihren Kindern eine gute Mutter und könne dies auch aufgrund der materiellen Unterstützung des Staates sein. An dieser Stelle lobt sie das Sozialsystem. Sie freue sich

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Befremden über Frau A. – Eine Annäherung

auch auf ihr nächstes Kind, diese Phase wolle sie nun beim fünften Kind ganz genießen. Gegen Ende des Gesprächs stellt Frau A. fest, dass ihre Beziehung wahrscheinlich keine Zukunft habe, sie möchte aber begreifen, warum sie sich auf so einen Mann eingelassen habe.

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Wie ging es Ihnen beim Lesen dieser Fallskizze? Welche Gefühle hat Frau A. in Ihnen ausgelöst? Was finden Sie an dem Fall oder an Ihren Gefühlen darüber befremdlich? Und wenn Sie nichts befremdlich fanden, was meinen Sie, wieso? Nehmen Sie sich kurz Zeit, Ihre Gedanken und Gefühle festzuhalten.

 Was könnte nun befremdlich sein? In der Intervision dieses Falles wurde von einigen Teilnehmenden die Familiensituation als fremd wahrgenommen. Oder die Idee, für die Erziehung der Kinder nur von den Transferleistungen des Staates zu leben. Oder das ausgeprägte Patchwork in dieser Familie, mit der Mutter und den Kindern als Zen­ trum und den Vätern in der Peripherie. Oder die Art und Weise wie die Klientin ihre Geschichte erzählt, etwa durch das Weglassen der familiären Situation zu Beginn der Beratung. Auch die jugendliche Verliebtheit der Klientin in den zukünftigen Vater ihres fünften Kindes löste Befremden aus, ebenso wie ihre Enttäuschung darüber, dass ihr Partner manchmal so traditionelle Ansichten habe. Was ist Befremden und wie lässt es sich erklären? Einen ersten Zugang liefert das Nachdenken über die Begriffs­ geschichte und -bedeutung des Wortstamms von Befremden und Fremdheit. Um es kurz zu sagen: Was ist in diesem Kontext mit fremd gemeint?

2  Was in den Worten steckt

Das Wort »fremd« hat laut dem »Etymiologischen Wörterbuch« (Kluge, 2004, S. 315) gotische und germanische Wurzeln und stammt von dem althochdeutschen Wort »fram« ab, was so viel wie »vorwärts« und »fort« bedeutete (im Englischen lässt sich ja heute noch das Wort »from« finden). Später wurde es dann in der Bedeutung »außerhalb der gewohnten Umgebung« gebraucht. Der Philosoph Bruno Waldenfels (1997) beschreibt drei Aspekte des Fremden: Das Fremde ist erstens das außerhalb des eigenen Bereichs vorkommende und bezeichnet somit einen Raum (externum, étranger, foreign). Zweitens definiert es etwas, das einem Anderen gehört (­alienum) und beschreibt in dieser Verwendung einen Besitz. Schließlich charakterisiert es eine Eigenschaft von Personen oder Erlebnissen als fremdartig (strange). Wie die Begriffe in Klammern zeigen, haben andere Sprachen als das Deutsche verschiedene Wörter für die Bedeutungen des Fremden und können somit die Facetten des Fremden klarer voneinander abgrenzen. In der deutschen Sprache bleibt das Wort fremd mehrdeutig und muss jeweils aus dem Kontext erschlossen werden. Dem Gedanken von Waldenfels folgend, ist es spannend zu schauen, ob es uns bei unserem Befremden eher um einen Raum, einen Besitz oder eine Art und Weise geht, unabhängig davon, ob wir das Fremde im Inneren (in uns) oder im Außen (in den Fremden) ansiedeln. Übertragen auf die Begegnung mit dem Fremden im Arbeitskontext bedeutet dies, zu fragen, ob mir mein*e Klient*in räumlich oder psychisch zu fern oder zu nah ist, ob es eine konkurrie-

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Was in den Worten steckt

rende Situation um irgendwelche realen oder ideellen Besitztümer gibt oder es vielleicht eine bestimmte Persönlichkeitseigenschaft ist, die befremdet. Wie lassen sich diese Fragen an dem Beispiel von Frau A., dem Fall aus dem ersten Kapitel, beantworten?

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Im Fall von Frau A. könnte man an dieser Stelle festhalten, dass sie den meisten von uns, die im Sozial- oder Bildungsbereich arbeiten, räumlich fremd sein dürfte. Aufgrund ihrer sozioökonomischen Bedingungen würde sie wahrscheinlich in einem anderen Viertel der Stadt leben als wir. Zwar sind wir alle steuerfinanziert, aber wenn Frau A. einer Erwerbsarbeit nachgehen würde, bliebe vielleicht etwas mehr für den Jugendhilfe- oder Bildungsetat übrig. Wir könnten also in eine (un)bewusste Diskussion über Besitzverhältnisse geraten. Auch »besitzt« Frau A. wahrscheinlich mehr Kinder als die meisten von uns, aber beneiden wir sie deshalb? Und die Idee der Klientin, die Erfüllung ihres Lebens nur in der Erziehungsarbeit zu sehen und sich die gute Mutterschaft vom Staat finanzieren zu lassen, könnte vielen von uns als befremdliche Wertvorstellung und somit »strange« vorkommen. Einen etwas anderen Zugang zum Fremden, nämlich über die Sprachbedeutungen, wählt die französische Analytikerin Julia Kristeva (1990), wobei sie das Fremde in der Tradition des Unheimlichen sieht. Sie bezieht sich in ihren Überlegungen zum Fremden auf Sigmund Freuds Aufsatz über »Das Unheimliche« (Freud, 1919). Auch Freud geht in seiner ersten Annäherung an das Unheimliche (Fremde) den Weg über die Begriffsbedeutungen und konzipiert das

Was in den Worten steckt19

Unheimliche als Gegensatz zum Heim(e)lichen. Heimlich versteht er dabei in Anlehnung an das »Wörterbuch der deutschen Sprache« (Sanders, 1860, Bd. 1, S. 729) einerseits als: 1. zum Hause gehörend, 2. nicht fremd (dazugehörig, zahme Tiere, traut, traulich, anheimelnd), 3. fröhlich, heiter, 4. versteckt, verborgen oder hinterlistig. Weiterhin führt Freud das »Deutsche Wörterbuch« von Jacob und Wilhelm Grimm an (1877). Dort wird ­heim(e)­lich als: 1. frei von Furcht, 2. als ein von Gespenstern freien Ort und somit vertraut, freundlich und zutraulich sowie 3. als den fremden Augen Entzogenes, Verborgenes beschrieben (S. 873 ff.). Wenn man nun das Unheimliche (Fremde) als Negation des Heimlichen ansieht, ist es demnach etwas, was nicht dazugehört, nicht vertraut ist, etwas, das Angst macht. Unheimlich wird es dort, wo Gespenster ihr Unwesen treiben. Da heim(e)lig aber auch als »versteckt« und den »Augen entzogen« gesehen wird, lässt sich als unheimlich auch etwas Unverborgenes, Offensichtliches, direkt Sichtbares bezeichnen. Im offensichtlich Fremden erscheinen uns somit die Angst machenden Gespenster. Wenn man dies konsequent zu Ende denkt, kann uns eigentlich alles fremd erscheinen – aber ist dem wirklich so?

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3  Wo das Fremde auffällt

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Der Beantwortung der Frage »Kann uns alles fremd erscheinen?« soll sich anhand der Erfahrungen von Teilnehmenden an verschiedenen Workshops angenähert werden, die ich 2015 bis 2017 zu dem Thema »Fremdheit und Befremden in der Psychosozialen Arbeit« angeboten habe. Zu Beginn der Workshops habe ich die Teilnehmenden gebeten zu überlegen, welche Klient*innen sie in ihrer Tätigkeit im letzten Monat befremdet haben. Die Antworten sind in Tabelle 1 dargestellt, geordnet nach Fremdheit, die in der Arbeit mit Familien, und Fremdheit, die in der Arbeit mit Einzelklient*innen, aufgetreten ist. Tabelle 1: Welche Klient*innen haben im letzten Monat Fremdheitsgefühle in Ihnen ausgelöst? Antworten der Teilnehmenden verschiedener Workshops »Fremdheit und Befremden in der Psychosozialen Arbeit« (Merbach, 2015 bis 2017) Fremdheit bei Familien

Fremdheit bei Einzelklient*innen

–– Familiensysteme mit ­starren Normen –– Geschlossene Familien, ­unfreie Familien –– Stolze Familien –– Familien, denen bestimmte Eigenschaften/Stereo­type zugeschrieben ­werden konnten –– »So kann man doch heute nicht mehr denken«-Familien

–– Türkeistämmiger, sich radikalisierender Mann –– Männer mit patriarchalem Weltbild –– Geschlechterhierarchische Auffassungen –– Junger gewaltbereiter Syrer –– Menschen, die alles für ihre Ehre tun –– Gewalt im näheren Bekanntenkreis –– Mann, der Dschihadist werden will

Divergierende Werte21

Fremdheit bei Familien

Fremdheit bei Einzelklient*innen

–– Angstauslösende Familien –– Jede Familie –– Nonverbal und verbal ­fremde Familien –– Familien, bei denen man/ frau sich zum*zur Fremden macht

–– Hochkonflikthafte Paare, die sich in Mutter-(Fremd-) sprache beschimpfen –– Hohe Bedürftigkeit der Klient*innen –– Distanzüberschreitung –– Unmittelbarkeit von (auto-) aggressivem Verhalten –– Eltern, die ihre Kinder als Eigentum betrachten

Fasst man diese Äußerungen grob zusammen, so erscheint den Workshopteilnehmenden befremdlich, wenn sie einerseits mit anderen, scheinbar veralteten, abgelegten und antiquierten Vorstellungen über Familie und Geschlechterhierarchien konfrontiert werden, die sich im professionellen Kontext meist in kulturell bedingten Werten, Partnerschaftskonzepten, Rollenhandeln und Selbstkonzepten wiederfinden lassen. Diese sollen im nächsten Abschnitt etwas genauer betrachtet werden. Andererseits treten bei den Teilnehmenden Fremdheitsgefühle auf, wenn es um Destruktionen und Aggressionen geht, die mit starken Emotionen verbunden sind. Dabei spielt das Erleben und Ausdrücken von Gefühlen eine nicht unerhebliche Rolle, auf das ich in den Kapiteln 3.5 bis 3.7 eingehen werde.

3.1  Divergierende Werte In die Diskussion über die Aufnahme und die Integration von geflüchteten Menschen mischt sich meist auch eine Debatte über Werte. Diese wird oftmals entlang der Frage geführt, wer welche Werte wann wie zu befolgen hat. Dabei beziehen sich die so diskutierten Werte häufig auf eher sichtbares Verhalten wie Pünktlichkeit oder humanistische Werte wie Menschlichkeit. Auf die inter-

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Wo das Fremde auffällt

kulturelle Forschung, die schon seit Jahrzehnten versucht, Wert­kategorien zu generieren, nach denen sich Kulturen unterscheiden lassen, wird selten zurückgegriffen. Ein Modell dazu, wenn auch nicht ganz unumstritten, liefert Geert Hofstede (2001) mit folgendem Vorschlag zu kollektiven Werten in Gesellschaften: ȤȤ Machtdistanz in Entscheidungsprozessen (hierarchisch oder demokratisch) ȤȤ Individualismus vs. Kollektivismus ȤȤ Geschlechtergemischt vs. geschlechtergetrennt ȤȤ Langzeitorientierung vs. Kurzzeitorientierung ȤȤ Unsicherheitsvermeidung ȤȤ Genuss und Zurückhaltung 3

Machtdistanz in Entscheidungsprozessen beschreibt zum Beispiel, wie paternalistisch Entscheidungen zwischen zwei oder mehreren Menschen gefunden werden, also ob auf Augenhöhe oder mit einem erheblichen Machtgefälle verhandelt wird. Mit Individualismus vs. Kollektivismus ist gemeint, wie stark jeweils die Anderen im Wahrnehmen, Denken und Handeln des Einzelnen eine Rolle spielen. Auf dem individualistischen Pol befinden sich Kulturen, in denen der*die Einzelne beispielsweise seine*ihre Entscheidungen eher nach seinen*ihren Überzeugungen fällt und in diesem Prozess nicht oder kaum von seiner*ihrer Familie, Gruppe oder Gesellschaft beeinflusst ist. Dem kollektivistischen Pol hingegen werden Kulturen zugeordnet, die dem*der Einzelnen nur wenig Bedeutung beimessen. Eine Entscheidungsfindung unabhängig von der Familie, Gruppe oder Kultur ist in ihnen faktisch nicht möglich. Die damit verbundene Frage, wie sich in solchen Kulturen ein Selbst entwickelt, wird später nochmals im Kapitel 3.4 »Selbstbezogenheit oder Gruppen-Ich« aufgegriffen, da dies einen wesentlichen Aspekt für die psychosoziale Arbeit darstellt.

Divergierende Werte23

Auch die Geschlechterheterogenität in den verschiedenen öffentlichen und privaten Räumen ist nach Hofstede ein Kriterium der Kulturunterscheidung (2001). Ohne an dieser Stelle näher auf die Ursachen und die Folgen eines überwiegend geschlechtergetrennten oder geschlechter­ gemischten Lebens eingehen zu wollen, spielt dieser Aspekt für das Thema »Befremden und Fremdheit« eine nicht unerhebliche Rolle. Dazu ein kurzes Beispiel: Ein Kollege war vor kurzem zu einer Veranstaltung in einer Kleinstadt eingeladen, in die er bereits am Vorabend reiste. Um dorthin zu gelangen, stieg er in der nahe gelegenen Großstadt in die S-Bahn. Kaum hatte er sich in den Zug gesetzt, überfiel ihn kurz ein mulmiges Gefühl. Als er sich im Zug umblickte, bemerkte er, dass er der einzige weiße Mitteleuropäer im Abteil war. Die Anderen waren allesamt junge Männer, die entweder arabisch sprachen oder eine Sprache, die er nicht identifizieren konnte.

Ungeachtet der Projektionen des Kollegen, die er auf diese »anderen« Fremden hatte, sowie ungeachtet dessen, dass er sich als Weiße Person1 in einem mehrheitlich nicht Weißen Kontext befand, worauf in späteren Kapiteln noch eingegangen werden wird, konstelliert sich hier eine Situation, in der sich eine Person, die gewohnt ist, sich in geschlechter­gemischten Kreisen zu bewegen, in einem geschlechterhomogenen Kontext wiederfindet. Das kann Befremden auslösen. Doch zurück zu Hofestedes Modell (2001): Mit Langzeitorientierung meint er die Frage, inwieweit Zukunftspläne entscheidungs- und handlungsorientierend sind 1 »Weiß« meint hier nicht nur die Hautfarbe, sondern eine Position, die mit Privilegien verbunden ist. Dies wird in der Großschreibung von »Weiß« ausgedrückt.

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Wo das Fremde auffällt

oder inwieweit ein Leben von Tag zu Tag favorisiert wird. Es liegt auf der Hand, dass bei dieser Dimension sozioökonomische Bedingungen der jeweiligen Gesellschaften eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Gesellschaften etwa, in denen lange Zeit instabile politische Zustände herrschen, werden weniger Individuen mit einer Langzeitorientierung hervorbringen. Eng mit diesem Punkt verbunden ist auch die Unsicherheitsvermeidung oder Risikobereitschaft. Schließlich führt Hofstede (2001) noch die Dimension Genuss und Zurückhaltung ein, also inwieweit die Menschen einer Kultur sich dem Genuss hingeben können oder inwieweit die Askese als Wert gilt. Schon beim Lesen dieser kurzen Ausführungen wird Ihnen aufgefallen sein, dass einige dieser generellen Dimensionen mehr oder weniger kontextabhängig sein können. So lässt sich in jeder Kultur die Dimension Genuss/ Zurückhaltung herauskristallisieren, abhängig davon in welchen Situationen sich die Beteiligten befinden. Während bei Familienfesten möglicherweise der Genuss im Vordergrund steht, könnte das Arbeitsleben hingegen von Askese dominiert sein. Für die Arbeit mit geflüchteten Menschen ist dieses Modell trotz seiner Abhängigkeit vom Kontext hilfreich, weil es eine Beschreibung des eigenen Befremdens anhand inhaltlicher Aspekte ermöglicht. Daraus ergibt sich die spannende Frage, welche Gruppe nach den Wertorientierungen Hofstedes das größte Befremden in uns auslösen würde. Ich beispielsweise als deutscher Weißer Mann wäre nach Hofstede ein Vertreter von demokratischer Entscheidungsfindung und Individualismus, der eher langzeitorientiert, zurückhaltend, unsicherheitsvermeidend ist sowie sich in gemischtgeschlechtlichen Kontexten bewegt. Potenzial zur Befremdung hätten für mich somit Menschen, die jeweils die andere Seite des von mir eingenommenen Pols vertreten, also Personen mit hierarchischer Entscheidungs-

Liebe vs. Vernunft – Partnerschaftskonzepte25

findung, die kollektiven Strukturen verhaftet, kurzzeitorientiert, risikofreudig und genussorientiert sind sowie sich in geschlechterhomogenen Gruppen bewegen. Wenn Sie nun Ihre befremdenden Situationen in letzter Zeit betrachten, spielte einer dieser Aspekte eine Rolle?

 3.2  Liebe vs. Vernunft – Partnerschaftskonzepte Stellen Sie sich vor, ein*e Klient*in, ein*e Bekannte*r oder vielleicht sogar Ihr Kind sagt zu Ihnen, dass er*sie*es seine*n Partner*in nur geheiratet habe oder heiraten wird, weil ihm*ihr dadurch ein sicheres und sorgenfreies Leben möglich sei. Würde Sie diese Aussage befremden? Und wenn ja, was würde Sie an dieser Aussage befremden?

 Jede Gesellschaft kennt die Liebe. Sie ist nicht ein Produkt westlicher Kultur, aber diese Kultur hat die Liebe mit der Institution der Ehe und Familie verknüpft. Partnerwahl beruht hier heutzutage überwiegend auf der Individualität der Gefühle, auf freier Wahl und auf Selbstbestimmung. In vielen anderen Gesellschaften werden aktuell Ehen häufig nach rationalen Kriterien geschlossen, die familiäre Reproduktion, die Sicherung des gesellschaftlichen Standes und die materielle Versorgung stehen dabei im Vordergrund. Der Soziologe Karl Otto Hondrich (2004) hat in seinem Aufsatz »Liebe in Zeiten der Welt­gesellschaft«

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Wo das Fremde auffällt

sehr anschaulich beschrieben, dass sich westliche Gesellschaften in ihrer Reproduktion ganz der Emotionalität anheimgeben, während sie sich in der Sphäre der Produktion höchster Rationalität verschrieben haben. Rationalität ist beispielsweise in den getakteten Fahrplänen und Arbeitsabläufen, in Tarifsystemen, Arbeitsplatzbeschreibungen oder dem Vorhandensein eines klaren Beschwerde- und Reklamationsmanagements zu finden. Für nicht-westliche Gesellschaften ließe sich im Umkehrschluss behaupten, dass dort im öffentlichen Leben eine gewisse Irrationalität herrscht, während das private Leben nach rationalen Kriterien abläuft. Anders ausgedrückt: Es muss im öffentlichen Leben stärker miteinander verhandelt werden, wenn keine Preisbindungen, Busfahrpläne oder Beschwerde- und Reklamationsstellen existieren, während das private Leben zwischen den Geschlechtern klaren Konventionen folgt. Da sich nicht nur in Deutschland im öffentlichen Diskurs oftmals die beiden Konzepte der rationalen bzw. emotionalen Paarfindung diametral und stark polarisiert gegenüberstehen, sollen hier die historischen Bedingtheiten beider Ideen etwas genauer beschrieben werden: Die Liebe ist so alt wie die Menschheit. Sie lässt sich bereits in den frühesten Überlieferungen finden. Als realistisches Motiv für die Paarwerdung ist sie hingegen ein modernes Phänomen, das erst seit der Aufklärung und der damit verbundenen Entstehung eines freien Menschen denkbar und damals auch nur bestimmten Klassen vorbehalten war. Für breitere Schichten der Gesellschaft wurde sie erst mit der Epoche der Romantik und der Entstehung des romantischen Liebesideals bedeutsam. Hingegen scheinen rationale Aspekte wie wirtschaft­ liche Motive die Paarwerdung schon immer zu beeinflussen, allerdings in unterschiedlicher Intensität. Ein Spezialfall der rationalen Ehe ist die arrangierte Ehe. Bei arrangierten Ehen heiraten zwei Familien und nicht zwei

Liebe vs. Vernunft – Partnerschaftskonzepte27

Personen. Die Eltern beider Partner*innen sind quasi mit verheiratet und müssten im Fall einer Trennung mit geschieden werden. Teile der indischen Gesellschaft verfolgen beispielsweise bis heute dieses Konzept der Partnerschaft. Sehr anschaulich beschreibt das Chetan Bhagat in seinem Roman »One Indian Girl« (2016). Die Hauptfigur ist eine junge indische Frau, die für ein großes Bankhaus in verschiedenen Städten der Welt arbeitet und ein relativ modernes Leben führt. Trotzdem telefoniert sie wöchentlich, mitunter sogar täglich, mit ihrer Mutter. Und fast immer drehen sich die Gespräche um Heirat und einen passenden Ehemann. Weil die Mutter keine Fortschritte bei der Partnerwahl ihrer Tochter sieht, schaltet sie für diese unabgesprochen eine Heiratsanzeige auf einer einschlägigen Internetseite und unterbreitet der Tochter Vorschläge aus dem Kreis der auf die Anzeige reagierenden Heiratswilligen. Auch wenn die Hauptfigur einigen individuellen Spielraum bei der Partnerwahl hat, wird in dem Roman anschaulich die Einflussnahme der Eltern auf den Prozess der Eheschließung beschrieben. Partner*innen in arrangierten Ehen sehen sich unter Umständen zum Zeitpunkt der Eheschließung das erste Mal. (Auch in dem oben erwähnten Buch lernen sich die beiden das erste Mal live zu den Festlichkeiten der Eheschließung kennen, obwohl sie vorher bereits skypten.) In diesen Fällen lässt sich sicherlich nicht von Liebe als konstituierendem Motiv der Partnerschaft sprechen. Diese kann aber im Laufe der Beziehung entstehen: im gemeinsamen Tun, im Teilen des Alltags oder im gemeinsamen Großziehen der Kinder. Arrangierte Ehen überspringen zu Beginn somit eine Verliebtheitsphase, die aber später im Lauf der Beziehung möglicherweise nachgeholt werden kann. Das Zusammenleben in diesen Partnerschaften basiert in der Regel auf gegenseitigem Respekt und der Einsicht in die Notwendigkeit tradierter Sozialmus-

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Wo das Fremde auffällt

ter. In einem solchen klassischen und sehr traditionellen Rollenverständnis schuldet der Mann der Frau die Versorgung, sie ihm die Kinder. Das Fehlen der Liebe wird somit nicht zum Scheidungsgrund, das Fehlen von Respekt dem Partner bzw. der Partnerin und seiner*ihrer Rolle gegenüber schon. Bei arrangierten Ehen scheinen somit die beziehungs­dynamischen Konflikte weniger intensiv ausgetragen zu werden. Dafür können zusätzliche Konflikte aufgrund unterschiedlicher Charaktere der Partner und Partnerinnen, der Einflussnahme der Familien oder bei reproduktiven Pro­blemen entstehen. Da sich in der arrangierten Ehe zwei Familien miteinander verbinden, kommt dem Nachwuchs als Fortbestand der Familie eine besondere Bedeutung zu. Aber auch in die Entstehung und Lösung von Konflikten sind die Herkunftsfamilien stärker eingebunden. Für große Teile nichttraditioneller Gesellschaften scheint die arrangierte Ehe nicht tragbar zu sein. Nicht selten werden von ihnen solche Verbindungen mit dem Label der Zwangsheirat oder der Unterdrückung reflexhaft abgestempelt. Für eher traditionelle Gesellschaften hingegen geht die Liebesheirat zwangsläufig mit erhöhten Scheidungsraten einher, welche als ein Symbol des Werteverfalls gesehen werden. Wenn ich im Folgenden von Tradition und Nichttradition oder Moderne spreche, sind damit idealtypische Kategorien gemeint. Traditionelle Gesellschaften kann man in ihrer allgemeinsten Form so beschreiben, dass die Kommunikation der einzelnen Mitglieder klar definierten Werten und Normen folgt, ohne diese groß infrage zu stellen. Diese Werte und Normen sind durch die jeweils unterschiedlichen Rollen (Geschlechterrolle, Elternrolle etc.) festgelegt. Auch innerhalb nichttraditioneller Gesellschaften können die Erwartungen, die an eine Partnerschaft gestellt werden, unter Umständen sehr unterschiedlich sein. Das ist beispielsweise der Fall, wenn einer*eine der Partner*in-

Liebe vs. Vernunft – Partnerschaftskonzepte29

nen aus einem Kontext kommt, in dem die Partnerwahl zwar nach dem Modell der Liebe erfolgt, aber gleichzeitig die Rollenmodelle für Frauen und Männer nach eher traditionellen Mustern strukturiert sind. In einer solchen Partnerschaft ist möglicherweise der Mann der Versorger, während die Frau für die Kinder und den Haushalt zuständig ist. Und das Ausfüllen dieser Erwartungen soll mit gegenseitiger Liebe erfolgen. Das Konzept der Partnerschaft, das auf Liebe setzt und in dem gleichzeitig komplementäre Rollenmodelle der Partner*innen obsolet werden (Beck u. Beck-Gernsheim, 1990), hat sich erst in den letzten dreißig Jahren des 20. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika durchgesetzt. Ein solches Paarmodell erfordert von den Partner*innen eine Persönlichkeit, die für ihr Funktionieren nur in geringem Maß auf feste gesellschaftliche Strukturen (Normen) angewiesen ist. Dafür muss diese Persönlichkeit aber in der Lage sein, sich an der Interaktion mit dem*r Partner*in zu orientieren (Luhmann, 2008). Es braucht also ­flexiblere Persönlichkeiten, die je nach dem aktuellen Kommunikationsmuster in der Partnerschaft handlungsfähig sind und bleiben. Wir können also davon ausgehen, dass in jeder Partnerschaft das jeweils andere Modell der Partnerwahl Befremden auslösen kann. Besonders deutlich wird das in bikulturellen Partnerschaften, in denen ein*e Partner*in möglicherweise noch einen Fluchthintergrund hat. Um einen gemeinsamen sicheren Lebensmittelpunkt zu haben, ist bei ihnen oft eine schnelle Heirat erforderlich. Der*Die dem irrationalen Liebeskonzept verhaftete westliche Partner*in sieht sich in seiner*ihrer Verliebtheitsphase nun mit einer unglaublichen Bürokratie konfrontiert und sucht möglicherweise als Kompensation dieser Rationalität verstärkt die Liebe in der Beziehung. Der*Die Partner*in mit Fluchthintergrund wird durch die Bürokratie an das in sei-

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Wo das Fremde auffällt

ner*ihrer Kultur vorherrschende Modell der Partnerwahl als Vertragspartnerschaft erinnert, begreift aber nicht die damit verbundene Unzufriedenheit des*der Partner*in. In den letzten Ausführungen wurde ja bereits deutlich, dass nicht nur die Motive, eine Partnerschaft einzugehen, sondern auch das Handeln innerhalb einer Partnerschaft Befremden auslösen kann. Da dieses Handeln oftmals an Rollenerwartungen gebunden ist, werde ich mich im nächsten Kapitel dem Befremdenden im Rollenhandeln annähern.

3.3  Handeln nach Vorschrift – Soziale Rollen 3

Was kann am Rollenhandeln befremden? Dazu ein kurzes Beispiel: Zur Nachhilfe im Deutschunterricht erscheint regelmäßig eine junge Frau, Mitte zwanzig. Sie beteiligt sich aktiv an der Konversation, macht große Fortschritte im Spracherwerb. Der ehrenamtliche Lehrer ist sehr zufrieden und freut sich über den Erfolg seiner Schülerin. Nach ungefähr einem Vierteljahr erscheint die junge Frau plötzlich in Begleitung eines jungen Mannes, ihres Ehemannes, wie sich bald herausstellt. Sie spricht in der nun folgenden Stunde auf einem sehr rudimentären Sprachniveau und das auch nur, wenn sie direkt angesprochen wird. Den Großteil des Unterrichts bestreitet der Mann, der allerdings deutlich schlechter als seine Frau spricht. Der Lehrer ist irritiert und enttäuscht.

Hier wird sofort deutlich, dass die junge Frau ihre Rolle als Schülerin in Anwesenheit ihres Ehemannes anders ausfüllt als in seiner Abwesenheit. Die Rollentheorie der amerikanischen Soziologie (Linton, 1979), die das Handeln in sozialen Systemen auf ihre Funktion hin untersucht hat, bietet für solche Phänomene nützliche Erklärungen. Die-

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ser Theorie folgend werden dem Individuum in den jeweiligen Systemen definierte Positionen zugewiesen, die wiederum mit bestimmten Erwartungen einhergehen. Das Handeln, das sich aus diesen Positionen ergibt, wird als soziale Rolle bezeichnet. Solches Rollenhandeln beschreibt somit Verhaltensweisen, die aufgrund von gesellschaftlich normierten Erwartungen an die Position entstehen. In dem oben beschriebenen Beispiel werden die beiden sozialen Rollen der jungen Frau und das damit verbundene Rollenhandeln deutlich. Ohne ihren Ehemann ist sie Schülerin und verhält sich auch als solche. Ihr Schweigen in Gegenwart ihres Partners scheint sich aus ihrer Rolle als Ehefrau heraus zu ergeben. Durch die gesellschaftliche Normierung ist das Rollenverständnis und -handeln kulturell geprägt. Da es sich zudem bei den meisten Positionen um nicht festgeschriebene Erwartungen handelt, die im Sozialisationsprozess verinnerlicht wurden, entzieht sich das Rollenhandeln einer Reflexion. Es ist automatisiert oder vorbewusst. Zugleich sind kulturelle Normen, die während des Sozialisationsprozesses internalisiert wurden, in der Identität tief verankert und werden nicht ohne Weiteres zur Disposition gestellt. In unserem Beispiel bleibt somit fraglich, ob sich die junge Frau ihrer beiden unterschiedlichen Verhaltensweisen überhaupt bewusst ist. Eng im Zusammenhang mit Rollenhandlungen steht die Fähigkeit der Perspektivübernahme der anderen Rolle. Je mehr eine Handlung durch eine vorgegebene Rolle definiert scheint, je kongruenter diese Handlung an die Erwartungen dieser Rolle ist, umso mehr entzieht sie sich der Reflexion und desto schwieriger gestaltet sich die Perspektivübernahme. Für den Kommunikationsprozess bedeutet das: Je mehr die Partner*innen in ihren Rollen verhaftet sind, desto schwieriger können sie sich empathisch in ihre*n Partner*in hineinversetzen.

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In Kulturen, in denen eine Trennung zwischen der Welt der Männer und der der Frauen gegeben ist mit klar codiertem Rollenverhalten und -erwartungen, beruht im Allgemeinen die Anziehung bzw. das Begehren zwischen den Geschlechtern auf der Einhaltung dieser Unterschiede. Wer in einem solchen Kontext sozialisiert wurde, wird möglicherweise gar kein Bedürfnis empfinden, die Per­spektive der anderen Rolle für sich zu übernehmen. Die Erwartungen, wie der*die Andere die Rolle auszufüllen hat, sind sehr durch die erlebten Rollenvorbilder bestimmt. Ein Mann wird sich somit in seinem Rollenverhalten als Partner oder Vater an seinen Vorbildern, etwa seinem Vater, den Vätern der Freunde, der Partnerschaft seiner Eltern orientieren. Eine Frau wird ähnlich die weibliche Linie ihrer Familie zum Vorbild nehmen. Da sich Kulturkreise in der Beschreibung ihrer Geschlechterrollen voneinander unterscheiden, kann es in einer interkulturellen Begegnung zu heftigen Diskrepanzen zwischen Rollenerwartung und Rollenverhalten kommen. Noch ein weiterer Aspekt im Rollenhandeln entzieht sich meist einer Reflexion, nämlich die Gestaltung von Rollenübergängen oder -wechseln. Hier lassen sich zwei Pole finden. In dem einen Fall bedeutet der Rollenwechsel kein anderes Verhalten: Eine Frau verhält sich vor der Mutterschaft genauso wie danach, ein Mann vor und nach der Eheschließung ähnlich. Im anderen Fall erfolgt aus der neuen Rolle ein neuer Verhaltenskodex, Verheiratete legen somit ein anderes Verhalten als Nichtverheiratete an den Tag. Ohne das Wissen darüber könnte uns das anscheinend über Nacht veränderte Verhalten eines*einer Klient*in befremden. Auch auf der Ebene der Interaktion müssen die Rollenerwartungen der Interaktionspartner*innen nicht übereinstimmen bzw. nicht aufeinander bezogen sein. Kulturelle Unterschiede werden dann als Verlust der Reziprozität im

Selbstbezogenheit oder Gruppen-Ich33

Rollenspiel erlebt. Damit ist gemeint, dass das eigene Rollenverhalten von dem*der Interaktionspartner*in nicht adäquat erwidert wird, er*sie also nicht »mitspielt«. Rollenerwartungen, die die Interaktionspartner*innen aneinander stellen, werden somit nicht gesehen, nicht beachtet und schon gar nicht verstanden: Eine Situation, die mit einer kontinuierlichen Erfahrung von Frustration verbunden ist (Dreitzel, 1980). Dieser Verlust der Reziprozität im Rollenspiel könnte die Ursache für die Irritation und Enttäuschung des Lehrers in dem oben genannten Beispiel sein. Er erwartet weiterhin, dass die junge Frau sich wie eine Schülerin benimmt. Diese handelt aber in ihrer Rolle als Ehefrau und erwartet von dem Lehrer, dass er sich ihr wie einer verheirateten Frau gegenüber verhält.

3.4  Selbstbezogenheit oder Gruppen-Ich In jeder Gesellschaft ist die Frage, wie viel Individualität einer Person zugeschrieben wird und welche Bedeutung die Gruppe für das Individuum hat, anders ausgehandelt. Bereits Geert Hofstede und Gert Jan Hofstede (1997/2017), mit ihrer Beschreibung der kollektivistischen und individualistischen Kultur, näherten sich diesem Thema an. Von Interesse hierbei ist, wie sich das Selbst in einer kollektivistischen oder individualistischen Kultur entwickelt. Anders ausgedrückt stellt sich hier die Frage, wie selbstbezogen (reflexiv) oder gruppenbezogen (relational) das Selbst eines Menschen ist. Im Folgenden beschreibe ich die Reflexivität und Relationalität des Selbst zur Verdeutlichung sehr akzentuiert, wohl wissend, dass beide Formen selten so absolut anzutreffen sind. Reflexiv im extremsten Fall meint dabei, dass eine Person nur sich selbst als Bezugsrahmen ihres Denkens, Fühlens und Handelns nimmt. Ein Mensch, der so geprägt ist, würde ausschließlich seinen Bedürfnissen folgen und sich

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nicht an Anderen orientieren. Sein Selbst würde immer wieder auf sich zurückgeworfen. In Deutschland beispielsweise wird auf die Entwicklung eines solchen Selbst bereits in den Morgenkreisen der Kindertagesstätten (Kitas) geachtet und darauf Wert gelegt, wenn das Kind nach seinen vergangenen Erlebnissen und Gefühlen sowie den Wünschen an den Tag gefragt wird. Im Extremfall würde hier ein Selbst stehen, das nur sich selbst als Bezugsrahmen sieht. Das relationale Selbst hingegen setzt sich immer in Beziehung zu Anderen. Den Menschen gibt es nicht unabhängig vom Denken, Handeln und Fühlen anderer Menschen. Eigene persönliche Wünsche beispielsweise wären nicht artikulierbar, Wünsche der Familie hingegen schon. Um wieder ein Beispiel aus der vorschulischen Erziehung zu nehmen, könnten wir an dieser Stelle überlegen, welches Selbst der kollektive Toilettengang in den Kindergärten der DDR (Topfen) möglicherweise mitbedingt hat. Würden Menschen mit diesem relationalen Selbst nach eigenen Wünschen gefragt, reagierten sie möglicherweise gar nicht oder würden versuchen, nett lächelnd das Gesicht zu wahren und eine Antwort verweigern. Ohne dem Kapitel über Fremd-(e) Sprachen vorgreifen zu wollen, soll an dieser Stelle bereits erwähnt werden, dass das reflexive und relationale Selbst, die Selbstbezogenheit und das Gruppen-Ich sich auch in der Grammatik einer Sprache niederschlagen können. Swetlana Geier (2011), die Übersetzerin der großen Romane Fjodor Dostojewskis, bebildert dieses Phänomen an der russischen Sprache. Sie erläutert, dass wenn im Russischen Besitz ausgedrückt werden soll, der Besitzer nicht mehr zum Subjekt des Satzes wird. Er rutscht in den Genitiv. Der Besitz hingegen wird zum Subjekt des Satzes. Der deutsche Satz »Ich habe zwei Kinder« hieße in der wörtlichen Rückübersetzung aus dem Russischen »Bei mir sind zwei Kinder«.

Zu viel oder zu wenig? – Gefühle und Gefühlsausdruck 35

Swetlana Geier (2011, S. 112) schlussfolgert daraus, dass »wenn es [das Volk, MM] etwas hat, verliert es die Souveränität«. Ein anderes in diesem Kontext oft diskutiertes Beispiel ist die Großschreibung des Wortes »Ich – I« in der englischen Sprache, in der sich grammatikalisch die starke Selbstbezogenheit der britischen und amerikanischen Gesellschaft widerspiegeln könnte. Somit scheint es lohnenswert, zu schauen, wie in den Muttersprachen der geflüchteten Menschen das Selbst und seine Beziehung zu anderen Personen oder Gegenständen abgebildet sind.

3.5 Zu viel oder zu wenig? – Gefühle und Gefühlsausdruck Nachdem die fremden Vorstellungen über Werte, Partnerschaft etc. näher beleuchtet wurden, geht es in den folgenden Kapiteln eher um Eigenschaften und Charakteristika, die an den »Fremden« oft irritieren. Dazu soll als erstes der Frage nachgegangen werden, was uns an dem Gefühlsausdruck anderer Menschen befremdet. Stellen Sie sich doch dazu eine Situation vor, in der Sie der Gefühlsausdruck eines anderen Menschen befremdet hat und versuchen Sie, dies näher zu beschreiben.

 Wie sieht es nun mit dem Erleben und dem Ausdrücken von Emotionen in zwischenmenschlichen Begegnungen aus? Universal oder kulturunspezifisch sind unsere Grundemotionen wie Freude, Überraschung, Wut, Ekel, Trauer, Furcht und Verachtung (Ekmann, 2010). Kulturell geprägt sind dagegen die Situationen, in denen bestimmte Ge-

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fühle entstehen und die Form, in der sie inszeniert werden. Manfred Holodynski (2006) erwähnt in seinem Buch über Emotionsentwicklung und -regulation mehrere Studien, die beschreiben, wie durch unterschiedliche Erziehungspraktiken in den USA und Japan Kinder dazu gebracht werden, bestimmte Situationen als Stress bzw. als nichtstressig zu empfinden. Wenn ein japanisches Kind in einen Gruppenkonflikt involviert ist und dabei negative Gefühle zum Ausdruck bringt, lenkt die japanische Mutter ihr Kind ab. Das Kind lernt den Konflikt zu ignorieren und trägt dazu bei, den Konflikt zu entschärfen. In einer ähnlichen Situation nimmt die amerikanische Mutter das Kind aus der als unangenehm empfundenen Situation heraus. Das japanische Kind lernt auf seine negativen Gefühle modifizierend einzuwirken und weniger auf die soziale Situation verändernd einzuwirken, wie das bei dem amerikanischen Kind der Fall ist. Alle Babys empfinden Holodynski zufolge die gleichen Grundemotionen, werden aber von ihrer Bezugsperson, wie das Beispiel zeigt, unterschiedlich gespiegelt. Situationen werden dann im Sozialisationsprozess kulturell verschieden erlebt und mit unterschiedlichen Gefühlen belegt. Somit durchlaufen Gefühle einen Filterungsprozess. Das kann dazu führen, dass manche Gefühle von einzelnen Personen nicht mehr ausgedrückt werden können oder, weil sie tabuisiert sind, umgelenkt werden. Da aber Gefühle meist über Sprache transportiert werden, ist die Frage, welche verschiedenen Gefühle en détail sich hinter welchen Ausdrücken verbergen, nicht zu beantworten. Allerdings beeinflusst die Art, wie ich mich an etwas erinnere, das, was ich darüber fühle. Eine Frau, die schon in vielen Partnerschaften gelebt hat, kann sich weniger als Versagerin in diesem Bereich fühlen, wenn sie sich daran als Suche nach der wahren Liebe erinnert. Dieses Reframing ändert auch das Gefühl. Eine Übung hierzu ist,

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dass sich zwei Personen gegenseitig ihre Erlebnisse der ersten sechs Lebensjahre aus der Perspektive des Opfers (also was die Eltern ihnen angetan haben) erzählen und dann anschließend aus der Perspektive der erworbenen positiven Ressourcen. Das gefühlsmäßige Erleben der ersten Lebensjahre ändert sich in dieser Übung immens, wobei es eher um den Umgang mit dem erlebten Leid geht und nicht darum, dieses zu relativieren oder gar zu bagatellisieren. Gibt es Kulturen, die intensiver fühlen? Diese sehr nach­ vollziehbare Frage, wenn man sich an das lautstarke Streiten mancher Südeuropäer*innen erinnert, impliziert eine Wertung, daher ist sie kritisch zu sehen. Wer könnte sich anmaßen, Kulturen in mehr oder weniger fühlende einzuteilen? Ob Gefühle nicht nur kulturell unterschiedlich inszeniert werden, sondern ob sie auch kulturell unterschiedlich intensiv empfunden werden, darüber kann nur spekuliert werden. Hilfreich ist eher, sich jeweils den konkreten Kontext der Gefühlsäußerung anzuschauen, um ein eher intensiv scheinendes Gefühl in seinem Bedeutungsgehalt einordnen zu können. Gibt es Gefühle, die es nur in bestimmten Kulturen gibt? Auch diese Frage ist nicht zu beantworten, da ein Gefühl an seinen Ausdruck gebunden ist und nur durch diesen sichtbar wird. Es ist unmöglich, zu wissen, ob es bestimmte Gefühle in bestimmten Kulturen nicht gibt oder ob sie dort nur nicht ausgedrückt werden (dürfen) oder können, weil sie z. B. ein Tabu berühren oder weil sie als deplatziert empfunden werden. Die Ethnologin Birgitt Röttger-Rössler (2002) hat beispielsweise den Gefühlszustand, der mit der Verliebtheit europäischer Jugendlicher verbunden ist, mit einem Gefühlszustand jugendlicher indonesischer Makassar verglichen. Die Makassar kennen zwar Verliebtheit als Wort und Konzept nicht, beschreiben aber einen der Verliebtheit ähnlichen Gefühlszustand, den sie als »garring lolo« (Krankheit junger Menschen)

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identifizieren. Wir finden also in beiden Kulturen ähnliche körpergebundene Gefühlsäußerungen, die Bezeichnungen dafür divergieren jedoch (Röttger-Rössler, 2002). Und noch ein Beispiel zu der Bewertung von Gefühlsäußerungen: Indien ist beispielsweise sehr zurückhaltend, was das Zeigen von Zärtlichkeiten zwischen den Geschlechtern betrifft. Was aber europäischen Betrachter*innen immer wieder auffällt und als irritierend empfunden wird, sind die jungen Männer, die in Indien Hand in Hand laufen. Oftmals wird dies als Zeichen von Homosexualität interpretiert. Homosexualität aber ist in Indien tabuisiert, das männliche Hand-in-Hand-Gehen ist eher als Äußerungsform von sozialer Nähe in diesem Lebensalter zu verstehen. 3

3.6  Fremd-(e) Sprache Unser grundlegendes Kommunikationsmittel ist die Sprache. In interkulturellen Begegnungen in der psychosozialen Arbeit können diverse Sprachaspekte Irritationen auslösen: Jemand beherrscht die Sprache des Helfersystems (also in den meisten Fällen Deutsch) nur unzureichend, spricht möglicherweise langsamer, versteht Gesagtes nicht oder anders als gewünscht, ändert seine*ihre Sprachkenntnisse im Verlauf des Gesprächs, hat einen Akzent, den wir mehr oder weniger mögen oder greift auf seine*ihre Muttersprache zurück, die wir mehr oder weniger verstehen und mögen. Die verwendete Sprache und die Qualität der Sprachkenntnisse beider Interaktionspartner*innen spielen somit eine große Rolle: Spricht der*die eine Partner*in seine*ihre Muttersprache, die der*die andere Partner*in erlernt hat? Kommunizieren beide in einer Fremdsprache, die der*die eine Partner*in allerdings besser spricht? Ist eine Verständigung überhaupt möglich oder anders

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ausgedrückt, sind ausreichend Worte vorhanden? Große sprachliche Gefälle treten häufiger auf, wenn der geflüchtete Mensch gerade erst im Aufnahmeland angekommen ist. Sobald die Sprache des Aufenthaltslandes gesprochen wird, muss der*die Geflüchtete auf seine*ihre Muttersprache verzichten und die ganze Zeit in einer für ihn*sie fremden Sprache kommunizieren oder ist ganz auf Übersetzung angewiesen. Eine solche Situation kann müde machen und zum sprachlichen Rückzug führen. In der interkulturellen Begegnung gibt es immer wieder Momente, in denen einer*eine der Kommunikationspartner*innen bezüglich eines Themas im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos ist. Das ist vor allem in solchen Situationen der Fall, die mit starken positiven oder negativen Emotionen besetzt sind oder in Situationen, die nicht oder nur schwer in eine andere Sprache und in einen fremden Kontext übertragen werden können, wie beispielsweise Witze oder Ironie, aber auch bestimmte Formen von Aggression etc. Aber auch eine gut beherrschte Sprache kann in emotional hoch aufgeladenen Kontexten versagen. Dazu ein Beispiel: Ein Mann, der in Marokko geboren wurde, dort eine französischsprachige Schule besuchte, aber in Deutschland lebt, recherchiert in Frankreich nach seinem französischen Vater, weil er gern wissen möchte, was die Beweggründe seines Vaters für die Ausreise nach Marokko gewesen sein könnten. Seine Frau hilft ihm bei der Recherche. Nach fünf Tagen in Frankreich wird er immer unruhiger und beginnt, sozusagen allmählich die deutsche Sprache zu vergessen. Die Kommunikation mit seiner deutschen Frau, die kein Französisch spricht, gestaltet sich zunehmend schwierig. In diesem Dilemma bricht er schließlich die Recherche ganz ab und fährt mit seiner Frau nach Hause.

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Dieser Verlust der deutschen Sprache bei der Suche nach dem französischen Vater ist ein anschauliches Beispiel für das Verdrängen einer Alltagssprache in emotional aufgeladenen Situationen. Und noch ein weiterer Aspekt wird in diesem kurzen Beispiel deutlich, nämlich wie bedrohlich diese Blockade beim Sprechen der sonst so gut beherrschten Sprache empfunden wird. Sowohl die deutsche als auch die französische Sprache des Mannes im Fallbeispiel sind an bestimmte emotionale Zustände gekoppelt, die der Mann nicht gleichzeitig erleben kann. Seine Lösung aus dieser unerträglichen Lage ist die schnelle Rückkehr nach Deutschland und in die deutsche Sprache, die ihm wahrscheinlich bei der emotionalen Regulation der Vatersuche hilfreicher ist. Sobald sich nicht in der Muttersprache verständigt wird, entsteht das Problem der Bedeutungskonnotation von Sprache. In dem Buch »Lost in Translation. Ankommen in der Fremde« (Hoffmann, 2004) ist dies sehr anschaulich an einem jungen Mädchen dargestellt, das zwei Sprachen spricht und überlegen muss, wann sie sich in welcher Sprache wie ausdrückt. Hier wandert eine polnisch-jüdische Familie nach Kanada aus, mit ihr auch ein junges Mädchen, das zwölf Jahre alt ist. Sie spricht nur Polnisch und muss Englisch lernen, eine Sprache, die sie nicht mag, in der aber ihre Teenager­erlebnisse stattfinden. Zum 13. Geburtstag bekommt sie ein Tagebuch geschenkt, was bei ihr widersprüchliche Gefühle hervorruft. Eigentlich gehören in das Tagebuch die Ereignisse, die sie in Englisch erlebt, aber vom Gefühl her passt diese Sprache nicht in ein geheimes Tagebuch. Dahin würde eher das Polnische als Sprache ihrer Gefühle gehören.

Dieses Beispiel zeigt, dass Sprache sich auf unterschiedlichen Ebenen der Identität bewegen kann, die bereits in

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einer Person vorhanden sind, wenn eine zweite Sprache auch zur Verkehrssprache wird. Die unterschiedliche Bedeutungskonnotation von Wörtern gewinnt bei heikleren Themen, wenn beispielsweise über Erziehungsziele, häusliche Situationen oder Werte gesprochen wird, an Gewicht. Die Interaktionspartner*innen haben häufig zunächst den Eindruck, dass man sich verstanden hat. Auf den zweiten Blick scheint das aber überhaupt nicht so zu sein. Wenn ein Ausdruck benutzt wird, ist dann auch das Gleiche gemeint? Sprachen sind auch nicht wertfrei im Erleben der Menschen, sie können mit geliebten oder abgelehnten Menschen verbunden werden, sie können Teil der eigenen Herkunftsgeschichte oder der einer gesamten Gruppe sein. Die Sprache zwischen Deutschen und Jüd*innen, Soldat*innen und Zivilbevölkerung, Kurd*innen und Türk*innen ist immer auch von der gemeinsamen Geschichte bestimmt. Doch kommen wir nochmals zurück zur Liebe: Obwohl sie ein universelles Phänomen ist, stellt sich die Frage, wie bestimmte Ausdrucksformen der Liebe oder Zuneigung in eine andere Sprache zu übersetzen sind. In Brasilien wäre es beispielsweise möglich, wenn man einen Arbeitskollegen sehr mag, dass man die ihm gegenüber empfundene Zärtlichkeit direkt zum Ausdruck bringt mit den Worten: »Ich empfinde eine große Zärtlichkeit.« Ein solches Gefühl kann man auch seinem Nachbarn oder dem Gemüsehändler gegenüber empfinden und sagt es jenen auch, wenn sich die Situation ergibt. Diese Form der Zuneigung samt ihrem Ausdruck ist in der deutschen Kultur nicht vorstellbar. Es gibt Menschen, die lösen in einem eine Zärtlichkeit aus, aber im Deutschen gibt es dafür keine Entsprechung. Wenn man also in Deutschland in diesem Kontext sagen würde, dass man Zärtlichkeit für den Anderen empfindet, wäre das wegen einer unangemessen scheinenden Intimität irritierend. Nähe

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und Vertrautheit zu einem Gemüsehändler werden eher durch Wertschätzung seiner Arbeit oder gänzlich nonverbal ausgedrückt. Das, was öffentlich, und das, was als privat empfunden wird, ist kulturell und in verschiedenen Kontexten sprachlich unterschiedlich kodiert und inszeniert. Ein anderes Beispiel: In dem Film »Prinzessinnenbad« (2007) sagt der türkische Freund der blonden Haupt­figur im Interview über seine Freundin: »Sie ist mein Augenlicht.« Dieser blumige Satz scheint eine Übersetzung aus dem Türkischen zu sein. Wenn ein deutschsprachiger Zuschauer des Films diesen Ausdruck nicht kennt oder verwendet, welche Empfindungen hat er dann beim Hören? Hat er dieses Augenlicht-Gefühl nicht oder würde er sich nur nicht so ausdrücken? Welche Gefühle sind überhaupt mit »mein Augenlicht« bei dem jungen türkischen Mann gemeint? Wofür steht dieser Satz symbolisch? Im Referenzrahmen des Zuschauers könnte dieser Ausdruck »meine allerliebste Freundin« oder »Ich sehe die Welt mit deinen Augen« bedeuten. Doch ein verstehender Zugang bleibt ihm verwehrt. Und letztlich: Bestimmte Begriffe in fremden Sprachen, obwohl oder weil man diese nicht kennt, berühren uns wärmer als andere Begriffe. Macht das ihr Klang? Ihre Intonation?

3.7  Fremder Schrecken Die bisher geschilderten Dimensionen, die uns in der Arbeit mit Geflüchteten befremden können, betreffen nicht nur diese Gruppe, sondern lassen sich auf alle Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund oder gar auf alle Personen mit einer anderen Sozialisation übertragen. Unter den geflüchteten Menschen finden wir jedoch eine höhere Anzahl von Traumatisierten. Meistens löst die

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Art des Traumas, der erlebte fremde Schrecken, in uns ein Befremden aus und beeinflusst dadurch die Arbeit mit geflüchteten Menschen in besonderem Maße. Dabei können wir unterscheiden zwischen ȤȤ Traumatisierungen im Herkunftsland (Naturkatastrophen, Verfolgung, Folter, Krieg, …), ȤȤ Traumatisierungen auf dem Fluchtweg (Gewalt und Vergewaltigung, Tod von Mitgeflüchteten, …), ȤȤ (Re-)Traumatisierungen im Ankunftsland (fehlende Struktur, Diskriminierung und Rassismus, tätliche Übergriffe, politische Anfeindungen, …), ȤȤ transgenerationale Traumata (Nachfahren von Gewaltopfern, Geflüchteten). In der Arbeit mit geflüchteten Menschen begegnen wir meist Personen, die Traumatisierungen auf mehreren dieser Ebenen aufweisen, also polytraumatische Erfahrungen gemacht haben. Nicht selten hören wir in den Lebens­ geschichten unserer geflüchteten Klient*innen von erlebter oder beobachteter Gewalt und Folter, sowohl im Herkunftsland als auch auf dem Fluchtweg. Daran schließt sich dann ein beengtes Leben ohne sicheren Ort in den Flüchtlingsunterkünften an, das teilweise wiederum von Übergriffen geprägt ist. Die Bedingungen im Ankunftsland sind für die Verarbeitung eines Traumas meist eher hinderlich als förderlich. Fremdheit und Befremden bezüglich des Themas Trauma entstehen häufig in drei Kontexten: Die rein formale Erzählung über das traumatische Erleben kann uns einerseits befremden. Andererseits kann das Wie, also die Art und Weise des Erzählens, Befremden auslösen. Schließlich kann uns auch der Umgang mit dem erlebten Trauma irritieren. Die meisten geflüchteten Menschen haben Traumata erlebt, die nur Wenige in der relativ friedlichen und kaum

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von Naturkatastrophen geprägten deutschen Nachkriegsgeschichte erfahren haben. Das erzählte oder im Schweigen ausgedrückte unermessliche Leid der geflüchteten Menschen ist meist eine unvorstellbare und somit fremde Erfahrung für die Helfenden. Es ist und bleibt ein fremder Schrecken. Zudem werden diese Geschichten oft mit einer nicht erwarteten emotionalen Ausdrucksweise berichtet, die auch befremden kann. So hören wir Geschichten über den Verlust von Angehörigen im Krieg, beispielsweise emotionslos erzählt oder anders ausgedrückt: mit abgespaltenem emotionalem Gehalt. Oder ein Geflüchteter driftet während seiner Erzählung vom Thema weg. Er dissoziiert, wenn er über bestimmte Situationen berichtet. Diese Erzähl- und Erlebensweisen lassen sich bei allen Menschen in der Verarbeitung traumatischer Ereignisse finden. Trotzdem wirken dissoziative Symptome, wie beispielsweise das Wegdrehen der Augen, immer befremdlich. Wir können davon ausgehen, dass es kulturell bedingte Wahrnehmungen, Symptome und Verarbeitungen von traumatischen Ereignissen gibt, dass die traumatische Reaktion kulturspezifisch sein kann. Eine Untersuchung hierzu bietet die Studie von Brandon A. Kohrt und Daniel Hruschka (2010) über die Betroffenen eines Erdbebens in Nepal. Die Autoren stellten fest, dass bei vielen Erdbebenopfern zwar traumatische Symptome auftraten, die lokale Sprache das Wort »Trauma« aber nicht kannte. Stattdessen fanden sich die Symptome in verschiedenen begrifflichen Konzepten wieder. Sie untersuchten diese sogenannten »Idioms of Distress«, also die geäußerten subjektiven Beanspruchungen, die im Zusammenhang mit dem traumatischen Erleben standen, und welche Behandlungskonsequenzen jeweils geäußert wurden (siehe Abbildung 1).

Idioms of Distress (Ebenen der Störungen)

Erste therapeutische Maßnahmen

Dimaag (Gehirn-Geist) ausgedrückt durch psychiatrische Symptome oder Ärger oder ...

Beraterisch: Psychoedukation Psychiatrisch: medikamentös, Behandlung des Substanzmissbrauchs

Iljat (Sozialer Status) ausgedrückt durch Gefühle der Scham und Demütigung, durch soziale Stigmatisierung

Gemeinschaftlich: Förderung der sozialen Inklusion Traditionell: Reinigungsrituale Beraterisch: Arbeit am Selbstwert, an den Beziehungen

Man (Herz-Geist) ausgedrückt durch generelle Unruhe (Angst) und/oder Erinnerungsschwierigkeiten

Traditionell: Herz-Geist-Ausbalancierung Beraterisch: Psychoedukation, Entspannungstechniken, stützende Beratung

Jin (Körper) ausgedrückt durch körperliche Verletzungen und Beschwerden

Saato (Seele) ausgedrückt durch Verlust der Seele oder andere spirituelle Nöte

Medizinisch: medikamentös oder andere medizinische Behandlung der körperlichen Verletzungen wie Operationen Traditionell: Seelenanrufung, Exorzismus, Besänftigen der Seelen der verstorbenen Angehörigen

Überweisungswege In den ersten Behandlungsschritten ist auf andere therapeutische Maßnahmen zu verweisen, da den meisten Traumatisierten – unabhängig vom ersten Behandlungsschritt – z. B. die Förderung der sozialen Inklusion nutzt.

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, Abbildung 1: Traumabehandlung in Abhängigkeit von den präsentierten Symptomen bei nepalesischen Erdbebenopfern (eigene Übersetzung von Kohrt u. Hruschka, 2010)

Die Befragten äußerten in der Untersuchung unterschiedliche Beschwerden, die entweder im Zusammenhang mit dem sozialen Status standen, eher psychiatrische Symptome beschrieben, generellen Stress und/oder Gedächtnisprobleme ausdrückten, die sich auf körperliche Beschwerden und Verletzungen bezogen oder mit einem Seelenverlust assoziiert waren. Für alle diese unterschiedlichen subjektiven Beschwerdeäußerungen existieren andere Umgangskonzepte, die sich auch teilweise in den uns bekannten Konzepten der Traumabehandlung widerspiegeln, sich aber unter Umständen auch stark unterscheiden können, wie folgendes Zitat anschaulich zeigt:

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»I do not know how to communicate with the experts. He told me that I have some kind of disease in my mind, but I think I am okay. He kept asking me to express my feelings toward the earthquake, but I feel embarrassed if I tell people my own feelings […]. I went to a Master in the temporary temple and she taught me how to deal with the situation. How to calm my anxieties through worship and helping others. How to accept grief as an arrangement of the gods. You know that our people have done so many wrong things.«  (Lin, 2000, S. 10 f.)

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Befremden könnte uns also in der Arbeit mit Geflüchteten auch die Kulturspezifität ihrer traumatischen Reaktion und Behandlung. In den letzten Kapiteln wurden einige Dimensionen, die in der Arbeit mit Geflüchteten immer wieder Irritation und Befremden auslösen, vor dem Hintergrund beschrieben, dass ein detaillierteres Wissen über das Fremde dazu führt, sich das Fremde besser erklären zu können und dadurch weniger irritiert zu sein. Wenn ich beispielsweise weiß, dass meine Klient*innen eher dem Modell der arrangierten Ehe mit einer Rollenverteilung folgen und mich mit den Vorzügen und Nachteilen eines solchen Modells auseinandergesetzt habe, bin ich möglicherweise weniger befremdet. Doch dieses Wenn-dann-Schema beschreibt nicht das ganze Bild. Denn häufig bleiben Fremdheits­ gefühle, auch wenn man sich dieser Dimensionen bewusst ist und obwohl der Sachverhalt eines Gesprächs gut erklärt werden kann. Es ist, als ob eine Rest-Irritation bestehen bleibt trotz aller Erklärungsmuster. Diesem Phänomen wollen wir uns nun annähern, beginnend mit einer soziologischen Theorie.

4 Das Fremde als sprachlose Selbstverständlichkeit – ein soziologischer Blick

Zu Beginn des letzten Kapitels hatte ich die Antworten der Workshopteilnehmenden auf die Frage, welche Klient*innen sie in der letzten Zeit in ihrer Arbeit befremdet hätten, vorgestellt (siehe Tabelle 1). Bei der Kategorie »Fremde Familien« fällt auf, dass hier häufig Familiensysteme gemeint sind, die einem anderen Wertekanon als ihre Helfenden folgen. Die Rede ist von Familiensystemen, in die die Professionellen gedanklich oder räumlich keinen Fuß in die Tür bekommen. Denn Fremdheit wurde von den Workshopteilnehmenden häufig gar nicht an Kultur gekoppelt, sondern an ein nicht nachvollziehbares anderes individuelles oder Familienhandeln (Gruppenhandeln). Wie lässt sich dieses Phänomen erklären? Eine mögliche Interpretationshilfe gibt die, zwar schon etwas ältere, aber dennoch hochaktuelle, Theorie des Soziologen Alfred Schütz über den Fremden. Laut Schütz’ Essay »Das Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch« (1944/2011, S. 59) stellt der Fremde »einen Erwachsenen unserer Zeit und Kultur […], der in einer Gruppe zu leben beginnt, von der er dauerhaft akzeptiert oder zumindest geduldet werden möchte« dar. Alfred Schütz unterscheidet dabei in seinen Ausführungen zwei Gruppen, die In- und die Out-Group, die Fremden und Nicht-Fremden, wobei sich die Bezeichnungen aus den jeweiligen Perspektiven ergeben. Man ist also zugleich Angehöriger der In- und Out-Group, Fremder und Nichtfremder. Hier schließt sich ein interessanter Gedanke an, was wohl passieren würde, wenn wir die geflüchteten Menschen als In-Group und die Nichtgeflüchteten als Out-

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Group sehen würden. Ginge es dann ebenfalls darum, dass die nichtgeflüchteten Menschen von den Geflüchteten akzeptiert oder zumindest geduldet werden? Aber zurück zu Schütz: In beiden Gruppen haben die Mitglieder ein bestimmtes Alltagswissen und Alltagshandeln, was Schütz (1944/2011) als »Denken wie üblich« oder »­Rezeptwissen« bezeichnet und was dadurch charakterisiert ist, dass ȤȤ das Leben seinen gewohnten Lauf nimmt und dass das Individuum sich auf sein Wissen verlassen kann, was ihm durch Instanzen vermittelt wurde, auch wenn es oftmals nicht genau weiß, woher das Wissen kommt, ȤȤ das Wissen im Alltag ausreicht, um mit den Ereignissen einigermaßen umzugehen und ȤȤ dieses Wissen von allen Menschen dieser Gruppe so angenommen wird. 4

Dieses »Rezeptwissen« unterteilt Schütz in Vertrautheitswissen, auf das man sich verlassen kann und das für eine Kultur als gültig erklärt wird. Dieses Wissen ist vorbewusst und somit einer Reflexion zugänglich. Dazu gibt es ein Bekanntheitswissen, das ausreichendes Partialwissen ohne Details beinhaltet und bewusst ist. Zudem existiert ein Nichtwissen, das aus Vorahnungen und ungesicherten Hoffnungen besteht, die eher unbewusst und keiner Reflexion zugänglich sind. Der*Die Fremde hat in Schütz’ Modell nicht nur Vorstellungen über seine*ihre eigenen Kultur- und Zivilisationsmuster, sondern auch über diejenigen der anderen Gruppe, die aus einer Position des unbeteiligten Beobachters entstanden sind. Um dieses Rezeptwissen von Schütz besser zu verstehen, betrachten wir die Familien mit starken Bindungen, die von den Workshopteilnehmenden mehrfach als Beispiel für Fremdheitsgefühle auslösende Familien genannt

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wurden. In den Beschreibungen der Befragten war einerseits von Familien, die seit Generationen am selben Ort wohnen, die Rede. Andererseits ging es auch um solche mit einer starken inneren Verbundenheit, wie anderskulturelle Großfamilien oder streng religiöse Familien. Ein Beispiel für einen solchen Familientyp: Beide Partner kennen sich von Kindesbeinen und auch die Elternhäuser sind seit langem miteinander vertraut. Es gibt eine Geschlechtertrennung und relativ klare Vorstellungen, wer wann was zu tun hat. Einen großen Raum nimmt das Leben in der Community oder Gemeinde und die Religionsausübung ein. Das außerfamiliäre Leben findet in der Gemeinde oder Community statt. Diese Familien besitzen wie jede andere Familie ein bestimmtes Denkenwie-­üblich. Sie haben beispielsweise ein Rezept­wissen darüber, wie sich morgens begrüßt wird, wann welche Familienaktivitäten zusammen gemacht werden, wer welche Aufgaben im Haushalt übernimmt oder wie Religion ausgeübt wird. Bei diesen Familien handelt es sich um eher traditionelle Familien, die über Generationen ihre Denken-wie-üblich-Strukturen aufbauten, wo es bei allen Familienmitgliedern eine große Schnittmenge dieser Überzeugungen gibt und wo viele Dinge des Alltags in einer festgelegten Form geregelt sind. Solche Familien lassen sich auch teilweise unter den Familien mit Fluchthintergrund finden. Die Menschen im Hilfesystem besitzen auch ein Alltagsverständnis darüber, wie Familien funktionieren und haben sich möglicherweise in ihrer beruflichen Sozialisation damit auseinandergesetzt. Somit sind durch Selbsterfahrung ihre Denken-wie-üblich-Strukturen bewusster und vielleicht vielfältiger geworden, durch Berufserfahrung und Weiterbildung können sie sogar zwischen funktionalen und nichtfunktionalen Denken-wie-üblich-Strukturen differenzieren.

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Was passiert nun beim Aufeinandertreffen von Angehörigen dieser Gruppen, wenn also Mitglieder aus Familien mit starken Bindungen auf Vertreter*innen des Hilfesystems treffen? Dazu sagt Schütz (1944/2011), dass der Fremde, der Angehörige der Out-Group, eine gewisse Objektivität gegenüber dem Nichtfremden, dem In-Group-Angehörigen, besitzt. Er hat sozusagen den Außenblick. Dadurch wirkt er unbeteiligt, stellt möglicherweise gewisses Rezeptwissen durch seine pure Anwesenheit infrage. Gleichzeitig ist in der Fremde dem Fremden das gesellschaftliche Wissen der anderen Gruppe nicht vertraut. Er teilt nicht dieselben Grundannahmen, das kollektive Wissen. Sein altes Denken-wie-üblich eignet sich zwar zur Interpretation, aber nicht zum Handeln in der anderen Gruppe. Er handelt also aus seinem modifizierten Denken-wie-üblich. Die In-Group kann das bemerken und ihm dadurch eine zweifelhafte Loyalität unterstellen in dem Sinn, dass man ja nie weiß, ob der Fremde das In-Group-Denken wirklich übernommen hat. Für unser Beispiel hieße das, dass die Familie mit den starken Bindungen gegenüber dem Hilfsangebot einen objektiven Außenblick besitzt und den Hilfeprozess und das Wissen der Helfenden darüber hinaus durch ihre reine Anwesenheit infrage stellen könnte. Parallel dazu besitzt sie, sofern sie das erste Mal in Kontakt mit dem Hilfesystem ist, kein Wissen über den Ablauf und sofern sie die*den Helfende*n auch nicht kennt, ebenfalls kein Wissen über dessen Familienmodelle. Die daraus resultierende Verhaltensunsicherheit kann der*die Helfende als Rigidität und zweifelhafte Loyalität gegenüber dem Hilfsangebot, dem seiner*ihrer Meinung nach herrschenden Familienmodell usw. interpretieren. Es entsteht eine Diskrepanz zwischen Helfenden- und Klient*innengruppe. Für Schütz (1944/2011) ist die eine wesentliche Möglichkeit, mit dieser Diskrepanz umzugehen oder ihr zu be-

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gegnen, die Sprache. Dabei differenziert er nicht zwischen verbalen und nonverbalen Aspekten. Sprache schließt alle möglichen sichtbaren Kommunikationsformen mit ein. Sie besitzt eine Doppelfunktion als Ausdrucks- und Auslegungsmittel. Sie drückt also das Denken-wie-üblich nicht nur aus, sondern interpretiert es auch. Das macht die Verständigung über diese Strukturen zwar noch anspruchsvoller, ist aber ein zentraler Weg, ihr zu begegnen. Zudem gibt es vor allem im Bereich des Nichtwissens nicht kommunizierbare Aspekte des Denkens-wie-üblich. ­Alfred Schütz bezeichnet diese als sprachlose Selbstverständlichkeiten. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass für Schütz der Fremde ein in einer Gruppe, Organisation oder gesamten Gesellschaft unbekannter Mensch ist, über dessen soziale und individuelle Existenz man nicht genug weiß, um mit ihm soziale Kontakte aufzunehmen, ihm Rollen zuzuweisen und Status zuzuerkennen. Fremdheit entsteht dadurch, dass einerseits die Gruppe eine Reihe von sprachlosen Selbstverständlichkeiten (Regeln, Normen, Verhaltenskodexe) teilt, die nicht formal kommuniziert werden. Ebenso besitzt der Fremde solche sprachlosen Selbstverständlichkeiten bezüglich seines Handelns. Das Fazit daraus ist, dass der Fremde und die Gruppe (OutGroup) jeweils anders funktionieren und gegenseitig nicht verstehbar sind. Dieses von Schütz auf Gruppenebene beschriebene Phänomen der sprachlosen Selbstverständlichkeiten lässt sich wie folgt auf die Begegnung Helfende*r und »Fremde Familie« übertragen. Dazu ist es zunächst spannend anzuschauen, wie diese Begegnung entsteht. Geschieht sie automatisch, weil die Familie nach Deutschland geflüchtet ist und sich nun in einem für sie neuen Raum bewegen muss? Oder ist ein Familienmitglied in Schwierigkeiten geraten, wie zum Beispiel durch Lernprobleme eines Kindes,

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und die Schule hat die Beratung empfohlen? Oder sind Probleme eines*einer Partner*in aufgrund von Krankheit die Ursache für die Kontaktaufnahme mit dem Hilfesystem? Alle diese Gründe haben auf den ersten Blick wenig mit dem Befremden der Helfenden über die kohäsiven und abhängigen Familienstrukturen zu tun. Auch zeigen sie anschaulich, dass das Denken-wie-üblich der Familie bereits vor Beginn des Hilfeprozesses in eine Krise geraten sein kann, dass die Fremdheit bedingt durch Ortswechsel, Schule, Krankheit davor schon Einzug gehalten hat. Die Familie wäre vielleicht bereits in sich in eine Inund Out-Group, also in zwei Denken-wie-üblich-Strukturen gespalten. In dieser Situation kommt die Familie zu einer weiteren (oder vielleicht aber auch der gleichen) Out-Group, dem*der Helfenden. Sowohl bei dieser*m als auch bei der Familie wäre nun interessant, wie groß der Anteil des bereits beschriebenen Denken-wie-üblich, also festen Vorannahmen, ist, der einer Reflexion zugänglich ist oder wie sprachlos selbstverständlich die Strukturen sind. Wie viel kann beispielsweise über Erziehung oder Zusammenleben (nicht) kommuniziert werden? Auch könnte es unterschiedliche Vorstellungen bezüglich des Ziels der Hilfe geben: Die Seite der Helfenden möchte das Denken-wie-üblich des Familiensystems verstehbar machen und eventuell sogar entwickeln oder verändern wollen. Das Familiensystem möchte sein Denken-wie-­üblich eher beibehalten. Wenn sich hingegen beide Strukturen im Rahmen des allgemeingültigen westeuropäischen Denkens-wie-üblich bewegen, ist dies noch relativ einfach. Komplexer wird es, wenn das Denken-wie-üblich der Familie diesen Rahmen zu verlassen scheint. Für den professionellen Kontext ergibt sich daraus, dass es eine Grenze des Verstehens und des Mitfühlens gibt, welches ich als Empathielag bezeichnen würde. In Prozessen, in denen das Fremde eine Bedeutung hat (und das ist

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mehr oder weniger in jeder Beziehung der Fall) geht es also um den Prozess des Verstehens und das Aushalten des Nichtverstehens. Alfred Schütz’ (1944/2011) sprachlose Selbstverständlichkeiten sind hierbei ein schönes Bild für diese Dynamik. Wenn Sie mögen, können Sie nun Schütz’ Theorie unter folgenden Gesichtspunkten auf eine Ihrer letzten Fremdheitsbegegnungen anwenden : –– Welche Denken-wie-üblich-Strukturen trafen aufeinander? –– Welche Aspekte des Denkens-wie-üblich waren dabei Ihrer Meinung nach eher bewusst, welche eher unbewusst? –– Was passierte in der Begegnung mit diesen Strukturen? –– Wo gab es sprachlose Selbstverständlichkeiten? Und wie gingen alle damit um?

 Während der Fokus von Alfred Schütz in der Beschreibung des Fremden auf der Gruppeninteraktion liegt und somit ein soziologisches Phänomen darstellt, holen die psychoanalytischen Theoretiker*innen das Fremde ins Innen. Das wollen wir uns nun anschauen.

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5 Fremdheit zwischen Innen und Außen – psychodynamische Perspektiven

5.1 »Der andere, das ist mein (eigenes) Unbewusstes« – Fremdes als Verdrängtes

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Die Psychoanalytikerin Julia Kristeva beantwortet die im 2. Kapitel bereits aufgeworfene Frage nach den Gespenstern, die uns unheimlich (fremd) erscheinen, mit dem schönen Satz: »Der andere, das ist mein (eigenes) Unbewußtes« (Kristeva, 1990, S. 200). Sie setzt dazu das Fremde und das Eigene in einen Zusammenhang und bezieht sich wiederum auf den Aufsatz von Sigmund Freud über das Unheimliche (1919). Das Fremde ist für Kristeva demzufolge das Bekannte, einst vertraut Gewesene, das zunächst ins Unbewusste verdrängt, im Bewusstsein erscheinend nun aber zum Fremden wird. In diesem Kontext gesehen ist Fremdheit ein Beziehungsphänomen, das nicht absolut und objektiv zu fixieren ist. Das Aufspüren der Fremdheit in uns selbst ist somit der einzige Weg, sich dem Fremden zu nähern. Ein Beispiel zur Illustration: B. arbeitet schon seit drei Jahren in einer Beratungsstelle. Ein wesentlicher Fixpunkt des Teams ist, dass jeden Mittwoch die Teamsitzung um 9.00 Uhr startet, zu der eine Verwaltungsmitarbeiterin eigens Kaffee und Tee zubereitet. Seit drei Wochen nun arbeitet ein neuer Kollege in der Beratungsstelle, der ungefähr in B.s Alter ist. Bisher kam er immer zu spät zu den Teamsitzungen, dafür aber mit einem Becher frischen, gut riechenden Kaffee in der Hand. Allgemein wird auf alle Kollegen gewartet, und so beginnt

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die Teamsitzung erst 15 Minuten später. B. merkt, wie von Sitzung zu Sitzung sein Unmut darüber wächst. Wenn ohnehin schon 15 Minuten später angefangen wird, bräuchte er sich ja auch selbst nicht so zu hetzen. Beim dritten Mal spricht B. seinen Ärger laut aus, bevor der Kollege kommt, und fragt, ob man denn nicht pünktlich beginnen könne. Seine Äußerung trifft aber nicht auf Zustimmung. In einer der nächsten Wochen hat B. verschlafen und kommt selbst zehn Minuten zu spät an der Beratungsstelle an. Er sieht, wie in diesem Moment der neue Kollege mit seinem dampfenden Kaffee aus dem gegenüberliegenden Café tritt und ihm zuwinkt. Als sie sich treffen, merkt B. wie lecker der Kaffee doch eigentlich riecht, gleichzeitig ist er aber auch verärgert, wie man wegen eines Kaffees zu spät kommen kann. Er kann es eigentlich nicht begreifen. Bei dem anstehenden Jahresgespräch mit der Leiterin der Beratungsstelle spricht B. seinen Unmut über die mangelnde Pünktlichkeit in der Beratungsstelle an.

Worum geht es in dieser Geschichte? B. ist befremdet. Er reagiert mit einer verhaltenen Wut auf die Unpünktlichkeit des Kollegen, die dessen unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung nach Kaffee entspringt. B. scheinen möglicherweise Menschen zu befremden, die sich weniger normkonform als er bei der Erfüllung bestimmter Bedürfnisse (guten Kaffee zu trinken) verhalten und sich dabei rücksichtslos benehmen. Seine innere Anspannung versucht er nicht im direkten Kontakt mit dem Kollegen zu lösen, sondern durch indirektes Verhalten wie Neuverhandeln der Normen oder Suchen von Verbündeten, denen es ähnlich geht. Über all das ist sich B. aber noch nicht ganz im Klaren. Um sein eigenes Befremden besser zu verstehen, müsste B. überlegen, wie er und wie mit ihm in früheren Beziehungen bezüglich der Befriedigung bestimmter Bedürfnisse umgegangen worden ist.

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B. wuchs in einer Arztfamilie in einer Kleinstadt auf. Seine Eltern waren beide angesehene Personen des Ortes, waren aktiv in der Kirchgemeinde und zeitweise auch in der Lokalpolitik tätig. Zu Hause wurde oft darüber gesprochen, wie man sich öffentlich zu verhalten habe. B. erinnert sich, dass er immer ein sehr angepasstes Kind war. Mit zehn Jahren war er einmal aus freien Stücken beim Friseur gewesen und hatte sich eine sehr modische Frisur schneiden lassen. Als er diese stolz seinen Eltern zeigte, reagierten sie mit Unverständnis, wieso er so viel Geld für einen Haarschnitt ausgegeben habe, den man doch selbst schneiden könne.

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Hier wird deutlich, dass im Elternhaus von B. bestimmte vitale Bedürfnisse eher hintenangestellt wurden, es also eher lustfeindlich zuging. Diese Impulse durften wenig gelebt werden, und wenn sie mal zutage traten (Friseurbesuch), stießen sie auf Unverständnis. Mit seinem Kollegen begegnen B. nun vitale Impulse, die er mithilfe einer normsetzenden Instanz external (im Außen) zu bekämpfen versucht. Das Fremde, der Umgang mit den vitalen Bedürfnissen des Kollegen, ist somit das Eigene, was verdrängt wurde. B. übernimmt Aspekte des Verhaltens seiner Eltern, die seinen initiativen Friseurbesuch nicht wertschätzen konnten. Zur Illustration noch ein zweites Beispiel aus der Arbeit mit geflüchteten Menschen: Eine Familienhelferin ist im Umgang mit einem syrischen Vater immer wieder von dessen Forschheit und Direktheit befremdet. Der Mann tritt manchmal sehr energisch auf sie zu, schüttelt ihr überschwänglich die Hand und setzt sich dann breitbeinig auf den Stuhl. Dieses Verhalten löst bei der Familienhelferin Unwohlsein und Ärger aus. Sie fühlt sich dominiert und denkt: dieses Machogehabe.

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Wie lassen sich die Gefühle dieser Familienhelferin vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Theorie des Fremden erklären? In der Begegnung mit dem syrischen Vater wird die Familienhelferin mit einem Menschen konfrontiert, der sich seinen Raum einfach so nimmt und Selbstbewusstsein ausstrahlt. Wir wollen an dieser Stelle nicht überlegen, warum sich beide in dieser Situation so verhalten müssen, sondern welche eigenen Themen die Familienhelferin in den Fremden projiziert und dort bekämpft bzw. reguliert. Wir könnten annehmen, dass es um das Sich-Platz-nehmenKönnen oder Selbstbewusstsein geht. Wie wurde in der Biografie der Familienhelferin damit umgegangen, wenn sie sich selbstbewusst oder vielleicht etwas dominierend gezeigt hat? Wurde ihr vielleicht gesagt, dass sie sich nicht so in den Vordergrund spielen oder Rücksicht nehmen solle, was bei ihr möglicherweise Gefühle von Ärger ausgelöst hat? Hier könnte auch ein Aufwachsen in einer patriarchalen Familie oder unter patriarchalen Strukturen eine Rolle spielen. In der Begegnung mit dem Fremden spiegelt sich diese Erfahrung: Die Familienhelferin ist unangenehm berührt beim Anblick eines solchen Verhaltens und kann es nur mit der inneren Bemerkung »Macho­gehabe« be- bzw. sogar entwerten. Wenn die Familienhelferin später sehr emotional über bestimmte Wertekonflikte, die aus den unterschiedlichen Geschlechterrollen resultieren, diskutiert, könnte diese Emotionalität auch in dem Eigenen begründet liegen, dass es im Anderen zu bekämpfen gilt. Julia Kristeva (1990) und Sigmund Freud (1919) sehen das Unheimliche allerdings eher mit einer negativen Irritation und Angst verbunden. Wir können aber zusätzlich davon ausgehen, dass auch sehr positive Gefühle oder Neugier, die das Verhalten der Fremden in uns auslösen, ein Teil dieses projektiven Mechanismus sind. Theoretisch ließe sich ja alles verdrängen, also könnte uns auch alles fremd sein. Doch Freud (1919) grenzt das

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Fremde auf folgende Aspekte ein: Er führt aus, dass im Unheimlichen Reste animalischer Seelentätigkeit liegen, dass uns also im Befremdlichen überwundene primitive Überzeugungen wieder erscheinen wie die Allmacht der Gedanken, prompte Wunscherfüllung, geheime schädigende Kräfte oder die Wiederkehr der Toten. Dieses Unheimliche brauche jedoch einen Urteilsstreit, ob die überwundenen primitiven Überzeugungen nicht doch real möglich wären. An dieser Stelle macht Freud einen Unterschied zu Märchen aus, die an sich nicht unheimlich seien, da ja jedem klar sei, dass es sich um eine erschaffene Realität handelt. Wenn wir also innerlich über unsere Klient*innen sagen »was haben die denn für Vorstellungen«, könnten wir mit diesem Aspekt des Fremden, den überwunden geglaubten Überzeugungen, konfrontiert werden, wie vielleicht auch über die Klientin Frau A. im ersten Fallbeispiel dieses Buches (siehe Kapitel 1). Diese Idee des Überwundenen finden wir auch in der Äußerung über die »So kann man doch heute nicht mehr denken«-Familien (siehe Kapitel 4). Zwar geht es in beiden Beispielen anscheinend nicht um magische Vorstellungen oder Ähnliches. Aber auch in diesem Kontakt mit den fremden Familien scheinen überwunden geglaubte Überzeugungen wiederaufzutauchen, wie vielleicht die vom Mann als Ernährer der Familie oder von bestimmten Rollenvorstellungen in der Familie. Manchmal treffen wir in der psychosozialen Arbeit aber auch wirklich auf magische, archaische oder überkommene Vorstellungen von der Lösung bestimmter Probleme, sei es, wenn Klient*innen über bestimmte Heilungsrituale bei Krankheiten sprechen oder ihre Kinder bei Erziehungsschwierigkeiten für Jahre zu den Großeltern in ein anderes Land schicken. Zu dem Punkt, dass uns das Unheimliche in den überwunden geglaubten Überzeugungen begegnet, führt Freud (1919) noch aus, dass es der Identifikation mit diesen

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Überzeugungen bedarf: Im Moment des Erzählens muss ich also davon ausgehen, dass diese Überzeugung stimmt oder wenigstens in sich stimmig ist, um sie unheimlich zu finden. Im Fall von Frau A., der im ersten Kapitel geschildert wurde, wäre dies möglicherweise die Idee, mit dem neuen Partner, der Vater ihres ungeborenen Kindes ist, und ihren fünf Kindern problemlos zusammenleben zu können. Sie scheint ein nicht gerade rational begründ­bares Vertrauen zu haben, dass dieses Modell lebbar ist. Dieser Traum vom Familienglück deckt sich möglicherweise mit unseren eigenen Kindheitsträumen, in denen wir denken: Wenn die Liebe nur stark genug ist, wird schon alles klappen. Hier finden wir möglicherweise unsere Identifikation mit dem Irrationalen, was es erst unheimlich und fremd werden lässt. Bei dem Irrationalen als Fremden handelt es sich vornehmlich um eine kognitive Komponente. Sigmund Freud (1919) beschreibt in seinem Aufsatz auch, welche Ängste verdrängt werden und im Fremden wieder zutage treten können. Dabei benennt er zuerst die Angst vor dem eigenen Tod: »Der Satz: alle Menschen müssen sterben, paradiert zwar in den Lehrbüchern der Logik als Vorbild einer allgemeinen Behauptung, aber keinem Menschen leuchtet er ein, und unser Unbewußtes hat jetzt so wenig Raum wie vormals für die Vorstellung der eigenen Sterblichkeit« (Freud, 1919, S. 255). Diese Angst lässt sich vielleicht in der Aussage des*r Workshopteilnehmenden in Tabelle 1 (Kapitel 3) finden, in der es um das Befremden über einen Klienten geht, der einen (erweiterten) Suizid plant (Mann, der Dschihadist werden will), und dem eventuellen Unvermögen, sich in diese Aspekte des Klienten einfühlen zu wollen. Aber auch der »fremde Schrecken« des Traumas könnte diese Angst widerspiegeln. Andererseits »kommt (es) oft vor, dass neurotische Männer erklären, das weibliche Genitale sei ihnen etwas

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Unheimliches. Dieses Unheimliche ist aber der Eingang zur alten Heimat des Menschenkindes, zur Örtlichkeit, in der jeder einmal und zuerst geweilt hat« (Freud, 1919, S. 258 f.). Das Weibliche ist laut Freud das Verdrängte, wobei das Genital hier eher symbolisch für eine Verschmelzungsangst steht, die abgewehrt werden muss. Sie lässt sich aus der Befremdung der Workshopteilnehmenden im Kapitel 3 über die »geschlossenen Familien«, die kaum getrennt und schon verschmolzen scheinen, herauslesen. Auch Frau A. aus dem ersten Kapitel scheint wenig Autonomiebestrebungen zu zeigen und geradezu den Wunsch zu hegen, mit Partner und/oder Kindern symbiotisch leben zu wollen. Ist es diese Sehnsucht nach und die gleichzeitige Angst vor Verschmelzung, die uns Frau A.s Familienplanung befremdlich scheinen lässt? Und schließlich »heißen (wir) auch einen lebenden Menschen unheimlich […], wenn wir ihm böse Absichten zutrauen« (Freud, 1919, S. 256). Es geht hierbei um das Triebhafte. In den oben genannten Beispielen finden wir sehr häufig das Triebhaft-Aggressive, das die Helfenden befremdet, wie beispielsweise in den Klient*innen, die unmittelbar ihre Aggressionen leben, die Dschihadisten werden wollen oder auch in hochkonflikthaften Paaren. Das Aufspüren der Fremdheit in uns selbst, ist somit der einzige Weg zu dem Fremden. Dazu abschließend in diesem Kapitel eine kleine Übung, die uns hilft, sich dem Fremden in uns anzunähern: Erinnern Sie sich bitte an eine Situation (eine Begegnung mit einem anderen Menschen) in letzter Zeit, in der Sie Fremdheitsgefühle verspürt haben. Wenn Sie eine Szene vor Ihrem inneren Auge haben, machen Sie sich bitte Gedanken zu folgenden Fragen:

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Wie kam es zu meinem Befremden (Verhalten der anderen Person, eigene Erinnerungen etc.)? Mit welchen anderen Gefühlen waren meine Fremdheitsgefühle verbunden? Wie ging es in der Begegnung weiter? Was passierte mit meinen Gefühlen? Traten meine Fremdheitsgefühle und die damit verbundenen Emotionen schon zuvor (in ähnlichen Begegnungen) auf? Wie oft? Welche Fantasien und Ideen habe ich darüber, wie dieses Befremden und die damit verbundenen Gefühle in meiner Biografie verankert sind?

 5.2  Die fremden Anderen Das Fremde erscheint aber nicht nur als Eigenes, es entsteht auch in der Beziehung zu anderen Personen. Die erste Fremde in diesem Kontext ist die Mutter, die erste Bezugsperson, die für die eigene Selbstentwicklung als fremd wahrgenommen werden muss. Ihr gegenüber befinden wir uns im Spannungsfeld von Angst und Entwicklung, von Bindungsbedürfnis und Explorationsbedürfnis. Ein Beispiel für dieses Spannungsfeld ist das Fremdeln, welches Oerter und Montada (1987, S. 185) als »eine heftige emotionale Reaktion beim Anblick einer fremden Person« beschreiben. Dieses Fremdeln wird auch als 8-Monats-Angst bezeichnet und passiert zu einer Zeit, in der sich die Wahrnehmung des Babys ausdifferenziert: Es kann mittlerweile zwischen vertrautem und fremdem Gesicht unterscheiden. Parallel dazu intensiviert und verstärkt sich die Mobilität. Das Baby beginnt zu krabbeln, sich aufzurichten, versucht das Stehen. Physisch kann das Baby also stärker explorieren, wobei das Fremdeln den Aktionsradius be-

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grenzt, das Bindungsbedürfnis aktiviert und das Baby somit vor allzu expansiver Exploration schützt. Ein etwas anderer Erklärungsansatz bringt das Fremdeln mit einer etablierten Bindung in Zusammenhang und sieht in ihm eher eine Trauerreaktion oder Trennungsangst im Anblick einer nichtvertrauten (fremden) Person (Benecke, 2014). Entwicklungspsychologisch später gewinnt das Fremde an Bedeutung bei der Entwicklung der Fähigkeit, drei ganze Objektbeziehungen verinnerlichen zu können. Damit sind Vorstellungen über ambivalente Beziehungen zur ersten Bezugsperson (meistens Mutter), zur zweiten Bezugsperson (häufig Vater) sowie deren Beziehung untereinander gemeint. Um diesen Entwicklungsschritt gehen zu können, also die Fähigkeit zu entwickeln, triangulieren zu können, brauchen wir zwei Fremde und deren Beziehung zueinander. In der Subjektwerdung ist der Andere also immer fremd, sei es der oder die Dritte in der ödipalen Konstellation, der Partner, die Partnerin, die Außenbeziehung. Der Andere wird gebraucht, um Selbst zu werden, selbst zu sein. Wenn wir etwa nach der Arbeit mit einem geflüchteten Menschen denken: »Wie gut habe ich es doch in meinem Leben« oder »Wie schön, dass ich in einem so sicheren Land wie Deutschland wohne«, dann hat das fremde Andere auf uns identitätsstiftend gewirkt. Aber auch wenn wir in einer professionellen Begegnung mit einem anderskulturellen Menschen an die Grenzen unseres Handelns kommen, unsere Methoden hinterfragen, weil sie mög­ licherweise wirkungslos gewesen sind, uns möglicherweise überlegen, ob wir für unseren Beruf überhaupt noch geeignet seien, dann könnte das Fremde identitätsverunsichernd gewirkt haben. Das Fremde begegnet uns nicht nur in einer anderen Person, sondern auch in einer anderen Gruppe. Hier sind vor allem für unseren Kontext Konzepte des inneren

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Rassis­mus spannend, die in den letzten Jahrzehnten unter anderem aufgrund der zunehmenden Islamfeindlichkeit in bestimmten Gesellschaften eine Renaissance vor allem in der anglophonen Psychoanalyse und dort in einer neueren Theoriebildung des inneren Rassismus fanden. Dabei muss erwähnt werden, dass die Begriffe »race and racism« im englischsprachigen Raum gebräuchlicher sind als Rasse und Rassismus im deutschsprachigen Raum. Fakhry Davids, der maßgebliche Entwickler dieses Konzepts, versteht unter innerem Rassismus einen projektiven Vorgang über ein Wir und Sie, der »es erlaubt, dass Projizierte besonders weit weg zu schieben« (Davids, 2006, S. 88). Dazu bedarf es bestimmter Bedingungen, die anhand des folgenden Beispiels illustriert werden sollen: In einem Integrationskurs sind regelmäßig Gruppenarbeiten vorgesehen, in denen geflüchtete Menschen über Werte und Normen sowie eigene Integrationserfahrungen reflektieren. Für diese Diskussionen stellt der Gruppenleiter die Stühle in einem bestimmten Abstand auf. Regelmäßig zu Beginn der Veranstaltung, zu der die Teilnehmenden nach und nach eintrudeln, verändern sie den Abstand der Stühle und schieben sie näher zueinander. Manchmal wird aus dem Kreis ein Oval, manchmal eine Acht. Manche der Teilnehmenden setzen sich überhaupt nicht auf einen Stuhl, sondern lieber auf die Fensterbank. Während der Diskussionen lassen die Teilnehmenden sich gegenseitig oft nicht ausreden oder aber rücken näher aneinander oder halten sich bei bestimmten Themen an den Händen. Sie diskutieren mit hohem Körpereinsatz. Einige machen sich zwischendurch einen Tee, andere essen Kekse. Der Gruppenleiter ist zu Beginn irritiert, muss innerlich manchmal schmunzeln. Mit zunehmendem Verlauf wird er aber immer ärgerlicher, da auch mahnende Worte an der Situation nichts ändern. Er beschließt in einen Raum zu wechseln, der weiter von der Küche entfernt ist und

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in dem das Verschieben der Stühle weniger leicht möglich ist. Die Ordnung im Ablauf der Diskussion stellt er darüber her, dass er eine Regel einführt, dass nur der*die, der*die einen Ball in der Hand hält, reden darf. Dies geht einige Zeit gut. Einem neuen Teilnehmenden, der verspätet den Integrationskurs beginnt und sich, indem er einfach dazwischenredet, nicht an die aufgestellten Regeln hält, bittet der Gruppenleiter zum Einzelgespräch, in dem er dem Neuen mangelndes Interesse am Kurs vorwirft.

Dieses Beispiel soll uns die bestimmenden Elemente der Theorie des inneren Rassismus illustrieren: »1. Ein realer Unterschied, der Subjekt und Objekt trennt, wird identifiziert« (Davids, 2006, S. 89).

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Die realen Unterschiede zwischen dem Gruppenleiter und der Gruppe sind unter anderem der Fluchthintergrund, Einkommensungleichheiten (der Leitende hat ein deutlich höheres Einkommen) sowie Bildungsunterschiede (die geflüchteten Menschen haben keinen anerkannten Abschluss). »2. Unerwünschte Aspekte des Selbst werden abgespalten und über die Trennlinie projiziert« (Davids, 2006, S. 89). Bei diesem Punkt gibt es Parallelen zu dem, was Kristeva mit dem Satz »Das Fremde ist das unbewusst Eigene« (1990) meinte und was in Kapitel 5.1 beschrieben wurde. Trotzdem ist es spannend, nochmals nachzuspüren, welche unerwünschten Selbstaspekte ganz konkret der Gruppenleiter über die Trennlinie in seine Gruppe projiziert. Da sind gleich mehrere Möglichkeiten vorstellbar: Es könnte der Wunsch nach etwas weniger Struktur sein, danach, vielleicht auch einmal nicht pünktlich sein zu müssen, oder ohne große Gedanken seinem Bedürfnis

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nach Essen und Trinken nachgehen können, oder sich seinem*seiner Gesprächspartner*in auch körperlich nähern zu dürfen. »3. Eine organisierte innere Schablone wird konstruiert, um die Beziehung zwischen dem Subjekt, das nun von unerwünschten Selbstanteilen befreit ist und dem Objekt, das diese nun enthält, zu regulieren. Ab jetzt müssen alle Interaktionen den Erfordernissen dieser Organisation folgen […]. Die Existenz dieser Organisation bleibt verborgen, bis die Forderung, der andere möge kein normales Individuum mit normalen Rollen sein, gebrochen wird. Dann bricht die ganze hinter der Organisation versteckte Gewalt ungezügelt los« (Davids, 2006, S. 90). Der Gruppenleiter könnte sich eines inneren Stereotyps über geflüchtete Menschen bedienen, die keine Regeln kennen. Oder er könnte einen Kulturkreis identifizieren, von dem er meint, dass die Menschen sich so verhalten müssen. Er wertet diese Unordnung innerlich ab und führt Regeln ein, um sie einzudämmen. Diese Regeln bestimmen nun den Interaktionsprozess, woran sich die Gruppe auch hält. Dem Neuen allerdings wird ohne nachzufragen unterstellt, dass er nicht motiviert sei, ihm wird mit einer Schablone der inneren Fremdenfeindlichkeit begegnet. Diese organisierte innere Schablone bezeichnet Davids auch als inneren Rassismus, als eine innere Abwehrorganisation, die jeder Mensch besitzt und die in krisenhaften (angstbesetzten) Zuständen mobilisiert wird. Sein Konzept geht zurück auf John Steiners Pathologische Organisation (Steiner, 2015), wobei damit Organisationen von Abwehrmechanismen und Repräsentationen der Anderen gemeint sind, die der Regulation von Angst dienen. John Steiner (2015) bezeichnet diese Organisationen auch als »Orte des seelischen Rückzugs«, die das Individuum in spannungsbe-

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Fremdheit zwischen Innen und Außen

setzten Zuständen aufsucht. Die Metapher der Organisation scheint dabei nicht zufällig gewählt, dienen doch oft auch reale Strukturen der Reduzierung von Angst. Ein Mensch, der Angst vor sozialen Situationen hat, wird beispielsweise seinen Alltag und seine Beziehung so organisieren, dass er diese Situationen vermeiden kann. Vereinfacht könnte man sich diesen Gedanken so vorstellen, dass unsere inneren Repräsentanzen mitunter miteinander agieren wie eine Bande, eine Gang oder eine mafiaähnliche Struktur. Laut Davids (2011) wird der innere Rassismus bereits im Kleinkindalter erworben durch Spaltungsvorgänge, in denen jeweils das Unerträgliche, Angstbesetzte (das psychoanalytisch Böse) abgespalten und nach außen projiziert wird. In diesem Stadium herrschen im Inneren des Babys nur gute Repräsentanzen über das Selbst vor, während die unerträglichen (sozusagen bösen) Selbst- und Fremdrepräsentanzen außerhalb in der primären Bezugsperson (meistens der Mutter) deponiert sind. In einem ersten Schritt integriert das Baby in seinem Inneren unerträgliche als auch gute Anteile, sowohl seiner primären Bezugsperson als auch von sich selbst. Hier entstehen erste Selbst- und Objektrepräsentanzen, die positive und auch negative Seiten beinhalten können und auf bestimmte Weise organisiert sind. Diese Spaltungs- und Integrationsvorgänge wiederholen sich bei jeder dazukommenden Bezugsperson (Vater, andere Familienmitglieder). Die letzte Differenzierung geschieht gegenüber der anderen Gruppe im Sinne von: Wir sind gut/die Anderen sind böse. Oder aber auch: Wir sind schlecht/die Anderen sind gut. Fakhry Davids (2010) beschreibt, dass Kinder in dieser Entwicklungsphase bereits eine Differenzierung zwischen der eigenen und der anderen Gruppe vollziehen. Es entsteht somit bereits früh ein inneres Objekt, eine innere Repräsentanz von den Anderen, die Davids als »the racial other« bezeichnet. Zusammenfassend lässt sich also mit den Worten Davids sagen (2010, S. 92 f.):

Die fremden Anderen67

»Einige Objekte kann man in jeder inneren Welt finden. Sie können daher als Teil der psychischen Struktur aufgefasst werden. In diese Kategorie fallen das Selbst, das Über-Ich, die Mutter- und die Vaterrepräsentanz. Ich denke, dass auch der rassisch Andere in diese Kategorie gehört. […] es ist eine Beobachtung, dass es keine innere Welt gibt, die keinen rassisch Anderen enthält«. Als empirischen Beweis führt er die sogenannten Puppenexperimente (Doll-Tests) an. Dabei werden schwarzen Kindern jeweils schwarze und weiße Puppen gezeigt. Anschließend werden sie befragt, welche der Puppen schwarz bzw. weiß ist, welche der Puppen schöner oder hässlicher, welche der beiden Puppen gut bzw. böse und welche der beiden Puppen ihnen ähnlich ist. Ein sehr eindrücklicher Einblick in ein solches Experiment ist auf Youtube (­Dixon u. Fuller, 2011, 2012) zu sehen. Die Ergebnisse eines der ersten dieser Experimente, die allerdings bis heute immer wieder in anderen Studien repliziert wurden (Überblick über weitere Studien siehe Davids, 2011, S. 61 ff.), sind in Tabelle 2 dargestellt: Tabelle 2: Häufigkeiten in % mit der schwarze Kinder jeweils eine weiße oder schwarze Puppe auswählten (Clark u. Clark, 1947, zit. nach Davids, 2011) Instruktion an das Kind

Weiße Puppe

Schwarze Puppe

Weiß nicht

Gib mir die Puppe, 67 mit der du spielen möchtest!

32

1

Gib mir die Puppe, 59 die schön ist!

38

3

Gib mir die Puppe, 17 die böse aussieht!

59

24

Gib mir die Puppe, 60 die eine schöne Hautfarbe hat!

38

2

5

68

Fremdheit zwischen Innen und Außen

In diesen Ergebnissen wird deutlich, dass die Mehrheit der schwarzen Kinder, die ihnen ähnlich aussehenden Puppen negativ bewertet, während die weißen Puppen als das Ideal angesehen werden. Laut Davids (2011), der dieses klassische sozialpsychologische Experiment, psycho­ dynamisch interpretiert, haben wir es hier mit einer Spaltung zu tun, bei der die eigene Gruppe als schlecht und die andere (fremde) Gruppe als gut angesehen wird. Die damit jeweils verbundenen inneren Schablonen sind differenzierter und geformt durch ein komplexes System aus eigenen Erfahrungen und gesehenen Bildern. Diese innere Schablone wird in einem Zustand der Krise aktiviert und sich auf diese Position zurückgezogen.

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Um noch einmal auf das Beispiel des Gruppenleiters zurückzukommen: In der Identifikation mit diesem Leiter wird unsere innere Schablone gespeist von dem Wir der Einheimischen und dem Anderen der Geflüchteten. Somit stellen sich für uns folgende Fragen: –– Welche inneren Schablonen haben wir von geflüchteten Menschen? –– Was projizieren wir in sie hinein? –– Wie ist unser persönlicher innerer Umgang (unsere innere Gang) mit diesen wohl strukturiert?

 5.3  Die fremde Kultur Interessanterweise findet sich das Spannungsverhältnis von Innen und Außen, von Bekanntem und Unvertrautem, von Eigenem und Fremden auch in der Beziehung

Die fremde Kultur69

des Individuums zu Familie und Kultur, wobei Kultur in diesem Zusammenhang der Raum außerhalb der Familie ist. Der Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim beschreibt dies sehr schön in seinem Aufsatz »Das Eigene und das Fremde. Über die ethnische Identität« (1992, S. 737): »Die Familie ist der Ort des Aufwachsens, der Tradition, der Intimität im Guten und im Bösen, der Pietät und der Verfemung. Die Kultur ist hingegen der Ort der Innovation, der Revolution, der Öffentlichkeit und der Vernunft.« Dabei stehen Kultur und Familie in einem Spannungsverhältnis, das Sigmund Freud 1930 in »Das Unbehagen in der Kultur« wie folgt charakterisiert (S. 462): »Die Familie will das Individuum nicht freigeben. Je inniger der Zusammenhalt der Familienmitglieder ist, desto mehr sind sie geneigt, sich von den anderen abzuschließen, desto schwieriger wird ihnen der Eintritt in den größeren Lebenskreis.« Die Kultur, die das zwischenmenschliche Zusammenleben von größeren Gruppen regelt, wird gebraucht, um aus der Familie heraustreten zu können. Dabei legt die Kultur bestimmte Regeln, wie beispielsweise das Inzesttabu, fest, die diesen Prozess ermöglichen: »Das Inzesttabu treibt das Individuum gleichsam in die Fremde, welche jenseits der Grenzen der Familie anfängt« (Erdheim, 1992, S. 735). In der Kultur lernt das Individuum den Umgang mit seinen Bedürfnissen (Trieben), wird also von ihnen teilweise entfremdet und kann dadurch zum sozialen Wesen reifen. Dadurch wird die Kultur zu einem Raum, in dem es nicht die sofortige, spontane Bedürfniserfüllung gibt, der es aber gleichzeitig ermöglicht, kreative und schöpferische Leistungen zu vollbringen. Die eigene fremde Kultur verbietet und ermöglicht also zugleich. Sobald ein*e Klient*in in das Hilfesystem kommt, bewegt er*sie sich dann von der Familie in die Kultur? Ersetzen wir in Erdheims Satz das Wort »Kultur« durch »psychosoziale Angebote«, lautete er wie folgt: »Die Familie ist

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Fremdheit zwischen Innen und Außen

der Ort des Aufwachsens, der Tradition, der Intimität im Guten und im Bösen, der Pietät und der Verfemung. Das [psychosoziale Angebot] ist hingegen der Ort der Innovation, der Revolution, der Öffentlichkeit und der Vernunft.« Ehrenamtliche oder professionelle Hilfe reißt das Individuum aus (familiären) Verstrickungen, kann zur Veränderung (Innovation oder gar Revolution) führen oder macht etwas bewusst (vernünftig) oder passt das Individuum an herrschende Verhältnisse an (Öffentlichkeit und Vernunft). Die Klient*innen gehen in die Fremde (Helferkultur), um danach verändert auf die Dinge zu schauen, vielleicht anders zu handeln oder gar vernünftig im Sinne der Ankunftsgesellschaft zu werden (was auch immer damit gemeint sein mag).

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6  Fremdheit in der helfenden Beziehung

6.1 Das Fremde als dynamisches Beziehungsgeschehen In unserem Alltag ist es immer wieder zu bemerken: Bestimmte Eigenschaften, die uns bei dem einen Menschen befremden, verunsichern oder gar stören, spielen im Gespräch mit einem anderen Menschen eine unbedeutendere Rolle und erscheinen mitunter sogar liebenswert. Wir verurteilen möglicherweise ein für uns wertebasiertes Verhalten wie zum Beispiel, dass Männer Frauen in bestimmten Situationen nicht die Hand geben und vermuten dahinter eine geschlechterdiskriminierende Einstellung – aber gerade bei diesem Klienten oder in jener Begegnung fällt uns der fehlende Handschlag überhaupt nicht auf. Vielleicht äußern wir uns über Menschen mit vielen wechselnden Paarbeziehungen etwas abwertend und ertappen uns wenig später dabei, wie wir gespannt der Erzählung einer Klientin lauschen, in der es von Beziehungswechseln nur so wimmelt. Diese kurzen Beispiele zeigen, dass Irritation und Befremden natürlich von der Person, die sie auslöst, abhängen und von der Beziehung, die wir zu dieser Person haben. Fremdheit, die in zwischenmenschlichen Beziehungen erlebt wird, ist also nichts Absolutes, sondern sie entsteht eigentlich erst in der Begegnung und gewinnt in der Interaktion mal mehr und mal weniger an Bedeutung. Ein Konzept, dass sich anbietet, dieses »mal mehr und mal weniger« genauer zu verstehen, ist das Übertragungs- und Gegenübertragungskonzept der Psychoanalyse.

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Fremdheit in der helfenden Beziehung

6.2 Übertragung

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Unter Übertragung können wir generell die Neigung verstehen, eine Person in der Gegenwart verzerrt und möglicherweise für diese Person unangemessen wahrzunehmen und sie in gewisser Weise mit einer bedeutsamen Person aus der Vergangenheit quasi zu verwechseln. Das bedeutet einerseits, dass wir das Gegenüber nicht so wahrnehmen können, wie es sozusagen wirklich ist, sondern es mit bestimmten Beziehungserfahrungen aus unserer Vergangenheit behängen. Aber es bleibt nicht nur bei diesem Behängen: Wir wollen zu dieser Person auch eine Beziehung herstellen, die in einigen Aspekten oder sogar ganz der früheren Beziehung entspricht. Eine Übertragungsreaktion muss somit folgende Eigenschaften aufweisen: Sie muss eine Wiederholung, eine aktualisierte Verarbeitung der Vergangenheit und somit der Gegenwart unangemessen sein. Sigmund Freud hat als erstes dieses Phänomen anhand der Beziehung des Patienten zum Arzt/Analytiker in »Bruchstück einer Hysterie-Analyse« beschrieben (1905, S. 279 f.): »Übertragungen sind Neuauflagen, Nachbildungen von den Regungen und Phantasien, die während des Vordringens der Analyse geweckt und bewußt gemacht werden sollen, mit einer für die Gattung charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes. Um es anders zu sagen: eine ganze Reihe früherer psychischer Erlebnisse wird nicht als vergangen, sondern als aktuelle Beziehung zur Person des Arztes wieder lebendig. Es gibt solche Übertragungen, die sich von ihrem Inhalt und ihrem Vorbild in gar nichts bis auf die Ersetzung unterscheiden. Das sind also […] einfache Neudrucke, unveränderte Neuauflagen. Andere sind kunstvoller gemacht, sie haben eine Milderung ihres Inhalts […] erfahren und vermögen selbst bewußt zu werden, in dem sie sich an ir-

Übertragung73

gendeine geschickt verwertete reale Besonderheit an der Person oder in den Verhältnissen des Arztes anlehnen. Das sind also Neubearbeitungen, nicht mehr Neudrucke.« Heute verstehen wir Übertragung als ein Phänomen, das in allen zwischenmenschlichen Beziehungen auftreten kann und somit allgegenwärtig ist. Aufgrund früherer Beziehungserfahrungen nehmen wir aktuelle Beziehungen verzerrt wahr und wirken mehr oder weniger bewusst dahingehend, sie diesen Erfahrungen ähnlicher zu machen. Dadurch haben wir bestimmte (teilweise unbewuss­ ­te) Erwartungen an unser Gegenüber, die natürlich auch kulturell geprägt sind. Demzufolge kann in der Begegnung von Menschen aus verschiedenen Kulturen eher als in monokulturellen Beziehungen eine Diskrepanz zwischen Erwartung und realem Verhalten des Gegenübers entstehen. Diese Betrachtungsweise ist natürlich etwas einseitig, da wir die Übertragung nicht unabhängig von dem verstehen können, wie sich das Gegenüber, also derjenige*diejenige, auf den etwas übertragen wird, verhält. Doch bevor ich auf diesen Aspekt näher eingehe, möchte ich das eben Beschriebene an einem Beispiel bebildern und dabei auf das Spezifische der Übertragung in der interkulturellen Begegnung eingehen. Dazu wähle ich aus Gründen des Datenschutzes, das heißt wegen des Vermeidens einer leichteren Wiedererkennbarkeit von Personen aus dem beruflichen Kontext, ein literarisches Beispiel aus Jenny Erpenbecks Roman »Gehen, ging, gegangen« (2015), in dem sich die Autorin mit der Situation geflüchteter Menschen in Deutschland auseinandersetzt. Der Protagonist des Romans, Richard, ist ein emeritierter alleinlebender Professor, der ausgelöst durch eine politische Demonstration erstmals in Kontakt mit geflüchteten Menschen kommt. Um diese besser zu verstehen, beschließt er, geflüchtete Menschen zu ihrer Geschichte

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Fremdheit in der helfenden Beziehung

persönlich zu befragen. Richard sucht dafür eine Sammelunterkunft auf, ein ehemaliges Altersheim, in dem die Bewohner in Mehrbettzimmern hausen, die von langen Korridoren abgehen. Dort begegnet er zum ersten Mal Osarobo, der schläft, als Richard dessen Zimmergenossen interviewt. Die zweite sich daran anschließende Begegnung, die aber von beiden wach und somit bewusst wahrgenommen wird, verläuft folgendermaßen: »In 2017 öffnet auf sein Klopfen niemand, aber in 2019 macht ihm ein junger Mann, der verschlafen aussieht, die Tür auf. Ein paar weiche Barthaare sprießen ihm aus den Wangen […] Richard erklärt ihm noch einmal, wer er ist und was er vorhat, und der junge Mann sagt: Okay. Würden Sie also vielleicht mit mir sprechen? Der junge Mann zuckt mit den Schultern. Verstehen Sie Englisch? Yes, sagt er, macht aber keine Anstalten, Richard eintreten zu lassen. Vielleicht hat er Angst, mit Richard allein im Zimmer zu sein. Richard sagt: Wollen wir hinausgehen, in ein Café? Der junge Mann zuckt wieder nur mit den Schultern […]. Aber gerade als Richard […] fortgehen will, macht der Junge doch einen Schritt nach vorn, nickt ­Richard zu, schließt die Tür hinter sich, und folgt ihm – einfach so, wie er ist, ohne sich die Haare zu kämmen, ohne irgendeine Tasche zu nehmen, und in einer Jacke, die viel zu dünn ist« (Erpenbeck, 2015, S. 121 f.). Im weiteren Verlauf des Romans landen beide schließlich in einem Café, in dem Osarobo weiterhin einsilbig die Fragen Richards beantwortet. Erst auf dem Rückweg, bei der Verabschiedung an einer Kreuzung stellt Osarobo seine erste Frage an Richard: »Glaubst du an Gott?, und sieht Richard das erste Mal an. […] Richard sagt: Eigentlich nein. […] Ich verstehe das nicht, wie jemand nicht an Gott glauben kann, sagt der Junge […]. Gott hat mich gerettet, sagt er, mich hat er gerettet, aber die anderen nicht. Also muss er doch irgendetwas mit mir vorhaben,

Übertragung75

oder?« (Erpenbeck, 2015, S. 127). Für Richards Schweigen auf diese Äußerung zeigt Osarobo Unverständnis. Richard versucht nun wieder den Kontakt herzustellen, indem er Osarobo fragt, was er gerne machen würde. Nach einigem Überlegen antwortet dieser: Klavierspielen. Beide verabreden einen Termin, an dem jedoch Osarobo nicht erscheint. Als Richard ihn danach in seinem Zimmer aufsucht, sagt Osarobo, dass er die Verabredung vergessen habe. In der Kennenlernszene von Richard und Osarobo wird einiges Befremden angedeutet bzw. angesprochen. Es geht um Höflichkeit, Begrüßungsrituale, Vorstellungen über Gastfreundschaft, aber auch um tiefere Glaubensfragen. In der Begegnung scheinen in all diesen Aspekten Uneindeutigkeiten und Spannungen zu entstehen. Mit welchen Beziehungsaspekten aus der Vergangenheit behängen sich Osarobo und Richard, die diese Spannungen im Kennenlernen erklären könnten? Eine erste Möglichkeit besteht darin, dass sich hier ein Vater-Sohn- oder Großvater-Enkel-Verhältnis konstelliert. Richard sieht in dem verschlafenen Osarobo ein Kind, zu dem man einfach in das unaufgeräumte Schlafzimmer gehen kann. Die Idee, dass es Osarobo unangenehm sein könnte, kommt ihm erst auf den zweiten Blick. Osarobo hingegen könnte gerade aus diesem Grund den »Vater« nicht in sein unordentliches Zimmer lassen wollen. Auch Richards Einladung in ein Café, Osarobos Einsilbigkeit, die Frage nach Gott und Richards Bedürfnis, sein Unvermögen einer Antwort mit einer Wunscherfüllung zu kompensieren, lassen sich vor diesem Hintergrund erklären. Der (zurzeit) vaterlose Osarobo findet in Richard eine Vaterfigur, der kinderlose Richard in Osarobo einen Sohn. Spannend ist zu sehen, welche Erwartungen beide mit diesen Rollenzuschreibungen verbinden. Osarobo möchte einen Vater, der ihm Sinnfragen beantwortet. Einen, der ihm Fragen nach seinem Leben stellt, scheint er dagegen

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Fremdheit in der helfenden Beziehung

nicht zu mögen. Und Richard möchte auf alle Fälle keinen hilflos scheinenden Sohn. Es wäre aber auch denkbar, dass sich eine Beziehung Gastgeber-Gast herstellt und die gegenseitigen Erwartungen aus den sich daraus ergebenden Übertragungen gespeist werden. Richard wünscht sich zu Beginn Eintritt als Gast in das Zimmer Osarobos und könnte dessen Nichtreagieren als Zurückweisung, als mangelnde Gastfreundschaft bewerten. Im Café vertauscht er dann die Rollen und wird zum Gastgeber. Richards Vorstellungen, wie ein Gastgeber zu sein und ein Gast sich zu verhalten hat, scheinen im Großen und Ganzen mit denen des westeuropäischen Kulturkreises übereinzustimmen. Über Osarobos Vorstellungen und seine Ideen darüber, wie man sich zu einem Gast oder als Gast verhält, ob man Fremde in sein Zimmer lässt, diese eher außerhalb trifft oder ob man aus Höflichkeit oder anderen Gründen seine Gastgeber nichts fragt, lassen sich aus Unkenntnis seiner Kultur nur Hypothesen anstellen. Gleichzeitig könnte sich auch eine Schüler-LehrerBezie­hung wiederholen. Richard ist ein ehemaliger Professor, der Geflüchtete interviewen will. Die erste Begegnung geschieht in einem Haus, in dem die Räume Nummern haben und das somit einem öffentlichen Gebäude wie z. B. einer Schule gleicht. Da ein »Schüler« im Nachbarraum nicht da ist, fragt Richard eben mal kurz einen anderen. Osarobo wird für Richard zum Befragungsobjekt und scheint in der Kontaktaufnahme gar nicht persönlich gemeint. Osarobo hingegen lebt schon seit einiger Zeit mit für ihn eher unbekannten Menschen auf relativ engem öffentlichen Raum zusammen wie auf einer Klassenfahrt oder in einem Ferienlager. Dies könnte ausreichen, ­Osarobo zu regredieren, also auf ein früheres Entwicklungsstadium zurückfallen zu lassen. Richard ist wahrscheinlich nicht der erste, der an seine Tür klopft. Osarobo könnte sich gegenüber Richard wie zu anderen Autoritäts-

Übertragung77

personen verhalten. Er begleitet Richard ins Café, weil es die (Lehrer-) Autorität verlangt. Eine eigene Motivation zu dem Treffen könnte fehlen. In diesem Zusammenhang muss noch auf einen anderen bedeutsamen Aspekt hingewiesen werden. Geflüchtete haben meist (immer) extreme und/oder existenzielle Erfahrungen mit den Angehörigen der Staatsgewalt im Herkunftsland oder auf der Flucht gemacht, was ja meist einer der Fluchtgründe ist. Diese Erlebnisse spielen in der Beziehung zu Autoritäten eine bedeutende Rolle. Für jemanden, der Repressalien erlebte, die vielleicht auch im Kontext von Bespitzelung und Verfolgung geschahen, könnten öffentliche Situationen und/oder staatlich angestellte Personen Übertragungen auslösen. In unserem Beispiel genügt es vielleicht schon, dass Richard in einer Sammel­unterkunft an Osarobos Tür klopft, um bei O ­ sarobo Erinnerungen an ähnliche Situationen zu wecken und Richard mit diesen negativen Autoritätspersonen zu verwechseln. Schließlich muss auch berücksichtigt werden, dass sich Richard und Osarobo als Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, also als White Caucasian und Black ­People, und den damit verbundenen Vorstellungen begegnen. An einigen Stellen im Roman beschreibt Richard das eigentümliche Gefühl, mit einem jungen Schwarzen durch eine Vorortsiedlung Berlins zu laufen. Den gemeinsamen Café­ besuch, bei dem beide ihr bestelltes Heiß­getränk nicht zu sich nehmen, könnte man auch vor dem Hintergrund interpretieren, dass sich hier Aspekte einer kolonialen Beziehung wiederholen, die aber von beiden durchbrochen werden. Osarobo möchte keine »weißen« Almosen, und Richard kann in Gegenwart des sich verweigernden Schwarzen das Getränk nicht konsumieren, ansonsten wäre er der koloniale Weiße. Dieses literarische Beispiel verdeutlicht, wie komplex das Beziehungsgeschehen generell und speziell in einer

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Fremdheit in der helfenden Beziehung

kulturellen Überschneidungssituation sein kann. Um das Verstehen dieses Beziehungsgeflechts zu erleichtern, liefert Norbert Kunze (1998) ein speziell für den Kontext der psychologischen Beratung entwickeltes Modell, das sich sehr gut auf die interkulturelle Begegnung und somit auch auf andere Hilfekontexte ausdehnen lässt. Er geht von verschiedenen Verständnisfolien im interkulturellen Kontakt aus. In Abbildung 2 sind diese Ebenen auf die professionelle Beziehung angewandt: 1. Verständnisfolie: „Klassische“ Übertragungsbeziehung Eltern / Geschwister Eltern / Geschwister

Helfende*r und Klient*in übertragen gegenseitig Vorstellungen aus folgenden erlebten oder fantasierten Beziehungen

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Helfende*r, z.B. deutsche Sozialarbeiter*in

Klient*in, z.B. Geflüchtete*r aus Nigeria

2. Verständnisfolie: Mehrheiten-Minderheiten-Beziehung Minderheiten Mehrheiten z. B. Randgruppen z. B. Polizei / Staatsbedienstete / Lehrer*innen 3. Verständnisfolie: Kulturelle Ebene Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund (z. B. Nigerianer*in)

Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund (z. B. Deutsche*r)

Abbildung 2: Verständnisfolien der Arbeitsbeziehung im interkulturellen Kontext (nach Kunze, 1998, eigene Weiterentwicklung)

Die erste Verständnisfolie stellt das klassische Verstehen der Übertragung dar. Wird auf die helfende Beziehung unter diesen Aspekten geschaut, gewinnen die Rollen­ zuweisungen, die sich aus Kontakten in der frühen Kindheit und früheren Partnerschaften ergeben, an Bedeutung. In unserem Beispiel ist das die Vater-Sohn-Beziehung, die sich zwischen Osarobo und Richard einstellt. Diese Ebene könnte auch als psychologisches Verständnis der Beziehung bezeichnet werden.

Übertragung79

Eine zweite Verständnisfolie ist die der Minderheiten-Mehrheitenbeziehung. Geflüchtete sind in professionellen Kontexten immer Angehörige einer Minderheit und treffen in den meisten Institutionen Angehörige der Mehrheitsgesellschaft. Selbst wenn diese auch Geflüchtete oder Menschen mit Migrationshintergrund sind, stellen sie doch Vertreter*innen des Systems dar und haben damit größere Machtbefugnisse. Davon beeinflusst sind selbst die ehren- und hauptamtlichen Helfenden mit Fluchterfahrung in den Flüchtlingsunterkünften. Dieses Statusgefälle beeinflusst stets den Kontakt zwischen Hilfe­suchenden und Helfenden. Auf der Seite der Geflüchteten wirken somit immer Diskriminierungs- und Migrationserfahrungen mit. In unserem Beispiel finden wir diese F ­ olie mit dem Lehrer-Schüler-Verhältnis und der Wieder­holung einer kolonialen und diskriminierenden Begegnung bebildert. Die dritte Verständnisfolie, die auf den Begegnungsprozess des literarischen Beispiels gelegt werden kann, ist die kulturelle. In einer interkulturellen Überschneidungssituation begegnen sich zwei Kulturen mit den jeweiligen Erwartungen aneinander. Im Beispiel habe ich diese Dimension mit dem kurzen Exkurs über die Gastgeber-Gast-Beziehung beschrieben. Aber natürlich haben Richard und Osarobo auch medial geprägte Vorstellungen, wie sich ein Nigerianer bzw. ein Deutscher zu verhalten haben und bringen diese mit in die Beziehung ein. Lediglich zum Verstehen des so komplexen Beziehungsgeflechts in der interkulturellen Begegnung ist es hilfreich, die Verständnisfolien voneinander zu trennen. Da in der Realität diese Ebenen jedoch eng miteinander verwoben sind, kann keine der drei Folien allein betrachtet den Begegnungsprozess erklären. Kommt es zu einer übermäßigen Akzentuierung einer Verständnisfolie, geht das meist mit blinden Flecken auf den anderen Folien einher. Die Folge könnte eine Psycho-

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Fremdheit in der helfenden Beziehung

logisierung, eine Politisierung oder Ethnisierung der Beziehung sein. Der enttäuschte Vater und der enttäuschende Sohn, der altruistische Ehrenamtler und der undankbare Geflüchtete, der ungläubige Deutsche und der religions­ besessene Nigerianer wären dann jeweils die Beschreibungen einer Überakzentuierung. Da diese drei Folien immer im interkulturellen Kontakt wirken, müssen sie mitbedacht werden. Gleichzeitig bilden sie einen praxisnahen Zugang zur Reflexion über die professionelle Beziehung.

6.3 Was zu Konflikten in helfenden Beziehungen führt

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Bisher haben wir die Übertragungen eher aus der Perspektive von Rollenaspekten (Vater-Sohn, Gastgeber-Gast etc.) beschrieben. In der Begegnung zweier Menschen, in der einer eine Fluchtbiografie aufweist, finden sich aber auch bestimmte Konfliktthemen wieder. Yeşim Erim (2004) hat hierzu bei Menschen mit Migrationshintergrund drei typische Themen herausgearbeitet, die diesen Menschen in professionellen Beziehungen immer wieder begegnen, die sich aber auch auf geflüchtete Menschen übertragen lassen: das Thema Versorgung (Benachteiligung), das Thema Autonomie-Abhängigkeit (Überlegenheit) sowie das Thema Individuation. Ich werde im Folgenden diese Themen bezüglich geflüchteter Menschen darstellen: Da Fluchtbewegungen meistens damit verbunden sind, dass Menschen aufgrund existenzieller und lebensbedrohlicher Situationen in wirtschaftlicher, politischer und sozialer Hinsicht einen sichereren Ort suchen, ist es verständlich, dass das Benachteiligungsthema in der Biografie dieser Menschen eine Rolle spielt. Dieses Thema wird in dem Hilfesystem der Ankunftsgesellschaft sofort aktualisiert, da Hilfe (Versorgung) genuin mit Benachteiligung

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assoziiert werden kann. Der*Die Einheimische (aber auch der*die Professionelle mit Migrationshintergrund, der*die es ja im Ankunftsland geschafft hat) verfügt in diesem Kontext über die Ressourcen und befindet sich somit in der versorgenden Position. Gleichzeitig ist der*die Einheimische Vertreter*in der Normen und Regeln im Ankunftsland. Der geflüchtete Mensch hingegen ist in meist weniger demokratischen Systemen im Herkunftsland sozialisiert und erlebte ganz und gar willkürliche Regeln auf dem Fluchtweg. Hier bekommt das Thema Autonomie-Abhängigkeit eine besondere Akzentuierung. Wann ist es sinnvoll, sich wem gegenüber in Abhängigkeiten zu begeben? Mit diesem Themenkomplex ist eng verbunden, dass Flucht auch einen Individuationsprozess in Gang setzt. Familiensysteme werden dabei auseinandergerissen und müssen sich neu zusammensetzen. Falls sie in ihrer alten Form bleiben, sind sie beträchtlichen Außeneinflüssen wie der schulischen Sozialisation der Kinder, beruflichen Umorientierung der Eltern, veränderten ökonomischen und politischen Bedingungen etc. ausgesetzt, mit denen sie umgehen müssen. Geflüchtete Menschen sind also immer mit dem Thema Individualität und Kollektivität konfrontiert. In Deutschland ist der*die Vertreter*in des Ankunftslandes gleichzeitig ein*e Vertreter*in einer individuumszentrierten Gesellschaft, ein*e Befürworter*in der Autonomie des Individuums. Er*Sie kann somit vom Geflüchteten als Spalter*in von der Familie assoziiert werden. Bei Osarobo aus Erpenbecks Roman beispielsweise könnten in der Begegnung mit Richard Versorgungswünsche ausgelöst werden. Er sehnt sich nach einer bedingungslosen Hilfe, ohne bestimmten Normen entsprechen zu müssen. Richard soll einfach nur helfen. Dies kann er aber nicht äußern, da er möglicherweise in seinem Herkunftsland die Erfahrung gemacht hat, dass er nicht be-

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Fremdheit in der helfenden Beziehung

einflussen kann, wann und wie Hilfe kommt. Er hat also ein inneres Gebot, dass es sinnlos ist, Versorgung einzufordern. Der bessere Weg ist, abzuwarten und zu schweigen. In den Situationen allerdings, in denen er Hilfe erfuhr, erlebte er, dass diese Hilfe bestimmte Verpflichtungen nach sich zog. Er fand sich nach Inanspruchnahme von Hilfe meist in einem realen Abhängigkeitsverhältnis wieder. Aus dieser Sicht ist das Thema Versorgung immer an eine Unterwerfung gebunden. Osarobo befindet sich also in dem Dilemma, dass er sich nach Hilfe sehnt, die damit verbundene Abhängigkeit aber nicht ertragen kann. Er löst diese innere Spannung für sich, indem er sich zurückzieht.

6.4 Gegenübertragung

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Bislang haben wir die Reaktion dessen, auf den etwas übertragen wird, vernachlässigt. Im klassischen psychoanalytischen Verständnis nennt man sämtliche Gefühle, Vorstellungen, Fantasien und Impulse, die Helfende in der Beziehung zu ihren Klient*innen erleben, Gegenübertragung. Damit ist die Gegenübertragung erstens die Reaktion des*der Helfenden auf die Gefühle und das Verhalten der Klient*innen und zweitens die eigene Übertragung des*der Helfenden. Schauen wir uns zunächst den ersten Aspekt an. In seiner Reaktion auf den*die Klient*in stellt sich für den*die Helfende*n die Frage, in welchen Rollendialog er*sie eingebunden wird, also wer er*sie für den*die Klient*in sein soll. Hierbei gibt es zwei Möglichkeiten: In der ersten Variante ist der*die Helfende oder sind Teile von ihm*ihr das Gegenüber der früheren Beziehung des*der Klient*in – er*sie fühlt also oder hat ähnliche Handlungsimpulse wie die frühere Bezugsperson. Dies nennt sich komplementäre Identifikation in der Gegenübertragung. In der zweiten Variante fühlt sich der*die Helfende ähnlich oder hat dieselben Handlungsimpulse wie der*die

Befremden in einer helfenden Beziehung83

Klient*in. Es hat eine konkordante Identifikation stattgefunden. Kehren wir zum Beispiel aus Jenny Erpenbecks Roman zurück, um diese Aspekte anschaulicher zu bebildern: Richard fallen als erstes die Verschlafenheit Osarobos und seine wenigen weichen Barthaare auf. Wenn wir die Idee verfolgen, dass sich Osarobo nach einer haltenden Vaterfigur sehnt, könnte er dies in seinem Türöffnen bereits transportieren. Richard erhält das Angebot: Sieh mich als hilfebedürftigen Sohn, und somit kann er auch nur eher Jugendliches, Zerbrechliches sehen. Andere männlichere Aspekte wie vielleicht Osarobos Muskeln fallen Richard somit weniger auf (komplementäre Identifikation). Das Konkordante lässt sich dann in dem Satz finden: »Vielleicht hat er Angst, mit Richard allein in einem Zimmer zu sein« (Erpenbeck, 2015, S. 121). Hier könnte Richard Osarobos Angst vor der Beziehung zu Autoritäten spüren. Der zweite Teil der Gegenübertragung ist die eigene Übertragung der Helfenden, in der wir Aspekte, Gefühle und Handlungsimpulse aus früheren Beziehungen in die Gegenwart übertragen. Sie ist somit nicht der beantwortende Teil, sondern hat eigentlich mit der vor uns existierenden Person nur wenig oder überhaupt nichts zu tun. In dem Beispiel von Richard und Osarobo stellt somit ­Richards eigene Übertragung, die wir ja bereits im vergangenen Kapitel beschrieben haben, diesen Teil der Gegenübertragung dar.

6.5 »Da ist irgendwie Interesse …« – Befremden in einer helfenden Beziehung Diese komplexe Beziehungsdynamik ist für den Kontext Geflüchtete*r – Ehrenamtler*in sehr anschaulich in einer Studie über ein Mentorenprojekt beschrieben (Kratz, 2017). In dieser wurden Interviews mit jungen männlichen Ehrenamtlern über ihre Tätigkeit als Mentoren von unbe-

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Fremdheit in der helfenden Beziehung

gleiteten volljährigen männlichen Geflüchteten geführt und anschließend ausgewertet. In dem dargestellten Fallbeispiel begründet einer der Befragten, Markus, zu Beginn des Interviews seine Motivation für die ehrenamtliche Tätigkeit mit seinem langjährigen Engagement im Bereich der linken politischen Bildungsarbeit. Er möchte auch aktuell in einem Feld arbeiten, das mit seinen politischen Einstellungen konformgeht. Bestimmte »Männerbünde« kommen somit nicht infrage. Markus scheinen demokratische Werte, Antidiskriminierung und ein bestimmtes Männlichkeitsbild wichtig zu sein. Gleichzeitig wirkt es so, als ob Markus diese Ideale weitergeben möchte. Dabei ist bemerkenswert, mit welch hohen Erwartungen der interviewte Ehrenamt­liche an seine Arbeit geht – ein Phänomen, das sich sicher auf viele, die in diesem Bereich arbeiten, verallgemeinern lässt. Fantasien darüber, auf welche Vorstellungen er in seiner Arbeit treffen wird, äußert Markus hingegen nicht. Konflikte scheinen somit vorprogrammiert. Spannend wird es dann für Markus in der ersten Kontaktaufnahme, die ihn mit einer Erwartung von der Geflüchtetenseite konfrontiert, mit der er nicht so leicht umgehen kann, von der er befremdet zu sein scheint: »Also ich habe da gemerkt, da ist irgendwie Interesse. Weiß nicht, für mich als Person […]. Ein Lehrer von der Uni. Nee, sondern da ist darüber hinaus was da […]. Und im Hintergrund war schon auch die Frage, ist da vielleicht einer unter den Schülern dabei, mit dem ich mir vorstellen könnte zu arbeiten« (Kratz, 2017, S. 61). Hier wird aus psychoanalytischer Sicht sehr deutlich, dass sich beide Seiten, Geflüchtete und Markus, in divergierenden Übertragungskonstellationen befinden. Markus scheint sich als Lehrer zu sehen, nimmt aber auf der anderen Seite ein Interesse an seiner gesamten Person wahr (»Person«, »darüber hinaus was«), das ihn irritiert.

Befremden in einer helfenden Beziehung85

Wie könnten nun beide Interaktionspartner in der weiteren Kontaktaufnahme vorgehen? Es ist leicht vorstellbar, dass Markus sich seinem inneren Lehrerbild entsprechend verhält, während die jungen Männer auf der anderen Seite ihn vielleicht eher auf einer privaten Ebene (Freund und/oder Bruder) wahrnehmen. Hier entsteht eine Spannung, da möglicherweise die jeweils angesprochene Ebene nicht beantwortet wird. Die Schüler reagieren nicht als Schüler, der erwartete Freund verhält sich wie ein Lehrer. Mit dem Konzept der Übertragung können wir aber davon ausgehen, dass beide Seiten mehr oder weniger unbewusst schon die gegenseitigen Rollenangebote wahrnehmen (»das darüber hinaus«), dies aber nicht (aus-)halten können, sondern unerwidert und sprachlos stehen lassen müssen. Marian Kratz (2017) interpretiert diese Szene in Anlehnung an Ulrich Oevermann (1996), dass hier eine widersprüchliche Einheit spezifischer und diffuser Beziehungsanteile vorliegt. Spezifisch meint die Aspekte der Rollenbeziehung, die sich aus dem institutionellen Rahmen ergeben, also in unserem Fall die Beziehung zwischen Mentor und Mentee. Diffuse Beziehungsanteile beschreiben die nicht rollenförmige Beziehung zwischen zwei Personen (Freund-Freund). Noch eine zweite Stelle in dem Interview ist für die Beziehung Ehrenamtler-Geflüchteter aufschlussreich, da es hier um ein weiteres Befremden auf Markus’ Seite, nämlich den Umgang mit Männlichkeit, geht. Markus berichtet über die Beziehung zu seinem Mentee, Anil, im Interview Folgendes: »[E]r erzählt, er würde hier später gern ein Auto haben und hat dann irgendwie schon Vorstellungen, irgendwie 3er BMW oder so was, da habe ich dann wieder keine Ahnung (lächelt) und, ähm, naja. Öfter erzählt er, wenn er dann ’nen Führerschein hat und Auto hat, dann kommt er mich abholen und dann fahren wir abends ir-

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gendwie und unternehmen was mit seinen Freunden noch und so« (Kratz, 2017, S. 63 f.). Diese Erzählung könnte einerseits Anils Sehnsucht nach Freundschaft (Bindung) ausdrücken, die möglicherweise durch Beziehungsabbrüche intensiver geworden ist. Das wäre die psychologische Dimension dieser Beziehung. Anils Vision vom zukünftigen BMW-Besitz lässt sich aber auch als Streben nach Status verstehen, gespeist aus dem Wunsch, dazuzugehören und wie Markus Mehrheitsangehöriger zu sein. Dieses Betonen klassischer männlicher Riten wie BMW-Fahren oder auch mit Freunden etwas zu unternehmen, könnte auch dadurch bedingt sein, dass Anil die Idee hat, dass Markus andere Interessen pflegt, er Markus seine Kultur nahebringen will oder im gemeinsamen Autofahren einen empfundenen Unterschied überbrücken will. Von Markus bekommen wir hingegen mitgeteilt, dass er dem Statussymbol BMW eher ablehnend gegenübersteht. Wir erfahren nicht, wie Markus mit den doch so anders gelagerten Beziehungswünschen von Anil umgeht. 6

6.6  Über die Bannung der Fremdheitsgefühle Gerade die Interaktion in einer kulturellen Überschneidungssituation, die von Irritation und Befremden geprägt ist, kann mit starken Affekten verbunden sein. Yeşim Erim (2004) beschreibt in diesem Zusammenhang Angst, Aggression, Schuld und Scham als zentrale Affekte, die es zu regulieren gilt. Sie findet im professionellen Kontext eine Reihe von typischen Denk- und Verhaltensweisen, diese teilweise unerträglichen Emotionen zu bannen: Erstens könnte der*die Helfende behaupten, alle Klient*­ innen gleich zu behandeln. Ihm*ihr würden dadurch mögliche Unterschiede im Umgang mit seinem*ihrem Klientel vielleicht gar nicht auffallen. Durch die Maxime »Für mich sind alle Klient*innen gleich«

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muss er*sie sich nicht mit möglichen negativen Gefühlen in diesem Kontext auseinandersetzen. Eine zweite Strategie des*der Helfenden könnte darin bestehen, aufgrund mangelnder Kompetenz Klient*innen mit Migrations- bzw. Fluchthintergrund den Kontakt zu verweigern. Klient*innen mit anderem kulturellen Hintergrund erhalten dann längere Wartezeiten oder werden an Kolleg*innen/Spezialist*innen überwiesen. Oder es wird eine organisatorische Tätigkeit gewählt, um nicht in direkten Kontakt mit geflüchteten Menschen treten zu müssen. Schließlich ist noch die überfürsorgliche Behandlung in diesem Kontext zu erwähnen: Der*Die Helfende macht seinen*ihren anderskulturellen Klient*innen mehr Angebote, arbeitet für diese abends länger, überzieht die Stunden oder schlägt zusätzliche alternative Maßnahmen aus anderen Arbeitsbereichen (Selbsthilfegruppen, Sprachkurse) vor. Doch nicht nur Helfende entwickeln Strategien, ihre Emotionen in Bahnen zu lenken. Als Form der Regulation könnten geflüchtete Menschen sich dem Hilfsangebot verweigern oder sich sozusagen nicht »compliant« verhalten, da er*sie sich auch hier, wie schon in der alten Heimat, nicht genügend versorgt und verstanden fühlt. Außerdem kann er*sie die mit seinem*ihrem Autonomie-Abhängigkeitskonflikt verbundenen Affekte wie Wut, Schuld und Scham auf den Helfenden übertragen. Dieser*Diese wird dann als aggressiv und schuldig wahrgenommen, da er*sie mit seinen*ihren Angeboten zum Beispiel die Trennung von der Familie bewirken will. Speziell für das Fremde lassen sich bei Erdheim (1992) drei stereotype kollektive Umgangsweisen finden: Entfremdung, Verwertung und Idealisierung. Mit Entfremdung ist dabei die Tendenz gemeint, das Fremde noch fremder zu machen als es eigentlich ist. Meist ist dies auch mit einer Entwertung und Pathologisierung des Fremden verbunden. In dem Beispiel der

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Familienhelferin (Kapitel 5.1) ist es die Bemerkung »dieses Machogehabe«. Den Hintergrund für diesen Umgang auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene sieht Erdheim in dem Wunsch rationaler Gesellschaften, das Irrationale zu erklären, zu verstehen oder zu entfernen. Unter Verwertung kann die Ökonomisierung des Frem­den verstanden werden. Fremde in Führungspositionen oder mit bestimmten Qualifikationen sind willkommen. Oder Fremde füllen möglicherweise Lücken im psychosozialen Versorgungssystem durch eine zu schnelle Pathologisierung oder gar Psychiatrisierung. Mangelnde Sprachkenntnisse werden beispielsweise genutzt, um Depressionen eher pharmakologisch als psychotherapeutisch zu behandeln. Alle Integrationshilfen für die Geflüchteten sind ebenso unter diesem Blickwinkel zu betrachten. Schließlich meint die idealisierende Tendenz die Überhöhung der Betroffenen unter Ausblendung ihrer Fehler und Schwächen. Hier findet eine Aufspaltung in Gut und Böse statt. Der Fremde wird zum »edlen Wilden«, zum Naturverbundenen, zum wahre Werte Lebenden, zum Intakten etc. An dieser Stelle wieder ein kurzer Moment der Reflexion: –– Wenn Sie die letzten Abschnitte nun auf sich wirken lassen, zu welchem Typ würden Sie sich zählen? –– Oder ist die Regulation Ihrer Fremdheitsgefühle situations- bzw. gruppenabhängig? –– Wenn ja, welche Verhaltensweisen wählen Sie wann weshalb?



Wie wir das Fremde verstehen können – Zur Empathie89

Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass die interkulturelle Begegnung mehr als die Begegnung von Menschen aus ein und demselben kulturellen Referenzrahmen an die Grenzen des gegenseitigen Verstehens stößt. Daher ist es sinnvoll, noch intensiver das Prozesshafte dieser Beziehung zu betonen. Es wird immer Situationen und Interaktionen geben, in denen ein interkulturelles Verständnis erreicht wird. So können Arbeitende in den helfenden Berufen in der ganzen Welt davon ausgehen, dass ihre Klient*innen sich anders verhalten als Nicht-Hilfebedürftige und von ihnen Hilfe erwarten. Unterschiede kann es hingegen bereits in den gegenseitigen Rollenerwartungen geben, wie sich Helfende und Hilfesuchende zu verhalten haben. Hier bedarf es einer besonderen Verstehensleistung.

6.7 Wie wir das Fremde verstehen können – Zur Empathie Alle Ansätze der helfenden Beziehung betonen die Wichtigkeit des Verstehens und Einfühlens. Wie wir gesehen haben, kommt diesem Verstehen und Einfühlen, also der Empathie, in befremdenden Begegnungen eine besondere Bedeutung zu. Grund genug, an dieser Stelle zu überlegen, welche Aspekte eines Empathiekonzepts für das Verstehen des Fremden nützlich sind. Unter dem Stichwort »Empathie« können wir im »Handbuch der psychoanalytischen Begriffe« (Mertens, 2014) Folgendes lesen (Milch, 2014, S. 196): »1. eine Beziehung zwischen zwei Personen, 2. ein Aufrechterhalten der Grenzen zwischen Selbst und Objekt, 3. eine intrapsychische Erfahrung, 4. eine allgemeine menschliche Fähigkeit oder therapeutische Kapazität einschließlich dem Wissen, Ver-

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stehen und Wahrnehmen bezüglich des Erlebens einer anderen Person.«

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Der erste Punkt benennt den Anwendungsbereich von Empathie, also den Ort, an dem sich Empathie finden lässt oder wo sie herzustellen ist, nämlich in der zwischenmenschlichen Beziehung. Die Punkte 2 bis 4 zählen hingegen jene Aspekte auf, die es braucht, um Empathie zu erzeugen. In der aktuellen Literatur zur interkulturellen Kompetenz begegnet uns dabei oft der vierte Punkt, wenn über das Wissen, Verstehen und Wahrnehmen anderer Personen gesprochen wird und Methoden beschrieben werden, die diese Fähigkeit schulen, wie etwa bestimmte Rollenspiele. Gleichzeitig machen wir jedoch immer wieder in unserem professionellen Handeln die Erfahrung, dass uns oft Wissen allein nicht weiterhilft. Es lohnt sich daher, detaillierter zu schauen, wie Empathie entsteht. Jürgen Körner (1998) geht dabei auf drei Kompetenzen ein, die für ein empathisches Verstehen notwendig sind: Affektansteckung, Perspektivenübernahme und Verständnis des Kontexts sozialer Situationen. Die Affekt­ ansteckung als erste notwendige Kompetenz meint die Fähigkeit, sich von den Gefühlen anderer infizieren zu lassen. Diese sei angeboren und bereits im Tierreich zu finden. Ein anschauliches Beispiel ist das Sich-mitreißen-Lassen bei Massenveranstaltungen wie Fußballspielen oder Konzerten. Eine zweite Voraussetzung für empathisches Verstehen ist die Fähigkeit der Perspektivenübernahme. Diese wird in unserer Entwicklung im Kleinkindalter erworben. Ein psychologisches Experiment, das diesen Entwicklungsfortschritt sehr gut abbildet, ist der Drei-Berge-Versuch nach Jean Piaget (Piaget u. Inhelder, 1971). Hierbei wird einem Kind ein Modell mit drei Bergen gezeigt, das es aus allen Perspektiven betrachten kann. Anschließend wird es gebeten, aus jeweils einer Position heraus

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zu beschreiben, was es aus den anderen Positionen sehen könnte, ohne diese einzunehmen. Im Alter von vier Jahren können Kinder, obwohl sie vorher den anderen Blickwinkel real erlebten, diesen gedanklich nicht übernehmen. Sie beschreiben das Gesehene aus allen Positionen gleich. Erst mit zunehmendem Alter entwickeln wir die Fähigkeit, etwas aus einer anderen Perspektive beschreiben zu können. Noch später in unserer Entwicklung erwerben wir die dritte Voraussetzung für unser Einfühlungsvermögen – das Verständnis des Kontexts sozialer Situationen. Damit ist gemeint, dass wir uns die Regeln und Verhaltensvorschriften von sozialen Situationen, in denen sich ein Anderer befindet, vorstellen können. Man könnte dies auch als eine Perspektivübernahme auf soziale Kontexte verstehen. Wenn wir nun Jürgen Körners Verständnis von Empathie auf unser Thema des Befremdens übertragen, bedeutet dies, dass die Gefühlsansteckung immer funktioniert: Die Erzählung der Klient*innen löst teilweise starke Gefühle aus, wir werden von ihr angesteckt. Interessanter ist es zu schauen, welche Mechanismen wir benötigen, um uns nicht von dieser Gefühlsansteckung überfluten zu lassen, sondern um eine andere Perspektive zu übernehmen und den Kontext sozialer Situationen verstehen zu können. Wie gelingt es, dass wir uns nicht ausschließlich von dem Erzählten unserer Klient*innen mitreißen lassen, sondern den Abstand wahren, ohne dabei die Beziehung zu verlieren? Peter Kutter (1981) gibt dazu eine schlüssige Antwort. Er kombiniert die aktive Seite der empathischen Kompetenz mit den Funktionen Identifizierungs-, Distanzierungsund Oszillierungsfähigkeit. Um sich in jemanden einfühlen zu können, muss man sich also mit demjenigen identifizieren können, es schaffen, diese Identifikation wieder zu verlassen und zwischen Identifikation und Distanzierung zu pendeln. Die passive Seite beschreibt er mit den Funk-

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tionen Reaktionsfähigkeit (gefühlsmäßiges Reagieren auf die Äußerung des Gegenübers), Diskriminierungsfähigkeit (Abgrenzen dieser gefühlsmäßigen Reaktion von den eigenen Gefühlen), Umsetzungsfähigkeit (Nutzen der gefühlsmäßigen Reaktion für Hypothesen und/oder Verstehen des Gegenübers). Wenn wir dies auf die Begegnung von Markus und Anil, die wir im vergangenen Kapitel näher beleuchtet haben, anwenden mit dem Ziel, dass Markus empathischer auf Anils Zukunftswünsche und die damit verbundene Männlichkeitskonstruktion reagieren könnte, lässt sich Folgendes schlussfolgern: Da sich Markus eigentlich nicht genügend mit der Lust am BMW-Fahren identifizieren kann, könnten wir ihm bereits unterstellen, dass die aktive Seite seiner empathischen Kompetenz noch ausbaufähig ist. Die nötige Distanz scheint er hingegen durch innere Vergleichsprozesse herzustellen, indem er sein Männlichkeitsmodell aktiviert. Da ihm nur das Distanzieren gelingt und nicht das Identifizieren, kann er auch nicht zwischen beiden hin- und herpendeln (oszillieren). Markus muss sich also die Frage stellen, wie er eine vorübergehende Identifikation mit Anil erreichen kann. Bei der passiven Seite der empathischen Kompetenz scheint Markus gefühlsmäßig auf Anil reagieren zu können. Fraglich ist allerdings, ob er die Unterscheidung zwischen seinen eigenen Gefühlen und der gefühlsmäßigen Reaktion auf Anil treffen kann. Das Umsetzen dieser Gefühle für sein eigenes Verstehen beschreibt er nicht. Doch wie lässt sich nun die von Kutter so beschriebene empathische Kompetenz erwerben? In einer Arbeitsgruppe von Berater*innen haben wir diskutiert, welche Herausforderungen die interkulturelle Arbeit bietet und welche Erfahrungen hilfreich sind, mit diesen Herausforderungen umzugehen (Curvello u. Merbach, 2014). Wie die meisten Beiträge der teilnehmenden Berater*innen

Wie wir das Fremde verstehen können – Zur Empathie93

zeigten, geht es in der interkulturellen Begegnung um das Aushalten von Fremdheit, Spannungen und somit auch Wertedifferenzen. Dabei ist es hilfreich, im eigenen Leben gewisse Unsicherheits- und Labilitätserfahrungen gemacht zu haben und sich ihrer zu erinnern, ohne sich jedoch auf Dauer von ihnen destabilisieren zu lassen. Im Grunde geht es um die Balance, sich erschüttern zu lassen, ohne der Erschütterung verhaftet zu bleiben, menschlich instabil zu sein und dennoch die Erfahrung zu machen, dass wieder Stabilität einkehrt. Diese Erfahrungswerte beschreiben die Berater*innen als Kompetenz, die ihnen die Beziehungsgestaltung zu Anderskulturellen erleichtert. Es braucht die Bereitschaft der Berater*innen, sich in Teilen dekonstruieren zu lassen bei gleichzeitig stabil bleibender Kernidentität. Der Weg dorthin ist individuell sehr unterschiedlich. Manche erreichen diese Kompetenz durch eigene Migrationserfahrung. Aber auch Brüche in der eigenen Biografie, erlebte labile Phasen sowie rezipierte Bücher oder Filme, Weiterbildungen oder Reisen reichern unser Empathievermögen an. Entscheidend ist das Wie des Erlebens, da wir uns hinter gewissen Rollen, Haltungen und Werten auch verstecken können, ohne diese notwendigen Verunsicherungserfahrungen tatsächlich zuzulassen.

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Abschließende Bemerkung

Erinnern wir uns an das Eingangsbeispiel, an Frau A., zurück. Die Teilnehmenden der Intervisionsgruppe hatten an der dargestellten Situation unterschiedliche Aspekte befremdend gefunden und hatten diese als mehr oder weniger Frau A.s Eigenheiten beschrieben: ihre Familiensituation, ihre Idee, für die Erziehung der Kinder nur von den Transferleistungen des Staates zu leben, das ausgeprägte Patchwork in dieser Familie, mit der Mutter und den Kindern als Zentrum und den Vätern in der Peripherie, ihre jugendliche Verliebtheit oder auch die Art und Weise, wie die Klientin ihre Geschichte erzählt, etwa durch das Weglassen der familiären Situation zu Beginn der Beratung. Dieses Befremden schien mit den unterschiedlichsten Gefühlen verbunden zu sein, die sich irgendwo zwischen Angst und Neugier bewegen. Wenn wir uns jetzt Frau A. als unsere Klientin vorstellen, ergibt sich die Frage, wie wir mit dem Befremden und den damit verbundenen Irritationen umgehen können, um arbeitsfähig zu sein oder zu bleiben. Im Buch ist deutlich geworden, dass sich dazu ein verstehender Zugang anbietet, um das Irritierende in der Begegnung zu fassen und zu begreifen. Welche inneren Prozesse müssen wir nun durchlaufen und welche inneren Bilder oder Erfahrungen anschließend aktivieren, um uns in Frau A., die Fremde, einzufühlen, sie empathisch zu verstehen? In der Wahrnehmung des irritierenden Gefühls als Reaktion auf Frau A.s Lebenskonzept ist schon der erste Schritt getan. An dieser Stelle könnten wir uns detailliertere Kenntnisse über das

Abschließende Bemerkung95

Lebenskonzept der Klientin aneignen und ihren sozialen Kontext erfassen. Somit würden wir zu einem stärkeren kognitiven Verstehen gelangen. Als nächster Schritt käme eine Reflexion darüber, warum wir bestimmte Aspekte bei Frau A. befremdlich finden. Wenn wir beispielsweise ihre jugendliche Verliebtheit irritierend fänden, müssten wir uns auf die Suche des eigenen Anteils machen. Vielleicht verbinden wir ja jugendliche Verliebtheit mit sehr positiven Erfahrungen und trauern diesen nach und beneiden deshalb unsere Klientin darum. Oder die erlebte Enttäuschung in unserer eigenen ersten Verliebtheitsphase lässt uns die überschwänglichen Gefühle unserer Klientin so irritierend finden. Möglicherweise haben wir auch ein inneres Schema über jugend­ liche Verliebte, dass Verliebtheit nur in die Jugend gehört, vorverurteilen Erwachsene mit diesen Gefühlen und besitzen vielleicht sogar bereits einen inneren Rassismus bezüglich dieser Gruppe. Weiterhin lohnt es sich, darüber nachzudenken, aus welcher Position Frau A. erzählt und welchen Aspekt sie in uns ansprechen will (die mehrdimensionale Analyse der Übertragung und Gegenübertragung). Was will Frau A. als Frau, als Mutter, als Sozialhilfeempfängerin von uns? Mit welchen Beziehungserfahrungen ist dies bei ihr verknüpft? Was möchten wir von Frau A. als Mann oder Frau, als väterliche oder mütterliche Bezugsperson, als Vertreter*in einer Hilfeeinrichtung etc.? Sowohl durch Wissensaneignung, Analyse der professionellen Beziehung und Selbsterfahrung wäre es uns damit möglich, uns in der Begegnung mit Frau A. zwischen Identifikation und Distanzierung zu bewegen und das Befremden in dieser Beziehung zu verstehen. Wenn Fremdheitsgefühle in helfenden Beziehungen auftauchen, ist es hilfreich, diese Schritte und die damit verbundenen Fragen, die im Buch beschrieben und ex-

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Abschließende Bemerkung

emplarisch hier nochmals kurz an der Begegnung mit Frau  A. zusammengefasst wurden, zu bearbeiten. Das Befremdende würde dadurch verstehbarer werden, ganz verschwinden würde es allerdings nie, da es zur eigenen Entwicklung und zur Regulation zwischenmenschlicher Beziehungen gebraucht wird.

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